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German Pages [377] Year 2017
Babu Thaliath
Wissenschaft und Kontext in der frühen Neuzeit
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495818459
.
B
Babu Thaliath Wissenschaft und Kontext in der frühen Neuzeit
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Wissenschaften entstehen und entfalten sich innerhalb von historischen Kontexten. Dabei vollzieht sich die Kontextualisierung einzelner Wissenschaftsdisziplinen durch die historisch-kontextuale Ausweitung und Abgrenzung gegenüber anderen Wissenschaftsdisziplinen. Die vorliegende Abhandlung ist ein Versuch, in der Entwicklungsgeschichte einiger frühneuzeitlicher Wissenschaftsdisziplinen eine zweifache Wurzel der Kontextualität festzustellen: Einen internen bzw. einen der Wissenschaftsdisziplin innewohnenden Prozess der Kontextualisierung kann man aus ihrer Entwicklungsgeschichte herleiten. Diesen gilt es von einem externen, durch äußere Faktoren und neue Erkenntnisse auf anderen Feldern bedingten Prozess der Kontextualisierung abzugrenzen. Aus diesem kontextualen Wechselspiel heraus lassen sich etliche Paradigmenwechsel in der frühen Neuzeit besser verstehen. Die Untersuchung geht von Fallstudien aus, wie sie in mechanischen und naturwissenschaftlichen Schriften von Descartes, Kepler, Galileo, Newton, Hooke und Boyle zu finden sind.
Der Autor: Babu Thaliath ist seit 2013 Professor für Philosophie und Germanistik an der Jawaharlal Nehru Universität Neu Delhi. Er studierte zunächst Bauwesen und Germanistik in Indien und promovierte zwischen 1997 und 2003 im Hauptfach Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und an der Universität Basel. Anschließend absolvierte er mehrere postdoktorale Forschungsprojekte im Fachgebiet Frühneuzeitliche Mechanische Philosophie an der Humboldt Universität zu Berlin und der University of Cambridge (2005– 2013).
https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Babu Thaliath
Wissenschaft und Kontext in der frühen Neuzeit
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48845-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81845-9
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dem Andenken an
K. T. Thomas Kollamparambil
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Inhalt
Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Kapitel 1: Die Kontextualisierung der Wissenschaften als historisch-epistemologischer Prozess . . . . . . . . . . . . .
39
1.1: Die Kontextualisierung der Wissenschaften . . . . . . .
39
. . . . . . . . . . . . . . 1.3: Das Wissens- und Glaubenssystem in der Wissenschaft .
47
1.2: Die ätiologischen Strukturen
65
Kapitel 2: Die interne und autonome Kontextualisierung der Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
2.1: Historizität wissenschaftlicher Gegenstände . . . . . . .
96
2.2: Externe und interne Kontextualisierung . . . . . . . . .
107
Kapitel 3: Micrographia und Principia – Entstehung der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie . . . . . . . . . .
126
3.1: Die virtuellen und die realen Experimente . . . . . . . .
126
3.2: Micrographia und Principia . . . . . . . . . . . . . . .
147
Kapitel 4: Die epistemologische Finalität und die Grenzen der ätiologischen Strukturen der Wissenschaften . . . . . . . . .
165
4.1: Der Übergang in materielle Wissenschaften . . . . . . .
165
4.2: Grenzen der ontologischen Kausalstrukturen und die kontextualen Masken . . . . . . . . . . . . . . . . . .
174
4.3: Der historisch-epistemologische Prozess hin zu phänomenal-ontischen Finalitäten . . . . . . . . . . . .
186
7 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Inhalt
Kapitel 5: Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
192
5.1: Die ontologische Ursächlichkeit . . . . . . . . . . . . .
192
5.2: Die historische Apriorisierung der Raumvorstellung . . .
212
5.3: Geschichte des Trägheitsprinzips . . . . . . . . . . . . .
218
Kapitel 6: Die Aporien der phänomenalen Individuation
. . . . 235
6.1: Die phänomenale Individuation . . . . . . . . . . . . .
235
6.2: Die Aporie der phänomenalen Individuation . . . . . . .
244
6.3: Strukturelle und Substanzielle Ursächlichkeit . . . . . .
288
Kapitel 7: Kontextualität als Grenze der ontologischen Ursächlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
293
7.1: Das Verhältnis zwischen makroskopischen und mikroskopischen Phänomenen . . . . . . . . . . . . . .
293
7.2: Die Ontologie der raumwissenschaftlichen Intuitionen
. 301
7.3: Die kontextuale Basis der wissenschaftlichen Interdisziplinarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
305
Kapitel 8: Die Referenzialität der Erkenntnis . . . . . . . . . .
324
8.1: Die Erkenntnissysteme
. . . . . . . . . . . . . . . . . 324
8.2: Die Referenzialität der Erkenntnis . . . . . . . . . . . .
328
8.3: Exkurs: Gezeitenphänomen . . . . . . . . . . . . . . .
346
8.4: Exkurs: »Object Size Consistency« . . . . . . . . . . . .
357
8.5: Die gegenständliche Referenzialität . . . . . . . . . . .
363
Literatur
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
8 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Vorwort
Die vorliegende Abhandlung entstand im Rahmen meiner postdoktoralen Forschung im Bereich der Geschichte und Philosophie der frühneuzeitlichen Wissenschaften. Untersuchungsgegenstand sind vor allem die klassischen mathematischen und materiellen Wissenschaften der Frühneuzeit wie die Klassische Mechanik, Optik, Physik und Chemie sowie die frühneuzeitliche Mechanische Philosophie, aus der sich ursprünglich die naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen Diskurse ergaben. Die Untersuchung erstreckte sich auf einen Zeitraum von vier Jahren. Mit der Forschung begann ich im Jahr 2010 und verfasste die Abhandlung zum größten Teil zwischen Januar 2010 und Juli 2012 während meines Forschungsaufenthalts als Gastforscher am Department of History and Philosophy of Science sowie am St. Edmund’s College der Universität Cambridge. Abgeschlossen habe ich die Arbeit während eines kurzen Forschungsaufenthalts am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin im Jahr 2014. Die Untersuchung ist u. a. eine Fortsetzung meiner vorherigen Studien und Forschungen im Bereich der frühneuzeitlichen Raumwissenschaften – nämlich der Geometrie, Mechanik und Optik –, mit deren theoretisch-axiomatischen Grundlagen ich mich im Rahmen der im Jahr 2010 veröffentlichten Abhandlung Natur und Struktur der Kräfte befasste. Hauptgegenstand der Forschung waren dabei die mechanischen Kraftphänomene und deren aporetischen Manifestationen hinsichtlich einiger mechanischer Phänomene wie der Gravitation und der Trägheitsbewegung. Im Rahmen der aktuellen Forschung versuche ich diese Grundlagen in einen philosophisch-historiographischen Kontext zu stellen und zu erweitern. Im Vordergrund steht dabei vornehmlich das Anliegen, die Geschichtlichkeit der modernen Wissenschaften von der Geschichte ihrer kontextualen Etablierung oder ihrer Kontextualisierung her zu begreifen. Sowohl der Ursprung als auch die Entwicklung einer Wissenschaft geschehen 9 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Vorwort
in bestimmten historischen Kontexten bzw. im Zuge historisch-kontextualer Ausweitung und Abgrenzung gegenüber anderen Wissenschaften. Ziel der Forschung ist es, einen autonomen und internen bzw. einen latenten Prozess der Kontextualisierung, der jedem Wissenschaftsgebiet innewohnt, aus der Entwicklungsgeschichte einiger frühneuzeitlicher Wissenschaften herzuleiten und diesen Prozess von einem externen, zumeist durch subjektive Paradigmen bedingten Prozess der Kontextualisierung abzugrenzen. Der Ursprung und die historische Entfaltung der Geisteswissenschaften waren offensichtlich durch externe subjektiv-paradigmatische Kontexte charakterisiert. Die Entwicklung der Naturwissenschaften in der Frühneuzeit schien dagegen von einer derartigen Tendenz der historischen Kontextualisierung befreit zu sein. Allerdings verweist die domaniale Bestimmung und Differenzierung der frühneuzeitlichen Wissenschaften – als Mechanik, Physik, Chemie, Biologie usw. – auf einen internen und vielmehr objektiven Prozess der historischen Kontextualisierung. Die vorliegende Untersuchung geht von bestimmten Fallstudien aus, wie sie in den mechanischen und naturwissenschaftlichen Schriften aus dem 16. und 17. Jahrhundert von Descartes, Kepler, Galileo, Newton, Hooke und Boyle dargestellt wurden. Die Kontextualität der Wissenschaften wird primär durch eine latente ätiologische Struktur bzw. durch eine Struktur der Kausalität zu begründen versucht. Die Entfaltung der ätiologischen Grundstruktur einer Wissenschaft ist bekanntlich ein historisches Phänomen. Theoretisch basiert die Forschung auf der Erarbeitung der epistemologischen und ontologischen Grundlagen der dem Wissenschaftsgebiet latenten Kausalstrukturen, deren Finalität, dargestellt durch jene axiomatische Erkenntnisbasis, die Grenzen der internen und autonomen Kontextualität der Wissenschaft bestimmt. Seit dem Abschluss meiner Promotion und dem Beginn meiner postdoktoralen Forschungen im Jahr 2005 unterstützt Herr Prof. Dominik Perler, Lehrstuhlinhaber für theoretische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, meine unterschiedlichen Forschungsprojekte. Für die Konzipierung und Durchführung meiner vorherigen und aktuellen Forschung im Gebiet der frühneuzeitlichen Philosophie und Wissenschaften bin ich Herrn Prof. Perler zum innigsten Dank verpflichtet. Ebenso bin ich Herrn Prof. Gottfried Boehm, der zwischen 1999 und 2003 meine Promotion im interdisziplinären Rahmen der Philosophie und der theoretischen und historiographischen Studien zur Renaissanceperspektive betreute, für 10 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Vorwort
sein anhaltendes Interesse an meinen weiteren Forschungsanliegen und für deren großzügige Förderung sehr dankbar. Mein besonderer Dank gilt des Weiteren Herrn Prof. Martin Kemp, Professor Emeritus an der Universität Oxford, für seine langjährige akademische Begleitung, die sich seit ihrem Beginn im Jahr 2000 in Oxford für alle meine bisherigen postdoktoralen Forschungen im Bereich der frühneuzeitlich-klassischen Wissenschaften und Philosophie als sehr hilfreich erwiesen hat. Ganz herzlich danke ich meinen Mentoren, Herrn Prof. John Forrester und Herrn Prof. Hasok Chang vom Department of History and Philosophy of Science der Universität Cambridge, für ihr aktives Interesse an meinem Forschungsprojekt und für die freundliche Förderung meiner Forschung in Cambridge. Prof. Forrester betreute die erste Phase meiner Forschung im Jahr 2010 und führte mich in die Forschungskultur der Universität Cambridge ein. Prof. Chang übernahm die Betreuung in der zweiten und längeren Forschungsphase und unterstützt bis heute das Fortschreiten dieser Forschung und der – sich daran anschließenden – zukünftigen Forschungen. Zum Dank verpflichtet bin ich dem Master und den Fellows des St. Edmund’s College Cambridge für ihre Bereitschaft, mich als Visiting Scholar anzunehmen. Den Archivaren in der Wren Bibliothek am Trinity College Cambridge, wo ich mit den Originalbriefen Newtons und Hookes aus dem Jahr 1679 arbeiten konnte, danke ich sehr für ihre Hilfsbereitschaft und Kooperation. Die sehr produktive Forschungszeit in Cambridge bot mir die Gelegenheit, viele Freunde unter den Studenten, Forschern und Fellows sowie unter den Lehrenden zu gewinnen. Herrn Prof. Tim Crane, Fellow am Peterhouse in Cambridge, danke ich für die fruchtbaren philosophischen Gespräche. Sehr dankend erinnere ich mich zudem an alle meine Freunde aus dem Programm Newcomers and Visiting Scholars (NVS) der Universität Cambridge und der Studentenvereinigung Cambridge University India Society (CUIS) sowie seitens der Gemeinschaft Postdocs of Cambridge. Herrn Michael O’Sullivan und Frau Moira danke ich herzlich für ihre fortwährende Unterstützung während meines mehrjährigen Forschungsaufenthalts in Cambridge. Ebenso gilt mein Dank Frau Dr. Anna Gannon, FSA, Fellow am St. Edmund’s College, und Herrn John Gannon, Fellow am St. John’s College, für ihre Unterstützung während meiner Zeit als Visiting Scholar am St. Edmund’s College Cambridge. Ich bedanke mich ferner bei Herrn Dr. Robert Crellin, Herrn David Binns, Frau Jenny Hunter, Frau Dr. Jennifer M. Rampling und Herrn Jonathan 11 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Vorwort
Rogers für die andauernde Freundschaft und Unterstützung bei verschiedenen akademischen und außerakademischen Anlässen in Cambridge. Nicht weniger Dank schulde ich meinen Lehrern und Freunden aus Indien und Europa für ihr stetes Interesse an meinen postdoktoralen Forschungen und für alle Ratschläge und kritische Hinweise: Herrn Prof. Wilhelm Schlink, Herrn Prof. Anil Bhatti, Herrn Helge Naatz, Frau Dr. Amol Kahlon, Herrn Peter Bartke, Frau Dr. Petra Stefanie Vogler, Herrn Philipp von Leonhardi, Frau Dr. Sanam Dossal, Herrn Vasudevan Alasingachar, Herrn Prof. Sundar Sarukkai, Herrn John Kottayil, Frau Dr. Silvia De Bianchi, Frau Dr. Inge Anders und Herrn Peter Bartke. Frau Julia Engel danke ich herzlich für das sorgfältige Korrektorat meiner Arbeit. Die vorliegende Abhandlung bearbeitete ich abschließend während meiner aktuellen Lehrtätigkeit als Professor im Centre of German Studies an der Jawaharlal Nehru Universität, Neu Delhi. Herrn Prof. Sudhir K. Sopory, Vice Chancellor der Jawaharlal Nehru Universität, danke ich herzlich für sein Interesse an meiner Forschung im Bereich der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie und für seine großzügige Förderung meiner sich daran anschließenden weiteren Forschungsprojekte. Mit dem endgültigen Korrektorat der Arbeit beschäftigte ich mich während eines Fellowships im Internationalen Kolleg Morphomata an der Universität zu Köln. Dieser Forschungsaufenthalt ermöglichte mir, die Abhandlung – in einer angenehmen Arbeitsumgebung – abschließend zu bearbeiten. Dafür möchte ich Herrn Prof. Günter Blamberger sowie den Fellows und Mitarbeitern des Kollegs Morphomata meinen Dank aussprechen. Die Vollendung und die druckfähige Bearbeitung dieser Abhandlung, die sich als mühsam und langwierig erwiesen hat, wäre ohne die sehr liebevolle Unterstützung seitens meiner Frau, Jean Mary, nicht denkbar, dafür spreche ich ihr meinen herzlichen Dank aus. Sehr zu Dank verpflichtet bin ich der Gerda Henkel Stiftung Düsseldorf, die meine Forschung in Cambridge und Berlin in verschiedenen Phasen und deren Verlängerungen mit einem Forschungsstipendium unterstützte. Ohne ihre großzügige Förderung wären die Durchführung meiner Forschung sowie die Verfassung und Veröffentlichung der vorliegenden Forschungsarbeit kaum möglich gewesen. Köln, im Juni 2016
Babu Thaliath
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Einleitung
Die Geschichtlichkeit der Wissenschaften kann als Geschichte ihrer kontextualen Etablierung oder ihrer Kontextualisierung verstanden werden. Ereignet sich der Ursprung einer Wissenschaftsdisziplin in einem bestimmten (historischen) Kontext, so kommt ihre historische Entwicklung im Zuge einer kontextualen Ausweitung und Abgrenzung zustande. Grundsätzlich ist unter der Kontextualisierung einer Wissenschaft ein Prozess der sachlichen und domanialen Grenzziehung zu verstehen, innerhalb dessen die Wissenschaft sich historisch etabliert. Demnach zeigen sich der Ursprung und die Entwicklung jeder neuen Wissenschaftsdisziplin gegenüber den früheren und bereits etablierten Wissenschaften charakteristisch durch kontextuale Verwandtschaft oder in einer kontextualen Differenz. Die Wissenschaftlichkeit, obwohl sie jede historisch-epochale Abgrenzung zu transzendieren scheint, erweist sich nicht als ahistorisch; den Wissenschaften – ihrem Ursprung und ihrer Entfaltung – wird gewöhnlich eine Historizität zugesprochen, indem sie sich in historischen Kontexten betrachten lassen. Die kontextuale Betrachtung – oder die Kontextualisierung – des Ursprungs und der historischen Fortentwicklung der neuzeitlichen Wissenschaften scheint in erster Linie eine strategische wissenschaftshistorische Bewegung zu sein. Die uns bekannten wissenschaftlichen Kontexte in der Frühneuzeit wie Rationalismus, Empirismus, Okkasionalismus usw. verweisen eher auf subjektive bzw. auf wissenschaftshistorische und eher paradigmatische Betrachtungsweisen der einzelwissenschaftlichen Abgrenzung und Ausweitung. Wie nie zuvor entstand das Faktum des Subjekts in der frühneuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte aus dem Geist der kartesischen Philosophie. Obwohl im Rahmen der spätmittelalterlichen Naturphilosophie die epistemischen Ausdifferenzierungen zwischen einem erkennenden Subjekt und dem erkannten Objekt eingeführt wurden, bildete die spätscholastische philosophia naturalis gegenüber der kartesischen 13 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Einleitung
Moderne einen Übergang zu dem sich in der Frühneuzeit zur vollen Blüte entfalteten Subjektivismus. 1 Die kartesische Trennung zwischen dem Geist, der empfindet, erkennt und denkt – als eine immaterielle und unausgedehnte Substanz (res cogitans) – von dem empfundenen und erkannten Objekt – als eine lediglich ausgedehnte materielle Substanz (res extensa) – inaugurierte historisch die Spezifizierung und Differenzierung der Geisteswissenschaften. Diese bezog sich eher auf das Faktum des Subjekts – auf dessen grundsätzlich philosophische und des Weiteren kulturanthropologische Manifestationen. Im Gegensatz dazu stehen die Naturwissenschaften, die an sich allein das Faktum des Objekts – in seiner völligen Abtrennung vom Subjekt – untersuchen. In dem an seine Meditationen anschließenden Hauptwerk Prinzipien der Philosophie (Les Principes de la Philosophie) unterscheidet Descartes deutlich zwischen der Sphäre des Geistes und der des Körpers. Daraus resultiert scheinbar eine Entzweiung im Status der episteme und demnach eine kategorische Unterscheidung zwischen den philosophischen und den naturwissenschaftlichen Epistemologien in der frühen Neuzeit.
Zum Beispiel: Die epistemologische bzw. wahrnehmungstheoretische Trennung zwischen den rein subjektiv-sinnlichen Empfindungen und den empfundenen Objekten, wie sie Descartes in seinen Meditationen vornahm, und die die späteren frühneuzeitlichen Philosophien (Locke, Berkeley u. a.) erneut thematisierten, war anscheinend kein radikaler Bruch mit einer spätmittelalterlichen Tradition. Die spätmittelalterliche Philosophie nämlich konnte die subjektive Empfindung sekundärer Qualia, wie die Farbempfindung, anerkennen, aber das Faktum des Objekts wurde in diesem Wahrnehmungsprozess nicht ausgeschlossen. Nach der spätscholastischen Philosophie werden die Farben vom Subjekt allerdings im Objekt wahrgenommen, wovon Descartes deutlich abweicht. Vgl. dazu: Maier, Anneliese: Zwei Untersuchungen zur nachscholastischen Philosophie, Rom 1968, S. 18: »… für die Scholastik entstehen die qualitates secundae aus den primae im Objekt und nicht erst, wie für die Späteren, im wahrnehmenden Subjekt. Ihre Realität wurde darum in der traditionellen Philosophie nie in Zweifel gezogen, und ebenso wenig die Abbildlichkeit der Qualitätsempfindungen. […] Wie die Qualitäten im einzelnen von den primären abhängen sollen, wird, besonders wenn es sich um die nicht-taktilen handelt, in der älteren Philosophie nur sehr undeutlich gewusst und gesagt. Die Argumentation geht häufig über die Vorzugsstellung des Tastsinns, denn der ist zwar nicht der vornehmste, aber der notwendigste Sinn, der von allen vorausgesetzt wird, selbst aber keinen voraussetzt. Die Betrachtung wird damit auf ein Gebiet hinübergespielt, das vielleicht die stärkste Problematik und die meisten Ansatzmöglichkeiten für die Weiterentwicklung enthielt.« Zwischen der subtilen Integrierung des Objekts im subjektiven Wahrnehmungsprozess und der völligen Ausdifferenzierung des Objekts vom subjektiven Denken markierte die spätscholastische Naturphilosophie einen philosophisch-historischen Übergang.
1
14 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Einleitung
Die kartesische Ansicht, dass die Wissenschaften auf der Philosophie basieren sollten, besagt eine ursprüngliche methodisch-epistemologische Verbundenheit der frühneuzeitlichen Wissenschaften mit der Philosophie. Allerdings schienen sich die Philosophie und die Naturwissenschaften in der Frühneuzeit bei der entscheidenden Bestimmung eines grundlegenden Faktums auseinanderzuentwickeln, nämlich der Bestimmung des Gegenstands der Untersuchung. Die vollkommene Trennung der Sphäre des Geistes von der des Körpers, durch die Descartes jene unklare bzw. unzureichende Ausdifferenzierung zwischen diesen Entitäten in der spätscholastischen Naturphilosophie zu überwinden suchte, führte letztendlich zu einem Grundproblem der Philosophie selbst – und zwar zu der notwendigen ontologischen Autonomisierung des Körpers gegenüber dem Subjekt, das die materiellen Gegenstände empfindet und erkennt. Folglich entstand die kategorische Unterscheidung zwischen den möglichen Gegenständen der Philosophie und den Gegenständen der Naturwissenschaften. Die Naturwissenschaften, denen die Sphäre des materiellen Körpers unterworfen wurde, begannen den tradierten reduktionistischen Tendenzen der Philosophie entgegenzuwirken. Anstatt der reduzierten finalen Entitäten in der Philosophie wie der Materie oder des materiellen Körpers, der gegenüber dem Geist die rein physikalische oder phänomenale Wirklichkeit der Welt ausmacht, trat eine Vielfalt der materiellen – anorganischen und organischen – Phänomene als verschiedene Modi der materiellen Existenz. Die Vielfalt der physikalischen Phänomene wurde bekanntlich in der Philosophie des baconschen Empirismus als primärer Gegenstand der Untersuchung anerkannt, was die Entstehung verschiedener naturwissenschaftlicher Disziplinen in der Frühneuzeit veranlasste. Der frühneuzeitliche Ausgang der Naturwissenschaften ist deutlich gekennzeichnet von einem historischen und philosophischen Übergang (bei der Bestimmung des möglichen Gegenstands der Untersuchung) von der tradierten ontologischen Einheit der Grundvorstellung vom physikalischen Phänomen – dargestellt im kartesischen System als der dem Geist entgegengesetzte Körper – hin zu einer ontologischen Vielfalt der materiellen Realität. Allerdings fand die ontologische Vervielfältigung der physikalischen Phänomene bei den frühneuzeitlichen Philosophen, insbesondere bei den Rationalisten, keine hinreichende Anerkennung. Vielmehr ist die frühneuzeitliche Philosophie charakterisiert durch das reduktionistische Prinzip bei der Bestimmung ihrer Gegenstände der 15 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Einleitung
Untersuchung. Damit begann sich auch in gewisser Hinsicht der von Francis Bacon initiierte frühneuzeitliche Empirismus vom kartesischen Rationalismus zu trennen. Die kartesische Reduktion der gesamten, von uns erfahrenen Realität auf zwei finale Entitäten – Geist und Körper – war der baconschen Methode der Induktion, die sich in erster Linie auf die Vielfalt der phänomenalen Welt bezieht, entgegengesetzt. Offensichtlich zielte Descartes anhand einer derartigen ontologischen Reduktion auf die Begründung seiner Grundvorstellung von der Apodiktizität der geistigen Existenz, die sich von der Welt der Phänomene vollkommen abgrenzt. Aber tendenziell erwies sich das kartesische System als eine hierarchische Subsumierung der in Wirklichkeit vielfältigen physikalischen Phänomene aber auch der mentalen Zustände und Operationen unter den Oberbegriffen des Denkens und des rein körperlichen Daseins. Obwohl Descartes in seinem Werk Les Principes de la Philosophie den Versuch unternimmt, die philosophische Untersuchung des Geistes von der eher wissenschaftlichen Untersuchung der Körperwelt methodologisch zu trennen, entwickelte sich daraus keine Wissenschaft, die auf der Vielfalt der physikalischen Phänomene basiert, sondern die Wissenschaft der Mechanik, die die physikalischen Phänomene trotz ihrer großen Vielfalt und vereinzelten Existenz auf einem einheitlichen Begriff des Körpers reduziert. Auch die physiologischen Auslegungen des Sehvorgangs in Descartes Dioptrik, die zu einer seiner wissenschaftlichen Schriften zählt, scheinen prinzipiell den primären geometrisch-optischen Grundzügen des Sehens und des Lichtes untergeordnet zu sein. Das Korrelat zu dieser Tendenz, also zu einer vereinfachenden ontologischen Reduktion auf der Ebene des Geistes ist eindeutig die kartesische Vorstellung von »cogitans«, unter dem – als bloßes Denken – alle mentalen Zustände und Operationen wie Empfindung, Wahrnehmung, Erkennen, Einbildung, Erinnerung, Willensakte usw. subsumiert werden. Daraus ergab sich im kartesischen System ein Problemzustand, der die dem Denken vorausgehende Domäne des Geistes, die sich auf die vorlogischen bzw. vorsprachlichen mentalen Operationen – wie die sinnlichen Empfindungen aber auch auf die Willensäußerungen – bezieht, zugunsten des Primats des reinen Denkens vernachlässigt. Das Übersehen der ontologischen Vielfalt der mentalen Zustände und Operationen und die funktionale Reduktion des Geistes allein auf das Denken hatten zur Folge, dass die philosophischen Strategien Descartes auf etliche wissenschaftliche Grundprobleme, wie den Nexus zwischen Leib und Seele, stießen, die sich 16 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Einleitung
unmittelbar aus dem kartesischen Leib-Seele-Problem folgern lassen. 2 Dass die Vielfalt der physikalischen Phänomene im Rahmen einer Naturphilosophie anerkannt wurde, was vor allem das baconsche System bewirkte, markierte das Aufkommen der Naturwissenschaften in der Frühneuzeit. Gegenüber den reduktionistischen Tendenzen der Philosophie erwiesen sich die Naturwissenschaften als eher empirisch-experimentell oder sogar als enzyklopädisch. Die unmittelbar beobachteten Phänomene wurden nicht zugunsten einer deduktiven Logik unterdrückt; stattdessen wurden sie in ihrer Einzelheit untersucht und als wissenschaftliche Gegenstände anerkannt. In Bezug auf die physikalischen Phänomene trat der wissenschaftliche Pluralismus dem philosophischen Reduktionismus entgegen. Das Aufkommen des wissenschaftlichen Geistes in der Frühneuzeit schien einen Einfluss auf die Philosophie, genauer gesagt, auf die Untersuchung der mentalen Phänomene ausgeübt zu haben. CharakteGemeint ist hier vor allem die Polemik einiger bekannter Kartesianer wie Prinzessin Elisabeth von Böhmen und Pierre Gassendi gegen die kartesische Vorstellung von der immateriellen und unausgedehnten Seele, die trotz dieser Eigenschaften mit dem materiellen und ausgedehnten Leib verbunden ist und dadurch in ihm Willensakte verursacht. In ihrem ersten Brief an Descartes (vom 6. Mai 1643) stellt Prinzessin Elisabeth die Frage, wie die immaterielle und unausgedehnte Seele leibliche Willensäußerungen zustande bringen kann: »Wie kann die Seele des Menschen die Lebensgeister dazu veranlassen, die Willkürhandlungen auszuführen (da sie doch nur eine denkende Substanz ist)? Denn es scheint, dass jede Bewegung durch einen Stoß verursacht wird, wobei die Art des Stoßes von den Eigenschaften und der Form der Oberfläche des Gegenstands abhängt, durch den der Stoß ausgeführt wird. In den beiden ersten Fällen wird Berührung vorausgesetzt und beim dritten die räumliche Ausdehnung. Sie schließen aber diese vollständig aus dem Begriff aus, den Sie von der Seele haben, und jene erscheint mir unvereinbar mit einem immateriellen Gegenstand. Deshalb bitte ich Sie um eine spezifischere Definition der Seele als in Ihrer Metaphysik …« (Vgl. Lauth, Bernard: Descartes im Rückspiegel, Paderborn 2006, S. 187–188). In seiner Antwort auf diese Polemik gibt Descartes zu, dass er die unwiderlegbare Verbundenheit der Seele mit dem Leib in der Domäne der Sinnlichkeit und Willensakte zugunsten des bloßen Denkens bzw. zur Begründung des vom Leib völlig abgetrennten Modus des Denkens übersehen hat: »Denn von den zwei Dingen in der menschlichen Seele, von denen die gesamte über ihre Natur mögliche Kenntnis abhängt, ist eines, dass sie denkt, das andere, dass sie durch ihre Vereinigung mit dem Körper mit diesem handeln und leiden kann; ich habe fast nichts über das letztere gesagt und mich allein bemüht, das erste gut verständlich zu machen, weil es meine Hauptabsicht war, den Unterschied zwischen Seele und Körper zu beweisen; dazu konnte nur dieses dienen, und das andere wäre dem schädlich gewesen.« (Ebd., S. 188).
2
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Einleitung
ristisch für die frühneuzeitliche Philosophie ist bekanntlich, dass der Bereich der Epistemologie, die sowohl den philosophischen als auch den wissenschaftlichen Untersuchungen als Basis diente, stärker als je zuvor in den Vordergrund zu treten begann. Der Grundzug dieser philosophisch-historischen Tendenz war nämlich, dass die frühneuzeitliche Epistemologie die mentale Existenz des Menschen als Gegenstand ihrer Untersuchung erneut entdeckte und sie dabei in ihrer ontologischen und operationalen Fragmentierung – in den Modi vielfältiger mentaler Zustände und Operationen – anerkannte. Die epistemologische Wende in der frühen Neuzeit veranlasste nicht nur die radikale und revolutionäre Emergenz der Naturwissenschaften, die auf der Vielfalt der physikalischen Phänomene aufbauten, sondern auch die Entstehung der Geisteswissenschaften aus einer ontologischen Fragmentierung der mentalen Existenz des Menschen und deren kulturanthropologischen Ergebnissen, vor allem dargestellt in praktischen bzw. ethischen aber auch in ästhetischen Bereichen. Der kartesische Reduktionismus, veranschaulicht in seinen vollkommen ausdifferenzierten Grundvorstellungen von Geist und Körper als res cogitans und res extensa, markierte augenscheinlich einen letzten philosophisch-epistemologischen Widerstand gegen einen aufkommenden wissenschaftlichen Pluralismus, der sowohl die physikalischen als auch die mentalen Phänomene nicht einheitlich, sondern durchaus vielfältig auffasste und legitimierte. Die frühneuzeitliche Epistemologie schien während dieses historischen Übergangs in den wissenschaftlichen Pluralismus zwei Hauptprobleme bewältigt zu haben: Erstens die Erkennbarkeit der vielfältigen Phänomene und zweitens die Identifizierung und Absicherung der Gegenstände der wissenschaftlichen Untersuchung. Daraus ergaben sich die epistemologischen und ontologischen Grundlagen der Natur- und Geisteswissenschaften. Bereits die vollkommen reduktionistische Differenzierung zwischen Geist und Körper von Descartes verwies auf eine ursprüngliche philosophische bzw. epistemologische und ontologische Fragmentierung zwischen der mentalen und der phänomenalen Wirklichkeit. Die Erkennbarkeit der vielfältigen physikalischen Phänomene setzte in erster Linie eine eher wissenschaftliche Epistemologie voraus, wogegen die Philosophie oder philosophische Epistemologie der Frühneuzeit begann, die Erkennbarkeit der mentalen Phänomene als ihren Hauptgegenstand der Untersuchung zu identifizieren. Das Denken in und mit den Objekten und objektiven Verhältnissen schien von vornherein die wis18 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Einleitung
senschaftlich-epistemologischen Untersuchungen zu charakterisieren. Im Vergleich dazu wandte sich das frühneuzeitliche Subjekt an sich selbst. Dieser Entzweiung in der Epistemologie folgte eine allmähliche geschichtliche Trennung zwischen den Naturwissenschaften und der Philosophie und zwischen ihren Methoden der Untersuchung. Die Wissenschaften konnten aufgrund der physikalischen Phänomenalität, die ihre Grundlage bildet, die eher reduktionistische Tendenz der philosophischen Epistemologie nicht ohne Weiteres annehmen; sie suchten deswegen jene Reduktion der phänomenalen Komplexität auf verschiedene axiomatische Erkenntnisse. Die Vielfalt der Axiome als erste Prinzipien, worauf die Wissenschaften aufbauten, bezieht sich offensichtlich auf die Vielfalt der physikalischen Phänomene. Der Auseinanderentwicklung der geistes- und naturwissenschaftlichen Disziplinen, die in der Spätmoderne deutlich zum Vorschein kam, lag die oben erörterte historische Entzweiung in der Epistemologie – in den Methoden der Untersuchung – zugrunde. Für die Philosophie bedeutete dieser Verlust der Phänomene letztendlich einen historischen Umbruch, was die Prioritäten ihrer Untersuchung betraf. Gegenüber der domanialen Besitzergreifung der physikalischen Phänomenalität der Naturwissenschaften entwickelte die Philosophie in der Frühneuzeit ein beschränktes Untersuchungsgebiet in der Domäne des Subjekts selbst. Diese subjektive Wende in der philosophischen Epistemologie lässt sich an zwei Grundmerkmalen der frühneuzeitlichen Philosophiegeschichte erkennen: Erstens an der Betrachtung des Subjekts als Gegenstand der (philosophisch-epistemologischen) Untersuchungen, woraus sich die moderne theoretischphilosophische Epistemologie ergab, und zweitens an der Entstehung der Geisteswissenschaften, die als eher subjektiv eingerichtete Kulturgebäude auf Dauer eine mit den Gegenständen der naturwissenschaftlichen Untersuchungen vergleichbare Wichtigkeit und Legitimität erlangten. Die Auseinandersetzung zwischen der Philosophie und den Naturwissenschaften in der Frühneuzeit wurde allerdings innerhalb des Bereiches der Philosophie selbst durch eine Ausdifferenzierung der Philosophie des Geistes – gegenüber der philosophia naturalis – gekennzeichnet. Während bei Descartes, dem Gründer der modernen Philosophie des Geistes und der Natur, eine gewisse Korrelation zwischen diesen Formen der frühneuzeitlichen Philosophie zu erkennen ist, tritt ihre Divergenz bei den postkartesischen Philosophien – bei Hobbes, Locke, Berkeley, Hume, Leibniz und Kant – viel klarer in 19 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Einleitung
Erscheinung. Sowohl die Empiristen als auch die Rationalisten unter den postkartesischen Philosophen begannen den menschlichen Verstand als den Hauptgegenstand ihrer philosophischen Systeme zu identifizieren. Aus dieser philosophisch-historischen Tendenz entstand in der Frühneuzeit eine Reihe von philosophischen Hauptwerken, die allein den menschlichen Verstand in seinen Einzelheiten untersuchten – also die sogenannten Essays on Human Understanding von Locke, Berkeley und Hume und deren Resonanz auf dem Kontinent, am treffendsten dargestellt durch den Apriorismus von Leibniz und Kant. Auch wenn Kant in einer Philosophie der Synthese die verbindliche Erkenntnis begründete bzw. versuchte, einen epistemologisch-synthetischen Nexus zwischen dem erkennenden Subjekt und dem erkannten Objekt zu etablieren und dadurch die entgegengesetzten frühneuzeitlichen Philosophien des Rationalismus und des Empirismus in einem System der Transzendentalen Philosophie zu versöhnen, blieb seine Philosophie letztendlich im strengen Rahmen eines transzendentalen Apriorismus. Noch stärker als Descartes oder Locke plädierte Kant für einen philosophischen Subjektivismus. Diesen vertrat er deutlich in seiner philosophisch-propädeutischen Feststellung der Apriorität der menschlichen Erkenntnisse, auf die nach Kant die Apodiktizität der synthetischen Verstandesurteile zurückzuführen ist. Demnach hieß der kantische Grundsatz: wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Dabei schien kaum berücksichtigt zu werden, ob die Apriorität der Erkenntnisse eine ursprüngliche Korrelation mit der Aposteriorität der auf der physikalischen Phänomenalität basierenden sinnlichen Erfahrungen – dargestellt insbesondere in natur- und raumwissenschaftlichen bzw. in geometrischen, mechanischen und optischen Intuitionen 3 – voraussetzt. Die meisten Beispiele, die Kant in der Einführung zur Transzendentalen Elementarlehre in der Kritik der reinen Vernunft zur Verteidigung seiner Vorstellung von der Apriorität der Erkenntnisse gibt, stammen aus der euklidischen Geometrie und der newtonschen Mechanik; wie z. B. der Beweis des apriorischen Ursprungs des Axioms der Gerade: »Dass die gerade Linie zwischen zwei Punkten die kürzeste sei«, ist nach Kant ein synthetisches Urteil a priori, »denn mein Begriff vom Geraden enthält nichts von Größe, sondern nur eine Qualität. Der Begriff des Kürzesten kommt also gänzlich hinzu, und kann durch keine Zergliederung aus dem Begriff der geraden Linie gezogen werden.« (Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1990, S. 49 (B 16)). In diesen und ähnlichen Beispielen aus der klassischen Geometrie und Mechanik betont Kant allein den synthetischen Wesenszug dieser apriorischen Erkenntnisse. Aber ursprünglich entstehen die axiomatischen geometrischen und mechanischen Erkenntnisse aus der produktiven Einbildungskraft
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Einleitung
Die frühneuzeitliche Trennung zwischen Geist und Natur brachte jedoch die Entfaltung der philosophia naturalis als Mechanische Philosophie hervor, was im Grunde dem außergewöhnlichen Aufkommen der Naturwissenschaften als Basis diente. In der Frühneuzeit, besonders dargestellt in dem grundlegenden kartesischen System selbst, bildeten die Philosophie des Geistes und die Philosophie der Natur Korrelate, was an ihren analogen Methoden, kontextualen Spezifizierungen und vor allem an ihren modalen und teleologischen Ansatzpunkten zu erkennen ist. Dieselben Philosophen (Descartes, Locke, Gassendi, Hobbes u. a.) bekannten sich teilweise zu gemeinsamen Grundzügen der Philosophie des Geistes und der der Natur, die sich eindeutig von der Tradition – besonders von der spätmittelalterlichen Scholastik – differenzierten. Die wichtigsten davon waren ein entschiedenes Einsetzen für ein Wissenssystem und der – daran anschließende – radikale Abschied von einem Glaubenssystem, wovon die mittelalterliche Scholastik kaum emanzipiert zu sein schien. Dieser historische Übergang in der Frühneuzeit drückte sich in erster Linie in den philosophisch-epistemologischen Bestrebungen – bei den Philosophen und Naturwissenschaftlern wie Descartes, Kepler, Gassendi, Newton, Galileo, Locke, Hooke, Huygens u. a. – aus, die »episteme« von den der spätmittelalterlichen Scholastik übrig gebliebenen Fakten des dogmatischen Glaubens – dargestellt durch irrationale Annahmen, anthropomorphisierende Erklärungsformen usw. – loszulösen und sie dabei vollkommen neu zu definieren. Der Ursprung der Neuzeit – insbesondere hervorgegangen aus der kartesischen Philosophie – wurde in dieser Weise vor allem durch eine epistemologische Wende gekennzeichnet, die in der Frühneuzeit den historischen Anbruch der Philosophie des Geistes und zugleich die Entfaltung der mechanischen Naturphilosophie nachhaltig prägte. Das kartesische System, das bekanntlich das Programm der Moderne initiierte, lieferte das treffendste Beispiel dafür, wie im Rahmen einer annähernd analogen Epistemologie die Philosophie des Geistes mit der Philosophie der Natur korrelieren kann. Im Rahmen der Phi(wie Kant es feststellt), also aus visuell-strukturellen Intuitionen, die sowohl in ihrer subjektiven Virtualität als auch in ihrer objektiven Realität dasselbe Faktum der Sinnlichkeit bzw. der Visualität voraussetzen. Daher scheint die (kantische) Vorgehensweise, dem Axiomatischen und – dementsprechend – dem Apodiktischen an den grundlegenden geometrischen und mechanischen Intuitionen deren objektive Phänomenalität loszureißen und sie allein dem apriorisch-subjektiven Verstand zuzuschreiben, von vornherein nicht schlüssig zu sein.
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Einleitung
losophie des Geistes lässt Descartes zwar die metaphysischen Grundvorstellungen, wie die göttliche Verursachung der apriorischen Ideen im Subjekt, in seinem philosophischen System zu, aber seine methodische Behandlung der Verbundenheit der subjektiven Vorgänge, wie Sinnesempfindungen und Willensakte, mit dem materiellen Leib basiert auf rein mechanischen Erklärungen der Phänomene. Zum Beispiel unternimmt Descartes in seinem Werk Dioptrik den Versuch, den subjektiven Sehvorgang zum einen rein physiologisch und zum anderen ausschließlich mechanisch zu erklären. Die mechanische Erklärung des Sehvorgangs wird besonders durch eine methodologische Analogie zwischen Sehen und Tasten bei der visuellen Distanz-, Größe- und Lagewahrnehmung der Gegenstände, dargestellt in dem Gleichnis des Blinden mit den Stöcken, nachgewiesen. 4 Ebenso sucht Descartes, von Prinzessin Elisabeth von Böhmen aufgefordert, für die Leidenschaften (die er ursprünglich für ausschließlich geistig bzw. für einen Modus des Denkens hielt) Erklärungen in ihrem leiblichen Ursprung bzw. in ihrer Verursachung durch das esprits animaux im Leib. 5 Derartige Methoden der philosophisch-wissenschaftlichen Untersuchung belegen die grundlegende Korrelation zwischen Geist und Natur im kartesischen System. Diese Korrelation schien in der postkartesischen Philosophie nicht hinreichend beachtet zu werden. Die frühneuzeitliche Philosophie wies im Verlauf ihrer Geschichte eine charakteristische Polarität – zwischen Rationalismus und Empirismus – auf. Während die Rationalisten von dem von Descartes festgestellten Primat des Denkens gegenüber dem Phänomen – demgemäß von der Apodiktizität der An dieser Stelle gilt es anzumerken, dass Kant bei seiner vollkommenen Apriorisierung der Sinnesempfindungen – insbesondere der sinnlichen Raumwahrnehmung – dazu neigte, die einst von Descartes eingeführte mechanische Erklärung des Sehvorgangs im Rahmen seiner Transzendentalen Ästhetik abzuerkennen. Kant schreibt – in einer scheinbar dogmatischen Stimmung – den Sehvorgang, insbesondere die visuelle Raumwahrnehmung, allein dem Subjekt zu; Kant betrachtet dabei die Anschauung, deren wichtigster Modus das Sehen ist, als einen rein subjektiven Vorgang a priori, ohne dabei die Möglichkeit einer objektiven Phänomenalität des Sehvorgangs, womit sich die vorkantischen Philosophen wie Molyneux, Locke, Berkeley, Condillac, Diderot u. a. beschäftigten, überhaupt zu berücksichtigen. Durch seine transzendental-philosophische Apriorisierung aller sinnlichen Wahrnehmungen vermochte Kant den frühneuzeitlichen Diskurs über die Grundlagen der unmittelbaren visuellen Raumwahrnehmung – zwar nur vorläufig – zu unterdrücken. 5 Descartes, René: Die Leidenschaften der Seele. Französisch-Deutsch, hrsg. und übers. von Klaus Hammacher, Hamburg 1996, S. 16 f. 4
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Einleitung
angeborenen Ideen gegenüber den empirisch zu erfahrenden physikalischen Phänomenen – ausging, neigten die Empiristen zu einer Grundvorstellung von dem erfahrungsmäßigen Ursprung der subjektiven Ideen und Erkenntnisse, die notwendigerweise die unmittelbare Beteiligung der physikalischen Gegenständlichkeit an den subjektiven Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen voraussetzt. Der Ursprung dieser Polarität lässt sich deutlich in der zuvor erörterten ontologischen Differenzierung zwischen Geist und materiellem Körper im kartesischen System feststellen. Die extremen Haltungen in der frühneuzeitlichen Entwicklung der Philosophie – wie der Atomismus von Hobbes, der auch die mentalen Zustände und Operationen kausal ausschließlich auf atomare Substantialität und Strukturen im Gehirn zurückführte, oder der Immaterialismus Berkeleys, in dem dieser die gesamte physikalisch-objektive Phänomenalität erkenntnistheoretisch auf rein subjektive bzw. mentale Phänomene oder Existenzformen reduzierte – ergaben sich letztendlich aus dem bis heute fortwirkenden Geist des kartesischen Dualismus. Allerdings entstand die philosophisch-paradigmatische Polarität zwischen Rationalisten und Empiristen in der Frühneuzeit eher im Bereich der Philosophie des Geistes. Dagegen blieben die mechanischen Naturphilosophien in ihren Grundannahmen, Methoden und Strategien sowohl bei den Rationalisten als auch bei den Empiristen mehr oder weniger einheitlich. Der Hauptgrund dafür war die grundlegende Einheit der Naturphänomene gegenüber der möglichen Vielfalt der subjektiven Standpunkte und Perspektiven. Zustande kam die Trennung zwischen Rationalismus und Empirismus durch die verschiedenen Standpunkte der frühneuzeitlichen Philosophen bezüglich des Ursprungs der Erkenntnis im Erkenntnisvorgang; zwei Positionen, nämlich das apriorische Vorhandensein der fundamentalen – theoretischen und praktischen – Erkenntnisse im Geist (Rationalismus) und der aposteriorische Ursprung der Erkenntnis in der Erfahrung (Empirismus), setzten sich einander entgegen. Anders betrachtet basierte diese Entzweiung der Philosophie in der Frühneuzeit auf der Frage nach dem Vorrang von zwei wesentlichen Domänen des Subjekts beim Erkennen der phänomenalen Welt, nämlich der Verstand und die Sinnlichkeit. D. h. die Kontexte des Rationalismus und des Empirismus sowie die kontextuale Differenz zwischen diesen beiden wichtigen Denkschulen der Neuzeit beziehen sich allein auf die Philosophie des Geistes, was in dem späteren System der transzendentalen Philosophie, in dem Kant diese philosophisch-historische Entzwei23 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Einleitung
ung zu überwinden bzw. aufzuheben suchte, deutlich zum Ausdruck kam. Die transzendentale Philosophie Kants bezog sich einzig auf den menschlichen Geist. Obwohl Kant in seiner propädeutischen Erkenntnislehre (in der Kritik der reinen Vernunft) von der Synthese, bzw. von dem synthetischen Nexus zwischen dem erkennenden Subjekt und dem erkannten phänomenalen Gegenstand ausgeht, wird in seinem transzendentalen Philosophiesystem in erster Linie die apriorische Erkennbarkeit der phänomenalen Welt untersucht. Die Überzeugung von der primären transzendentalen Apriorität der Erkenntnisse schien Kant dazu zu veranlassen, die notwendige Beteiligung der phänomenalen Gegenstände, die erkannt werden, am Erkenntnisprozess ausschließlich auf ihre Gegebenheit in der Empfindung zu reduzieren, wie Schopenhauer ihm vorwirft. 6 Im Unterschied zur Philosophie des Geistes war die frühneuzeitliche Naturphilosophie, insbesondere die Mechanische Philosophie, nur in geringerem Maße dazu prädestiniert, in historisch-kontextualen Kategorien wie Rationalismus und Empirismus betrachtet zu werden. Denn die Einheit der Naturphänomene, wie sie durch die naturphilosophische Epistemologie vorausgesetzt wird, ist der Vielfalt der möglichen subjektiven Betrachtungsweisen – im Rahmen der Philosophie des Geistes und in ihrem Anwendungsbereich, nämlich den Geisteswissenschaften – entgegengesetzt, wie an früherer Stelle erörtert wurde. Die Gegenstände der Natur können von verschiedenen subjektiven Standpunkten betrachtet werden; demnach variieren die philosophischen Vorstellungen von der Erkennbarkeit der Gegenstände. Dagegen erweisen sich die Gegenstände in ihrer Phänomenalität – also in ihrem rein objektiven Seinsmodus – als unveränderlich. Die Einheit der phänomenalen Wirklichkeit schien der frühneuzeitlichen mechanischen Naturphilosophie, in der das Subjekt verpflichtet war, mit den Gegenständen zu denken – oder sich gar in diese hineinzudenken –, eine der paradigmatischen Kategorisierung nicht unterworfene Historizität zu verleihen. Daher war es kein Zufall, dass die Philosophen der Frühneuzeit unabhängig von ihrer philosophischen Parteinahme als Rationalisten (Descartes, Leibniz, Kant u. a.) und Empiristen (Locke, Berkeley, Hobbes u. a.) eine mehr oder weniger einheitliche Vorstellung von der Mechanischen Philosophie hatten und darin mit den frühneuzeitlichen Naturwissenschaftlern – Schopenhauer, Arthur: Kritik der Kantischen Philosophie. In: Die Welt als Wille und Vorstellung, Anaconda Verlag, Köln 2009, S. 385.
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Kepler, Galileo, Newton, Hooke u. a. – übereinstimmten. Die frühneuzeitliche mechanische Philosophie entwickelte sich kaum fragmentarisch, denn sie wurzelte – auch gegenüber dem philosophischen Empirismus – viel tiefer in der objektiven Phänomenalität der Natur. Die vorrangige Beteiligung der phänomenalen Wirklichkeit schien der Epistemologie der Mechanischen Philosophie einen sich von der Epistemologie der Philosophie des Geistes unterscheidenden oder sie erweiternden Wesenszug zu verleihen. Die epistemologischen Methoden der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie bedingten mehr als die Annahme einer Gegebenheit der Gegenstände in der Erfahrung und deren bloße Rezeption vom erkennenden Subjekt ein aktives Hineindenken in die phänomenale Wirklichkeit. Während im Rahmen der Philosophie des Geistes die Möglichkeiten des Philosophierens eher subjektiv festgestellt wurden, wurden sie im Rahmen der Naturphilosophie tendenziell durch die Gegenstände bedingt. Die geläufige Einstufung des Erkenntnisvorgangs von sinnlicher Erfahrung zum Verstandesurteil und zum repräsentativen Erkennen und Denken sollte nun im Kontext der Mechanischen Philosophie dank des unabdingbaren Faktums des Objekts und seiner Legitimität erneut bestimmt bzw. präzisiert werden. Hier kann im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie davon ausgegangen werden, dass der im Allgemeinen behauptete epistemologische Dualismus zwischen der aposteriorischen Erfahrung und dem apriorischen Denken in einer einheitlichen epistemologischen Methode der Intuition, die bereits in der spätscholastischen Philosophie weitgehend vertreten wurde, 7 aufgehoben wird. Intuitionen sind ursprünglich apodiktische Erkenntnisse, die als solche keiner weiteren – deduktiven – Beweisführung bedürfen. Im Rahmen der Mechanischen Philosophie, die die phänomenale Existenz der Naturgegenstände voraussetzt, gewinnt die erkenntnistheoretische Intuition deren Einheit und Apodiktizität eher aus dem Faktum des Objekts, bzw. aus der phänomenalen Wirklichkeit, als aus dem rein subjektiven Erkenntnisvermögen. Die Apodiktizität der wissenschaftlichen Intuitionen ergibt sich streng genommen nicht aus einer subjektiven Möglichkeit (des Erkennens), sondern vielmehr aus einer subjektiven Unmöglichkeit, dass die phänomenalen Gegen-
Vgl. Pasnau, Robert: Cognition, in: The Cambridge Companion to Duns Scotus, hrsg. von Thomas Williams, Cambridge University Press, Cambridge 2003, S. 296 f.
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Einleitung
stände aufgrund ihrer ontologischen oder existentiellen Einheit nicht anders erkannt werden können. Wichtig ist hier anzumerken, dass in den grundlegenden epistemologischen Intuitionen im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie – insbesondere in der Mechanik und in der Optik – der von Rationalisten und Empiristen vertretene und von Kant bekanntlich versöhnte oder überwundene Dualismus zwischen Apriorität und Aposteriorität der Erkenntnisse bereits aufgehoben gewesen war. Innerhalb der philosophischen und wissenschaftlichen Epistemologie besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der unmittelbaren operativen Beteiligung der phänomenalen Wirklichkeit an den Intuitionen, die sich vornehmlich im visuellen Modus als produktive Imagination ereignet, und der bloßen Gegebenheit der Gegenstände in der Erfahrung, die Kant als ein aposteriorisches Element im empirischen Erkenntnisprozess bestimmt. Die frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophien schienen der ursprünglichen epistemologischen Einheit der Intuition, in der die unmittelbare Präsenz des Faktums des Objekts und der objektiven Operationen den scheinbaren Dualismus zwischen der Apriorität und der Aposteriorität der Erkenntnisse aufhebt, ihre Entstehung und Entwicklung zu verdanken. Der epistemologische Grundzug der Mechanischen Philosophie, nämlich das Denken mit den Gegenständen oder das Hineindenken in diese, wurde in der Neuzeit allmählich im Rahmen der historischen Apriorisierung der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die vor allem von Rationalisten vorangetrieben wurden und die sich in der Transzendentalen Philosophie Kants zur Blüte entfaltete, aufgelöst. Die saubere Trennung zwischen den subjektiven Attributen und den rein gegenständlichen Eigenschaften als methodologische Propädeutik im kartesischen System, wie sie besonders in »Meditationen« eingeführt und des Öfteren verwendet wurde, verweist auch auf einen Wesenszug der philosophischen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Epistemologie in der Frühneuzeit, nämlich auf das Denken hin zu irreduziblen Finalitäten, und zwar zu epistemologischen und ontologischen Finalitäten, woraus sich allein die axiomatischen Erkenntnisse, also die Grundsätze der Philosophie und der Wissenschaften, ergeben können. Die Methode des Zweifelns und der Negation bzw. der systematischen Absonderung des Subjekts aus dem rein objektiven Faktum (das nach Descartes allein die res extensa ausmacht) im Erkenntnisprozess beschreibt ihrer Form nach zwar 26 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Einleitung
keine epistemologische Intuition, deren Allgemeinheit und Apodiktizität dem erkennenden Subjekt unmittelbar – ohne schrittweise Ableitung – vorkommt. Aber in ihrem Grundprinzip, nämlich dem Denken hin zu Finalitäten (das die axiomatische Finalität der philosophischen und naturwissenschaftlichen Grundsätze erwirkt), nähert sich diese Methode Descartes einer axiomatisch-epistemologischen Intuition. Die Grundvorstellungen Descartes, auf denen er seine Meditationen aufbaut, nämlich die vollkommene Differenzierung zwischen Geist und Körper – zwischen res cogitans und res extensa –, der unwiderlegbare Grundsatz ego cogito, ergo sum, Gott als allererster Urheber der dem menschlichen Geist angeborenen Ideen oder als der absolute Garant für die Wahrhaftigkeit menschlicher Erkenntnisse usw., werden als finale Erkenntnisse dargestellt, deren Apodiktizität auf ihrer Irreduzibilität basiert. Besonders die systematische Absonderung der allein subjektiv hinzugefügten Attribute aus dem Gegenstand, die Descartes als propädeutische Methodik sowohl für den Leib als auch für äußere Körper verwendet, zeigt deutlich eine schrittweise Progression hin zu finalen Entitäten und zu ihrer ebenso finalen Erkennbarkeit, aus der sich die ersten Prinzipien der Philosophie erneut ergeben sollen. Die Vorstellungen von res cogitans und res extensa, ihre vollkommene Differenzierung voneinander und der daraus abzuleitende Grundsatz cogito ergo sum sind durch ihren Status als finale Erkenntnisse am ehesten gekennzeichnet. Der Zweck der kartesischen Methode des systematischen Zweifelns und der Negation der zu bezweifelnden Fakten (am Gegenstand) ist offensichtlich die Isolierung der residualen und finalen und als solche irreduziblen Erkenntnisse, die die Grundlagen der Wissenschaft der Philosophie bilden sollten. Die epistemologische Finalität der Erkenntnisse, worauf die kartesische Methode des Zweifelns abzielt, basiert des Weiteren auf der ontologischen Finalität bzw. auf der finalen und irreduziblen Existenzweise des Geistes (als res cogitans) und des Körpers (als res extensa). Anders betrachtet ist es letztendlich eine ontologische Finalität der mentalen und der phänomenalen Wirklichkeit, die dem epistemologischen Prozess, der dem kartesischen methodischen Zweifeln zugrunde liegt, jene Finalität verleiht. Dies ermöglicht dem Subjekt die endgültige Erlangung und Absicherung der axiomatischen Erkenntnisse. Die Differenzierung zwischen res cogitans und res extensa ergibt sich im kartesischen System zwar methodologisch aus der Suche nach der finalen Erkennbarkeit der Grundzüge der 27 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Einleitung
mentalen und der phänomenalen Wirklichkeit, aber die Finalität dieser Erkenntnisse kommt dadurch zustande, dass sie in einer ontologischen Finalität der irreduziblen Existenzweise des denkenden Subjekts und der bloßen Ausdehnung des Körpers enden. Dieses fundamentale Verhältnis zwischen der epistemologischen und der ontologischen Finalität der axiomatischen Grundsätze scheint infolgedessen eine irreduzible Korrelation zu sein. Im Vergleich zu der Philosophie des Geistes lässt sich in der mechanischen Naturphilosophie Descartes keine Methode des systematischen Zweifelns, sondern vorwiegend die der unmittelbaren apodiktischen Intuitionen feststellen. Denn bei den geometrischen, mechanischen und optischen Intuitionen unternimmt Descartes den Versuch, sich in die Körper bzw. in die phänomenale Wirklichkeit hineinzudenken. Zwar werden der rein phänomenalen Wirklichkeit alle Fakten des Subjekts – Empfindungen und sämtliche Attribute der sogenannten sekundären Qualitäten – entzogen und nur die primären Qualitäten oder Wesenszüge wie Ausdehnung, Zahl, Bewegung usw. zugesprochen. Jedoch wird das in dieser Weise vollkommen gereinigte Faktum des Objekts in die unmittelbaren mechanisch-philosophischen Intuitionen hineingezogen. Eine nähere Untersuchung der kartesischen Intuitionen im Rahmen der frühneuzeitlichen mechanischen Philosophie zeigt, dass es die unmittelbare Bezugnahme auf das reine Faktum des Objekts ist, die den kartesischen Intuitionen ihre axiomatische Allgemeinheit und Apodiktizität verleiht. Des Weiteren erweisen sich diese Intuitionen – ebenso wie die finalen und axiomatischen Erfindungen Descartes in seiner Philosophie des Geistes – als Ergebnisse eines äußerst spontanen epistemologischen Prozesses hin zu den finalen Erkenntnissen. Allerdings nimmt die epistemologische und ontologische Finalität der kartesischen Intuitionen im Rahmen der mechanischen Naturphilosophie Descartes einen eher objektiven Zug an. Die Intuitionen im Rahmen der Naturphilosophie lassen sich als wissenschaftliche (geometrische, mechanische, optische usw.) Kognitionen der phänomenalen Wirklichkeit bestimmen, die dem erkennenden Subjekt unmittelbar apodiktisch vorkommen (d. h. in denen ihre Apriorität mit ihrer Aposteriorität verschmolzen zu sein scheint), und aus der sich die finalen axiomatischen Erkenntnisse als wissenschaftliche Grundsätze ergeben. Die Unmittelbarkeit, Allgemeinheit und Finalität der wissenschaftlichen Intuitionen basieren dem Anschein nach auf den einheitlichen objektiven Fakten bzw. phä28 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Einleitung
nomenalen Gegenständen, die die Intuitionen mit enthalten, wie zuvor erörtert wurde. Ein treffendes Beispiel für die unmittelbare (axiomatische) Finalität der kartesischen Intuition im Rahmen seiner mechanischen Naturphilosophie ist zweifelsohne das Trägheitsprinzip, das Descartes im zweiten (naturphilosophischen) Teil seines Hauptwerkes Les Principes de la Philosophie einführt. Das kartesische Trägheitsprinzip, was besagt, dass ein Körper seinen Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen und linearen Bewegung zu erhalten versucht, verweist genau genommen auf finale phänomenal-ontologische Zustände des Körpers und des Freiraumes, in dem er sich befindet. Der Modus dieser apriorischen Intuition kann reine Imagination sein, in der ein ausgedehnter Körper sowohl im Zustand der Ruhe als auch im Zustand der Trägheitsbewegung im Freiraum vorgestellt und dadurch erkannt wird, dass die Trägheitsbewegung des Körpers sich auch im apriorisch vorgestellten Freiraum unbedingt als linear (nicht kurvig) und gleichförmig erweisen sollte. D. h., dass das Subjekt sich bei dieser unmittelbaren mechanischen Intuition die Trägheitsbewegung des Körpers nicht anders (als linear und gleichförmig) vorstellen kann. Sowohl diese subjektive Unmöglichkeit als auch die Phänomenalität der linearen und gleichförmigen Trägheitsbewegung des Körpers wird letztendlich durch die ontologische Finalität dieser körperlichen Trägheitszustände und des Zustandes des Freiraumes, in dem sich die Trägheitsbewegung ereignet, veranlasst. Denn das Phänomen der Trägheitsbewegung kann kausal nur auf eine dem Körper innewohnende Trägheitstendenz zurückführen – und nicht weiter. Ebenso basieren die geometrische Linearität und die mechanische Gleichförmigkeit des Trägheitsbewegungszustandes des Körpers auf der ontologischen Finalität des Freiraumes, der im Rahmen der euklidischen Geometrie und der kartesisch-newtonschen klassischen Mechanik lediglich ein dreidimensional ausgedehntes Nichts ist – ein Zustand, der an sich final ist und nur als solcher erkannt werden kann. Wir können die Linearität der mechanischen Trägheitsbewegung geometrisch auf das (euklidische oder archimedische) Axiom der Gerade zurückführen (indem die Linearität der Trägheitsbewegung anders definiert wird, nämlich dergestalt, dass sich der Körper in seiner Trägheitsbewegung im Freiraum den kürzesten Weg bahnt, der klassischgeometrisch eine Linie sein sollte). Dabei wird noch klarer, dass die Linearität der mechanischen Trägheitsbewegung – die an sich eine ursprüngliche und zugleich finale Intuition a priori ist – letztendlich auf der ontologischen Finalität des Freiraumes bzw. auf seiner Exis29 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
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tenzweise als ein bloß ausgedehntes Nichts basiert. Denn die axiomatische Erkenntnis, dass die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten im Freiraum eine Gerade sein muss, erweist sich als eine ursprüngliche und zugleich finale geometrische Intuition a priori, die schließlich auf der ontologischen Finalität des Freiraumes basiert und sich darüber hinaus auf keine weitere Grundlage zurückführen lässt. Während die Linearität der Trägheitsbewegung auf einen freiräumlich-geometrischen Endzustand verweist, bildet die Gleichförmigkeit der Trägheitsbewegung offensichtlich einen freiräumlich-mechanischen Endzustand. Kurzum: Linearität und Gleichförmigkeit der Trägheitsbewegung sind geometrisch-mechanisch finale Zustände, die als solche nur intuitiv erkannt werden können und deren epistemologische und phänomenale Finalität sich letztendlich auf die ontologische Finalität des Freiraumes zurückführen lassen. Derartige epistemologische und phänomenale Finalitäten der Trägheitsbewegung und ihre intuitive Entdeckung können nicht kausal auf eine – in der Frühneuzeit vorherrschende – Grundvorstellung von dem Vorrang der Geometrie vor der Mechanik reduziert werden. Bei diesen und analogen Phänomenen in der Natur und in ihren apriorischen Intuitionen ist höchstens eine grundlegende Korrelation zwischen den Raumwissenschaften, der Geometrie und der Mechanik, festzustellen, die durch die irreduzible ontologische Finalität des Freiraumes zustande kommt. Ein analoges, aber erweitertes Beispiel, in dem eine dreieckige Korrelation zwischen der Geometrie, der Mechanik und der Optik – als den Raumwissenschaften – zutage tritt, wäre die geometrisch-mechanische Demonstration der optischen Phänomene der Reflektion und Refraktion in der naturphilosophischen Schrift La Dioptrique von Descartes. 8 Den axiomatischen Grundsätzen der frühneuzeitlichen WissenDie grundlegende Korrelation zwischen der Geometrie, der Mechanik und der Optik als Raumwissenschaften und die ontologische Finalität des Freiraumes, auf der diese Korrelation basiert, habe ich in meiner Abhandlung Natur und Struktur der Kräfte erläutert. Vgl. Thaliath, Babu: Natur und Struktur der Kräfte, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2010, S. 47 ff. Die folgende Untersuchung basiert auf dieser, im Rahmen meiner laufenden postdoktoralen Forschung an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der University of Cambridge entstandenen Abhandlung und auf meiner Promotionsarbeit an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Da ich noch mehrmals Bezug auf diese Abhandlungen nehmen werde, verwende ich im Text folgende Abkürzungen: PMS: Perspektivierung als Modalität der Symbolisierung. Erwin Panofskys Unternehmung zur Ausweitung und Präzisierung des Symbolisierungsprozesses in der
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schaften – insbesondere der Mechanik und Optik – liegt bei genauer Betrachtung eine epistemologische Finalität zugrunde, die sich notwendigerweise aus bestimmten strukturellen Intuitionen ergibt. Die vorbegrifflichen Intuitionen in geometrisch-mechanischen sowie in geometrisch-optischen Strukturen ereignen sich vornehmlich im visuellen Modus und eher auf einer operationalen Ebene; ihnen folgt dann jene sprachlich-begriffliche Bestimmung – wie eine logische Synthese – der axiomatischen Grundsätze. Die Grenze sowie die Finalität der Erkennbarkeit der raumwissenschaftlichen Naturphänomene, die in axiomatischen Grundsätzen zum Ausdruck kommen, basieren – wie bereits an früherer Stelle erörtert wurde – weiterhin auf einer ontologischen Finalität des Freiraumes, in dem die raumwissenschaftlichen bzw. geometrischen, mechanischen und optischen Intuitionen erfolgen. Dies veranlasst festzustellen, dass der axiomatischen Basis der frühneuzeitlichen Wissenschaften ein noch tieferes ontologisches Kausalprinzip, das sich als objektiv und absolut final erweist, zugrunde liegt. Der Status der axiomatischen Grundsätze, auf denen die frühneuzeitlichen Wissenschaften aufbauten, wird in dieser Weise primär durch eine ätiologische Grundstruktur bestimmt, in der die phänomenale Erkenntnis auf eine absolute Grenze einer ontologischen Kausalstruktur stößt. Die Axiome sind Grundsteine der Wissenschaften; die epistemologische Finalität und Irreduzibilität der Axiome verleihen dem Wissenschaftsgebäude Vollkommenheit, Stabilität und Kompaktheit. Sowohl die epistemologische Finalität der axiomatischen Grundsätze als auch die ihr zugrunde liegende Finalität der ontologischen Kausalstrukturen erlangen bei der historischen Etablierung einer Wissenschaft die Funktion, ihren Seins- und Wirkungsbereich von dem der anderen Wissenschaften abzugrenzen. Diese tendenzielle Abgrenzung des Seins- und Wirkungsbereiches, durch die sich eine Wissenschaft historisch etabliert, lässt sich im Grunde als eine Kontextualisierung – und zwar als eine historische Kontextualisierung – betrachten. Wenn die Kontextualisierung der frühneuzeitlichen Naturwissenschaften, wodurch sie sich gegenüber den Geisteswissenschaften Philosophie der Symbolischen Formen von Ernst Cassirer (Dissertation), Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005. NSK: Natur und Struktur der Kräfte, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2010.
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und der Philosophie abgrenzen, eine vom erkennenden Subjekt vollkommen autonome Basis hat, lässt sie sich eher als einen internen bzw. als einen innerhalb des wissenschaftlichen Seins- und Wirkungsbereichs eigenen Prozess bestimmen und als solcher von der externen paradigmatischen Kontextualisierung differenzieren – ihr sogar entgegensetzen. Der subjektive Anteil an dieser internen und sich von innen heraus entwickelnden Kontextualisierung wird durch die Epistemologie geleistet, indem der axiomatische Grundbau der Wissenschaften durch seine epistemologische Finalität weitgehend determiniert wird. Der epistemologische Prozess der Axiomatisierung – zusammen mit den ihm anhängenden Vorgängen der axiomatischen Erweiterung, Übergänge und Abgrenzung – erweist sich als historisch. Die Entwicklungsgeschichte der Wissenschaft als die ständige Erweiterung, Abgrenzung und Autonomisierung ihres Seinsund Wirkungsbereiches bildet einen historisch-epistemologischen Prozess hin zu axiomatischen Finalitäten, der zwar vom erkennenden Subjekt geleistet, aber letztendlich durch ein internes Prinzip der wissenschaftlichen Kontextualisierung veranlasst und vorangetrieben wird. Naturwissenschaftliche Axiome bilden die Grenzen der Erkennbarkeit der physikalischen Phänomene; in ihnen enden bzw. vervollständigen sich die epistemologischen Prozesse, die im Grunde stets versuchen, den Schleier der phänomenalen Wirklichkeit zu durchdringen und dadurch die versteckten Grundlagen der phänomenalen Existenz und Wirkung ans Licht zu führen. Die Epistemologie der Naturwissenschaften ist demnach eher eine entdeckerische Bestrebung, die in erster Linie durch die objektive Phänomenalität bestimmt wird. Ihr Vorgang ist nicht allein eine apriorische Erzeugung der Gesetze und deren Anwendung auf die Realität, sondern vielmehr ein Hineinschauen in die gegebenen sichtbaren und latenten Strukturen der Phänomene. Den naturwissenschaftlichen Axiomen wohnt daher unweigerlich das Faktum des Objekts inne. Im Hinblick darauf lässt sich die Epistemologie der Naturwissenschaften anders begreifen: Sie entdeckt die objektiv gegebene Basis der phänomenalen Existenz, deutet jedoch dabei kaum auf eine subjektive Möglichkeit hin, der Erfahrung der Phänomene jene apriorische Erkenntnis zuzuschreiben. Vielmehr geht sie von einer subjektiven Unmöglichkeit aus, dass die objektiven Grundlagen der Phänomene nicht anders erkannt werden können. Die naturwissenschaftliche Epistemologie leistet daher weniger eine Erkenntnisart, die das Subjekt dem objek32 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Einleitung
tiven Phänomen vorschreibt, sondern sie erreicht vielmehr ein vom objektiven Phänomen im Subjekt erzeugendes Verständnis. Naturwissenschaftliche Axiome werden entdeckt, wenn die phänomenale Wirklichkeit dem subjektiven Erkenntnisvorgang Grenzen setzt bzw. ihn durch jene axiomatische Finalität zum Stillstand bringt. Beim historischen Prozess der Axiomatisierung der Wissenschaften ist daher eine ständige Spannung zwischen dem subjektiv-epistemologischen Fortschritt und dem objektiv-phänomenalen Widerstand zu spüren. Die Epistemologie zielt auf kausal finale und irreduzible Basisstrukturen der Naturwissenschaften, die demnach als ihre axiomatischen Grundsätze angenommen werden. Die Zweiteilung zwischen Wirkung und Ursache, worauf das Kausalprinzip basiert, scheint in axiomatischen Grundsätzen aufgehoben zu werden. D. h. die Wirklichkeit der wissenschaftlichen Axiome setzt scheinbar keine – ihr vorausgehende – Ursächlichkeit voraus. Das kartesische oder newtonsche Trägheitsgesetz, was besagt, dass ein Körper in seinem ursprünglichen Zustand der Ruhe oder gleichförmigen Bewegung verharrt, solange keine externe Kraft auf ihn wirkt, beschreibt im Grunde ein mechanisches Phänomen, das nicht auf eine weitere mechanische Ursache zurückgeführt werden kann. In der Geschichte der Mechanik wurde immer wieder der Versuch unternommen, das Trägheitsprinzip, insbesondere die Trägheitsbewegungstendenz, auf ein ursächliches Kraftprinzip zurückzuführen. Die in der spätmittelalterlichen Scholastik gängig gewesene Impetus-Theorie sowie die frühmittelalterliche Vorstellung von einem vis insita – also von einer Kraft, die dem sich in der Trägheitsbewegung befindenden Körper immanent sein sollte – sind Erklärungsversuche eines ursächlichen Kraftprinzips, durch das die scheinbare Eigenbewegung des Körpers sowohl in einem himmelsmechanischen Trägheitsbewegungszustand als auch in einem terrestrisch-mechanischen Phänomen des Projektils erhalten geblieben scheint. Aber eine dem Körper innewohnende Kraft, die von sich aus den Körper in Bewegung erhält, lässt sich im Rahmen der Mechanischen Philosophie kaum nachvollziehen. Denn die Wirkung einer internen Kraft ist hier gegenüber der Wirkung einer externen Kraft (wie etwa ein Stoß oder die Gravitationsanziehung) ein ungereimtes Kausalprinzip. Bei der kartesischen und der newtonschen Axiomatisierung der Trägheitsphänomene wurde kein mechanisch-ursächliches Kraftphänomen erwähnt; stattdessen wurde die Trägheit des Körpers in statischen und dynamischen Zuständen vorgestellt. Trägheit als statischer oder dynamischer Zustand verweist 33 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Einleitung
deutlich auf ein ontologisches Prinzip, das sich als final bzw. konzeptuell irreduzibel erweist, und in dem sich folglich die epistemologisch-ätiologische Ergründung des Trägheitsphänomens vollendet. Bei näherer Betrachtung besagt das kartesisch-newtonsche Trägheitsgesetz kein ursächliches Phänomen, auf das der statische oder dynamische Zustand der Trägheit zurückgeführt werden kann. Die axiomatische Finalität dieses Grundgesetzes zeigt in dieser Weise eine ätiologische Finalität auf, die die wissenschaftliche Epistemologie nicht auszuweiten vermag. Die axiomatische Finalität der wissenschaftlichen Grundsätze, die die ätiologische Geschlossenheit voraussetzt bzw. der Erweiterung der ätiologischen Basis der Wissenschaft Grenzen setzt, baut letzten Endes auf einem ontologischen Prinzip auf, das sich auf den Zustand bzw. auf die Natur der gegenständlichen Existenz bezieht. Die ontologische Basis der axiomatischen Grundsätze bildet den Seinsbereich, innerhalb dessen sich jede Wissenschaftsdisziplin etablieren und fortentwickeln kann. In dem oben erörterten Beispiel aus der frühneuzeitlichen Mechanik lässt sich die axiomatische Finalität des Trägheitsgesetzes endgültig auf die ontologische Finalität des Seinsbereiches der Mechanik, der zwei irreduzible Entitäten – und zwar den Körper und den Freiraum – in sich einschließt, zurückführen. Im Vergleich zum Freiraum, der außer der bloßen Ausdehnung keine materielle Qualität hat, kann der Körper weiter analysiert bzw. in physikalische Bestandteile zerlegt werden. Aber im Rahmen der Mechanik bilden die verschiedenen materiellen – chemischen, physikalischen oder organischen – Qualitäten einen einheitlichen Seinsbereich der Körperlichkeit, die als solche eine ontologische Kontextualität der Wissenschaft der Mechanik ausmacht. Gerade im Rahmen dieser ontologischen Basis unterscheidet sich die Mechanik von der Wissenschaft der Physik, die den Körper nicht einheitlich betrachtet, sondern dazu neigt, die Materie des Körpers zu durchdringen, um die körperlichen Eigenschaften auf elementare Bestandteile und ihre phänomenalen Qualitäten zurückzuführen. Noch klarer unterscheidet sich der Seinsbereich der Chemie von dem der Biologie, und innerhalb der Wissenschaft der Chemie die organische von der anorganischen Chemie. Am deutlichsten tritt die ontologische Differenz zwischen den wissenschaftlichen Gegenstandsbereichen in Erscheinung, wenn die Kausalzusammenhänge zwischen mentalen und neuronalen Zuständen im Rahmen der Neurophysiologie oder -psychologie untersucht werden. 34 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Einleitung
Die epistemologische Finalität der axiomatischen Erkenntnisse der Wissenschaft setzt notwendigerweise die ontologische Finalität des wissenschaftlichen Gegenstandsbereiches voraus. Die Irreduzibilität der Axiome hat daher in der ontologischen Finalität des Gegenstandsbereiches ihre allerletzte Basis. Diese Erweiterung ermöglicht es, die Kontextualität der Wissenschaft, die zuvor aus der epistemologischen Finalität der Axiome abgeleitet wurde, durch ein ontologisches Prinzip zu präzisieren. Denn die kontextuale Abgrenzung und die Übergänge der Einzelwissenschaften (im Hinblick auf ihre interdisziplinären Synthesen) werden primär durch ihre Seinsbereiche, in denen sie entstehen und sich historisch etablieren, und durch ihre ontologische Finalität und Geschlossenheit bestimmt. Wiederum erweist sich der wissenschaftliche Seinsbereich, auf den sich die Kontextualität der Wissenschaft gegenwärtig jedoch auch historisch beschränkt, als eine ätiologische Grundstruktur, die einen Ursachenund Wirkungsbereich in sich einschließt. Den verschiedenen physikalischen aber auch mentalen Existenzen liegen elementare Seinsmodi zugrunde. Das Sein oder die Existenz der physikalischen Moleküle wird durch das Sein der elementaren Atome – und diese wiederum durch das Sein der subatomaren Teilchen – ontologisch verursacht. Ebenso liegt der Wirklichkeit aller organischen Substanzen die Ursächlichkeit der wenigen elementaren anorganischen Substanzen (H, O, N oder P) zugrunde. Schließlich werden die mentalen Zustände und Operationen durch physikalisch-neuronale Zustände und Prozesse verursacht. Dies alles bestimmt im Grunde eine ontologische Kausalität, in der die elementaren Seinsmodi – im Ursachenbereich – einen höheren, komplexeren, aber einheitlichen Seinsmodus – im Wirkungsbereich – ontologisch verursachen. Der Wirklichkeit jedes wissenschaftlichen Seins- oder Gegenstandsbereiches wohnt in dieser Weise eine ontologische Ursächlichkeit inne. Die Grenzen der dem axiomatischen Grundbau der Wissenschaft innewohnenden ätiologischen Strukturen als Grenzen ihrer Ursächlichkeit, die die Kontextualität der Wissenschaft epistemologisch definieren, lassen sich nun endgültig auf die Grenzen der ontologischen Ursächlichkeit erweitern und auf diese Weise präzisieren. Die kontextuale Autonomie einer Wissenschaft basiert auf der Geschlossenheit der ätiologischen Strukturen, die epistemologisch und ontologisch die Grenzen der Wissenschaft – bzw. die Grenzen der axiomatischen Erkennbarkeit der Wissenschaftsphänomene und zugleich die Grenzen ihrer domanialen Ausweitung gegenüber anderen 35 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Einleitung
Wissenschaften – bestimmen. Ebenso veranlassen die ungeschlossenen und als solche unvollkommenen ätiologischen Strukturen die kontextuale Verbundenheit sowie die kontextualen Übergänge zwischen den Einzelwissenschaften, was jene interdisziplinäre Forschung voraussetzt. Kurzum: Die interne und eher objektive Kontextualisierung, die sich aus der Wissenschaftsdisziplin selbst heraus entwickelt, baut auf der historischen Axiomatisierung der Wissenschaft auf. Ihre Objektivität kann historisch jener externen subjektiv-paradigmatischen Kontextualisierung widersprechen, obwohl eine analoge ätiologische Basisstruktur bei der externen Kontextualisierung festzustellen ist. Auch wenn die zwei Arten der wissenschaftlich-historischen Kontextualisierung in vielen Aspekten miteinander zu korrelieren scheinen, sollten die komplementären und konträren Elemente dieser Korrelation näher untersucht werden. Denn bei der externen, tendenziell paradigmatisch bedingten Kontextualisierung neigt man dazu, einige wichtige ontologische und epistemologische Grundlagen der Wissenschaften zugunsten bestimmter Rahmenbedingungen einer historischen Kontextualisierung zu manipulieren bzw. zu unterdrücken, zu verschleiern oder völlig zu ignorieren. Die interne und autonome Kontextualisierung der Wissenschaften ist offensichtlich dieser wissenschaftshistorischen Tendenz entgegengesetzt. Der historische Fortschritt der internen und autonomen Kontextualisierung, in der die epistemologischen und die ontologischen Grundlagen der wissenschaftlichen Kontextualität stets geprüft und korrigiert werden, kann folglich zu bestimmten Problemzuständen führen, in denen manche historisch-kontextual ignorierte oder unterdrückte Prämissen der Wissenschaften wieder auftauchen und dabei eine erneute Untersuchung der axiomatischen Basis der Wissenschaft veranlassen. Darüber hinaus werden die wechselhaften historischen Tendenzen der modernen Wissenschaften zu fachbezogener Vereinzelung und zu interdisziplinärer Verbindung untersucht, um sich darüber Klarheit zu verschaffen, wie sie hinreichend aus den bereits erarbeiteten epistemologischen und ontologischen Grundlagen der wissenschaftlichen Kontextualität erklärt werden können. Dabei wird insbesondere der Versuch unternommen, den Stand der Interdisziplinarität zwischen den frühneuzeitlichen Wissenschaften – von ihren philosophischen Voraussetzungen ausgehend – kritisch zu prüfen. Die historische Tendenz der Wissenschaften zu interdisziplinären Verbindungen ließe sich auf eine wesentliche Veranlagung zur kon36 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Einleitung
textualen Absicherung zurückführen, aber sie ist zugleich ein klarer Beleg für wissenschaftlich-kontextuale Verunsicherung, die aufgrund der unzureichenden bzw. unvollendeten ätiologischen Strukturen eintritt. Demnach basiert die Abhandlung auf einer Methode der Feststellung, wie und woran eine ätiologische Unvollkommenheit in den Wissenschaften zu erkennen ist. Die Aktualität der Forschung besteht namentlich darin, gegenüber der gewöhnlichen subjektiv-paradigmatischen Kontextualisierung der Wissenschaften einen internen bzw. der historischen Entwicklung des Wissenschaftsgebiets innewohnenden autonomen Prozess der Kontextualisierung zu erarbeiten und dessen epistemologische und ontologische Grundlagen in den axiomatischen Basisstrukturen der Wissenschaften selbst festzustellen. Der aktuelle Diskurs über die Geschichte der wissenschaftlichen Objektivität beschränkt sich letztendlich auf die Objektivität der subjektiven Erkenntnis und kaum auf das Objekt der Wissenschaft an sich (in aller ontologischen Strenge). Die Vorstellung von einer ontologischen Kausalität und ihrer Finalität in den Axiomen der frühneuzeitlichen Naturwissenschaften soll in dieser Hinsicht einem eher objektiven Prozess der historischen Kontextualisierung der Naturwissenschaften als Grundlage dienen und ihn gegen die gewöhnliche subjektivparadigmatische Kontextualisierung verteidigen. Die wissenschaftlichen Paradigmen scheinen manche problematische Prämissen der Wissenschaften stillschweigend zu legitimieren bzw. die logischen sowie methodischen Fehltritte in den wissenschaftlich-axiomatischen Basisstrukturen zugunsten der historischen Etablierung der Wissenschaften zu verschleiern. Das Prinzip der internen und autonomen Kontextualisierung, das der Macht der kollektiv-subjektiven Paradigmatisierung entgegengesetzt ist, würde dagegen die Aktualität der historisch verdrängten philosophisch-axiomatischen Grundlagen der (frühneuzeitlichen) Wissenschaften erneut entdecken.
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Kapitel 1 Die Kontextualisierung der Wissenschaften als historisch-epistemologischer Prozess
Die Kontextualisierung der Wissenschaften Wissenschaftliche Kontexte entstehen, wenn im Prozess ihres historischen Ursprungs und Fortschritts die Erkennbarkeit der wissenschaftlich-axiomatischen Grundsätze auf Grenzen stößt. Unter der gewöhnlichen Kontextualisierung der Geistes- und Naturwissenschaften sowie der Mathematik verstehen wir jene Demarkierung ihrer domanialen Ausweitung gegeneinander auf Basis der Spezifität ihrer epistemologischen Grundlagen, ihres Seins- und Wirkungsbereiches und ihrer Methoden. Die kontextuale Bestimmung bzw. Identifizierung einer Wissenschaftsdisziplin ähnelt in gewisser Hinsicht jener territorialen Grenzziehung eines Staats, der allerdings geographische, politische, soziale oder sogar ethnische Fakten zugrunde liegen. Indem die Kontexte den Wissenschaften Grenzen ziehen, verleihen sie ihnen ihre Identität und Eigenart, in der sie sowohl miteinander verwandt als auch gegeneinander differenziert werden. Die Entwicklung der Einzelwissenschaft lässt sich daher von ihrer kontextualen Etablierung her begreifen, die sich offensichtlich als einen historischen Prozess erweist. In der westlichen Geistesgeschichte ist die Tendenz der philosophisch-wissenschaftlichen Kontextualisierung bis auf die Antike, genauer auf das aristotelische System zurückzuführen. Die differenzierten Betrachtungen der wissenschaftlichen Disziplinen wie Physik, Metaphysik, Poetik, Ethik, Politik, Biologie, Psychologie (in De Anima) usw., die Aristoteles als Rahmenthemen seiner philosophischen Werke bestimmte, inaugurierte auch historisch die Kontextualisierung der Wissenschaften – und zwar aus dem Geist der Philosophie. Dass sich die Wissenschaften im Grunde aus philosophischen Untersuchungen heraus entwickelten, besagt auch ein allgemeines Ursprungsprinzip der wissenschaftlichen Kontextualisierung, das das Grundprinzip der Philosophie selbst ist, nämlich die Suche nach der 39 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Kontextualisierung der Wissenschaften
Wahrheit und ihrer Letztbegründung. Die Ausdifferenzierung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften voneinander wurde in erster Linie durch eine philosophische Epistemologie initiiert und vorangetrieben, die zwar ihren theoretischen Rahmen aus einem reduktionistischen Prinzip heraus – nämlich aus der Begegnung des erkennenden Subjekt mit dem zu erkennenden Objekt bzw. der Welt – definiert, die sich aber in ihren Darstellungsweisen als vollständig heterogen erweist. Denn die Existenz der objektiven Welt und die des erkennenden Subjekts ist nicht einheitlich, sondern vielfältig; sowohl die Art des Erkennens als auch die Art des Erkannten veranlasst letztendlich keine einheitliche Wissenschaft der Philosophie, sondern eine Vielfalt der Wissenschaften, die sich in verschiedene Bereiche der Natur-, Geistes-, Kultur- oder Sozialwissenschaften einordnen lassen. Diese Rahmenbedingungen – als epistemologische und ontologisch-domaniale Beschränkungen oder sogar Grenzziehungen – entwickeln sich historisch zu den Kontexten, die in der historischen Entfaltung der Wissenschaftsdisziplinen in Erscheinung treten. Wie allgemein bekannt, wurden bei Aristoteles und der postaristotelischen antiken und europäischen Tradition – bis ins Spätmittelalter – die Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften nicht klar differenziert. Die aristotelische Kontextualisierung der Wissenschaften ereignete sich im Rahmen der Philosophie; sie bildete verschiedene Bereiche der philosophischen Untersuchung der ursprünglichen Natur und der Kultur und ihrer anthropomorphischen Facetten. Diese Bereiche erfassten sowohl die Domäne des menschlichen Geistes und seiner Wirkung in der ihn umgebenden Welt als auch die vom menschlichen Geist bzw. vom Subjekt unabhängige Domäne der Natur. Die verschiedenen philosophischen Disziplinen entstanden aus den erkenntnistheoretischen Fragestellungen, die sich nicht nur auf die existentiellen Grundlagen der Natur, sondern auch auf die Natur des menschlichen Geistes und auf alle von ihm erzeugten kulturellen Darstellungsformen bezogen. Während die Philosophie den allgemeinen Rahmen aller disziplinären Entfaltung des subjektiven Wissens bildete, entwickelten sich die wissenschaftlichen Disziplinen im geschichtlichen Prozess der Kontextualisierung. Sie schienen sich in ihrer historischen Kontextualisierung von ihrem ursprünglichen Angewiesensein auf die Philosophie loszulösen, um sich als autonome Wissenschaften zu entwickeln und zu etablieren. Die Autonomisierung der wissenschaftlichen Disziplinen – als wissenschaftliche Kontexte – beginnt erst dann, wenn ihre axiomatischen 40 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Kontextualisierung der Wissenschaften
Grundlagen philosophisch etabliert werden. Die Wissenschaften errichten ihren sichtbaren Überbau auf das philosophisch-axiomatische Fundament, das zwar das Wissenschaftsgebäude trägt und erhält bzw. ihm Stabilität und Dauer verleiht, aber selbst unsichtbar bleibt. Gerade diese Latenz des axiomatisch-wissenschaftlichen Grundbaus wird bei jener historisch-epistemologischen Untersuchung der Wissenschaften zu vergegenständlichen versucht. Hierin unterscheidet sich die rein philosophische von einer kontextual-wissenschaftlichen Untersuchung. Während die philosophische Epistemologie die vorkontextuale axiomatische Basis der Wissenschaft vergegenständlicht bzw. sie ausgrabt und erneut untersucht, baut die kontextualwissenschaftliche Epistemologie weiterhin auf der historisch bereits etablierten disziplinären Basis der Wissenschaft auf. Daher scheint die Philosophie der Wissenschaft tendenziell den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft zu dekontextualisieren und sie demgemäß zu dehistorisieren. Allerdings werden auch in der rein philosophisch-epistemologischen Untersuchung der Wissenschaft ihre versteckten Fundamente kaum als nachhaltige Erkenntnisbasis wieder entdeckt und identifiziert, stattdessen setzen sich erneut die ursprünglichen Tendenzen zur epistemologischen Kontextualisierung fort, die die Wissenschaften zukünftig definieren und sie gegenüber anderen wissenschaftlichen Domänen demarkieren werden. Die axiomatisch-ursprünglichen Tendenzen zur epistemologischen Kontextualisierung basierten vor allem auf zwei Fakten: der Natur der Erkenntnis und den Grenzen der Erkennbarkeit des wissenschaftlichen Gegenstands. Die axiomatischen Grundsätze der Wissenschaften werden selten deduktiv, sondern eher intuitiv erkannt. Intuition als axiomatische Kognition lässt sich nicht demonstrativ beweisen, denn sie ist vollkommen ursprünglich bzw. irreduzibel. Aristoteles differenziert die irreduzible axiomatische Intuition (nous) vom demonstrativen Wissen, das jene deduktive Beweisführung voraussetzt. Die Irreduzibilität der wissenschaftlich-axiomatischen Intuitionen verweist auf die Grenzen der Erkennbarkeit der Phänomene, die dem intuitiv erkennenden Subjekt ganz spontan erleuchten. Die Spontaneität der Intuition schließt allerdings die Prozessualität des Erkennens nicht aus. Die Wissenschaft der Geometrie basiert bekanntlich auf den einfachsten und vollkommensten Intuitionen der axiomatischen Grundsätze und Gesetze. Das euklidische Axiom der Gerade, nach dem die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten im Raum eine Gerade 41 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Kontextualisierung der Wissenschaften
ist, bildet eine axiomatische Intuition, die an sich ursprünglich und final ist bzw. weiterhin auf eine epistemologische Basis nicht reduziert werden kann. Die Intuition dieses axiomatischen Grundsatzes besteht aus einer rein apriorischen Einbildung einer Gerade (wie Kant es im Rahmen seines transzendental-philosophischen Systems erläutert) als eine irreduzible Form, deren Erkenntnis als kürzeste Verbindung allerdings die Vorstellungen von der quantitativen Bestimmung von kürzest und zugleich die Vorstellung von der qualitativen Bestimmung von gerade voraussetzt. Diese Intuition ereignet sich scheinbar mit äußerster Spontaneität, aber die Erkenntnis der Gerade scheint sich als prozessual zu erweisen. Denn der Begriff kürzeste ist ein Superlativ, der die Finalität einer prozessualen Gradation eines räumlichen Quale vom Nominativ über den Komparativ bildet. Die kürzeste Verbindung ist im Grunde eine relative Bestimmung – gegenüber einer möglichen Gradation von kürzeren Verbindungen. Eine Gerade wird sofort als die kürzeste Verbindung intuitiv erkannt, indem es dem Subjekt in aller Spontaneität auffällt, dass die Gerade eine finale Form ist und als solche weiterhin nicht begradigt werden kann. Es gibt keine Gerade, die gerader als eine andere Gerade ist. Geradheit ist daher eine Qualität, die sich bereits in ihrem Ursprung als finale irreduzible Form erweist und sich demnach in einer Komparation nicht gradieren lässt. Die intuitiv-axiomatische Erkenntnis der Gerade kann am ehesten prozessual erreicht werden, indem zunächst eine kurvige Verbindung zwischen zwei Fixpunkten imaginiert und sie prozessual abgekürzt wird. Die prozessuale Abkürzung der Entfernung zwischen zwei Fixpunkten in der produktiven Einbildungskraft kommt im Modus einer Begradigung der kurvigen Extension zustande, die sich in der finalen und irreduziblen Form der Gerade vollendet. In diesem intuitiven Verfahren wird die eher quantitative Bestimmung kürzeste als Finalität der prozessualen Abkürzung und ebenso die qualitative Bestimmung gerade als Finalität der prozessualen Begradigung erkannt. Dieser intuitiv-axiomatischen Erkenntnis liegt demnach eine ursprüngliche Korrelation zwischen den Zuständen Geradheit und kürzeste Verbindung zugrunde. Die Grenze der Erkennbarkeit der Phänomene, die in axiomatischen Intuitionen der wissenschaftlichen Grundsätze zutage tritt, ist in dieser Weise die Grenze eines Erkenntnisprozesses – also eines epistemologischen Prozesses, der sich in der Finalität der axiomatischen Erkenntnis vollendet. Axiome als irreduzible Erkenntnisse – als erste Prinzipien der Wissenschaft – setzen jene epistemologische 42 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Kontextualisierung der Wissenschaften
Finalität voraus, wie zuvor erörtert wurde. Dies besagt auch, dass eine weitere Begründung der axiomatischen Erkenntnis – als Letztbegründung – epistemologisch nicht möglich ist. Aber alle axiomatischen Erkenntnisse der Wissenschaften beziehen sich auf verschiedene Gegenstandsbereiche, die – als Seinsbereiche – an erster Stelle ontologisch bedingt sind. Die Eigenart des Seins- oder Gegenstandsbereiches der Wissenschaften könnte zu der epistemologischen Finalität und Irreduzibilität der axiomatischen Intuitionen wesentlich beitragen. Denn die axiomatische Intuition und deren epistemologische Finalität ereignen sich in dem Spielraum bzw. in der Domäne eines wissenschaftlichen Gegenstandsbereiches, dessen Natur der Existenz die Natur bzw. den Wesenszug der in ihm entstehenden intuitiven Erkenntnis mit bestimmt. Im Vergleich zu den Naturwissenschaften, deren Gegenstandsbereich die Naturphänomene sind, bezieht sich eine Grundwissenschaft wie die Geometrie auf ideale Formen und deren Gesetze. Der Seins- oder Gegenstandsbereich der Geometrie ist kein materielles Phänomen. Worin gründet aber dann die axiomatische Finalität der geometrischen Grundsätze – wie etwa die Finalität des oben erörterten Axioms der Gerade? Hierzu gilt es, die Intuitionen dieser und ähnlicher axiomatischen Erkenntnisse erneut zu untersuchen, um festzustellen, ob sie und ihre Finalität eine weitere ontologische Basis haben. Der Seinsbereich der euklidisch-geometrischen Intuition ist offensichtlich der Freiraum – und zwar ein euklidischer Freiraum. Sowohl die Intuition geometrischer Grundformen in der produktiven Einbildungskraft als auch deren Realisation in Wirklichkeit ereignen sich im Freiraum. 1 Haben die Finalität und Irreduzibilität der geometrischen Grundformen also eine allerletzte Basis in der Ontologie des Freiraumes, in dem sie zustande kommen? Die existentielle Natur des euklidischen Freiraumes ist ein leeres ausgedehntes Nichts, das sich ontologisch als ein finaler und irreduzibler Zustand erweist. D. h. der Freiraum hat eine ontologische Finalität bzw. eine Finalität der Die wirkliche Konstruktion der reinen geometrischen Formen (worauf die Technologie – insbesondere das Bauwesen und der Maschinenbau – basiert) ist zwar materiell und nicht freiräumlich, aber das Materialisieren der geometrischen Formen wird ihrer Idealität als freiräumliche Formen untergeordnet. Im Gebiet der Himmelsmechanik tritt aber die geometrisch-mechanische Phänomenalität – wie z. B. die Planetenbewegungen – unmittelbar in freiräumlichen Formen in Erscheinung. Während der Planet allein die Materialität hat, entsteht die Planetenbahn in einer freiräumlichen Phänomenalität.
1
43 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Kontextualisierung der Wissenschaften
Natur seiner Existenz. Von diesen Betrachtungen ausgehend wird nun versucht, das oben erörterte Axiom der Gerade erneut zu untersuchen. Die axiomatische Erkenntnis der Gerade entsteht apriorisch, indem bei der Erzeugung der Gerade in der produktiven Einbildungskraft festgestellt wird, dass die geometrische Form der Geraden weiterhin nicht abgekürzt bzw. begradigt werden kann, und dass sie sich folglich als eine finale und irreduzible Form zeigt. Jedoch basiert diese epistemologische Finalität der Formhaftigkeit und der Gesetzmäßigkeit der Geraden weiterhin auf der ontologischen Finalität der Seinsweise des Freiraumes, der für die Wissenschaft der Geometrie ihr Seinsbereich ist. Es ist letztendlich die Eigenschaft des Freiraumes, dass eine Gerade nicht weiter begradigt werden kann und demnach im Kontext der euklidischen Geometrie eine finale und irreduzible Form bildet. Die epistemologische Finalität des axiomatischen Grundsatzes der Gerade – als Grenze ihrer Erkennbarkeit – basiert demzufolge auf der Natur des Freiraumes, die an sich eine ontologische Finalität und Irreduzibilität aufweist. Diese Basis der Epistemologie und ihrer Finalität in der ontologischen Natur des wissenschaftlichen Seinsbereiches, wie sie in axiomatischen Grundsätzen zutage tritt, lässt sich auch bei anderen klassischen Raumwissenschaften wie der Mechanik und der Optik feststellen. Im Vergleich zur Geometrie haben die Wissenschaften der Mechanik und der Optik die materiellen Phänomene als ihren Gegenstandsbereich. Demnach beziehen sich diese Wissenschaften bei ihrer Entstehung in der Frühneuzeit auf wenige ontologisch reduzierte Entitäten, nämlich die Körper, ihre Bewegung im Freiraum sowie die verschiedenen Kraftprinzipien, die vor allem den mechanischen Phänomenen – wie der Trägheitsbewegung des Körpers – zugrunde liegen. Die Klassische Mechanik reduziert die materiellen Phänomene auf eine mehr oder weniger einheitliche Entität, nämlich die Körper, und untersucht ihre statischen und dynamischen Zustände in Relation zu ihrer Befindlichkeit im Freiraum und zu den ihnen innewohnenden Kraftprinzipien. Die Kraft- und Bewegungsstrukturen, die sich im Rahmen der Klassischen Mechanik untersuchen lassen, werden in erster Linie auf die geometrischen Grundformen und -gesetze reduziert. Den Prinzipien der Klassischen Mechanik, wie sie von Descartes, Galileo, Newton u. a. axiomatisiert wurde, liegen offensichtlich die finalen geometrischen Formen und Gesetze zugrunde. Ebenso bildete die Wissenschaft der Klassischen Optik trotz der rätselhaften materiellen Innenstruktur des Lichtes, die unbekannt ge44 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Kontextualisierung der Wissenschaften
wesen war, eine geometrische Optik, in der das Licht und seine dioptrischen Eigenschaften wie Brechung, Reflektion oder Refraktion auf geometrische Formen und Gesetze reduziert werden. In gewisser Hinsicht lässt sich die historische Axiomatisierung dieser klassischen Raumwissenschaften als eine Geometrisierung der (mechanischen und optischen) Phänomene bezeichnen. Die Geometrisierung der Mechanik und Optik in der frühen Neuzeit wurde deutlich von einem Grundmotiv, die Erkenntnisse in diesen Wissenschaften zu axiomatisieren bzw. ihnen epistemologische und ontologische Finalität (die am ehesten der Wissenschaft der Geometrie eigen ist) zu verleihen, initiiert und vorangetrieben. Das Trägheitsprinzip in der Klassischen Mechanik, von Descartes postuliert und von Newton axiomatisiert, wäre ein treffendes Beispiel für eine grundlegende Korrelation zwischen Geometrie und Mechanik als Raumwissenschaften, die in der Finalität und Irreduzibilität des mechanischen Phänomens – insbesondere des Trägheitszustandes – und seiner geometrischen Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit zutage tritt. Die Trägheitsbewegung eines Körpers setzt zunächst die Befindlichkeit des Körpers im Freiraum voraus, wo keine externe Kraft auf ihn wirkt, und lässt sich an den folgenden geometrischen und mechanischen Eigenschaften erkennen: 1. 2.
Die Linearität der Bewegung Die Gleichförmigkeit der Bewegung
Während die Linearität der Trägheitsbewegung eine geometrisch-finale Formhaftigkeit dieses mechanischen Phänomens aufweist, bildet die Gleichförmigkeit der Trägheitsbewegung eine finale und irreduzible mechanische bzw. dynamische Formhaftigkeit. Ebenso wie eine Gerade, die nicht gerader als eine andere Gerade sein kann, gibt es keine gleichförmige Bewegung, die gleichförmiger als eine andere gleichförmige Bewegung ist. Die Adjektive gerade und gleichförmig verweisen auf Grenzen der geometrischen und mechanischen Qualitäten, die bereits in ihrem Ursprung finale und irreduzible Qualitäten sind und sich als solche in einer Komparation nicht gradieren lassen. Die axiomatischen Erkenntnisse der Trägheitsbewegung eines Körpers im absoluten Freiraum basieren auf einer epistemologischen Finalität der Erkennbarkeit dieses Phänomens und letztendlich auf der ontologischen Finalität des Freiraumes, in dem die geometrischen und mechanischen Grundformen entstehen. Die Apriorität und die 45 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Kontextualisierung der Wissenschaften
damit verbundene apodiktische Gewissheit dieser und ähnlicher Axiome in der Geometrie und Mechanik erörtert Kant in der Kritik der reinen Vernunft – und zwar im Rahmen seiner Transzendentalphilosophie. Die axiomatischen Grundsätze der Geometrie und Mechanik und ihre apodiktische Gewissheit (dass sie synthetische Urteile a priori bilden) werden nur apriorisch erkannt, ohne dass sich das Subjekt dabei auf unmittelbare aposteriorische Erfahrung stützen müsste. Der Prozess dieses apriorischen Erkennens, wie Kant es in Axiomen der Anschauung erläutert, ist die Erzeugung der geometrischen und mechanischen Formen in der produktiven Einbildungskraft. Wenn wir einen Körper im Hintergrund des Freiraumes imaginieren und ihn ebenso imaginativ in Bewegung setzen, vermögen wir uns die Bewegung des Körpers nur als eine Trägheitsbewegung bzw. als linear und gleichförmig vorstellen, was durchaus ihrer Wirklichkeit oder physikalischen Phänomenalität entspricht. Allerdings ergibt sich diese Erkenntnis a priori nicht aus einer subjektiven Möglichkeit und erlangt ihre Legitimität nicht in einer Anwendung auf die Realität; vielmehr scheinen diese und ähnliche axiomatische Erkenntnisse auf eine subjektive Unmöglichkeit hinzuweisen, dass sie nur in dieser Art und Weise und nicht anders vorgestellt werden können. Die Unmöglichkeit des Subjekts, dass sich die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten im euklidischen Freiraum nicht anders als eine Gerade und ebenso die Trägheitsbewegung eines Körpers nicht anders als eine lineare und gleichförmige Bewegung vorstellen kann, basiert letztendlich auf der objektiven Beschaffenheit des Freiraumes bzw. auf ihrer ontologischen Finalität. Die epistemologische Finalität dieser axiomatischen Erkenntnisse und ihre apodiktische Gewissheit, dass sie ihrer phänomenalen Wirklichkeit vollkommen entsprechen, lassen sich endgültig auf die ontologische Finalität und Irreduzibilität des Freiraumes und auf seine – daran anschließende – Einheit und Unveränderlichkeit (als rein apriorisch vorgestellter und phänomenal bzw. aposteriorisch gegebener Freiraum) zurückführen. Die ontologisch finale und irreduzible Beschaffenheit des Freiraumes hebt jene epistemologische Differenz in ihrem Zustand zwischen lediglich apriorisch vorgestelltem und phänomenal existierendem Freiraum auf, worauf auch die apodiktische Gewissheit aller raumwissenschaftlichen Erkenntnisse (a priori) basiert.
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Die ätiologischen Strukturen
Die ätiologischen Strukturen Die im Allgemeinen behauptete Letztbegründung in der axiomatischen Erkenntnis verweist demnach nicht nur auf eine finale Begründung der Phänomenalität, sondern auch auf die Erkenntnis einer phänomenalen Grenze, die die Grenze der Erkennbarkeit epistemologisch bestimmt und sie zugleich auf einer ontologischen Finalität gründet. Die Finalität und Irreduzibilität der Axiome haben eine epistemologische und ontologische Basis. In Axiomen vollendet sich der epistemologische Prozess der Reduktion, der die Komplexität der Phänomene auf die einfachsten und allerersten Prinzipien zurückzuführen sucht. Im Bereich der Naturwissenschaften bildet eine derartige epistemologische Reduktion offensichtlich eine kausale Reduktion. Das Begründen als Auf-Grund-Zurückführen besagt ein Kausalprinzip. Die Kette von Kausalzusammenhängen, die den epistemologischen Prozess der Reduktion und die – daran anschließende – wissenschaftliche Axiomatisierung ausmachen, lässt sich als eine gewisse Struktur, nämlich als eine ätiologische Struktur der Wissenschaft betrachten. Den Wissenschaften – insbesondere ihren axiomatischen Grundlagen – wohnen die Kausalstrukturen inne. Wenn ein Kausalzusammenhang sich weiter (auf tiefere Grundlagen) reduzieren lässt, zeigt er sich als eine offene – nicht geschlossene – ätiologische Struktur. Wenn festgestellt wird, dass sich der epistemologische Prozess der kausalen Reduktion sich in axiomatischen Grundsätzen vollendet, wird den Axiomen eine finale bzw. geschlossene ätiologische Strukturalität zugeschrieben. Axiome sind letzte Gründe der Phänomenalität, die sich weiter nicht begründen lassen. Sie definieren eine phänomenale Wirklichkeit, die zugleich eine finale und irreduzible Ursächlichkeit ausmacht. Die Identität zwischen Wirklichkeit und Ursächlichkeit und deren Finalität bilden die Wesenszüge der axiomatischen Grundsätze. In seinem Hauptwerk Welt als Wille und Vorstellung ordnet Arthur Schopenhauer die Vielfalt der Naturwissenschaften in zwei Grundbereiche ein, und zwar in den Bereich der Morphologie und den Bereich der Ätiologie. Morphologische Wissenschaften betrachten die bleibenden Formen, wobei die ätiologische Wissenschaft die kausalen Veränderungen und Zusammenhänge untersucht: »Blicken wir endlich auf das weite, in viele Felder geteilte Gebiet der Naturwissenschaft, so können wir zuvörderst zwei Hauptabteilungen derselben
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Die Kontextualisierung der Wissenschaften
unterscheiden. Sie ist entweder Beschreibung von Gestalten, welche ich Morphologie, oder Erklärung der Veränderungen, welche ich Aetiologie nenne. Erstere betrachtet die bleibenden Formen, letztere die wandelnde Materie, nach den Gesetzen ihres Übergangs aus einer Form in die andere. Erstere ist das, was man, wenngleich uneigentlich, Naturgeschichte nennt, in seinem ganzen Umfange: besonders als Botanik und Zoologie lehrt sie uns die verschiedenen, beim unaufhörlichen Wechsel der Individuen, bleibenden, organischen und dadurch fest bestimmten Gestalten kennen, welche einen großen Teil des Inhalts der anschaulichen Vorstellung ausmachen: sie werden von ihr klassifiziert, gesondert, vereinigt, nach natürlichen und künstlichen Systemen geordnet, unter Begriffe gebracht, welche eine Übersicht und Kenntnis aller möglich machen. Es wird ferner auch eine durch alle gehende, unendlich nuancierte Analogie derselben im Ganzen und in den Teilen nachgewiesen (unité de plan), vermöge welcher sie sehr mannigfaltigen Variationen auf ein nicht mitgegebenes Thema gleichen. Der Übergang der Materie in jene Gestalten, d. h. die Entstehung der Individuen, ist kein Hauptteil der Betrachtung, da jedes Individuum aus dem ihm gleichen durch Zeugung hervorgeht, welche, überall gleich geheimnisvoll, sich bis jetzt der deutlichen Erkenntnis entzieht: das wenige aber, was man davon weiß, findet seine Stelle in der Physiologie, die schon der ätiologischen Naturwissenschaft angehört. Zu dieser neigt sich auch schon die der Hauptsache nach zur Morphologie gehörende Mineralogie hin, besonders da, wo sie Geologie wird. Eigentliche Aetiologie sind nun alle die Zweige der Naturwissenschaft, welchen die Erkenntnis der Ursache und Wirkung überall die Hauptsache ist: diese lehren, wie, gemäß einer unfehlbaren Regel, auf einen Zustand der Materie nothwendig ein bestimmter anderer folgt; wie eine bestimmte Veränderung notwendig eine andere, bestimmte, bedingt und herbeiführt: welche Nachweisung Erklärung genannt wird. Hier finden wir nun hauptsächlich Mechanik, Physik, Chemie, Physiologie.« 2
Schopenhauer neigt dazu, in dieser Differenzierung der Naturwissenschaften die Gestalten (morphé) als »fest bestimmte«, »bleibende« und in diesem Sinne als finale Gestalten zu betrachten und sie den veränderlichen Innenstrukturen der ätiologischen Wissenschaften gegenüberzustellen. Hier ist Gestalt eine gewordene materielle Form; das materielle Werden zu diesen Gestalten ist hingegen ein Prozess – und zwar ein ätiologischer Prozess. Die Gestalt oder die bleibende Form impliziert eine – auch vorläufige – Finalität des materiellen Werdens. Demnach beziehen sich die morphologischen Wissenschaften auf die Finalität der materiellen Gestalten, wogegen die ätiologischen Wissenschaften die kausalen Prozesse des materiellen Werdens 2
Schopenhauer, a. a. O., S. 102–103.
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Die ätiologischen Strukturen
zum Gegenstand haben. Allerdings sind die Formhaftigkeit der Phänomene und ihre Konstanz auch in ätiologischen Wissenschaften, die dem Kausalprinzip der Veränderung unterworfen sind, festzustellen. Denn die organischen und anorganischen Substanzen bestehen strukturell aus elementaren finalen Formen des phänomenalen Daseins, die als verschiedene Seinsmodi eine ontische Struktur der Wirklichkeit konstruieren. Die strukturelle Gestalt der Atome, der Moleküle der anorganischen und organischen Verbindungen, die zelligen Gestalten in der Physiologie bis zu den neuronalen Strukturen im Gehirn zeigen auch eine Finalität der Form, die allerdings durch ätiologische Prozesse verändert werden kann. Der Finalität derartiger Gestalten liegt eine ätiologische bzw. kausale Prozessualität zugrunde. Diese ätiologische Prozessualität, die das materielle Werden zu finalen Formen theoretisch begründet, verdeutlicht offenbar eine ontologische Kausalität – also eine Kausalität, die die ontische Struktur der gegenständlichen Wirklichkeit zustande bringt. Die Morphologie bezieht Schopenhauer auf die Beschreibung der bleibenden Formen, wie sie in den Naturwissenschaften wie der Botanik, der Zoologie oder der Mineralogie untersucht werden. Dagegen behandelt die Ätiologie kausale oder kausal-prozessuale Veränderungen der Materie, worauf Wissenschaften wie die Mechanik, Physik, Chemie, Physiologie, Geologie usw. basieren. Eine statische oder dynamische Kraftstruktur, die physikalische bzw. subatomare Struktur der Atome oder die molekulare Struktur der anorganischen und organischen Verbindungen sind zwar materielle Formen, die eine Finalität des Werdens, oder genauer gesagt eine ontische Finalität beanspruchen, aber sie sind im Vergleich zu den Gegenständen der morphologischen Wissenschaften bzw. zu den botanischen, zoologischen oder mineralogischen Gestalten selten bleibende Formen. Denn sie können durch Kausalprozesse innerhalb der (bereits erwähnten) ätiologischen Wissenschaften verändert werden. Dennoch ist die Gestalt eines Atoms, eines Moleküls oder einer lebendigen Zelle eine ontisch finale Daseinsform der Materie. Demnach könnte die Vorstellung von einer morphologischen Form erweitert werden – und zwar von einer sichtbaren oder tastbaren Gestalt zu einer eher unsichtbaren Daseinsform, also zu einem ontisch finalen Existenzmodus der Materie. Wenn wir in dieser Weise die schopenhauersche Vorstellung vom morphé im Kontext der Naturwissenschaften umdeuten und sie folglich in die ätiologischen Wissenschaften einordnen, gewinnen wir 49 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Kontextualisierung der Wissenschaften
ein klares Verständnis von ätiologischen Strukturen, die den Naturwissenschaften – unabhängig von ihrer Differenzierung als ätiologische und morphologische Wissenschaften – zugrunde liegen. Die axiomatischen Definitionen der Naturwissenschaften beziehen sich letztendlich auf bleibende Daseinsformen der Materie, nämlich auf Zellen, Moleküle, Atome sowie auf subatomare Teilchen, die sich ontisch als finale Seinsmodi erweisen. Auf dieser ontischen Differenzierung der elementaren Daseinsformen basiert die Klassifizierung der Naturwissenschaften als Biologie, organische und anorganische Chemie, Physik etc., die sich – wie vorher erörtert wurde – gemeinhin als wissenschaftliche Kontextualisierung betrachten lässt. Atome und Moleküle sind im Rahmen der anorganischen und organischen Chemie keine axiomatischen Grundsätze, aber sicherlich die grundlegenden Bausteine, deren Definitionen in gewisser Hinsicht als Axiome zu bestimmen sind. Die Definitionen der grundlegenden materiellen Formen, auf denen die Naturwissenschaften aufbauen und durch die sie zugleich voneinander kontextual differenziert werden, beschreiben kompositorische Strukturen, die aus elementaren Substanzen bestehen, und kein Kausalprinzip, das jene Veränderung herbeiführt – wie z. B. die Definition eines Atoms als eine strukturelle Komposition von subatomaren Teilchen, nämlich den Elektronen, Protonen und Neutronen, oder die Definition des Moleküls einer organischen Verbindung als eine bestimmte strukturelle Komposition von anorganischen Elementen usw. Die Beschreibung der elementaren Daseinsform kann mit der einem axiomatischen Prinzip zugrunde liegenden ätiologischen Struktur identifiziert werden. Das vorher erörterte Trägheitsprinzip als Axiom der Klassischen Mechanik basiert auf einer geschlossenen ätiologischen Struktur – mit einer finalen Ursächlichkeit der Trägheit des Körpers, die die Linearität und Gleichförmigkeit der Trägheitsbewegung bewirkt und sie aufrechterhält. Wie bereits an früherer Stelle erörtert wurde, lässt sich demnach das mechanische Phänomen der Trägheitsbewegung weiter auf eine ontologische Finalität des Freiraumes zurückführen. Eine andere Basis können wir auch bei den Grundlagen der Naturwissenschaften feststellen, indem wir das Kausalprinzip als ein ontologisches Prinzip auffassen. Denn die Definition eines Atoms als eine strukturelle Komposition von subatomaren Teilchen lässt sich einem ontologischen Kausalprinzip unterordnen, in dem ein komplexer Seinsmodus durch elementare Seinsmodi ontologisch verursacht wird. Diese ontologische Kausali50 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die ätiologischen Strukturen
tät unterscheidet sich von den gewöhnlichen, durch unsere Alltagserfahrungen bekannten Kausalphänomenen darin, dass sie die Wirkung nicht als eine temporäre Veränderung entstehen lässt, sondern einen konstanten Kausalnexus etabliert, in dem der bleibenden Form der materiellen Wirklichkeit eine ebenso konstante elementar-materielle Ursächlichkeit zugrunde liegt. Axiome als Bausteine der Wissenschaft schließen in sich – über ihre epistemologische Finalität und Irreduzibilität hinausgehend – eine geschlossene ontologische Kausalstruktur, durch die die Natur der einzelwissenschaftlichen Domäne bestimmt und ihre Autonomie gegenüber den anderen Wissenschaften gewährleistet wird. Die ontologische Basis der Axiome bezieht sich eher auf die Natur der axiomatischen Erkenntnisse. Indem die Grenzen der Erkennbarkeit der Phänomene – als epistemologische Grenzen – letztendlich durch die Geschlossenheit einer ontologischen Kausalstruktur bestimmt werden, spiegelt sich in ihr die Natur, genauer die existentielle Natur des Seinsbereiches, der an sich eine finale und als solche autonome Phänomenalität aufweisen soll. In der epistemologischen Reduktion werden stets tiefere Ursachenbereiche gesucht; sie vollendet sich bei der Identifizierung der allerletzten und irreduziblen Ursachen, woraus sich die axiomatischen Grundsätze ergeben. Diese Ursachen als Letztbegründungen existieren in einem Ursachenbereich des Phänomens, dessen Natur eher ontologisch bedingt ist. Die ontologischkausale Geschlossenheit dieser finalen Ursachen setzt daher eine ontologische Konformität zwischen Ursachen- und Wirkungsbereich, die in den axiomatischen Erkenntnissen festzustellen ist. Im Folgenden wird versucht, die den Axiomen innewohnende ätiologische Struktur und ihre epistemologische und ontologische Geschlossenheit anhand einiger konkreter Beispiele zu verstehen. Die newtonschen Gesetze, die am Anfang seines Hauptwerkes Principia postuliert wurden und die demnach zur Propädeutik in der von ihm etablierten Wissenschaft der mathematischen Mechanik wurden, sind irreduzible axiomatische Grundsätze. Das Werk Principia zeichnet sich dadurch aus, dass es die Prinzipien der Naturphilosophie geometrisch-mathematisch demonstrierte. Die Mathematisierung der Mechanik, deren Grundlagen bereits von anderen Philosophen und Wissenschaftlern der Mechanik wie Kepler, Descartes und Galileo etabliert wurden, war bei Newton offensichtlich eine wichtige Strategie, die gegebenen physikalischen Grundphänomene geometrischmathematisch zu axiomatisieren und ihnen dadurch Allgemeinheit, 51 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Kontextualisierung der Wissenschaften
Universalität und apodiktische Gewissheit zu verleihen. Gerade auf dieser strategischen Axiomatisierung der Mechanik – anhand des Instrumentariums der Mathematik – basiert die Authentizität der newtonschen Mechanik; sie veranlasste Newton, die axiomatisch-intuitiven Vorstellungen der himmelsmechanischen Grundsätze bei Kepler und Hooke 3 als reine Vermutungen (»guesses«) herabzusetzen und ihnen gegenüber fest an die Legitimität und den Primat seiner mathematischen Beweisführungen dieser axiomatischen Grundsätze zu glauben. Die Methode der geometrisch-mathematischen Axiomatisierung ermöglichte Newton offensichtlich die Letztbegründung der mechanischen Prinzipien, die, wie vorher erörtert wurde, eine epistemologische Finalität der axiomatischen Erkenntnisse herbeiführt. Das Strategische an dieser Methode besteht darin, dass die geometrisch-mathematische Grundformen und -gesetze an sich bzw. bereits in ihrer ursprünglichen Existenzweise finale und irreduzible Formen und Gesetze bilden. Die Mathematisierung verleiht daher den mechanischen Grundsätzen eine ihr eigene epistemologische Finalität. Hier ist es wichtig zu erwähnen, dass die von Newton behandelten mechanischen Axiome eine gewisse hierarchische Ordnung aufweisen. Einige Axiome definieren absolut ursprüngliche mechanische Phänomene, wie das Trägheitsgesetz oder das Prinzip der Wirkung und Gegenwirkung, die an sich mathematisch nicht bewiesen werden können. Wie bereits zuvor erläutert, basiert das Trägheitsgesetz ursprünglich auf der Korrelation zwischen der irreduziblen geometrischen Formhaftigkeit der Gerade und der ebenso irreduziblen mechanischen Formhaftigkeit der gleichförmigen Bewegung. Das Phänomen der Trägheitsbewegung kann geometrisch – in Anlehnung an die geometrisch-mathematische Beweisführung des Flächensatzes bei Newton – folgendermaßen dargestellt werden:
Figur 1
Diese in gleichen Strecken eingeteilte Linie sollte die Trägheitsbewegung eines Körpers, in der er in gleichen Intervallen gleiche lineare Gemeint sind hier die ursprünglich keplerschen Gesetze der Elliptizität der Planetenbahnen und des Flächensatzes der Planetenbewegung sowie das von Hooke vorgeschlagene Inverse- Square Law der Gravitation.
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Die ätiologischen Strukturen
Strecken bahnt, darstellen. Jedoch ist diese geometrische Darstellung eines im Grunde dynamischen Phänomens von vornherein eine unzureichende Repräsentation, denn sie kann das Faktum der Zeit und der zeitlichen Bewegung in sich kaum integrieren. Um sich diese geometrische Darstellung als eine adäquate Repräsentation der Trägheitsbewegung vorzustellen, muss man sich auf sein Vermögen der visuellen Intuition stützen, in der allein das mechanische Phänomen der Trägheitsbewegung in ihrer Vollständigkeit bzw. in einer einheitlichen Synthese von geometrischer und dynamischer Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit in Erscheinung treten kann. Diese strukturelle Intuition kommt ursprünglich in finaler und irreduzibler geometrisch-mechanischer Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit zustande und lässt sich demnach nicht weiter geometrisch-mathematisch begründen bzw. reduzieren. Höchstens können wir aus dieser und ähnlichen axiomatischen Intuitionen eine ursprüngliche Korrelation zwischen der geometrisch-mathematischen und der mechanischen Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit ersehen, was dem in der frühen Neuzeit vorherrschenden Glauben an die Vorrangigkeit der Geometrie vor der Mechanik widerspricht und sie invalidiert. Die rein mechanische Beschreibung des Trägheitsprinzips, wie sie Descartes in seinem Werk Les Principes de la Philosophie unternimmt, ist zugleich eine geometrisch-mathematische Erklärung eines mechanischen Prinzips, das nicht weiter mathematisiert werden kann. Wenn die ursprüngliche Finalität des Trägheitsprinzips, die in der kartesischen und newtonschen Axiomatisierung dieses Prinzips zutage tritt, auf der ebenso ursprünglichen Finalität und Irreduzibilität der Korrelation zwischen Geometrie und Mechanik basiert, ist diese Korrelation letztendlich auf die Natur des Freiraumes und ihre ontologische Finalität zurückzuführen. Dies wurde bereits an früherer Stelle erörtert. Es wäre scheinbar ein absurdes Vorhaben, dem Freiraum, der eine vollkommene Leere aufweist, eine ontologisch finale Kausalstruktur zuzuschreiben. Jedoch wird bei der freiräumlichen Konstruktion der geometrischen und mechanischen Strukturen – sowohl in der produktiven Imagination als auch in der physikalischen Wirklichkeit – eine ursächliche Basis der finalen und irreduziblen Formen und Gesetze in der ontischen Struktur des Freiraumes erkannt, in dem sie entstehen. Wie zuvor dargelegt wurde, basieren die axiomatisch-strukturellen Intuitionen der mechanischen Grundphänomene wie das Trägheitsprinzip endgültig auf der kausa53 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Kontextualisierung der Wissenschaften
len Geschlossenheit und Finalität der ontologisch-ätiologischen Struktur des Freiraumes. Die Intuition des Trägheitsgesetzes ist daher absolut ursprünglich – gegenüber vielen anderen axiomatischen Erkenntnissen der Mechanik, die entweder eine kompositorische Struktur der elementaren Intuitionen voraussetzen, oder das Faktum der Deduktion mit einbeziehen. Ein treffendes Beispiel für kompositorische strukturelle Intuition im Bereich der klassisch-newtonschen Mechanik, die allerdings ebenso wie das Trägheitsgesetz eine axiomatische Erkenntnis hervorbringt, wäre das Parallelogramm-Gesetz der Kräfte:
Figur 2 4
Das Parallelogramm-Gesetz der Kräfte besteht jedoch aus keiner Trägheitsbewegung, sondern vielmehr aus den vektoriellen Bestimmungen der Krafts- und Bewegungsstruktur eines Körpers unter der kompositorischen Wirkung von mehr als einer Kraft. Die vektorielle Darstellung der Kraft ist an sich geometrisch und zeigt eine Richtung, die die Richtung der von der Kraft verursachten Bewegung ist. Die in diesem Parallelogramm-Gesetz dargestellten Bewegungen haben mit der Trägheitsbewegung eines Körpers aber eines gemeinsam – und zwar die Geradheit der Richtung. Das geometrisch dargestellte Parallelogramm-Gesetz kann allein intuitiv visualisiert und demnach apriorisch erkannt werden. Sowohl die wirkliche Darstellung als auch
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Vgl. NSK, S. 24.
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Die ätiologischen Strukturen
deren intuitive Imagination geht von zwei virtuellen Bewegungen (unter der Wirkung von Einzelkräften), dargestellt als OP und OQ, und der realen Bewegung OR, aus, die notwendigerweise die Diagonale des Parallelogramms OPRQ bilden sollte. Diese Resultante lässt sich durch eine einfache strukturelle Intuition erkennen. Wir stellen uns zunächst die Bewegung und Richtung des Körpers unter der Wirkung einer Kraft, dargestellt als OP, vor. Wenn zugleich eine zweite Kraft auf den Körper wirkt, wird lediglich die erste lineare Bewegung parallel zur Richtung dieser Kraft verschoben, woraus zwingend ein Parallelogramm entsteht, dessen Diagonale die resultierende Bewegung des Körpers darstellt. Die apriorische Vorstellung und die wirkliche Darstellung – in der Form einer Zeichnung – des Parallelogramm-Gesetzes der Kräfte sind zwar der geometrischen Formhaftigkeit und der Gesetzmäßigkeit unterworfen, aber sie können kaum als geometrische Beweise dieser mechanischen Phänomene charakterisiert werden. Denn von der elementaren Linearität der einzelnen Krafts- und Bewegungsstruktur hin zu der ebenso geometrischen Form der kompositorischen Wirkung der Kräfte, nämlich dem Parallelogramm, zeigen sie eine ursprüngliche Korrelation zwischen Geometrie und Mechanik, die sich nur intuitiv erkennen lässt. Dass die Diagonale des Parallelogramms notwendigerweise die resultierende Bewegung des Körpers unter der kompositorischen Wirkung von zwei Kräften darstellen soll, wird streng genommen nicht deduktiv erkannt, sondern in einer zwar nicht einfachen, aber kompositorischen Intuition, deren Wahrhaftigkeit und apodiktische Gewissheit letzten Endes auf der Objektivität bzw. auf der ontischen Finalität des Freiraumes basieren. Ein besonderer Mangel an dieser und ähnlichen strukturellen Intuitionen ist, dass die Kraft und die resultierende Bewegung des Körpers kaum quantifiziert werden können. Darin unterscheidet sich die intuitive Kognition von deduktiven Demonstrationen, in denen die Kraftund Bewegungsstruktur vektoriell nicht nur geometrisch dargestellt, sondern auch arithmetisch quantifiziert werden kann. Das Trägheitsgesetz und das Parallelogramm-Gesetz der Kräfte wurden von Newton axiomatisch postuliert; in ihnen wurden irreduzible statische und dynamische Zustände nur beschrieben. Eine Kausalerklärung dieser Zustände schien in der Axiomatisierung dieser mechanischen Phänomene ausgeschlossen zu sein. Dennoch können diese und ähnliche axiomatischen Grundsätze im Rahmen einer ätiologischen Struktur umformuliert werden, indem nach dem Grund 55 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Kontextualisierung der Wissenschaften
dieser scheinbar irreduziblen mechanischen Phänomene gefragt wird. D. h., dass die Phänomenalität der körperlichen Trägheit und des Parallelogramm-Gesetzes der Kräfte nicht einfach als Wahrheit angenommen wird. Stattdessen werden Fragen aufgeworfen: Warum verharrt ein Körper in seinem ursprünglichen Zustand der Ruhe oder der linearen und gleichförmigen Bewegung, solange keine externe Kraft auf ihn wirkt, die den Körper von ihrem linearen Weg ablenkt und seine Bewegung beschleunigt oder verlangsamt? Oder: Warum sollte die resultierende Bewegung eines Körpers, auf den zwei Kräfte zusammenwirken, notwendigerweise der Diagonale eines Parallelogramms, dessen Seiten die zwei Kräfte und die Bewegungen vektoriell – bzw. quantitativ und in entsprechender Richtung – darstellen, vollkommen entsprechen? Offensichtlich kann auf diese Fragestellungen keine hinreichende Erklärung (bzw. eine von der Wirklichkeit dieser mechanischen Phänomene wesentlich abweichende Ursächlichkeit) als Antwort gegeben werden. Wir können höchstens bestimmen, dass es die Trägheit des Körpers ist, die sein Verharren in seinem ursprünglichen Zustand der Ruhe oder der linearen und gleichförmigen Bewegung bewirkt. Aber was diese Trägheit selbst ist, lässt sich im Kontext der Klassischen Mechanik nicht weiter erklären. Die spätscholastische philosophia naturalis versuchte durch die Impetus Theorie, die Kraft, die einem in Bewegung gesetzten Körper anscheinend innewohnt, als eine interne Kraft (Impetus) zu bestimmen. Kepler hatte eine durchaus analoge Vorstellung von einer dem Planeten innewohnenden Kraft (vis insita), die vor allem die Abweichung der Planetenbahn vom Kreis zur Ellipse sowie die Geschwindigkeitsvariation der Planeten zwischen Perihel und Aphel verursacht. Aber der kartesisch- und newtonsch-axiomatischen Vorstellung von Trägheit und ihrer statischen und dynamischen Phänomenalität fehlt die Ursächlichkeit einer Kraft; sie scheinen als Zustände des Körpers im Freiraum streng ontologisch bestimmt zu werden. Gerade darin wird eine ontologische Finalität der Phänomene angedeutet, die sowohl dem Trägheitsruhezustand als auch dem Trägheitsbewegungszustand der Körper zugrunde liegt. Hierauf merken wir eine ätiologische Struktur in der axiomatischen Erkenntnis der Trägheit, deren epistemologische Geschlossenheit endgültig auf einer ontologisch-ätiologischen Geschlossenheit – dargestellt in der ontologischen Finalität der Entitäten Körper und Freiraum, in der Irreduzibilität des Prinzips der Trägheit sowie in der ursprünglichen Korrelation zwischen Geometrie und Mechanik – basiert. Diese Betrachtung bezieht sich ge56 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die ätiologischen Strukturen
nauso auf die Phänomenalität des Parallelogramm-Gesetzes der Kräfte. Die epistemologische und ontologische Geschlossenheit der diesen und ähnlichen axiomatischen Grundsätzen innewohnenden ätiologischen Struktur bestimmt auch die kontextualen Grenzen – oder die Kontextualität – der Wissenschaft der Klassischen Mechanik. Die ätiologische Geschlossenheit verleiht den Axiomen Kompaktheit und Finalität, so dass sie als fertiggestellte Produkte zu Grundsteinen der Wissenschaft werden. Sie lässt sich daher als ein Maßstab für die kontextuale Autonomie einer Wissenschaft betrachten. Gemeinhin wird angenommen, dass alle axiomatischen Grundsätze eine finale und irreduzible ätiologische Struktur in sich einschließen. Aber selbst die Klassische Mechanik erweist sich trotz ihrer geometrisch-mechanischen Basis nicht als kontextual geschlossen und final. Das newtonsche Gesetz der Gravitation ist zwar durch die klare geometrische Struktur einer zentripetal-vektoriellen Kraft und durch die geometrisch-mathematische Gesetzmäßigkeit des Inverse-Square Law gekennzeichnet. In dieser Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit lässt sich das Gravitationsgesetz mit dem Trägheitsgesetz vergleichen. Aber ihre Finalität wird allein durch die Mathematisierung oder mathematische Axiomatisierung gewährleistet. Der Grund der zentripetalen Anziehung als das mechanische Phänomen der dem Himmelskörper innewohnenden Gravitation lässt sich aber nicht mit dem Zustand der körperlichen Trägheit gleichsetzen. Denn Gravitation als Ursache erlangt keine vergleichbare Finalität des Trägheitszustandes, dem die ontologische Finalität der Entitäten, Körper und Freiraum, zugrunde liegt. Die Frage nach der Ursache der irdischen und himmelsmechanischen Gravitation brachte bereits vor Newton verschiedene Erklärungsversuche zutage, insbesondere der von William Gilbert in seinem Hauptwerk De Magnete (1600) vorgestellte Magnetismus der Erde. Bei der Entwicklung der Wissenschaft der Chemie im 17. Jahrhundert wurden Kräfte beobachtet, die die elementaren Moleküle und Atome miteinander verbinden, was als mögliche Gründe für die körperliche Gravitation, und zwar auf der Mikroebene, angeführt wurde. Darüber hinaus wurde in der Frühneuzeit versucht, das mysteriöse Phänomen der Fernwirkung der gravitationellen Anziehung – aber auch der Abstoßung – durch anthropomorphisierte Formen zu erklären, wie z. B. in Sympathie und Antipathie (Kepler oder Hooke), Neigung und Gegenneigung (Euler) usw., in denen die vergangene Naturphilosophie der Renaissance – 57 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Kontextualisierung der Wissenschaften
mit ihren animalischen Erklärungen der mechanischen Phänomene – tradiert zu werden schien. Die Mathematisierung bzw. die geometrisch-mathematische Axiomatisierung der mechanischen Phänomene betrifft vor allem ihre Form und Struktur, aber kaum ihre wahre Natur. Eine geometrisch-mathematische Darstellung eines Trägers in der Wissenschaft des Structural Engineering erklärt zwar die Struktur bzw. Verteilung der dem Träger innewohnenden statischen Kräfte, aber sie weist keine physikalische Materialität und die mit ihr verbundenen Eigenschaften wie Rigidität, Elastizität usw. auf. Die geometrisch-mathematischen Darstellungen ermöglichen den Astronomen, die Gesetzmäßigkeit der himmelsmechanischen Strukturen zu erschließen, aber sie können sich die wahre Phänomenalität des Kosmos kaum aneignen. Diese Tatsache kann ein legitimer Grund für die Authentizität der experimentellen gegenüber der rein mathematischen Analyse der mechanischen Phänomene sein. 5 Die förmliche, strukturelle und auch gesetzmäßige Angemessenheit zwischen den mechanischen Phänomenen und ihren geometrisch-mathematischen Darstellungen besagt nicht, dass sich die Wirklichkeit dieser Phänomene allein auf geometrisch-mathematische Weise entschlüsseln lässt. Denn die mechanische Phänomenalität weist gegenüber ihren geometrisch-mathematischen Demonstrationen einen anderen Seins- oder Existenzmodus auf. Dennoch ermöglichte die geometrisch-mathematische Methode der Demonstration dem Wissenschaftler, die funktionalen Aspekte der mechanischen Phänomene auszuarbeiten und sie axiomatisch zu begründen, wie die zahlreichen geometrischen Beweisführungen in Principia belegen. Im Unterschied zu anderen Wissenschaftlern der frühneuzeitlichen Himmelsmechanik – insbesondere im Unterschied zu Kepler – entwickelte Newton die axiomatischen Grundsätze seiner Mechanik eher durch eine geometrisch-mathematische und weniger Bei seinen himmelsmechanischen Untersuchungen neigte Hooke eher zu experimentellen Beweisführungen. Zu nennen hier sind z. B. sein Experiment mit dem Conical Pendulum, um die Elliptizität der Planetenbahnen zu beweisen sowie seine experimentellen Untersuchungen, um die gesetzmäßige Variation der Gravitationskraft zu analysieren. Diese und ähnliche mechanisch-experimentelle Methoden Hookes bilden einen klaren Kontrast zu der geometrisch-mathematischen Analyse und Axiomatisierung der himmelsmechanischen Phänomene Newtons. Die Legitimität der experimentellen gegenüber den mathematischen Demonstrationen der himmelsmechanischen Phänomene wird im dritten Kapitel erörtert.
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Die ätiologischen Strukturen
durch eine rein physikalische Denkweise. Während Kepler bei seiner Entdeckung der irreduziblen Anomalien in dem bis Kopernikus tradierten System des Kosmos – dargestellt durch die Elliptizität der Planetenbahnen, die periodische Variation der Planetengeschwindigkeit sowie die Exzentrizität der Sonne – von seinem vorherigen Glaube an die geometrisch-mathematische Vollkommenheit und Harmonie des Kopernikanischen Systems hin zur Vorstellung einer physikalischen Phänomenalität des Kosmos überging, versuchte Newton die von Kepler, Descartes, Galileo, Huygens oder Hooke etablierte Himmelsphysik von vornherein mathematisch zu erklären und zu axiomatisieren. Aufgrund der ursprünglichen Korrelation zwischen der Geometrie und der Mechanik als Raumwissenschaften entsprechen die geometrisch-mathematische Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit vollkommen der mechanischen Phänomenalität, wie in fast allen von Newton axiomatisierten mechanischen Grundsätzen, wie dem Parallelogramm-Gesetz der Kräfte oder dem Flächensatz, zu erkennen ist. Allerdings scheint die strategische Mathematisierung der Mechanik im newtonschen System eine gewisse Verschleierung der rein physikalischen Phänomenalität und ihrer ebenso physikalischen ätiologischen Strukturen veranlasst zu haben. Nachdem man eine axiomatische Erkenntnis in der Mechanik geometrisch-mathematisch vollkommen demonstriert sieht, vergisst man tendenziell, weiterhin nach ihren endgültigen physikalischen Ursachen zu suchen. Die Ursächlichkeit der Trägheit, die sich im Modus eines rein mechanischen Phänomens und im Kontext der Klassischen Mechanik als ontologisch-kausal final und irreduzibel erweist, versteckt sich hinter dem geometrisch-mathematischen Gerüst des Trägheitsgesetzes. Demnach lässt sich das newtonsche Trägheitsgesetz in gewisser Hinsicht als eine klassisch mechanische Kontextualisierung des Trägheitsphänomens bezeichnen, die seine Ursächlichkeit verschleiert. Wenn diese Kontextualisierung historisch abläuft, wobei eine neue Kontextualität der Wissenschaft der Mechanik etabliert wird, werden tendenziell die historisch verschleierten axiomatischen Grundsätze wiederum aufgenommen und erneut untersucht. Das treffendste Beispiel dafür wäre das Äquivalenzprinzip Einsteins, das zu der wichtigsten Grundlage der einsteinschen Himmelsmechanik zählt. Das einsteinsche Äquivalenzprinzip basiert auf der Gleichsetzung des Trägheitsphänomens mit der Gravitation, was im Prinzip eine weitere ätiologische Grundlage der Trägheit ans Licht führte. Allerdings be59 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Kontextualisierung der Wissenschaften
sagt das Äquivalenzprinzip letztendlich eine korrelative Verbundenheit zwischen Trägheit und Gravitation in ihrer ursächlichen Phänomenalität. Durch sein Trägheitsgesetz und andere Prinzipien der Mechanik, eingeführt und erörtert vor allem in seinem Hauptwerk Les Principes de la Philosophie, etablierte Descartes ein scheinbar sicheres Fundament für die Mechanische Philosophie in der Frühneuzeit. Diese historische Wegbereitung im Hinblick auf die moderne Philosophie und Wissenschaft wurde in erster Linie dadurch gekennzeichnet, dass sie sich den okkulten und animalischen Auslegungen in der tradierten Naturphilosophie der Spätscholastik und der Renaissance entgegensetzte. Der philosophische und wissenschaftliche Rationalismus im kartesischen System basierte programmatisch auf dem Prinzip der Letztbegründung der mentalen und materiellen Phänomene, wodurch dem Wissen – der Episteme – alle residualen Fakten des Glaubens entzogen wurden. Dennoch wurden in der kartesischen Mechanischen Philosophie einige Annahmen, wie die Vortex-Theorie der Planetenbewegung, zugelassen, die sich rein mechanisch kaum erklären ließen, und die demnach den Rahmen der Mechanischen Philosophie zu sprengen schienen. Die newtonsche Mechanik war bekanntlich die Korrektur und zugleich die Fortsetzung der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie und ihrer Grundlagen aus den Werken seiner Vorgänger wie insbesondere Descartes, Galileo und Kepler. Die Mathematisierung als Instrumentarium zur Letztbegründung mechanischer Phänomene schien in Principia die Funktion zu haben, eine vollkommen rationale Basis für die Mechanik zu etablieren und die apodiktische Gewissheit ihrer (apriorischen) Erkenntnisse erneut zu fundieren. Allerdings stieß Newton – ebenso wie Descartes – bei seinem Vorhaben, die Phänomenalität der irdischen und der himmlischen Mechanik im strengen Rahmen einer Mechanischen Philosophie und seiner mathematischen Prinzipien einzuordnen, unweigerlich auf das Problem der gravitationellen Wirkung in großen Entfernungen, die durch kein mechanisches Medium unterstützt wird. Das Problem der Fernwirkung der Gravitation war in der newtonschen Mechanik ein residuales Rätsel, also ein Rätsel, das übrig blieb, als Newton versuchte ein analoges Rätsel zu bewältigen – und zwar die mechanische Wirkung des den leeren Zwischenraum im All füllenden Äthers in der kartesischen Vortex-Theorie. Die Ausweitung der Gravitationskraft im leeren Raum und ihre mechanische Wirkung auf weit entfernte 60 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die ätiologischen Strukturen
Himmelskörper widersprachen den Grundprinzipien der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie, zu deren bekanntesten Vertretern Newton gehörte. Dieser Fehlschlag in seinem System der mathematisch fundierten Mechanischen Philosophie wurde sofort von Newton selbst erkannt und zugegeben: »It is inconceivable that inanimate brute matter should, without the mediation of something else which is not material, operate upon and affect other matter without mutual contact […] That gravity should be innate, inherent, and essential to matter, so that one body may act upon another at a distance through a vacuum, without the mediation of anything else, by and through which their action and force may be conveyed from one to another, is to me so great an absurdity that I believe no man who has in philosophical matters a competent faculty of thinking can ever fall into it.« 6
Der Grund für die Unglaubwürdigkeit der gravitationellen Wirkung war nicht, dass Newton die Ursache der Gravitation nicht erklären konnte, sondern dass die unmittelbar erfahrene Fernwirkung der Gravitation (auch im Kontext der irdischen Mechanik) den Grundprinzipien der Mechanischen Philosophie widersprach bzw. durch keine mechanisch-materielle Ontologie unterstützt wurde. Das Rätselhafte an der Gravitationskraft bezieht sich zuallererst auf ihre rätselhafte Existenzweise und Wirkungsart, die zu der damaligen Zeit den Anschein einer okkulten Qualität der Körper zu erwecken schien. Diese versuchte die Frühneuzeit durch eine Mechanische Philosophie zu überwinden. Aber nicht nur die newtonsche Vorstellung von einer Universalgravitation, sondern auch fast alle spekulativen Theorien über ein kosmisches Medium, das den leeren Raum im All füllt und folglich mechanische Wirkungen initiieren und sie zwischenkörperlich übertragen kann, waren im Kontext der frühneuzeitlichen Mechanik zum Scheitern verurteilt. Nachdem der Materie jegliche Latenz einer animalischen Kraft abgesprochen und sie demnach auf ein lebloses Phänomen reduziert wurde, konnte die Frühneuzeit nur die rein mechanische Phänomenalität in der Wissenschaft der Mechanik anerkennen. Die notwendige mechanische Medialität in den himmelsmechanischen Wirkungen schien in diesem Bezug ein Rätsel geblieben zu sein, das einen vollkommenen Übergang des vorneuzeitlichen philosophia naturalis in die frühneuzeitliche Mechanische Philosophie erschwerte. Aus Newtons Brief von 1693 an Richard Bentley. Vgl. Janiak, Andrew: Newton as Philosopher, Cambridge University Press, Cambridge 2008, S. 34.
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Die Kontextualisierung der Wissenschaften
Die rein mechanische Vorstellung von der leblosen Materie hatte ihren Ursprung – auch im Kontext der Mechanischen Philosophie – bekanntlich in dem kartesischen System bzw. in der kartesischen Differenzierung zwischen res cogitans und res extensa. Im Rahmen der kartesischen Methode des Zweifelns und der systematischen Negation werden dem Körper alle seelischen bzw. subjektiven Attribute entzogen, um ihn auf ein rein mechanisches Phänomen zu reduzieren. Die saubere Trennung zwischen Seele und Körper geriet notwendigerweise bei der Erklärung des organischen bzw. des menschlichen Leibes in Widerspruch. Falls der menschliche Leib ein von der Seele, die nach Descartes immateriell und unausgedehnt ist, völlig abgetrenntes Phänomen ist, kann die Seele keine leibliche Wirkung mechanisch verursachen. Der Nexus zwischen der immateriellen und ausdehnungslosen Seele und dem materiell ausgedehnten Leib und die – an ihn anknüpfende – rein mentale Verursachung der mechanisch-leiblichen Bewegungen wurden von einigen bekannten Kartesianern der damaligen Zeit, wie Prinzessin Elisabeth von Böhmen und Pierre Gassendi, problematisiert. In ihrem ersten Brief an Descartes (vom 6. Mai 1643) stellte die Prinzessin die Frage, wie eine immaterielle und unausgedehnte Seele dem materiell ausgedehnten Leib innewohnt und in ihm mechanische Wirkungen verursacht: »Wie kann die Seele des Menschen die Lebensgeister dazu veranlassen, die Willkürhandlungen auszuführen (da sie doch nur eine denkende Substanz ist)? Denn es scheint, daß jede Bewegung durch einen Stoß verursacht wird, wobei die Art des Stoßes von den Eigenschaften und der Form der Oberfläche des Gegenstands abhängt, durch den der Stoß ausgeführt wird. In den beiden ersten Fällen wird Berührung vorausgesetzt und beim dritten die räumliche Ausdehnung. Sie schließen aber diese vollständig aus dem Begriff aus, den Sie von der Seele haben, und jene erscheint mir unvereinbar mit einem immateriellen Gegenstand. Deshalb bitte ich Sie um eine spezifischere Definition der Seele als in Ihrer Metaphysik …« 7
Obwohl die Prinzessin in erster Linie die von Descartes vorgestellte Unausgedehntheit und Immaterialität der Seele sowie ihre Abgetrenntheit vom Leib in Frage stellt, bezieht sich ihre Problemstellung deutlich auf ein rätselhaftes Phänomen, das sich im Rahmen der (von Descartes initiierten) Mechanischen Philosophie kaum hinreichend erklären lässt: »Denn es scheint, dass jede Bewegung durch einen Stoß verursacht wird, wobei die Art des Stoßes von den Eigenschaften 7
Vgl. Lauth, a. a. O., S. 187–188.
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Die ätiologischen Strukturen
und der Form der Oberfläche des Gegenstands abhängt, durch den der Stoß ausgeführt wird.« Das hier geschilderte Problem der Mechanik besagt, dass die mechanische Verursachung und Übertragung der Bewegungen notwendigerweise die Materialität und Rigidität des Gegenstands (als »Eigenschaften und der Form der Oberfläche des Gegenstands«) voraussetzt. Daher wäre es nicht schlüssig anzunehmen, dass die immaterielle und unausgedehnte Seele Willensakte im materiellen und ausgedehnten Leib, dargestellt in seinen Bewegungen, verursacht. Im Rahmen der Mechanischen Philosophie und seiner Grundprinzipien lässt sich zwischen diesem Problem, nämlich der Verursachung der materiell-leiblichen Bewegungen durch eine immaterielle Seele, und der Fernwirkung der Gravitation, die Newton mechanisch-philosophisch nicht erklären konnte, in gewisser Hinsicht eine klare Analogie aufweisen. Auch wenn wir die Ausgedehntheit der Seele 8 im Körper durch die Sinneswahrnehmungen und Willens-
In seiner Antwort auf die Frage der Prinzessin gibt Descartes zu, dass er strategisch die Verbundenheit der Seele mit dem Körper, die in einer vorlogischen Domäne des Subjekts – bei Sinneswahrnehmungen und Willensakten – spürbar ist, zugunsten des Denkvermögens vernachlässigt hat: »Denn von den zwei Dingen in der menschlichen Seele, von denen die gesamte über ihre Natur mögliche Kenntnis abhängt, ist eines, daß sie denkt, das andere, daß sie durch ihre Vereinigung mit dem Körper mit diesem handeln und leiden kann; ich habe fast nichts über das letztere gesagt und mich allein bemüht, das erste gut verständlich zu machen, weil es meine Hauptabsicht war, den Unterschied zwischen Seele und Körper zu beweisen; dazu konnte nur dieses dienen, und das andere wäre dem schädlich gewesen.« (Vgl. Lauth, a. a. O., S. 188). Aber die Prinzessin war kaum zufrieden mit dieser Antwort, denn sie merkte, dass der von Descartes zugegebene Nexus zwischen Seele und Körper mit seiner ontologischen Bestimmungen der Seele – als immateriell und unausgedehnt – in Widerspruch gerät: »wie die Seele (die unausgedehnt und immateriell ist) den Körper bewegen kann … Und ich gestehe, daß es mir leichter fallen würde, der Seele eine Materie und eine Ausdehnung zuzuschreiben, als einem immateriellen Wesen die Fähigkeit, einen Körper zu bewegen und von ihm bewegt zu werden. Denn, wenn das Erstere durch Information geschähe, müßten die Lebensgeister, die die Bewegung verursachen, intelligent sein, was Sie aber keinem körperlichen Wesen zubilligen. Und obwohl Sie in ihren metaphysischen Meditationen die Möglichkeit des Zweiten nachweisen, bleibt es gleichwohl sehr schwer zu verstehen, wie eine Seele, so wie Sie sie beschrieben haben, nachdem sie die Fähigkeit und die Gewohnheit des folgerichtigen Denkens erworben hat, dies alles durch einige Dünste verlieren kann und wie sie, die doch ohne Körper existieren kann und mit ihm nichts gemeinsam hat, dermaßen von ihm beherrscht werden kann.« (Ebd., S. 189). In einem weiteren Erklärungsversuch verweist Descartes auf eine mögliche Analogie zwischen der dem Leib innewohnenden Seele und dem Gewicht eines Körpers, das wir zwar empfinden, aber das nicht zum Wesen des Körpers gehört. Denn das Gewicht wird von Gravitation verursacht. Vgl. dazu:
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Die Kontextualisierung der Wissenschaften
akte unmittelbar zu erfahren scheinen – ebenso wie die Ausdehnung der Gravitation, die überall auf der Erde erfahrbar ist –, können wir uns die Materialität der Seele kaum vorstellen. Aber es sind die Materialität und ihre mechanischen Eigenschaften, die die Seele und die Gravitation befähigen sollten, materielle Wirkungen zu verursachen. Hierauf merken wir, dass die gravitationelle Fernwirkung, die Newton und seine zeitgenössischen Wissenschaftler der Astronomie schwerlich hinreichend erklären konnten, im Grunde mit ihrer rätselhaften Existenzweise eng verbunden ist. Die Materialität eines Körpers ist zugleich eine ontologische Bestimmung seiner Existenz und die Ursache jener Initiierung und Übertragung der mechanischen Kräfte und Bewegungen. Ebenso sollte die Materialität oder Substantialität der Gravitation, die im Gegensatz zu der Materialität eines Körpers von vornherein rätselhaft erscheint, den notwendigen Grund für seine Fernwirkung bilden – abgesehen davon, dass die gravitationelle Anziehung zusätzlich zu dieser Medialität erklärt werden soll. Kurzum: Das Problem der gravitationellen Fernwirkung basiert auf dem Problem der Existenzweise der Gravitation und ihrer Ausweitung, die im Vergleich zu der Letztbegründung der Trägheit im Kontext der Klassischen Mechanik keine geschlossene ontologische Kausalstruktur herbeiführt. Die Unmöglichkeit einer ontologischen Letztbegründung der Gravitation veranlasste Newton, von der vergeblichen Suche nach einer physikalischen Ursache abzukommen und sich mit der experimentellen Evidenz ihrer Wirkung – die sich erfolgreich geometrisch-mathematisch darstellen lässt – zu begnügen. In der berühmten Aussage Newtons: »I frame no hypothesis (hypotheses non fingo)« wird eindeutig die Unmöglichkeit der hypothetischen Letztbegründung – als allerletzte Ursächlichkeit – der Gravitation angedeutet: »But hitherto I have not been able to discover the cause of those properties of gravity from phenomena, and I frame no hypotheses (hypotheses non fingo). For whatever is not deduced from the phenomena, is to be called an hypothesis; and hypotheses, whether metaphysical or physical, whether of occult qualities or mechanical, have no place in experimental philosophy.« 9
Descartes, René: Meditations and Other Metaphysical Writings, übersetzt von Desmond M. Clarke, Penguin Classics, London 2003, S. 150. 9 Vgl. Dugas, René: A History of Mechanics, übersetzt von J. R. Maddox, NeuchâtelSwitzerland 1955, S. 200–201.
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Das Wissens- und Glaubenssystem in der Wissenschaft
Das Wissens- und Glaubenssystem in der Wissenschaft Die zeitgenössischen Wissenschaftler der Mechanik wie Huygens und Leibniz, die der newtonschen Vorstellung von der Gravitation und ihrer Fernwirkung gegenüberstanden, erkannten sogleich, dass Newton in seinem Gravitationsprinzip eine Hypothese wagte, die der Mechanischen Philosophie der frühen Neuzeit widersprach und die sich folglich als eine okkulte Qualität zeigte: »During the seventeenth and early eighteenth centuries action at a distance was regarded with suspicion. Leibniz attacked it in his long correspondence with Samuel Clarke, describing it as a means of communication which is ›invisible, intangible, not mechanical.‹ Clarke might as well have added, Leibniz goes on, that it is ›inexplicable, unintelligible, precarious, groundless and unexampled. … Of which sorts of things, the author seems to have still a good stock in his head. … ’Tis a chimerical thing, a scholastic occult quality.‹ This indicates the grounds of criticism: those who introduced action at a distance were accused of returning to the Aristotelian habit of postulating an ad hoc quality for every new phenomenon, without showing that the quality explained the phenomenon in any way by relating it to other processes of nature. When Newton’s disciples were driven to speak of the means by which bodies attract each other as ›invisible, intangible and non-mechanical,‹ they seemed to their contemporaries to be surrendering to the immaterial influences and sympathies which had been banished from physics so recently and with such difficulty.« 10
Allerdings betrachtete Newton die Gravitationskraft als keine okkulte Qualität, denn sie lässt sich unmittelbar aus dem Phänomen ableiten, obwohl sie weder ontologisch noch ätiologisch erklärt werden kann. Dass die Gravitationskraft und ihre Natur der Anziehung aus dem Phänomen abzuleiten sind, begründet ihre experimentelle Evidenz, die allein für Newton reichte, die Gravitation – wenn nicht rein mechanisch – ausschließlich geometrisch-mathematisch zu axiomatisieren. Auch wenn Newton keine Hypothese wagte, schien er davon überzeugt zu sein, dass sein Gravitationsgesetz das Phänomen der Gravitation hinreichend beschreibt. Eine Beschreibung des Phänomens der Gravitation, die sich unmittelbar auf die Erfahrung bezieht, mag für die weiteren Ableitungen seiner Wirkungsart genügen, aber sie ermöglicht dem Wissenschaftler nicht, dieses Phänomen theo-
Hesse, Mary B.: Action at a Distance in Classical Physics, Isis, Vol. 46, No. 4 (Dec., 1955), University of Chicago Press, S. 339.
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Die Kontextualisierung der Wissenschaften
retisch zu begründen und sie dadurch im Kontext der Wissenschaft der Mechanik zu axiomatisieren. Trotz seiner Überzeugung von der Adäquatheit seiner axiomatischen Beschreibung der Gravitation suchte Newton weiter nach einer rein mechanischen und ontologischen Ursächlichkeit für dieses Naturphänomen und gestand endlich die Absurdität der Annahme der gravitationellen Fernwirkung: »The position of Newton himself with regard to the alternative models for action is ambiguous, for although his theory of gravitation is the prototype of action at a distance theories, he himself was of the opinion that it might ultimately be possible to explain action at a distance in terms of impact. Mathematically the theory of gravitation is a special case of the theory of central forces (or »centripetal« forces as Newton called them), and this theory is an immediate consequence of Newton’s definition of centripetal force as »that by which bodies are drawn or impelled, or in any way tend, towards a point as to a centre.« Newton gives as examples gravity, magnetism, and the force on a stone whirled in a sling. His definition abstracts from the physical means whereby the force is exerted, and concerns itself only with the resulting tendency of the body to move towards the centre: ›… the reader is not to imagine, that … I anywhere take upon me to define the kind, or the manner of any action, the causes or the physical reason thereof, or that I attribute forces, in a true and physical sense, to certain centres (which are only mathematical points); when at any time I happen to speak of centres as attracting, or as endowed with attractive powers.‹ 11 Newton held that this theory of forces does not imply anything about the physical means by which they are produced. The attractive force was derived immediately from phenomena, since if the mass and acceleration of a moving body are given, the magnitude of the force acting upon it can be found from the laws of motion, and in this sense the theory of gravitation was not a hypothesis, but a manner of describing phenomena, and a necessary preliminary to the attempt to find the physical cause of attraction. Newton therefore denied that attraction was in any sense an »occult quality« of bodies, like the qualities postulated by the Aristotelians, for attractive forces could be used to derive the motions of bodies, whereas the Aristotelian qualities were mere names which explained nothing. In Newton’s view, and to a greater extent in the view of his disciple Cotes, no explanation of attracting forces was necessary to a physical system, but in some of his writings Newton allows himself to speculate upon the possible effects of a »subtle substance« whose action upon gross matter might produce in bodies the appearance of attracting one another. And in a letter to Bentley dated I693 he definitely asserts
Newton, Isaac: Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (London, I687), Book II, Section ix., S. 8, definition viii.
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Das Wissens- und Glaubenssystem in der Wissenschaft
that it is absurd to suppose that gravity is innate and acts without a medium, either material or immaterial.« 12
Wir erkennen hier eine klare Zerrissenheit des Wissenschaftlers zwischen der praktisch-experimentellen Überzeugung von dem Phänomen und seiner theoretischen Unglaubwürdigkeit. Die Überzeugung von gravitationeller Anziehung, die stets durch praktische Erfahrungen im Alltag und durch wissenschaftliche Experimente belegt wird, kann aber dieses Naturphänomen kaum theoretisch begründen, um daraus ein axiomatisches Wissen zu entwickeln. Daher bleibt die newtonsche Überzeugung von gravitationeller Fernwirkung höchstens ein praktischer Glaube, der sich zwar experimentell bestätigen, aber theoretisch nicht begründen lässt. D. h. die axiomatische Beschreibung des Gravitationsphänomens kann streng genommen den Status der epistemischen Letztbegründung kaum erlangen. Dennoch bildet sie keine rein doxastische Bestimmung, denn ihre Wirklichkeit wird unmittelbar erfahren. Dass die Fernwirkung der Gravitation sich im Kontext der newtonschen Mechanik selbst nicht begründen lässt, unterstützt schwerlich ihre alternativen Erklärungen in der kartesischen Vortex-Theorie und ihre Erweiterungsversuche von Wissenschaftlern und Philosophen wie Leibniz. Während Newton an Erfahrung und experimentelle Evidenz der gravitationellen Fernwirkung glaubte und zugleich an ihrer ontologischen Basis und Ursächlichkeit zweifelte, belegte sein Dilemma im Grunde die Ehrlichkeit seines wissenschaftlichen Geistes. Diese Ehrlichkeit als solche schien der eher einseitigen Skepsis Leibnizens, deren Wahrhaftigkeit unbestritten ist, überlegen zu sein. Wichtig ist hier anzunehmen, dass auch auf der Erkenntnisbasis der Mechanik ein residuales Faktum des Glaubens übrigbleibt. Die kartesische Grundlegung einer Mechanischen Philosophie und ihre vollkommene Trennung von der Philosophie des Geistes wurden offensichtlich durch ein Grundmotiv initiiert und vorangetrieben, dass alle Fakten des Glaubens – und eventuell des Dogmatismus –, die aus der Naturphilosophie der Spätscholastik und der Renaissance überliefert zu sein schienen, aus der reinen Wissenschaft, die allein ein sicheres und nicht zu bezweifelndes Wissenssystem historisch etablieren kann, völlig beseitigt werden sollte. Diese von Descartes initiierte programmatische Säuberung der Mechanischen Philosophie 12
Hesse, a. a. O., S. 340.
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Die Kontextualisierung der Wissenschaften
stieß letztendlich auf etliche rätselhafte mechanische Phänomene selbst, die sich theoretisch bzw. kausal und ontologisch nicht begründen lassen. Nicht nur die Fernwirkung der Gravitation, sondern auch einige Grundvorstellungen der Klassischen Mechanik wie Kraft kommen uns rätselhaft vor, wenn wir versuchen, ihre Phänomenalität ontologisch zu bestimmen bzw. ihre Existenzweise zu definieren. Ebenso wie die gravitationelle Anziehung können wir die Wirkung der Kräfte, dargestellt insbesondere in dynamischen Phänomenen, unmittelbar erfahren, aber durch ihren Existenzmodus – im Vergleich zu der materiellen Existenz der Körper – gibt sie uns dennoch Rätsel auf. D. h. wir wissen unmittelbar, wie die Kräfte wirken, aber wir wissen zugleich nicht, was sie sind bzw. wie sie existieren. In dieser Hinsicht scheint in jeder axiomatischen Bestimmung der Kraftprinzipien im Kontext der Klassischen Mechanik ein Faktum des Glaubens mit dem Wissen verflochten zu sein. Schließlich hielt Newton die unmittelbar erfahrene und experimentell belegte Erkenntnis der Gravitation – nämlich, dass sie existiert – für eine zureichende Annahme, obwohl sich diese Erkenntnisweise im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie nicht erklären oder begründen lässt. Dieser newtonschen Annahme und ihrer Legitimierung als eine zureichende Prämisse in seinem System der Mechanik scheinen folgende Aspekte zugrunde zu liegen: 1. 2.
3.
Die Unmöglichkeit, die materielle Existenz der Gravitation, die ihre mechanische Fernwirkung verursacht, zu beweisen. Die Unmöglichkeit einer axiomatischen Letztbegründung des Naturphänomens der Gravitation aufgrund der Unabgeschlossenheit ihrer ontologischen Kausalstruktur. Die Möglichkeit der zureichenden Geometrisierung der Form und Struktur der Gravitation – in Form einer zentripetal-vektoriellen Kraft – und die Mathematisierung ihrer Gesetzmäßigkeit in einem Inverse-Square Law.
Es ist bekanntlich ein Wesenszug der newtonschen Mechanischen Philosophie, dass sie unnötige Hypothesen mechanischer Phänomene zu vermeiden suchte. Wenn eine Erkenntnis in der Mechanik auf der rein theoretischen Ebene kaum möglich ist – D. h. wenn sich ihre axiomatische Letztbegründung als eine unmögliche Unternehmung erweist –, ist es nach Newton sinnvoller, sie auf die praktische bzw. einzig und allein empirische Ebene einzuschränken und sich folglich 68 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Das Wissens- und Glaubenssystem in der Wissenschaft
mit ihrer Erfahrbarkeit und experimentellen Evidenz zufriedenzustellen. Aber mehr als die Unmöglichkeit einer rein mechanisch-axiomatischen Letztbegründung der Gravitation (was die oben erörterten ersten zwei Punkte andeuten) war es die Möglichkeit der vollkommenen Mathematisierung bzw. der mathematischen Axiomatisierung der Gravitation, die der newtonschen Überzeugung, dass die praktische Erfahrung der Gravitationskraft eine zureichende Erkenntnis ihrer phänomenalen Existenz ausmacht (ohne ihre Ursache, die im Rahmen der Mechanischen Philosophie nicht erklärt werden kann), zugrunde lag. Sowohl die von Descartes initiierte Mechanische Philosophie als auch die newtonsche Mathematisierung der Mechanik basieren auf dem Prinzip der Reduktion vielfältiger Naturphänomene auf wenige mechanische und mathematische Entitäten und Gesetze. Die mechanische und mathematische Reduktion bildete eine wissenschaftliche Kontextualisierung, der die irdisch- und himmelsmechanischen Phänomene unterworfen wurden. Wie vorher erläutert wurde, lässt sich die Vorstellung vom Körper im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie als ein Ausdruck der mechanischen Kontextualität bestimmen, die die große materielle Vielfalt der Phänomene auf eine einheitliche mechanische Entität reduziert. Bei genauer Betrachtung baut die Wissenschaft der Klassischen Mechanik auf wenigen solchen mechanischen Entitäten auf, nämlich dem Körper, dem Freiraum, der Kraft sowie der Bewegung, die durch die Wirkung der Kräfte auf Körper zustande kommen. Die Reduktion der materiell vielfältigen Naturphänomene auf eine einheitliche klassisch-mechanische Entität wie den Körper war aus historischer Sicht eine erfolgreiche Bestrebung – nicht nur in der Domäne der soliden Naturobjekte, dargestellt in der Festkörpermechanik, sondern auch in der des Fluidums und der Luft, dargestellt jeweils in den mechanischen Wissenschaften wie der Fluidmechanik und der Aerodynamik. Durch die mechanische Reduktion der materiell vielfältigen Phänomene vermag die Wissenschaft der Klassischen Mechanik fast alle funktionalen Prinzipien der Natur und des Kosmos zureichend zu erklären. Trotz dieses Erfolgs – in Theorie und Praxis – führte der mechanische Reduktionismus zu einer kontextualen Maskierung der Phänomenalität, was nicht ohne historische Folgen war. Als sich im Rahmen der Feldtheorien von Faraday und Maxwell eine neue Kontextualität der Mechanik zu etablieren begann und diese schließlich der einsteinschen Mechanik den Weg bereiteten, entstand diese historische Ent69 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Kontextualisierung der Wissenschaften
wicklung im 19. Jahrhundert offensichtlich durch die Demaskierung der Phänomenalität der magnetischen und elektromagnetischen Fernwirkung, die im Kontext der tradierten Klassischen Mechanik hinter der erfolgreichen mechanischen und mathematischen Gesetzmäßigkeit dieser Phänomene verschleiert blieb. Das Phänomen der Gravitation stand dem programmatischen mechanischen Reduktionismus in der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie entgegen. Die Gravitation und ihre Fernwirkung lassen sich weder auf eine Körperlichkeit und ihre mechanische Gesetzmäßigkeit noch auf eine physikalische Materialität reduzieren. Daher können die newtonsche Mathematisierung der Gravitation und die Einschränkung ihrer Erkenntnis allein auf ihre Existenzweise als strategische Maßnahmen betrachtet werden, damit das Problem der mechanischen Irreduzibilität der Gravitation durch ihre Mathematisierung bewältigt wird. Offensichtlich bildet die mathematische Axiomatisierung der Gravitation bei Newton, sowohl bei der primären Annahme einer zentripetal-vektoriellen Formhaftigkeit der Gravitationskraft als auch bei ihrer Gesetzmäßigkeit im InverseSquare Law, eine zweite, und zwar zusätzliche Form des Reduktionismus, der die bereits von Descartes, Kepler, Galileo u. a. überlieferten mechanischen Gesetze erneut axiomatisieren sollte. Aus dieser Mathematisierung der mechanischen Gesetze ergaben sich die Axiome der newtonschen Mechanik, die die mechanische Kontextualität der natürlichen und kosmischen Phänomene zureichend erklärten und demonstrierten, aber sie verschleierte die wahre objektive Existenzweise der mechanischen Phänomene, wie z. B. die der Kräfte, insbesondere der Gravitation und ihrer ontologischen Ursächlichkeit. D. h. in der newtonschen Mechanik schien die geometrisch-mathematische Reduktion der mechanischen Phänomene ihre Wirklichkeit und Ursächlichkeit kontextual zu maskieren. Der axiomatische Status der newtonschen mathematischen Prinzipien der Mechanik ist unbestritten, denn die geometrisch-mathematische Kontextualisierung konnte ihnen zum großen Teil eine klare epistemologische aber auch ontologische Finalität verleihen. Daher erweisen sie sich bis heute in der Praxis der Mechanik als durchaus erfolgreich. Der Legitimität der mathematischen Axiomatisierung mechanischer und optischer Phänomene liegt die zuvor erörterte ursprüngliche Korrelation zwischen der Geometrie, der Mechanik und der Optik (als Raumwissenschaften) zugrunde. Schon bei den allerersten axiomatischen Intuitionen in den Wissenschaften der Klassi70 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Das Wissens- und Glaubenssystem in der Wissenschaft
schen Mechanik und der Geometrischen Optik werden die Naturphänomene, und zwar die Kraft, das Licht, die Bewegungen der Körper usw., geometrisch-mathematisch reduziert. In der bloßen Formhaftigkeit stimmt diese Reduktion mit der Wirklichkeit aufgrund der ursprünglichen Korrelation zwischen den Wissenschaften (auf der axiomatischen Ebene) überein. Aber die Geometrie stellt nur statische Formen dar, wogegen die Dynamik und Optik die dynamischen Strukturen zum Gegenstand haben. Die Reduktion einer Kraft auf einen Vektor sowie die des Lichtstrahls auf eine Linie verdeutlichen zwar die Form und Richtung dieser dynamischen Phänomene, aber ihre wahre Dynamik lässt sich nicht geometrisch darstellen, sondern nur intuitiv vorstellen. Demnach ermöglicht die geometrisch-mathematische Reduktion der physikalischen Phänomene, die wir für eine Form der grundlegenden Kontextualisierung halten, dem Wissenschaftler, anhand dieser Überlagerung ihre Gesetzmäßigkeit vollständig abzuleiten. Ein Diskurs wurde darüber geführt, ob das Licht in seiner innen-materiellen Struktur wellenförmig oder korpuskular ist – allerdings weniger im Rahmen einer Geometrischen Optik als im Rahmen der klassischen Physik der Frühmoderne, in der man begann, die Materialität dieses durch die Geometrische Optik kontextual maskierten physikalischen Phänomens erneut zu untersuchen. Die Wissenschaft der Geometrischen Optik scheint allein die Bewegungsstruktur des Lichtes und ihre Gesetzmäßigkeit, dargestellt in den Naturphänomenen der Reflektion und Refraktion bis zur visuellen Raumwahrnehmung, geometrisch-mathematisch zu erklären bzw. zu demonstrieren, ohne dabei das Wesen des Lichtes in Betracht zu ziehen. Die rein dynamische Struktur eines Lichtstrahls, dargestellt in einer geometrischen Gerade, ist im Rahmen der klassischen Geometrischen Optik eine kontextuale Maskierung, also eine kontextuale Maske, die zwar das Wesen des Lichtes verschleiert, aber seine Wirkungsart als ein dynamisches Phänomen und ihre Gesetze zur Schau stellt. Daraus lässt sich folgern, dass, wenn die geometrisch-mathematische Reduktion in den klassisch-frühneuzeitlichen Wissenschaften der Mechanik und der Geometrischen Optik eine kontextuale Verschleierung der Naturphänomene war, diese historische Kontextualisierung durchaus legitime phänomenale Masken bildete. Diese Legitimität der wissenschaftlichen Kontextualität basierte nicht nur auf der Finalität einer ätiologisch-epistemologischen Grundstruktur, die den geometrisch-mathematischen Grundformen eigen ist, sondern auch auf der Finalität einer objektiv-ontologischen Phänomenalität, 71 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Kontextualisierung der Wissenschaften
die der oben erörterten ursprünglichen Korrelation zwischen den Raumwissenschaften implizit ist. Newtonsche Gesetze der Mechanik beziehen sich auf leblose Körper und auf rein mechanische Kräfte. Aber die Lebewesen auf der Erde – Vögel, Fische, Tiere und Menschen – sind streng genommen den newtonsch-mechanischen Gesetzen nicht gänzlich unterworfen. Denn der lebendige Leib lässt sich auf tote Körper kaum reduzieren; in ihm sind zahllose Lebenskräfte wirksam, die die freien und autonomen Willensakte zustande bringen, und die im Rahmen der Klassischen Mechanik nicht endgültig erklärt werden können. Aber wenn diese Lebewesen – ein Vogel, ein Tier oder ein Mensch –, die auf dem Erdboden oder in der Luft eine mechanische Autonomie haben (durch die ein Lebewesen seine Eigenbewegungen bestimmt), und sich als solche von einem leblosen Körper – wie einem Stein – unterscheiden, im leeren Raum ins All geworfen werden, wird ihnen ihre mechanische Autonomie (der Bewegung) entzogen und den annähernden Status eines leblosen Körpers, und zwar im Kontext der Klassischen Mechanik, lediglich verliehen. Im All kann der Mensch seine Füße und der Vogel seine Flügel aus Eigenkraft zwar bewegen, aber ihre Körper können durch diese Willensakte nicht in eine gesamtkörperliche Fortbewegung versetzt werden, denn es fehlt ein solider Boden (wie auf der Erde) und die Luft, ohne deren Resistenz die gesamtkörperliche Bewegung nicht gelingen kann. Der Leib des Menschen und des Vogels im All ist demnach wie jeder leblose Himmelskörper den kosmischen Kräften bzw. solaren und planetarischen Gravitationen unterworfen. Im Leib des Menschen und des Vogels oder Tieres ereignen sich unzählige materielle Prozesse und folglich wirken Kräfte in verschiedenen wissenschaftlichen Kontexten – im Kontext der Neurobiologie, des Elektromagnetismus, der organischen und anorganischen Chemie und schließlich der Physik und Mechanik. Aber in der Existenz des Leibes im All werden all diese verschiedenen wissenschaftlichen Kontexte auf eine einheitliche Entität der Klassischen Mechanik, nämlich auf den leblosen Körper, reduziert bzw. durch ein übergeordnetes Erkenntnissystem wie die Klassische Mechanik kontextual verschleiert. Dass alle Körper im All – unabhängig von ihrer Existenz als beseelte Lebewesen oder leblose Körper – der Gesetzmäßigkeit einer Klassischen Himmelsmechanik unterworfen sind, bewahrheitet diese kontextuale Maske ihrer Phänomenalität, die alle anderen wissenschaftlichen Kontexte, die in ihrer materiellen Innenstruktur festzustellen sind, verschleiert. 72 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Das Wissens- und Glaubenssystem in der Wissenschaft
Die Mathematisierung der Mechanik war im newtonschen System allem Anschein nach eine kontextuale Letztbegründung der physikalischen Phänomene – unabhängig von der Unmöglichkeit einer rein physikalisch-kausalen Letztbegründung mancher Grundphänomene wie der Gravitation. In Principia sollte die methodische mathematische Axiomatisierung der mechanischen Phänomene gegenüber allen tradierten Fakten des Glaubens in der Naturphilosophie – von der spätscholastischen Tradition aber auch von Descartes, dargestellt in seiner Vortex-Theorie – ein System des Wissens historisch etablieren. Dieses strategische Vorhaben von Newton schien aber stillschweigend ein subtiles Glaubenssystem, das auf einem tradierten und in der Frühneuzeit vorherrschenden Glauben an den Vorrang der Geometrie vor anderen Raumwissenschaften – und nicht auf der oben erörterten objektiven Korrelation zwischen der Geometrie und anderen Raumwissenschaften – basierte, erneut herbeizuführen. Bevor wir dieses Glaubenssystem, das in der newtonschen Mechanik durch die programmatische Axiomatisierung der mechanischen Phänomene in geometrisch-mathematischen Prinzipien entstanden ist, weiter erörtern, versuchen wir den historischen Übergang in ein Wissenssystem in der Neuzeit anhand einiger philosophischer Betrachtungen und Methoden – von Descartes und Kant – abzulesen. Die Methode des Zweifelns, die bei Descartes überhaupt zur Propädeutik zu seiner Philosophie der ersten Prinzipien, dargestellt vor allem in seinem Hauptwerk Meditationen, anerkannt und von Anfang an angewandt wurde, richtete sich offensichtlich auf die Etablierung eines Wissenssystems, das alle tradierten Fakten des Glaubens in der Wissenschaft und der Philosophie überwinden sollte. Für Descartes war das methodische Zweifeln in erster Linie ein epistemologisches Instrumentarium, anhand dessen wir die unbezweifelbaren ersten Prinzipien in Philosophie und Wissenschaft entdecken und sie als axiomatische Erkenntnisse einem Wissenssystem unterordnen könnten: Bereits vor einigen Jahren habe ich bemerkt, wie viel Falsches ich von Jugend an als wahr habe gelten lassen und wie zweifelhaft alles ist, was ich später darauf aufgebaut habe, so daß einmal im Leben alles von Grund auf umgeworfen und von den ersten Fundamenten her erneut begonnen werden müsse, wenn ich irgendwann einmal das Verlangen haben würde, etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften zu errichten. […] Dafür wird es indessen nicht notwendig sein, zu zeigen, daß meine Meinungen allesamt falsch sind, denn das könnte ich wohl auch niemals erreichen; sondern weil schon allein die Vernunft dazu rät, daß dem nicht völlig Sicheren und Un-
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Die Kontextualisierung der Wissenschaften
zweifelhaften die Zustimmung nicht weniger gründlich entzogen werden muß als dem offenbar Falschen, wird es schon ausreichen, alles zurückzuweisen, worin ich auch nur irgendein Grund zum Zweifeln antreffe. Deshalb wird es auch gar nicht nötig sein, alles einzeln durchzugehen, was eine unendliche Arbeit wäre, sondern ich will unverzüglich auf die Prinzipien selbst losgehen, auf die sich alles stützte, das ich einst geglaubt habe; denn wenn die Fundamente untergraben sind, fällt alles, was auf ihnen errichtet ist, von selbst zusammen.« 13
In diesen einführenden Betrachtungen in Meditationen skizziert Descartes sein philosophisches Vorhaben, ein tradiertes Glaubenssystem – also ein System, das nicht unbedingt auf episteme, sondern auf allen doxastischen Ansätzen (Meinungen, Glauben usw.) aufbaut – durch eine Methode des Zweifelns erneut zu untersuchen und diesem Glaubenssystem gegenüber ein System des Wissens, das sich als stabil und nachhaltig erweist, zu etablieren. Seine Strategie ist eine Rückkehr zu den axiomatischen Grundlagen des Wissens und die kritische Prüfung der ersten Prinzipien, um von ihnen alle residualen Fakten des Glaubens zu entfernen und sie dadurch zu vollkommen gewissen und unbezweifelbaren Erkenntnissen umzuwandeln. Hier konzipiert Descartes seine Strategie der epistemologischen Letztbegründung, die in seinem System die epistemologische Axiomatisierung der grundlegenden bzw. der ersten Prinzipien der Philosophie und Wissenschaften ausmachen sollte. Wichtig ist hier anzumerken, dass Descartes die tradierten Meinungen nicht bloß ablehnt, um ein ganz neues Wissenssystem zu errichten, sondern er wollte durch methodisches Zweifeln das Doxastische an Meinungen ausräumen und folglich ihre rein epistemischen Fundamente wieder entdecken. Die Methode des Zweifelns, wie sie in Meditationen dargestellt wurde, ähnelt im kartesischen System mehr oder weniger einer Zensur. Die strategische Rückkehr Descartes zu den ersten Prinzipien und ihre Letztbegründung – als axiomatische Grundsätze – bilden den vorher erörterten Prozess hin zu epistemologischen Finalitäten. Aus diesem Prinzip ergeben sich in den kartesischen Meditationen zwei absolut finale theoretische Erkenntnisse, die nicht nur für Descartes eigene Philosophie, sondern auch für die von ihm auf den Weg gebrachte philosophische und wissenschaftliche Epistemologie der Neuzeit maßgebend waren. Sie sind erstens die absolute Differenzierung zwischen Geist – als res cogitans – vom Körper – als res extensa 13
Descartes, René: Meditationen, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2009, S. 19–20.
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Das Wissens- und Glaubenssystem in der Wissenschaft
– und zweitens eine ebenso absolut gewisse Erkenntnis: ego cogito, ergo sum. Auf diesen Erkenntnissen, die unzweifelhaft sind, wurden die allerersten Prinzipien des kartesischen Philosophie- und Wissenschaftssystems errichtet. Der Maßstab des axiomatisch-epistemischen Status dieser Erkenntnisse ist im Rahmen der kartesischen Philosophie zwar die absolut subjektive Gewissheit, aber dieser Maßstab basiert weiterhin auf einer irreduziblen Objektivität bzw. auf objektiven ontologisch-finalen Entitäten. Sowohl den Geist als auch den Körper bezeichnet Descartes als verschiedene substanzielle Modi (als res), die von dem subjektiven Prozess des methodischen Zweifelns übrigbleiben. Ebenso bezieht sich die Erkenntnis »Ich denke, daher bin ich« letztendlich auf die absolut gewisse Selbsterkenntnis des Menschen als ein bloß denkendes Ich. Die Bestimmung einer letztmöglichen Seinsweise in diesen Erkenntnissen verweist deutlich auf eine ontologische Finalität, in der das epistemologische Verfahren des methodischen Zweifelns endet bzw. sich vervollständigt. Wenn wir die kartesische Methode des Zweifelns, die diese absolut finalen und irreduziblen Erkenntnisse hervorbringt, in Meditationen näher untersuchen, wird deutlich, dass es hier weniger um eine subjektiv-epistemologische Möglichkeit geht, aus der sich diese Grundannahmen ergeben, sondern vielmehr um eine subjektive Unmöglichkeit, dass diese elementaren Erkenntnisse epistemologisch weiter nicht reduziert werden können. D. h. die Grenze der Erkennbarkeit des Geistes und des Körpers wird nicht durch das erkennende Subjekt, sondern eher durch die ontologische Finalität des erkannten Gegenstands – als res cogitans und res extensa – bedingt, obwohl hier in der Domäne des Subjekts das Erkennende mit dem Erkannten zusammenfällt. In der Erkenntnis »Ich denke, daher bin ich« bildet der Teil »daher bin ich« streng genommen ein objektives Faktum der Existenz, dessen subjektiv-kausale Evidenz oder Begründung durch das irreduzible subjektive Faktum des Denkens sichergestellt wird. Sowohl das rein subjektive »Ich«, das denkt, als auch dessen Existenz sind primär ontologisch-finale Bestimmungen, auf denen diese Erkenntnis aufbaut. Bei der Differenzierung zwischen res cogitans und res extensa bezweifelt Descartes neben der Existenzweise des lebendigen Leibes auch die des leblosen Körpers. In dem berühmten Wachs-Gleichnis 14 Vgl. Descartes, René: Die Prinzipien der Philosophie, übersetzt und erläutert von Artur Buchenau, Hamburg 1965, S. 24–25.
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werden alle subjektiven Attribute der gegenständlichen Qualia (die man gewöhnlich für die existenziellen Wesenszüge des Gegenstands hält) in Zweifel gezogen und folglich von dem Objekt entfernt, damit am Ende eine nicht zu bezweifelnde und demnach nicht zu negierende rein räumliche Existenzweise des Gegenstands als das alleinige residuale Faktum im Objekt erkannt wird. Die Anerkennung der res extensa als ein vom Objekt übrig gebliebenes und als solches vom Subjekt völlig autonomes Faktum markierte allerdings einen historischen Anfang einer programmatischen Apriorisierung des Raumes in der neuzeitlichen Philosophie, was sich trotz aller Auseinandersetzungen zwischen den Denkschulen des Empirismus und des Rationalismus durchsetzte und sich in der Transzendentalen Philosophie Kants zur Blüte entfaltete. Kant verwendet in der Transzendentalen Ästhetik seiner Kritik der reinen Vernunft mehr oder weniger dasselbe kartesische Verfahren der methodischen Negation, indem von einem Gegenstand alle subjektiven Empfindungen und Attribute (die zum großen Teil die gegenständlichen Qualitäten ausmachen) weggedacht werden. Das residuale bzw. nicht wegzudenkende Faktum ist wiederum die räumliche Ausdehnung des Gegenstands, die aber von Kant – im Gegensatz zu Descartes – nicht dem Gegenstand, sondern einem transzendentalen Subjekt zugeschrieben wird. Auch die räumliche Ausdehnung des in der Anschauung gegebenen Gegenstands ist nach Kant primär eine subjektive Vorstellung a priori. 15 D. h. das residuale irreduzible Faktum der gegenständlichen Ausdehnung in dem kantischen System wird nicht dem vom Subjekt abgetrennten Gegenstand, sondern in erster Linie der Möglichkeit der transzendentalsubjektiven Erkenntnisart zugeordnet. 16 Das »Wissen« scheint in der kantischen Transzendentalphilosophie die Grenzen der subjektiven Bedingungen des Erkennens kaum zu überschreiten. Aber das Wissen des Gegenstands soll im Vergleich zum subjektiven Glauben oder Meinen epistemologisch dem vom Subjekt abgetrennten Gegenstand näher kommen und vielmehr von ihm selbst bedingt werden. Bereits am Anfang der Kritik der reinen Vernunft – in der propädeutischen Transzendentalen Ästhetik – wird diese notwendige Beteiligung des Gegenstands am Erkennen allein auf eine Gegebenheit des Gegenstands in der Anschauung reduziert. 17; 15 16 17
Kant, a. a. O., S. 64. Vgl. NSK, S. 64 ff. Siehe Anmerkung 6 in der Einleitung.
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Das Wissens- und Glaubenssystem in der Wissenschaft
diese strategische Reduktion, die im kantischen System eine gewisse Marginalisierung der Gegenstände zu veranlassen scheint, war offensichtlich zugunsten eines transzendentalen Subjekts, das apriorisch erkennt bzw. seine Urteile im Modus apriorisch-begrifflicher Erkenntnisse mit den in der Anschauung gegebenen Gegenständen synthetisiert. Die Einheit der Apperzeption, die in der kantischen Philosophie die synthetischen Urteile a priori und ihre apodiktische Gewissheit gewährleistet, ist letztendlich eine transzendentale Einheit, also eine aus dem Subjekt hervorgehende Bestimmung, die wenig vom Objekt bedingt zu werden scheint. Zwar differenziert Kant das Wissen vom Meinen und Glauben anhand des Maßstabs des Objekts – bzw. gemäß dem Grad der Übereinstimmung zwischen Subjekt und Objekt. Aber dieser Maßstab wird wiederum im strengen Rahmen der Transzendentalphilosophie gedacht und folglich einem subjektiv-transzendentalen »Fürwahrhalten« unterworfen: »Das Fürwahrhalten ist eine Begebenheit in unserem Verstande, die auf objektiven Gründen beruhen mag, aber auch subjektive Ursachen im Gemüte dessen, der da urteilt, erfordert. Wenn es für jedermann gültig ist, sofern er nur Vernunft hat, so ist der Grund desselben objektiv hinreichend, und das Fürwahrhalten heißt alsdann Überzeugung. Hat es nur in der besonderen Beschaffenheit des Subjekts seinen Grund, so wird es Überredung genannt. […] Das Fürwahrhalten, oder die subjektive Gültigkeit des Urteils, in Beziehung auf die Überzeugung (welche zugleich objektiv gilt), hat folgende drei Stufen: Meinen, Glauben und Wissen. Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv, als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es Glauben. Endlich heißt das sowohl subjektiv als auch objektiv zureichende Fürwahrhalten das Wissen. Die subjektive Zulänglichkeit heißt Überzeugung (für mich selbst), die objektive, Gewißheit (für jedermann).« 18
Der Maßstab des Wissens und seiner Differenzierung vom Meinen und Glauben bestimmt Kant zu Recht als das äußerliche bzw. von Außen gegebene Objekt. Das Fürwahrhalten wird zum wahren Wissen, wenn es mit dem Objekt übereinstimmt. Allerdings wird diese Übereinstimmung im kantischen System eher von einer transzendental-subjektiven Vernunft und weniger von einer vom Objekt veranlassten aposteriorischen Erfahrung her vorgestellt. Denn es ist
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Kant, a. a. O., S. 739–741.
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Die Kontextualisierung der Wissenschaften
nach Kant ein transzendentales Subjekt, das anhand dieses Maßstabs die apodiktische Gewissheit, Allgemeinheit und Notwendigkeit des Wissens prüft, und das diese Wesenszüge nicht allein an der Erfahrung erkennt. Der von Kant programmatisch eingeführte Kontext des Transzendentalismus ist hier vorherrschend. Daher gibt Kant als Beispiele für die Objekte, über die das transzendentale Subjekt nicht nur Annahmen, sondern unbedingt Wissen generieren soll, vorzugsweise aus der Mathematik, deren Formen und Gesetze grundsätzlich als synthetische Urteile a priori erkannt werden. Hierauf scheint Kant die bloße Gegebenheit des Gegenstands als den Maßstab des Wissens schwerlich anzuerkennen; dem Objekt soll notwendigerweise das Faktum der subjektiven Synthese zugrunde liegen. Das alleinige Angewiesensein auf Erfahrungsgründe kann nach Kant kein Wissen hervorbringen; diese Erfahrungsgründe müssen vielmehr von einer transzendentalen Vernunft geprüft werden, damit das empirische Wissen Allgemeinheit und Notwendigkeit und vor allem apodiktische Gewissheit erlangt. Mit dieser Skepsis gegenüber den Erfahrungsgründen und der ihnen zugrunde liegenden Sinnlichkeit und seiner Verteidigung und Legitimierung der Vernunft kommt Kant dem platonischen System der Epistemologie sehr nahe, in dem die Episteme aufgrund ihrer Basis auf unveränderlichen Ideen vom Doxa – dem Glauben oder der allgemeinen Meinung –, das sich eher auf ständig wechselnde Sinnlichkeit bezieht, differenziert wird. Das »Fürwahrhalten« ist deutlich eine apriorisch-subjektive Initiation, deren Übereinstimmung mit dem Objekt wiederum vom transzendentalen Subjekt bestimmt wird. Diese Initiation ist streng genommen keine Perzeption, die vielmehr vom Objekt veranlasst und auf das Subjekt aufoktroyiert zu werden scheint. Kant bevorzugt offensichtlich ein Wahrhalten gegenüber einem Wahrnehmen, denn das Wahrnehmen basiert auf den sinnlichen Empfindungen, die eher vom Objekt im Subjekt erzeugt werden. Wie ist es möglich, innerhalb des Wissenssystems eine derartige Erweiterung zuzulassen bzw. die anscheinend zureichende Basis des Wahrhaltens erneut von einem Wahrnehmen zu differenzieren? Im historischen Kontext der frühneuzeitlichen Mechanik im 17. Jahrhundert, in dem die newtonsche mathematisch-demonstrative Methode die Methode der empirischen Beobachtung und Experimente und ihrer induktiven Inferenzen übertraf, scheint eine derartige Differenzierung der Wissensbasis legitim zu sein. Während das Wahrhalten sich eher auf die mathematischdemonstrative Methode bezieht, scheint das Wahrnehmen einen ent78 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Das Wissens- und Glaubenssystem in der Wissenschaft
deckerischen Zug anzunehmen, indem es vom Objekt der Beobachtung und des Experiments im Subjekt erzeugt wird. 19 Den entdeckerischen Status Newtons bei einigen axiomatischen Gesetzen in seinem Principia, nämlich der Elliptizität der Planetenbahnen, dem Flächensatz der Planetenbewegung, der Vorstellung von Universalgravitation und ihrem Inverse-Square Law, bleibt bis heute in der neuzeitlichen Geschichte der Astronomie umstritten. Denn diese Gesetze wurden ursprünglich von anderen – vor allem von Kepler, Galileo, Huygens und Hooke – entdeckt oder vorgeschlagen. Newtons Anspruch auf die Originalität seiner Gesetze basiert bekanntlich auf der Authentizität seiner geometrisch-mathematischen Methode, durch die allein – so glaubte Newton – die wagen Vorstellungen, rein empirische Beobachtungen, intuitive Vermutungen usw. zum Status des axiomatischen Wissens erhoben werden können. Die mathematische Axiomatisierung der empirischen und rein intuitiven Vorstellungen war für Newton das alleinige Instrumentarium, wodurch das Subjekt das axiomatische Wissen apriorisch erzeugt bzw. den bloß gegebenen empirischen und intuitiven Vorstellungen Allgemeinheit, Notwendigkeit und vor allem apodiktische Gewissheit verleiht. Die mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie sollten demnach ein stabiles und letztbegründetes Wissenssystem in Astronomie errichten, dessen Fundamente, nämlich die geometrischmathematisch demonstrierten mechanischen Grundphänomene, sich demnach als finale und irreduzible axiomatische Erkenntnisse erweisen und als solche historisch etabliert werden. In Principia wird die axiomatische Finalität mechanischer Gesetze durch die Methode der Mathematisierung erlangt und sichergestellt, denn an sich bildet die Mathematik die sichersten bzw. die allgemeinsten, notwendigsten und apodiktisch gewissesten Züge der axiomatischen Erkenntnisse. Kurzum: Newton versuchte ein mathematisch fundiertes Wissenssystem in Principia gegenüber den tradierten und gegenwärtigen, unbegründeten Vorstellungen der mechanischen Phänomene zu etablieren, indem er die keplerschen und hookeschen Vorstellungen (von der Elliptizität der Planetenbahnen, dem Flächensatz der Planetenbewe-
Wir erörtern diese Differenzierung eingehend im dritten Kapitel, in dem wir versuchen, den von Newton behaupteten Vorrang der mathematisch-demonstrativen vor der empirisch-beobachteten sowie experimentellen Methode (dargestellt vor allem am Beispiel der von Hooke unternommenen mechanischen Experimente) erneut zu prüfen.
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gung sowie dem Inverse-Square Law) als reine Vermutungen betrachtete und herabsetzte. 20 Die programmatische Mathematisierung bzw. geometrisch-mathematische Beweisführung der keplerschen Gesetze und der hookeschen Vorstellungen bildete in Principia, wie zuvor dargelegt wurde, eine streng geometrisch-mathematische Kontextualität für die Wissenschaft der Mechanik, die der seitherigen Geschichte der mathematischen Astronomie als Basis diente. Diese historische Kontextualisierung mit ihren scheinbar zutiefst sicheren Grundlagen ist trotzdem eine Maske, die einerseits die in ihr versteckte Phänomenalität schützt und andererseits einige mechanischphänomenale Prämissen notwendigerweise zu verschleiern bzw. zu marginalisieren und gegebenenfalls völlig zu ignorieren scheint. Ein treffendes Beispiel wäre die keplersche, wissenschaftlich unbegründete Annahme der mysteriösen Eigenkraft der Planeten, die den Planeten auf seiner elliptischen Bahn erhalten und dafür die beobachtete Annäherung und Entfernung der Planeten gegenüber der (sich in einer der elliptischen Fokusse befindenden) Sonne sowie seine periodische Variation der Geschwindigkeit (zwischen Perihel und Aphel) herbeiführen sollte. In seiner astronomischen Untersuchung kämpfte Kepler mit seiner eigenen Annahme, die er vergeblich wissenschaftlich zu begründen suchte. 21 Schließlich postulierte Kepler eine Wechselwirkung von gegenseitiger gravitationeller Anziehung und Abstoßung zwischen der Sonne und den Planeten (aufgrund der Bipolarität der Planeten und der Monopolarität der Sonnenperipherie), die letztendlich die Elliptizität der Planetenbahn und die periodische Variation der Planetengeschwindigkeit bewirkt. 22 Die keplersche Annahme einer magnetischen Repulsion als Grundlage der Elliptizität der Planetenbahn fand bei Newton keine Anerkennung, denn eine derartige Repulsion würde der von Newton bestimmten und geometrisch-mathematisch etablierten Natur und Struktur der Universalgravitation – als bloße Anziehungskraft – so»… as Kepler knew ye Orb to be not circular but oval & guest it to be Elliptical, so Mr Hook without knowing what I have found out since his letters to me, can know no more but that ye proportion was duplicate quam proxime at great distances from ye centre, & only guest it to be so accurately & guest amiss in extending yt proportion down to ye very centre, whereas Kepler guest right at ye Ellipsis« (Newton; in a letter to Edmond Halley of 20 June 1686). 21 Vgl. NSK, S. 190 ff. 22 Vgl. dazu Westfall, Richard S.: The Construction of Modern Science, Cambridge 1977, S. 10–11. 20
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Das Wissens- und Glaubenssystem in der Wissenschaft
wie ihrem Inverse-Square Law grundsätzlich widersprechen. Bei Newton schien die Überzeugung von der geometrisch-mathematischen Präformiertheit der himmelsmechanischen Phänomene – nämlich der Gravitationskraft, die sich durch einen zentripetal-radialen Vektor darstellen lässt, sowie der Elliptizität der Planetenbahnen – die Flexibilität der dynamisch-strukturellen Intuition der himmelsmechanischen Phänomene zu überwiegen. Als Halley im Jahr 1684 Newton in Cambridge besuchte und nach der Form der Planetenbahn fragte, die durch eine Zusammenwirkung von zentripetaler Gravitation, die gemäß einem Inverse-Square Law variiert, und einer inertial-tangentialen Fortbewegungstendenz des Planeten entsteht, antwortete Newton, dass sie eine Ellipse sei. Aber in seiner geometrischmathematischen Beweisführung, die Newton erst nach ein paar Monaten an Halley schickte, ging er stillschweigend von der Annahme einer prästabilierten Elliptizität der Planetenbahn aus und bewältigte letztendlich das Invers-Problem, und zwar die Ableitung des InverseSquare Law aus der gegebenen Form der Ellipse der Planetenbahn. 23 Wenn nur zwei rein mechanische Phänomene, wie die von Halley vorgestellte zentripetale Gravitation und Trägheitsbewegungstendenz der Planeten, vorliegen, können sie in erster Linie schwerlich in einer geometrisch-mathematischen Demonstration (die die Prämisse nur unzureichend darstellt), sondern erst in einem rein mechanisch-intuitiven Verfahren bearbeitet werden. Dies war anscheinend der Fall bei Johann Bernoulli, der die richtige Lösung dieses Problems ohne geometrisch-mathematische Demonstration zu entdecken vermochte. 24 Auch bei seiner Beweisführung des keplerschen Flächensatzes ging Newton von einem eher geometrischen Modell aus, nämlich dem Flächensatz des Dreiecks ohne die Einführung einer zentripetalen Gravitationskraft, 25 um den Flächensatz der planetarischen Bewegung allerdings nicht in einer Spezifität, wie es von Kepler
Vgl. Gandt, François de: Force and Geometry in Newton’s Principia, Princeton University Press, New Jersey 1995, S. 7–8. Vgl. auch Lohne, Johannes: Hooke versus Newton, veröffentlicht in Centaurus (vol. 7), Kopenhagen 1960, S. 35–36. 24 Zu Johann Bernoullis Beweisführung des Inversen Zentralkraftproblems, vgl. Ohly, Sibylle: Johann Bernoullis Mechanische Arbeiten 1690 bis 1713, Augsburg 2004, S. 400 ff. Vgl. auch Brackenridge, Bruce J.: The Key to Newton’s Dynamics, University of California Press, Berkeley 1995, S. 69 ff. Dieses Problem wird im dritten Kapitel eingehend erörtert. 25 Vgl. dazu NSK, S. 81 ff. 23
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Die Kontextualisierung der Wissenschaften
vorgestellt wurde, sondern in seiner Allgemeinheit – als gültig für alle kurvige Bahnen – zu beweisen. 26 Bei Kepler ist ein anderer Werdegang festzustellen. Als überzeugter Anhänger der Kopernikanischen Astronomie glaubte Kepler fest an die geometrisch-mathematische Präformiertheit des Kosmos und seine mechanische Harmonie, dargestellt vor allem in den gleichförmigen Kreisbewegungen der Planeten. Von dieser Überzeugung ausgehend, wagte Kepler die Spekulation, dass die perfekten Sphären der sechs Planeten durch die vollkommenen, platonischen Soliden Hexaeder, Tetraeder, Dodekaeder, Ikosaeder und Oktaeder bestimmt seien. 27 Aber als Kepler aus den von Tycho Brache überlieferten empirischen Daten der Marsbewegung die Elliptizität der Marsbahn, die Exzentrizität bzw. Positionierung der Sonne auf einer der beiden Fokusse der elliptischen Bahn sowie die periodische Variation der Planetengeschwindigkeit zur Kenntnis nahm, neigte er dazu, die dynamische Phänomenalität des Kosmos nicht mehr auf prästabilierte geometrisch-mathematische Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit zurückzuführen; stattdessen begann Kepler allem Anschein nach die Planetenbewegung auf elliptischen Bahnen rein intuitiv zu bearbeiten, indem er allein von den oben erwähnten rein mechanischen Prämissen ausging. Dieser Übergang geschah aber kaum spontan; Kepler sollte lange für seine inzwischen als falsch erwiesene Überzeugung von der geometrisch-mathematischen Harmonie der tradierten Ko-
Vgl. dazu Cohen, Bernard: Kepler’s century: Prelude to Newton’s, aus: Kepler. Four Hundred Years, hrsg. von Arthus Beer, Oxford 1975, S. 15–16. »Once I had grasped this sequence in Kepler’s development of the first two laws of planetary motion, I recognized the existence of a Keplerian logic in Newton’s Principia. For Newton too begins with the law of areas in general, and only then proceeds to the shape of the orbit. The beginning propositions of Book I are devoted to the area law without reference to any particular shape of orbit. First Newton shows that whenever a body moves freely without any external force acting (so that its motion is purely inertial or uniformly rectilinear), a radius vector drawn from the body to any point on the line of the motion will sweep equal areas in equal times. Next he shows that if there is a force acting on a body with an initial component of inertial motion, then the law of areas is a necessary and sufficient condition that this force is directed towards a center, towards the point with regard to which the equal areas are reckoned. Thus was revealed for the first time the physical or causal significance of area law in relation to the law of linear inertia and the concept of a centripetal force.« Vgl. dazu auch NSK, S. 81–85. 27 Ebd., S. 28. 26
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pernikanischen Himmelsmechanik kämpfen, bevor er sich ein für alle Mal für ein vollkommen neues Modell einer Himmelsphysik entschied: »Like Copernicus before him, Kepler had drunk deeply at the spring of Renaissance neoplatonism, and imbibed its principle that the universe is constructed according to geometric principles. Coming two generations later, Kepler had the perspective to see where Copernicus’ system failed to achieve the ideal of geometrical simplicity which both of them shared. Kepler’s work would be the perfection of Copernican astronomy according to neoplatonic principles. […] Ever since the flowering of Greek science, astronomy had attempted to account for celestial phenomena by combinations of uniform circular motions. The circle being the perfect figure, it alone was suitable to describe the heavens. Kepler too began his consideration of Mars with a circle, but from the beginning his treatment differed from earlier ones. […] Kepler first attempted to fit Mars to just such a circular orbit. Even in utilizing the circle, however, Kepler began to reject it, by denying uniform circular motion and accepting, as the evidence demanded, the proposition that Mars moves in its orbit with a varying velocity. […] Nothing in Kepler’s celestial mechanics operated to pull a planet aside from a tangential path and retain it in an orbit around the sun. The continuing hold of the circle over the thought even of the man who broke its grip on astronomy is attested by the fact that Kepler never doubted that planets would move round the sun in closed orbits if they moved at all. […] All of the complexity of eccentrics and epicycles had been swallowed up in the simplicity of the ellipse. The bait concealed a hook, of course. The cost of accepting the ellipse’s simplicity was the abandonment of the circle, with all its ancient connotations of perfection, immutability, and order. Only by degrees and then only imperfectly had Kepler freed himself from the circle’s power over his imagination, and he never forgot what its attractions were. The chief value of the second law, in his eyes, was the new uniformity it offered to replace that of circular motion. To a friend who protested against the ellipse, he described the circle as a voluptuous whore enticing astronomers away from the honest maiden nature. His master, Copernicus, had preferred the jade. If it is true to say that Kepler perfected Copernican astronomy, it is equally true to say that he destroyed it.« 28
Folglich wich Kepler maßgeblich ab von einer tradierten geometrischmathematischen hin zu einer rein physikalischen Astronomie, die die rein spekulative geometrisch-mathematische Präformiertheit und Gesetzmäßigkeit des Kosmos durch eine allein auf Kraftsprinzipien
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Westfall, a. a. O., S. 4, 6, 9, 11–12.
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basierende Himmelsdynamik zu ersetzen begann. Trotz dieser völligen Umstrukturierung der Himmelsmechanik vermochte Kepler ein darin aufgetauchtes residuales Problem, nämlich das mysteriöse Phänomen der planetarischen Annäherung und Entfernung gegenüber der Position der Sonne sowie die periodische Variation der planetarischen Geschwindigkeit, kaum zu bewältigen. Die wiederholten Lösungsversuche führten Kepler endgültig zu der Überzeugung von der wechselhaften Wirkung von gravitationeller Anziehung und Abstoßung zwischen dem bipolaren Planeten und der vermutlich monopolaren Sonne, die die periodische Variation der Entfernung des Planeten von der Sonne sowie die der Planetengeschwindigkeit zwischen Perihel und Aphel zureichend erklären sollte: »… the body of the Sun is circularly magnetic and it rotates in its place, and thereby causes the sphere of its force to rotate with it; this sphere of force does not attract, but has the power of promoting motion. On the other hand, the bodies of the planets [are not in themselves endowed with motivity, but] are inclined to remain at rest in whatever part of the Universe they are placed. Consequently, in order that they should be moved by the Sun a constraining force is needed, whence it follows that those which are more remote from the Sun are pushed more slowly, and those which are nearer are pushed more rapidly, that is to say, the eccentric moves uniformly with respect to the equant point. On the other hand, every planetary body must be regarded as being magnetic, or quasi-magnetic; in fact, I suggest a similarity, and do not declare an identity. It must be assumed also that the line [axis] of this force [quasi-magnetic for the planets] is a straight line having two poles, one retreating from the Sun, the other pursuing it. This axis, through an animal force, is [constantly] directed approximately towards the same parts of the Universe. As a result, the planet, carried along by the Sun, turns towards the Sun, first its retreating [repelling] pole, then its pursuing [attracting] pole. As a consequence we have the increase and decrease in libration. I cannot conceive any other means [of producing it]. For both in retreating from, and approaching, [the Sun, the planet] does so according to the measure of the angle which the line [drawn] from the Sun to the centre of the body [of the planet] makes with the axis [of the planet], and this ceteris paribus. This is what I have previously said in the geometrical hypothesis: it is attested by observation, that the planet performs librations, and particularly that during libration it moves slowly in the vicinity of the apsides of the epicycle, and more quickly in the mean positions; whereas in its raptus round the Sun, it moves slowest at aphelion, the quickest at perihelion. Furthermore, the superior semi-diameter of the libration is traversed in a longer time than the equal inferior semi-diameter; for the magnetic force of the planet itself acts also less strongly when the
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planet is remote from the Sun; this is exactly what happens in the case of magnets.« 29
Wir können das von Kepler intuitiv bekämpfte Problem der planetarischen Bewegung etwas vereinfachend als Frage formulieren: Wie kann sich der Planet – der der Gesetzmäßigkeit einer rein Mechanischen Philosophie unterworfen ist – bei seiner Bewegung auf einer elliptischen Bahn wiederholt der Sonne nähern und dabei in Richtung Perihel (dem sonnennächsten Punkt) beschleunigen, sich aber zugleich – am Perihel – vor einem gravitationellen Fall im Sonnenzentrum retten und folglich von der Sonne entfernen (um sich einen elliptischen Weg zu bahnen)? Wenn wir die stetige Beschleunigung des Planeten auf seinem Weg vom Aphel zum Perihel rein intuitiv visualisieren, können wir uns seinen weiteren Weg ab dem sonnennächsten Punkt (Perihel) nur in einer Spirale, die im Sonnenzentrum endet, vorstellen. Aber wenn wir die geometrisch-mathematische Gesetzmäßigkeit der planetarischen Bewegung bloß annehmen, etablieren wir stillschweigend eine prästabilierte geometrisch-mathematische Form, die diese rein mechanische Problematik nicht bewältigt, sondern nur verschleiert. Sowohl die newtonsche Demonstration des Flächensatzes als auch das von John Keil und Johann Bernoulli demonstrierte Direkt-Problem, nämlich die Ableitung der planetarischen Bahn aus den gegebenen Prämissen des Inverse-Square Law der Gravitation und der planetarischen Trägheitstendenz, konnte die Elliptizität der Planetenbahn in ihrer – von Kepler vorgestellten – Spezifität nicht begründen; der Flächensatz und das Inverse-Square Law der Gravitation beziehen sich auf alle geschlossenen und offenen kurvigen Bahnen der Planeten. Demnach versuchen wir den newtonschen Beweis des Flächensatzes in einer gegebenen elliptischen Form der Planetenbahn zu integrieren und dadurch das oben erörterte, von Kepler bekämpfte Problem in dieser prästabilierten geometrisch-mathematischen Struktur zu untersuchen:
Koyré, Alexander: The Astronomical Revolution. Copernicus – Kepler – Borelli, übersetzt von Dr. R. E. W. Maddison F. S. A., Paris 1973, S. 252–253.
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Figur 3
Figur 3 zeigt die Bewegung eines Planeten auf elliptischem Orbit, indem er sich zunächst der Sonne nähert und ab dem sonnennächsten Punkt (Perihel) von der Sonne entfernt. Diese Figur ist keine mathematisch-demonstrative Beweisführung des Flächensatzes, sondern nur eine Darstellung dieses Gesetzes. Falls die elliptische Form der Planetenbahn gegeben ist, sollte die – von Newton in seiner Demonstration des Flächensatzes vorgestellte – kontinuierliche gravitationelle Ablenkung des Planeten durch die Linien bC, cD, dE, eF usw., die die linear-inertiale Entfernung des Planeten sukzessiv mit der Peripherie der Ellipse verbinden, dargestellt werden. Da es leicht zu beweisen ist, dass durch eine kompositorische Wirkung der zentripetalen Gravitation, die gemäß dem Inverse-Square Law variiert, und der linear-tangentialen Trägheitsbewegungstendenz des Planeten eine elliptische Bahn – unter vielen anderen möglichen kurvigen Bahnen – entstehen kann, und die Bewegung dieses Planeten dem Flächensatz folgt, ist die Möglichkeit der Elliptizität der Planetenbahn mit periodischer Variation der Planetengeschwindigkeit im newtonschen System der mathematischen Astronomie nicht zu bezweifeln. Allerdings setzt dieses spezifische Ergebnis bestimmte ursprüngliche Be86 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
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dingungen voraus, 30 und zwar die anfängliche Entfernung und Geschwindigkeit des Planeten in seiner Trägheitsbewegung, die Masse des Planeten, die Stärke der solaren Gravitationskraft usw. Trotz der geometrisch-mathematischen Beweisbarkeit scheint in dieser und ähnlichen Darstellungen eine gewisse geometrische Präformiertheit der Planetenbahn angenommen zu werden. In dieser Darstellung sollte die höchste Ablenkung am Perihel durch die Länge der Linie dE dargestellt werden. Falls diese Linie länger oder kürzer wird, würden daraus geschlossene oder offene spirale Planetenbahnen entstehen. Aber wenn diese Darstellung des dynamischen Phänomens nicht geometrisch gezeichnet, sondern allein intuitiv visualisiert und in ihrer dynamischen Flexibilität bearbeitet wird, stoßen wir unvermeidlich auf ein bestimmtes Problem in der planetarischen Bewegung am Perihel. Aus diesem Grunde stellt sich die folgende Frage: Wie kann der Planet, der sich auf seinem Weg vom Aphel zum Perihel tendenziell stets beschleunigt und sich der Sonne nähert, sich gerade ab dem sonnennächsten Punkt von der Sonne entfernen und sich dabei zu verlangsamen beginnen? Denn am Perihel wird der Planet gemäß dem Inverse-Square Law der höchsten gravitationellen Anziehung unterworfen. Um diese zu überwinden und sich folglich vor einem gravitationellen Fall in die Sonne zu retten, braucht der Planet scheinbar eine zusätzliche Beschleunigung am Perihel. Wenn die Beschleunigung des Planeten allein aus der Zusammenwirkung von Vgl. Cohen, Bernard: Kepler’s century: Prelude to Newton’s, aus: Kepler. Four Hundred Years, hrsg. von Arthur Beer, Oxford 1975, S. 16, 32: »Thus was revealed for the first time the physical or causal significance of the area law in relation to the law of linear inertia and the concept of a centripetal force. It is only in the next section of Principia, in Prop. II, that Newton precedes to the actual shape of the orbit. He proves that if the orbit of a moving body is elliptical, the centripetal force directed towards a focus must vary inversely as the square of the distance. Succeeding propositions demonstrate that in a parabolic or a hyperbolic orbit, the same law of force will obtain. […] Newton proved, in other words, that a planet (considered as a point mass) moving about a center of force (which could be at rest or in motion) in any one of the conic sections, according to the law of areas, would be combining an inertial motion with the continued accelerative effects of a central force varying inversely as the square of the distance. The converse case, also explored by Newton, namely, the orbit produced by a central force (varying inversely as the square of the distance) acting continuously on a body with an initial component of inertial motion, did not yield a unique answer unless a further specification of the initial conditions was made; the orbit could be any one of the conic sections, ellipse or parabola or hyperbola, or even a circle or a straight line.«
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gravitationeller Anziehung und der inertialen Fortbewegungstendenz des Planeten entstehen kann (und nicht durch eine dem Planeten innewohnende animalische Kraft, die den Prinzipien der Mechanischen Philosophie widerspricht), wäre es nicht schlüssig, anzunehmen, dass dieselbe Sonnengravitation, die die stetige Annäherung des Planeten an die Sonne und die eine derartige Bewegung begleitende planetarische Beschleunigung bewirkt, dem Planeten gerade am Perihel erlaubt, sich vor ihr zu retten bzw. sich von der Sonne auf einer elliptischen Bahn zu entfernen und dabei zu verlangsamen. Die wiederholte Rettung des Planeten am Perihel scheint auch dem erweiterten Trägheitsgesetz Newtons im strengen Rahmen der Mechanischen Philosophie zu widersprechen. Denn gemäß diesem Gesetz wird eine ständig wirkende externe Kraft (hier die Gravitation) einen Himmelskörper stets in Richtung der Kraft ablenken. Eine Abweichung der Planetenbahn von dieser Tendenz würde bedeuten, dass irgendeine andere – externe oder interne – Kraft, die der solaren Gravitation entgegengesetzt ist, auf den Planeten wirkt. Kepler wurde auch durch eine andere strukturelle Intuition mit diesem Problem konfrontiert, indem er sich die Natur und Struktur der Sonnenkraft, die die Planeten in Bewegung bringt und erhält, anders vorstellte. In der keplerschen Vorstellung ähnelte die Sonnenkraft demnach mehr oder weniger einer mechanischen Spindel, die die zentrale Rotation der Sonne auf die Peripherie (in der sich die Planeten befinden) lediglich überträgt. Aber gemäß dieser Himmelsstruktur sollten sich die Planeten wiederum – wie in dem kopernikanischen System – gleichförmig auf kreisförmigen Bahnen bewegen. Die beobachtete Exzentrizität der Sonne, die sogenannte Libration des Mars bzw. die Abweichung des Mars von der kreisförmigen Bahn sowie die periodische Geschwindigkeitsvariation der Planeten veranlassten Kepler, sich intuitiv eine zusätzliche, dem Planeten innewohnende Eigenkraft (das motive force bzw. das vis insita) vorzustellen. Kepler versuchte vergeblich, eine derartige planetarische Eigenkraft rein mechanisch – im strengen Rahmen einer Mechanischen Philosophie – zu begründen und sie von einer animalischen Ursächlichkeit zu befreien, zu der er allerdings gelegentlich neigte: »The mechanism of planetary motion seemed therefore to be definitely established, but a fresh difficulty immediately arose. In fact, the planets being subjected to the raptus of the solar whirlwind – and to it alone – ought to describe concentric orbits about the central body, and their motion in these orbits ought to be perfectly uniform. The ›force‹ emanating from the Sun
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Das Wissens- und Glaubenssystem in der Wissenschaft
(or from the Earth), whether it be considered after the manner of light or of magnetic force, is a purely motive one; it produces forward movement; it does not attract, nor does it repel. Consequently, the planets in their motion, should have no reason to approach the Sun (which does not attract them, as the Earth does the Moon); nor should they have reason to move away from it – in Kepler’s universe the circular motion of celestial bodies does not develop centrifugal force; so they would revolve eternally at the same distance from their motive source, which acting in a uniform and constant manner – the supreme rule in celestial mechanics was that the revolution of the Sun, and hence its species, takes place in a uniform and constant manner – would confer on them likewise a uniform and constant motion. Now, we know that this is not the case. Therefore, in order to explain their true motions, it becomes necessary, in addition to having the common solar motive force, to endow each planet with its own individual motive force whose action accounts for the eccentricity of the orbits, and, at the same time, the exact non-uniformity of the motions round the Sun. However, we must not anticipate, but must follow the progression of Kepler’s thought: ›Apart from the common motive force, the planets are endowed with their own individual force; and the motion of each of them is compounded of two causes.‹ Up to now, the motive force of the Sun has been [regarded as] uniform, and only having varying degrees of strength according to the amplitude of the different circles. Consequently, the planet, if it remained at the same distance from the Sun, would revolve round it in a very uniform [manner], and would not experience any increase, or decrease from the motion of the Sun. If, however, a certain inequality be observed in the operation of this force, it results from the fact that the planet is moved from a given distance from the Sun to some other; consequently, it is exposed to the action of different degrees of strength of the force [emanating] from the Sun. We then ask ourselves, what is the reason that the planet moves nearer to, or away from, the Sun? seeing that the solid spheres have no existence, as was shown by Tycho Brahe. Is this result also produced by the Sun? I say that the Sun is in some measure responsible; but there are other causes too.« 31
Kepler versuchte die planetarische Eigenkraft, die sich rein mechanisch nicht begründen lässt, durch die Vorstellung einer externen Wirkung der wechselnden Anziehung und Abstoßung zwischen bipolaren Planeten und der monopolaren Sonne zu erklären. Das Faktum der magnetischen Anziehung und Abstoßung wurde dadurch zu einer notwendigen Annahme in der keplerschen Astronomie:
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Koyré, a. a. O., S. 215–216.
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Die Kontextualisierung der Wissenschaften
»The planet, like all magnets, would then have two poles; one of which would draw it towards the Sun, and the other would repel it. Nor would there be any need, as in the previous ›example‹, for the planet to rotate; it would suffice for its axis to maintain a constant direction, as is the case with the Earth’s axis. This maintenance of the direction of the planet’s magnetic axis could be ascribed just as well to a natural power of the magnet; we know that there are two forces in a magnet – one ›directing‹ (or repelling), the other ›attracting‹. It would suffice, therefore, to suppose that the ›directing‹ forces of the planets are much more powerful than their ›attracting‹ forces so that the latter are unable to modify the position of the axes to any appreciable extent. This task could be entrusted also to ›animal‹ forces. Under these conditions, the planet during its passage round the Sun would present first one pole, and then the other, to the Sun, and would approach, as well as move away from it. The objection that the Sun, being a simple body, ought to function in one way only, could be overcome by supposing it to be ›neutral‹ like a piece of unmagnetized iron, and by ascribing the difference in behavior to the dual nature of the poles of the planet.« 32
Figur 4
Ebd., S. 257–258. Vgl. dazu auch Westfall, Richard S.: The Construction of Modern Science, Cambridge 1977, S. 10–11.
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Das Wissens- und Glaubenssystem in der Wissenschaft
Figur 4 stellt die keplersche Lösung dar. 33 Wichtig ist hier anzumerken, dass Kepler sich auch in diesem rein mechanischen Erklärungsversuch schwerlich von den animalischen Kräften (die die konstante schräge Haltung der Erdachse verursacht) lösen konnte. Bei den keplerschen Untersuchungen der Himmelsmechanik schien der von der spätmittelalterlichen Scholastik und von der Naturphilosophie der Renaissance tradierte Animalismus als ein residuales Faktum übrig zu bleiben. Während alle sonstigen Annahmen in dieser Erklärung prinzipiell ein Wissenssystem zu errichten scheinen, gehört die Annahme von der dem Planeten innewohnenden animalischen Kraft offensichtlich zu einem Glaubenssystem. Die Mechanisierung der Himmelsphänomene in der keplerschen Astronomie wurde zwar stets von dem für die gesamte Frühneuzeit charakteristischen Grundmotiv – nämlich die tradierte philosophia naturalis gänzlich in ein Wissenssystem der Mechanischen Philosophie umzuwandeln – begleitet, aber sie schien sich – in diesem Fall – letztendlich auf ein residuales Faktum des Glaubens zu stützen. Zwar fand in dieser Weise die zu der damaligen Zeit vorherrschende Vorstellung vom Erdmagnetismus und seiner Bipolarität bei Kepler Resonanz, aber dieses mechanische Phänomen wurde dabei zu keinem Ausgangspunkt – in einer möglichen Analogie zu der zentripetalen solaren Gravitation – in der keplerschen Untersuchung des Solarsystems. Vielmehr machte Kepler in erster Linie von der Bipolarität des Erdmagnetismus Gebrauch, um die wechselnde Annäherung und Entfernung des Planeten gegenüber der Sonne sowie die periodische Variation der Planetengeschwindigkeit zu erklären. Nach der Erscheinung des Hauptwerkes De Magnete von William Gilbert im Jahr 1600 galten der Erdmagnetismus und seine bipolare Natur als allgemein anerkannte und erörterte Annahmen in der Frühneuzeit – insbesondere im 17. Jahrhundert. Newton experimen-
Diese Figur ist eine Modifizierung der Darstellung in dem Werk von Westfall (The Construction of Modern Science, Cambridge 1977, S. 10–11.). Hier ist wichtig anzumerken, dass Westfall bei seiner Erörterung des keplerschen Modells der polaren Anziehung und Abstoßung zwischen Sonne und Planeten die Sonne – im Unterschied zu der oben zitierten Betrachtung Koyrés – nicht als magnetisch-neutral darstellt. Die Sonne wird als einen besonderen Magnet vorgestellt, in dem ein Pol auf der Oberfläche des Magnets bzw. der Sonne ausgebreitet ist, und der andere Pol sich im Zentrum der Sonne befindet.
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Die Kontextualisierung der Wissenschaften
tierte mit dem Phänomen des Magnetismus und stellte fest, dass die Fernwirkung der Gravitation ohne ein mechanisches Medium unvorstellbar ist und den Grundprinzipien der Mechanischen Philosophie widerspricht. Auch die kartesische Erklärung des Magnetismus im Rahmen seiner Mechanischen Philosophie schien unzureichend zu sein, denn die magnetische Kraft durchdringt selbst solide Körper. Zwar wurde die analoge Natur und Struktur zwischen der Gravitation und dem Magnetismus – vor allem in Bezug auf die Fernwirkung dieser Kräfte – von Newton beobachtet, aber eine Gleichsetzung dieser Kräfte als Naturphänomene war im Rahmen seines Systems der Mechanik kaum möglich. Denn die Natur des Magnetismus unterscheidet sich (trotz ihrer Ähnlichkeit mit der Gravitation) sowohl in ihrer Existenzweise als auch in ihrer Wirkungsart von der Natur der Gravitation. Darüber hinaus lässt sich die Struktur des Magnetismus, in der die Sphäre der Anziehung der Sphäre der Abstoßung entgegengesetzt ist – und zwar nur im Verhältnis zu einem anderen magnetischen Feld –, mit der von Newton vorgestellten Struktur der Universalgravitation mit zentripetaler Gravitationskraft kaum vergleichen. Ein anderer Grund für die Differenzierung der magnetischen Kraft von der Gravitation im newtonschen System war der beobachtete Unterschied zwischen der Gesetzmäßigkeit dieser Kräfte. Während die Gravitation gemäß einem InverseSquare Law variiert, ist der Magnetismus einem Inverse-Cube Law unterworfen. Abgesehen von diesem und ähnlichen Fakten, in denen sich die Gravitation vom Magnetismus unterscheidet, hatten einige Wesenszüge des Magnetismus – genauer gesagt die Fernwirkung der magnetischen Anziehung und ihre zentripetale Struktur – einen bestimmten Einfluss auf die newtonsche Intuition von Gravitation, wie es von vielen Wissenschaftshistorikern vermutet wurde. Warum konnte Newton – in einer möglichen Analogie zur Gilberts und Keplers Vorstellung von dem Erdmagnetismus – eine Struktur der Gravitation kaum anvisieren, die nicht allein aus einer zentripetalen Anziehung besteht, sondern auch eine zentrifugale Abstoßung mit einbezieht? Falls alle Planeten gravitationell bipolar sind, verhalten sie sich zueinander in einer Art und Weise, in der sie einander anziehen und zugleich – gemäß ihrer Positionierung und Konstellation im All – einander abstoßen. Auch wenn alle Planeten sich um einen Stern herum auf einer Ebene befinden (wie im Fall des Sonnensystems), entstehen bei ihren Bewegungen wechselnde Anziehung und 92 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Das Wissens- und Glaubenssystem in der Wissenschaft
Abstoßung. Denn die polaren Sphären der Gravitation dehnen sich räumlich aus. Newton konnte das rein spekulative, aber mögliche Faktum der gravitationellen Abstoßung zwischen Himmelskörpern in sein System der Himmelsmechanik nicht einbeziehen, denn die gravitationelle Abstoßung würde seinem bereits geometrisch-mathematisch etablierten Rahmen – oder Kontext – der Himmelsmechanik in Principia, insbesondere dargestellt durch die einheitliche Struktur der zentripetalen Anziehung und durch die unendliche Ausdehnung der Universalgravitation, widersprechen. Zum einen ist die Abstoßung – durch ihre zentrifugale Struktur – der zentripetalen Anziehung entgegengesetzt, und zum anderen scheint die magnetische oder gravitationelle Abstoßung ihren Wirkungsfeldern Grenzen zu setzen (die gegeneinander rücken), was der Vorstellung von der grenzenlosen Ausdehnung der Universalgravitation widerspricht und dabei die Vorstellung von räumlich begrenzter Einzelgravitation, die von Kepler, Robervall und Hooke vertreten wurde, legitimiert. Was hier unsere Untersuchung am ehesten betrifft, ist die Tatsache, dass die Mathematisierung der Mechanik im newtonschen System erneut einen wissenschaftlichen Kontext etablierte, der einige mögliche, rein physikalische Prämissen, die bereits von anderen Wissenschaftlern der Mechanik in der Frühneuzeit vorgestellt wurden, verschleierte. Wie vorher dargelegt wurde, wollte Newton durch seine mathematischen Demonstrationen in Principia ein nachhaltiges und unfehlbares Wissenssystem gegenüber allen unbegründeten Annahmen allein aus Intuitionen und einzelnen Experimenten (guesses, wie Newton sie bezeichnete) in der Wissenschaft der Mechanik etablieren. Allerdings schien sich die strategische und programmatische Mathematisierung der Mechanik bei Newton letztendlich als eine mathematische Kontextualisierung zu erweisen, die auf einem – stillschweigend vorausgesetzten – Faktum des Glaubens, und zwar auf dem tradierten Glauben an die geometrisch-mathematische Präformiertheit und Gesetzmäßigkeit des Universums (demgemäß dem Vorrang der Himmelsgeometrie vor der Himmelsmechanik), basierte. Ein Wissenssystem, dem ein – wenn auch winziges – Faktum des Glaubens zugrunde liegt, entfaltet sich nicht ahistorisch, sondern kontextual-historisch, wie die Geschichte der Mechanik von Aristoteles bis Einstein beweist. Denn das Faktum des Glaubens gefährdet bzw. verschleiert den Status der Episteme, der gemäß der platonischen Ansicht unverändert und nachhaltig bleiben und sich als 93 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Kontextualisierung der Wissenschaften
ahistorisch erweisen sollte. 34 Einem axiomatischen Wissen ist eine geschlossene objektive Kausalstruktur immanent, die zugleich die Grenzen der Erkennbarkeit – als epistemologische und ontologische Finalität ihres Seinsbereiches – voraussetzt, wie an voriger Stelle erörtert wurde. Aber dem Gravitationsgesetz scheint kaum eine geschlossene objektive Kausalstruktur zugrunde zu liegen, da es keine Grenze der Erkennbarkeit dieses Naturphänomens darstellt, sondern nur eine scheinbar epistemologische Finalität einer geometrisch-mathematischen Gesetzmäßigkeit besitzt. Der Grund dafür ist die Unmöglichkeit einer endgültigen Bestimmung ihres Seinsbereiches, also ihrer ontologischen Letztbegründung, die den Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie sprengt. D. h. die geometrischmathematische Axiomatisierung der Gravitation – als geometrischmathematische Kontextualisierung dieses mechanischen Grundprinzips – steht mit dem historischen Kontext der Mechanischen Philosophie selbst im Widerspruch. Die geometrisch-mechanische Bestimmung der zentripetalen Anziehung sowie das Inverse-Square Law erweisen sich – auch im Vergleich zu anderen axiomatischen Grundsätzen wie dem Trägheitsprinzip oder dem Parallelogramm-Gesetz der Kräfte – als von Anfang an unzureichend, um die mechanische Phänomenalität der Gravitation zu erklären und sie angemessen zu kontextualisieren. Die Unmöglichkeit einer axiomatischen Letztbegründung kann dazu führen, dass das errichtete Wissenssystem durch Fakten des subtilen Glaubens unterstützt wird und sich dadurch als historisch erweist. Das Faktum des Glaubens kann dabei ebenso in tieferen theoretischen Grundlagen der Wissenschaft als auch auf ihren praktischen Ebenen auftreten. Als Newton sich nach wiederholtem Scheitern seines Vorhabens, für das Naturphänomen der Gravitation eine kausale Letztbegründung – im strengen Rahmen seiner Mechanischen Philosophie – zu finden, schließlich mit der Überzeugung von der allein empirischen Evidenz ihrer Existenz (»Et satis est quod gravitas reAus diesem Grund werden die euklidischen Axiome im Geometrieunterricht in Schulen allein aus gegenwärtiger Sicht behandelt, ohne sie dabei historisch zu kontextualisieren bzw. auf ihren antiken Ursprung zu referieren. Allerdings scheint die tendenzielle Aktualisierung der nichteuklidischen Geometrie gegenüber der euklidischen Geometrie – ebenso wie die der einsteinschen gegenüber der newtonschen Mechanik – durch eine historische Kontextualisierung vorausgesetzt zu werden, was in der Praxis der Geometrie oder Mechanik, dargestellt vor allem in den Ingenieurwissenschaften, keine große Bedeutung hat.
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94 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Das Wissens- und Glaubenssystem in der Wissenschaft
vera existat«) 35 zufrieden gab, stützte er sich genau genommen auf einen bestätigten Glauben an die Existenz der Gravitationskraft, nicht aber auf deren Wissen, das die Erkenntnis ihrer phänomenalen Seinsweise voraussetzt. Dass in der Geschichte der Mechanik die Frage nach dem Wesen der Gravitation immer wieder gestellt wird und deren Untersuchung sehr aktuell ist, besagt auch die Historizität des von der Axiomatisierung dieses Naturphänomens übrig gebliebenen Faktums des Glaubens. Die wissenschaftliche Epistemologie hat zum Ziel, die residualen Fakten des Glaubens aus der Wissenschaft zu beseitigen, um ihre axiomatische Wissensbasis und deren Nachhaltigkeit abzusichern: Sie erweist sich in diesem Prozess unbedingt als historisch.
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Vgl. Janiak, a. a. O., S. 26.
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Kapitel 2 Die interne und autonome Kontextualisierung der Wissenschaften
Historizität wissenschaftlicher Gegenstände Wenn ein wissenschaftlicher Kontext die Phänomenalität des wissenschaftlichen Gegenstandsbereiches charakterisiert und diese zugleich verschleiert, weist er seinen primären subjektiven Zug und seine epistemologische Hinzufügung zu dem wissenschaftlichen Gegenstandsbereich auf. Wie an früherer Stelle erörtert wurde, zeigt sich die wissenschaftliche Kontextualisierung in erster Linie als wissenschaftlich-domaniale Bestimmung, Ausweitung sowie Grenzziehung. Aber diesem epistemologischen Prozess, der sich als historisch erweist, liegt unausbleiblich das Faktum des Subjekts zugrunde. Denn die begrifflich-axiomatischen Grundsätze, auf denen jede Wissenschaft aufbaut, beziehen sich ebenso auf das Subjekt, das allein erkennt, wie auf den zu erkennenden Gegenstand. Dieser synthetische Grundzug der wissenschaftlichen Erkenntnisse verweist auch auf die ursprüngliche Tendenz der Wissenschaften zur historisch-kontextualen Entwicklung, indem er der Ahistorizität der Episteme immer wieder entgegenzuwirken neigt. Bei der Axiomatisierung der Erkenntnisse im Rahmen einer Wissenschaft ist ein erkennendes bzw. aussagendes, feststellendes oder definierendes Subjekt von der eher objektiv prädizierten Erkenntnis des wissenschaftlichen Gegenstands zu unterscheiden. Demnach sollte sich das erkennende Subjekt gegenüber der Erkenntnis und ihrer wissenschaftlichen Kontextualität in gewisser Hinsicht als fremd – also als ein fremdes Element, das zwar die Erkenntnis ermöglicht, aber von ihr nicht einverleibt wird – erweisen. Die rein subjektiven Beiträge zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen beziehen sich auf die Gewährleistung ihrer notwendigen Grundlagen wie der Apodiktizität und Allgemeinheit. Trotz dieser wesentlichen Funktion der Urhebung der Erkenntnisse kann man nicht annehmen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse ein rein subjektives Konstrukt – 96 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Historizität wissenschaftlicher Gegenstände
analog zu einem subjektiven Glauben – sind; ihre Legitimität basiert an erster Stelle auf ihrer Objektivität bzw. auf dem ihr inhärenten Faktum des Objekts. Allerdings wird dabei die Vorstellung von wissenschaftlicher Objektivität selbst zu einem Problem, das in der gesamten neuzeitlichen Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zwar diskutiert, aber kaum bewältigt wurde. Denn die unvermeidliche Einmischung des Subjekts in den Erkenntnisprozess erschwert es von vornherein, die philosophisch-wissenschaftliche Objektivität mit dem Faktum des wissenschaftlichen Objekts innerhalb der axiomatischen Erkenntnisbasis der Wissenschaften vollkommen zu vereinigen. Das epistemologische Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt erzeugte historisch eine breite Skala von Natur- und Geisteswissenschaften. Die grundlegenden Maßstäbe der Gradation innerhalb der Natur- und Geisteswissenschaften sind zum einen das Ausmaß der subjektiven Beteiligung an der epistemologischen Axiomatisierung der Wissenschaften und zum anderen die Autonomie des wissenschaftlichen Gegenstands in seinem Status des Erkanntseins. Während die oben erörterte subtile Inkongruenz zwischen der wissenschaftlichen Objektivität und dem reinen Faktum des wissenschaftlichen Objekts viel deutlicher in den Naturwissenschaften zutage tritt, scheint sie jedoch in den Geisteswissenschaften – insbesondere in den Sozialwissenschaften oder der Psychologie – aufgehoben zu werden. Denn die Gegenstände der Geisteswissenschaften sind zum großen Teil subjektive Gebäude, dargestellt in diversen Wissenschaften wie der Soziologie, den Kulturwissenschaften, der Ethik usw., während die Psychologie das Subjekt selbst bzw. seine Wahrnehmungs- und Erkenntnisfakultäten zum Gegenstand hat. Die Natur ist in der Geschichte der allererste Gegenstand der Philosophie; demnach war Philosophie in verschiedenen Zivilisationen ursprünglich eine Naturphilosophie. Sowohl im okzidentalen Ursprung der philosophischen Spekulation in Griechenland als auch in orientalen Denktraditionen – wie in Indien – wurde zunächst nach der den vielfältigen Phänomenen zugrunde liegenden wahren, einheitlichen und absolut finalen Ursubstanz – oder nach Ursubstanzen – gefragt. Die vorsokratische Philosophie spekulierte über eine Ursubstanz, deren verschiedene Manifestationen die Phänomene wie Wasser (Thales), Feuer (Heraklit), Luft (Anaximenes), Atome (Demokrit) usw. sind. Nach der Lehre der ältesten indischen Philosophieschulen bestand der gesamte Aufbau des Kosmos auf fünf Ursubstan97 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die interne und autonome Kontextualisierung der Wissenschaften
zen, nämlich den sogenannten Pancabhuta, also Feuer (Agni), Luft (Vayu), Wasser (Jal), Erde (Prithvi) und Äther (Akasha). 1 Die Frage nach der Ursubstanz oder den Ursubstanzen der Natur war im Rahmen der ursprünglichen Naturphilosophie offensichtlich eine Frage nach der absolut fundamentalen und finalen Seinsweise der Welt, also eine Frage nach ihrer objektiv-ontologischen Basis. Das Wesen des Subjekts, das allein die Naturgegenstände erkennt, wurde dabei nur in geringem Maße zum Gegenstand der philosophischen Spekulation. Erst in einer späteren Phase der vorsokratischen Philosophietradition lässt sich das langsame Auftreten des Faktums des Subjekts als Gegenstand der Philosophie feststellen. In der antiken Tradition wurde der historische Übergang von einer Philosophie des Objekts (oder Naturphilosophie) in eine Philosophie des Subjekts erst in der heraklitschen Vorstellung von Logos und in der parmenidschen Vorstellung von der Einheit zwischen Denken und Sein (die zum ersten Mal die grundlegende Korrelation zwischen Epistemologie und Ontologie ins rechte Licht rückte) dargestellt. Hier ist der Beginn einer einmaligen historischen Wende in der antiken Philosophie zu identifizieren, in der das Subjekt, das lange auf der Suche nach einem irreduziblen objektiven Sein der Welt gewesen war, begann sich auf sich selbst zu besinnen. 2 Diese historische Wende in der antiken Tradition hatte ihren Höhepunkt in dem sokratischen System des Philosophierens. Sokrates Die altindische Vorstellung von Pancabhuta lässt sich mit der Vorstellung von Empedokles (im 5. Jahrhundert), nämlich dass sich alle Dinge aus vier Grundelementen – aus Luft, Wasser, Erde und Feuer – zusammensetzen, vergleichen. 2 Eine parallele Entwicklung eines derartigen historischen Übergangs in der indischen Philosophiegeschichte war zweifelsohne die erste und älteste Denkschule »Sankhya« von Kapila. Sankhya versuchte, sich die Existenz der Welt nicht objektiv-einheitlich, sondern in einem dualen Prinzip zwischen Prakriti (Natur) und Purusha (Subjekt) vorzustellen. Abgesehen von dem Faktum des Purusha bildete Sankhya mehr oder weniger eine Philosophie der Natur oder Naturprinzipien. Interessant ist hier anzumerken, dass Prakriti in 24 Elemente zerlegt wurde, und Purusha grundsätzlich dieser Kategorisierung unterworfen war. In Sankhya bildete Purusha, das Subjekt, eines der verschiedenen Prinzipien der ursprünglichen Prakriti (Natur). Diese ursprüngliche Angehörigkeit des Subjekts zur Natur, die den Dualismus des Sankhya ausmachte, demarkierte die Denktradition Sankhys von den späteren indischen Philosophien – vor allem von dem nicht-dualistischen Advaita Vedanta von Sankara. Obwohl Advaita Vedanta die Einheit des Subjekts mit der Welt – der Erkenntnis mit dem Erkannten – philosophisch vertrat, setzte diese bis heute vorherrschende Denkschule eine ursprüngliche Trennung des Subjekts von der Welt voraus, und lehrte deren Negation – dargestellt in der Vorstellung von Nicht-Dualität (Advaita). 1
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Historizität wissenschaftlicher Gegenstände
fragte in erster Linie nicht nach dem erkannten Gegenstand, sondern nach dem Erkenntnisprozess selbst. In der sokratischen Erkenntnisfrage wurde das Vermögen des Subjekts, die Welt und sich selbst (dargestellt in den Moralprinzipien) zu erkennen, vergegenständlicht. Das sokratische Herbeiführen der dem Subjekt latenten Erkenntnisse in der Methode der Dialoge richtete sich primär auf die Struktur und Funktion des subjektiven Erkenntnisvermögens. Wir können diese historische Wende in der griechischen Philosophie als eine epistemologische Wende bezeichnen, bei der sich die Philosophie von den tradierten rein objektiv-ontologischen Wesenszügen loslöste. Wie nie zuvor tauchte das Erkenntnisproblem als zentraler Gegenstand der Untersuchung erst im sokratischen System der Philosophie auf. Allerdings schien Platon, der berühmte Schüler Sokrates, gegenüber der Vorherrschaft der Epistemologie bei Sokrates die ontologische Weltbetrachtung erneut zu etablieren. In seiner Philosophie ging Platon eher von der Seinsfrage und nur ihr anschließend von der Erkenntnisfrage aus. Denn Platon synthetisierte bekanntlich die Sokratische Philosophie mit der vorsokratischen Tradition – insbesondere mit der Philosophie von Pythagoras, Heraklit, Parmenides und Demokrit. »Mit Plato beginnt etwas ganz neues; oder, wie mit gleichem Rechte gesagt werden kann, seit Plato fehlt den Philosophen etwas Wesentliches, im Vergleich mit jener Genialen-Republik von Thales bis Sokrates. Wer sich mißgünstig über jene älteren Meister ausdrücken will, mag sie die Einseitigen nennen und ihre Epigonen, mit Plato an der Spitze die Vielseitigen. Richtiger und unbefangener würde es sein, die letzteren als philosophische Mischcharaktere, die ersteren als die reinen Typen zu begreifen. Plato selbst ist der erste großartige Mischcharakter und als solcher sowohl in seiner Philosophie als in seiner Persönlichkeit ausgeprägt. Sokratische, pythagoreische und heraklitische Elemente sind in seiner Ideenlehre vereinigt: sie ist deshalb kein typisch-reines Phänomen. Auch als Mensch vermischt Plato die Züge des königlich abgeschlossenen und allgenugsamen Heraklit, des melancholisch mitleidsvollen und legislatorischen Pythagoras und des seelenkundigen Dialektikers Sokrates. Alle späteren Philosophen sind solche Mischcharaktere.« 3
Durch die Integrierung der sokratischen und vorsokratischen Philosophien in ein einheitliches System etablierte Platon die westliche Philosophietradition, die bis heute vorherrscht. Alle Urformen der Nietzsche, Friedrich: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, hrsg. von Manfred Riedel, Reclam Verlag, Stuttgart 1994, S. 13–14.
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Die interne und autonome Kontextualisierung der Wissenschaften
theoretischen und praktischen Philosophien, die sich im Okzident in einem Zeitraum von 2500 Jahren entfalteten, entstanden in der platonischen Philosophie – sei es die Lehre der Anamnese, die eine Protoform der neuzeitlich-epistemologischen Lehre der Apriorität der Erkenntnisse bildete, die Lehre der Ideen mit ihrem klaren ontologischen Zug oder die Rechtslehre, die die westliche Tradition der Rechtsphilosophie und Politik bestimmte. Aristoteles, Platons Schuler, drehte den platonischen Idealismus zu einem gewissen philosophischen Materialismus um und erweiterte diesen. Niemals zuvor ging aus einem philosophischen System eine Naturphilosophie hervor, aus der sich die Naturwissenschaften historisch zu entwickeln und zugleich voneinander kontextual zu demarkieren begannen. Aristotelische Untersuchungen gehören deutlich zu den Kategorien der natur- und geisteswissenschaftlichen Studien und ergänzen als solche das platonische System. Die historische Koexistenz zwischen Geistes- und Naturwissenschaften und ihre grundlegende Korrelation mit der Philosophie haben ihren Ursprung in der platonisch-aristotelischen Denktradition. Eidos (εἶδος) war sowohl im platonischen als auch im aristotelischen System der Ausgangspunkt des Philosophierens – abgesehen von den grundlegenden Differenzen der Vorstellungen – und spielte besonders im Rahmen der Ontologie – der Lehre des Seins und der Existenz – eine wesentliche Rolle. Dabei waren es in erster Linie nicht die Erkennbarkeit, sondern die Existenz und die Gegebenheit des Eidos, worauf diese philosophischen Systeme aufbauten. Im Höhlengleichnis (Politeia) schildert Platon die Erkenntnisstufen als eine Gradation vom Wahrnehmen der Schatten von Abbildern gegenüber den Urbildern, die als Ideen sonnenhaft wirken und sich folglich unserem Erkenntnisvermögen – also unserer Sicht – entziehen. Diese Erkenntnisstufen scheinen dabei in erster Linie nicht von einem rein subjektiven Erkenntnisvermögen, sondern eher von der Existenzweise der Erkenntnisgegenstände her bestimmt zu werden. Die Abbilder werden als solche erkannt, weil sie Abbilder sind und derart existieren. Ebenso werden die Ideen aufgrund ihrer vollkommenen und ewigen Existenz nicht aktual und final, sondern nur potenzial und prozessual bzw. in einer unendlichen Annäherung an eine Grenze der vollkommenen Erkennbarkeit nachvollzogen. Im Zusammenhang mit seiner Ideenlehre definiert Platon die episteme als das immer Seiende und als solche als das vom erkennenden Subjekt unabhängig Gegebene und differenziert die episteme streng vom subjektiven doxa, das sich 100 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
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als veränderlich erweist bzw. keine ontologische Konstanz aufweist. Die platonische Erkenntnistheorie scheint ursprünglich einer IdeenOntologie untergeordnet zu sein. Platon schien allerdings durch seine Vorstellung von der Episteme und ihrer Fundierung in der Ideenlehre eine grundlegende Korrelation zwischen Erkenntnis- und Seinslehre (als Ontologie) zu etablieren. Diese Korrelation lässt sich an einem Grundprinzip der platonischen Erkenntnislehre ablesen, nämlich dass die subjektive Erkennbarkeit – ihre Möglichkeit und Grenzen – primär durch die Seinsweise bzw. die Natur der Existenz der zu erkennenden Gegenstände zu bestimmen ist. 4 Beim Aufbau eines philosophisch-wissenschaftlichen Systems gingen sowohl Platon als auch Aristoteles allem Anschein nach von einer programmatischen Untersuchung aus, nämlich der Identifizierung der Gegebenheit und Existenzweise der Gegenstände und der Anerkennung ihrer ontischen Vielfalt. Die Vielfalt des Eidos im platonischen und im aristotelischen System scheint in gewisser Hinsicht den monistischen Tendenzen der vorsokratischen Tradition entgegengesetzt zu sein. An dieser Stelle gilt es folgendes anzumerken: Während das monistisch-reduktionistische Prinzip in der vorsokratischen Tradition grundsätzlich eine Denkleistung – und als solche eine Spekulation – war, entstand die Vielfalt der Ideen bei Platon und Aristoteles aus der Sinneswahrnehmung – vorzüglich aus dem Sehen –, die allein das Subjekt mit den vielfältig erscheinenden Phänomenen verbindet. Obwohl Platon tendenziell die Sinneswahrnehmung – das aisthesis – gegenüber der Hegemonie des ewigen und immer seienden eidos oder logos epistemologisch und ontologisch herabsetzt, gewinnt er offensichtlich dennoch aus dem Aisthesis die Vorstelllung von der Mannigfaltigkeit der Ideen, deren Abbilder die einzelnen Phänomene sind. Darauf ist auch das vorherrschende Faktum des Sehens – als unmittelbare Erfahrung und als grundlegendes epistemologisches Instrumentarium – und die an das Faktum des Sehens anschließende Bildlichkeit im platonischen System, am treffendsten dargestellt in seinen Grundvorstellungen vom Abbild und Urbild, zurückzuführen. Auch die platonische Lehre der Anamnese, die eine gewisse Propädeutik zu dem modernen Rationalismus und Apriorismus (der von der Annahme ausgeht, dass zahlreiche axiomatischen Erkenntnisse dem Subjekt angeboren sind) zu bilden scheint, setzt aber eine ursprüngliche Schau der ewigen Ideen durch den Geist voraus. Demnach ist die Anamnese eine Wiedererinnerung eines bereits – bei der himmlischen Existenz des Geistes – erkannten Gegenstands. Der metaphysische Zug dieser Lehre schließt allerdings die Ideen-Ontologie, auf der diese Lehre basiert, nicht aus.
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101 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die interne und autonome Kontextualisierung der Wissenschaften
Die unmittelbar sinnlich zu erfahrende Vielfalt der Phänomene schien der aristotelischen Naturphilosophie und ihren verschiedenen domanial-kontextualen Differenzierungen und Grenzziehungen zugrunde zu liegen. Die Gegenstände der Philosophie und der Wissenschaften gradieren sich auf einer Skala von dem Faktum des Objekts zu dem des Subjekts. Indem unsere Erkenntnisse notwendigerweise synthetisch zustande kommen bzw. aus einem synthetischen Nexus zwischen dem subjektiven Erkennen und dem objektiven Erkanntwerden entstehen, erweisen sie sich – aufgrund der Vielfältigkeit der Phänomene – selten als kategorisch einheitlich. Denn das Subjekt – auch wenn wir es als ein Phänomen neben allen Naturphänomenen betrachten – unterscheidet sich modal und ontologisch vollkommen von der Natur und ihren Gegenständen. Aus diesem epistemologischen Nexus zwischen Subjekt und Objekt, der allen philosophischen und wissenschaftlichen Disziplinen und ihren Kontexten zugrunde liegt, entstehen drei bestimmte Kategorien der philosophisch-wissenschaftlichen Gegenstände: Erstens die vom Subjekt vollkommen abgetrennten und als solche autonomen Naturgegenstände, zweitens die vom Subjekt erzeugten und zu der ursprünglichen Natur hinzugefügten Gegenstände und drittens das Subjekt selbst. Die erste Kategorie gehört zu den Naturwissenschaften und zur Naturphilosophie, die die natürlichen Phänomene zum Gegenstand haben und ihre ontologische Autonomie vom erkennenden Subjekt voraussetzen. Die zweite Kategorie schließt die kulturanthropologischen Formen wie Gesellschaft, Ethik, Moral, Kunst, Politik etc., in denen das Faktum des Subjekts mit dem des Objekts – hier vor allem in Bezug auf den Menschen und der Gesellschaft, in der er lebt – verflochten sind. Die Sozialwissenschaften, Geschichte, Ästhetik, Politologie sowie die Philosophien dieser geisteswissenschaftlichen Disziplinen bauen auf den kulturanthropologischen Formen auf, die zwar vom Subjekt hervorgebracht, aber in der Welt realisiert werden. Die dritte Kategorie, in der das Subjekt selbst zum Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung wird, gehört eher zur theoretischen Philosophie – insbesondere zu ihren Teildisziplinen Epistemologie und Logik. Viele Wissenschaften und Philosophien überschreiten die Grenzen dieser formalen Kategorisierung, was vor allem von der Interdisziplinarität der Wissenschaften rührt. Z. B. die Neurophysiologie, die das Gehirn und das damit verbundene Nervensystem zum Gegenstand hat, grenzt an die rein theoretische Philosophie, indem sie die 102 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Historizität wissenschaftlicher Gegenstände
neuronale Kausalbasis der rein mentalen Zustände untersucht. Ebenso sind die Grenzen zwischen Psychiatrie und Psychologie sowie zwischen Psychologie und Philosophie des Geistes fließend. Die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche philosophia naturalis ging von Problemen der Synthese zwischen der Domäne des Subjekts und der des Objekts in den Naturerkenntnissen aus. Ein wichtiges Anliegen der philosophia naturalis war es, innerhalb der Naturerkenntnis das Faktum des Subjekts von dem des Objekts sauber zu trennen bzw. die Angehörigkeit der Elemente der Erkenntnis zwischen der Domäne des Subjekts und der des Objekts zu bestimmen. Der Übergang der spätmittelalterlichen philosophia naturalis in die frühneuzeitliche, von Descartes initiierte Mechanische Philosophie wurde am ehesten durch jene erneute und mehr und mehr polarisierte domaniale Grenzziehung zwischen Subjekt und Objekt in den Naturerkenntnissen gekennzeichnet. Z. B. trennt Descartes in Meditationen ganz programmatisch alle subjektiven Empfindungen des Objekts wie Farbe, Geschmack, Geruch sowie haptische und auditive Qualitäten und schreibt diese allein dem empfindenden und erkennenden Subjekt zu. Das berühmte Wachsgleichnis verdeutlicht die vollkommene Angehörigkeit der objektiven Empfindungen zu dem Subjekt, zu seinen wahrnehmungstheoretischen Domänen. 5
Descartes, Meditationen, a. a. O., S. 33–34. »Betrachten wir jene Dinge, von denen man gemeinhin meint, sie insgesamt am deutlichsten zu verstehen, nämlich die Körper, die wir berühren, die wir sehen; und zwar nicht die Körper überhaupt, denn solche allgemeinen Erfassungen sind gewöhnlich ziemlich verworren, sondern einen Körper im besonderen. Nehmen wir zum Beispiel dieses Wachs: Gerade eben ist es aus dem Bienenstock herausgezogen worden; noch hat es nicht allen Geschmack seines Honigs verloren; es behält ein wenig von dem Geruch der Blumen, aus denen es gesammelt worden ist; seine Farbe, Gestalt, Größe sind offenkundig; es ist hart, es ist kalt, es läßt sich leicht berühren, und es gibt einen Ton von sich, wenn Du mit dem Knöchel auf es schlägst; mit einem Wort, alles ist vorhanden, was erforderlich zu sein scheint, damit es äußerst deutlich als ein bestimmter Körper erkannt werden kann. Aber während ich sage, wird es dem Feuer ausgesetzt: Der verbliebene Geschmack geht verloren, der Geruch verfliegt, die Farbe wechselt, die Gestalt verschwindet, die Größe nimmt zu, es wird flüssig, es wird warm, man kann es kaum noch berühren, und nun gibt es keinen Ton mehr von sich, wenn Du es anstößt. Bleibt es dann immer noch dasselbe Wachs? Es muß eingeräumt werden: Es bleibt. Niemand bestreitet es, niemand meint etwas anders. Was also war in ihm, das so deutlich verstanden worden ist? Sicherlich nicht von dem, was ich durch die Sinne berühre; denn alles, was unter den Geschmackssinn oder den Geruchssinn oder das Sehvermögen oder den Tastsinn oder das Gehör fiel, ist jetzt verändert: und doch bleibt es das Wachs.«
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Die interne und autonome Kontextualisierung der Wissenschaften
Ein Objekt erscheint farbig, nicht weil die Farbigkeit als Attribut zu dem Objekt gehört, sondern allein deswegen, weil die Farbigkeit des Objekts vom Subjekt empfunden wird. Durch die radikale Trennung aller subjektiven Empfindungen von der Domäne des Objekts gründete Descartes eine reine Naturphilosophie – als Mechanische Philosophie – als auch eine Philosophie des Geistes. Eine derart saubere Trennung zwischen der Domäne des Subjekts von der des Objekts in Naturerfahrung und -erkenntnis war der spätmittelalterlichen philosophia naturalis unbekannt. Zwar wurde die subjektive Erhebung der objektiven Empfindungen anerkannt, aber an ihrer Angehörigkeit zu den Objekten, die empfunden werden, nicht gezweifelt. Demnach wird die Farbigkeit des Objekts zwar subjektiv empfunden, aber sie gehört zu dem Objekt. Die spätmittelalterliche philosophia naturalis schien epistemologisch einen synthetischen Nexus zwischen der subjektiven Wahrnehmung und den wahrgenommenen Naturgegenständen zu vertreten: »Für die Scholastik entstehen die qualitates secundae aus den primae im Objekt und nicht erst, wie für die späteren, im wahrnehmenden Subjekt. Ihre Realität wurde darum in der traditionellen Philosophie nie in Zweifel gezogen, und ebenso wenig die Abbildlichkeit der Qualitätsempfindungen.« 6 Während die spätmittelalterliche Scholastik die Farben als gegenständliche Qualitäten anerkannte – aber zugleich die subjektive Beteiligung an dieser Empfindung nicht negierte –, unterscheidet sich diese Betrachtungsweise von der kartesischen Moderne, die die Qualität der Farbigkeit gänzlich vom Objekt abtrennte und dem empfindenden Subjekt zuschrieb, darin, dass die spätmittelalterliche Scholastik die außerleibliche örtliche Lokalisation der Farbempfindung annahm und demnach die Objektivität der Raumempfindung nicht bezweifelte. Denn dem visuellen Raum – sowohl dem visuellen Freiraum als auch der gegenständlichen Ausdehnung – wird hier ein vom Subjekt unabhängiger ontologischer Status zugesprochen. Dadurch existiert die Farbigkeit im Objekt bzw. in freiräumlicher Entfernung und gegenständlicher Ausdehnung, die in objektiver Realität – und weniger in subjektiver Virtualität – gedacht wurde. Bei Descartes wurde eine derartige Anerkennung der Objektivität der Raumempfindung weniger bedeutsam. Der Raum und die räumliche AusdehMaier, Anneliese: Zwei Untersuchungen zur nachscholastischen Philosophie, Rom 1968, S. 18.
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Historizität wissenschaftlicher Gegenstände
nung der Gegenstände werden als Residuen eines epistemologischen Prozesses, nämlich der systematischen Negation aller subjektiven Attribute aus dem Gegenstand, reduziert (wie das oben zitierte Wachsgleichnis verdeutlicht). Von Descartes wurde die res extensa zwar rein gegenständlich vorgestellt, aber sie ist vollkommen leer bzw. lediglich eine Ausdehnung, die keine objektive Materialität hat. Denn laut Descartes sind vom Gegenstand alle materiellen Qualia im Subjekt angesiedelt, und folglich bleibt allein die gegenständliche Ausdehnung übrig. Die programmatische Apriorisierung der Qualia in der Neuzeit entfaltete sich in der kantischen Transzendentalphilosophie zur Blüte. In der philosophischen Propädeutik zur Kritik der reinen Vernunft – in der Transzendentalen Ästhetik – wiederholt Kant mehr oder weniger dieselbe kartesische Methode der systematischen Negation. Allerdings wurde auch die Räumlichkeit der Erscheinung, der Descartes als eine residuale Entität eine vom Subjekt autonome Objektivität zuschrieb, im kantischen System letztendlich zu einem Residuum im Subjekt – als reine Form der Anschauung a priori: »Wenn ich von der Vorstellung eines Körpers das, was der Verstand davon denkt, als Substanz, Kraft, Teilbarkeit usw., imgleichen, was davon zur Empfindung gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe usw. absondere, so bleibt mir aus dieser empirischen Anschauung noch etwas übrig, nämlich Ausdehnung und Gestalt. Diese gehören zur reinen Anschauung, die a priori, auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung, als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüte stattfindet.« 7
Für Kant ist Raum – zwar im streng transzendentalphilosophischen Rahmen – eine Vorstellung a priori, worauf er mehrmals in der Kritik der reinen Vernunft Bezug nimmt. Die vollkommene Apriorisierung des Raumes im Kontext einer Transzendentalphilosophie lässt sich als den Höhepunkt einer historisch tradierten Vorstellung in der Neuzeit betrachten. Von der mittelalterlich-scholastischen Anerkennung der Objektivität des Raumes und der räumlichen Empfindungen bis zur kantischen Vorstellung vom vollkommen subjektiv-apriorischen Status des Raumes ist ein historischer Prozess der Apriorisierung des Raumes (im philosophischen Rahmen) festzustellen. Der vorher erörterte historische Übergang von einem Überbleibsel des mittelalterlich-scholastischen Objektivismus in den frühneuzeitlich-kartesischen Subjektivismus schien dessen treffendsten Ausdruck in der 7
Kant, a. a. O., S. 64
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Die interne und autonome Kontextualisierung der Wissenschaften
neuzeitlich-historischen Apriorisierung des Raumes zu finden. Die kartesische Säuberung der Philosophie und Naturwissenschaften, die er programmatisch in seinen Schriften Discours de la Methode, Meditationes de prima philosophia und Les Principes de la Philosophie durchführte, richtete sich vor allem auf die Anomalien der tradierten spätscholastischen Naturphilosophie. Daraus ergab sich eine klare Differenzierung zwischen der Philosophie des Geistes und der Philosophie der Natur, die – als Mechanische Philosophie – weiterhin die historische Entwicklung der Naturwissenschaften in der Frühneuzeit herbeiführte. Obwohl sich seit dem kartesischen Übergang in das neuzeitliche Denken die Philosophie des Geistes historisch entfaltete und sich folglich von der Entwicklung der Naturwissenschaften differenzierte, schien die frühneuzeitliche Divergenz zwischen Philosophie und Wissenschaften wiederum eine eher objektive als subjektive Basis zu haben. Denn es stellte sich weiterhin die Frage nach dem Gegenstand der Wissenschaft, die auch diese Divergenz entstehen ließ. Die kartesische und nach-Kartesische Differenzierung des Subjekts vom Gegenstand – des denkenden bzw. empfindenden und erkennenden Ichs von der empfundenen und erkannten Natur – veranlasste erneut die Vergegenständlichung des Subjekts, genauer gesagt des menschlichen Verstandes, im streng philosophischen Rahmen. Seit Descartes wurde der menschliche Verstand als ein Gegenstand der Philosophie etabliert, was in der Frühneuzeit mehr oder weniger in einem philosophischen Kontext und in der Spätmoderne auch in anderen wissenschaftlichen Kontexten untersucht wurde. Die bedeutenden nachkartesischen Philosophen wie Locke, Berkeley, Hume, Leibniz bis zu Kant fühlten sich dazu verpflichtet, über den menschlichen Verstand zu philosophieren, was bei den historisch wiederholten Abhandlungen über den menschlichen Verstand (vor allem dargestellt in der englischen Tradition als »essay concerning human understanding«) und anschließend in der kantischen Kritik der reinen Vernunft zum Ausdruck kam. Diese historisch sukzessiven Schriften führten in der europäischen Moderne zu den ebenso sukzessiven gesellschaftlichen und nationalen Aufklärungen; sie charakterisierten den historischen Übergang der Philosophie in ein Zeitalter der Vorherrschaft des menschlichen Subjekts und der programmatischen Subordination der Natur – zu seinen Gunsten –, dargestellt vor allem in der historischen Entwicklung der Naturwissenschaften.
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Externe und interne Kontextualisierung
Externe und interne Kontextualisierung Nach Kant sind die mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse allesamt synthetische Urteile a priori. Die epistemologische Synthese betrachtet Kant nicht einheitlich, sondern unterscheidet eine reine Verknüpfung (Nexus) von der Zusammensetzung (Compositio). 8 In seiner Philosophie der symbolischen Formen scheint Cassirer – als Kantianer – eine derartige Differenzierung in der kantischen Vorstellung von epistemologischer Synthese aufzuheben und folglich alle kulturanthropologischen Formen, die die menschlichen Erkenntnisse in verschiedenen Bereichen der Geistes-, Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaften hervorbringen, als die zu der Natur ursprünglich hinzugefügten symbolischen Formen zu bestimmen. Die Lehre der symbolischen Formen setzt in dieser Weise die subjektiv-epistemologische Synthese allein als einen Nexus voraus. In gewisser Hinsicht bilden alle von Cassirer vorgestellten symbolischen Formen, die vom Subjekt zu dem Urzustand der Welt hinzugefügt werden, ursprünglich Kontexte. Denn sie verschleiern die wahre Phänomenalität in verschiedenen – sprachlichen, mathematischen, natur- und geisteswissenschaftlichen, ästhetischen, ethischen usw. – Kategorien. Das Subjekt als Urheber der symbolischen Formen baut historisch die kulturanthropologischen Ausdrucksformen auf den Urphänomenen auf. Cassirer schien in seiner philosophischen Lehre der symbolischen Formen die ursprünglich kantische Vorstellung von der synthetischen Einheit der Apperzeption anders zu deuten bzw. sich darin die Symbolizität der epistemologischen Apperzeption und deren Einheit mit dem Urphänomen allein als Nexus vorzustellen. Gegenüber der großen Vielfalt der Erkenntnisgegenstände erweist sich das erkennende menschliche Subjekt mehr oder weniger als einheitlich. Daher scheinen die Natur der Erkenntnisse und deren kontextual-kategorische Identität eher vom Gegenstand selbst bestimmt zu werden. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse unterscheiden sich von den geistes- und kulturwissenschaftlichen vornehmlich in dem Gegenstandsbezug bzw. in ihrer gegenständlichen Referenzialität; die Gegenstände der Naturwissenschaften unterscheiden sich von denen der Geistes- und Kulturwissenschaften.
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Kant, a. a. O., S. 259–260 (A 162, B 202).
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Die interne und autonome Kontextualisierung der Wissenschaften
Demgemäß differenzieren sich die Naturwissenschaften als Kontexte von der Kontextualität der Geistes- und Kulturwissenschaften. Denn die Gegenstände der Naturwissenschaften sind gegenüber denen der Geistes- und Kulturwissenschaften unveränderlich und als solche im Prinzip ahistorisch. Indem die naturwissenschaftlichen Gegenstände gegeben bzw. vom Subjekt nicht erzeugt werden, scheint ihre Erkennbarkeit und deren Finalität eher von ihnen selbst bestimmt zu werden. Demgegenüber haben die Gegenstände der Geisteswissenschaften, indem sie zu der oben erörterten zweiten Kategorie der vom Subjekt ursprünglich erzeugten kulturanthropologischen Ausdrucksformen gehören, einen wesentlich anderen epistemologischen, aber auch ontologischen Status. An ihrer Erkennbarkeit und der Bestimmung ihrer Grenzen sowie an ihrer historischen Kontextualisierung hat das Subjekt einen erheblich größeren Anteil. Ebenso wie die geisteswissenschaftlichen Gegenstände werden auch die historischen Kontexte der Geisteswissenschaften eher vom Subjekt bedingt. Dagegen scheinen sich die naturwissenschaftlichen Kontexte aus der vom Subjekt abgetrennten Natur selbst heraus zu entwickeln. Wir können die zwei verschiedenen Prozesse der historischen Kontextualisierung jeweils als eine externe und als eine interne bezeichnen. Sie unterscheiden sich voneinander letztendlich in der Natur der Erkennbarkeit ihrer Gegenstände sowie in ihrer ontologisch-domanialen Angehörigkeit. Während die interne, aus Naturgegenständen sich heraus entwickelnde Kontextualität eine höhere Autonomie der Gegenständlichkeit vom Subjekt voraussetzt, bleibt die externe Kontextualität – die vom Subjekt entworfen und zu den von ihm selbst erzeugten Gegenständen hinzugefügt wird – der Hegemonie des Subjekts unterworfen und wird vor allem durch ihre Historizität gekennzeichnet. Im Vergleich zu den Naturwissenschaften verweist die Vergegenständlichung im Rahmen der Geisteswissenschaften bereits von vornherein auf eine Kontextualisierung, denn die Gegenstände der Geisteswissenschaften gehören bereits in ihrem Ursprung eher zu Domänen des Subjekts. Das Externe in Bezug auf die Kontextualität der Geisteswissenschaften wird demnach durch einen epistemologischen Prozesscharakter bestimmt, indem ein externes Faktum, nämlich das Subjekt, die geisteswissenschaftlichen Gegenstände erzeugt und zu der ursprünglichen Natur hinzufügt oder ihr sogar aufoktroyiert. Dagegen kommt das Interne in Bezug auf die Kontextualität der Naturwissenschaften – aber auch der Mathematik – durch ein internes Faktum, nämlich durch die 108 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Externe und interne Kontextualisierung
vom Subjekt völlig abgetrennten Naturgegenstände, zustande. Das Interne verweist hier auch auf ein Potenzial der Naturwissenschaften, ihre Kontextualität und deren historische Entfaltung aus den Naturgegenständen selbst heraus zu entwickeln. Dieses Potenzial begrenzt sich nicht auf reine formal-kontextuale Kategorien der Wissenschaften, sondern es ist in ihnen latent vorhanden. Die kontextuale Differenzierung der Geisteswissenschaften in ihrer historischen Entwicklung ist primär durch ihre Gegenstände bedingt. Zwar beziehen sich die Sozialwissenschaften vorrangig auf Sozialgegenstände wie Familie, Gesellschaft, Politik usw., aber sie unterscheiden sich voneinander in einer weiteren Differenzierung ihrer Gegenstände und Methode. Die Vielfalt der Geisteswissenschaften, die durch die Spezifität ihrer Gegenstände entsteht, bildet – ebenso wie die Naturwissenschaften – eine primäre Art der kontextualen Grenzziehung und Autonomie. Allerdings scheinen die Geisteswissenschaften in ihrer neuzeitlichen Entwicklung einer zweiten Art der externen Kontextualisierung unterworfen zu sein. Diese entsteht tendenziell in der Philosophie, die – auch als Wissenschaft – die Gegenstände aller anderen Formen der Geistes- und Naturwissenschaften in sich einschließt. Als Grundwissenschaft scheint die Philosophie eine allumfassende Kontextualität aufzuweisen, obwohl ihre theoretischen und praktischen Teildisziplinen – Epistemologie, Ontologie, Logik, Ethik und Ästhetik – durch eine kontextuale Vielfalt und Abgrenzung gekennzeichnet sind. Die Geschichte der modernen Philosophie wurde aber durch keine einheitliche Kontextualität der Erkenntnistheorien charakterisiert. Die frühneuzeitlichen Philosophien wurden seit der kartesischen Grundlegung der Moderne hauptsächlich durch die Erkenntnistheorien initiiert, vorangetrieben und zugleich voneinander demarkiert. Als die wichtigste theoretische Basis liegt die Erkenntnistheorie allen anderen philosophischen Teildisziplinen zugrunde. Die Wissenschaft der Epistemologie hat zum einen die Erkenntnis selbst und zum anderen das subjektive Erkenntnisvermögen – und dessen verschiedene Funktionen – zum Gegenstand. Erkenntnis ist notwendigerweise die Erkenntnis eines Gegenstands. Aber das Erkenntnisvermögen als Gegenstand der Untersuchung gehört nicht zu der vom Subjekt abgeschiedenen Domäne des Objekts, sondern zu der Domäne des Subjekts selbst. Die Epistemologie, die in erster Linie das Erkenntnisvermögen des Subjekts untersucht, wird nur in geringerem Maße von der Einheit, Konstanz und der Ahisorizität der Naturgegenstände un109 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die interne und autonome Kontextualisierung der Wissenschaften
terstützt. Denn die Annahme des subjektiven Erkennens als Untersuchungsgegenstand scheint letztendlich kaum ein wertfreies und im Prinzip ahistorisches Wissenssystem zu ermöglichen, sondern sie scheint im philosophischen Diskurs jenes Glaubenssystem zuzulassen, das sich historisch entfaltet und die theoretischen und angewandten Bereiche der philosophischen Wissenschaften maßgeblich beeinflusst. Die bekannteste kontextuale Differenzierung in der frühneuzeitlichen Philosophie, nämlich zwischen Rationalismus und Empirismus, entstand ursprünglich aus den verschiedenen erkenntnistheoretischen Standpunkten, die sich auf die unterschiedlichen Vorstellungsweisen der Erkenntnisquelle bezogen. Das Angeborensein der Erkenntnisse im Subjekt bzw. die Apriorität der Erkenntnisse, die der Kartesianismus und der kontinentale Rationalismus vertraten, war gerade dem philosophischen Empirismus – der von Locke initiierten frühneuzeitlichen Denktradition in England – entgegengesetzt. Denn der Empirismus ging von der Gegebenheit der Erkenntnisquelle in der Erfahrung aus. Die historische Divergenz in der neuzeitlichen Philosophie zwischen Rationalismus und Empirismus basierte bekanntlich auf der Ursprungsproblematik der Erkenntnis, die eindeutig Gegenstand der Epistemologie war. Demnach entwickelte sich die frühneuzeitliche Epistemologie weniger im Rahmen einer kontextualen Einheit, als vielmehr im Rahmen einer kontextualen Differenz oder sogar Gegensätzlichkeit. In seiner Transzendentalphilosophie versuchte Kant die Divergenz dieser Denkschulen in der neuzeitlichen Epistemologie in einem einheitlichen System aufzuheben, das den Ursprung der Erkenntnis in einer synthetischen Verbindlichkeit zwischen beiden Quellen – dem subjektiv-apriorischen Erkenntnisvermögen und dem in der sinnlich-aposteriorischen Erfahrung gegebenen Gegenstand – festlegte. Die philosophisch-kontextuale Divergenz zwischen Rationalismus und Empirismus in der frühen Neuzeit lässt sich nicht allein auf einen Meinungsunterschied – bezüglich der Ursprungsquelle der Erkenntnis – zurückführen; ihr lagen bestimmte strategische Ansatzpunkte zugrunde, die vor allem in der praktischen Philosophie – in der Ethik – zum Vorschein kamen. Dagegen schienen in der theoretischen Epistemologie sowohl der Rationalismus als auch der Empirismus allgemeine, lediglich verschieden akzentuierte Annahmen zu vertreten (was Kant ihre Versöhnung in einem transzendentalphilosophischen System ermöglichte). Locke vertritt z. B die These einer völligen Gegebenheit der Erkenntnis in der Erfahrung nicht. Statt110 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Externe und interne Kontextualisierung
dessen werden in seinem philosophischen Empirismus etliche Grundprinzipien des Subjekts a priori anerkannt, anhand derer das Subjekt aus der Erfahrung heraus die Erkenntnisse entwickelt. Das lockesche Tabula Rasa ist nur scheinbar leer; in ihm sind die Potenziale des subjektiven Erkenntnisvermögens latent vorhanden. Aber Locke setzt sich entschieden gegen jenes dogmatische Aufoktroyieren der apriorischen Grundsätze in der Ethik und in der Logik, die der Rationalismus programmatisch durchzuführen schien, und versuchte dabei die Quellen der axiomatischen Erkenntnisse in der Erfahrung selbst festzustellen. Locke polemisiert genau genommen nicht gegen die Wissensbasis der Erkenntnisquellen (deren apriorischen Anteil er nicht bestreitet), sondern nachdrücklich gegen ein Glaubenssystem des vom Rationalismus vorangetriebenen Apriorismus in der Erkenntnistheorie, die sich in vielerlei Aspekten dem religiösen Dogmatismus nähert. Wenn die ethischen, aber auch logischen Grundsätze für im Subjekt angeboren gehalten werden, scheinen in dieser Vorstellung – nach Locke – die sehr subtilen Strategien des religiösen Dogmatismus zutage zu treten. Diese Art des Dogmatismus benutzt kein externes System für die Etablierung seiner Dogmen – wie es gewöhnlich im religiösen Dogmatismus geschieht –, sondern sie entwickelt den philosophischen Apriorismus als ein strategisches Prinzip, das die Menschen dazu veranlasst, die fast dogmatischen Überzeugungen zu verinnerlichen. Allem Anschein nach versuchte Locke – im Rahmen seines philosophisch-politischen Liberalismus – der Macht eines Glaubenssystems, die er in der historischen Etablierung des Rationalismus diagnostizierte, zu widerstehen. Sowohl der Rationalismus als auch der Empirismus haben das menschliche Erkenntnisvermögen zum Gegenstand. Diese Denktraditionen unterscheiden sich voneinander in der Vorstellungsweise des Erkenntnisvorgangs. In seiner Lehre des apriorischen Vorhandenseins der Erkenntnis im Subjekt nahm der Rationalismus bekanntlich eine radikale Haltung in Bezug auf den Ursprung der Erkenntnis ein, die auf die kartesische Differenzierung und Trennung zwischen Geist und Körper und die – sich daran anschließende – Vorstellung von der absoluten Gewissheit des Denkens gegenüber der in der sinnlichen Erfahrung gegebenen Körperwelt zurückzuführen ist. Der frühneuzeitliche Rationalismus wurde deutlich von einer ursprünglich kartesischen Grundannahme gekennzeichnet, nämlich dem Vorrang des allein subjektiven Denkens vor sinnlichen Erfahrungen im Erkenntnisprozess. Aber diese Erkenntnis 111 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die interne und autonome Kontextualisierung der Wissenschaften
setzt notwendigerweise den zu erkennenden Gegenstand voraus, der – als Naturgegenstand – nicht dem Subjekt angeboren, sondern unbedingt durch die sinnliche Erfahrung gegeben werden soll. Während Locke den Vorrang der sinnlichen Erfahrung vor dem diskursiven Denken betont, bestreitet er die erkennende bzw. die Erkenntnis erzeugende Funktion des Subjekts nicht, sondern er versuchte eine durchaus nicht schlüssige Annahme im Rationalismus – bezüglich des Ursprungs der menschlichen Erkenntnis – hervorzuheben und zu korrigieren. Was Locke dabei mit Nachdruck bekämpfte, war nicht den Rationalismus als Wissenssystem, sondern allein die Fakten des Glaubens, die er in der Erkenntnislehre des Rationalismus angesiedelt, ihr sogar zugrunde liegend sah. Die Wahrheit der rationalistischen Erkenntnislehre wurde von Locke in seinem philosophischen Empirismus nicht negiert, sondern erweitert bzw. durch eine Sinneslehre ergänzt. Bei näherer Betrachtung unternahm auch Kant einen analogen Versuch, obwohl er zugunsten des Rationalismus eine residuale Form des Apriorismus erneut zu vertreten schien. Im Unterschied zum tradierten Rationalismus und Empirismus vertrat der kantische Transzendentalismus gerade in Bezug auf den Ursprung der Erkenntnis zwar keine Annahme einer Vorrangigkeit des Denkens vor der sinnlichen Anschauung (oder umgekehrt), aber das transzendentalphilosophische System Kants baute offensichtlich auf dem Primat des subjektiv-apriorischen Denkens vor der sinnlichen Anschauung, in der die Gegenstände gegeben werden, auf. Denn die Erkenntnis ergibt sich aus einer transzendentalen Synthese, die vom Subjekt – und zwar apriorisch – geleistet wird. Demgemäß wird in der Vorstellung von der transzendentalen Einheit der Apperzeption vielmehr die apperzeptiv-synthetisierende Funktion des Subjekts und weniger die Gegebenheit gegenständlicher Perzeption betont. Wenn wir die neuzeitlichen Philosophien zunächst nicht von ihren historischen Kontexten aus betrachten, sondern unser Augenmerk auf die behandelten Gegenstände richten, erkennen wir, dass sie trotz ihrer kontextualen Differenzen viele Grundlagen gemeinsam haben. D. h. diese Philosophien unterscheiden sich weniger hinsichtlich ihrer Gegenstände, sondern vielmehr hinsichtlich ihrer Betrachtungsweisen, also in ihren subjektiven Perspektiven, die auch durch außernatürliche bzw. politische, soziale sowie religiöse Fakten, die im Prinzip in der theoretischen Philosophie ausgeschlossen sein sollten, bestimmt werden. Gerade wegen dieser gegenständlichen Einheit er112 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Externe und interne Kontextualisierung
weisen sich die postkartesischen Philosophien trotz ihrer kontextualen Differenzen bzw. ihrer Parteinahme für den Rationalismus, Empirismus, Transzendentalismus usw. in ihrer Gesamtheit als kartesisch, indem in ihnen die modale und ontologische Differenz zwischen Geist und Materie als eine im Allgemeinen anerkannte Voraussetzung und Prämisse zum Vorschein kommt. Während die Gemeinsamkeit dieser Philosophien auf der Einheit ihres Gegenstands basiert, lässt sich ihre kontextuale Differenz auf die verschiedenen subjektiven Betrachtungsweisen oder Perspektiven zurückführen. Gegenüber der Einheit der Gegenstände erweist sich die subjektive Betrachtung, die sich dem Standpunkt gemäß ändert, als perspektivisch. Von verschiedenen Perspektiven aus kann derselbe Gegenstand in modal unterschiedlichen Charakteristiken in Erscheinung treten, aber er bleibt derselbe Gegenstand. Die Einheit der philosophischen und wissenschaftlichen Gegenstände ist demnach eher ontologisch, und zwar objektiv-ontologisch bedingt, wogegen ihre Erkenntnisse den subjektiv-epistemologischen Perspektiven und deren historischen Kontexten unterworfen werden können. Im Prinzip sollten die ontologische Einheit und Konstanz des Gegenstands eine analoge Einheit seiner philosophisch-wissenschaftlichen Erkenntnis epistemologisch voraussetzen. Denn die Finalität der Erkenntnis wird unabhängig von ihren subjektiv-epistemologischen Rahmenbedingungen letztendlich durch die ontologische Finalität des Erkenntnisgegenstands festgelegt. Aber wenn der Erkenntnisgegenstand der menschliche Verstand selbst ist, wird es – im Unterschied zu Naturgegenständen – immer schwieriger, die Einheit der philosophisch-wissenschaftlichen Gegenständlichkeit anzunehmen. Denn der menschliche Verstand ist im Grunde subjektiv, obwohl er ein Gegenstand der philosophisch-wissenschaftlichen Untersuchung sein kann. Bei der Untersuchung des Erkenntnisvermögens, wie es am Beispiel der vorher erörterten philosophischen Untersuchungen in der Neuzeit dargestellt wird, vergegenständlicht sich das Subjekt selbst. Ebenso erschwert uns das überwiegende Faktum des Subjekts in geisteswissenschaftlichen Gegenständen – Gesellschaft, Kunst, Kultur, Politik usw. – die Annahme einer objektiv-ontologischen Einheit des Untersuchungsgegenstands. Denn die Gegenstände der Geisteswissenschaften sind an sich Produkte der subjektivepistemologischen Prozesse in der Geschichte und verleibten sich ursprünglich keine Einheit, sondern eine Vielfalt der kulturanthropologischen Ausdrucksformen ein. Aus diesem Grund sind die Geistes113 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die interne und autonome Kontextualisierung der Wissenschaften
wissenschaften – einschließlich der Philosophie – im Vergleich zu den Naturwissenschaften der oben erörterten eher externen historischen Kontextualisierung unterworfen. Die Einheit der naturwissenschaftlichen Gegenstände und ihre – daran anschließende – Ahistorizität sollten die Naturwissenschaften von jener tendenziellen historischen Kontextualisierung fernhalten. Die historische Auseinandersetzung zwischen dem Rationalismus und dem Empirismus, die im neuzeitlich-philosophischen Diskurs von der Frage nach der Erkenntnisquelle ausging, schien während der historisch-parallelen Entwicklung der Naturwissenschaften in der Frühneuzeit nicht zu gelten. D. h. die Entwicklung der Naturwissenschaften – der Mechanik, Physik, Chemie oder Biologie – in der frühen Neuzeit kann nicht der historischen Kontextualität des Rationalismus oder Empirismus untergeordnet werden. Allerdings wurden die Naturgegenstände in der Entwicklungsgeschichte der Naturwissenschaften selten in ihrer vom Subjekt völlig abgeschiedenen Einheit und Autonomie behandelt, sondern zumeist auch im Rahmen der subjektiven Betrachtungs- und Behandlungsweisen beleuchtet. Daher unterscheiden sich innerhalb derselben naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Mechanik oder der Physik die apriorischmathematischen von den empirisch-aposteriorischen und experimentellen Methoden. In der newtonschen Methodik der geometrisch-mathematischen Demonstrationen – in Principia – hatte bekanntlich die rationale Mechanik ihren Höhepunkt. Dagegen schien die hookesche Bevorzugung der experimentellen Methode in der Mechanik eher zu einer empirischen Tradition dieser Wissenschaft in der frühen Neuzeit zu gehören. Dass dieselbe Wissenschaft der Mechanik zugleich den mathematischen und den experimentellen Methoden unterworfen wurde, scheint auf eine analoge Kontextualität und kontextuale Differenzierung – wie zwischen dem Rationalismus und dem Empirismus in der Philosophie – auch im Bereich der Naturwissenschaften zu verweisen. Die sogenannten Gedankenexperimente, treffend dargestellt in der Frühneuzeit bei den Methoden von Descartes und Galileo, wären in diesem Zusammenhang ein interessanter Untersuchungsgegenstand. Gedankenexperimente sind empirische Intuitionen, die aber rein gedanklich bzw. imaginativ und als solche apriorisch entwickelt werden. Historisch ist bekannt, dass die galiläischen experimentellen Methoden in der Wissenschaft der Mechanik zum großen Teil nicht in die Praxis umgesetzt wurden, sondern sich allein 114 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Externe und interne Kontextualisierung
auf Gedankenexperimenten beschränkten. 9 Dennoch kann die in der Frühneuzeit weitgehend praktizierte Methode der Gedankenexperimente kaum einer Tradition der rationalen Mechanik zugeschrieben werden. Denn die Gedankenexperimente kommen innerhalb intuitivapriorischer Erfahrung zustande, die zugleich deren Übereinstimmung mit der sinnlich-aposteriorischen Erfahrung der Phänomene – als Modus ihrer apodiktischen Gewissheit – voraussetzt. Die Apodiktizität der philosophisch-wissenschaftlichen Axiome besagt in erster Linie die Übereinstimmung der subjektiv-apriorischen Vorstellung einer Erkenntnis mit ihrer phänomenalen Gegebenheit. Diese Übereinstimmung kommt zunächst einzelsubjektiv und des Weiteren kollektiv zustande. Sowohl die einzelsubjektive als auch die intersubjektive Übereinstimmung zwischen der Erkenntnis und der erkannten Phänomenalität – die die synthetische Einheit der Apperzeption im kantischen System andeutet – setzt im Prinzip die Einheit des Erkenntnisgegenstands voraus. Mit anderen Worten: Es ist die Einheit des Phänomens, die das Einzelsubjekt und die kollektiven Subjekte zu einer einheitlichen Erkenntnis veranlasst. Wie zuvor erörtert wurde, variiert jedoch die Einheit des Gegenstands selbst gemäß ihrer Natur. Während sich die Einheit der Naturgegenstände aufgrund ihrer völlig abgeschiedenen Existenz vom Subjekt mehr oder weniger als vollkommen erweist, wird die Einheit der geisteswissenschaftlichen Gegenstände, die ursprünglich vom Subjekt selbst erzeugt werden, kontextual bedingt und entwickelt sich als solche historisch. Die einzelsubjektive und intersubjektive Übereinstimmung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mit ihrer gegenständlichen Phänomenalität überwindet demnach alle ethnischen, kulturellen sowie sozial-politischen Barrieren und wird als universal gültiger und unveränderlicher Grundsatz angenommen. D. h. die einzelsubjektive Übereinstimmung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mit der Phänomenalität der Naturgegenstände entfaltet sich zu einer universalen Erkenntnis. Für die Wissenschaftler der praktischen und angewandten Philosophie – also für die Soziologen, Ethnologen, Politologen, Kulturund Kunstwissenschaftler u. a. – bleibt es eine Herausforderung, den Vgl. dazu Kuhn, Thomas: Eine Funktion für das Gedankenexperiment, in: Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, hrsg. von Lorenz Krüger und übers. von Hermann Vetter, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997, S. 327 f.
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Die interne und autonome Kontextualisierung der Wissenschaften
einzelsubjektiven Überzeugungen Allgemeinheit und Universalität zu verleihen und sie dadurch epistemologisch zu axiomatisieren. Denn ihre Gegenstände sind von vornherein kontextual bedingt. Die Natur in westlichen und in orientalischen Räumen ist denselben naturwissenschaftlichen Gesetzen unterworfen, aber die Kulturen in diesen Räumen unterscheiden sich in vielerlei Kontexten voneinander. Demnach versuchten die Philosophen in der Geschichte, aus der großen Vielfalt der kulturanthropologischen Formen und menschlichen Naturen einheitliche und universale Wesenszüge herauszuarbeiten. Besonders die Tradition des Rationalismus neigte historisch zur Vereinheitlichung der philosophischen Gegenstände, wogegen die Tradition des Empirismus von der Vielfalt der Phänomene und ihrer unmittelbar erfahrbaren Unterschiede ausging. 10 Während Kant die theoretischen Erkenntnisprinzipien sowie die praktischen Moralprinzipien im Allgemeinen als interne bzw. der menschlichen Natur – unabhängig von ihrer phänomenalen Vielfalt – angeborene Prinzipien feststellt, versucht Hobbes zur Legitimierung und Etablierung der Moralprinzipien und -gesetze ein externes – aber vom Menschen geschaffenes – System des Staats zu beauftragen. Der hobbessche Staat verleibt die Menschen ein, die diese intersubjektiven und kollektiven Übereinstimmungen als Erkenntnisformen, dargestellt vor allem im Moralsystem, innerhalb der Gesellschaft zu etablieren versuchen. Derartige epistemologische Übereinstimmungen erschaffen eher externe Kontexte, die den Erkenntnisgegenständen – hier den Subjekten eines Staats – aufoktroyiert werden. Die Übereinstimmung der Subjekte – über die Einheit der Erkenntnisgegenstände – bildet daher ein eher externes Faktum der Erkenntnisse, das notwendigerweise durch ein internes und autonomes Faktum des Objekts ergänzt werden soll, damit die subjekti-
Diese perspektivische Differenz zwischen Rationalismus und Empirismus kam am deutlichsten zum Ausdruck in der Debatte zwischen Locke und Leibniz bezüglich des Angeborenseins der Erkenntnisse bzw. der Apriorität der philosophischen und wissenschaftlichen Grundsätze. Während Leibniz zugunsten seines Rationalismus zu einer Vereinheitlichung der menschlichen Naturen neigt und folglich von einem einheitlichen philosophischen Gegenstand, nämlich dem universalen Menschen, ausgeht, widersetzt Locke sich derart tendenzieller Homogenisierung der menschlichen Naturen in einer einheitlichen Entität. Locke betrachtet den Menschen vielmehr in seiner phänomenal-existierenden Vielfalt – als Mann und Frau, Kinder und Erwachsenen, Afrikaner und Europäer usw. – die sich in erster Linie unmittelbar erfahren lässt.
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ven Erkenntnisse ihre synthetische Einheit mit der erkannten Welt erlangen. Allerdings neigten die inter- und kollektivsubjektiven Übereinstimmungen bekanntlich zur Etablierung jenes Glaubenssystems in der Geschichte – nicht nur in den praktischen, sondern auch in den theoretischen Bereichen der Philosophie –, das im Unterschied zum Wissenssystem die Einheit und Universalität der Erkenntnisse kaum gewährleisten konnte. Auch im Rahmen der historisch-kontextualen Differenzierung in der frühneuzeitlichen Philosophie zwischen Rationalismus und Empirismus lässt sich die Wirkung des Faktums des Glaubens nicht übersehen. Wir haben bereits erörtert, dass diese scheinbar entgegengesetzten Denktraditionen als Wissenssysteme einige grundlegende und vor allem gegenständliche Einheiten und Gemeinsamkeiten vorweisen. Aber sie etablierten sich historisch nicht nur als Wissenssysteme, sondern auch als gewisse Glaubenssysteme, die sich zu externen Kontexten entfalteten. Sowohl dem Rationalismus als auch dem Empirismus als philosophisch-historischen Kontexten scheint in dieser Weise eher ein Glaubenssystem, dargestellt in der inter- und kollektivsubjektiven Übereinstimmung und ihrer externen Auswirkung, zugrunde zu liegen – obwohl sie die Objektivität eines Wissenssystems als erkenntnistheoretische Basis beanspruchten. Die meisten späteren wissenschaftlichen Denktraditionen oder -schulen in der Neuzeit, vorzüglich in geistes- und kulturwissenschaftlichen Bereichen, haben im frühneuzeitlichen Rationalismus und Empirismus ihre Protoformen. Sie alle beanspruchten die Wahrhaftigkeit ihrer Erkenntnisse und der – daran anschließenden – Gewährleistung der Einheit und Allgemeinheit ihrer Gegenstände, aber sie waren in Wirklichkeit allein kontextual bedingt. Die allgemein bekannten Denktraditionen und -schulen in der Neuzeit könnten demnach als externe, auf kollektiv-subjektiven Übereinstimmungen basierende historische Kontexte bestimmt werden. Die externe Art der Kontextualisierung, die in der späteren Phase der Neuzeit eine große Vielfalt von wissenschaftlichen Kontexten hervorbrachte, schien von vornherein keine einheitliche, sondern eine duale Natur in sich einzuschließen, wie sie bereits in ihren oben erörterten Protoformen des Rationalismus und Empirismus zum Ausdruck kam. Besonders seit der Spätmoderne – dem 19. Jahrhundert –, die den Aufgang zahlreicher Disziplinen der Natur-, Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften erfuhr, entstanden im Rahmen wissenschaftlicher Kontexte mehrere Dualismen, die zum Teil auch lediglich verschiedene Ausdrucksweisen derselben oder analogen wis117 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
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senschaftlichen Kontextualität waren. Die Gegensätzlichkeit zwischen den späteren Denkschulen wie dem Idealismus und Materialismus, deren ursprüngliche Verwandtschaft mit dem Rationalismus und Empirismus kaum zu übersehen ist, schien dem Dualismus analoger Paare der wissenschaftlichen Kontexte wie Mentalismus und Physikalismus zugrunde zu liegen. Daraus ergaben sich auch sowohl die absolut entgegengesetzten als auch die eher ineinander übergehenden wissenschaftlichen Kontexte. Der Epiphänomenalismus unterschied sich – im Rahmen der tradierten gesamt-neuzeitlichen Diskurse über den Geist-Seele-Dualismus – zwar von den reduktionistischen Kontexten wie dem Mentalismus und Materialismus, aber dieser Kontext ist wiederum ein Versuch, zwischen diesen entgegengesetzten Denkschulen einen Übergang zu schaffen, indem er die leibliche Verursachung der mentalen Phänomene anerkennt aber zugleich den umgekehrten Kausalnexus, nämlich die mentale Verursachung leiblicher Willensakte, verneint. Die externen Kontexte betrachten die wissenschaftlichen Gegenstände und ihre Phänomenalität nicht einheitlich, sondern eher perspektivisch. Die Perspektiven sind verschiedene Betrachtungsweisen, die die wissenschaftliche Phänomenalität zwar unterschiedlich interpretieren und definieren, die aber die Einheit der Phänomene – gegenüber der Vielfalt der Subjekte – kaum ausschließen, wie vorher erörtert wurde. Die Wahrhaftigkeit der externen Kontexte wird zwar in erster Linie durch ihre Apodiktizität bzw. ihre synthetische Verbundenheit mit der Phänomenalität geprüft, aber sie würde sich tendenziell auf alle Fakten der Phänomene und ihrer Objektivität beziehen. D. h. sie könnte sich als perspektivisch erweisen, indem das Subjekt versucht, zunächst den Gegenstand selbst zugunsten seiner Betrachtungsweise zu modulieren. Auch wenn man alle Argumente für oder gegen den Geist-Seele-Dualismus von verschiedenen wissenschaftlichen Kontexten wie dem Materialismus, Mentalismus, Epiphänomenalismus, Reduktionismus, Biologischem Naturalismus usw. anhört und von jedem dieser Argumente einigermaßen überzeugt wird, bleibt ein objektives Faktum des Rätsels übrig, und zwar erstens die Frage danach, was tatsächlich die Art und Weise der modalen und ontologischen Trennung zwischen Leib und Seele ist und zweitens wie die unmittelbar erfahrene beidseitige Kausalverbindung zwischen Leib und Seele entsteht. Abgesehen von seinen subjektivperspektivischen Erkenntnissen gehört dieses Rätsel letztendlich zu der objektiven Phänomenalität. 118 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Externe und interne Kontextualisierung
Die von subjektiven Betrachtungsweisen unabhängige Einheit der wissenschaftlichen Gegenständlichkeit veranlasst uns, eine sich von den geläufigen externen Kontexten wesentlich unterscheidende Art der wissenschaftlichen Kontextualität, die sich aus internen bzw. dem wissenschaftlichen Gegenstand immanenten Prinzipien heraus entwickelt, vorzustellen. Besonders die frühneuzeitliche Entwicklung der Naturwissenschaften scheint an erster Stelle durch eine derartige interne, auf den Wissenschaftsgegenstand und seine Domäne bezogene Kontextualität charakterisiert zu werden. Die frühneuzeitliche Entwicklung der naturwissenschaftlichen Disziplinen und ihre historische Entfaltung – sowohl durch disziplinäre Demarkierung oder Grenzziehung als auch durch interdisziplinäre Übergänge – definieren jene interne, der Wissenschaft objektiv eigene Kontextualität, die ihre Bezeichnung selbst ist. Eine Wissenschaft Mechanik oder Physik zu nennen und sie von einer anderen Wissenschaft wie der Chemie oder der Biologie zu demarkieren, besagt letztendlich einen Prozess der internen bzw. auf die Wissenschaftsgegenstände und ihre Domäne bezogene Kontextualisierung, die sich – ebenso wie die oben erörterte externe und eher paradigmatische Kontextualisierung – als historisch erweist. Die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen als verschiedene interne Kontexte beziehen sich demnach auf die ontologisch einheitlichen Wesenszüge der Wissenschaftsgegenstände, die die objektive Domäne der Wissenschaft definieren. Die gegenständlichdomaniale Einheit einer Wissenschaft ist eine unter vielen solchen Einheiten im Reich der Materie. Während die Wissenschaft der Mechanik auf wenigen grundlegenden Entitäten wie Körper, Freiraum, Kräfte und Bewegung aufbaut, untersuchen die materiellen Wissenschaften wie die Physik oder die Chemie auch die materielle Innenstruktur der Körper. Zwar sprengt die Untersuchung der animalischen Kräfte in einem lebendigen Körper den Rahmen der frühneuzeitlichen Klassischen Mechanik, aber diese Wissenschaft reduziert tendenziell alle Phänomene auf leblose Körper und Kraftkonstellationen – und zwar in Anlehnung an die kartesische Absonderung des Geistes vom Körper. Während die Einheit des Körperbegriffs die wissenschaftliche Domäne der Mechanik bestimmt, schließt diese Einheit verschiedene Einheiten der innen-materiellen bzw. molekularen, atomaren und subatomaren Einheiten in sich ein, die die anderen materiellen Wissenschaften zum Gegenstand haben. Daher ist die Mechanik – auch im Unterschied zur Physik – streng 119 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
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genommen keine materielle Wissenschaft, sondern eine Wissenschaft der körperlichen Phänomene. Die Einheit der Materie lässt sich bekanntlich in verschiedene ontologische Kategorien zerlegen – als biologische, anorganisch- und organisch-chemische, atomare, subatomare usw. Diese materiell-ontologischen Kategorien bilden wissenschaftlich-gegenständliche Einheiten, die die Gesamtstruktur der materiellen Wirklichkeit ausmachen. D. h. sie sind verschiedene Modi der Wirklichkeit, die an sich eine ontologische Einheit aufweisen, aber die in die Gesamtstruktur der materiellen Wirklichkeit integriert sind. Z. B. bilden die Zellen eine gegenständliche Einheit im Rahmen der Wissenschaft der Biologie; ihr wohnt aber eine Struktur der verschiedenen materiellen Einheiten wie die organischen Verbindungen, anorganischen Atome bis hin zu subatomaren Teilchen inne. Die materielle Einheit baut daher auf einer strukturellen Integration von verschiedenen materiellen Einheiten auf, indem die elementaren materiellen Entitäten (wie die subatomaren Teilchen, Atome oder Moleküle) komplexere materille Einheiten ontologisch verursachen. Die gesamte Domäne der organischen Chemie – mit zahllosen organischen Verbindungen – baut auf wenigen anorganisch-atomaren Elementen wie C, H, O, N oder P auf. Anders ausgedrückt: Die große Vielfalt organischer Verbindungen wird durch wenige anorganisch-atomare Elemente ontologisch verursacht. Wir können auch das mentale Phänomen dieser scheinbar hierarchischen Struktur der ontologisch-kausalen Verbindungen zwischen den materiellen Einheiten zuordnen, indem es neuronal bzw. durch das Gehirn, dem verschiedene materielle Einheiten von zellbiologischen Neuronen bis hin zu subatomaren Teilchen zugrunde liegen, ontologisch verursacht wird. Die kartesische Differenzierung zwischen Geist und Körper, die letztendlich die historische Divergenz der Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften initiierte, weist grundsätzlich eine kontextuale Kategorisierung der Gesamtstruktur unserer Wirklichkeit (die auf einem synthetischen Nexus zwischen Subjekt bzw. subjektiven Wahrnehmungen und Erkenntnissen und den wahrgenommenen und erkannten Gegenständen aufbaut) in zwei Domänen auf – in die Domäne des Geistes und des Körpers. Der Körper, dem Descartes eine rein objektive Eigenschaft, die res extensa, zuschreibt, bildet demnach eine einheitliche Kontextualität, die der kartesischen Mechanik – sowie der frühneuzeitlichen Mechanik insgesamt – als Basis diente. Die weiteren naturwissenschaftlichen Kontexte – als Physik, Chemie, 120 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Externe und interne Kontextualisierung
Biologie usw. – entstanden im Verlauf der Geschichte aus den materiellen Einheiten, die ursprünglich einer gesamt-kontextualen Einheit des Körpers subsumiert wurden. 11 Die Zerlegung der körperlichen Einheit in eine materiell-wissenschaftliche Vielfalt von Einheiten wurde auch dadurch historisch veranlasst, dass sich manche Grundphänomene der Natur – wie der Magnetismus, die Gravitation oder das Licht – anhand der äußerst reduktionistischen Prinzipien der kartesisch-klassischen Mechanik nicht hinreichend erklären ließen. Indem die gegenständliche Einheit – und nicht die subjektive Betrachtungsweise – die interne bzw. domanial autonome Kontextualität der Naturwissenschaften historisch bestimmte, schienen die Naturwissenschaften den externen und subjektiv-paradigmatischen historischen Kontexten wie dem Rationalismus und Empirismus kaum unterworfen zu werden. Obwohl eine eher methodologische Unterscheidung zwischen der mathematischen und der experimentellen Wissenschaft auch im Rahmen der frühneuzeitlichen Entwicklung der Klassischen Mechanik durchaus plausibel ist, lässt sie sich kaum mit der kontextualen Differenzierung zwischen Rationalismus und Empirismus gleichsetzen. Denn den mathematischen Demonstrationen der mechanischen Philosophie liegt notwendigerweise die sinnliche bzw. visuelle Intuition der Mechanischen Krafts- und Bewegungsstrukturen zugrunde; umgekehrt werden die mechanischen Prinzipien und Gesetze aus den objektiv-experimentellen Demonstrationen ebenso durch eine strukturelle Intuition abstrahiert. Da die naturwissenschaftlichen Gegenstände sich als einheitlich und ahistorisch zeigen (wie bereits dargelegt wurde), sollte sich im Prinzip die hier definierte interne Kontextualität der Naturwissenschaften als historisch konstant und folglich als ahistorisch erweisen. Denn die historische Änderung und Entwicklung der internen wissenschaftlichen Kontexte kann somit eine wesentliche Verwandlung der Wissenschaftsgegenstände hervorbringen. Die historische Konstanz der internen, auf den Gegenstand bezogenen Kontextualität sollte demnach die Vorherrschaft und Nachhaltigkeit der frühneuzeitlichen Wissenschaften ein für alle Mal gewährleisten. Der Reduktionismus Dies schien die spätere geschichtliche Entwicklung einer der wichtigen materiellen Wissenschaften wie der Chemie oder Biologie zu erklären. Um eine spätere Entfaltung der materiellen Wissenschaften zu ermöglichen, war es nötig, den allgemeinen oder allumfassenden Kontext des Körpers und seine Einheit in der ursprünglichen Mechanischen Philosophie der Frühneuzeit in verschiedene materiell-ontologische Einheiten zu zerlegen.
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in einer Grundwissenschaft wie der Klassischen Mechanik richtete sich offensichtlich auf eine solche Gewährleistung der historischen Konstanz ihrer Gegenstände, nämlich die Konstanz von Raum, Körper, Kraft und Bewegung. Allerdings vermochten diese Gegenstände ihre historische Unveränderlichkeit kaum zu bewahren und erwiesen sich demnach gewissermaßen als historisch. Denn der Raum als Gegenstand der Geometrie blieb der Historizität der apriorischen Wissenschaft der Geometrie untergeordnet. Ebenso wurde die Einheitlichkeit der Körper durch die Entwicklung der materiellen Wissenschaften in eine große Vielfalt von ontologischen Wesenseinheiten unterteilt. Aber es war die historische Entwicklung der Geometrie als eine apriorische Wissenschaft – basierend auf der historischen Umwandlung der Raumvorstellung –, die die mechanische Vorstellung von der Phänomenalität der Welt maßgeblich veränderte. Drei historische Phasen der Entwicklungsgeschichte der Geometrie sind in diesem Bezug festzustellen: 1. Die antike synthetische Geometrie, die – wie Panofsky es betrachtet – auf der Vorstellung von einem euklidischen und begrenzten Aggregatraum aufbaute, 12 2. die frühneuzeitlich-kartesische analytische Geometrie, die den unbegrenzten analytischen Raum als Basis hatte und 3. die spätneuzeitliche nichteuklidische Geometrie, die eine nichteuklidische Raumvorstellung voraussetzte. Dieser historisch-kontextualen Umwandlung der Wissenschaft der Geometrie entsprechend, entstand die historisch-kontextuale Entwicklung der Mechanik – von der antik-aristotelischen zur kartesisch-newtonschen Klassischen Mechanik und schließlich zur einsteinschen Mechanik. Hier wird deutlich, wie die Historizität der Vorstellung vom Wissenschaftsgegenstand die Historizität der Vgl. Panofsky, Erwin: Perspektive als Symbolische Form, Deutschsprachige Aufsätze II, hrsg. von Karen Michels und Martin Warnke, Akademie Verlag, Berlin 1998, S. 699–700. »… ebenso wenig wie dieser Systemraum den Künstlern der Antike vorstellbar war, ist er den Philosophen der Antike denkbar gewesen (daher es als geradezu unmethodisch erscheinen müßte, wenn man die Frage ›ob die Antike eine Perspektive gehabt habe?‹ noch immer, wie in den Tagen Perraults und Salliers, Lessings und Klotzens, mit der Frage identifizieren wollte: ›ob die Antike unsere Perspektive gehabt habe?‹). Denn, so verschiedenartig die Raumtheorien der Antike auch gewesen sind, keine von ihnen dazu gelangt, den Raum als ein System von bloßen Relationen zwischen Höhe, Breite und Tiefe zu definieren, so daß (sub specie eines ›Koordinatensystems‹) der Unterschied zwischen ›vorn‹ und ›hinten‹, ›hier‹ und ›dort‹, ›Körper‹ und ›Nichtkörper‹ sich in dem höheren und abstrakteren Begriff der dreidimensionalen Ausdehnung oder gar, wie Arnold Geulincx es ausdrückt, des ›corpus generaliter sumptum‹ aufgelöst hätte«. Vgl. auch PMS, S. 248–249.
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internen bzw. objektiv-domanialen Kontextualität der Naturwissenschaften mitbestimmt. Der Übergang von der antiken synthetischen zur frühneuzeitlich-kartesischen analytischen Geometrie ereignete sich allerdings im unveränderlichen Rahmen der euklidischen Raumvorstellung. D. h. die Struktur des euklidischen Raumes bzw. seine ontische Existenzweise blieb in der antiken synthetischen und in der modernen analytischen Geometrie intakt; die Andersartigkeit der kartesischanalytischen gegenüber der antiken synthetischen Geometrie bezog sich hauptsächlich auf den Modus der Dimensionierung des Raumes, auf die Vorstellung ihrer Unbegrenztheit usw. Aber die nichteuklidische Geometrie des 19. Jahrhunderts setzte eine radikal andere ontische Struktur des Raumes voraus. Diese völlige Umwandlung der Raumvorstellung fand deren treffendsten Ausdruck in der relativistischen Umdeutung der physikalischen Phänomenalität der Gravitation in der einsteinschen Kosmologie. Die tradierte newtonsche Vorstellung von der zentripetalen Anziehungsnatur einer Universalgravitation wurde im einsteinschen Weltbild durch eine eher periphere gravitationelle Krümmung des Raumes ersetzt, die sich im Grunde als eine nichteuklidische Raumkrümmung erweist. Schließlich stellte Einstein fest, dass die der Gravitation immanente Raum-Zeit-Krümmung im Wesentlichen ein geometrisches – und zwar ein nichteuklidisch-geometrisches – Phänomen ist. 13 Dabei wurde der Gravitation Vgl. Hoffmann, Banesh: Albert Einstein. Schöpfer und Rebell, Zürich 1976, S. 141–142: »Auf der zweidimensionalen, glatten Meeresoberfläche wird ein Standort üblicherweise durch Koordinaten, die man Länge und Breite nennt, angegeben. Angenommen ein Boot unternimmt einen Ausflug, von dem man die Anfangs- und Endpositionen in Längen und Breiten kennt. Falls das Boot die kürzeste Route wählt, können wir die wirkliche Distanz, die es auf der Oberfläche zurücklegt, mittels einfacher Algebra berechnen, und dies obwohl weder die Veränderung der Länge noch die Veränderung der Breite eine Distanz ist. Die direkte Umwandlung dieser kombinierten kleinen Koordinaten-Veränderungen in die zurückgelegte Distanz wird durch den der zwei-dimensionalen Oberfläche zugehörigen metrischen Tensor ermöglicht. 1827, lange bevor die Idee der Tensoren aufkam, hatte der große deutsche Mathematiker Carl Friedrich Gauß in Göttingen gezeigt, dass in diesem metrischen Tensor tiefere geometrische Informationen enthalten sind. Wenn wir den Tensor einer ziemlich komplizierten mathematischen Operation unterziehen, können wir in diesem Fall daraus erfahren, dass die Oberfläche, auf der wir uns befinden, eher gekrümmt ist wie der Teil einer Kugeloberfläche, nicht wie der eines Sattels und auch nicht flach ist, wie das Stück einer Ebene. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass diese Aussage auf der wahren Geometrie der Oberfläche beruht und auf nichts außerhalb dieser Oberfläche Bezug nimmt. Falls Einsteins Intuition ihn nicht irreführte und sein noch un-
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allem Anschein nach eine – besonders bei Newton festgestellte – mechanische Phänomenalität entzogen und stattdessen ein rein geometrischer Zug verliehen. Uns bleibt es bis heute ein Rätsel, ob der Raum gemäß dem historisch-kontextualen Übergang der newtonschen Himmelsmechanik in die einsteinsche Himmelsphysik zugleich als euklidisch und als nichteuklidisch existieren kann. Hier müssen wir die objektive Phänomenalität des Raumes von seiner subjektiv-paradigmatischen Vorstellbarkeit unterscheiden. Die von Newton etablierte mathematische Apriorisierung der Mechanik wurde stillschweigend auf der Annahme gegründet, dass die subjektive Vorstellbarkeit des Raumes ihre objektive Phänomenalität bestimmt. In Wirklichkeit sollte diese strategische Annahme in den Raumwissenschaften umgekehrt werden: Die apriorische Raumvorstellung entwickelt sich primär aus der aposteriorischen Raumerfahrung. Darauf verweist Herrmann von Helmholtz in seiner berühmten Abhandlung Über den Ursprung der Geometrischen Axiome – allerdings zur Verteidigung des nichteuklidischen Raumes und der nichteuklidischen Geometrie, die sich erst zu seiner Zeit – in den Werken von Gauß, Riemann u. a. – zur Blüte entfaltete. Hier ist es wichtig zu erwähnen, dass die Vorstellungen von der nichteuklidischen Räumlichkeit und den zweidimensionalen Lebewesen (die auf kugel- oder eiförmigen Oberflächen leben), wodurch Helmholtz die Legitimität der nichteuklidischen Raumvorstellung und der Geometrie zu etablieren sucht, 14 letztendlich rein hypothetische Denkkonstrukte sind, die keine physikalische Phänomenalität bzw. objektive Existenz haben können. Die grundlegende Korrelation zwischen apriorischer Vorstellung und aposteriorischer Erfahrung in der Raumvorstellung schien nur bis zu den frühneuzeitlich-klassischen Raumwissenschaften (Geometrie, Mechanik und Optik) tradiert zu sein. Während die kartesische analytische Geometrie lediglich einen ausgedehnten und homogenen Allgemeinraum voraussetzte und die ebenso homogene und unbegrenzte Raumvorstellung in der Philosophie Descartes – sowie in der newtonschen geprüftes Äquivalenzprinzip vertrauenswürdig war, musste der metrische Tensor der vier-dimensionalen Raum-Zeit, d. h. der Tensor, der die Koordinaten der vier-dimensionalen Raum-Zeit mit Messungen verknüpft, eben jene Größe sein, wodurch sich die Gravitation darstellen ließ. Daraus ergab sich der bedeutende Schluss, dass die Gravitation etwas fundamental Geometrisches sein muss.« 14 Vgl. Helmholtz, Herrmann: Über den Ursprung und Bedeutung der geometrischen Axiome, Comenius Verlag, Berlin 1950, S. 25 f.
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Mechanik (dargestellt durch die Grundvorstellung vom absoluten Raum) – vertreten wurde, blieb die moderne Raumvorstellung erneut in einer Korrelation mit dem irdisch erfahrbaren euklidischen Raum. Dagegen schien die nichteuklidische Raum-Zeit-Krümmung durch die Gravitation, wie sie von Einstein postuliert wurde, eine rein apriorisch vorgestellte Phänomenalität der Gravitation vorauszusetzen. Die kontextualen Umdeutungen in der Entwicklungsgeschichte der Naturwissenschaften berührt aber die Einheit ihrer Gegenstände nicht; sie bezieht sich wiederum auf die subjektive Vorstellung von dem wissenschaftlichen Gegenstand, die sich historisch ändert. Daher lässt sich der Übergang der newtonschen in die einsteinsche Himmelsmechanik eher einer externen historisch-paradigmatischen Kontextualisierung zuschreiben, obwohl sie scheinbar aus neuen oder neugestalteten Gegenständen der Wissenschaft entsteht. Wenn auf alle subjektiven Deutungen der Wissenschaftsgegenstände verzichtet und die von diesen Deutungen unabhängige Einheit des Gegenstands erneut berücksichtigt wird, erwacht immer wieder die Macht einer internen autonomen bzw. allein auf den Gegenstand bezogenen Kontextualisierung, die einige Prämissen und Schlussfolgerungen in der Wissenschaftsgeschichte, die durch die externe subjektiv-paradigmatische Kontextualisierung unterdrückt, vernachlässigt oder verschleiert worden sind, wiederbeleben und darauf ein neues Wissenssystem errichten würde. Ebenso kann die interne Kontextualisierung den Rahmen einer externen Kontextualität, die historisch der Wissenschaftsstruktur aufoktroyiert wird, sprengen und die Wissenschaft folglich erneut zu disziplinären Grenzziehungen und zu interdisziplinären Grenzübergängen veranlassen. Die interne Kontextualisierung basiert eher auf den ontologischen Wesenszügen des Wissenschaftsgegenstands, die seiner Erkennbarkeit Grenzen ziehen und demnach die Finalität der axiomatischen Erkenntnisse absichern. Bei der Axiomatisierung scheint in dieser Weise die ontologische Einheit des Wissenschaftsgegenstands der Vielfalt der epistemologischen Wissenschaftsparadigmen entgegengesetzt zu sein.
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Kapitel 3 Micrographia und Principia – Entstehung der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie
Die virtuellen und die realen Experimente In der frühneuzeitlichen Wissenschaftspraxis zeigte sich die mechanische Intuition – oder die Intuition in mechanischen bzw. statischen und dynamischen Strukturen – in ihren operationalen Modalitäten kaum als einheitlich; sie bildete den wesentlichen Bestandteil sowohl für die induktiv-experimentellen als auch für die deduktiv-apriorischen Methoden. Daher lassen sich die geometrischen, mechanischen und optischen Intuitionen, wie sie besonders bei der Axiomatisierung der Grundvorstellungen in diesen Wissenschaftsbereichen in der Frühneuzeit praktiziert wurden, in die geläufige Differenzierung zwischen Induktion und Deduktion mit einbeziehen, um dadurch ihre operationale Vielfalt zu bestimmen. Die Intuition schien einem anderen philosophischen Prinzip zu folgen, das über jene methodische Bevorzugung hinausgeht, um in einer tieferen und elementaren epistemologischen und ontologischen Basis verankert zu werden. Die Intuition in geometrischen, mechanischen und optischen Strukturen ist zwar eine subjektive Operation, aber sie ereignet sich streng genommen im objektiven Modus. Bei wissenschaftlichen Intuitionen operiert das Subjekt mit visuellen Strukturen der Phänomene, die vorzüglich apriorisch vorgestellt, aber auch unmittelbar (aposteriorisch) erfahren werden. Gedankenexperimente als epistemologisches Instrumentarium der Intuition beziehen sich auf das apriorische Vorstellungsvermögen – oder, in der kantischen Terminologie, auf die produktive Einbildungskraft –, wogegen die realen Experimente (in der Mechanik und Optik) einen anderen Modus der visuellen Intuition voraussetzen. Bei virtuellen Gedankenexperimenten und bei realen Experimenten in den frühneuzeitlichen Wissenschaften handelt es sich um räumliche und räumlich-zeitliche Strukturen – vornehmlich die Kraft- und Bewegungsstrukturen –, die sich nur intuitiv wahrnehmen lassen. D. h. die raumwissenschaftlichen 126 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die virtuellen und die realen Experimente
Intuitionen – unabhängig von ihrem Status als bloß vorgestellt oder unmittelbar sinnlich wahrgenommen – sind allesamt strukturelle Intuitionen, die die raumwissenschaftlichen Strukturen, die in den Phänomenen latent vorhanden sind, enthüllen und zugleich über ihre Natur und Gesetzmäßigkeit Klarheit verschaffen. Dabei muss erneut betont werden, dass die Gegenstände der epistemologischen strukturellen Intuitionen objektive Phänomene sind, deren Einheit den virtuellen Intuitionen Realität verleiht. Die Intuition der räumlichen Strukturen veranlasst die Wissenschaftler, die den Phänomenen in der irdischen Natur und im All innewohnenden statischen und dynamischen Strukturen zu entdecken und sie visuell darzustellen. Diese Methode haben Wissenschaftler mit den Künstlern gemein. Leonardo da Vinci unternahm bekanntlich den Versuch, die Haarlocken von Mona Lisa, die er malerisch darstellen wollte, durch ein analoges hydrodynamisches Modell, und zwar durch den Wirbel im Wasser, zu untersuchen. 1 Hierauf agiert der Künstler eher als Wissenschaftler. Auch die perspektivische Vorarbeit der Malerei bei den Renaissancekünstlern wie Leonardo, Alberti u. a. schien auf einer propädeutischen strukturellen Intuition der dem Sehraum zugrunde liegenden perspektivischen Struktur zu basieren, obwohl das perspektivische Gerüst der Malerei rein geometrisch konstruiert wurde. Während die künstlerischen Intuitionen der Naturphänomene sich eher auf die statischen Phänomene bezogen, die den ebenso statischen Darstellungsformen der plastischen Kunst – Malerei und Skulptur – als Basis dienen, schienen Wissenschaftler wie Descartes, Kepler, Galileo, Newton, Hooke u. a. größtenteils von der epistemologischen Methode der dynamisch-strukturellen Intuition Gebrauch zu machen, um die dynamischen Phänomene auf der Erde und im All zu untersuchen bzw. die ihnen immanenten dynamischen Strukturen intuitiv wahrzunehmen und sich vorzustellen. Die Vorstellung von struktureller Intuition, die sich sowohl auf die statischen als auch auf die dynamischen Strukturen bezieht, wurde im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs von Martin Kemp eingeführt. Kemp führte seine Grundvorstellung von »structural intuition« in mehreren Aufsätzen ein, die in der Zeitschrift Nature veröffentlicht wurde, und erörterte sie eingehend in einem späteren Vgl. dazu Kemp, Martin: Visualizations. The nature book of art and science, Oxford 2000, S. 12.
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Vortrag über Structural Intuitions in Art and Science. 2 In der Einführung zu seinem Werk Visualizations, das eine Sammlung seiner in der Zeitschrift Natur erschienenen Aufsätze ist, erörtert Kemp seine Vorstellung von struktureller Intuition. Nach Kemp machen die Visualisierungen, die »acts of seeing«, die strukturellen Intuitionen aus, die sich demnach zu einem Instrumentarium eines primären bzw. vorlogischen visuellen Verständnisses (»visual understanding«) entwickeln: »Looking across the wide range of images in this book, the immediate impression is diversity. But underneath the varied surface run some constant currents in our human quest for visual understanding. The most enduring of these currents is our propensity to articulate acts of seeing through what I am calling ›structural intuitions‹. There is always a danger in offering a compact phrase as a summary of a complex concept, but its deliberately double reading retains an openness that works against its becoming too formulaic. It is double in the sense that the ›structures‹ are both those of inner intuitive processes themselves and those of external features whose structures are being intuited.« 3
Bereits in dieser propädeutischen Betrachtung unterstreicht Kemp zwei Wesenszüge der strukturellen Intuition, die sich in erster Linie auf die Epistemologie dieser Grundvorstellung beziehen: Erstens konstruiert die strukturelle Intuition ein visuelles und als solches ein vor-sprachliches Verständnis, und zweitens impliziert sie die Resonanz zwischen innerlichen intuitiven Prozessen und den äußerlichen phänomenalen Strukturen, die intuitiv wahrgenommen werden. Auf der vorsprachlichen oder vorlogischen Ebene ist der Verstand durch den Sehakt unmittelbar mit der gegenständlichen Präsenz verbunden. Erst mit der abstrakten Begrifflichkeit der Erkenntnis entsteht eine Kluft zwischen dem erkennenden Subjekt und dem erkannten Objekt. Ebenso verweist die Resonanz zwischen den innerlich-intuitiven und äußerlich-phänomenalen Strukturen auf einen Prozess der epistemologischen Intuition, der ein subjektiKemp hielt diesen Vortrag am 16. Dezember 2002 anlässlich einer Vortragsserie mit dem Rahmenthema Iconic Turn, die seit dem Sommersemester 2002 von der Hubert Burda Stiftung an der Ludwigs-Maximilians-Universität München veranstaltet wird. Vgl. dazu: http://netzspannung.org/tele-lectures/series/iconic-turn/. Vgl. auch Kemp, Martin: Wissen in Bildern. Intuitionen in Kunst und Wissenschaft, aus: Iconic Turn. Die Neue Macht der Bilder, hrsg. von Christa Maar und Hubert Burda, Köln 2004, S. 382–406. 3 Kemp, Visualizations, a. a. O., S. 1. 2
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Die virtuellen und die realen Experimente
ves Hineinschauen in die äußerlichen phänomenalen Strukturen ist, und demnach die unmittelbar-sinnliche oder bloß visualisierte (wie im Fall der himmelsmechanischen Intuitionen) Präsenz der Phänomene voraussetzt. In der strukturellen Intuition operiert das Subjekt nicht mit der Begrifflichkeit, die ein vom Phänomenon abgetrennter Seinsmodus ist, sondern ausschließlich mit der Anschaulichkeit, was notwendigerweise das Faktum der unmittelbaren Präsenz der phänomenalen Existenz in der visuell-intuitiven Erkenntnis unverändert mit einbezieht. Bei den erweiternden Betrachtungen weist Kemp auf tiefere Strukturen in unseren perzeptiven Erfahrungen hin, die auf einer vorbegrifflichen Erkenntnisebene operieren. Die allgemeinen Potenzialitäten und Parameter dieser Strukturen bzw. die Gesetze ihrer Beteiligung an sinnlichen Erfahrungen haben alle Menschen gemeinsam. Durch diese Allgemeinheit, die sich auf das Universal-Subjektive bezieht, erlangt die Lehre der strukturellen Intuition philosophische Legitimität und Kontextualität: »Every act of perception is necessarily a highly directed and selective affair, whether the guiding principles are conscious or inadvertent. Our view of the realities outside us is structured in relation to existing deposits of perceptual experience, pre-established criteria of interpretation, new and old acts of naming and classification, the physical parameters of our sensory apparatus, and, above all (or underlying all), deep structures operating at a pre- or subverbal level. I subscribe to the view that the general potentialities and parameters of those deep structures (i. e. their rules of engagement with experience) are genetically established, while the precise manner in which they are realized, in terms of the laying down of ›hard wiring‹, is shaped by sensory and other experiences. Some of these sensory experiences, such as our early visual and tactile engagement with the physical world, are shared by most human beings, while others are more specific to particular cultures or even individuals.« 4
Das rein visuelle und haptische Agieren mit der physikalischen Welt bestimmt vorrangig die perzeptiven Innenstrukturen, die unseren (ebenso perzeptiven) Erfahrungen zugrunde liegen. Sinnliche Perzeption – insbesondere Vision und haptische Erfahrung – verbindet die Menschen unabhängig von allen ihren individuellen und kulturspezifischen Unterschieden mit der Umwelt, bevor sich das sprachlich-begriffliche Verständnis – im Modus eines synthetischen Nexus 4
Ebd.
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Entstehung der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie
– entwickelt. Die Entwicklung der perzeptiven Innenstrukturen erweist sich daher als eine primäre Phase im menschlichen Leben – gegenüber der zumeist späteren Entwicklung des Sprachvermögens, das einem die begriffliche Erkenntnis der Welt ermöglicht. Folglich haben Kinder in ihrer anfänglichen Lebensphase einen rein sinnlichperzeptiven Zugang zur Außenwelt, bevor sie die Muttersprache erlernen und beginnen, ihre Umwelt sprachlich zu begreifen. Diese allererste Interaktion mit der Umwelt ist allen Menschen gemein. Denn sie basiert zum einen auf der universalen Gesetzmäßigkeit der sinnlichen Perzeption – insbesondere des Sehens und des Tastens –, und zum anderen auf einer ebenso universalen Gesetzmäßigkeit der phänomenalen Welt, dargestellt vor allem in ihren geometrischen, mechanischen und optischen Strukturen. Kemp ist der Überzeugung, dass die »shared elements«, D. h. die perzeptiven Erfahrungen, die allen Menschen gemein sind, die divergenten Elemente, die individuell und kulturspezifisch unterschiedlich erscheinen, übertreffen. Als Beispiel nennt Kemp die unterschiedliche Spielart und -ästhetik der italienischen und der englischen Fußballmannschaften. Während die Italiener mit »flair« und manchmal übertrieben leidenschaftlich spielen, wird die englische Mannschaft durch ihre »athletic vigour« und »stoic belligerence« charakterisiert. Abgesehen von solchen kulturspezifischen Unterschieden haben beide Mannschaften etwas Entscheidendes gemeinsam – nämlich die grundlegende Fähigkeit, die Bewegungen bzw. die Geschwindigkeit und Position des sich annähernden Balls wahrzunehmen und demgemäß ihre Körperbewegungen – besonders die Fußbewegungen – auszurichten. D. h. die stilistischen Charakteristiken des Spiels erweisen sich als eher kulturspezifisch, aber die mechanische Gesetzmäßigkeit der Spielbewegungen – des Balls und des Spiels – sowie die intuitiven Wahrnehmungen der dynamischen Strukturen des Spiels sind universal. Kemp untersucht die verbindliche Funktion eines epistemologischen Prinzips, das zwischen dem Spiel (des Balls) und den Spielern herrscht. Es ist eine strukturelle Intuition, die auf einer stetigen Resonanz zwischen den Strukturen der innersubjektiven Intuitionen und den Innenstrukturen der wahrgenommenen äußerlich-physikalischen Phänomene aufbaut: »I believe (as will already be apparent) that the deep structures of intuition with which we have been endowed by nature and nurture stand in a nonarbitrary relationship to definable elements in the structure and behavior of
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Die virtuellen und die realen Experimente
the physical world. The increasing apparent size of the football as it speeds towards us, and its relationship with foreground and background objects, all tell us something ›real‹. The laws that govern the inertia of the ball and the coefficient of its elasticity may be unknown to most professional footballers, but they have instinctively acquired a precise sense of how fast it is arriving and what force is needed to propel it back in the right direction at the desired speed. The structures of the external world within which we need to operate (in matters more urgent than kicking a football) are those with which the internal structure of intuition has been designed to resonate, continuously reinforcing and retuning themselves in a ceaseless dialogue of matching and making.« 5
In der Frühneuzeit wurde sowohl bei der Entdeckung der mechanischen Grundprinzipien der Natur als auch bei ihrer Axiomatisierung – anhand der geometrisch-mathematischen Methoden – direkt oder indirekt das epistemologische Verfahren der strukturellen Intuition in die Praxis umgesetzt. Die frühneuzeitliche Klassische Mechanik und die Optik bauten auf den Krafts- und Bewegungsstrukturen der statischen und dynamischen Phänomenalität in der irdischen Natur und im All auf. Die sichtbaren Bewegungsstrukturen und die latenten, unsichtbaren Kraftstrukturen lassen sich primär nur intuitiv wahrnehmen, bevor sie begrifflich erkannt sowie geometrisch-mathematisch begründet bzw. axiomatisiert werden. Wie Kemp mit Nachdruck betont, ereignet sich diese strukturelle Intuition auf einer vorsprachlichen Ebene und im visuellen Modus – als visuelle Vorstellung (a priori) und Erfahrung (a posteriori). Als apriorische Vorstellung und als aposteriorische Erfahrung (die in erster Linie eine Seherfahrung ist) basiert – laut Kemp – die strukturelle Intuition auf einem epistemologischen Grundprinzip, nämlich der Resonanz zwischen den internen intuitiven Strukturen und den externen phänomenalen Strukturen (die intuitiv wahrgenommen werden). Die zwei Modi der strukturellen Intuition der statischen und dynamischen Phänomene, und zwar die intuitive Vorstellung a priori und die intuitive Wahrnehmung a posteriori, beziehen sich jeweils auf zwei geläufige und grundlegende Verfahren der Entdeckung mechanischer und optischer Strukturen und ihrer Gesetzmäßigkeit in der Wissenschaftsgeschichte der Frühneuzeit; nämlich auf die apriorischen Gedankenexperimente und die aposteriorisch realen Experi-
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Ebd., S. 1–2.
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mente. Obwohl die himmelsmechanischen Intuitionen, die allein den Astronomen in ihrer irdischen Existenz ermöglichen, die unsichtbaren himmelsdynamischen Strukturen zu entdecken, streng genommen keine Gedankenexperimente sind, gehören sie als strukturelle Intuitionen zu derselben Domäne der mechanischen Gedankenexperimente, wie sie von Descartes, Galileo, Newton, Hooke, Huygens u. a. praktiziert wurden. Ebenso gehören die Beobachtungen in realen Experimenten zu der Domäne der unsichtbaren Anschauung der Naturphänomene (sowie die Ablesung der himmelsdynamischen Phänomene aus den empirischen Daten), die eine unmittelbar visuelle Intuition – in statischen und dynamischen Strukturen – voraussetzt. Im Vergleich zu den natürlichen und experimentellen Vorstellungen (a priori) und den bloß empirischen und experimentellen Erfahrungen, in denen das epistemologische Instrumentarium der strukturellen Intuition wirksam ist, scheinen die geometrisch-mathematischen und methodisch-deduktiven Demonstrationen der mechanischen und optischen Phänomene ein eher sekundäres Verfahren in der Axiomatisierung dieser raumwissenschaftlichen Grundsätze zu sein, dem die bereits intuitiv entdeckten axiomatischen Prinzipien zur Verfügung gestellt werden. Jede geometrisch-mathematische Demonstration in der frühneuzeitlichen Mechanik, insbesondere dargestellt im newtonschen Hauptwerk Principia, bildet die Synthetisierung der gegebenen, rein intuitiven und axiomatischen Erkenntnisse zu der Einheit eines kompositorischen Grundsatzes. Ein treffendes Beispiel für eine derartige Synthese in einer geometrisch-mathematischen Demonstration eines mechanischen Grundsatzes ist zweifelsohne die Beweisführung des ursprünglich von Kepler entdeckten Flächensatzes der Planetenbewegung in Principia. Diese geometrischmathematische Beweisführung, die zu der außergewöhnlichen Leistung Newtons zählt und als solche überhaupt die Propädeutik zu dem strategischen Leitmotiv in Principia, nämlich der Mathematisierung bzw. der mathematischen Begründung der Naturprinzipien, bildete, synthetisiert im Grunde die geometrischen und mechanischen Axiome, die sich in erster Linie nur intuitiv erkennen lassen – und zwar das Trägheitsgesetz, das Parallelogramm-Gesetz der Kräfte, der Flächensatz des Dreiecks und das Prinzip der Infinitesimalrechnung:
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Die virtuellen und die realen Experimente
Figur 5
»The areas which bodies made to move in orbits described by radii drawn to an unmoving centre of force lie in unmoving planes and are proportional to the times.« »Let the time be divided into equal parts, and in the first part of the time let a body by its inherent force describe the straight line AB. In the second part of time, if nothing hindered it, this body would (by law 1) go straight on to c, describing line Bc equal to AB, so that – when radii AS, BS, and cS were drawn to the centre – the equal areas ASB and BSc would be described. But when the body comes to B, let a centripetal force act with a single but great impulse and make the body deviate from the straight line Bc and proceed in the straight line BC. Let cC be drawn parallel to BS and meet BC at C; then, when the second part of the time has been completed, the body (by corol. 1 of the laws) will be found at C in the same plane as triangle ASB. Join SC; and because SB and Cc are parallel, triangle SBC will be equal to triangle SBc and thus also to triangle SAB. By a similar argument, if the centripetal force acts successively at C, D, E, …, making the body in each of the individual particles of time describe the individual straight lines CD, DE, EF, …, all these lines will lie in the same plane; and triangle SCD will be equal to triangle SBC, SDE to SCB, and SEF to SDE. Therefore, in equal times equal areas are described in an unmoving plane; and by composition [or compo-
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nendo], any sums SADS and SAFS of the areas are to each other as the times of description. Now let the number of triangles be increased and their width decreased indefinitely, and their ultimate perimeter ADF will (by lem. 3, corol. 4) be a curved line; and thus the centripetal force by which the body is continually drawn back from the tangent of this curve will act uninterruptedly, while any areas described, SADS and SAFS, which are always proportional to the times of description, will be proportional to these times in this case.« 6
Außer dem Flächensatz des Dreiecks verweisen die anderen, in dieser Beweisführung integrierten elementaren Axiome, nämlich das Trägheitsgesetz, das Gravitationsgesetz sowie das Prinzip der Infinitesimalrechnung, auf ursprüngliche strukturelle Intuitionen der mechanischen Phänomene. In dieser Beweisführung scheinen die geometrischen und die mechanischen Grundsätze miteinander verflochten zu werden. Nun stellen wir die Frage, ob Newton diese Beweisführung zunächst Schritt für Schritt in einer geometrisch-mathematischen Deduktion entwickelte, oder sich das ganze Verfahren rein intuitiv vorstellte. 7 Es gibt zwar keinen historischen Beleg für einen derartigen ersten Schritt in der newtonschen Beweisführung. Aber es ist eher unwahrscheinlich anzunehmen, dass Newton zunächst nur die oben erwähnten elementar-axiomatischen Grundsätze aus der Geometrie und der Mechanik – als Prämissen – zur Verfügung hatte und ohne eine Vorahnung des Endergebnisses den Flächensatz allein in einer geometrisch-mathematischen Demonstration erreichte. Allem Anschein nach vermochte sich Newton die Synthetisierung der axiomatischen Intuitionen in einem einheitlichen, deduktiven Verfahren zunächst rein intuitiv vorzustellen, bevor er es zeichnerisch darstellte und sprachlich ausdrückte bzw. axiomatisierte. Denn der zeichnerischen geometrisch-mathematischen Demonstration geht sehr wahrscheinlich deren intuitive Visualisierung voraus. Die axiomatischen Intuitionen sind an sich originär und final; D. h. sie lassen sich nicht weiter begründen bzw. auf eine noch tiefere kausale Basis zurückführen. Die ursprüngliche Finalität oder Irreduzibilität der axiomatischen Intuitionen – wie die Intuition der Gerade in der Geometrie oder die der Trägheitsbewegung in der Mechanik – Newton, Isaac, Sir: The Principia. Mathematical Principles of Natural Philosophy, translated by I. Bernard Cohen and Anne Whitman, University of California Press, Berkeley 1999, S. 444–445. 7 NSK, S. 83 ff. 6
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verweist zwar auf die Grenze der subjektiven Erkennbarkeit der Phänomenalität, aber diese Grenze ist primär durch das Phänomen, das intuitiv wahrgenommen wird, bestimmt. Es ist das Faktum des Objekts – wie etwa ein sich in der Trägheitsbewegung verharrender Körper –, das dem intuitiv-subjektiven Erkenntnisprozess Grenzen zieht und folglich das Subjekt dazu veranlasst, diese Grenze als axiomatisch-finale Erkenntnis zu identifizieren. Eine derart unmittelbare Beteiligung des Objekts am subjektiven Prozess der Intuition scheint die epistemologische Differenzierung zwischen der Apriorität und Aposteriorität der intuitiven Erkenntnisse aufzuheben. Denn in dem intuitiven Prozess des Erkennens operiert das Subjekt lediglich mit den vorgestellten oder in der visuellen Erfahrung gegebenen Phänomenen, wobei keine modale Differenz zwischen der apriorisch vorgestellten und der aposteriorisch erfahrenen Phänomenalität besteht. Die ontologische Differenz zwischen diesen Erkenntnisgegenständen – als mentale und reale Objekte – hat praktisch keine Auswirkung auf den intuitiven Erkenntnisprozess und seine Grenzziehung in axiomatischen Erkenntnissen. Die geometrischen Intuitionen brauchen keine realen Objekte zum Gegenstand zu haben; die geometrischen Grundformen – Linie, Fläche, Dreieck usw. – lassen sich zwar an vielen Naturphänomenen (wie an der Linearität des Lichtstrahls oder eines gespannten Seils) ablesen, aber sie sind letztendlich ideale Formen, die in einem freiräumlichen Hintergrund entworfen werden oder entstehen. Daher liegt der Idealität der geometrischen Formen das Faktum der freiräumlichen Objektivität zugrunde. Die Apriorität und Apodiktizität der geometrischen und anderen raumwissenschaftlichen Intuitionen basieren gerade auf der Objektivität des Freiraumes, die sich als eine Konstante erweist. Denn der Freiraum ist – unabhängig von seinem ontischen Status als lediglich vorgestellter oder in unmittelbarer Erfahrung gegebener Raum – bloß eine ausgedehnte Leere, aus der sich – außer der Idee der Ausdehnung – nichts abstrahieren lässt. 8 Die axiomatische Intuition einer Gerade als die kürzeste Strecke zwischen zwei Punkten im Freiraum ist sowohl als aposteriorische Erfahrung (einer gezeichneten oder architektonisch gebauten Gerade) als auch als bloße Vorstellung a priori eine freiräumliche Intuition. Diese Intuition ist ursprünglich und in ihrem Modus final, denn die Form der Zur Objektivität des Freiraumes als Basis der Apriorität und Apodiktizität der raumwissenschaftlichen Erkenntnisse vgl. NSK, S. 47 ff.
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Gerade lässt sich nicht weiter reduzieren. Wenn zwischen zwei Fixpunkten im euklidischen Freiraum eine ursprünglich kurvige Extension begradigt wird, vollendet sich dieser Prozess der Begradigung in der Gerade, die weiter nicht begradigt werden kann. Daher gibt es keine Gerade, die gerader als eine andere Gerade ist. 9 Die Gerade als geometrische Grenzform ist originär, final und demnach axiomatisch; die Intuition dieser Grenzform ist eine freiräumliche strukturelle Intuition, deren Apriorität und Apodiktizität auf die konstante Existenzweise des Freiraumes – als Vorstellungs- und Erfahrungsraum sowie als virtueller und realer Raum – zurückzuführen ist. Ebenso basieren die axiomatischen Intuitionen der euklidisch-geometrischen Grund- und Grenzformen wie z. B. die Fläche, der Kreis, die Kugel, der rechte Winkel, parallele Linien, der Gegenwinkel etc., die uns ursprünglich und zugleich final bzw. irreduzibel vorkommen, ausschließlich auf der konstanten Objektivität des Freiraumes. Analog zu der geometrischen Intuition bilden die mechanischen und optischen Intuitionen, denen die geometrische Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit zugrunde liegen, strukturelle Intuitionen im Freiraum. Das axiomatische Trägheitsgesetz, obwohl unter irdischen Bedingungen vorgestellt, setzt notwendigerweise eine absolut leere freiräumliche Ausdehnung (ohne materielle Resistenz und Kräfte wie die Gravitation) im All als Hintergrund voraus. Die bloß vorgestellte Trägheitsbewegung erweist sich demnach als eine freiräumliche dynamisch-strukturelle Intuition, die – ebenso wie die Gerade – eine ursprünglich finale mechanische Grenzform ist. Die Trägheitsbewegung schließt einen geometrischen Grenzmodus, nämlich die Geradheit, und einen mechanischen Grenzmodus, nämlich die Gleichförmigkeit der Bewegung, in sich ein. 10 Ebenso wie die geometrische Gerade, die sich weiter nicht begradigen lässt, gibt es keine gleichförmige Bewegung, die gleichförmiger als eine andere gleichförmige Bewegung ist. Die ursprüngliche Finalität dieser Grenzmodi – Geradheit der Gerade und Gleichförmigkeit der Trägheitsbewegung – macht das Axiomatische in dieser dynamisch-strukturellen Intuition aus, das allerdings eine allerletzte Basis in der ontologischen Konstanz und Irreduzibilität des Freiraumes hat, in dem die Gerade und die Trägheitsbewegung vorgestellt werden und sich in Wirklichkeit ereignen. 9 10
Ebd., S. 49. Ebd., S. 49–50.
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Wie die zentripetale Gravitation und die Trägheitsbewegungstendenz entstand auch das in dem Flächensatz angewandte Prinzip der Infinitesimalrechnung zunächst aus einem Gedankenexperiment – also aus einer strukturellen Intuition, die auch von einem deduktiven Prinzip, nämlich von dem Flächensatz des Dreiecks, Gebrauch machte. Die Zerlegung eines Einzelfalls der gravitationellen Ablenkung in unendlich vielen Ablenkungen – in Übereinstimmung mit dem rein kontinuierlichen Wirkungsprinzip der Gravitation – kann sich nur in einer Intuition vorgestellt und als solche erkannt werden. Was sprachlich-axiomatisch ausgedrückt worden ist, ist die Beschreibung dieser ursprünglichen Intuition, in der die dynamische Struktur der linear-tangentialen Trägheitsbewegung des Planeten und die Kraftstruktur der solaren zentripetalen Gravitation miteinander synthetisiert werden. Ebenso wie das geometrische Ursprungsverfahren der Infinitesimalrechnung bei Leibniz basiert die direkte Anwendung dieses Prinzips (auf eine mechanische Intuition) auf dem Prinzip der Kontinuität, die sowohl der rein kontinuierlichen Trägheitsbewegung als auch der kontinuierlichen Wirkung der Gravitation zugrunde liegt. Die originären Vorstellungen der axiomatischen Grundsätze in den Raumwissenschaften – in der Geometrie, der Mechanik und der Optik – sind in gewisser Hinsicht Gedankenexperimente, in denen die freiräumlichen statischen und dynamischen Strukturen virtuell entworfen und ihre Gesetzmäßigkeit intuitiv erkannt werden. Bei realen raumwissenschaftlichen Experimenten werden reale aber ebenso freiräumliche Kraft- und Bewegungsstrukturen experimentell erzeugt und es wird versucht, daraus ihre Gesetzmäßigkeit in der unmittelbaren visuellen Erfahrung abzuleiten. Während sich die objektiven Entwürfe in Gedankenexperimenten beliebig subjektiv steuern lassen, lehren die objektiven Phänomene (die vom Subjekt vollkommen abgeschieden sind) dem beobachtenden Subjekt ihre Gesetzmäßigkeit und deren axiomatische Finalität. Dennoch können wir durch diese Subjekt-Objekt-Zweiteilung die intuitiven Gedankenexperimente von realen Experimenten kaum vollkommen unterscheiden. Da die raumwissenschaftlichen Strukturen primär freiräumliche Strukturen sind, basieren deren Intuitionen – unabhängig von ihrem Status als apriorische Vorstellungen und aposteriorische Erfahrungen – letztendlich auf der Objektivität des Freiraumes. Die Objektivität des Freiraumes lässt sich auf seine ontische Struktur zurückführen, die als leere Ausdehnung eine Konstante bleibt und demnach in ihrer 137 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
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Modalität zwischen Vorstellungs- und Erfahrungsraum sowie dem realen Freiraum nicht zu differenzieren ist. 11 Auf dieser ontologischen Konstanz des Freiraumes basieren die Apriorität, die Apodiktizität sowie die Universalität der raumwissenschaftlichen Axiome (die sich auf die irreduziblen freiräumlichen Strukturen beziehen). Die Trägheitsbewegung eines Körpers kann unter irdischen Bedingungen kaum vollständig erfahren werden. Denn die Kräfte wie die Luftresistenz, die Reibungsresistenz des Bodens und vor allem die Gravitation wirken ständig auf einen Körper, der sich auf der irdischen Oberfläche oder in der Luft bewegt. Aber alle diese Kräfte können minimiert und anschließend weggedacht werden. Wird ein kugelförmiger und glatter Körper auf einer ebenso glatten und horizontalen Ebene bewegt, erweckt seine Bewegung den Anschein einer Trägheitsbewegung. Wenn wir aus dieser unmittelbaren visuellen Erfahrung die übrig gebliebenen, aber externen residualen Fakten der Kräfte, wie die Luft-, Reibungs- und Gravitationsresistenz gegen die Fortbewegung des Körpers, wegdenken, vermögen wir die phänomenale Trägheitsbewegung unmittelbar wahrzunehmen. Durch das Wegdenken der oben erwähnten residualen Fakten der Kräfte reduzieren wir die dynamische Bewegungsstruktur des Körpers auf eine freiräumliche Struktur. Aber ohne eine solche experimentelle und erfahrungsmäßige Übung können wir die Trägheitsbewegung rein gedanklich erkennen bzw. vorstellen. Wen wir uns einen Körper im All – bzw. in einem vollkommen leeren Freiraum – lediglich vorstellen und ihn ebenso imaginativ in Bewegung setzen, können wir uns den Modus seiner Bewegung nicht anders als eine lineare und gleichförmige Trägheitsbewegung vorstellen. Allein diese Vorstellung bildet eine Erkenntnis a priori, die uns apodiktisch gewiss und universal vorkommt. Die Apriorität und Apodiktizität dieser und ähnlicher strukturellen und axiomatischen Intuitionen lassen sich zum einen auf die ursprüngliche Finalität oder Irreduzibilität der geometrischen und mechanischen Qualitäten der Trägheitsbewegung – nämlich der Linearität und Gleichförmigkeit der Bewegung – und zum anderen auf eine grundlegende Korrelation zwischen diesen Raumwissenschaften, dargestellt vor allem in den axiomatischen Erkenntnissen, zurückführen. Wie zuvor erörtert wurde, basieren die Apriorität und Apodiktizität der raumwissenschaftlich-axiomatischen Erkenntnisse sowie die darin latente Korrelation zwischen den Raumwissenschaften (zwi11
Ebd., S. 47–48.
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schen der Geometrie und der Mechanik) allerdings letztendlich auf der irreduziblen und finalen ontischen Struktur des Freiraumes, in dem sie zustande kommen. Dass eine Gerade an sich eine geometrische Grenzform ist bzw. sich in einer Komparation gerader nicht gradiert, und dass eine gleichförmige und lineare Trägheitsbewegung eine irreduzible mechanische Grenzstruktur ist, geschieht allein durch ihre Existenz im Freiraum. Denn es ist die ontische Irreduzibilität und Konstanz des Freiraumes, die den freiräumlichen Formen und Strukturen der Geometrie und Mechanik und deren axiomatischen Intuitionen Finalität und Irreduzibilität verleiht und dadurch ihre Apriorität und Apodiktizität gewährleistet. Die Entstehung der Planetenbahn aus der Zusammenwirkung von linear-tangentialer Trägheitsbewegungstendenz der Planeten und der zentripetal-solaren Gravitation war ursprünglich eine mechanisch-strukturelle Intuition Hookes, als er sie Newton mitteilte. Bevor Newton dieses himmelsmechanische Phänomen in Principia geometrisch-mathematisch demonstrierte (was Newton eigentlich von John Keil übernahm) fand im Jahr 1679 ein Briefwechsel zwischen Newton und Hooke statt. Durch diesen Austausch entwickelte sich schrittweise die intuitive Vorstellung oder Demonstration von ursprünglichen und inadäquaten hin zu plausibleren strukturellen Intuitionen der Zusammenwirkung zwischen diesen himmelsmechanischen Grundphänomenen. Die intuitive Vorstellung von dem Zusammenwirken von zentripetaler Sonnengravitation und linearer Trägheitsbewegung der Planeten, woraus sich – wie Hooke es sich vorstellte – die elliptische Planetenbahn entstehen kann, wurde in einem Brief von Hooke an Newton vom 24. November 1679 mitgeteilt: »From my part I shall take it as a great favour if you will let me know your thoughts of that (hypothesis of mine) of compounding the celestial motions of the planets of a direct motion by the tangent & an attractive motion towards a central body.« 12
In seiner Antwort schien Newton die Vorstellung Hookes in einem Phantasma – »fancy«, wie Newton es bezeichnet – zu behandeln, das allerdings prädestiniert war, sich zu einer der wichtigsten Intuitionen in der Geschichte der Himmelsmechanik zu entwickeln. Newton viVgl. Newton, The Correspondence II, 297., Vgl. dazu auch Gal, Ofer: Meanest Foundations and Nobler Superstructures. Hooke, Newton and the »Compounding of the Celestial Motions of the Planets«, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht 2002, S. 2.
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sualisierte eine spiralförmige Bahn eines zum Erdzentrum fallenden Körpers, indem er neben der Gravitation die tägliche Drehung der Erde berücksichtigte. Rein intuitiv erkannte Newton den Fall, in dem ein Körper unter der Einwirkung von Gravitation einem spiralförmigen Weg folgt und dadurch schließlich ins Gravitationszentrum fällt, wie es vor allem in seiner Korrespondenz mit Hooke (vom 28. November 1679) zum Ausdruck kam:
Figur 6 (Mit freundlicher Genehmigung vom Wren Library am Trinity College, University of Cambridge)
Diese newtonsche Intuition war es, die Hooke veranlasste, eine Korrektur dieser Spekulation vorzunehmen und die Form einer elliptischen Spirale vorzuschlagen. Newton nahm diese Korrektur zwar an, aber erweiterte das hookesche Modell anhand seiner irdisch-mechanischen Vorstellungen:
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Figur 7 13
»Hooke responded, almost as promptly, on December 9. Not only did he like the experiment very much and promised to carry it out – he was, after all, the curator of experiments for the Royal Society – but a note in Newton’s letter allowed him to redirect the discussion to his programme. The diagram which Newton appended to his experimental suggestion (Figure 6, a. d. Verf.) had a little speculative addendum to it, describing the hypothetical notion of the falling stone if it were to continue, resistance-free, through the earth: in this case, suggested Newton, it would fall through the point E and spiral around its center C a few times, until coming to rest in C. This alluded exactly to the point Hooke was trying to make – the compounding of motion along the tangent with attraction to a center – and he was only happy to set Newton right: ›supposing then ye earth were cast into two half globes in the plane of the equinox and those sides separated at a yard Distance‹ (Correspondence II, 305), so that the stone could fall through it while still experiencing the attraction towards the center, it would not describe a spiral, but an ›Elleptueid‹ […] Being corrected finally got Newton’s attention. Once again, it took him only four days to receive Hooke’s letter and compose a reply, which was mailed on December 13, 1679 (A. d. Verf.). […] In fact, argues Newton, it is far more reasonable to suppose that the stone would not acquire a planetary-like orbit. Thus, he writes, let ›gravity be supposed uniform.‹ Since due to this constant attraction the stone will continually accelerate towards the center C, it will be closer to it in the second ›quarter‹ of its orbit, between F and Q in the enclosed diagram (Figure 8, a. d. Verf.), than in the first, between A and F. This means that, ›by reason of 13
Gal, a. a. O., S. 6.
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ye longer journey & slower motion,‹ the stone will spend more time in the first quarter than in the second, and will receive more of the ›innumerable and infinitely little motions … continually generated by gravity in its passage‹ (Correspondence II, 308) in the first quarter. Hence it will subject to more ›inclination downward‹ in the first quarter than compensating ›inclination upward‹ in the second.« 14
Figur 8 15
Im Allgemeinen wird behauptet, dass genau diese originäre Vorstellung Hookes von der elliptischen Bahn – im Rahmen der irdischen Mechanik – Newton dazu veranlasste, dieses Modell auf die Domäne der Himmelsmechanik zu projizieren und dabei festzustellen, dass die Planetenbahnen unter der Zusammenwirkung der zentripetalen Solargravitation und der linear-tangentialen Trägheitsbewegungstendenz der Planeten und bei der völligen Abwesenheit aller materieller Resistenz (die in der irdischen Mechanik mitberücksichtigt werden soll) als keine spirale, sondern als geschlossene kurvige Formen – als Ellipse oder Kreis – entstehen. Doch stellt sich die Frage, ob diese entdeckerischen erdmechanischen Intuitionen von Newton und Hooke dem Wesen nach Intuitionen oder reine Vermutungen waren. Die Antwort ist eindeutig: Sie sind zweifelsohne Intuitionen, denn vorgestellt wurden sie sich strukturell in enger Resonanz mit der Phänomenalität der Erdgravitation, der Trägheitsbewegung sowie der medialen Resistenz. 16 14 15 16
Ebd., S. 5–7. Ebd., S. 7. Wie vorher erörtert wurde, entwickelte Newton aus der ursprünglichen hooke-
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Diese Intuition der elliptischen Bahn von Hooke und Newton konnte aber zu der keplerschen Vorstellung von den elliptischen Planetenbahnen keine hinreichende Analogie bilden. Denn es bestanden unterschiedliche oder sogar kontradiktorische Aspekte in den beobachteten und vorgestellten Phänomenen: »To make it completely clear that the model of a stone rotating inside a sliced earth was more than an exercise for the imagination, Hooke added a paragraph indicating his awareness of the shortcomings of the analogy between this model and the real planets. Whereas in the case of the planets the attraction increased as the revolving body approached the center, in the model’s case (as with pendulums or balls rolling inside spheres), the attraction increase with distance (Correspondence II, 309).« 17
Die Apriorität und Apodiktizität der raumwissenschaftlichen Intuitionen werden zwar durch die konstante Objektivität des Freiraumes gewährleistet, aber sie beziehen sich hauptsächlich auf die Kraftsund Bewegungsstrukturen, die sichtbar aber auch unsichtbar bzw. den mechanischen Phänomenen latent innewohnend seien können. Während sich die Bewegungsstrukturen allein intuitiv visualisieren lassen, ist es kaum möglich, sich die Kräfte – vor allem etliche Qualia, die sie entstehen lassen – hinreichend intuitiv vorzustellen. Die Schwere eines Körpers, die durch die Gravitation verursacht wird, die Viskosität und Grenzflächenspannung eines Fluidums oder die Elastizität eines soliden Körpers usw., die durch die zwischenmolekulare Innenstruktur der Materie bestimmt werden, können wir uns im Vergleich zu der Trägheitsbewegung eines Körpers im Freiraum kaum intuitiv vorstellen. Die Schwere oder Elastizität eines Körpers lassen sich unmittelbar erfahren, aber diese eher haptische Erfahrung kann von der Sphäre der Sinnlichkeit in die der produktiven Einbilschen Intuition der Konstellation der zentripetalen Gravitation und der linear-tangentialen Trägheitsbewegungstendenz der Planeten insbesondere seine mathematische Demonstration des keplerschen Flächensatzes, indem er neben der von Hooke etablierten Basis drei weitere und grundlegende geometrisch-mathematische Intuitionen, nämlich das Parallelogramm-Gesetz der Kräfte, das Prinzip der Infinitesimalrechnung und den Flächensatz des Dreiecks, in seine Beweisführung integrierte. Diesen und ähnlichen Beweisführungen sollen demnach die ursprünglichen bzw. axiomatischen strukturellen Intuitionen der geometrischen und mechanischen Grundphänomene vorausgehen, was eine methodische Ordnung von ursprünglichen einfachen Intuitionen zu synthetisch-kompositorischen geometrisch-mathematischen Demonstrationen bestätigt. Diese Ordnung setzt auch die epistemologische Vorrangigkeit der Intuition vor der deduktiven Demonstration voraus. 17 Gal, a. a. O., S. 9–10.
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dung des Geistes nicht übertragen werden. Die mentalen Objekte haben mit den realen nicht ihre haptische Erfahrbarkeit gemeinsam, sondern nur ihre Visualität. Dennoch gelang es Newton, das galiläische Problem des freien Fallens der Körper rein intuitiv zu lösen, indem die Unterschiede in der Schwere der Körper durch deren unterschiedliche Trägheitsresistenz ausgeglichen werden. Noch deutlicher entwickelte Einstein sein Gedankenexperiment – mit einem Menschen im freifallenden Aufzug – auf Basis der newtonschen intuitiven Beweisführung, um sein Äquivalenzprinzip, das die gravitationelle mit der inertialen Schwere der Körper gleichsetzt, zu begründen bzw. zu axiomatisieren. Zwar können wir rein intuitiv die Schwere oder Elastizität der Körper nicht empfinden, aber allein deswegen sind solche Qualitäten der Körper aus dem Gegenstandsbereich der strukturellen Intuition nicht auszuschließen. Das von Kemp eingeführte Beispiel des Fußballspiels beschreibt zugleich sichtbare und unsichtbare Krafts- und Bewegungsstrukturen. Im Vergleich zu der Bewegung des Balls (und der Spieler) sind die Wirkungen der Kräfte wie die Elastizität der im Ball eingeschlossenen Luft, die Reibungsresistenz des Bodens sowie die gravitationellen und aerodynamischen Wirkungen auf den Ball – die die Kurvierung der Projektile sowie den eher horizontalen Schwung der Ballbewegung im freien Luftraum bewirken – nicht unmittelbar sichtbar. Dennoch scheinen die Wirkungen der Kräfte von den Spielern indirekt durch eine sichtbare dynamische Struktur, genauer gesagt durch die Bewegungen des Balls auf dem Boden oder in der Luft, intuitiv wahrgenommen zu werden, so dass die Spielbewegungen daran ausgerichtet werden können. 18 Die intuitive Wahrnehmung der nicht unmittelbar visuellen und allein haptischen Qualitäten wie Schwere und Elastizität bildet demnach eine besondere Leistung der strukturellen Intuition und ihrer epistemologischen Funktion. In dieser Weise erweist sich die Haptik der mechanischen Phänomene als gewisse Herausforderung in Bezug auf ihre strukturelle Intuition. Während uns die Sichtbarkeit der mechanischen Phänomene – sowohl in intuitiver Vorstellung a priori als auch in unmittelbarer Erfahrung – einen direkten und einfachen Zugang zu ihrer Erkennbarkeit ermöglicht, bedingt das haptische Fühlen der Phänomene ihr objektives Geschehen und dessen sinnliche Erfahrung. Daher 18
Siehe Anmerkung 5.
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Die virtuellen und die realen Experimente
können wir uns die Bewegungsstrukturen der Himmelsphänomene intuitiv-apriorisch vorstellen, während die eher fühlbaren Wirkungen der Gravitation (dargestellt in der Schwere der Körper und der Anziehung), der Viskosität oder der Elastizität der Materie jene irdisch-experimentellen Demonstrationen benötigen. An den realen Experimenten beteiligt sich das Subjekt streng genommen eher rezeptiv, obwohl die Wahrnehmung der Gesetzmäßigkeit des in dem Experiment dargestellten Phänomens unbedingt den epistemologischen Akt des Subjekts bildet. Während bei den intuitiven Gedankenexperimenten das Subjekt mit den virtuellen mentalen Objekten operiert, beobachtet es bei den realen Experimenten die Phänomenalität der Objekte bzw. ihre autonome Demonstration und Selbstorganisation, die vom Subjekt abgeschieden sind, um daraus die mechanische Gesetzmäßigkeit der Krafts- und Bewegungsstrukturen abzuleiten. Hierauf können wir annehmen, dass bei realen Experimenten die objektiven Phänomene dem Subjekt entgegentreten, indem sie mit ihm sprechen bzw. sich ihm gegenüber zeigen, wobei das Subjekt – im Kontrast zu seiner Funktion als Operator bei den Gedankenexperimenten – zugleich als Zuschauer und Zuhörer (der stillen objektiven Kommunikation) agiert. Wie in der oben dargelegten intuitiven Vorstellung (a priori) der Trägheitsbewegung verdeutlicht wurde, ist der Operator in den Gedankenexperimenten allerdings nicht lediglich subjektiv, sondern eher objektiv bedingt. 19 Obwohl das Subjekt bei intuitiven Gedankenexperimenten allein mit mentalen Objekten operiert, ist es letztendlich die existentielle Autonomie der Objekte – und nicht ihre Operierbarkeit durch das Subjekt –, die den alleinig intuitiv vorgestellten mechanischen Phänomenen zugrunde liegt. Demnach vermögen die realen Experimente die objektiven mechanischen Phänomene viel besser und deutlicher zu demonstrieren und zu bewahrheiten, denn sie setzen im Kontrast zu den intuitiven Gedankenexperimenten keine Apodiktizität der phänomenalen Erkenntnisse voraus. Zwar wird die Schwerkraft – als Gravitationskraft – auch bei den erfahrbaren realen Experimenten visuell kaum wahrgenommen, aber die reale
Diese Tatsache wird in dem oben erörterten Gedankenexperiment der Trägheitsbewegung eines Körpers im Freiraum bestätigt, indem das Subjekt feststellt, dass ein im intuitiv vorgestellten Freiraum ebenso intuitiv in Bewegung gesetzter Körper notwendigerweise den dynamischen Zug der Trägheitsbewegung erlangt, so dass er keine weitere subjektive Operation benötigt, um in diesem Bewegungsmodus zu verharren.
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Entstehung der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie
Wirkung der Gravitation auf den Körper lässt sich dabei unmittelbar erfahren bzw. beobachten. Obwohl es das sinnlich erfahrende Subjekt ist, das die mechanische Phänomenalität der Gravitation erkennt, scheint hier die Erkenntnis (der Gravitation) vom Objekt her dem Subjekt gegeben und deren Wahrhaftigkeit ebenso objektiv gewährleistet zu werden. An dieser Stelle ist es wichtig anzumerken, dass das subjektivepistemologische Instrumentarium der »strukturellen Intuition« sowohl bei den unmittelbar sinnlich zu erfahrenden realen Experimenten als auch bei den allein (apriorisch) vorgestellten Gedankenexperimenten ein unausbleibliches Faktum ist, das allein jene axiomatische Erkenntnis des dargestellten Phänomens hervorbringen kann. Dennoch zeigt die Bevorzugung dieser verschiedenen Handlungen die Vorstellung des Wissenschaftlers vom adäquaten Modus der Erkennbarkeit der mechanischen Phänomene sowie seine Einstellung zu ihrer Wahrhaftigkeit. Wir haben vorher aufgezeigt, wie der Eindruck der Elliptizität der Planetenbahnen, die sich aus der Zusammenwirkung zwischen der zentripetalen Gravitation und der linear-tangentialen Trägheitsbewegungstendenz ergibt, bei Hooke und Newton ursprünglich aus bestimmten dynamisch-strukturellen Intuitionen (nämlich aus dem freien Fallen eines Körpers zum Erdzentrum) gewonnen wurde. Aber zur Begründung und Universalisierung dieses mechanischen Phänomens stützt sich Newton primär auf die geometrisch-mathematische Demonstration – die ebenso wie die ursprünglichen Gedankenexperimente grundsätzlich ein apriorisches Vorstellungsverfahren bildet –, während Hooke zur Prüfung der Wahrhaftigkeit seiner ursprünglichen Intuitionen von realen Experimenten, und zwar von der Bewegung eines Körpers in einem invertierten Kegel sowie von der Bewegung eines kegeligen Pendels, Gebrauch macht. Die realen Experimente Hookes demonstrierten – in einer annähernd plausiblen Analogie – die Formhaftigkeit der Planetenbahnen, die sich aus der Zusammenwirkung zwischen einer zentripetalen Kraft und einer linear-tangentialen Trägheitsbewegungstendenz der Planeten ergibt, aber die Gesetzmäßigkeit der zentripetalen Gravitation, nämlich die Intensivierung der Gravitationskraft gemäß einem Inverse-Square Law, wurde dabei demonstrativ nicht bewiesen. Denn die in diesem Experiment repräsentativ dargestellte zentripetale Anziehung der Gravitation vermindert sich maßgeblich, wenn das Pendel dem Zentrum des Ellipsoids näherkommt, was dem Gravitations146 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Micrographia und Principia
gesetz – dem Inverse-Square Law – völlig widerspricht. Außerdem entspricht die Zentriertheit der Gravitation in diesem experimentellen Modell nicht dem keplerschen Gesetz der Elliptizität der Planetenbahn, nach dem sich das solare Gravitationszentrum in einer der Fokusse der elliptischen Bahn befindet und folglich die periodische Geschwindigkeitsvariation des Planeten zwischen einem Perihel und einem Aphel verursacht.
Micrographia und Principia Die Neigung zu realen Experimenten und deren Bevorzugung gegenüber den rein intuitiven Hypothesen und Gedankenexperimenten schien bei Hooke auf einem strategischen Motiv zu basieren, und zwar auf dem Motiv des Ersetzens der mentalen Objekte durch die realen. Während die rein intuitiven Vorstellungen – wie die philosophischen Spekulationen –, die axiomatischen Erkenntnisse apriorisch erzeugen und sie der physikalischen Wirklichkeit zuschreiben, scheint bei den unmittelbaren Betrachtungen der Naturphänomene sowie bei den realen Experimenten die realen Objekte oder die real objektive Phänomenalität das beobachtende und wahrnehmende Subjekt zu jener Erkenntnis zu zwingen, wie bereits oben erläutert wurde. Dabei werden die Erkenntnisse nicht allein intuitiv erzeugt, sondern notwendigerweise aus den gegebenen objektiven Phänomenen abgeleitet. Indem Newton bei der ursprünglichen Konzipierung seines Hauptwerks Principia von den keplerschen Gesetzen ausging (die er versuchte, geometrisch-mathematisch zu demonstrieren), bezieht sich Newtons Himmelsmechanik ursprünglich auf die beobachteten Phänomene. Auch die anderen Ausgangspunkte des Principia, nämlich die mechanisch-epistemologischen Beiträge von Descartes, Galileo, Huygens oder Hooke, ergaben sich zum einen aus unmittelbaren Naturbeobachtungen und zum anderen aus einer – realen und mentalen – experimentellen Basis. Allerdings schien Newton die überlieferten empirischen und intuitiven Erkenntnisse als Rohstoffe zu betrachten, die er in seiner apriorischen Denkfabrik anhand einer streng geometrisch-mathematischen Verfahrenstechnik bearbeiten wollte. Die geometrisch-mathematischen Demonstrationen der natürlichen, experimentellen sowie intuitiven Beobachtungen war für Newton of147 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
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fensichtlich eine strategische Methode, die beobachteten mechanischen Phänomene zu axiomatisieren bzw. ihnen Apodiktizität und Allgemeinheit zu verleihen. Mit seinem Werk Principia erhob Newton den Anspruch auf die Authentizität seiner Entdeckungen der axiomatischen Erkenntnisse der Klassischen Mechanik, indem er Erkenntnisse, die von anderen Wissenschaftlern der Mechanik aus unmittelbaren Beobachtungen sowie aus intuitiven Vorstellungen gewonnen und überliefert wurden, für unzureichend oder sogar für bloße Vermutungen (»guesses«) hielt. 20 Für Newton war die geometrisch-mathematische Apriorisierung der alleinige Maßstab für die Axiomatisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und für die Gewährleistung ihrer universalen Apodiktizität. Dagegen vertrat Hooke in seinem Hauptwerk Micrographia eine eher skeptische Einstellung gegenüber den verschiedenen epistemologischen Operationen des Subjekts – dargestellt in der sinnlichen Wahrnehmung, in der Erinnerung sowie im Verstand und in der Vernunft, die sich alle gegenüber der Gegebenheit der Naturphänomene als unzureichend bzw. inadäquat oder sogar als fehlerhaft erweisen können. Denn die sinnliche Wahrnehmung kann unpräzise werden, der Erinnerung kann wichtiges fehlen und der Verstand kann uns irreführen. Das Primat der Sinnlichkeit gegenüber der Erinnerung und dem Verstand liegt darin begründet, dass allein durch die Sinnlichkeit das Subjekt mit der Wirklichkeit der Natur in Berührung kommt und folglich die sinnlichen Eindrücke der Erinnerung, in der sie gespeichert werden, und dem Verstand, der sie bearbeitet, zur Verfügung gestellt werden. Daher setzt die Verbesserung der epistemologischen Funktionen der Erinnerung und des Verstandes an erster Stelle die Verschärfung und Präzisierung der Sinnlichkeit – insbesondere der Vision – voraus, was das Leitmotiv der Untersuchung in Micrographia ausmacht. »It is the great prerogative of Mankind above other Creatures, that we are not only able to behold the works of Nature, or barely to sustein our lives by them, but we have also the power of considering, comparing, altering, assisting, and improving them to various uses. And as this is the peculiar privilege of humane Nature in general, so is it capable of being so far ad-
Gemeint ist hier die newtonsche Betrachtung der ursprünglich von Kepler entdeckten Gesetze, wie das Gesetz der Elliptizität und des Flächensatzes der Planetenbewegung sowie das von Hooke vorgeschlagene Inverse-Square Law, als reine Vermutungen (guesses). Vgl. dazu NSK, S. 38 ff.
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vanced by the helps of Art, and Experience, as to make some Men excel others in their Observations, and Deductions, almost as much as they do Beasts. By the addition of such artificial Instruments and methods, there may be, in some manner, a reparation made for the mischiefs, and imperfection, mankind has drawn upon it self, by negligence, and intemperance, and a wilful and superstitious deserting the Prescripts and Rules of Nature, whereby every man, both from a deriv’d corruption, innate and born with him, and from his breeding and converse with men, is very subject to slip into all sorts of errors. The only way which now remains for us to recover some degree of those former perfections, seems to be, by rectifying the operations of the Sense, the Memory, and Reason, since upon the evidence, the strength, the integrity, and the right correspondence of all these, all the light, by which our actions are to be guided is to be renewed, and all our command over things it to be establisht. It is therefore most worthy of our consideration, to recollect their several defects, that so we may the better understand how to supply them, and by what assistances we may inlarge their power, and secure them in performing their particular duties.« 21
Hierauf ist eine deutliche Parallelität zwischen den ersten und propädeutischen Bemerkungen Descartes in Meditationen (Buch I) und den einführenden Betrachtungen von Hooke in Micrographia festzustellen. In Meditationen erläutert Descartes unsere Sinnestäuschungen, die wir in unserer Kindheit für wahr hielten bzw. an deren Wahrhaftigkeit wir glaubten, während Hooke nicht nur die Unvollkommenheit und Fehlerhaftigkeit des menschlichen Vermögens der Sinnlichkeit, sondern auch die der Erinnerung und des Verstands erörtert. Allerdings unterscheidet sich die Einstellung Hookes zu dieser Problematik radikal von der des Descartes; Hooke betrachtet die Verschärfung und Präzisierung des Sehens – die programmatisch in Micrographia unternommen wird – als die notwendige Voraussetzung auch für die Korrektur und Verbesserung des Erinnerungsvermögens, wogegen Descartes den richtigen Gebrauch des Verstandes betont und ihm gegenüber die täuschende Sinnlichkeit herabsetzt: »As for the actions of our Senses, we cannot but observe them to be in many particulars much outdone by those of other Creatures, and when at best, to be far short of the perfection they seem capable of: And these infirmities of the Senses arise from a double cause, either from the disproportion of the Object to the Organ, whereby an infinite number of things can never enter Hooke, Robert: Micrographia, The Project Gutenberg eBook, veröffentlicht am 29. März 2005, S. 13–14.
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into them, or else from error in the Perception, that many things, which come within their reach, are not received in a right manner. The like frailties are to be found in the Memory; we often let many things slip away from us, which deserve to be retain’d, and of those which we treasure up, a great part is either frivolous or false; and if good, and substantial, either in tract of time obliterated, or at best so overwhelmed and buried under more frothy notions, that when there is need of them, they are in vain sought for. The two main foundations being so deceivable, it is no wonder, that all the succeeding works which we build upon them, of arguing, concluding, defining, judging, and all the other degrees of Reason, are lyable to the same imperfection, being, at best, either vain, or uncertain: So that the errors of the understanding are answerable to the two other, being defective both in the quantity and goodness of its knowledge; for the limits, to which our thoughts are confin’d, are small in respect of the vast extent of Nature it self; some parts of it are too large to be comprehended, and some too little to be perceived. And from thence it must follow, that not having a full sensation of the Object, we must be very lame and imperfect in our conceptions about it, and in all the proportions which we build upon it; hence, we often take the shadow of things for the substance, small appearances for good similitudes, similitudes for definitions; and even many of those, which we think, to be the most solid definitions, are rather expressions of our own misguided apprehensions then of the true nature of the things themselves.« 22
Dass die Korrektur und Verbesserung der Sinnlichkeit notwendigerweise zur Korrektur des Verstandes führt, besagt die methodische Entgegensetzung Hookes gegenüber Descartes aber auch gegenüber Newton, dessen Methode letztendlich kaum den Rahmen des kartesischen Apriorismus sprengt. Hooke sieht die Wurzeln der erkenntnistheoretischen Irrtümer primär nicht in der Bearbeitung der durch die Sinnlichkeit gegebenen Eindrücke, sondern in der Gegebenheit der Naturgegenstände durch die Sinnlichkeit selbst. Die Irrtümer des Verstandes bauen auf den Sinnestäuschungen auf. Die Wichtigkeit des Faktums der Sinnlichkeit in der hookeschen Untersuchung lässt sich auf den Primat der objektiven Natur, die der endgültige Maßstab für menschliche Erkenntnisse ist, bzw. nach dem die Wahrhaftigkeit und Objektivität der menschlichen Erkenntnisse bemessen werden sollen, zurückführen. Hooke betont die Weitläufigkeit und Komplexität der Natur, die der Mensch aufgrund seines begrenzten Erkenntnisvermögens – also durch seine Sinnlichkeit und seinen Verstand – 22
Ebd., S. 14–16.
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oftmals nur unzureichend begreifen kann. Daher ist die vollkommene sinnliche Wahrnehmung der Naturgegenstände die wichtigste Voraussetzung für deren vollkommenes bzw. fehlerfreies Begreifen durch den Verstand und für alle Erkenntnisse, die darauf basieren. Während Descartes versucht, die sinnlichen Täuschungen programmatisch durch den Verstand zu korrigieren, folgt Hooke methodisch einem umgekehrten Verfahren, und zwar der Korrektur des Verstandes durch die Vervollkommnung der Sinnlichkeit und der Erinnerung, die in erster Linie auf den sinnlichen Wahrnehmungen errichtet wird. Während Descartes der Sinnlichkeit skeptisch gegenübersteht und dabei die Funktionalität des Verstandes (der allein uns – laut Descartes – zur wahren Erkenntnis hinführt) zu legitimieren scheint, geht Hooke von dem Primat der Sinnlichkeit vor dem Verstand aus, der die erst durch die Sinne gelieferten Wahrnehmungen verarbeitet. Hookes Betonung und Bevorzugung der Sinnlichkeit (gegenüber dem Primat des Verstandes) lassen sich u. a. auf eine grundlegende Tatsache zurückführen und zwar, dass es in erster Linie nicht der Verstand, sondern die Sinnlichkeit ist, die den Menschen und sein Erkenntnisvermögen mit der umgebenden objektiven Natur verbindet. Durch die Sinnlichkeit steuern die Naturgegenstände die epistemologischen Prozesse im Subjekt. Die Naturgegenstände wirken auf das Subjekt allein durch die Sinnlichkeit; das Subjekt speichert die sinnlichen Eindrücke in der Erinnerung und bearbeitet sie durch den Verstand. Obwohl Hooke alle drei subjektiven Fakultäten – die Sinnlichkeit, die Erinnerung und den Verstand – gleichermaßen korrigieren bzw. präzisieren und verbessern wollte, wurde dabei der Primat der Sinnlichkeit angedeutet. Micrographia setzt methodisch die mikrographische Detaillierung der ansonsten unsichtbaren Formen und Strukturen der Naturphänomene durch deren visuelle Vergrößerung in die Praxis um. Die Technik der Mikroskopie leistet die Präzisierung des Sehvermögens und deren wissenschaftliche Verfestigung in der Darstellbarkeit der winzigen Körper (minute bodies). Die mikroskopische Vergrößerung zielt zum einen auf das Verweilen des Blicks, der ansonsten gewöhnlich wandert und die Details der Phänomene übersieht, und zum anderen auf die Befähigung des Sehens, dessen Begrenztheit überwunden werden soll. Hooke sucht die verstandesmäßigen Irrtümer auf die Domäne der Sinnlichkeit zurückzuführen; die Rückkehr zu Sinnen veranlasst auch die Rückkehr zum Realen bzw. zu den primären Phänomenen, die zu entziffern das Ziel der mechanischen und experi151 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Entstehung der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie
mentellen Philosophie ist. Hookes Micrographia scheint in dieser Hinsicht eine von vornherein vom Kartesianismus abgegrenzte Methodik in der Mechanischen Philosophie zu etablieren, indem die Sinnlichkeit, die im Kartesischen System dem Verstand unterworfen wird, sowie die unmittelbare Gegebenheit der Naturgegenstände in der Sinnlichkeit gegenüber der verstandesmäßigen Diskursivität legitimiert werden: »Thus all the uncertainty, and mistakes of humane actions, proceed either from the narrowness and wandring of our Senses, from the slipperiness or delusion of our Memory, from the confinement or rashness of our Understanding, so that ’tis no wonder, that our power over natural causes and effects is so slowly improv’d, seeing we are not only to contend with the obscurity and difficulty of the things whereon we work and think, but even the forces of our own minds conspire to betray us. These being the dangers in the process of humane Reason, the remedies of them all can only proceed from the real, the mechanical, the experimental Philosophy, which has this advantage over the Philosophy of discourse and disputation, that whereas that chiefly aims at the subtilty of its Deductions and Conclusions, without much regard to the first groundwork, which ought to be well laid on the Sense and Memory; so this intends the right ordering of them all, and the making them serviceable to each other. The first thing to be undertaken in this weighty work, is a watchfulness over the failings and an inlargement of the dominion, of the Senses.« 23
Im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie gewinnt die hookesche Unternehmung in Micrographia insofern an besonderer Bedeutung, als sie der damaligen Dominanz des kartesischnewtonschen Rationalismus und Apriorismus – insbesondere in der Mechanik – effektiv entgegenwirkte und dabei versuchte, die sinnliche Beobachtung der Naturphänomene als die Urquelle der Naturerkenntnisse – demnach als die allerwichtigste Basis der Mechanischen Philosophie – zu etablieren. Allerdings war die hookesche Methode der präzisen bzw. mikrographischen Naturbeobachtung dem newtonschen Apriorismus bzw. der Axiomatisierung der naturphilosophischen Prinzipien durch mathematisch-apriorische Intuitionen genau genommen nicht wirklich entgegengesetzt. Denn die Gegebenheit der realen Gegenstände in unmittelbarer Beobachtung ist in ihrer Modalität analog zu der Gegebenheit der mentalen Objekte in den apriorisch-intuitiven Vorstellungen, wie wir bereits anhand 23
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Micrographia und Principia
einiger Beispiele wie der axiomatischen Intuition des Trägheitsgesetzes erörtert haben. Denn sowohl der unmittelbaren Beobachtung als auch der intuitiv-apriorischen Vorstellung liegt dasselbe Faktum des Sehens zugrunde. Das bloß Gesehene unterscheidet sich nur ontologisch von dem sich intuitiv vorgestellten bzw. visualisierten Phänomen, denn in der Modalität sind sie analoge Erscheinungen. Im Gegensatz zu den Rationalisten neigte Hooke methodisch zum empirischen Handeln – und zwar zum Handeln mit dem Auge, das sieht, und mit der Hand, die das Gesehene zeichnerisch registriert und bei realen Experimenten mit den Gegenständen operiert. Die handlungslose rein philosophische Spekulation und Diskursivität sollten notwendigerweise durch das optische und haptische Handeln ergänzt werden. Hooke sah seine Stärke nicht in den spekulativen und deduktiven Verfahren des Subjekts, sondern in der Vervollkommnung der Sinnlichkeit – insbesondere des Sehvermögens und der Hände oder der Handlung, die das Sehen operativ begleiten soll. Hooke wollte die Verbesserung und Optimierung der imaginären und diskursiven Verfahren des Subjekts – dargestellt durch die Stärke der Imagination, die Präzision der Methode und die Tiefe der Kontemplation – erst durch eine ehrliche Hand und ein treues Auge absichern und gewährleisten. 24 Er unterscheidet sich insofern von den Philosophen, die das Vermögen zu präzisen Spekulationen und zum diskursiven Denken – gegenüber der rein sinnlichen Beobachtung – hochschätzen und eher mit diesen vertraut werden. Für Hooke war die Wissenschaft der Natur kein Werk des Gehirns und der Phantasie, sondern er wollte sie auf die unmittelbare Naturbeobachtung zurückführen. Während in den kartesischen Meditationen die ersten Prinzipien von der Sphäre der Sinnlichkeit in den rationalen und sicheren Domänen des Denkens angesiedelt waren, war für Hooke die philosophisch-programmatische Rückkehr zu den ersten Prinzipien eine Rückkehr zu der Sinnlichkeit – zu ihrer Wahrhaftigkeit, Konstanz und Präzision. Eine der zentralen Charakteristiken des kartesischen Systems sowie des von Descartes initiierten frühneuzeitlichen Rationalismus war die Bemächtigung des Verstandes gegenüber der Sinnlichkeit, die allein tendenziell jene Täuschung in der unmittelbaren Erfahrung der Natur erwirkt. Nach Descartes kann allein der Verstand die Sinnestäuschungen korrigieren und folglich die axiomatischen Prinzipien durch (apriorisch) intuitive und deduktive Verfah24
Ebd., S. 20.
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Entstehung der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie
ren ableiten. Hooke schien diese hierarchische Ordnung zwischen Sinnlichkeit und Verstand, die der frühneuzeitlich-kartesische Rationalismus zu etablieren versuchte, radikal abzubauen, indem er eher auf die Täuschungen der verstandesmäßigen Operationen verwies und erläuterte, wie sie auf unzureichende und unscharfe Sinneswahrnehmungen zurückzuführen sind, und durch die Verbesserung und Verschärfung der Sinne – anhand der Instrumente wie Mikroskope oder Teleskope – aufgelöst werden können: »And I beg my Reader, to let me take the boldness to assure him, that in this present condition of knowledge, a man so qualified, as I have indeavoured to be, only with resolution, and integrity, and plain intentions of imploying his Senses aright, may venture to compare the reality and the usefulness of his services, towards the true Philosophy, with those of other men, that are of much stronger, and more acute speculations, that shall not make use of the same method by the Senses. The truth is, the Science of Nature has been already too long made only a work of the Brain and the Fancy: It is now high time that it should return to the plainness and soundness of Observations on material and obvious things. It is said of great Empires, that the best way to preserve them from decay, is to bring them back to the first Principles, and Arts, on which they did begin. The same is undoubtedly true in Philosophy, that by wandring far away into invisible Notions, has almost quite destroy’d it self, and it can never be recovered, or continued, but by returning into the same sensible paths, in which it did at first proceed. If therefore the Reader expects from me any infallible Deductions, or certainty of Axioms, I am to say for my self, that those stronger Works of Wit and Imagination are above my weak Abilities.« 25
Allerdings lehnte Hooke die epistemologischen Funktionen des Verstandes, nämlich die Sinnestäuschungen zu korrigieren sowie Ideen und Bilder in der Erinnerung zu optimieren usw., nicht ab; Hooke plädierte lediglich für einen angemessenen Gebrauch des Verstands, der die Sinne zwar steuert, aber sie nicht tyrannisiert. Hooke wollte die Sinnlichkeit nicht auf eine epistemologische Funktion der bloßen Lieferung der empirischen Erkenntnisgegenstände reduzieren; zugleich wollte er nicht allein dem Verstand die Funktion der Bearbeitung der Sinnesdaten zuschreiben; stattdessen stellte er eine eher korrektive – keine hierarchische – und zirkulare Prozessualität des Erkennens dar, an der sich der Verstand, die Erinnerung und die Sinn-
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Ebd., S. 20–21.
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lichkeit gleichmäßig beteiligen – in Analogie zum Blutverlauf, der alle Organe im menschlichen Leib miteinander verbindet: »No Intelligence from Men of all Professions, and quarters of the World, to be slighted, and yet all to be so severely examin’d, that there remain no room for doubt or instability; much rigour in admitting, much strictness in comparing, and above all, much slowness in debating, and shyness in determining, is to be practised. The Understanding is to order all the inferiour services of the lower Faculties; but yet it is to do this only as a lawful Master, and not at a Tyrant. It must not incroach upon their Offices, nor take upon itself the employments which belong to either of them. It must watch the irregularities of the Senses, but it must not go before them, or prevent their information. It must examine, range, and dispose of the bank which it laid up in the Memory: but it must be sure to make distinction between the sober and well collected heap, and the extravagant Ideas, and mistaken Images, which there it may sometimes light upon. So many are the links, upon which the true Philosophy depends, of which, if any one be loose, or weak, the whole chain is in danger of being dissolv’d; it is to begin with the Hands and Eyes, and to proceed on through the Memory, to be continued by the Reason; nor is it to stop there, but to come about to the Hands and Eyes again, and so, by a continual passage round from one Faculty to another, it is to be maintained in life and strength, as much as the body of man it by the circulation of the blood through the several parts of the body, the Arms, the Feet, the Lungs, the Heart, and the Head.« 26
Die Naturphilosophie im newtonschen Principia bezieht sich in erster Linie auf die kosmischen Phänomene. Der Vorrang der Himmelsmechanik vor der Erdmechanik in Principia lässt sich dadurch erklären, dass Newton anhand der Methode der geometrisch-mathematischen Demonstration versucht, der auch auf der Erde zu beobachtenden mechanischen Phänomenalität und ihrer Gesetzmäßigkeit eine universale Allgemeinheit zu verleihen. Das Principia Mathematica in seinem Hauptwerk hat demnach die Funktion, die seit der Antike tradierte Differenzierung zwischen der Himmels- und der Erdmechanik, die Kepler in seiner neuen Astronomie aufzuheben vermochte, vollkommen zu beseitigen und dadurch die mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie als universal gültig zu erklären. Zur mathematischen Universalisierung der Mechanischen Philosophie erarbeitet Newton sorgfältig die notwendigen philosophisch-axiomatischen Grundlagen der phänomenalen Wirklichkeit, nämlich die Vorstellungen vom absoluten Raum, von absoluter Zeit und Bewegung. 26
Ebd., S. 24–25.
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Entstehung der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie
Der Methode der (vorrangig) geometrisch-mathematischen Intuition und Deduktion in Principia stehen vielmehr die mentalen als die realen Objekte (bzw. die Objekte der unmittelbaren Beobachtung) zur Verfügung. Hookes methodischer Vorgang in Micrographia ist dadurch gekennzeichnet, dass er an erster Stelle sinnlich-intuitiv agiert und dabei ausschließlich mit den realen Naturgegenständen – vorwiegend im Rahmen einer irdischen Naturphilosophie – operiert. Während bei Newton aufgrund des überwiegenden Umgangs mit den mentalen Objekten in einigen grundlegenden axiomatischen Vorstellungen eine tendenziell intuitive Spekulation auftritt, scheint sich Hooke in seiner Methode der unmittelbaren und präzisen Beobachtung der irdischen Naturphänomene und ihrer genauen zeichnerischen Darstellung der Macht und Hegemonie der Spekulation in der Naturphilosophie entgegenzusetzen. Als notwendige Folge dieses methodischen Widerstands – gegen die herrschende Tendenz zur naturphilosophischen Spekulation – vermochte Hooke bei seinem Umgang mit den Naturgegenständen und bei den daraus gewonnenen Erkenntnissen den Rahmen einer irdischen Mechanischen Philosophie nicht wirklich zu überwinden. Dagegen konnte Newton mit Hilfe der geometrisch-mathematischen Methode die auf der Erde empirisch zu erfahrenden Naturphänomene leicht auf die Domäne einer universalen Himmelsmechanik übertragen, was am deutlichsten in seiner Spekulation der Universalgravitation zum Ausdruck kam. In seiner Abhandlung Hooke and the Law of Universal Gravitation: A Reappraisal of a Reappraisal argumentiert Richard S. Westfall, dass Hooke – im Gegensatz zu Newton – keine richtige Vorstellung von einer Universalgravitation entwickeln konnte. Westfall zeigt, wie Hooke durch seine Analogie zwischen einem empirisch zu beobachtenden erdmechanischen Phänomen der Kongruenz und Inkongruenz der Materien und der gravitationellen Anziehung (aber auch Abstoßung!) sowie durch seine vielmehr von einzelgravitationellen Wirkungen ausgehenden Betrachtungsweisen letztendlich keine Idee einer Universalgravitation, sondern nur die Vorstellung einer räumlich begrenzten Einzelgravitation erlangen konnte: »From the very day in 1686 when Edmond Halley placed Book I of the Principia before the Royal Society, Robert Hooke’s claim to prior discovery has been associated with the law of universal gravitation. If the seventeenth century rejected Hooke’s claim summarily, historians of science have not forgotten it, and a steady stream of articles continues the discussion. In our own day particularly, when some of the glitter has worn off, not from
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the scientific achievement, but from the character of Newton, there has been a tendency vicariously to atone for the treatment Hooke received. […] … I venture softly to suggest that Hooke has received more than his due. There is no question here of justifying Newton’s behaviour toward Hooke. Wholly lacking in generosity as it appears to me, Newton’s behaviour neither deserves nor can receive justification. The question turns rather on Hooke’s scientific theories. Granting always his lack of demonstrations, historians have been prone to interpret his words in the light of Newton’s demonstrations. A close examination of Hooke’s writings does not sustain the interpretation. Contrary to what is generally asserted, he did not hold a conception of universal gravitation. And if he announced the inverse square relation, he derived it from such a medley of confusion as will not allow his claim to priority.« 27
Westfall erläutert, wie Hooke versucht, die gravitationelle Anziehung durch eine physikalische Analogie der Kongruenz und Inkongruenz der Materien – vornehmlich der Fluida – zu erklären. Während die Kongruenz der Materien eine gegenüber der gravitationellen Anziehung der Himmelskörper analoge Phänomenalität zur Schau stellt, scheint die Inkongruenz der Materien eine gravitationelle Abstoßung darzustellen: »In the brief pamphlet on capillary action with which he inaugurated his public career, Hooke advanced a principle important for the understanding of his later conception of gravity. The rise of water in narrow glass pipes, he asserted, is due to a decrease in the pressure of air on the water inside the pipes. The decrease in pressure arises from ›a much greater inconformity or incongruity (call it what you please) of Air to Glass, and some other Bodies, than there is of Water to the same‹. Conformity or congruity he defined to be a ›property of a fluid Body, whereby any part of it is readily united or intermingled with any other part, either of it self or of any other Homogeneal or Similar, fluid, or firm and solid body: And unconformity or incongruity to be a property of a fluid, by which it is kept off and hindered from uniting or mingling with any heterogeneous or dissimilar, fluid or solid Body‹. To support the existence of such a principle, Hooke cited a number of phenomena. As a property of fluids it was well known; as many as eight or nine different fluids could be made to swim on each other in separate layers without mixing. Water stands on greased surfaces but sinks into wood; mercury, on the other hand, stands on wood but sinks into several metals. Incongruous fluids cannot be made to mix; when they are shaken together, they remain separated in drops. Thus water in air forms into spherical drops, and air in water into spherical bubbles. The pamphlet conWestfall, Richard S.: Hooke and the Law of Universal Gravitation, The British Journal for the History of Science, Vol. 3; No. 3 (June, 1967), Cambridge 1967, S. 245.
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Entstehung der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie
cluded by enquiring ›Whether this Principle well examined and explain’d, may not be found a co-efficient in the most considerable Operations of Nature?‹« 28
Zwei scheinbar kontradiktorische Fakten in dieser Analogie sind: 1. Die Himmelskörper bestehen aus kongruenten und inkongruenten Materien, die durch die gravitationelle Anziehung zusammengehalten werden. 2. Die hookesche Analogie setzt eine gravitationelle Abstoßung voraus. Außerdem veranlasste diese Betrachtungsweise Hooke, der Gravitation – in Analogie zu den mechanischen Phänomenen der Kongruenz und Inkongruenz – anthropomorphische Eigenschaften wie »sympathy« und »antipathy« zu attribuieren, was den Prinzipien der Mechanischen Philosophie widersprach. Auch wenn von allen Widersprüchen in dieser Analogie abgesehen wird, lässt sich aus dem Prinzip der Kongruenz und Inkongruenz keine Vorstellung einer Universalgravitation, sondern nur die der Einzelgravitation ableiten, wie sie von Kepler und Roberval vorgestellt wurde: »Nevertheless, the notion of congruity and incongruity repeatedly pushed Hooke’s thought in directions the mechanical philosophy sought to avoid. In the Micrographia he referred to congruity as ›a kind of attraction‹; he even called congruity and incongruity ›sympathy‹ and ›antipathy‹. All three terms were anathema to mechanical philosophers of strict persuasion. Perhaps the principle raised the greatest difficulty by calling the ultimate homogeneity of matter into question. Applied to gravity it suggested, not universal gravity, but particular gravities. In a similar vein Roberval argued in favour of ›a terrestrial gravity (pesanteur), a lunar gravity, a solar gravity, a jovial gravity, etc.‹. Half a century earlier Kepler had defined gravity as ›a mutual corporeal affection to unity or conjunction among cognate bodies (of which kind is the magnetic faculty) …‹« 29
Hooke schien durch die Analogie der Kongruenz und Inkongruenz der Materien die Natur der Gravitation und ihre Struktur zu demonstrieren. Obwohl die Himmelskörper aus kongruenten und inkongruenten Materien zusammengesetzt sind, scheint die Gravitation, die die Teile des Himmelskörpers zusammenhält, ein analoges strukturelles Prinzip wie die Kongruenz, dargestellt durch ihre zentripetale 28 29
Ebd., S. 245–246. Ebd., S. 246–247.
158 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Micrographia und Principia
Anziehung, zu haben. Indem sich die hookesche Analogie von vornherein auf unmittelbar zu beobachtende irdische Phänomene bezieht, kann daraus keine Vorstellung von Universalgravitation entwickelt werden. Denn die irdischen Körper, die ihre Teile durch interne zwischenmolekulare Anziehung (die in verschiedenen Qualitäten der Materie wie Kohäsion, Dichte, Härte aber auch in der Kongruenz zutage treten) zusammenhalten, sind räumlich begrenzte Phänomene. Allerdings erweiterte Hooke seine Vorstellung von der Gravitation, die er ursprünglich aus materiellen Phänomenen und ihren Qualitäten abzuleiten versuchte, über die materiell-körperlichen Grenzen hinaus auf die umgebende Sphäre, innerhalb derer die Himmelskörper auch die anderen Himmelskörper anziehen. Die Deutung einer derartigen Fernwirkung der Gravitation bildete eine Propädeutik zu der newtonschen Vorstellung von Universalgravitation. Aber die gravitationellen Sphären der einzelnen Himmelskörper in der hookeschen Intuition dehnen sich nicht unendlich aus; sie sind wiederum – ebenso wie die Materialität der Himmelskörper – räumlich begrenzt: »In I674 Hooke concluded his Attempt to Prove the Motion of the Earth with a passage invariably (and justly) cited by those concerned to defend his claim to the theory of universal gravitation. […] ›This depends upon three Suppositions. First, That all Coelestial Bodies whatsoever, have an attraction or gravitating power towards their own Centers, whereby they attract not only their own parts, and keep them from flying from them, as we may observe the earth to do, but that they do also attract all the other Coelestial Bodies that are within the sphere of their activity; and consequently that not only the Sun and Moon have an influence upon the body and motion of the Earth, and the Earth upon them, but that ☿ also , ♂, ♄, and ♃ by their attractive powers, have a considerable influence upon its motion as in the same manner the corresponding attractive power of the Earth hath a considerable influence upon every one of their motions also. The second supposition is this, That all bodies whatsoever that are put into a direct and simple motion, will so continue to move forward in a streight line, till they are by some other effectual powers deflected and bent into a Motion, describing a Circle, Ellipsis, or some other more compounded Curve Line. The third supposition is, That these attractive powers are so much the more powerful in operating, by how much the nearer the body wrought upon is to their own Centers. Now what these several degrees are I have not yet experimentally verified; but it is a notion, which if fully prosecuted as it ought to be, will mightily assist the Astronomer to reduce all the Coelestial Motions to a certain rule, which I doubt will never be done true without it. He that understands the nature of the Circular Pendulum and Circular Mo♁
159 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Entstehung der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie
tion, will easily understand the whole ground of this Principle, and will know where to find direction in Nature for the true stating thereof.‹« 30
In diesem Abschnitt erläutert Hooke die notwendigen Annahmen (die bei Newton – in Principia – zu wichtigen Prämissen seiner geometrisch-mathematischen Demonstrationen der keplerschen Gesetze, wie der Elliptizität der Planetenbahn, des Flächensatzes und vor allem seiner Vorstellung von der Universalgravitation, wurden); diese Annahmen sind die zentripetale Fernwirkung der Gravitation, die Anziehung aller Himmelskörper zueinander sowie die Entstehung der kreisförmigen oder elliptischen Planetenbahnen aus der Zusammenwirkung von linear-tangentialer Trägheitsbewegungstendenz der Planeten und der zentripetalen Anziehung der Gravitation. Dennoch vermochte Hooke es kaum aus diesen durchaus angemessenen Prämissen eine, der newtonschen Vorstellung analoge Intuition der Universalgravitation zu entwickeln. Denn die Struktur der hookeschen Intuition der Gravitation konnte sich aufgrund ihrer Bezogenheit auf die unmittelbar zu beobachtenden irdisch-mechanischen Phänomene nicht unendlich – im All – ausdehnen. Ebenso wie seine Analogie der Kongruenz und Inkongruenz konnte Hooke durch diese – oben zitierten – mechanischen Intuitionen nur die Vorstellung von räumlich begrenzten Einzelgravitationen der Himmelskörper erlangen, wie Westfall aufzeigt: »Certainly the passage is remarkable. Certainly it appears to state a principle of universal gravitation. That is, to us, familiar with Newton, it appears to state such a principle. Does it do so in fact? Several phrases that Hooke used suggest rather that he thought in terms of particular gravities, though not to be sure in exactly the same terms as Kepler and Roberval. Celestial bodies have an attraction towards ›their own Centers‹ by which they attract ›their own parts‹. They attract other celestial bodies ›within the sphere of their activity‹ as well, and exercise on their motions ›a considerable influence‹. The phrases recall at least the principle of congruity.« 31
Den oben erörterten Betrachtungen Hookes ist zu entnehmen, dass Hooke zur Vorstellung und Begründung der himmelsmechanischen Phänomene zum großen Teil von unmittelbar erfahrbaren Naturphänomenen Gebrauch macht. Die einzige Spekulation in diesen Betrachtungen scheint die Vorstellung von der Fernwirkung der HimmelsWestfall, a. a. O., S. 247. Vgl. auch Hooke, Lectiones Cutlerianae; facsimile reproduction in Gunther, Early Science in Oxford, Viii, 27–28. 31 Westfall, a. a. O., S. 247–248. 30
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Micrographia und Principia
körper zu sein, was aber im Grunde allein die Erweiterung der auf der Erde zu beobachtende Fernwirkung der Gravitation ist. Hooke schien festzustellen – und zwar aus seinen unmittelbaren Beobachtungen –, dass die irdische Natur und der Kosmos keine unendlich ausgedehnte Universalgravitation, sondern nur räumlich begrenzte Einzelgravitationen zur Schau stellen. Denn es ist nicht schlüssig, sich intuitiv vorzustellen, dass sich eine zentripetal anziehende Kraft unendlich ausdehnt. Die Natur und Struktur der gravitationell-zentripetalen Anziehung scheinen der himmelskörperlichen Ausdehnung eher Grenzen zu setzen als grenzenlos zu wirken. Offensichtlich versucht Hooke – ebenso wie Kepler – seine Intuition der Natur und der Struktur der Gravitationskraft auf unmittelbar zu beobachtenden und als solche empirisch bewiesenen Naturphänomenen aufzubauen. Die newtonsche Intuition der Universalgravitation (die die Wissenschaftshistoriker wie Westfall gegenüber der Vorstellung von der Gravitation bei Hooke, Roberval oder Kepler verteidigen und legitimieren) bleibt allerdings keine empirisch bewiesene – oder zu beweisende – Tatsache, sondern streng genommen eine Spekulation. Aus der von Newton selbst und von anderen Wissenschaftlern der Astronomie vorgestellten gegenseitigen Anziehung aller Himmelskörper im Solarsystem folgerte Newton den Schluss, dass jeder Himmelskörper alle anderen Himmelskörper im All anzieht. Zwar betrachtete er die gravitationelle Fernwirkung philosophisch als eine absurde Annahme, aber er hielt an seiner Vorstellung von der Universalgravitation fest. Hierauf ist es wichtig anzumerken, dass während die gravitationelle Fernwirkung auf der Erde bzw. im Rahmen der irdischen Mechanik ein unmittelbar zu beobachtendes Phänomen ist, die grenzenlose universal-gravitationelle Fernwirkung im Rahmen der Himmelsmechanik eine Spekulation bildet (die sich empirisch nicht begründen lässt). Dass ein Himmelskörper wie die Erde oder der Mond die anderen, ein paar Lichtjahre entfernten Himmelskörper anzieht, entzieht sich unserer Vorstellungskraft. Falls Newton seine Vorstellung von der Universalgravitation stillschweigend auf das Solarsystem beschränkt, bezieht sie sich auf eine begrenzte Sphäre im All – und nicht auf eine unendliche Ausdehnung des Kosmos. Wie Hookes Vorstellung von der einzelgravitationellen Fernwirkung entstand auch Newtons Idee der unendlich ausgedehnten Universalgravitation aus einer apriorischen Intuition. Die hookesche und die newtonsche Intuition der Gravitation haben sowohl die zentripetale Raumstruktur als auch die Natur der – ebenso zentripetalen 161 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Entstehung der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie
– Anziehung gemeinsam; sie unterscheiden sich voneinander allein durch die Spekulation, ob die Gravitationssphäre begrenzt oder unbegrenzt ist. An dieser Stelle ist es wichtig zu untersuchen, wie – auf welchen Grundlagen – Newton die rein apriorische Vorstellung von der Universalgravitation entwickelte. An vorheriger Stelle haben wir erläutert, wie Newton im Vergleich zu Hooke und im Rahmen seiner Mechanischen Philosophie vorwiegend mit geometrisch-mathematischen Intuitionen und den darauf basierenden Deduktionen operiert. Die Methode der geometrisch-mathematischen Demonstration baut nicht auf realen, sondern auf repräsentativen mentalen Objekten und Prozessen auf. Die Realität der Gravitationskraft ist eine physikalische Entität und als solche ein Gegenstand der unmittelbaren Beobachtung und der realen Experimente. Aber die radial-vektorielle Repräsentation der Gravitation ist grundsätzlich eine Abstraktion, also ein mentales Objekt, das nur die Struktur der Gravitation darstellt. Als linear-geometrische Form kann sich der Gravitationsvektor unendlich ausdehnen, was der physikalischen Realität der gravitationellen Ausdehnung nicht unbedingt entspricht. Newton schien bei der Spekulation und bei der axiomatischen Feststellung von einer Universalgravitation von Anfang an durch seine eigenen geometrisch-mathematischen Vorstellungen von himmelsmechanischen Phänomenen, nämlich die geometrisch-vektorielle Darstellbarkeit der Gravitationskraft und den unendlich ausgedehnten absoluten Raum, beeinflusst gewesen zu sein. Eine andere wesentliche Grundlage dieser Spekulation wäre das – von Newton selbst erfundene – Prinzip der Infinitesimalrechnung. Das Zulassen des Unendlichkleinen in die geometrisch-mathematische Methodik, anhand derer Newton den keplerschen Flächensatz zu begründen vermochte, hätte Newton auch dazu veranlasst, sich die unendliche und grenzenlose Verdünnung der Gravitationskraft in unendlichen Entfernungen vorzustellen. Allem Anschein nach war die Spekulation der Universalgravitation bei Newton kein Ergebnis der unmittelbaren Naturbeobachtung oder der Experimente, sondern ein Produkt – und zwar ein Endprodukt – seiner geometrisch-mathematischen Intuition. Die geometrisch-mathematische Axiomatisierung der Universalgravitation blieb somit eine Spekulation, deren Realität nicht bewiesen werden kann. Die Intuition mit den realen Objekten – wie sie Hooke im Rahmen seiner Mechanischen Philosophie zu praktizieren versuchte – unterscheidet sich von der geometrisch-mathematischen Intuition 162 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Micrographia und Principia
mechanischer Phänomene, in der zum großen Teil mit abstrakten und repräsentativen mentalen Formen und Prozessen operiert wird. Zwar basierte die frühneuzeitliche Mechanische Philosophie auf dem Grundprinzip der ständigen Resonanz und Übereinstimmung zwischen den rein intuitiven und den real-phänomenalen Formen und Strukturen (was, wie vorher erörtert wurde, die Philosophie der strukturellen Intuition ausmacht), aber der Mensch geht tendenziell bei seiner intuitiven Spekulation so weit, dass er dabei vergisst zu prüfen, ob seine Spekulation der phänomenalen Wirklichkeit entspricht. Daher bleibt jene weit übertriebene Spekulation letztendlich ein mentales Konstrukt, dessen phänomenale Wirklichkeit und Apodiktizität nicht mehr ein Faktum des Wissens, sondern ein Faktum des Glaubens ist und sich als solches historisch etabliert. Denn wir wissen nicht, ob die Gravitation universal bzw. unendlich ausgedehnt ist, sondern wir glauben fest daran. Die Erfahrung ist der einzige Maßstab, mit dem bewertet werden kann, ob eine wissenschaftliche Erkenntnis objektiv gültig ist und demnach zu einem Wissenssystem gehört. Bei den himmelsmechanischen Erkenntnissen ist allerdings eine unmittelbar sinnliche Erfahrung kaum möglich. Wie zuvor dargelegt wurde, stützt man sich bei himmelsmechanischen Spekulationen zum einen auf die beobachteten empirischen Daten (wie im Fall Keplers, der von den von Tycho Brache überlieferten Beobachtungen der Marspositionen Gebrauch machte) und zum anderen auf die Apriorität der dynamisch-strukturellen Intuitionen, deren Apodiktizität letztendlich auf der Objektivität des Freiraumes – auf seiner Einheit, Finalität und Universalität – basiert. Die Apodiktizität der himmelsdynamischen strukturellen Intuitionen bedeutet zwar die Objektivität der himmelsmechanischen Erkenntnisse und demnach deren Zugehörigkeit zu einem Wissenssystem, aber sie wird kaum durch empirische Erfahrungen bestätigt, sondern wiederum apriorisch bestimmt. Bei der eher apriorischen Bestimmung der Apodiktizität wird jener himmelsmechanischen Erkenntnis eine phänomenale Wirklichkeit, die wir selten unmittelbar erfahren, zugeschrieben. In diesem Verfahren, das die Kontextualität der rational-mathematischen Mechanik ausmacht, können etliche wichtige Prämissen leicht übersehen oder zugunsten eines wissenschaftlichen Kontexts unterdrückt werden. Bei Beobachtungen und Experimenten scheinen dagegen die unmittelbar sinnlich zu erfahrenden Phänomene eine gewisse epistemologische Autonomie zu erlangen, so dass sie dem Subjekt die Wahrhaftigkeit und Gesetzmäßig163 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Entstehung der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie
keit ihrer Phänomenalität mitteilen. Hier ist das Subjekt in erster Linie ein Rezipient; die Bestätigung der Apodiktizität seiner Erkenntnisse ereignet sich vorrangig in der Domäne der Sinnlichkeit und der sinnlich zu erfahrenden Gegenstände. Zwischen dem newtonschen Principia und dem hookeschen Micrographia ist demnach eine kontextuale Differenz aufzuweisen. Es handelt sich dabei nicht nur um eine Unterscheidung zwischen den rational-mathematischen und den empirisch-experimentellen Methoden, sondern auch um die ontologische Differenz zwischen den Untersuchungsgegenständen – also zwischen den mentalen und den realen Objekten. Darüber hinaus bezieht sich diese kontextuale Differenz auf die Historizität der Untersuchungsgegenstände. Indem die Untersuchungsgegenstände bei himmelsmechanisch-strukturellen Spekulationen sowie bei den Gedankenexperimenten gewöhnlich allein mental konstruiert werden, scheinen sie stets durch ein Faktum des Glaubens – dass sie tatsächlich in der vorgestellten Art existieren – begleitet zu werden. Dagegen werden die Untersuchungsgegenstände bei den Beobachtungen und realen Experimenten dem erkennenden Subjekt gegeben; an diese Untersuchungsgegenstände wird nicht nur geglaubt, sondern sie werden wahrgenommen, als ob diese Erkenntnisart eher vom Objekt gesteuert wird. Das sich einmischende Faktum des Glaubens scheint den rein mental konstruierten Untersuchungsgegenständen jene Historizität zu verleihen, während sich die realen Wissenschaftsgegenstände – im Rahmen wissenschaftlicher Beobachtungen und Experimente – tendenziell als ahistorisch erweisen. Die kontextuale Differenz zwischen der rational-mathematischen und der beobachtenden sowie experimentellen Mechanik hat daher ihre Wurzeln in der eher ontologisch bedingten domanialen Differenz zwischen den virtuellen und den realen Untersuchungsgegenständen.
164 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Kapitel 4 Die epistemologische Finalität und die Grenzen der ätiologischen Strukturen der Wissenschaften
Der Übergang in materielle Wissenschaften Die Entzifferung der phänomenalen Wirklichkeit, die für die frühneuzeitliche Mechanische Philosophie das wichtigste Ziel als auch das historische Motiv zum Fortschritt zu sein schien, erschien zugleich als eine ontologische und epistemologische Herausforderung, dargestellt durch das Endziel jener philosophisch-wissenschaftlichen Untersuchung, nämlich die Bestimmung der wahren Existenzbasis der Phänomene und ihrer Erkennbarkeit. Die phänomenale Existenz bildet offensichtlich das objektive Faktum, dessen Erkennbarkeit gewissen subjektiv-epistemologischen Grenzbedingungen unterworfen ist. Die Grenzen der ontologischen Grundlagen der Phänomene werden bekanntlich durch die Grenzen ihrer Erkennbarkeit bedingt, an der die Sinnlichkeit unmittelbar teilhat. Wie im vorigen Kapitel erörtert wurde, bezieht sich die Sinnlichkeit – vornehmlich die Vision – auf die unmittelbare Wahrnehmung aber auch auf die produktive Einbildung – also auf objektiv-reale und auf rein mentale Objekte. Aus der Mechanischen Philosophie der Frühneuzeit, dargestellt vor allem in den Werken von Descartes, Kepler, Galileo, Newton, Huygens, Hooke u. a., ging die Klassische Mechanik als Grundwissenschaft hervor. Auch wenn Newton die mechanischen Gesetze der Natur mathematisch axiomatisierte, ging er dabei ursprünglich von der Erkennbarkeit der Naturphänomene bzw. ihrer Existenzweise, Wirkungsart sowie Ursächlichkeit aus. Die Mathematisierung der Naturphänomene – dargestellt an Beispielen der elementaren Formen und Strukturen in der Klassischen Mechanik, wie der vektoriellen Darstellung der Kräfte, dem Parallelogramms-Gesetz usw. – verweist zwar auf eine eher apriorisch erzeugte Finalität der Erkennbarkeit phänomenaler Existenz, aber eine derartige epistemologische Finalität sollte bei der Axiomatisierung der Naturgesetze notwendigerweise der objektiv-phänomenalen Wirklichkeit entsprechen. Wie an der 165 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die epistemologische Finalität
vorigen Stelle dargelegt wurde, neigte allerdings die für legitim gehaltene Mathematisierung bzw. geometrisch-mathematische Demonstration der mechanischen Naturgesetze tendenziell zu einer kontextualen Verschleierung ihrer wahren bzw. objektiv-phänomenalen Existenzweise. Diese zu entdecken war die größte Herausforderung der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie. Die objektiv-phänomenale Existenzweise der Untersuchungsobjekte, über die die Wissenschaft der Klassischen Mechanik verfügt, scheint einfach zu sein, denn sie bilden finale bzw. weiterhin irreduzible Entitäten wie Körper, Bewegung, Freiraum und Kräfte. Während die Existenzweise – der ontische Status – der Körper und des Freiraumes problemlos eine mechanisch-kontextuale Finalität erlangt, bleibt die Natur der Existenz – oder der ontische Status der Kräfte – ein ungelöstes Problem. Im Rahmen der Mechanischen Philosophie setzt die Existenz der Kräfte und der Kraftstrukturen notwendigerweise die körperliche Ausdehnung und Materialität voraus; die Erzeugung der Bewegung durch die Kräfte oder die statische Gleichgewichtslage der Körper ist ohne die Materialität der Kräfte undenkbar. Aber was ist oder wie existiert eine Kraft? Während die dynamischen Bewegungen viel klarere Evidenzen der Wirkung der Kräfte – wie der Gravitation – liefern, bleibt uns die Existenz der statischen Kräfte und deren Gleichgewichtslage im Körper, dargestellt auch durch die gravitationelle Wirkung, die Scherungsresistenz usw., weiterhin ein Rätsel, denn die statischen Kräfte erzeugen keine Bewegung, sondern einen Druck, die Reibungs- oder Scherungsresistenz usw. Diese Charakteristiken gehören aber zur Materialität des Körpers. Demnach scheint eine Gleichsetzung zwischen der Materialität der Körper und der Existenzweise der statischen Kräfte, die diese Materialität voraussetzt, von vornherein nicht schlüssig zu sein, denn sie erklärt den ontischen Status der Kräfte nicht hinreichend. Die Vertreter der frühneuzeitlichen Klassischen Mechanik suchten bekanntlich kaum nach einer Letztbegründung der wahren Existenzweise der Kräfte; sie schienen vielmehr allein durch die Entdeckungen ihrer Wirkungsart sowie durch die Möglichkeit ihrer Mathematisierung zufriedengestellt zu sein. Aber die Suche nach den Wirkungsarten und -gesetzen der statischen und dynamischen Kräfte führt unweigerlich zu den Erklärungsversuchen ihrer Ursachen, die sich unmittelbar auf die Existenzweise der Kräfte beziehen. Denn Kräfte sind im Kontext der Mechanik Ursachen der dyna166 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Der Übergang in materielle Wissenschaften
mischen und statischen Wirkungen in der Körperwelt. Auch wenn wir hierbei die Was-Frage – nämlich, was die Kräfte sind – außer Betracht lassen, bleibt eine rätselhafte Wie-Frage übrig, und zwar die Frage danach, wie die Kräfte wirken. Diese Frage ist jedoch ohne zureichende Bestimmung des ontischen Status der Kräfte kaum zu beantworten. D. h. die Ursächlichkeit der Kräfte sagt nicht nur etwas über die eher epistemologische Bestimmung des Modus der Verursachung (was in der Wirkung zutage tritt) aus, sondern noch tiefgreifender über den ontischen Status der Kräfte, die die mechanischen Wirkungen herbeiführen. Die Kraft als Ursache verweist in dieser Weise letztendlich auf eine ontologische Ursächlichkeit. Die geometrische Mathematisierung der Kräfte kann lediglich bis zur bloßen Form der Kräfte – ihrer Wirkung oder Verursachung – aber schwerlich bis zu ihrer wahren Substantialität gelangen. Wie bereits erläutert wurde, maskiert die geometrisch-mathematische Demonstration der Kräfte und Kraftstrukturen daher den wahren ontischen Status der Kräfte, der uns unbekannt ist. Im Bereich der Klassischen Mechanik, aber auch in anderen Bereichen der Klassischen Raumwissenschaften wie der Geometrischen Optik, funktioniert eine derartige Mathematisierung – als geometrisch-mathematische Kontextualisierung. Denn die Raumwissenschaften wie die Klassische Mechanik und die Geometrische Optik basieren auf der Geometrie – als grundlegende Raumwissenschaft – und die Mathematisierung der mechanischen und der optischen Grundphänomene, wie die Kraft, die Bewegung und das Licht, setzt nicht unbedingt eine Untersuchung ihres ontischen Status bzw. der Materialität der Kräfte oder des Lichtes voraus. Daher lassen sich die klassischen Raumwissenschaften wie die frühneuzeitliche Klassische Mechanik und die Geometrische Optik als mathematische Wissenschaften bezeichnen, obwohl sie sich nicht auf rein mathematische, sondern auf physikalische Entitäten beziehen. Mathematisierung verleiht den mechanischen und den optischen Phänomenen (wie der Kraft und dem Licht) im Rahmen dieser Klassischen Raumwissenschaften keine ontologische, sondern nur eine kontextuale Finalität – D. h. eine Finalität im Kontext der mathematischen Wissenschaften, wie an vorheriger Stelle erörtert wurde. Die Mathematisierung vereinfacht die Kraft- oder Lichtstrukturen, indem sie ihren rätselhaften ontischen Status zugunsten der mathematischen Wissenschaften verschleiert und folglich von vornherein dessen Auftritt als Untersuchungsgegenstand verhindert. Dies erklärt 167 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die epistemologische Finalität
auch den frühen Aufgang der Klassischen Mechanik und der Geometrischen Optik vor den materiellen Wissenschaften in der Frühneuzeit. Denn es lässt sich leicht nachvollziehen, wie die einfache und klare bzw. klar strukturierte Wissenschaft zunächst geschichtlich auftritt, bevor nach ihren weiteren und komplexeren Grundlagen gesucht wird. Aus historischer Sicht erweisen sich der Ursprung der klassischen Raumwissenschaften als mathematische Wissenschaften in der Frühneuzeit und ihr Übergang in spätere materielle Wissenschaften im Großen und Ganzen als kontextuale Emergenzen und Übergänge, charakterisiert durch bestimmte epistemologische aber auch ontologische Grundvoraussetzungen. Während sich die ursprüngliche klassische-newtonsche Mechanik als eine fast vollkommene geometrisch-mathematische Wissenschaft betrachten lässt, zeigt die relativ spät entwickelte Physik eine kompositorische Struktur – sowohl als mathematische als auch als materielle Wissenschaft. Denn in der Physik begann man die Materialität der Körper – deren elementare Bestandteile, strukturelle Formen und Kraftprinzipien – zu untersuchen. Hierauf könnte man annehmen, dass die Physik die tradierte mechanisch-kontextuale Maske der Entität Körper zu dekonstruieren begann. Anders ausgedrückt: Die Entstehung der Wissenschaft der Physik, die sich zugleich als mathematische und als materielle Wissenschaft betrachten lässt, basierte allem Anschein nach auf dem Motiv, die mechanische Irreduzibilität der Entität Körper zu überwinden und dadurch ihre historischkontextuale Finalität zu invalidieren. In gewisser Hinsicht dekonstruierte die Physik die Wissenschaft der Mechanik, indem sie die Grenzen der ätiologischen Strukturen, die den axiomatischen Letztbegründungen der Mechanik innewohnten, in den materiellen Wissensbereichen auszuweiten begann. Ebenso ging die ursprüngliche Geometrische Optik in die physikalische und physiologische Optik über, die – abgesehen von der geometrisch-mathematischen Reduzierbarkeit des Lichtes und seiner dioptrischen Eigenschaften – den Status einer materiellen Wissenschaft erlangten. Der frühneuzeitliche Übergang von den mathematischen in die materiellen Wissenschaften ereignete sich allerdings im historischen Rahmen der Mechanischen Philosophie. Dieser Übergang erreichte seinen Höhepunkt während der Etablierung der Wissenschaft der Chemie, die sich im Gegensatz zur Mechanik und Optik kaum mathematisieren ließ. Das Aufkommen der Chemie als Wissenschaft wurde bekanntlich durch die Korpuskularphilosophie von Boyle ver168 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Der Übergang in materielle Wissenschaften
anlasst. Zugunsten seiner Korpuskularphilosophie, die die frühneuzeitliche Mechanische Philosophie erneut etablieren sollte, versuchte Boyle – neben anderen Atomisten wie Gassendi – die antike Lehre des Atomismus wieder aufleben zu lassen: »The application of atomic theory to physical science began, as is well known, in the seventeenth century. Recent scholarly investigations have amply shown how GASSENDI was but one among the many who revived the doctrines of the Greek atomic philosophers. At the same time DESCARTES was the founder of a rival school, and Cartesians and ›Epicureans‹ fought many learned and vehement battles over the nature of matter. Then the growth of experimental science led to new particulate theories and among the leaders in this development was ROBERT BOYLE: chemist, physicist, one of the founders of the Royal Society, and a master of the ›new learning.‹ BOYLE was neither a Cartesian nor an Epicurean but, as he preferred to say, a ›confirmed corpuscularian,‹ whose enormous prestige in his own time was a tribute to his experimental discoveries, but equally to his espousal of the atomic theory.« 1
Das Wiederaufleben des antiken Atomismus und seiner Neudeutung in einer Korpuskularphilosophie schien bei Boyle eine strategische Maßnahme zu sein, um die Mechanische Philosophie zu restaurieren. Der antike Atomismus von Demokrit ging von dem Grundprinzip aus, alle qualitativen Eigenschaften der Körper auf finale und rein materielle Entitäten, nämlich auf die unteilbaren Atome, zurückzuführen. Die aristotelische und scholastische Physik setzte sich genau dieser Betrachtungsweise entgegen, indem sie die körperlichen Eigenschaften als immanente reale Qualitäten und als substantielle Formen im Körper bestimmte. Die Korpuskularphilosophie Boyles differenzierte sich allerdings von dem frühneuzeitlichen Wiederaufleben des Atomismus, indem sie sich zunächst um Lösungsansätze für einige fundamentale Probleme der Mechanischen Philosophie bemühte. Dabei war Boyles Korpuskularphilosophie nicht lediglich eine Reaktion auf die tradierte scholastische Lehre der körperlichen Qualitäten, sondern sie entstand im Rahmen der zeitgenössischen Mechanischen Philosophie, indem sie deren Grundlagen erneut festlegte und sie zu der Fortentwicklung der Wissenschaften bereitstellte.
Boas, Marie: The Establishment of the Mechanical Philosophy, The University of Chicago Press on behalf of The History of Science Society, Osiris, Vol. 10 (1952), S. 413.
1
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Die epistemologische Finalität
»This title, ›restorer of the mechanical philosophy,‹ contains, I believe, the clue to BOYLE’S reputation and is at the same time a key to the understanding of his proper place in seventeenth century science. For the mechanical philosophy was the answer to a fundamental problem of the time and by its aid were evolved theories of matter both more sophisticated and more useful to early modern science than the Greek theories from which seventeenth century atomism took its original inspiration. Fundamentally the mechanical philosophy implied the explanation of properties of bodies in terms not of Aristotelian physics but of the newly developed and developing science of mechanics which was replacing it.« 2
Die frühneuzeitliche Mechanische Philosophie vertrat verschiedene Theorien der Materie, die allesamt daran ausgerichtet waren, den scholastischen Aristotelismus zu überwinden. Eine Gegenposition zu Aristoteles und zum scholastischen Aristotelismus wurde im frühen 17. Jahrhundert – neben Galileo, Descartes, Gassendi oder Boyle – von vielen Wissenschaftlern und Philosophen vertreten, die verschiedene Theorien der Materie zu entwickeln begannen. Die Theorien der Materie von Hill, Basso, Sennert, Jungius, Berigard oder Magnen bildeten dabei eine gewisse Propädeutik zu den späteren Theorien der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie im 17. Jahrhundert. 3 Einer der wichtigsten Vertreter des frühneuzeitlichen Atomismus war Pierre Gassendi. Die gegen Aristoteles gerichtete Position veranlasste den Philosophen Gassendi, sich der Theorie des Epikurs anzunähern und sie in dem modernen Kontext der gegenscholastischen Mechanischen Philosophie wiederzubeleben: »Most famous and most influential of all the revivers of the atomic systems of antiquity was PIERRE GASSENDI. GASSENDI began as an anti-Aristotelian who saw in the Epicurean theory the possibility of developing a complete non-Aristotelian physical and philosophical system. GASSENDI was the first of the seventeenth century reintroducers of Greek atomism to reject Aristotelian physics in its entirety and to adopt, as far as the ancients had carried it, a mechanical philosophy to account for the properties of bodies. Except for his complete rejection of the atheistical doctrines of EPICURUS, GASSENDI followed Epicurean theories without much change except of course for his cosmological views. GASSENDI believed in the existence of the vacuum; in the acceptance of this concept he was helped by the fact that, unlike DESCARTES, he did not believe that matter was synonymous with extension. For GASSENDI, matter was characterized by ›solidity, hardness, resistance, impenetrability‹ as well as by extension. An atom 2 3
Ebd., S. 414. Ebd., S. 422–429.
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Der Übergang in materielle Wissenschaften
was not a mathematical point, but a physical entity, endowed with magnitude, figure and weight, indivisible because it was absolutely solid, that is, contained no vacuum.« 4
An dieser Stelle ist es wichtig anzumerken, dass Atome als letztmögliche unteilbare Bausteine der Materie, auf die alle körperlichen Eigenschaften zurückzuführen sind, sowohl in der Antike als auch in der Frühmoderne keine experimentell bewiesenen Objekte, sondern eher hypothetische Entitäten waren. D. h. die Lehre des Atomismus in der Antike und in der Frühmoderne entstand kaum aus einer experimentellen Wissenschaft, sondern sie basierte auf einer philosophischen Spekulation, deren Apriorität und Apodiktizität fast paradigmatisch zu etablieren versucht wurden. Die Existenz der Atome wurde in der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie nicht experimentell bewiesen; vielmehr wurde daran geglaubt. Dennoch lassen sich die Atome im Kontext der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie nicht als rein mentale Objekte betrachten. Denn die Atomisten versuchten, sich in die unsichtbare Innenstruktur der Materie hineinzudenken. Das Erkennen und Anerkennen der Atome als finale bzw. irreduzible Bausteine der Materie und als Grundlagen ihrer Eigenschaften verweist deutlich auf eine epistemologische Finalität, die weder in der apriorischen Vorstellung noch in der unmittelbaren empirischen Wahrnehmung, sondern in einer gewissen Korrelation zwischen dem subjektiv-apriorischen Erkenntnisvorgang und der objektiv-aposteriorischen Gegebenheit der Materie zustande kommt. Wenn Atome als finale materielle Entitäten allein subjektiv vorgestellt werden, basiert ihre epistemologische Finalität letztendlich nicht auf einer subjektiven Möglichkeit, sondern auf der gegenständlichen Gegebenheit, so dass der Denkprozess bei seinem reduktionistischen Vorgang auf materielle Grenzen stößt, deren Finalität zugleich ihre existenzielle Autonomie aufweist. Im Rahmen des Atomismus der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie wurde streng genommen mit der Materie gedacht; D. h. der Erkenntnisvorgang im frühneuzeitlichen Atomismus wurde in erster Linie von einem objektiven Faktum gesteuert und vorangetrieben. Atome als finale materielle Bestandteile markierten demnach die Grenze der Erkennbarkeit der materiellen Existenzweise, die – wenn auch vom Subjekt vorgestellt – vorrangig objektiv gegeben ist.
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Ebd., S. 429–430.
171 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die epistemologische Finalität
Bei den verschiedenen Theorien der Materie in der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie von Descartes, Gassendi, Boyle u. a. wird die finale Existenzweise der Materie spekulativ bestimmt. Während Gassendi in Anlehnung an den antiken Atomismus neben den materiellen Atomen die Existenz der Leere – als Freiraum zwischen den Atomen – anerkannte, lehnte Descartes in seiner Mechanischen Philosophie die Existenz der Leere entschieden ab. Nach Descartes kann kein leerer Raum (also ein Raum, der nicht von der Materie gefüllt ist) existieren. Allerdings schreibt Descartes dem Körper – im Vergleich zum Atomismus von Gassendi oder der Korpuskularphilosophie von Boyle – primär eine rein räumliche Extension zu. Im kartesischen System macht die Ausgedehntheit jedoch das Wesen des Körpers aus. Dass Descartes die Existenz der Leere ablehnt, scheint auf dieser Betrachtungsweise zu beruhen. Denn die Ausdehnung ist eine räumliche Ausdehnung und schließt demnach sowohl die körperliche als auch die freiräumliche Ausdehnung in sich ein. Die Möglichkeit, eine Vorstellung von der Leere zu entwickeln, hängt von dem primären Untersuchungsgegenstand ab, von dem man ausgeht. Durch die Betonung der räumlichen Extension als der primäre Wesenszug des Körpers scheint Descartes stillschweigend die Materialität der Körper zu negieren und dabei deren ontische Differenz von der leeren Ausdehnung zu übersehen. Als Atomist fokussiert Boyle die Materialität der Atome und deren Finalität als grundlegende Bausteine des Körpers. Wenn die materielle Ausdehnung gedanklich neben der räumlichen Ausdehnung berücksichtigt wird, nähert sich diese Vorstellungsweise tendenziell der Anerkennung von leeren Räumen zwischen den materiell ausgedehnten, soliden und räumlich begrenzten Atomen. Darüber hinaus setzen die verschiedenen Formen wie die Pyramide oder das Sphäroid, die Gassendi den Atomen attribuiert und auf die die körperlichen Eigenschaften wie warm, kalt, flüssig, solide usw. zurückgeführt werden, 5 die Existenz der leeren Zwischenräume voraus. Die kartesische Theorie der Materie, die die Existenz der leeren Ausdehnung ablehnt, der Atomismus Gassendis, der im Gegensatz dazu von der Existenz der Leere ausgeht, sowie die Korpuskularphilosophie von Boyle basierten letztendlich auf mentalen Objekten – als primäre Untersuchungsobjekte –, deren reale Existenz experimentell kaum belegt wurde. Die neuzeitliche Entwicklungsgeschichte der ma5
Ebd., S. 430.
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Der Übergang in materielle Wissenschaften
teriellen Wissenschaften wie die Physik oder die Chemie wurde dadurch gekennzeichnet, dass die Wissenschaftler sich dafür einsetzten, diese zunächst spekulativ vorgestellten finalen Bestandteile der Materie experimentell zu beweisen. Das Spekulative an der Mechanischen Philosophie sollte durch unmittelbare Naturbeobachtung und Experimente bestätigt werden. Dem hookeschen Hauptwerk Micrographia lag bekanntlich das Leitmotiv zugrunde, dass die elementaren Teile der Materie, die nach dem Prinzip der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie das Wesen der Materie ausmachen, der unmittelbaren Sinneswahrnehmung und vornehmlich der Vision zugänglich gemacht werden sollen. Die mikrographische Vergrößerung ermöglichte Hooke, Zellen als Elementarteile des biologischen Wesens zu entdecken. Die Suche nach den Elementarteilchen der Materie, die den rein mechanischen Prinzipien gemäß die Eigenschaften oder Qualitäten des Körpers bestimmen, ist ebenso eine Suche nach einer Grenze der Erkennbarkeit der materiellen Innenstrukturen und zugleich eine Suche nach ontisch-finalen Entitäten, die eine kausale Basis bilden bzw. worauf die Ursachen der materiellen Eigenschaften der Körper zurückzuführen sind. Die Theorien der Materie, die im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie entstanden – wie der Atomismus Gassendis oder die Korpuskularphilosophie Boyles – zielten auf die Axiomatisierung der Naturgesetze im Lichte der aufkommenden experimentellen und materiellen Wissenschaften ab; sie haben – auch im Vergleich zu der vorher erörterten Axiomatisierung der Naturprinzipien durch die Mathematisierung – folgende Wesenszüge: 1.
2.
Ein epistemologischer Vorgang, der sich auf die Grenze der Erkennbarkeit elementarer Bestandteile der Materie richtet. Als solcher bildet diese Axiomatisierung einen Prozess hin zu epistemologischen Finalitäten; diese Priorisierung erweist sich als historisch. Ein ontologischer Vorgang, der die Grenze der finalen bzw. irreduziblen Existenzweise der elementaren Bestandteile der Materie zu erreichen versucht. Dieser Vorgang bildet einen Prozess hin zu den ontologischen Finalitäten – der mentalen und realen Objekte –, auf denen die axiomatischen Erkenntnisse der materiellen Eigenschaften aufgebaut werden. Dieser Prozess – ebenso wie der Prozess hin zu epistemologischen Finalitäten – ist einer Historizität unterworfen. 173 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die epistemologische Finalität
3.
Die Suche nach einer allerletzten Kausalbasis, die den axiomatischen Erkenntnissen innewohnt. Sie lässt sich als ein epistemologischer Prozess hin zu den finalen ätiologischen Strukturen betrachten, die das Axiomatische an den wissenschaftlichen Erkenntnissen ausmachen.
Grenzen der ontologischen Kausalstrukturen und die kontextualen Masken Bei den materiellen Wissenschaften wird die kausale Letztbegründung, die die Axiomatisierung ihrer Gesetze voraussetzt, eher in einer materiellen Basis gesucht. Für die newtonsch-mathematische Mechanik würde es reichen, wenn festgestellt wird, dass eine Kraft – wie die Gravitation – körperliche Bewegungen verursacht. Kraft als Ursache, die geometrisch-mathematisch demonstriert wird, bildet hier vor allem eine epistemologische Finalität, in der allein die Modalität aber kein Wesen des Kraftphänomens in Erscheinung tritt. Wenn nach der ontologischen Basis der Kraft und ihrer Verursachung der körperlichen Wirkungen gesucht wird, wird notwendigerweise nach einer materiellen Basis des Kraftphänomens gefragt. Auf diese Weise wird in den materiellen Wissenschaften die Finalität der ätiologischen Strukturen im Prozess der Axiomatisierung bis auf eine ontologische Finalität erweitert. Daraus ergibt sich eine ontologische Ursächlichkeit, die das tiefste Fundament der phänomenalen Wirklichkeit ausmachen soll. Wenn die Untersuchung der ontischen Struktur bzw. der Materialität der mechanischen Phänomene und ihrer Wesenszüge ein epistemologischer Prozess ist, endet dieser Prozess – vorläufig oder endgültig – in der Erkenntnis finaler ontologischer Entitäten, die nicht unbedingt unmittelbar beobachtet oder experimentell bewiesen, sondern allein auf Spekulationen beruhen. Gassendis Vorstellung von den Atomen sowie Boyles Konzept der Korpuskeln aber auch die Vorstellung vom Äther, der den leeren Raum im All füllt (und der von vielen Philosophen und Wissenschaftlern lediglich vorgestellt, aber nicht wirklich definiert wurde), erwiesen sich als apriorisch vorgestellte ontologische Finalitäten der phänomenalen Wirklichkeit. Bei den materiellen Wissenschaften setzt die epistemologische Finalität notwendigerweise eine ontologische Finalität voraus, denn der
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Grenzen der ontologischen Kausalstrukturen und die kontextualen Masken
epistemologische Prozess, der die Naturerkenntnisse hervorbringen soll, entwickelt sich aus einem Denken mit der Materie. Wir haben an früherer Stelle erörtert, wie die Mathematisierung der Naturgesetze – vor allem in den Bereichen der Klassischen Raumwissenschaften wie der Mechanik und der Optik – den Naturphänomenen eine bestimmte ontologische Finalität, dargestellt durch die geometrisch-mathematischen Formen und Gesetze, verleiht. Die einfache vektorielle Repräsentation der Kraft und ihrer erweiterten Strukturen wie die zentripetale Gravitationskraft und die linear-tangentiale Struktur der Trägheitsbewegungstendenz (die bei den Planetenbewegungen zutage tritt), die Linearität der Lichtstrahlen und ihre geometrisch-optischen Gesetze in den Naturphänomenen der Reflexion, der Refraktion usw. sind Beispiele für ontologisch-finale Entitäten im Kontext der mathematischen Wissenschaften, die sich als solche von den materiell-ontologischen Finalitäten der Naturphänomene (hier: das Kraft- und Lichtphänomen) abgrenzen. Die Wissenschaft der klassisch-newtonschen Mechanik und der Geometrischen Optik setzen nicht unbedingt die materiell-ontologischen Finalitäten des Krafts- oder Lichtphänomens – als unabdingbare axiomatische Erkenntnis – voraus. Die geometrisch-mathematische Repräsentation des Kraft- und Lichtphänomens bildet eine hinreichende axiomatische Basis im Kontext der mathematischen oder mathematisierten Wissenschaft der Mechanik und Optik. Allerdings schien die frühneuzeitliche Mechanische Philosophie hinsichtlich derartiger mathematisch-ontologischer Finalitäten kaum in dem axiomatischen Grundbau der Klassischen Mechanik und Optik zu verharren. Denn sie musste jene vorläufige Finalität – demnach jenen vorläufigen Stillstand – im historisch-epistemologischen Prozess der Axiomatisierung der Naturwissenschaften überwinden. Ein wichtiges Motiv, das einen derartigen Fortschritt der Mechanischen Philosophie historisch veranlasste und dabei notwendigerweise das Aufkommen der materiellen Wissenschaften in der Frühneuzeit voraussetzte, war die unzureichende ätiologische Finalität, die vielen axiomatischen Grundlagen der mathematischen Wissenschaften innewohnte. Die allein vektorielle Repräsentation kann zwar die rein formale Basis der Kraft und ihrer Wirkung hinreichend erklären, aber sie besagt nicht, welche rein mechanische bzw. materielle Ursache die Fernwirkung der Gravitation bewirkt. Bei den mathematischen Wissenschaften in der Frühneuzeit bildete die geometrisch-mathematische Repräsentation (auf der die axiomatischen 175 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die epistemologische Finalität
Erkenntnisse in diesen Wissenschaften aufgebaut sind und mit ihnen ausschließlich operiert wurde) lediglich wissenschaftlich-kontextuale Masken der Naturphänomene, deren epistemologische und ontologische Finalität keine den Axiomen innewohnende ätiologische Finalität bedingen konnte. Eine unzureichende ätiologische Struktur im axiomatischen Grundbau der Wissenschaft führt somit dazu, dass der epistemologische Prozess der Axiomatisierung historisch fortschreiten soll und dabei die ontologischen Grundlagen der Wissenschaft erweitern bzw. neue und tiefer fundierte ontologische Finalitäten entdecken soll. Die ätiologischen Strukturen, die den axiomatischen Erkenntnissen der Naturphänomene zugrunde liegen, haben demnach letztendlich eine ontologische Basis; die allerletzte Grenze der Ursächlichkeit ist eine ontologische Grenze – und zwar eine ontologische Grenze der phänomenalen Wirklichkeit. Die mechanischen Kräfte sind zwar Ursachen verschiedener mechanischer Phänomene, dargestellt in dynamischen und statischen Zuständen, aber die Ursache des Kraftphänomens – also die kausale Basis seiner Wirkung – ist letzten Endes nicht im mathematischen, sondern im materiellen Bereich zu suchen. Wenn durch den Impetus ein Körper in Bewegung gesetzt wird oder wenn die dem Körper innewohnenden statischen Kräfte (hauptsächlich die molekulare Anziehung) die ebenso statischen Eigenschaften wie die Kohäsion, die Dichte, die Solidität usw. hervorbringen, verweisen diese Kraftprinzipien auf eine materielle Verursachung, die eine annähernd vollständige ätiologische Struktur – in den axiomatischen Erkenntnissen dieser Kraftprinzipien – etablieren lässt. Die Ursache der gravitationellen Fernwirkung bleibt – bis heute – im Kontext der Wissenschaft der Mechanik ein ungelöstes Rätsel. Denn die gravitationelle Fernwirkung scheint kein materielles Medium vorauszusetzen. Wir sind uns über die Natur und Struktur der gravitationellen Fernwirkung im Klaren, aber die materielle Basis bzw. die ontologische Verursachung dieses Naturphänomens entzieht sich unserer Vorstellungskraft. Die Schwere eines Körpers lässt sich zwar auf einen unsichtbaren gravitationellen Druck (auf den Körper) zurückführen, aber wir begreifen nicht, wie die gravitationelle Fernwirkung materiell zustande kommt. Die scheinbar immaterielle Fernwirkung der Gravitation widerspricht den Prinzipien der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie. Die Materialität ist daher eine notwendige ontologische Basis – als ontologische Ursächlichkeit – für 176 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Grenzen der ontologischen Kausalstrukturen und die kontextualen Masken
das Naturphänomen der Gravitation. Hier wird deutlich, wie die ätiologischen Strukturen innerhalb der axiomatischen Erkenntnisse eines Naturphänomens wie der Gravitation schließlich den Zug einer ontologisch-finalen Ursächlichkeit annehmen und sich darin vollenden. Die Finalität der ätiologischen Strukturen, die das Axiomatische an den mechanischen Phänomenen der Natur ausmachen soll, wurzelt am tiefsten in der ontologischen Finalität, die unweigerlich die Materialität der Naturphänomene voraussetzt. Die Theorien der Materie, die im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie entstanden sind, basieren auf den Grenzen der Erkennbarkeit dieser Materialität, die – im Zuge eines Urphänomens – die gesamte phänomenale Wirklichkeit ontologisch verursacht. Die von Boyle eingeführte Korpuskularphilosophie entwickelte sich zwar im Geiste des antiken Atomismus – von Demokrit und Epikur –, aber sie richtete sich auf die vollkommene Mechanisierung der Welt, genauer gesagt auf die mechanische Rationalisierung des Naturphänomens: »It is perhaps not too much to say, therefore, that something in the whole intellectual climate of the age helps to explain the attempts which were made in this period to revive those systems which interpreted the nature of matter itself on purely mechanistic principles. It was this which led to the prevalence in the seventeenth century of various forms of what came to be called the corpuscular philosophy. The view became current that all the operations of nature, all the fabric of the created universe, could be reduced to the behavior of minute particles of matter, and all the variety that presented itself to human experience could be resolved into the question of the size, the configuration, the motion, the position and the juxtaposition of these particles. The ancient atomic theories associated with Democritus and Epicureans were brought to life again in a new context; but one broad difference existed – whereas the ancient theory had tended to attribute everything to the fortuitous combinations of atoms, so that the universe had been left, so to speak, at the mercy of chance, now there was assumed to be rationality in the mechanism itself – indeed, the corpuscular theories were the result of the search for rationality, and even part of the urge to justify God.« 6
Die Korpuskularphilosophie und der von Gassendi wiederbelebte Atomismus waren gerade in Bezug auf die ontologische Finalität dieser – eher spekulativen – körperlichen Entitäten der kartesischen Lehre des körperlichen Kontinuums, das die Existenz der Leere negiert, entgegengesetzt. Korpuskeln oder Atome bilden finale bzw. unteil6
Butterfield, Herbert, The Origins of Modern Science, London 1982, S. 120–121.
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Die epistemologische Finalität
bare materielle Körper, aus denen das gesamte Konstrukt der phänomenalen Wirklichkeit besteht: »Some people believed that the minute particles which I have mentioned were the very last thing that could be reached in the analysis and subdivision of matter. They were hard and impenetrable and final – utterly incapable of further reduction. These people were prepared to desert a principle which had been accepted on the authority of Aristotle – prepared to admit the existence of a vacuum between the ultimate particles and inside the fabric of matter itself. They tended to follow Gassendi, who in 1626 announced his intention of restoring the philosophy of Epicurus, and produced a system specifically atomic in character. Others, who regarded a vacuum as impossible in any sense and believed therefore in the unbroken continuity of matter throughout the universe, tended rather to follow Descartes. On their view, matter was infinitely divisible, the particles could be broken up and, in fact, there was no really ultimate atom which represented the hard basis of all forms of substance.« 7
Die kontextuale Vollkommenheit der Wissenschaft der Klassischen Mechanik lässt sich, wie vorher erörtert wurde, auf die ontologische Finalität ihrer Untersuchungsgegenstände zurückführen. Die Gravitation als Naturphänomen schien gerade der strengen Differenzierung zwischen Raum und Körper im Rahmen der Klassisch-newtonschen Mechanik zu widersprechen. Denn die Gravitation ist eine körperliche Eigenschaft, die sich im nicht-körperlichen Freiraum auszudehnen scheint. Die Realität der Gravitation entspricht daher weder der Materialität der Körper noch der Immaterialität des Freiraumes. Dieser ontologische Zwischenstatus schien die Philosophen und Wissenschaftler der Astronomie zu den Vorstellungen von einer eher imaginären Materialität – z. B. der Vorstellung vom Äther, der den Freiraum füllt – zu veranlassen. Obwohl Newton die mechanische Vortex-Theorie von Descartes im Grunde ablehnte, neigte er dazu, das Phänomen der Gravitation und seiner mechanischen Fernwirkung anhand der Vorstellung vom Äther in der freiräumlichen Ausdehnung zu erklären: »… it appears that even mathematicians did not immediately grasp the meaning and importance of the Principia, and many people – especially those who were under the influence of Descartes – regarded Newton as unscientific in that he brought back on to the stage two things which had been driven out as superstitious – namely, the idea of a vacuum and the idea
7
Ebd.
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Grenzen der ontologischen Kausalstrukturen und die kontextualen Masken
of an influence which could operate across space between bodies that did not touch one another. His ›attraction‹ was sometimes regarded as a lapse into the old heresies which had attributed something like occult properties to matter. Actually he denied that he had committed himself to any explanation of gravity, or to anything more than a mathematical description of the relations which had been found to exist between bodies of matter. At one moment, however, he seemed privately to favour the view that the cause of gravity was in the ether (which became less dense at or near the earth and least dense of all at or near the sun), gravity representing the tendency of all bodies to move to the place where the ether was rarer. At another time he seemed to think that this gravitation of his represented an effect that had to be produced by God throughout the whole of space – something that made the existence of God logically necessary and rescued the universe from the over-mechanisation that Descartes had achieved.« 8
Da die Fernwirkung der Gravitation auf keine materielle Ursächlichkeit zurückgeführt werden konnte, blieb sie im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie weiterhin ein Rätsel. Die geometrisch-mathematische Darstellung der zentripetalen Gravitationskraft und alle intuitiven und deduktiven Operationen in der Wissenschaft der Klassischen Mechanik, die darauf basieren, wurden im newtonschen System der Mechanik auf der einzigen empirischen Evidenz aufgebaut, nämlich auf der Existenz der irdischen Gravitation und ihrer Wirkung auf den Körper. Dass die lunare und die solare Gravitation auf die Erde wirken – was auf die Existenz einer Universalgravitation hinweist –, schien vor allem durch das Phänomen der Gezeiten, das Newton anhand seines Gravitationsgesetzes erläutert, hinreichend bestätigt worden zu sein. Die Existenz der Gravitation – also ihre Wirklichkeit – stellt aber keine Ursächlichkeit der gravitationellen Fernwirkung dar, die sich im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie hätte erklären lassen. Daher verzichtete Newton schließlich auf eine kausale Erklärung der Gravitation und begnügte sich selbst bekanntlich mit der empirischen Evidenz ihrer Existenz. Denn die Mathematisierung der Gravitation und der gravitationellen Wirkungen in Principia benötigt keine Erklärung der materiellen Ursächlichkeit der gravitationellen Fernwirkung. Aber die Axiomatisierung der Gravitation im newtonschen System blieb ohne eine hinreichende kausale Erklärung und somit – gemäß den Prinzipien der Mechanischen Philosophie – unvollendet. Denn die Vollständigkeit der ätiologischen Struktur des Axioms der Gravitation setzt 8
Ebd., S. 157.
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Die epistemologische Finalität
letztendlich die ontologische Finalität dieses Naturphänomens voraus, in der die phänomenale Wirklichkeit eine irreduzible Koinzidenz mit einer finalen ontologischen Ursächlichkeit bildet. Im Fall des Trägheitsgesetzes – also in dem statischen und dynamischen Zustand der Trägheit – lässt sich eine derartige Koinzidenz zwischen Wirklichkeit und (ontologischer) Ursächlichkeit feststellen, die die dem mechanischen Axiom der Trägheit zugrunde liegende Finalität und Geschlossenheit der ontologischen Kausalstruktur ausmacht. Die Axiomatisierung des Gravitationsgesetzes – anhand geometrisch-mathematischer Prinzipien – gewährleistete weder eine epistemologische noch eine ontologische Finalität der axiomatischen Erkenntnis der Gravitation in der newtonschen Mechanik. Denn die Grenze der Erkennbarkeit des Gravitationsphänomens konnte über dessen bloße Wirklichkeit hinaus auf eine finale materielle Ursächlichkeit kaum erweitert werden. Die Gravitation scheint sowohl im Kontext der mathematischen als auch im Kontext der materiellen Wissenschaften ein unerklärliches Phänomen zu bleiben: »The great contemporaries, Huygens and Leibniz, severely criticised the Newtonian system, and their work helped to strengthen the position of the philosophy of Descartes in Europe for many years. They attempted mechanical explanations of gravity – either imputing it to the action and pressure of subtle matter pervading the universe, or looking back to the idea of magnetism. The English in general supported Newton, while the French tended to cling to Descartes, and the result was a controversy which continued well into the eighteenth century. Both Descartes and Newton were in the first rank of geometers; but the ultimate victory of Newton has a particular significance for us in that it vindicated the alliance of geometry with the experimental method against the elaborate deductive system of Descartes. The clean and comparatively empty Newtonians skies ultimately carried the day against a Cartesian universe packed with matter and agitated with whirlpools, for the existence of which scientific observation provided no evidence.« 9
Newtons Principia baut eher auf dem Wirkungsprinzip der Gravitation und seiner Mathematisierung auf. Allerdings versuchte Newton in Opticks, der Gravitation eine materielle Kausalbasis zu verleihen. Doch es war nicht nur die Gravitation, deren Fernwirkung unerklärlich blieb, sondern dieses galt auch für andere Naturphänomene wie die Lichtwirkung, die elektrische und magnetische Anziehung und 9
Ebd., S. 158.
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Grenzen der ontologischen Kausalstrukturen und die kontextualen Masken
Repulsion und auch für die Kohäsion zwischen den Körpern. Für all jene Phänomene sollte eine gemeinsame materielle Kausalität gesucht werden. Zu diesem Zweck stellte Newton die Existenz des Äthers vor, ohne jedoch zu erklären, was Äther ist. Freilich war die mechanische Erklärung der Ursächlichkeit der Gravitation unzureichend. Dagegen erwies sich eine nicht-mechanische Erklärung der Gravitation als unbegreiflich. »In the Queries added to the Opticks about the same time, NEWTON used his ether to account for the action of light, electric and magnetic attraction, gravity, the transmission of heat in vacuo, and even cohesion. He did not explain the mechanism by which it worked, and even noted, ›I do not know what this Aether is.‹ He was not convinced that ether offered the only possible explanation of attraction, for he carefully noted, ›What I call Attraction may be perform’d by impulse, or by some other mean unknown to me. I use that Word here to signify only in general any Force by which Bodies tend towards one another, whatsoever be the Cause‹. The opinion which NEWTON really favored on the question of the mechanical or non-mechanical cause of attraction is exceedingly hard to ascertain. Much of the time NEWTON emphasized the fact that attraction was a force whose cause was unknown; yet he frequently postulated a mechanical explanation in the form of an all-pervasive, but tenuous ether. One is left with the feeling that NEWTON would have preferred the mechanical explanation, but inclined towards the non-mechanical one for want of experimental evidence. As a result of this unresolved problem, the eighteenth century split roughly into two schools of self-styled Newtonian physics. One, comprising those whom we call Newtonians today, accepted the concept of action at a distance; rejected mechanical explanations, denying their necessity; converted the ether into magnetic and electric fluids where necessary; and generally followed the theories enunciated in the Principia rather than the more speculative hypotheses of the Opticks.« 10
An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass es jene Wirkungen der Kräfte sind – dargestellt in statischen Zuständen und dynamischen Bewegungen der Körper –, die sich im Kontext der klassisch-newtonschen Mechanik mathematisieren lassen. Kraft als Ursache der mechanischen Wirkungen 11 scheint den Rahmen der Klassischen MeBoas, a. a. O., S. 519. Hall, Rupert und Boas, Maria: Newton’s »Mechanical Principles«, Journal of the History of Ideas, Vol. 20, No. 2, University of Pennsylvania Press, S. 171: »Thus a relatively small number of forces would be adequate to account for the chief phenomena of Nature: indeed, it is not even necessary to suppose that Newton intended to indicate that each of them was a distinct force. They are simply traced by him from the
10 11
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Die epistemologische Finalität
chanik zu sprengen und der Wissenschaft der Physik anzugehören. Denn die Ursächlichkeit der Kraft verweist über die geometrisch-mathematische Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit hinaus auf die Materialität der Kraftphänomene. Während in der mathematischen Wissenschaft der Mechanik eine vektorielle Repräsentation der Kraft und deren geometrisch-mathematische Finalität als zureichende axiomatische Grundlagen betrachtet werden, neigt die Physik, die neben dem Zug einer mathematischen auch den Zug einer materiellen Wissenschaft annimmt, tendenziell dazu, die rein mechanische Basis der vektoriellen Darstellung der Kraft – wie z. B. die materielle Rigidität des Kraftvektors – zu suchen. Wenn nach der Ursächlichkeit des Kraftphänomens gesucht wird, werden die Grenzen der den axiomatischen Erkenntnissen der Mechanik immanenten ätiologischen Strukturen über die Finalität einer geometrisch-mathematischen Kontextualität der Wissenschaft hinaus auf die Domäne der Materie ausgeweitet. Denn wenn die Wissenschaft es als notwendig erachtet, dass die Grenze der Erkennbarkeit des Naturphänomens über eine historisch-kontextuale Abgrenzung – wie die Mathematisierung der mechanischen Phänomene – hinausgehen soll, wird jene phänomenale Domäne ausgesucht, auf die die ätiologischen Strukturen ausgeweitet und demnach die axiomatischen Fundamente vertieft werden können. Indem Kraft grundsätzlich ein Kausalphänomen ist (das die mechanische bzw. statische und dynamische Phänomenalität hervorbringt), veranlasst die Suche nach der Ursächlichkeit der Kräfte unbedingt eine Ausweitung und Vertiefung der den axiomatischen Erkenntnissen der Mechanik innewohnenden ätiologischen Strukturen. Wie zuvor aufgezeigt wurde, etablierte Principia durch die mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie eine kontextuale Finalität der irdisch- und himmelsmechanischen Phänomene und ihrer Gesetzmäßigkeit. Die mathematisch-kontextuale Finalität der mechanischen Gesetze schien dabei zum großen Teil auf zureichenden effects, for the »force« exists as a cause, or the »principle responsible for …« the phenomena. Thus both gravity and the »cause of Fermentation« are »active Principles«, as is the cause of cohesion. Or, to put it more plainly, the magnetic force would be the active principle which causes iron to be drawn towards the magnet. Since Newton’s criterion for distinguishing such forces lies in the superficial characteristics differences of the effects, it was impossible for him to determine whether any two different types of phenomena might require the action of two active principles, or a single one. In all this discussion, Newton is content to include gravity along with all the other, less well understood causes.«
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Grenzen der ontologischen Kausalstrukturen und die kontextualen Masken
Kausalprinzipien der Kräfte zu basieren und demnach auf geschlossenen ätiologischen Strukturen aufzubauen (wie dem Trägheitsgesetz, dem Gesetz der Wirkung und Gegenwirkung usw.). Jedoch werden in den meisten Kraftphänomenen die Materialität und die materielle Medialität der Körper vorausgesetzt. Indem sich die materielle Kausalbasis der Gravitation mechanisch nicht erklären lässt, bildet ihre geometrisch-mathematische Darstellung eine gewisse kontextuale Maske – und zwar eine mathematisch-kontextuale Maske einer phänomenalen Wirklichkeit. In der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie richteten sich die Theorien der Materie – wie die Korpuskularphilosophie von Boyle – gerade auf eine Dekonstruktion derartiger mathematisch-kontextualer Masken der mechanischen Phänomene – im Zuge einer Demaskierung der materiellen Innenstrukturen der körperlichen Phänomene. Aber die Ergebnisse dieser mechanisch-philosophischen Demaskierung waren wiederum körperliche Entitäten, die den mechanischen Prinzipien – insbesondere den dynamischen Prinzipien der Bewegung – unterworfen waren: »The particles of the Principia are those of mathematical physics; this is never the case with Boyle, or indeed with any other exponent of the mechanical philosophy. From the time of Galileo, the most important property of material particles, other than their impenetrability, had been their capacity of motion. Thus, in the later stages of the mechanical philosophy, the variety of phenomena was ascribed to the variety of corpuscular motions. Despite the mathematization of motion effected by Galileo, however, no progress had been made before the time of Newton in treating the motion of particles in a mathematical way, and there was thus no true particulate dynamics. […] If the basic premise of the mechanical philosophy be accepted, then dynamics is the fundamental science, the science of the motions of bodies including those of the elementary particles of matter. Indeed, at the macroscopic level, dynamics was the most advanced of seventeenthcentury sciences. Yet before the Principia no attempt had been made to see whether the broad effects attributed to corpuscular motions were consonant with the principles of the mathematical science of motion that the century had formulated.« 12
Die Demaskierung der mechanischen Phänomene verweist hier zwar auf eine Dekontextualisierung des Wissenschaftsgegenstands, was darauf abzielt, die Kausalbasis der mechanischen Phänomene in die materielle Domäne zu versetzen. Allerdings erweist sich die Dekontextualisierung der geometrisch-mathematischen Formhaftigkeit und 12
Ebd., S. 167–168.
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Die epistemologische Finalität
Finalität der mechanischen Phänomene als nicht vollständig. Denn zum einen gab es keinen Beweis dafür, dass die finalen materiellen Entitäten wie Korpuskeln oder Atome, die sich aus dieser Dekontextualisierung eher konzeptuell ergaben, reale Körper waren, und zum anderen vermochte diese Dekontextualisierung die Dynamik – als eine grundsätzlich geometrisch-mathematische Wissenschaft – aus dieser Erweiterung der Kausalstrukturen auf die Domäne der Materie kaum auszuschließen. Denn die Korpuskeln oder Atome konnten die materiellen Eigenschaften nur durch ihre Dynamik verursachen. Hier ist anzumerken, dass die Dekontextualisierung der mathematischen Wissenschaften – insbesondere die der Mechanik – zu keinem Zeitpunkt eine hinreichende materiell-reale Kausalbasis erlangt. Vielmehr bringt die Dekontextualisierung der mathematischen Wissenschaften neue kontextuale Masken – im Zuge der eher spekulativen finalen Entitäten der Materie wie der Korpuskeln – hervor und etabliert dabei den Primat der mathematischen Wissenschaft der Dynamik erneut: »To the corpuscularian philosophers, a mechanical explanation in terms of matter and motion seemed the very antithesis of a peripatetic explanation in terms of forms and qualities: the one was rational, modern, and reasonable; the other occult, outmoded, and mystical; the former employed real entities, the latter semantic images. Indeed, the mechanical accounts of heat, light, magnetism, and so forth, incline one to immediate agreement, at least when these are compared with the older manner of explanation. Yet consideration suggests that ›mechanical explanations‹ were nearly, if not quite, as occult as the forms and qualities they were designed to replace. For were not the corpuscles as imaginary as the qualities? The philosophers themselves did not and could not agree on their attributes, which were simply postulated as required for the explanation of various phenomena. Despite the sophisticated structure of the mechanical philosophy, it included such primitive elements as Descartes’ invention of screwed particles to account for magnetism, or Boyle’s occasional association of acidity with the sharpness of the corpuscles, and sweetness with their sphericity.« 13
Wenn sich die Existenz der finalen materiellen Entitäten wie die der Korpuskeln experimentell nicht beweisen lässt, wie vermögen sie dann die Realität der körperlichen Qualitäten zu verursachen? Die Reduktion aller mechanischen Kraftphänomene und Qualitäten auf irreduzible materielle Entitäten und ihre mechanischen Verhältnisse zueinander setzt zunächst eine geschlossene ontologische Kausal13
Ebd., S. 168.
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Grenzen der ontologischen Kausalstrukturen und die kontextualen Masken
struktur innerhalb der Grenzen der Materie voraus, indem sich der Wirkungsbereich – als Wirklichkeit – und der Ursachenbereich – als Ursächlichkeit – allein in der Domäne der Materie befinden sollen. Eine derartige Geschlossenheit der ontologischen Kausalstruktur bildete den richtigen Maßstab für die vollkommene Mechanisierung der Welt, die im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophien wie der Korpuskularphilosophie Boyles ihre volle Blüte erreichen sollte. Indem allein diese Geschlossenheit der ätiologischen Strukturen die Vollkommenheit der wissenschaftlichen Kontextualität gewährleistet (wie vorher erörtert wurde), sollte sie die Vollendung der historischen Kontextualisierung der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie und der Wissenschaften, die sie hervorbrachte, markieren. Aber das Reich der Materie – der Korpuskeln und Atome – allein konnte den frühneuzeitlichen Naturwissenschaften ihre kontextuale Geschlossenheit und Vollständigkeit nicht verleihen. Die Theorien der Materie – von Boyle, Gassendi u. a. – sollten die mechanischen Phänomene und ihre Qualitäten zureichend erklären und dadurch alle von dem scholastischen Aristotelismus tradierten Vorstellungen von Form und Qualia strategisch ersetzen. Zugleich versuchten sie die frühneuzeitliche Differenzierung zwischen den primären (rein körperlichen) und den sekundären (rein subjektiven) Qualitäten in einer einheitlichen Lehre der Materie aufzuheben. Beide diese strategischen Vorhaben in der historischen Entwicklung der Mechanischen Philosophie waren zum Scheitern verurteilt. Denn die materielle Verursachung der sekundären Qualitäten sprengt den Rahmen – oder den Kontext – der Materie selbst, um in der Domäne des immateriellen Geistes realisiert zu werden. Die kartesische res cogitans und deren vollkommene Abtrennung von der Domäne der ausgedehnten Körper blieben folglich residuale Fakten. Andererseits konnte sowohl die Existenz der materiell-finalen Entitäten wie die Korpuskeln oder der Äther als auch deren Verursachung der rätselhaften mechanischen Phänomene wie die Gravitation experimentell nicht bewiesen werden. Aufgrund dieser Widersprüche stand Newton den Theorien der Materie im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie skeptisch gegenüber und verteidigte weiterhin die sicheren Grundlagen der mathematischen Wissenschaft. 14
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Ebd., S. 168–169.
185 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die epistemologische Finalität
Der historisch-epistemologische Prozess hin zu phänomenalontischen Finalitäten Die historische Entwicklung der Chemie als eine autonome Wissenschaft wird im Allgemeinen als ein verspätetes Ereignis in der Geschichte der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie betrachtet. Die Wissenschaftshistoriker beschreiben gewöhnlich die verschiedenen Praxen im Rahmen der experimentellen Wissenschaften oder sogar in der Alchemie, die für das langsame Aufkommen der Wissenschaft der Chemie den Weg bereiteten. Die Dominanz der Mechanik und der Optik in den anfänglichen Entwicklungsphasen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie wurde an erster Stelle durch die Möglichkeit der intuitiven Vorstellung ihrer Grundsätze sowie der problemlosen Mathematisierung ihrer phänomenalen Strukturen und Gesetze veranlasst. Als rein materielle Wissenschaft unterschied sich die Chemie von den früh entwickelten mathematischen Wissenschaften wie der Mechanik und der Optik darin, dass ihre Wesenszüge primär allein den Beobachtungen und den experimentellen Praxen unterworfen waren. Der Übergang in die Wissenschaft der Chemie in der Frühneuzeit wurde am deutlichsten durch eine historisch-paradigmatische Wendung hin zu der unmittelbaren Gegebenheit und Erfahrbarkeit der realen Phänomene gekennzeichnet: »It has often been a matter of surprise that the emergence of modern chemistry should come at so late a stage in the story of scientific progress; and there has been considerable controversy amongst historians concerning the reason for this. Laboratories and distilleries, the dissolution or the combination of substances and the study of the action of acid and fire – these things had been familiar in the world for a long time. By the sixteenth century there had been remarkable advances on anything that had been achieved in the ancient world in the field of what might be called chemical technology – the smelting and refining of metals, the production and the treatment of glass-ware, pottery and dyes, the development of such things as explosives, artists’ materials and medicinal substances. […] Robert Boyle had set out to bring about a marriage between the chemical practitioner and the natural philosopher; and from this time the story does at least become more comprehensible to us – there are recognizable aspirations in the directions of science, with less of what to us seems mere capriciousness or mystification.« 15
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Butterfield, a. a. O., S. 191–192.
186 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Der historisch-epistemologische Prozess hin zu phänomenal-ontischen Finalitäten
Wie wir vorher erörtert haben, zielte Boyle mit seiner Korpuskularphilosophie grundsätzlich auf eine vollkommene Rationalisierung der materiellen Phänomene im Rahmen seiner Mechanischen Philosophie ab. Butterfield weist auf bestimmte Hürden in dem wissenschaftlichen Denkprozess – als intellektuelle Barriere – hin, die die Wissenschaft überwinden sollte, um sich einen durchaus rationalen Grundzug anzueignen. Die Chemie sollte in diesem Bezug verschiedene, seit der Antike tradierte phänomenale Masken zerstören, um die chemischen Elemente als wahre und grundlegende Substanzen der Materie, die eine phänomenale Finalität beanspruchen, zu identifizieren. Die eher spekulative Reduktion der phänomenalen Vielfalt auf eine Ursubstanz – wie die Reduktion auf Wasser, Luft oder Feuer – sowie die Füllung des Freiraumes im All durch eine ebenso spekulative materielle Entität wie den Äther – vornehmlich im Rahmen der Himmelsmechanik – brachten seit dem vorsokratischen Philosophiealter der Antike letztendlich nur spekulative Vorstellungen von Ursubstanzen hervor, die materiell für irreduzibel gehalten wurden: »When we study the history of science, it is useful to direct our attention to the intellectual obstruction which, at a given moment, is checking the progress of thought – the hurdle which it was then particularly necessary for the mind to surmount. In mechanics, at the crucial moment, as we have seen, it had been the very concept of motion; in astronomy, the rotation of the earth; and in physiology, the movement of the blood and the corresponding action of the heart. In chemistry, once again, it would seem that the difficulty in this period lay in certain primary things which are homely and familiar – things which would not trouble a schoolboy in the twentieth century, so that it is not easy for us to see why our predecessors should seem to have been so obtuse. It was necessary in the first place that they should be able to identify the chemical elements, but the simplest examples were perhaps the most difficult of all. For thousands of years, air, water and fire had been wrapped up in a myth somewhat similar to the myth of special ethereal substance out of which the heavenly bodies and celestial spheres were thought to have been made. Of all the things in the world, air and water seemed most certain to be irreducible elements, if indeed – as Van Helmont suggested – everything in the world could not be resolved into water.« 16
Der Ursprung der Wissenschaft der Chemie aus dem Geist der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie lässt sich besonders im Rahmen einer historischen Epistemologie nachvollziehen. Während des 16
Ebd., S. 192–193.
187 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die epistemologische Finalität
historischen Übergangs von den anfänglichen mathematischen Wissenschaften wie der Mechanik und der Optik hin zu den materiellen Wissenschaften wie der Physik und Chemie ist ein historisch-epistemologischer Prozess kaum zu übersehen. Dieser Prozess war auf die Entdeckung finaler materieller Entitäten gerichtet, auf denen die phänomenale Wirklichkeit aufbaut und durch die sich alle mechanischen Phänomene und Qualitäten erklären lassen. Die Vorstellung von einer irreduziblen Grundsubstanz erwies sich bekanntlich als historisch. Hinter dem Leitmotiv in der antiken bzw. vorsokratischen Naturphilosophie, die gesamte phänomenale Vielfalt auf einheitliche und finale materielle Entitäten – wie Wasser, Luft oder Feuer – zu reduzieren, und den frühneuzeitlichen Theorien der Materie wie der Korpuskularphilosophie oder dem Atomismus verbarg sich derselbe historisch-epistemologische Prozess hin zu ontischen Finalitäten der Materie, die die phänomenale aber auch mentale Wirklichkeit rein mechanisch erklären sollte. Die neuzeitliche Geschichte der materiellen Wissenschaften – insbesondere die der Physik und Chemie – belegt die grundlegende Reziprozität zwischen dem historisch-epistemologischen und dem historisch-ontologischen Prozess hin zu den materiellen-phänomenalen Finalitäten. Wie die frühneuzeitliche Vorstellung von Korpuskeln und Atomen, die die von der Antike tradierten Vorstellungen von Ursubstanzen wie Wasser, Luft oder Feuer ersetzten, entwickelten sich der Atomismus und die Korpuskularphilosophie zur weiteren Kontextualisierung der materiellen Wissenschaften. Die Entdeckung der atomaren Elemente in der Wissenschaft der Chemie schien die Vorstellung von mechanisch einheitlichen und irreduziblen Korpuskeln zu übertreffen. Ebenso gelangte der historisch-epistemologische Prozess in den Wissenschaften der Chemie und Physik zu weiteren materiellen Finalitäten wie den subatomaren Teilchen. Die gesamte Vielfalt der atomaren chemischen Elemente wurde durch verschiedene strukturelle Konstellationen von drei subatomaren Teilchen, nämlich dem Elektron, dem Proton und dem Neutron, bestimmt. Die Reduktion der atomaren Vielfalt auf eine subatomare Einheit und Finalität – abgesehen von der strukturellen Vielfalt der Atome – markierte einen klaren historisch-epistemologischen Fortschritt im Rahmen der neuzeitlichen materiellen Wissenschaften, die eine historische Erweiterung ihrer Kontextualität veranlasste aber zugleich ihre domaniale Abgrenzung und interdisziplinären Übergänge bewirkte. 188 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Der historisch-epistemologische Prozess hin zu phänomenal-ontischen Finalitäten
Der historisch-epistemologische Prozess hin zu ontischen Finalitäten führt in dieser Weise zu einer historischen Kontextualisierung der Wissenschaften, die den charakteristischen Modus ihrer historischen Entwicklung ausmacht. Wie vorher erörtert wurde, basiert die Kontextualisierung der Wissenschaften in erster Linie auf der Vollkommenheit und Irreduzibilität ihrer axiomatischen Fundamente, denen die geschlossenen ätiologischen Strukturen zugrunde liegen. Die Suche nach neuen ontischen Finalitäten in der Chemie oder der Physik ist zugleich eine Suche nach der Vertiefung und Präzisierung der axiomatischen Grundlagen dieser Wissenschaften, woraus sich die historische Erweiterung ihrer wissenschaftlichen Kontextualität ergibt. Die Vorstellung von elementaren Substanzen, die der gesamten phänomenalen Vielfalt zugrunde liegen, ist prinzipiell eine ontologische Vorstellung. Die antiken Vorstellungen von Ursubstanzen – wie Wasser, Feuer oder Luft – und die modernen Vorstellungen von Atomen und subatomaren Teilchen richten sich einheitlich auf die Vertiefung einer ätiologischen Struktur, die eher ontologisch bedingt ist. D. h. sie gehen stillschweigend von der Annahme aus, dass die Ursubstanzen die gesamte phänomenale Vielfalt ontologisch verursachen. Durch verschiedene strukturelle Konstellationen konstruieren die wenigen subatomaren Teilchen – Elektron, Proton und Neutron – die gesamte Vielfalt der atomaren chemischen Elemente, aus deren Kompositionen die molekularen chemischen Verbindungen entstehen. Einer derartigen Konstruktion der materiellen Wirklichkeit wohnt ein besonderes Kausalprinzip inne, nach dem die wenigen elementaren Substanzen eine große Vielfalt von höheren und komplexeren Substanzen ontologisch verursachen. Wenn in Wissenschaften wie der Physik oder der Chemie (aber auch in anderen Wissenschaften wie der Physiologie, der Pflanzenkunde, der Neurobiologie usw.) stets nach einheitlichen und absolut elementaren und als solche irreduziblen Ursubstanzen gesucht wird, bildet diese Suche eine axiomatische Ergründung der ontologischätiologischen Strukturen, die den Wissenschaften innewohnen und ihre historische Kontextualisierung und deren Fortschritt hervorbringen. Zuvor haben wir die neuzeitlichen Wissenschaften in zwei Kategorien, nämlich in ätiologische und in morphologische Wissenschaften, eingeteilt. Diese Differenzierung scheint gerade in der Vorstellung von ontologischer Ursächlichkeit, die die allerletzte Basis der ätiologischen Strukturen ist, aufgehoben zu werden. Denn hier ver189 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die epistemologische Finalität
ursacht die Form (morphé) der wenigen elementaren Substanzen – und zwar in bestimmten strukturellen Konstellationen – komplexere Daseinsformen einer großen Vielfalt der Phänomene. Die Form ist hier im Grunde eine axiomatische Bestimmung, die eher ontologisch bedingt ist. Die phänomenale Finalität, die den axiomatischen Grundsätzen der mathematischen Wissenschaften wie der Mechanik oder der Optik als Basis dient, lässt sich auch als eine ontologische Finalität bestimmen. Das Trägheitsgesetz schließt in sich bestimmte phänomenal irreduzible Zustände wie die Statik und die dynamische Trägheitsbewegung, in der der Körper geradlinig und gleichförmig fortbewegt, ein. Diese Zustände, nämlich die absolute Statik, Gleichförmigkeit und Linearität der Trägheitsbewegung und einschließlich die dem Körper innewohnende Trägheitsbewegungstendenz selbst, bilden finale bzw. ontologisch irreduzible Daseinsformen – und zwar im Kontext der Klassischen Mechanik. Diese finalen Daseinsformen, auf denen die wissenschaftlichen Axiome aufgebaut werden, markieren zudem deutlich die Finalität eines epistemologischen Prozesses, der die wahre Motorik der historischen Kontextualisierung der Wissenschaft ist. So liegt hier eine dreieckige Korrelation vor – und zwar zwischen einer epistemologischen Finalität, der Finalität der Daseinsformen (die zu den Bausteinen des axiomatischen Fundaments der Wissenschaft werden) und den Grenzen der ontologisch-ätiologischen Strukturen, deren Erweiterung und Vervollständigung die Kontextualisierung der Wissenschaften – ihre domaniale Abgrenzung sowie ihre interdisziplinären Übergänge – historisch bestimmen. Die Suche nach den Grenzen der Erkennbarkeit der Phänomene führt in dieser Weise schließlich zur Ergründung des wissenschaftlichen Seinsbereiches, die die domaniale Abgrenzung einzelner Wissenschaften bestimmt und zugleich die historische Kontextualisierung der Wissenschaft vorantreibt. Jede neuzeitliche Wissenschaft – unabhängig von den kategorischen Differenzierungen in mathematische und materielle oder morphologische und ätiologische Wissenschaften – entstand und entwickelte sich in einem bestimmten Seinsbereich, dessen Ausweitung und Abgrenzung (gegenüber anderen wissenschaftlichen Seinsbereichen) die Entwicklungsgeschichte der Wissenschaft ausmachen. Sowohl die historische Expansion der anfänglichen Grundwissenschaften als auch die Verzweigung neuer Wissenschaften kommt in erster Linie durch gewisse territoriale Er190 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Der historisch-epistemologische Prozess hin zu phänomenal-ontischen Finalitäten
weiterungen sowie Demarkierungen der wissenschaftlichen Seinsbereiche zustande. Die ätiologischen Strukturen, die dem axiomatischen Fundament der Wissenschaft Fülle und Kompaktheit verleihen, werden hier eher ontologisch bestimmt. Der wissenschaftliche Seinsbereich verweist demnach nicht allein auf einen phänomenalen Wirkungsbereich – als Wirklichkeit –, sondern ihm liegt eine ebenso phänomenale und ontologisch bedingte Ursächlichkeit zugrunde. Mit anderen Worten: Der Wirklichkeit des wissenschaftlichen Seinsbereiches, die sich auf eine wissenschaftliche Domäne beschränkt und dadurch die wissenschaftliche Kontextualität mit bestimmt, wohnt eine ontologisch-ätiologische Grundstruktur inne. Die Ergründung des Seinsbereiches, die die historische Kontextualisierung der Wissenschaft vorantreibt, zielt zum einen auf jene (epistemologische) Finalität der Erkennbarkeit der Phänomene und zum anderen auf die Vervollkommnung der ontologischen Kausalstrukturen, die das allerletzte und -tiefste Fundament der wissenschaftlichen Axiome bilden. Dies veranlasst uns, die ontologische Basis der historischen Kontextualisierung der Wissenschaften eingehend zu untersuchen.
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Kapitel 5 Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
Die ontologische Ursächlichkeit Der bisherigen Untersuchung lässt sich zusammenfassend folgendes entnehmen: Die Klassische Mechanik als geometrisch-mathematische Wissenschaft verfügte über Entitäten als Basisformen und -strukturen, denen eine ontologische Finalität der abstrakten mathematischen Formen verliehen wird. So repräsentieren die linearen Vektoren, die punktuellen Massen etc. die Struktur der mechanischen Phänomene. Wenn wir im Rahmen der Klassischen Mechanik allein mit derartigen mathematischen bzw. mathematisch reduzierten Formen operieren, beziehen sich unsere intuitiven Vorstellungen bzw. die Visualisierung der Kräfte und Kraftstrukturen sowie die deduktiven Ableitungen ihrer Gesetzmäßigkeit streng genommen nur auf einen Wirkungsbereich, der sich effektiv mathematisieren lässt. Denn hier werden die wahren materiellen Ursachen der mechanischen Phänomene durch die geometrisch-mathematischen Formen und ihre Gesetzmäßigkeit maskiert. Dies gilt genauso für eine andere, der Mechanik näher verwandte Wissenschaft wie die geometrische Optik. Die dioptrischen Eigenschaften des Lichtes, wie die Reflektion und die Refraktion, werden rein geometrisch-mathematisch dargestellt und dabei nicht auf eine materiell ursächliche Basis des Lichtphänomens zurückgeführt. Auch wenn das Lichtphänomen bei Newton auf sich extrem schnell bewegende Teilchen oder, wie bei Huygens, auf Wellen kausal reduziert wird, bilden sie – jene Teilchen und Wellen – wiederum dynamische Strukturen, die sich – ebenso wie Licht – leicht mathematisieren lassen und demnach kaum den Rahmen der Klassischen Mathematischen Wissenschaften sprengen können. Der Vorrang der Mathematik vor den mathematischen Naturwissenschaften wie der Mechanik und der Optik, der in der Frühneuzeit von Galileo, Newton u. a. vorgestellt wurde, war bereits in der 192 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die ontologische Ursächlichkeit
Antike eine Grundannahme, dargestellt insbesondere in der aristotelischen Spezifizierung zwischen den erhabenen Wissenschaften (superior sciences) wie der Mathematik und der Physik und den anderen Wissenschaften, die sich ihnen subordinieren lassen. Aristoteles’ Vorgehen in Metaphysik, zwischen physischen, mathematischen und metaphysischen Erkenntnissen zu differenzieren, basierte auf der Natur bzw. der Existenzart des Wissenschaftsobjekts und seinen Qualitäten, die entweder unverändert bleiben oder dem Wandel unterworfen sind: »The guiding principle behind Aristotle’s approach to understanding natural processes lies in his classification of the different types of knowledge in Book E of the Metaphysics. We saw in Chapter 2 that Aristotle defines metaphysics, physics, and mathematics in terms of their subject matters. Metaphysics is concerned with whatever does not change and has an independent existence. ›Physics‹ or natural philosophy is concerned with those things that change and have an independent existence, that is, all natural phenomena. Finally, mathematics deals with those things that do not change and do not have an independent existence, namely those quantitative abstractions that we make: number (discontinuous magnitudes) and geometrical shapes (continuous magnitudes). The aim of scientific enquiry on this account is to determine what kind of thing the subject matter is by establishing its essential properties. The kinds of principles one employs to achieve this are determined by the subject matter of the science. To establish the essential properties of a natural object or event or process, one needs to use principles consonant with that subject matter, that is, principles that are designed to capture the essence of something which is independent and changing.« 1
Aristoteles scheint eine unüberbrückbare Disparität zwischen physikalischen und mathematischen Entitäten festzustellen. Eine Untersuchung im Rahmen der Naturwissenschaften wie der Physik unterscheidet sich von einer mathematischen Untersuchung, indem sie sich auf völlig verschiedene »subject matter« – also auf völlig verschiedene Untersuchungsobjekte – bezieht. Aufgrund dieser ontologischen Disparität, die den mathematischen und physikalischen Wissenschaften zugrunde liegt, und die diese Wissenschaftsdomänen voneinander differenziert, sind die Wissenschaft der Mathematik und die der Physik – ihre Untersuchungsobjekte und -prinzipien – kaum miteinander verwoben: Gaukroger, Stephen: The Emergence of a Scientific Culture. Science and Shaping of Modernity 1210–1685, Oxford University Press, Oxford 2006, S. 400–401.
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Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
»This has a very significant bearing upon the connections between the theoretical sciences, and it is particularly marked in the complex question of the relation between physics and mathematics, for it leads to the idea that physical principles must be used in physical enquiry, and mathematical principles in the very different kind of subject matter that constitutes mathematics. The two cannot be mixed, for physical and mathematical principles are essentially concerned with different kinds of subject matter. The general thrust of the Aristotelian position is that physical enquiry or demonstration cannot be pursued mathematically, anymore than mathematical enquiry can be pursued physically. The point can be made in a different way by asking what one does in a physical explanation, and in particular by asking what it is that makes a physical explanation informative. Aristotle, and the whole ancient and medieval tradition after him, thought that to explain a physical phenomenon, one needed to distinguish between accidental features of a body and its essential properties, and any behavior that could be said to be due to the body itself was due to the essential properties it had. These essential properties explained its behavior. Such properties were material, and Aristotle argued that they could not be captured by employing mathematical or quantitative concepts.« 2
Allerdings wurde die Mechanik in der Antike der Mathematik, insbesondere der praktischen Mathematik, unterworfen. Die materiellen Objekte in der Wissenschaft der Mechanik wurden von Aristoteles nicht als natürliche Objekte – also Objekte, in denen sich die Naturprozesse offenbaren –, sondern als nicht natürliche Gegenstände betrachtet, die zu den natürlichen Objekten lediglich hinzugefügt werden. Darüber hinaus sind die mechanischen Disziplinen weder gänzlich physikalisch noch gänzlich mathematisch; Aristoteles nannte sie »gemischte Disziplinen« – also Wissenschaftsbereiche, in denen sich die Mathematik in materielle Wissenschaften einmischt. 3 Diese Betrachtung schließt allerdings jene Hierarchisierung der Wissenschaften, in der die physikalischen Wissenschaften den mathematischen subsumiert werden, nicht aus. Die Wissenschaften, die lediglich physikalische Objekte untersuchen, werden den mathematischen Wissenschaften unterworfen, die in erster Linie über mathematische Prinzipien verfügen. Insoweit lässt sich eine mathematische Wissenschaft wie die Geometrische Optik gegenüber der physikalischen Optik, in der die Natur des Lichtes und seine physikalischen Eigenschaften untersucht werden, als eine übergeordnete Wissenschaft be-
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Ebd., S. 401. Ebd.
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Die ontologische Ursächlichkeit
trachten. Der Status als übergeordnete, subordinierte oder gemischte Wissenschaft wird dadurch bestimmt, in wieweit sie mathematisch ist. Hierauf ist bei Aristoteles eine programmatische Subordination der physikalischen Wissenschaften gegenüber den mathematischen Wissenschaften festzustellen: »A physical account of something – such as why celestial bodies are spherical – is an explanation that works in terms of the fundamental principles of the subject matter of physics, that is, it captures the phenomena in terms of what is changing and has an independent existence, whereas a mathematical account of something – such as the relation between the surface area and the volume of a sphere – requires a wholly different kind of explanation, one that invokes principles commensurate with the kinds of thing that mathematical entities are. In De caelo, for example, we are offered a physical proof of the sphericity of the earth, not a mathematical one, because we are dealing with the properties of a physical object. In short, distinct subject matters require distinct principles, and physics and mathematics are distinct subject matters. However, Aristotle also recognizes subordinate or mixed sciences, telling us in the Posterior Analytics that ›the theorem of one science cannot be demonstrated by means of another science, except where these theorems are related as subordinate to superior: for example, as optical theorems to geometry, or harmonic theorems to arithmetic‹. Whereas physical optics – the investigation of the nature of light and its physical properties – falls straightforwardly under physics, for example, geometrical optics ›investigates mathematical lines, but qua physical, not qua mathematical‹. The question of the relation between mixed mathematics, on the one hand, and the ›superior‹ disciplines of mathematics and physics, which did the real explanatory work on this conception, remained a vexed one throughout the Middle Ages and the Renaissance, but so long as the former remained marginal to the enterprise of natural philosophy the problems were not especially evident. By the beginning of the seventeenth century, however, the disciplines of what were conceived of as mixed mathematics were attracting a significant amount of attention, above all on the question of whether they might have any explanatory force in their own right.« 4
Die Einmischung der Mathematik in die materiellen bzw. physikalischen Wissenschaften, woraus sich die gemischten Wissenschaften ergeben, wurde bei Aristoteles eher in einer hierarchischen Ordnung bestimmt. Die Sphärizität der Erde ist zwar primär eine geometrische Eigenschaft, aber sie wird physikalisch bestimmt bzw. konstruiert. Ebenso unterscheidet sich die Linearität der Lichtstrahlen – eine im Grunde räumlich-geometrische Qualität – von den materiellen Eigen4
Ebd., S. 401–402.
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Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
schaften des Lichtes. Der Vorrang der Mathematik vor physikalischen Phänomenen scheint hier eher eine epistemologische Bestimmung zu sein. Wenn man beobachtet, wie die physikalischen Objekte der geometrisch-mathematischen Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit folgen, neigt man dazu, daraus zu schließen, dass die Gesetzmäßigkeit der physikalischen Phänomene einer vorrangigen Wissenschaft der Mathematik subsumiert ist. Aber zwischen der physikalisch-mechanischen oder -optischen Phänomenalität und der geometrisch-mathematischen Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit ist eine grundlegende Korrelation zu erkennen. 5 Diese epistemologische Korrelation ist streng genommen jener historischen Tendenz zur Hierarchisierung der Wissenschaften – bzw. der Subsumierung der physikalischen unter den mathematischen Wissenschaften – entgegengesetzt. Denn hier handelt es sich um eine natürliche bzw. objektive Korrelation zwischen geometrisch-mathematischen Prinzipien und den physikalisch-mathematischen Phänomenen, die im Grunde gegenständlich gegeben ist, bevor sie apriorisch vorgestellt wird. Die objektive Gegebenheit einer derartigen grundlegenden Korrelation zwischen der Mathematik und den mathematischen Wissenschaften wie der Mechanik und der Optik scheint darauf hinzudeuten, dass sie viel tiefer auf einer ontologischen Basis und deren Finalität aufbaut. Der historische Übergang von den mathematischen Wissenschaften (wie der Klassischen Mechanik und der Geometrischen Optik) in die materiellen Wissenschaften in der Frühneuzeit kam offensichtlich durch ein wissenschaftlich-philosophisches Leitmotiv zustande und wird durch dasselbe historisch vorangetrieben – nämlich durch die Letztbegründung der physikalischen Phänomenalität, dargestellt in zahlreichen Naturprozessen, die sich in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, wie der Statik, der Kinematik, der Optik und später der Dynamik, einordnen lassen. Dieses Leitmotiv hat durchaus einen epistemologischen Wesenszug, denn es bedeutet die letztmögliche bzw. finale Erkennbarkeit der Kausalbasis des Naturphänomens. Die Letztbegründung ist demnach eine epistemologisch finale Bestimmung der allertiefsten Kausalbasis, worauf sich die naturwissenschaftlichen Phänomene zurückführen lassen. Wie zuvor erörtert wurde, scheint aber die Mathematisierung der NaturphänoEine solche Korrelation ist in einem Gleichnis von Descartes in seinem Hauptwerk Dioptrik angemessen demonstriert, obwohl Descartes sie nicht zu explizieren versucht. Siehe Anmerkung 6 im Kapitel 7.
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Die ontologische Ursächlichkeit
mene, die besonders den mathematischen Wissenschaften wie der Mechanik und der Optik als Basis dient, hier eine gewisse Zwischenphase der kausalen Finalität zu etablieren. Die geometrisch-vektorielle Repräsentation der mechanischen Kräfte sowie die geometrisch-lineare Darstellung der physikalischen Lichtstrahlen und ihre ebenso geometrisch-mathematisch zu demonstrierenden dioptrischen Eigenschaften wie die Reflektion und Refraktion bilden gewisse geometrisch-mathematische Finalitäten, die die oben erwähnte allerletzte materiell-kausale Basis der Naturphänomene kontextual maskieren. Streng genommen beziehen sich die geometrisch-mathematischen Darstellungsformen und -gesetze in den mathematischen Wissenschaften wie der Mechanik allein auf einen Wirkungsbereich und nicht auf einen Ursachenbereich; d. h. die Mathematisierbarkeit der mechanischen und optischen Phänomene und ihre vollkommene Gesetzmäßigkeit vermögen den mathematischen Naturwissenschaften nicht als kausale Letztbegründungen, die ihre Axiome ausmachen, zu dienen. Höchstens könnte hier eine vorher erwähnte Korrelation zwischen der physikalischen Phänomenalität, dargestellt vor allem in den mechanischen und den optischen Phänomenen, und ihrer ursprünglich-objektiven geometrisch-mathematischen Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit identifiziert und als eine irreduzible Basis angenommen werden. In einer derartigen Korrelation, die zunächst phänomenal bestimmt und zudem wissenschaftlich etabliert wird, werden alle kontextual bestimmten Hierarchisierungen zwischen der Mathematik und den mathematischen sowie materiellen Wissenschaften – also die hierarchische Differenzierung zwischen übergeordneten und untergeordneten Wissenschaften – aufgehoben. Während zwischen der Mathematik und den mathematischen Wissenschaften diese epistemologische Korrelation deutlich zutage tritt, scheint eine derartige Verknüpfung oder Synthetisierung zwischen mathematischen und materiellen Wissenschaften schwierig zu sein. Denn die rein materielle Kausalbasis der Naturphänomene – ohne eine mechanisch-mathematische Maskierung – ist zwar eine ontologische Letztbegründung, die aber die mechanisch-mathematischen Wesenszüge der physikalischen Phänomene kaum hinreichend erklären kann: »The issues here in large part hinged around the problem of how to integrate mechanics into matter theory. Mechanics deals with physical processes in terms of the motions undergone by bodies and the nature of forces
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Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
responsible for these motions. Matter theory deals with how the physical behaviour of a body is determined by what it is made of, and in the seventeenth century it typically achieved this in a corpuscularian fashion, by investigating how the nature and arrangement of the constituent parts of a body determine its behaviour. Mechanical and matter-theoretic approaches to physical theory are very different, they engage fundamentally different kinds of considerations, and on the face of it offer explanations of different phenomena. We don’t explain how levers, inclined planes, screws, and pulleys work in terms of matter theory. Correlatively, it is far from clear that the appropriate form of explanation of the phenomena of burning, fermentation, and differences between fluids and solids is in terms of mechanics.« 6
Während die Einheit des Körpers einen der wenigen Wissenschaftsgegenstände – neben Raum, Zeit und Kraft – in der Mechanik bildet (wie vorher erörtert wurde), scheint die materielle Wissenschaft gerade diese Einheit und ihre kontextuale Finalität abzubauen und sie auf weitere mikroskopische Entitäten, die wiederum körperliche Teilchen sind, zurückzuführen. Allerdings erstreckt sich ein derartiger programmatischer Abbau auf die anderen Gegenstände der Mechanik, und zwar auf den Raum und die Kraft. Im Rahmen der materiellen Wissenschaften wird der Freiraum, in dem die Kräfte auf die Körper wirken und dadurch ihre statischen oder dynamischen Zustände verursachen, als eine Fülle von mikroskopischen Teilchen – wie die Vorstellung vom Äther – betrachtet; ebenso wird versucht, das Kraftphänomen auf die mechanische Wirkung der elementaren Körperteilchen zurückzuführen. Die kartesische Vortex-Theorie bildete ein treffendes Beispiel für einen programmatischen Abbau der Mechanik im Kontext der materiellen Wissenschaften, die die einheitlichen und kontextual finalen Gegenstände der mathematischen Wissenschaften in einem aufkommenden Kontext der materiellen Wissenschaften dekonstruieren. Allerdings gipfelt dieser Übergang in der Frühneuzeit: einerseits in der Wiederbelebung des Atomismus von Gassendi, Hobbes u. a. und andererseits in der Korpuskularphilosophie, wie sie am ehesten von Boyle vertreten wurde. Der Abbau der mechanischen Körper zu materiellen bzw. mikroskopischen Atomen oder Korpuskeln erwies sich wiederum als weitere epistemologische Ergründung zu neuen körperlichen Finalitäten. Die Atome und Korpuskeln sind wiederum mikroskopische Körper und haben mehr oder weniger eine analoge kontextuale Finalität wie 6
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Die ontologische Ursächlichkeit
die Entität der Körper in der Wissenschaft der Mechanik. Allerdings sollten die mikroskopischen Atome oder Korpuskeln im Rahmen der materiellen Wissenschaften die gesamte Phänomenalität der Körperwelt, nämlich die körperlichen Eigenschaften, Kraftphänomene usw., kausal erklären. Die Vorsokratiker versuchten bekanntlich die gesamte phänomenale Vielfalt auf eine materielle Einheit zurückzuführen. Die anfänglichen Philosophien in dieser Zeit unterschieden sich voneinander kaum in ihrer Methode, die eine Ergründung der vielfältigen phänomenalen Wirklichkeit zu einem einheitlichen und irreduziblen materiellen Phänomen war, sondern vielmehr in ihren Endergebnissen. Während für Thales das Wasser die allen vielfältigen Erscheinungen zugrunde liegende Ursubstanz war, war es für Anaximenes Luft und für Heraklit Feuer usw. Diese philosophisch-historisch ursprüngliche Reduktion der Wirklichkeit auf materielle Ursubstanzen war offensichtlich eine kausale Reduktion. Diese Philosophien implizieren, dass eine Ursubstanz die gesamte Vielfalt der phänomenalen Wirklichkeit verursachen soll. Der Wesenszug einer derartigen Verursachung ist eindeutig ontologisch; d. h. die Konstruktion der gesamten phänomenalen Vielfalt durch eine einheitliche und finale Ursubstanz ist im Grunde eine ontologische Verursachung. Wie zuvor erörtert wurde, waren die ursprünglichen Philosophien in verschiedenen Kulturen mehr oder weniger Naturphilosophien. Die Frage nach der Grundsubstanz, auf der alle vielfältigen Naturerscheinungen basieren, bildete dabei die Grundfragestellung, die das philosophische Denken initiierte und vorantrieb. Während in der ursprünglichen vorsokratischen Tradition in Griechenland nach einer einheitlichen Objektbasis aller Naturphänomene gesucht wurde, entstand im indischen Altertum der Philosophie die Vorstellung von einer Komposition von Grundelementen, den sogenannten Panchabhuta – nämlich Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther, aus denen die gesamte phänomenale Welt konstruiert zu sein schien. Auf europäischem Boden lässt sich eine derartige Tradition zwar kaum nachweisen (denn die mittelalterlich-europäische Philosophie war bereits in ihren Anfängen das Erbe der Antike), aber im Mittelalter – im Vergleich zur Neuzeit – war eine deutliche Orientierung der philosophischen Spekulation hin zum »Objektiven« zu erkennen. Dies kam in verschiedenen philosophischen Grundvorstellungen, die der neuzeitliche Apriorismus überwand bzw. widerlegte oder paradigmatisch unterdrückte, zum Ausdruck; wie z. B. in der rein objektiven Zeitvor199 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
stellung von Albertus Magnus, die besagte: »ergo esse temporis non dependet ab anima, sed temporis perceptio«, oder in der spätmittelalterlichen Philosophie im Rahmen der allgemein vorherrschenden Vorstellung von der gegenständlichen Verortung der sinnlichen Wahrnehmungen (wie die Farbwahrnehmung) 7. Im Kartesianismus – also im Aufkommen der Neuzeit – ist ein klarer historischer Übergang in eine Philosophie des Subjekts und deren charakteristischen Apriorismus zu sehen. Die Suche nach einer einheitlichen Ursubstanz in der vorsokratischen Philosophietradition befand sich offensichtlich im Rahmen einer Philosophie des Naturobjekts, genauer gesagt einer philosophischen Grundfragestellung nach dem Objekt. Diese philosophische Frage nach dem Objekt charakterisierte fast alle vorsokratischen Philosophien, dargestellt in verschiedenen oben erwähnten materiellen Ergebnissen, und wurde bekanntlich bis zur Lehre von Sokrates tradiert. Bei Sokrates schien diese Tradition der Naturphilosophie – als Philosophie des Objekts – eine entscheidende Wende zu erfahren. Die philosophische Grundfrage von Sokrates war keine Frage nach dem Naturobjekt, sondern eine Frage nach dem subjektiven Erkenntnisprozess, also eine Frage im Rahmen der »Epistemologie«. D. h. bei Sokrates wurde das subjektive Erkennen selbst – nicht das zu erkennende Objekt der Natur – zum primären Gegenstand des Philosophierens. Philosophisch-historisch markierte das sokratische System eine epistemologische Wende in der antiken Philosophie. Auch wenn Platon – als Schüler Sokrates – die sokratischen und vorsokratischen Philosophien – vornehmlich von Heraklit, Parmenides, Demokrit und Pythagoras – in ein Gesamtsystem integrierte, wurden dabei die vergangenen Naturphilosophien (als Philosophien des Objekts) der Vorsokratiker kaum rehabilitiert. Die platonische Seinslehre baute bekanntlich auf seiner Abbildtheorie auf, in der die Naturgegenstände lediglich als Abbilder von wahrhaft existierenden Urbildern, den ewigen Ideen, betrachtet wurden. Ebenso wie der historische Übergang der antiken Philosophie von einer vorsokratischen in eine nachsokratische Zeit ein Übergang der Philosophie des Objekts in die des Subjekts bzw. des subjektiven Erkennens war, markierte die von Descartes initiierte neuzeitliche Philosophie denselben Übergang zu einem späteren Zeitraum – zwischen Mittelalter und Moderne – in Europa; wie das sokratische Sys7
Siehe Anmerkung 6 im Kapitel 2.
200 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die ontologische Ursächlichkeit
tem in der Antike bildete das kartesische System in der europäischen Frühneuzeit in analoger Weise eine epistemologische Wende in der Philosophie, indem das Naturobjekt gänzlich programmatisch – im System des Rationalismus – der Wirklichkeit des denkenden bzw. des erkennenden Subjekts subsumiert wurde. 8 Die kartesische Methode des Zweifelns, wie sie in Meditationen eingeführt und eingehend erörtert sowie angewandt wird, bezieht sich auf die systematische Negation und Absonderung aller subjektiven Attribute und Sinnesqualitäten aus dem Objekt, um deren bloß subjektiven Ursprung zu begründen. Dem Objekt wird in dieser Methode lediglich eine Extension, die res extensa, die von dem methodischen Zweifel als Residuum übrig bleibt, zugeschrieben. Bei genauer Betrachtung neigte Descartes dazu, in seinem Philosophiesystem vorrangig die Wirklichkeit des erkennenden Subjekts – gegenüber dem erkannten Objekt – anzuerkennen. Durch seinen Grundsatz »ego cogito, ergo sum« wollte Descartes den Primat des Subjekts – als denkende Substanz – In seiner Abhandlung »Perspektive als Symbolische Form« erörtert Erwin Panofsky den Übergang von der antiken synthetischen Geometrie in die neuzeitliche bzw. kartesische analytische Geometrie, dargestellt am ehesten durch den Übergang von der antiken synthetischen Raumvorstellung, wie dem »Aggregatraum«, hin zu der Vorstellung eines modernen infiniten und homogenen Raumes der (kartesischen) analytischen Geometrie. Die synthetische Geometrie – demnach der synthetische Raum – der Antike basierte auf dem räumlich begrenzten Körper. Nach Aristoteles werden die geometrischen Grundformen aus der Körperwelt abstrahiert – als Grenzformen eines Abstraktionsprozesses. Ebenso wird der Raum – in Analogie zum objektiven Körper – in seiner Begrenztheit vorgestellt und als solcher dimensioniert – als oben und unten, rechts und links und vorne und hinten. Ausgehend von diesem Aggregatraum entwickelte sich in einer Übergangsphase der Renaissance die moderne Vorstellung vom infiniten und homogenen analytischen Raum. Der kartesischanalytische Raum wurde von einem Nullpunkt (Origo) aus in drei Raumkoordinaten dimensioniert, indem jeder Punkt im Raum in einer geometrisch-mathematischen Abstraktion bestimmt wurde. Vgl. Panofsky, Erwin: Die Perspektive als symbolische Form, Deutschsprachige Aufsätze, Bd. II (Studien aus dem Warburg-Haus; Bd. I), hrsg. von Karen Michels und Martin Warnke, Berlin 1998, S. 699–700. Der kartesisch-analytische Raum als Raumvorstellung a priori wies offensichtlich auf eine Subjektivierung der Raumvorstellung hin. Der perspektivische Raum, der als Sehraum die wirklichen Naturobjekte beinhaltet, kennzeichnet nach Panofksy einen Übergang vom antiken synthetischen zum modernen analytischen Raum. Ein derartiger Übergang lässt sich präzise in einen historischen Rahmen einordnen – als Übergang der philosophisch-mathematischen Raumvorstellung von einer antiken und mittelalterlichen Objektbasis in eine neuzeitliche Subjektbasis (als subjektivapriorische Entität), indem die Renaissance mit ihrer Entdeckung der Zentralperspektive eine gewisse Übergangsphase bildet.
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und seine Gewissheit gegenüber dem erkannten Objekt begründen. Der Subjektivismus von Descartes gipfelte in seiner Vorstellung von dem absoluten Vorrang der Seele vor dem Leib, der die Seele in Wirklichkeit beheimatet. An einer Stelle in Meditationen ging Descartes gar so weit, die gewagte Ansicht zu vertreten, dass die Seele als der sicherste Existenzmodus auch ohne Leib existieren kann. 9 Die neuzeitliche Differenzierung zwischen der philosophia naturalis, also der Mechanischen Philosophie, und der Philosophie des Geistes bzw. des Verstandes basierte deutlich auf dem Gegenstand des philosophischen Denkens. Die Vorphase der Naturphilosophie wurde im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass das Faktum des Objekts Vorrang hatte, indem das philosophische Denken mit einem objektiv gegebenen Gegenstand begann und darauf aufbaute. In der darauf folgenden Phase – der Philosophie des Subjekts – rückte das Faktum des Subjekts – gegenüber der Gegebenheit des Objekts – immer wieder in den Vordergrund. Demnach bedeutet die oben erörterte epistemologische Wende in der Philosophiegeschichte eine radikal wechselnde Priorität beim Philosophieren, nämlich die Bevorzugung des Geistes gegenüber dem Faktum des Objekts, das die Basis der vorherigen Naturphilosophie ausmachte. Während bei den vorsokratischen Naturphilosophien die Wirklichkeit bzw. die wirkliche Gegebenheit der Naturobjekte eine Grundannahme war, die nie in Zweifel gezogen wurde, wurde sie – bzw. der ontologische Status der »Naturobjekte« – in der nachsokratischen platonischen Philosophie gegenüber der Wirklichkeit der im Grunde subjektiv-abstrakten mathematischen Gegenstände und den sogenannten ewigen Ideen – den Urbildern – herabgesetzt. Im Höhlengleichnis (Politeia) werden die Naturobjekte ontologisch unter den unveränderlichen mathematischen Gegenständen eingestuft. Die Hierarchie des Seins steigt im platonischen System auf einer Skala von den Schatten der künstlichen bzw. mimetisch nachgeahmten Objekte bis hin zu den höchsten Ideen. Die Schatten als der niedrigste Seinsmodus sind doppelt unecht, denn sie sind zum einen keine Abbildungen von realen Gegenständen und zum anderen keine richtigen Bilder. Die Sinneswahrnehmungen, in denen die wirklichen Naturerscheinungen unmittelbar gegeben werden, sind nach Platon lediglich Abbilder der ewigen Ideen, die sich im Ideenhimmel befinden. Die mathematischen Gegenstände werden dabei 9
Descartes, Meditationen, a. a. O., S. 31.
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Die ontologische Ursächlichkeit
höher eingestuft als die sinnlich wahrzunehmenden Erscheinungen, da sie als unveränderliche Objekte den ewigen Ideen näher treten. Allerdings bilden die ewigen Ideen – nämlich die Schönheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit usw. bis zu der höchsten Idee des Guten –, denen der höchste ontologische Status zugeschrieben wird, wiederum Abstraktionen und gehören als solche zu der Domäne des Logos. Wir bemerken hier ein unfehlbar subjektiv-epistemologisches Faktum in allen platonischen Vorstellungen von Objekten und ihrer Klassifizierung und Einstufung. Im Vergleich zu den Vorsokratikern gebraucht Platon seine Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie zur Spezifizierung seiner Untersuchungsgegenstände (wie Schatten, Abbilder von Urbildern, mathematische Gegenstände und Ideen), die die reinen Naturgegenstände – die Gegenstände der Naturphilosophie – schwerlich in ihrer vollkommenen existenziellen Autonomie gegenüber dem erkennenden Subjekt darstellen. Die Einstufung der Gegenstände, ihrem ontologischen Status gemäß, wird im platonischen System vornehmlich durch ihre Erkennbarkeit bestimmt. Schatten sind gegenüber den Naturerscheinungen ontologisch minderwertig, weil sie anders wahrgenommen werden; ebenso unterscheiden sich die unveränderlichen mathematischen Gegenstände von den Naturerscheinungen – die dem Wandel unterworfen sind –, in ihrer subjektiven Erkennbarkeit. In der platonischen Seinslehre tritt in dieser Weise das Faktum des Subjekts – in seinen verschiedenen epistemologischen Funktionen – offenkundig in Erscheinung. Dennoch lassen sich die in dem Höhlengleichnis dargestellten Objekte nicht lediglich als Sujets einer subjektiven Epistemologie betrachten. Schatten, Naturerscheinungen, mathematische Formen und Ideen sind in ihrer Eigenart Objekte, die eine vom Subjekt unabhängige Wirklichkeit bzw. wirkliche Existenzweise beanspruchen. In Wahrheit wird ihre Erkennbarkeit – wonach sie sich einstufen lassen – primär durch ihre Existenzart bestimmt. Dies besagt, dass die erkenntnistheoretische Einstufung der Gegenstände bei Platon auf einem ontologischen Prinzip basiert. Dass die gegenständliche Wirklichkeit letztendlich ihre (subjektive) Erkennbarkeit bestimmt, wird dabei zu einem allgemeinen Prinzip, das während der gesamten Philosophiegeschichte vorherrschte. Allerdings schien bereits die antike Tradition der Philosophie seit Parmenides das Denken, das mit dem Sein identifiziert wird, vorrangig zu behandeln. Die Identität zwischen Denken und Sein basiert auf der Erkennbarkeit bzw. der erkenntnistheoretischen Bestimmbarkeit des Seins. Eine derartige 203 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
Identität proklamiert im Grunde kein Gleichgewicht zwischen Denken und Sein, sondern setzt stillschweigend den Vorrang einer Entität gegenüber der anderen voraus. Die Frage nach dem Vorrang an dieser Stelle wäre, ob das Denken das Sein bestimmt oder umgekehrt das Sein das Denken. Ersteres gehört anscheinend zu einer (subjektiven) Epistemologie, wohingegen letzterem – also dem vom Sein bestimmten Denken – ein vornehmlich ontologisches Prinzip zugrunde liegt. Wenn es das Sein ist, das das Denken bestimmt, ist das Erkennen nicht allein eine subjektive Leistung, sondern – als Erkennbarkeit der Gegenstände – als eine durch das Faktum des Objekts vorausgesetzte Notwendigkeit zu begreifen. Bei der Reduktion der vielfältigen Naturphänomene auf einheitliche und absolut elementare Ursubstanzen, was bei vielen vorsokratischen Philosophien unternommen wurde, tritt auf der operationalen Ebene charakteristisch das Faktum des Objekts zutage, das durch die subjektiven Kategorien vermischt wird. Die lediglich erscheinenden Naturobjekte wurden rein gegenständlich auf elementare Gegenstände – Wasser, Luft, Feuer oder Erde, die bereits in der Natur existieren – reduziert. Eine derartige Reduktion ist zwar eine ontologische Reduktion, der aber ein Kausalprinzip zugrunde liegt. Wenn – in Anlehnung an Thales, Anaximenes, Demokrit oder Heraklit – festgestellt wird, dass die gesamte phänomenale Vielfalt aus absolut elementaren Ursubstanzen entsteht, besagt dieser rein objektive Entstehungsprozess einen Modus des Kausalprozesses, indem diese Entstehung als eine Verursachung – und zwar als eine ontologische Verursachung – dargestellt wird. Dass sich nach Thales alle vielfältigen Naturerscheinungen auf eine Grundsubstanz, nämlich auf das Wasser, reduzieren lassen, ist demnach identisch mit der Aussage, dass die gesamte Vielfalt der Naturgegenstände durch eine Ursubstanz – das Wasser – ontologisch verursacht wird. Denn die Wirklichkeit der Naturgegenstände ist nicht die Wirklichkeit des Wassers; die Reduktion der vielfältigen Naturgegenstände ist daher keine Reduktion auf die Wirklichkeit des Wassers, sondern auf seine ontologische Ursächlichkeit. Ebenso wurde die Wirklichkeit der vielfältigen Naturgegenstände bei Demokrit auf die ontologische Ursächlichkeit der elementaren Atome und bei Anaximenes auf die der Luft reduziert. Kurzum: Der philosophische Reduktionismus in der vorsokratischen Philosophie folgte einem ontologischen Kausalprinzip. Die Suche nach einer einheitlichen und finalen Ursubstanz in der vorsokratischen Philosophie markierte bereits in den Anfangsphasen der abendländischen Phi204 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die ontologische Ursächlichkeit
losophiegeschichte das Grundprinzip der Philosophie, aber auch der Wissenschaft, nämlich die Letztbegründung der Wirklichkeit – vor allem die Letztbegründung der phänomenalen Wirklichkeit. Die vorher erörterten ätiologischen Strukturen, die der axiomatischen Basis der Naturwissenschaften innewohnen, können sich bei dieser erweiterten Vorstellung vom Kausalprinzip sowohl auf Prozesse (der Veränderung) als auch auf unveränderliche Zustände beziehen. Die gewöhnliche Vorstellung von Kausalität besagt einen Prozess bzw. eine prozessuale Sukzession von Ursache und Wirkung; ein statischer oder dynamischer Zustand der Wirklichkeit wird beliebig auf einen vergangenen Prozess der Verursachung zurückgeführt. Ein gegenwärtiger wirklicher Zustand, wie z. B. eine vom Regen nass gewordene Straße, wird auf eine dieser Wirklichkeit vorausgegangene oder vorausgehende prozessuale Verursachung, nämlich auf den Regen, zurückgeführt. Ebenso lässt sich die Bewegung einer Billardkugel auf einen vorausgegangenen ursächlichen Stoß oder auf mehrere ursächliche Stöße mechanisch zurückführen. Diese Beispiele zeigen eine phänomenale Wirklichkeit, deren prozessuale Ursächlichkeit vergangen ist. Allerdings können bei einem derartigen gewöhnlichen Kausalzusammenhang die Wirkung und deren prozessuale Ursache gleichzeitig existieren. Wir beobachten den Regen und unmittelbar das stetige Nasswerden der Straße, erkennen aber zugleich diese prozessualen Zustände in einer zeitlichen Abfolge von Ursache und Wirkung. Eine ontologische Ursächlichkeit ist dagegen keine zeitliche Abfolge von Ursache und Wirkung, sondern eine simultane und durchaus gegenwärtige Koexistenz zwischen Wirkungszustand und Ursachenzustand. Wenn die Wirklichkeit im Grunde einen Wirklichkeitsbereich ausmacht, liegt ihr eine konstante Ursächlichkeit – als Ursächlichkeitsbereich – zugrunde. Die Philosophen scheinen in der Philosophiegeschichte zunächst durch die Vielfalt der phänomenalen und später durch die der mentalen Wirklichkeit gerätselt zu werden, so dass sie immer wieder versuchten, die wirkliche Vielfalt auf die ursächliche Einheit zurückzuführen. Dieses Zurückführen, das sich bei jener Letztbegründung vollenden sollte, erlangt den Wesenszug eines Kausalprinzips – und zwar eines ontologischen Kausalprinzips –, nach dem das einheitliche elementare Sein eine Vielfalt von komplexeren Seinsmodi entstehen lässt. Während die Vorsokratiker versuchten, die Vielfalt der phänomenalen Wirklichkeit auf ein einheitliches elementares Grundphänomen ontologisch-kausal zu redu205 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
zieren (d. h. mit anderen Worten: während sie die kausale Letztbegründung der phänomenalen Vielfalt auf die Domäne der Phänomene beschränkten), suchte Platon die einheitliche Ursächlichkeit der vielfältigen phänomenalen Wirklichkeit bekanntlich auf einer metaphysischen Ebene. Die Vielfalt der phänomenalen Wirklichkeit betrachtete Platon als Abbilder von einheitlichen Urbildern – als Ideen, denen keine irdische, sondern eine himmlische Existenz zugesprochen wurde. Diese Ideen stellen die absolut vollkommenen und als solche ontologisch finalen Urbilder dar, deren unvollkommene Abbilder die Vielfalt der irdisch-wirklichen Phänomene ausmachen. Die Urbilder in der platonischen Ontologie lassen sich als ur-sächliche Ideen betrachten, die die Vielfalt der phänomenalen Wirklichkeit ontologisch verursachen. Allerdings stellte Platon eine Vielfalt von Ideen – sogenannte Urbilder – vor, wogegen der neuplatonische Philosoph Plotin versuchte, den von Platon tradierten Ideen-Pluralismus auf ein absolut monistisches Prinzip, also auf eine absolut einheitliche und finale Idee, zurückzuführen. Bereits Platon stellte sich das Gute als die höchste Idee vor, die – wie die Sonne – die anderen Ideen beleuchtet. D. h. die Idee des Guten ist wie ein Urlicht, wodurch die anderen Ideen in Erscheinung treten. Bei der Letztbegründung der vielfältigen Wirklichkeit tendieren die Philosophen der Antike zu einem vollkommen einheitlichen Prinzip, das den Wesenszug eines absolut ursprünglichen und ontologischen Kausalprinzips zu haben scheint. Auch wenn Aristoteles in seiner Vorstellung vom Eidos den platonischen (abstrakten) Ideenhimmel abbaute, fasste er das einheitliche Eidos als Urprinzip auf einer konkreten Substanzebene auf und suchte dabei die philosophisch-programmatische und dem Wesen nach ontologisch-kausale Letztbegründung erneut in der Natur. In der Philosophie stellt man sich die kausale Letztbegründung gewöhnlich im Rahmen der Epistemologie vor. Demnach bezieht sich die Letztbegründung auf die Erkennbarkeit der allerletzten und finalen Kausalbasis der phänomenalen aber auch der mentalen Wirklichkeit. Im Rahmen der oben erörterten ontologischen Kausalität lässt sich die gewöhnliche epistemologische Letztbegründung auf einer tieferen ontologischen Basis erweitern, indem wir annehmen, dass die Erkennbarkeit der mentalen und der phänomenalen Ursächlichkeit primär durch die Existenzweise der Ursache bestimmt wird. Ein treffendes Beispiel aus der Philosophiegeschichte ist die grundlegende Differenzierung zwischen Seele und Körper – also zwischen res cogitans und res extensa im kartesischen System –, die als Basis der neu206 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die ontologische Ursächlichkeit
zeitlichen Epistemologie bis heute tradiert ist. Die Seele als die rein denkende und als solche ausdehnungslose und immaterielle Substanz (res cogitans) und der Körper als die ausgedehnte Substanz (res extensa) sind zwar finale Entitäten, also die Grenzen einer epistemologischen Reduktion der Wirklichkeit, die nach Descartes ein Nexus von mentaler und phänomenaler Wirklichkeit ist. D. h. diese absolut finalen residualen Entitäten, die von der kartesischen epistemologischen Methode des systematischen Zweifelns übrig bleiben, markieren die Grenzen der Erkennbarkeit der mentalen und phänomenalen Wirklichkeit. Aber diese epistemologische Grenze oder Finalität wird ursprünglich durch den ontologischen Wesenszug bzw. durch die irreduzible Existenzweise der Seele und des Körpers – als res extensa und res cogitans – bestimmt. Das res als Substanz ist hier eine finale bzw. irreduzible ontologische Bestimmung; ebenso bildet das bloße Denken (obwohl es nach Descartes ein allgemeiner Begriff für alle Modi des Denkens ist, nämlich für das Erkennen, Imaginieren, Fühlen, die sinnliche Wahrnehmung etc.) 10 sowie die bloß räumliche Ausdehnung irreduzible, d. h. existenziell finale, ontologische Entitäten. Die in Meditationen eingeführte Methode des systematischen Zweifelns und der Negation ist offensichtlich eine epistemologische Reduktion, in der die res cogitans und res extensa als residuale Entitäten übrig bleiben. Dass die kartesische Methode des Zweifelns als Erkenntnisprozess über diese residualen Entitäten nicht hinausgehen kann, basiert letztendlich auf der ontologischen Irreduzibilität und Finalität ihrer Existenzweise. Demnach ist die Grenze der Erkennbarkeit hier primär eine ontologische Grenze. Diese ontologische Basis der Epistemologie setzt voraus, dass die Natur des Erkennens nicht einheitlich und – als solche – ahistorisch ist, sondern sich gemäß der Bevorzugung des Untersuchungsobjekts ändert. Die Epistemologie ist zwar definitorisch die Wissenschaft des Erkennens, die untersucht, wie die Erkenntnis zustande kommt bzw. wie ihre Modalitäten, ihre Ursprünge sowie ihre Wesenszüge wie die Apriorität und die Apodiktizität entstehen. Im Rahmen der Epistemologie – seit ihrem sokratischen Ursprung und der neuzeitlich-kartesischen Erneuerung – wird demnach hauptsächlich der Erkenntnisapparat eingehend bzw. in seinen einzelnen Funktionen (sinnliche Empfindung, Denken, Erkennen usw.) untersucht. Als rein theoDescartes, René: Die Prinzipien der Philosophie, übersetzt von Artur Buchenau, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1992, S. 11 (§ 32).
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retisch-philosophische Disziplin sollte sich die Epistemologie jedoch nicht allein auf die kulturspezifisch, gesellschaftlich, ethisch oder politisch variablen Fakten, sondern auf die universal einheitlichen Prinzipien und operativen Strukturen des menschlich-subjektiven Erkennens beziehen. D. h. die Beteiligung des Subjekts am Erkennen soll vielmehr neutral betrachtet werden bzw. unabhängig von den oben genannten möglichen Differenzen in der menschlichen Denkweise und Weltanschauung. Daher ist das Subjekt im Rahmen der philosophischen Epistemologie universal konzipiert, was allerdings nicht gewährleistet, dass sich das Subjekt als ahistorisch erweist. Denn die Historizität der menschlichen Kulturen, Nationen und Zivilisationen entwickelte sich grundsätzlich aus der historischen Entwicklung des menschlichen Subjekts selbst, die sich letztendlich auf die Historizität seines Erkennens zurückführen lässt. Denn das Handeln setzt an erster Stelle das Erkennen voraus; dem Willen und den Willensakten der Menschen, die die Geschichte bestimmen und sie in verschiedenen (oben erwähnten) Wesenszügen spezifizieren, liegt unfehlbar das Erkennen zugrunde. Allerdings ist das Erkennen ein menschliches Vermögen, an dem sich nicht nur das Subjekt, sondern unweigerlich auch das Objekt beteiligt. Das Erkennen ist immer ein Erkennen eines Gegenstands, der entweder zur phänomenalen oder lediglich zur rein mentalen Domäne gehört. Das subjektive Erkennen baut notwendigerweise auf dem Erkanntwerden eines Objekts auf, das meistens als Naturgegenstand unabhängig vom Subjekt existiert. Die Erkennbarkeit und deren Grenzen werden sonach zugleich vom Subjekt bzw. vom subjektiven Erkenntnisvermögen und vom Gegenstand bzw. von der gegenständlichen Existenzweise bestimmt. Allerdings erweist sich das subjektive Erkennen als zugleich spontan und prozessual; es schließt die Sinnlichkeit und den Verstand in sich ein, was in verschiedenen subjektiven Operationen – der sinnlichen Empfindung, Wahrnehmung, des Denkens, Urteilens aber auch der Einbildung – zutage tritt. Die von Kant erneut betonte Gegebenheit der Gegenstände in der Sinnlichkeit, die demnach als eine notwendige Vorstufe des Erkennens betrachtet wird, wurde zu einer mehr oder weniger allgemeinen Annahme in der Philosophiegeschichte, obwohl diese Funktion der Sinnlichkeit verschiedenartig ausgedrückt und gemäß den philosophisch-historischen Kontexten – wie Rationalismus und Empirismus – marginalisiert oder favorisiert wurde. Die Gegebenheit des Objekts in der sinnlichen Erfahrung besagt in erster Linie die existenzielle 208 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
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Autonomie des Objekts gegenüber dem erkennenden Subjekt, aber seine Beteiligung an dem subjektiven Erkenntnisprozess bedingt eine gewisse Vergegenständlichung des Objekts, die seine Gegebenheit in der Sinnlichkeit ausmacht. Dies wird uns klar, wenn wir den epistemologischen Status der Sinnesqualitäten – wie Farbe, Ton, Geschmack usw. – erörtern. Ein Objekt wird zwar in der Sinnlichkeit gegeben, aber diese Gegebenheit und demgemäß ihre bloß existenzielle Autonomie gegenüber dem Subjekt beziehen sich nicht auf die Farbe, den Ton, den Geschmack usw. Denn diese Qualitäten entstehen im Subjekt und werden zu den sinnlich wahrgenommenen Objekten hinzugefügt. D. h. die Objekte werden streng genommen nicht in ihren Sinnesqualitäten im Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozess gegeben, da die Gegebenheit der Sinnesqualitäten eine subjektive Leistung ist. Die Zugehörigkeit der Sinnesqualitäten zu der Domäne des Subjekts wurde zur Grundannahme der neuzeitlichen Epistemologie und ihrer Methoden. Die kartesische Methode des systematischen Zweifelns und der Absonderung der Sinnesqualitäten vom Objekt, die lockesche Differenzierung zwischen primären und sekundären Qualitäten (des Objekts) sowie die kantische Methode der systematischen Absonderung der Sinnesqualitäten von der empirischen Anschauung (damit Raum und Zeit als reine apriorische Formen der Anschauung übrig bleiben) basieren undifferenziert auf der Tatsache, dass die Sinnesqualität – wenn auch vom Gegenstand verursacht – rein subjektiv erzeugt wird und daher nicht zur Domäne der phänomenalen Wirklichkeit gehört. Während die Sinnesqualitäten die subjektiv erzeugten Gegenstände (des Erkannten) sind, bildet der Raum bzw. die räumliche Ausdehnung der Gegenstände in der frühneuzeitlichen Epistemologie im Allgemeinen ein rein objektives und als solches vom Subjekt vollkommen losgelöstes Attribut, was am ehesten in der kartesischen Vorstellung von res extensa und in der – daran anschließenden – lockeschen Betrachtung der Räumlichkeit als eine primäre Qualität und in ihrer Differenzierung von allen sekundären Qualitäten (die zum großen Teil aus Sinnesqualitäten bestehen) zum Ausdruck kam. Als Gegenstand der Erkenntnis wird der Raum im kartesischen und im lockeschen System als ein vom Subjekt vollkommen autonomes Phänomen anerkannt. Ebenso stellt sich Descartes die Zeit vorrangig objektiv vor, nämlich als Durée, was primär die phänomenal existenzielle Dauer impliziert. In Les Principes de la Philosophie stellt Descartes zudem fest, dass die Zeitwahrnehmung nicht durch die Bewegung, 209 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
sondern in erster Linie durch die Dauer bestimmt wird. Wir nehmen denselben Zeitraum wahr, egal ob das Objekt statisch oder dynamisch ist bzw. sich bewegt. »Diese Attribute und Zustände in den Dingen selbst, von denen sie ausgesagt werden, sind verschieden von denen in unserem bloßen Denken. Wenn wir z. B. die Zeit von der Dauer überhaupt unterscheiden und sagen, sie sei die Zahl der Bewegung, so ist dies nur ein Zustand des Denkens; denn wir bemerken fürwahr in der Bewegung keine andere Dauer als in den nicht bewegten Dingen, wie daraus erhellt, daß, wenn zwei Körper sich, der eine schnell, der andere langsam, eine Stunde lang bewegen, wir nicht mehr Zeit in dem einen als in dem anderen zählen, obgleich in dem einen viel mehr Bewegung ist. Um aber die Dauer aller Dinge zu messen, vergleichen wir sie mit der Dauer jener größten und gleichmäßigsten Bewegung, von welcher die Jahre und Tage kommen, und nennen diese Dauer die Zeit. Dies fügt der Dauer im allgemeinsten Sinne genommen gar nichts anders als einen Zustand des Denkens hinzu.« 11
Diesen Betrachtungen ist zu entnehmen, dass Descartes die Zeitvorstellung einerseits für subjektiv – für einen Zustand des Denkens – hält und andererseits im Objekt selbst, genauer gesagt in seiner statischen und dynamischen Dauer feststellt. Mit anderen Worten: In der kartesischen Zeitvorstellung ist die gegebene Zeitlichkeit des Objekts – unabhängig von seinem statischen und von seinem dynamischen Zustand – mit einem Zustand des Denkens oder mit einem innerlichen Zeitbewusstsein verflochten. Denn die Existenz der Zeit als reine Dauer wird hier nicht nur dem Subjekt und seinem Vorstellungsvermögen, sondern auch der vom Subjekt unabhängigen phänomenalen Wirklichkeit zugeschrieben. Descartes schien dabei der oben kurz erörterten Ansicht von Albertus Magnus – bezüglich der Phänomenalität der Zeit und ihrer vollkommenen Autonomie gegenüber dem menschlichen Subjekt – erstaunlicherweise nahezukommen. Allerdings blieben diese ursprünglich für rein objektiv gehaltenen Erkenntnisgegenstände im Verlauf der neuzeitlichen Philosophie nicht unverändert. Denn Raum und Zeit als zwei wichtige Gegenstände der neuzeitlichen Epistemologie erfuhren einen historischen Wandel, was am deutlichsten in der historischen Apriorisierung dieser Begriffe in der Neuzeit dargestellt wird. Während Descartes und Locke in der Frühneuzeit dazu neigten, Raum und Zeit als rein gegenständliche Attribute, die sich als vollkommen autonom vom Subjekt 11
Descartes, René: Die Prinzipien der Philosophie, a. a. O., S. 19–20 (§ 57).
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erweisen, zu betrachten, wurden sie in der kantischen Philosophie – im Rahmen einer Transzendentalen Ästhetik – als reine Formen der subjektiven Anschauung a priori vorgestellt. Nach Kant sind Raum und Zeit lediglich apriorisch im Subjekt vorhandene reine Formen der Anschauung, die nicht aus einer aposteriorisch-empirischen Erfahrung bzw. nicht aus einer gegenständlichen Gegebenheit in der Sinnlichkeit abgeleitet werden. Die Vielfalt der subjektiven Vorstellungen, Standpunkte, philosophischen Strategien und Neigungen usw. lässt sich im Vergleich mit der vorher betrachteten Einheit des Wissenschaftsgegenstands besser nachvollziehen. Die Historiographie der Philosophie und der Wissenschaften belegt die Verschiedenheit der philosophischen und wissenschaftlichen Standpunkte – bezüglich der Auslegung der phänomenalen und der mentalen Wirklichkeit – und deren historische Entwicklung; sie besteht sonach zum großen Teil aus kontextualen Bestimmungen, Differenzierungen oder Demarkierungen sowie ihrer Ausweitung und Abgrenzung, wie vorher dargelegt wurde. Die externen bzw. vom erkennenden Subjekt aufoktroyierten Kontexte der Philosophie – wie der Rationalismus, Empirismus, Monismus, Dualismus usw. – sollten sich lediglich auf die Beteiligung des Subjekts am Erkenntnisprozess und auf seine Historizität beziehen. Der Gegenstand der Philosophie und der Wissenschaft, indem er als eine vom Subjekt autonome Entität aufgefasst wird, soll sich im Prinzip als intakt bzw. einheitlich und unveränderlich (auch wenn wir neben den naturphilosophischen Gegenständen den Geist selbst philosophisch-wissenschaftlich vergegenständlichen) und als solcher ahistorisch erweisen. Diese Notwendigkeit lässt sich historisch auf den Ursprung der Epistemologie als eine Wissenschaft im platonischen System, nämlich auf die Differenzierung zwischen Doxa und Episteme, zurückführen. Das Wissen ist nach Platon kein Doxa, also keine bloß subjektive Meinung, sondern bezieht sich notwendigerweise als Episteme auf das unveränderliche Sein des Wissensgegenstands. Denn das Sein bleibt gegenüber der Vielfalt des Doxas einheitlich und unveränderlich. So betont Platon bereits bei seiner Gründung der Epistemologie ihre streng ontologische Basis. Die Epistemologie soll – im Rahmen der Philosophie und der Wissenschaft – auf einer Lehre des Seins basieren und nicht durch subjektiv-doxastische Standpunkte bestimmt bzw. kontextualisiert werden. Allerdings hat sich die Epistemologie als historisch erwiesen; die verschiedenen Kontexte der Philosophie aber auch der Wissenschaft, 211 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
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dargestellt in zahlreichen philosophischen Schulen, Standpunkten usw., entwickelten sich in ihrer Geschichte hauptsächlich aus der Kontextualisierung der Epistemologie. Die historische Kontextualisierung der Epistemologie bildete dabei keinen Bau, dessen ontologisches Fundament intakt blieb und sich demnach als ahistorisch erwies. Sie wurzelte bis auf ihren ontologischen Grundlagen, indem sie versuchte, die Gegenstände der Philosophie und der Wissenschaft zu ihren Gunsten zu modulieren bzw. zu präformieren. In seinem Werk The Emergence of a Scientific Culture: Science and the Shaping of Modernity 1210–1685 betont Stephen Gaukroger, wie in der Geschichte der spekulativen Naturphilosophie das explanandum, also der Gegenstand der wissenschaftlichen Erklärung, gemäß dem explanans moduliert wurde: »One general issue that I shall raise in the course of this discussion is the way in which ›speculative‹ natural philosophy – where one grounds the behavior of macroscopic phenomena in basic underlying principles, at the same time making claims about comprehension and completeness – necessarily involves tailoring the explanandum to fit the explanans. ›Experimental‹ natural philosophy, by contrast, moves in the opposite direction, tailoring the explanans to fit the explanandum.« 12
Das »tailoring the explanandum to fit the explanans« verletzt augenscheinlich das von Platon festgelegte Grundprinzip der Epistemologie.
Die historische Apriorisierung der Raumvorstellung Ein treffendes Beispiel für die historisch-kontexuale Modulierung des Wissenschaftsgegenstands ist die Vorstellung vom Raum – sowohl in der Philosophie als auch in den mathematischen Wissenschaften wie der Mechanik. Die antike Philosophie problematisierte die wahre Existenzweise – oder den wahren Seinsmodus – des Raumes. Der Diskurs über die Existenz des leeren Raumes wurde bereits in der Antike initiiert und historisch vorangetrieben. Demokrit bestimmte den leeren Raum und die Atome als zwei finale bzw. ontologisch irreduzible Grundelemente der gesamten phänomenalen Wirklichkeit, während Aristoteles sich den Raum im Grunde als einen Behälter – bestehend aus Körpern – vorstellte. In beiden Vorstellungsweisen wurde die existenzielle Autonomie des Raumes gegenüber dem materiellen 12
Gaukroger, a. a. O., S. 355.
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Die historische Apriorisierung der Raumvorstellung
Körper anerkannt. Schließlich entstand das gesamte euklidische System der Geometrie aus der antiken Vorstellung vom synthetisch-euklidischen Raum, der letztlich als Freiraum einen sich vom materiellen Körper wesentlich unterscheidenden Existenzmodus aufwies. In der wahren Seinsweise – als bloß ausgedehntes Nichts – besteht kein Unterschied zwischen der antiken synthetisch-geometrischen und der modernen kartesisch-analytischen Raumvorstellung. Aber, wie Panofsky betont, besteht ein klarer Unterschied zwischen der antiken synthetischen und der modernen analytischen Vorstellung vom Raum, dargestellt vor allem in seiner Dimensionierung. 13 Der historische Übergang vom antiken Aggregatraum in den modernen analytischen Raum, der homogen und kontinuierlich ist, wurde auch durch die neuzeitliche Vorstellung vom grenzenlosen Raum des Universums gekennzeichnet, was allerdings bereits im Mittelalter von Nikolaus von Kues konzipiert wurde. Der unendliche Raum in der cusanischen Vorstellung war offenkundig ein objektiver Raum, also der Raum des Universums. Nach Cusanus wurde die Existenzweise des Universums durch seine unendliche räumliche Ausdehnung gekennzeichnet. Wenn das Universum unendlich ausgedehnt ist, bildet jeder Punkt einen Mittelpunkt. 14 Diese Betrachtung ist offensichtlich eine logische Schlussfolgerung, deren Basis die Erweiterung des euklidischen Raumes hin zu einer grenzenlosen räumlichen Expansion ist. Eine derartige Vorstellung von unendlicher räumlicher Ausdehnung des Universums wurde in der Neuzeit generell zu einer Grundannahme, dargestellt vor allem in den Raumtheorien von Bruno, Newton, Kant u. a. Demnach markierte die kartesische Vorstellung von einem analytischen Raum – als Basis der kartesisch-analytischen Geometrie – eine Wende, und zwar eine neuzeitliche Wende in der gesamten Entwicklungsgeschichte der Raumtheorien. Zwar können wir die analytische Raumvorstellung geschichtlich am platonischen System der Geometrie festmachen, in dem die Vielfalt der geometrischen Formen von einer punktuellen Basis aus – durch die Bewegung eines Punktes – entwickelt wurde. Wenn Aristoteles die geometrischen Grundformen – wie die Fläche, die Linie bis hin zum Punkt – als Grenzformen der Abstraktion (die sich nicht weiter reduzieren lassen) aus der Körperwelt ableitet, ist Siehe Anmerkung 5 im Kapitel 8. Nikolaus von Kues: De docta ignorantia II, hrsg. von Leo Gabriel, übers. von Dietlind und Wilhelm Dupré, Wien 1966, op.cit. 397.
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Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
darin nur schwerlich eine klare und programmatische Umdrehung des platonischen analytischen Systems zu übersehen. Die analytische Raumvorstellung und die an diese unmittelbar anschließende analytische Geometrie im kartesischen System markierten den Anfang der Subjektivierung bzw. der subjektiven Apriorisierung der Raumvorstellung in der Frühneuzeit, wie bereits an früherer Stelle erörtert wurde. Von der antiken synthetischen Geometrie unterschied sich die neuzeitlich-kartesische analytische Geometrie im Wesentlichen in ihrem rein apriorischen Ursprung und Entwurf. Während in der euklidisch-synthetischen Tradition die Grundformen der Geometrie aus der Räumlichkeit der phänomenalen Körperwelt abstrahiert wurden, verfügte die kartesisch-analytische Geometrie über das rein mentale Erzeugungsprinzip eines apriorisch homogenen Raumes ausgehend von einem Punkt, nämlich dem Origo, durch die Raumkoordinaten. Während die synthetische Geometrie der Antike vornehmlich auf einem ästhetischen bzw. visuellen Raum basierte, indem ihre – aus den sichtbaren körperlichen Erscheinungen sowie aus dem allein visuell wahrzunehmenden Freiraum – abstrahierten elementaren Formen durch ihre Geschlossenheit und Abgrenzung voneinander gekennzeichnet wurden, mathematisierte die analytische Geometrie der Neuzeit einen grenzenlosen Raum in rein apriorischer Vorstellung, indem der durch arithmetische Koordinaten bestimmte geometrische Punkt alle elementaren geometrischen Formen in einem unendlichen und homogenen Raum entwarf. Sowohl das Origo, der Nullpunkt, als auch der gestaltende Punkt im kartesischen Koordinatensystem, können keine Spezifizität der Örtlichkeit – wie die örtliche Fixiertheit eines Punktes im ästhetischen Raum – beanspruchen; es kann jeder Punkt in einem unendlichen und homogenen Raum sein. 15 Im Rahmen der kantischen Reduktion des Raumes schien die historische Apriorisierung des Raumes in der Neuzeit in einer streng apriorischen Form der reinen bzw. durch die Sinnlichkeit nicht eingemischten Anschauung zu gipfeln. Allerdings erfuhr diese streng apriorische Raumvorstellung in der postkantischen Phase der Neuzeit Erweiterungen, Korrekturen sowie Widerstände – im Rahmen der Mathematik, der Physik sowie der Philosophie. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die bedeutende Umdrehung des kantischen Apriorismus in der Raumtheorie von Hermann von Helm15
Vgl. PMS, S. 242 ff.
214 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die historische Apriorisierung der Raumvorstellung
holtz, dargestellt vor allem in seiner Abhandlung Über den Ursprung der Geometrischen Axiome. Im Gegensatz zu Kant vertritt Helmholtz die Ansicht, dass es primär der ästhetische bzw. unmittelbar erfahrbare wirkliche Lebensraum ist, aus dem die abstrakte geometrische Vorstellung entwickelt wurde. 16 Das Verhältnis zwischen Raum und Körper war in der gesamten Entwicklungsgeschichte der Raumtheorien seit der Antike ein wesentliches Faktum bzw. einer der wichtigsten Gegenstände der philosophischen und raumtheoretischen Spekulationen. Der Diskurs über die ontologische Autonomie des Raumes gegenüber dem Körper und die dieser Autonomie entgegengesetzte Ansicht, nämlich die Identität zwischen der räumlichen und der körperlichen Ausdehnung, wurde bereits in dem Atomismus von Demokrit und Leucippus sowie Epikur eingeführt und in der aristotelischen Polemik gegen die Raumtheorie der Atomistik erneut behandelt. Während Demokrit die Existenzweise des körperlichen Atoms und des leeren zwischenkörperlichen Freiraumes klar voneinander trennt, stellt sich Aristoteles einen ontologischen Nexus zwischen Raum und Körper vor, nämlich den Raum als Behälter des Körpers. Entschieden lehnte Aristoteles jedoch die Lehre Demokrits ab, dass der Körper nicht unendlich teilbar ist bzw. dass die Teilung des Körpers nicht über die Entität des Atoms, die eine ontologisch finale Entität ist, hinausgehen kann. Wenn Aristoteles aber feststellte, dass der Körper unendlich teilbar ist, schien er sich nicht die Teilbarkeit des materiellen Körpers vorzustellen, sondern die des Raumes, der die Körper beinhaltet. Die Vorstellung der unendlichen Teilbarkeit der räumlichen Ausdehnung des Körpers ist offensichtlich eine apriorisch-geometrische Vorstellung. In den neuzeitlichen Raumtheorien wurde im Prinzip der seit der Antike tradierte Diskurs über die wahre Existenzweise des Raumes fortgesetzt. Im kartesischen System wird die räumliche Ausdehnung erst durch die körperliche Ausdehnung bestimmt. Nach Descartes kann kein leerer Raum existieren; der Raum ist unbedingt eine körperliche Ausdehnung. In dieser Betrachtung ging Descartes offensichtlich von dem Primat des Körpers vor dem Raum aus, der besagt, dass der Körper notwendigerweise dem Raum zugrunde liegt, ihn sogar verursacht. Locke und Newton setzten sich in ihrem philosophischen und mechanischen System der kartesischen Raumtheorie entgegen; Lockes Atomismus erkannte die Existenz der leeren 16
Siehe Anmerkung 14 im Kapitel 2.
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Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
Zwischenräume an und legitimierte diese, wobei der absolute Raum in der newtonschen Klassischen Mechanik eine vom Körper vollkommen autonome Existenzweise aufweist. Die Himmelskörper existieren und bewegen sich im absoluten Raum, der grenzenlos ausgedehnt ist. Der Ursprung oder die Entstehung des absoluten Raumes entzieht sich unserer Vorstellungskraft. D. h. die Wirklichkeit des absoluten Raumes lässt sich nicht auf eine Ursächlichkeit zurückführen. Das Absolute an der Existenzweise des Raumes im newtonschen System scheint in ihrer absoluten ontologischen Finalität zu liegen. Ebenso wie seine Existenz oder Wirklichkeit ist der absolute Raum eine Ursache an sich. Gegenüber dem newtonschen absoluten Raum und den anderen, an Newton anschließenden Vorstellungen von der absoluten Zeit und Bewegung entwickelte Leibniz die Idee des relativen Raumes und der relativen Bewegung. Obwohl Kant philosophisch die newtonsche Klassische Mechanik verteidigte, neigte er eher zu einer transzendentalen Vorstellung des Raumes, wie bereits erörtert wurde. Die von Kant verfochtene Apriorisierung des Raumes schien weiterhin historisch tradiert zu werden und in der einsteinschen Raumtheorie – und zwar im Rahmen der Mechanik – zu gipfeln. Im einsteinschen Prinzip der Relativität ist zum einen der absolute Primat des materiellen Körpers vom Raum und zum anderen eine unfehlbare Apriorität der Raumvorstellung – die der phänomenalen Wirklichkeit aufoktroyiert wird – kaum zu übersehen. Darüber hinaus tritt in der einsteinschen Raumtheorie ein klarer ontologischer Kausalnexus zwischen dem Raum und dem materiellen Körper zutage. Im einsteinschen System der Mechanik wird der Raum unter dem Primat des materiellen Körpers subsumiert. Demnach wird der Raum dem physikalischen Phänomen der Gravitation unterworfen. Nach Einstein verursacht die Gravitation die Raumkrümmung. Die Grundannahme des Vorrangs der materiell-physikalischen Phänomene vor dem Raum veranlasste Einstein dazu, die Geometrie (die für eine reine Raumwissenschaft gehalten wurde) im Prinzip als eine Naturwissenschaft zu betrachten. 17 Gerade in der vollkommenen Geometrisierung eines mechanischen Phänomens wie der Gravitation – allerdings im Rahmen der nichteuklidischen Geometrie – ist der Höhepunkt der historischen Apriorisierung der Phänomenalität des Raumes zu erEinstein: Geometrie und Erfahrung, Sitzungsberichte der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Springer Verlag, Berlin 1921, S. 5–6.
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Die historische Apriorisierung der Raumvorstellung
kennen, deren deutlichster Ausdruck die vollkommene nichteuklidisch-geometrische Vorstellung vom Gravitationsphänomen war. Der Geschichte der Raumtheorien – von der Antike bis zur Moderne – ist zu entnehmen, dass es tatsächlich die existenzielle Autonomisierung des Raumes gegenüber dem materiellen Körper war, was sowohl den Gegenstand als auch den Standpunkt bei den raumtheoretischen Spekulationen ausmachte. Die meisten Raumtheorien setzen sich mit der Frage auseinander, ob der Raum durch den materiellen Körper bestimmt oder sogar verursacht wird, oder ob er als ein durchaus autonomer Existenzmodus einen ontologischen Vorrang vor den Körpern hat, die in ihm existieren. Das Verhältnis zwischen Raum und Körper liegt aber einem absolut zentralen Prinzip der Wissenschaft der Mechanik und ihrer Entstehungsgeschichte zugrunde, nämlich der Theorie des Impetus und ihrer Umwandlung in das moderne Trägheitsprinzip. Wenn Aristoteles postulierte, dass jeder Körper naturgemäß zum Zustand der Ruhe tendiert – eine Annahme, die bis zu der modernen Vorstellung vom Trägheitsprinzip von Descartes tradiert wurde – stellte er sich die Finalität des körperlichen Ruhezustands zweifelsohne in Relation zum Raum vor, der als ursprünglich statisches Phänomen die Körper in ihrem Ruhezustand oder in ihrer Bewegung behält. Ebenso stellte man sich den Impetus als ein von einem in einen anderen Körper übergehendes Kraftphänomen vor, das dem Körper innewohnt und ihn zur Bewegung veranlasst – gegenüber der vollkommenen Ruhe des absoluten Raumes, in dem sich der Körper bewegt. Die natürliche Neigung des Körpers zum Ruhezustand, die bei der aristotelischen Theorie und den anderen sich anschließenden Theorien der Trägheit implizit angenommen wurde, lag auch dem modernen, i. e. dem kartesisch-newtonschen Prinzip der Trägheit zugrunde, das sich im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie und der Wissenschaft der Klassischen Mechanik etablierte. Die entscheidende Erweiterung des Trägheitsprinzips von Descartes und Newton war offensichtlich neben der Hinzufügung des Zustands der gleichförmigen Bewegung – als Trägheitsbewegungszustand – die klare Trennung zwischen den Kraftprinzipien, die im Raum entstehen und auf Körper wirken bzw. ihre Bewegung verursachen, und dem Raum, der als ein Raum an sich eine ideale Raumvorstellung bildete. Die von Descartes und Newton vorgestellte völlige Abwesenheit der Kräfte – wie die Gravitation, die medial-materielle Resistenz usw. – im Trägheitszustand setzt die Annahme der Existenz eines absolut leeren Raumes voraus, in dem die 217 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
Körper entweder im Ruhezustand oder im Zustand der gleichförmigen und linearen Trägheitsbewegung ewig fortexistieren.
Geschichte des Trägheitsprinzips Der Impetus als ein mechanischer Grundbegriff erschien zunächst in den Studien von Pierre Duhem über Leonardo Da Vinci. 18 Die Geschichte der Impetustheorie erstreckt sich darüber hinaus auf das Mittelalter und insbesondere auf das Spätmittelalter, wie die bahnbrechenden Werke von Annaliese Maier belegen. 19 In verschiedenen Theorien wurde der Impetus als ein Kraftphänomen beschrieben, das prinzipiell eine die Bewegung übertragende Funktion hat. Der Stoß eines Körpers verursacht die Bewegung eines anderen Körpers, was den Anschein erweckt, dass ein ursächliches Phänomen, das die Bewegung eines Körpers herbeiführt, vom ersteren in den letzteren übertragen wird und den Körper im Zustand der Bewegung erhält. Während die Impetustheorie des Spätmittelalters davon ausging, dass der übertragene Impetus im Körper aufgrund der material-medialen Resistenz müde wird, schien man sich in der Frühmoderne dieses ursächliche Phänomen eher quantitativ vorzustellen. Als ein mechanisches Phänomen, das die Körper in Bewegung setzt, bildete der Impetus offensichtlich die Urform eines Kraftphänomens, das in der Frühmoderne von Kepler und Newton etabliert wurde. Dies wurde am ehesten durch ein Kausalprinzip, nämlich die Verursachung der Bewegung und ihrer Bewahrung, charakterisiert. Daraus lässt sich folgern, dass die Idee der Kraft eine ursprüngliche ätiologische Struktur in dem axiomatischen Grundbau der modernen Mechanik etablierte, was vor allem in der von Kepler eingeführten planetarischen Dynamik und weiter in der von Newton erbauten Klassischen Mechanik zutage trat. Seit der aristotelischen These von Bewegungsursachen und der darauf beruhenden Spekulation über den absoluten Primat eines ursächlich-finalen ersten Bewegers blieb die Ursache der Bewegung vielleicht die wichtigste Problematik in der gesamten Geschichte der
Wolf, Michael: Geschichte der Impetustheorie. Untersuchung zum Ursprung der klassischen Mechanik, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1978, S. 16. 19 Gemeint sind hier vor allem die Werke wie Die Vorläufer Galileis im 14. Jahrhundert, Zwei Grundprobleme der scholastischen Naturphilosophie. Das Problem der intensiven Größe und die Impetustheorie usw. 18
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Geschichte des Trägheitsprinzips
Mechanik. Bei den antiken mechanischen Annahmen liegt der Bewegung eines Körpers ein ursächliches Faktum zugrunde, ohne welches der Körper immer zur Ruhe kommt. Die Bewegung als Wirkung einer Ursache entwickelte sich im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie, die sich prinzipiell der aristotelischen Bewegungslehre entgegenzusetzen suchte, zu einem Problem. Denn der mechanische Zustand der Bewegung schien auch ohne eine Ursache fortzudauern. Die Frühneuzeit leistete die Entfaltung der Wissenschaft der Dynamik aus der Kinematik offensichtlich durch die Einführung der Vorstellung von Kraft als eine Bewegungsursache. Während die Kinematik dazu neigte, die Bewegung als einen mechanischen Zustand des Körpers zu betrachten (was demzufolge zu einer Grundannahme der Wissenschaft wurde), entwickelte sich die Dynamik explizit als eine ätiologische Wissenschaft, nach der die dynamischen Bewegungen oder Bewegungszustände notwendig durch ursächliche Kraftphänomene entstehen: »Die Mechanik, als Lehre von der Bewegung der Körper auf Bahnen, zerfällt nach herkömmlicher Auffassung in zwei Hauptstücke: in Kinematik und Dynamik. Die Kinematik stellt die verschiedenen Formen von Bewegungen nach Zeit und Raum dar, wie sie am Himmel und auf der Erde zu beobachten sind; die Dynamik dagegen soll den Zusammenhang dieser Bewegungsformen mit Ursachen erklären.« 20
Die Abwesenheit der Kraftursachen reduziert die Wissenschaft der Kinematik zwar nicht allein auf eine morphologische Wissenschaft, aber ohne die ursächliche Begründung vermochte die Kinematik die Bewegungszustände zeitlich und räumlich nur zu beschreiben oder ihre Verhältnisse beschreibend zu bestimmen. Allerdings stößt die Dynamik als eine ätiologische Wissenschaft auf ein Grundphänomen wie die Trägheitsbewegung, die im Rahmen der kartesisch-newtonschen Mechanik erneut als rein mechanischer Zustand, dem kein mechanisches Kraftphänomen zugrunde liegt, betrachtet wurde: »Wissenschaftshistorisch ergab sich im Zuge der Newtonschen Mechanik das definitorische Problem, wie sich bestimmte Bewegungsformen rein kinematisch einführen lassen, wenn z. B. die geradlinig gleichförmige Bewegung als »kräftefreie« Trägheitsbewegung in einem Inertialsystem definiert wird.« 21 Wolf, Michael, a. a. O., S. 16. Enzyklopädie. Philosophie und Wissenschaftstheorie, hrsg. Jürgen Mittelstraß, Bd. 2, Metzler Verlag, Stuttgart 2004, S. 396.
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Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
Das mechanische Phänomen der Trägheitsbewegung, die ohne ein ursächliches Kraftphänomen zu entstehen scheint, bildete seit ihren Anfängen in der Antike ein Rätsel in der Geschichte der Mechanik. Wenn die Antike nur die statische Ruhe als den Trägheitszustand, zu dem alle Körper tendieren, anerkennt, schien dieses Trägheitsprinzip aus den unmittelbar zu beobachtenden Bewegungsphänomenen auf der Erde allein abgeleitet zu werden. Ein auf der Erde in Bewegung gesetzter Körper neigt zum Ruhezustand, wenn das den Körper bewegende ursächliche Phänomen aufhört zu existieren. Allerdings kommt der Körper zum Stillstand durch andere, der Bewegung des Körpers entgegenwirkende mechanische Phänomene wie die Schwerkraft, die Luftresistenz oder die Reibungsresistenz des Bodens usw. D. h. der Körper benötigt die mechanischen Ursachenphänomene, die seiner Bewegung entgegenwirken und ihn zum Stillstand bringen, ebenso wie er einen Beweger für seine Bewegung braucht. Beim Aufkommen der modernen homogenen Raumvorstellung schienen solche ursächlichen mechanischen Phänomene, die den Ruhezustand des Körpers verursachen, methodisch negiert zu werden. Das Residuum einer derartigen epistemologischen Negation war das Phänomen der linearen und gleichförmigen Trägheitsbewegung, die sich als ein rein dynamischer Zustand betrachten und als solcher nicht auf ein ursächliches Kraftphänomen zurückführen ließ. Aber die Bewegung – auch als Trägheitsbewegung – ohne eine Bewegungsursache schien weiterhin ein ungelöstes Rätsel aufzuwerfen. Die These vom Impetus als ein dem Körper immanentes dynamisches Kraftprinzip entstand notwendigerweise aus jenem Lösungsversuch dieses Rätsels. Das Impetusprinzip wurde in der vorklassischen Dynamik als das Prinzip der Übertragungsqualität eingeführt: »Der Ausdruck ›Impetustheorie‹, den Pierre Duhem – im Rahmen seiner Studien zu Leonardo Da Vinci und zur französisch-italienischen Vorgeschichte der Kosmologie der Renaissance – in die Wissenschaftshistoriographie eingeführt hat, 22 hat sich in der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts als Sammelname für eine bestimmte Gruppe vorklassischer Dynamiken eingeführt. Alle diese Dynamiken stimmen darin überein, dass sie eine Entäußerung und Mitteilung von Kräften von einem Körper auf einen anderen für möglich, ja für notwendig halten, wenn Bewegung eines Körpers durch Bewegung eines anderen erklärt werden soll. Die Auffassung, dass Bewegungsübertragung nicht ohne Vermittlung eines bestimmDuhem, Pierre: Études sur Léonard de Vinci, 3 Bde., Paris 1906–1913, davon besonders Band III, Les précurseurs parisiens de Galilée, Paris 1913.
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Geschichte des Trägheitsprinzips
ten übertragenen Kraftquantums möglich ist, ist ihre gemeinsame und wesentliche Grundlage. Diese soll hier als das Prinzip der Übertragungsqualität, oder kürzer als Impetusprinzip, bezeichnet werden.« 23
Die übertragene Bewegungsursache wird hier anscheinend als eine endliche, i. e. eher diskrete Entität wahrgenommen, die allerdings einen Körper zur kontinuierlichen Bewegung veranlassen kann. D. h. der Impetus als übertragene Kraft, die dem bewegten Körper innewohnt, wird als ein Quantum bestimmt, obwohl er eine unkörperliche Bewegungsursache ist. Dies führt offensichtlich zu einer ontologischen Problematik: Wie kann einer unkörperlichen Kraft eine quantitative Diskretion zugeschrieben werden und wie wohnt sie einem materiellen Körper inne, bringt ihn zur Bewegung und erhält ihn in diesem dynamischen Zustand? Auf jeden Fall schien die Vorstellung vom Impetus als eine eher qualitativ übertragene Bewegungsursache (die durch medial-materielle Resistenz und durch Gravitation müde wird bzw. sich vermindert) an erster Stelle ontologisch bestimmt zu werden. In ihrem Hauptwerk Zwischen Philosophie und Mechanik erörterte Annaliese Maier den vorrangig ontologischen Zug, den die Vorstellung vom Impetus im Rahmen der Impetustheorien der scholastischen Naturphilosophien annahm: »Im philosophisch-mechanischen System der scholastischen Naturphilosophie ist ein wichtiges Kapitel immer etwas unklar geblieben: die Impetustheorie. Die Denker des 14. Jahrhunderts haben ausführlichst über das Wolf, a. a. O., S. 16–17. Wolf erörtert im Zusammenhang mit dem Impetusprinzip zwei geläufige Vorstellungen vom Impetus als Kausalprinzip der körperlichen Dynamik, nämlich die »begleitende« und »übertragene« Kausalität, wie Blumenberg sie unterscheidet. Beide dieser Vorstellungen sind unvereinbar mit dem newtonschen Prinzip der Trägheit, denn dies basiert nicht auf einem Kausalprinzip: »Den Ausdruck ›begleitende Kausalität‹ bezieht Blumenberg auf die aristotelisch-scholastische, mit den Annahmen der Impetustheorie nicht vereinbare Auffassung, wonach Bewegungsübertragung nicht Kraftübertragung, aber stets die Gegenwart eines das bewegte Ding bewegenden und berührenden anderen Dinges voraussetzt: […] ›alles was sich bewegt, wird von etwas bewegt‹. Man bezeichnet diese Auffassung angemessener als das Prinzip der Berührungsqualität. (So tut es A. Maier, Zwei Grundprobleme der scholastischen Naturphilosophie, Rom 1951, S. 115.). Es versteht sich, dass sowohl das Prinzip der Berührungsqualität, als auch das Prinzip der Übertragungsqualität mit dem ersten Axiom der klassischen (newtonschen) Mechanik, dem Trägheitsprinzip, wonach jeder Körper im Zustand einer Bewegung auch ohne Ursache ›verharren‹ kann. (›Corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in directum, nisi quatenus illud à viribus impressis cogitur statum suum mutare.‹ Vgl. Philosophiae naturalis principia mathematica, Lex I, in: I. Newtoni, Opera quae exstant omnia, London 1729, S. 13), unvereinbar ist.« Wolf, a. a. O., S. 17.
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Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
Wesen der Bewegung diskutiert, über die Ursache des motus naturalis, über die Bewegungsgesetze, die Widerstände – über alles, nur nicht über die ontologische Bedeutung und den physikalischen Sinn jenes neuen Begriffs, den sie in die aristotelische Mechanik eingeführt hatten: das heisst jener vis motrix, die eine dem mobile selbst inhärierende Bewegungsursache ist und somit ein Akzidens, das die Fähigkeit hat, auf sein eigenes subjectum zu wirken. Es ist ein Begriff, der in mancher Beziehung zu den herkömmlichen Vorstellungen in Widerspruch stand. Aber trotzdem hat er niemals eine wirklich gründliche Analyse erfahren und niemals eine eigentliche Definition im Sinn einer exakten Wesensbestimmung gefunden. Die Frage ›qualis res est ille impetus?‹, die mehrfach ausdrücklich gestellt wurde, ist von keinem Vertreter der Theorie in eindeutiger und präziser Form entschieden, sondern immer nur mehr oder weniger implicite beantwortet worden. Darin liegt einer der Hauptgründe, warum die moderne Forschung den eigentlichen Sinn der Impetustheorie in so verschiedener Weise beurteilt hat. Die wenigen ausdrücklichen Äusserungen über die ontologische und physikalische Bedeutung dieses Begriffs, die uns erhalten sind und die fast immer von einem ›wahrscheinlich‹ oder einem ›vielleicht‹ eingeschränkt sind, genügen nicht, um hier klar zu sehen.« 24
Die »unklar gebliebene« Impetustheorie in der scholastischen Naturphilosophie war prädestiniert dazu, sich im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie – der die spätscholastische philosophia naturalis vorausging – zu dem wichtigsten Grundprinzip der Mechanik zu entwickeln, nämlich zu dem kartesisch-newtonschen Trägheitsprinzip. Diese Entwicklung ereignete sich grundsätzlich im ontologischen Rahmen. Die größte Herausforderung für die Vertreter der Impetustheorie war die Wesensbestimmung der Bewegungsursache, die dem mobile immanent ist. Die angebliche Immanenz des Impetus – der Bewegungsursache – scheint im Vergleich mit den externen medialen Fakten, die den Körper in Bewegung setzen und seine Bewegung – durch materielle Resistenz oder Gravitation – verlangsamen können, rätselhaft zu sein. Denn die Immanenz der Bewegungsursache kann den Modus der Verursachung der Bewegung nicht erklären. Dass der Körper sich selbst durch einen ihm innewohnenden Impetus bewegt, entzieht sich unserer Vorstellungskraft. Dies scheint ein Grund dafür zu sein, dass in der Antike versucht wurde – bei Platon aber auch bei Aristoteles –, die scheinbare Selbstbewegung eines Körpers – wie im Falle eines Projektils – auf
Maier, Anneliese: Zwischen Philosophie und Mechanik. Studien zur Naturphilosophie der Spätscholastik, Rome 1958, S. 343.
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Geschichte des Trägheitsprinzips
eine äußere Ursache, nämlich auf die Bewegungsinitiative des den Körper umgebenden Mediums, zurückzuführen. Genau genommen ist die körperliche Immanenz der Bewegungsursache ein ontologisches Rätsel, denn sie gehört zum Wesen der körperlichen Existenz und lässt sich als solche nicht lediglich von der Domäne der Wirkung, die die Bewegung des Körpers ausmacht, differenzieren. Während die Wirkung als Bewegung des Körpers evident ist bzw. uns unmittelbar vorkommt, scheint die immanente Bewegungsursache gerade durch diese sich darstellende Wirkung verheimlicht zu werden. Denn in der erkennbaren bzw. anschaulichen Trägheitsbewegung des Körpers scheint die Wirklichkeit der Bewegung mit ihrer immanenten Ursächlichkeit zu koinzidieren, was den klaren Anschein erweckt, dass es sich hierbei um eine irreduzible Finalität einer ontologischen Ursächlichkeit handelt. Dass die Bewegungsursache im Gegensatz zur wirklichen Bewegung nicht offenkundig wird, scheint einen wichtigen Wesenszug der ontologischen Kausalität darzustellen, nämlich die Maskierung der immanenten Ursächlichkeit durch die Wirklichkeit des Phänomens. In Descartes’ Werk Les principes de la philosophie wird der Begriff Trägheit (inertia) kaum explizit gebraucht, obwohl das kartesische Prinzip auf den Trägheitstendenzen aufbaut. In dem von Kepler und Descartes initiierten und bei Newton zur vollen Blüte entfalteten Diskurs über das Trägheitsprinzip ist ein deutlicher Zwiespalt in der Konzipierung des Trägheitsphänomens zu sehen, nämlich zwischen der Vorstellung eines bloßen Trägheitszustands und der einer immanenten Verursachung (dieses Trägheitszustands). Im kartesischen System der Mechanischen Philosophie, wie es Descartes in seinem Hauptwerk skizziert, scheint der historische Übergang der spätscholastischen Theorie des Impetus zum modernen Trägheitsprinzip kaum allmählich zu geschehen, sondern vielmehr unvermittelt – fast wie eine Wende. In seiner Vorstellung vom Trägheitszustand löst Descartes anscheinend das tradierte Rätsel der Zweideutigkeit zwischen der Wirklichkeit und der Ursächlichkeit des Trägheitsphänomens auf. Trägheit als materieller Zustand, dargestellt sowohl im Ruhezustand als auch in der Trägheitsbewegung des Körpers, impliziert zugleich die Wirklichkeit und die Ursächlichkeit des Trägheitsphänomens. Anders betrachtet koinzidiert in der Vorstellung von Trägheit als bloßer Zustand ihre Wirklichkeit mit ihrer Ursächlichkeit. Descartes beschreibt einen bloßen Zustand – und nicht eine immanente Kraftursache – als 223 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
das Wesen des statischen und des dynamischen Trägheitsphänomens; die kartesische Betrachtungsweise schien stillschweigend eine absolute Finalität der dem axiomatischen Trägheitsprinzip zugrunde liegenden ontologisch-ätiologischen Struktur vorauszusetzen. Das Untersuchungsobjekt der Impetustheorie, nämlich die scheinbare Selbstbewegung eines in Bewegung gesetzten Körpers, war eindeutig ein Prototyp der Trägheitsbewegung, die im Rahmen des kartesischnewtonschen Trägheitsprinzips untersucht wurde. Den Impetustheorien liegt eine klare Kausalstruktur zugrunde, indem der übertragene Impetus im Grunde als eine Bewegungsursache betrachtet wurde. Allerdings erlangte die Impetustheorie nie den Status eines wissenschaftlichen Axioms, denn man war sich über die wahre Natur dieser Bewegungsursache und ihrer Wirkungsart nicht im Klaren. Die Unklarheit und die daran anschließende Unbegründetheit des Impetus als Bewegungsursache verhinderten die Axiomatisierung der Impetustheorie im Rahmen einer philosophia naturalis. Anders betrachtet ließ die Unmöglichkeit der Letztbegründung des Impetusphänomens die ontologisch-ätiologische Struktur des Impetusprinzips offen bzw. unvollendet. Die zahlreichen Impetustheorien, die in der spätmittelalterlichen Scholastik (bis zur Renaissance) entstanden, belegen die Unvollendetheit und demnach die Unabgeschlossenheit der dem Impetusprinzip zugrunde liegenden ätiologischen Struktur, die letztendlich ihre Entwicklungsgeschichte ausmachte bzw. initiierte und vorantrieb. Vom Spätmittelalter bis zur kartesischen Neuzeit wurde immer wieder der Versuch unternommen, eine bessere bzw. finale Begründung für den scheinbar von einem bewegten Körper in einen anderen übertragenen Impetus zu finden. Dies bildete den Beweggrund der historischen Entwicklung der Impetustheorien und ihren Übergang in das frühneuzeitliche, von Descartes und Newton axiomatisierte Trägheitsprinzip. Die Axiomatiserung des Trägheitsprinzips markierte bekanntlich das Aufkommen der modernen Klassischen Mechanik. Die spätmittelalterliche Geschichte der Impetustheorie sowie ihre Fortentwicklung und Kulmination in der Axiomatisierung des kartesisch-newtonschen Trägheitsprinzips zeigen, wie zum einen der historische Prozess zur epistemologischen Finalität eines Grundphänomens die Historizität eines Axioms bestimmt, und zum anderen wie ein ebenso historisch voranschreitender Drang nach der Vollendung der axiomatischen ätiologischen Struktur die historische Kontextualisierung einer Wissenschaft motorisiert. Die Letztbegründung des Impetus als eine irreduzible Bewegungsursache 224 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Geschichte des Trägheitsprinzips
war das Rätsel, das bei fast allen Impetustheorien zu lösen versucht wurde. Die epistemologische Finalität dieser Letztbegründung, die sich im frühneuzeitlichen Trägheitsprinzip vollzog, ereignete sich in diesem Sinne in einem historisch-epistemologischen Prozess der wissenschaftlichen Kontextualisierung. Das Leitmotiv, das diese historische Kontextualisierung mitbestimmte, war die Legitimierung des Impetus als Bewegungsursache im Rahmen der Naturphilosophie. Mit der kartesischen Entdeckung des axiomatischen Trägheitsprinzips vollendete sich die epistemologische Finalität der Ursache der Trägheitsbewegung und fußte auf einer absolut finalen und irreduziblen ontologischen Basis, nämlich auf der Vorstellung von einem körperlichen Zustand. Die Annahme vom Trägheitszustand als Ursache der linearen und gleichförmigen Trägheitsbewegung des Körpers entwickelte sich aus einem finalen bzw. irreduziblen ontologischen Prinzip heraus, genauer gesagt aus einem finalen ontologischätiologischen Strukturprinzip. Neben der irreduziblen ontologischen Koinzidenz zwischen Wirklichkeit und Ursächlichkeit bzw. zwischen dem Bewegungszustand und der Bewegungsursache leistet das kartesische Grundprinzip der körperlichen Trägheit eine ontologische Gleichsetzung zwischen dem Zustand der Ruhe und dem der linearen und gleichförmigen Trägheitsbewegung, indem das Faktum der Bewegungsursache, das die Impetustheorien propagierten und das die Bewegung eines Körpers von seinem Ruhezustand unterschied, in seiner Vorstellung von bloßen Trägheitszuständen aufgehoben wird. In seinem Hauptwerk Force in Newton’s Physics betont Richard S. Westfall zwei wichtige Aspekte der kartesischen Bewegungslehre, nämlich die Natur der relativen Bewegung und die – bereits erwähnte – ontologische Identität zwischen Bewegung und Ruhezustand. Allerdings liegt dem kartesischen Prinzip der relativen Bewegung die Vorstellung von der ontologischen Identität zwischen Ruhe und Trägheitsbewegung zugrunde: »Nothing testifies more strikingly to the analytic clarity of Descartes’ thought than his discussion of motion. In the very midst of the process of formulating a new idea of motion, and lacking entirely the perspective of time, he was still able to recognise the central features of the new conception and to state them in terms acceptable to historians of science today. Not surprisingly, he found the Aristotelian definition of motion – Motus est actus entis in potentia, prout in potentia est (motion is the act of being in potency in so far as it is in potency) – so obscure as to be meaningless. In
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Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
contrast, his idea was so clear, he said, that geometers, those who conceive things more clearly, had been accustomed to using it when they described a line as the motion of a point. By motion, Descartes referred explicitly to local motion – ›for I can conceive no other kind, and do not consider that we ought to conceive any other in nature …‹ In the vulgar sense, motion was held to be nothing more than the action by which a body passes from one place to another. The word ›action‹ rendered this definition unsuitable in Descartes’ eyes. A prejudice, arising from our experience of the effort needed to move a body, convinces us that motion requires action whereas rest seems to require none. The prejudice is mistaken; we can deliver ourselves from it by reflecting that as much effort is needed to stop a moving body as to put it in motion. A satisfactory definition states that motion is ›the transference of one part of matter or one body from the vicinity of those bodies that are in immediate contact with it, and which we regard as in repose, into the vicinity of others.‹ In fact this definition, published in the Principles of Philosophy in 1644, and amending an earlier definition found in the manuscript treatise Le monde, which Descartes withheld from publication after Galileo’s brush with the Inquisition, had been deliberately constructed by Descartes after Galileo’s condemnation so that he could assert that the earth does not move. According to his system, the earth does not move away from the bodies in immediate contact with it (the atmosphere and the subtle matter filling its pores) and hence, according to the definition, the earth is at rest. If the definition neither fooled nor mollified the Church, it was cleverly enough constructed that it did not betray anything essential in Descartes’ conception of motion. It expressed clearly two interrelated principles basic to his conception, the relative nature of motion and the ontological identity of motion and rest. If A moves with respect to B, then, in Descartes’ conception, B moves with equal velocity in respect to A. From a philosophic point of view, one is in motion as much as the other, Descartes stressed his use of the word ›transference‹ in the definition. Motion is not an action or force which transfers. It is the transference itself. It is nothing outside the body moved. Motion means only ›that a body is otherwise disposed, when it is transferred, than when it is not, so that motion and rest are only two different modes of it.‹« 25
»Motion is not an action of force which transfers. It is the transference itself.« Westfall fasst in dieser Betrachtung zusammen, wie Descartes die lang tradierte Impetustheorie, die die Bewegungsübertragung zwischen Körpern auf eine übertragende Kraft- oder Bewegungsursache zurückzuführen suchte, ein für alle Mal ablehnt bzw. sie überwindet. Hier wird Bewegung eher als ein Zustand betrachtet, der von einem in einen anderen Körper übertragen wird: 25
Westfall, Richard S.: Force in Newton’s Physics, London 1971, S. 57–58.
226 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Geschichte des Trägheitsprinzips
»Against the background of this discussion, Descartes was ready to state what he called the first law of nature. That each thing remains in the state in which it is so long as nothing changes it. If a body is square, it remains square unless something changes it. If it is at rest, it remains at rest and does not begin to move itself. Why should motion alone among the states in which a body can be contain the seed of its own destruction? It is another prejudice from our youth that bodies in motion tend toward rest. On the contrary, once a body begins to move, there is no reason why it should not continue to move with the same velocity as long as it meets nothing that stops it. Here, more clearly than Galileo ever succeeded in stating it, was the kernel of the principle of inertia. As Descartes expressed it to Constantijn Huygens, ›I consider the nature of motion to be such that when a body has begun to move, that suffices to make it continue with the same speed and in the same straight line until it is stopped or turned aside by some other cause.‹« 26
Wenn wir Descartes Betrachtungsweise über die Trägheit der statischen und der dynamischen Zustände des Körpers mit dem von Newton in Principia axiomatisierten Trägheitsprinzip vergleichen, wird deutlich, dass sich die newtonsche Vorstellung von der externen Kraft, die auf einen Körper wirkt und seinen Zustand verändert, mit der kartesischen Vorstellung von »Ursache«, die allein der Nachhaltigkeit der statischen und der dynamischen Zustände des Körpers entgegenwirkt, gleichsetzen lässt. Jedoch erstreckt sich die kartesische Annahme vom Zustand des Körpers über die rein mechanischen Zustände des Körpers im Ruhezustand und in der Bewegung hinaus auf die bloße Form des Körpers. Die räumlichen und die räumlich-zeitlichen bzw. mechanischen Formen des Körpers bleiben solange erhalten, bis eine Ursache diesen ursprünglichen Zustand verändert. Demnach scheint sich Descartes das Trägheitsphänomen in einem morphologisch-wissenschaftlichen Kontext vorzustellen, obwohl sein Trägheitsprinzip – mit der Betonung auf der Ursache der Zustandsänderung – eine klare und finale ätiologische Struktur dieses Axioms in der Wissenschaft der Mechanik zur Schau stellt. Mit seinem Trägheitsprinzip bestimmt Descartes nicht nur die Natur der Trägheitszustände, und zwar das Verharren des Körpers in seinem Ruhezustand oder in seiner gleichförmigen und linearen Bewegung, sondern auch die räumliche, genauer gesagt die räumlichzeitliche Struktur der dynamischen Trägheitszustände – nämlich die 26
Ebd., S. 58.
227 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
geometrisch-räumliche Linearität und die mechanische bzw. räumlich-zeitliche Gleichförmigkeit der Trägheitsbewegung. Eine Ursache soll demnach sowohl die Natur als auch die Struktur eines Trägheitszustandes ändern. Ein Körper kann von seiner ursprünglichen gleichförmigen Trägheitsbewegung in einen dynamischen Zustand der Beschleunigung gebracht werden, ohne die lineare Struktur seiner Bewegung zu ändern. Ebenso setzt jene Abweichung von der linearen Bewegungsstruktur des Körpers eine externe Ursache voraus, auch wenn der Körper dabei seine Geschwindigkeit bewahrt. Die Tendenz des Körpers, seine dynamische Trägheitsstruktur zu bewahren, wurde von Descartes in einem zweiten Bewegungsgesetz postuliert und zum ersten Gesetz hinzugefügt: »That every body which moves tends to continue its motion in a straight line.« 27
Dabei lehnte Descartes die von Galileo und anderen aufgezeigte Trägheit der kreisförmigen Bewegung (also die Tendenz des Körpers, in seiner gleichförmigen Kreisbewegung zu verharren) nachdrücklich ab. Denn eine Kreisbewegung ist eine konstante Änderung der ursprünglichen Tendenz des Körpers, in seinem linearen Trägheitsbewegungszustand zu verharren, und setzt notwendigerweise eine externe Ursache voraus: »Whereas two successive instants are necessary to define a circular motion, one instant can define a rectilinear one, giving both its location and the direction in which it is tending to move. Hence the Cartesian reduction of all motions to a single type had at least two facets. On the one hand, he denied any distinction between natural and violent motion. On the other hand, he rejected the idea of a primary circular motion. Of itself, every body in motion tends in a straight line. If in fact it moves in a curve, some external cause must be operating to turn it.« 28
Zusammenfassend lässt sich folgendes feststellen: Während Descartes in seiner Bewegungslehre darauf besteht, dass ein Körper die grundlegende Tendenz hat, in seinem ursprünglichen mechanischen bzw. statischen oder dynamischen Trägheitszustand zu verharren, bezieht sich diese Tendenz auf die Natur und Struktur des Trägheitszustands, insbesondere der Trägheitsbewegung. Wie kein Philosoph zuvor betonte Descartes die mechanische Tatsache, dass es nicht der 27 28
Edd., S. 59. Ebd.
228 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Geschichte des Trägheitsprinzips
Zustand der (gleichförmigen und linearen) Trägheitsbewegung, sondern die Änderung dieses Bewegungszustands ist, die eine Ursache benötigt. Seine These von der relativen Bewegung zeigt deutlich, wie der Ruhezustand des Körpers im Hintergrund eines absoluten Raumes (in dem nicht die geringste externe Kraft in jener Form der materiellen Resistenz, Gravitation usw. existiert) mit dem Zustand der Trägheitsbewegung ontologisch gleichgesetzt werden kann. 29 Aus der kartesischen Vorstellung vom Trägheitsphänomen lassen sich die folgenden zwei Grundmerkmale ableiten: 1. 2.
Es gibt keine Ursache wie den Impetus, die den statischen und den dynamischen Trägheitszuständen zugrunde liegt. Die Ursache des Verharrens der (statischen und dynamischen) Trägheitszustände sind die Trägheitszustände selbst. Mit anderen Worten: In Trägheitsphänomen demonstriert ein Körper objektiv die absolute Finalität einer ontologisch-ätiologischen Struktur, indem die Wirklichkeit eines mechanischen Phänomens mit seiner Ursächlichkeit koinzidiert. 30
Durch seine bahnbrechende Bewegungslehre, in der Descartes die Trägheitsbewegung – dargestellt in zahlreichen irdisch-mechanischen Phänomenen, insbesondere in Projektilen – nicht auf eine Verursachung, sondern auf einen ontologisch irreduziblen Zustand reduziert, etablierte Descartes das Fundament der modernen Wissenschaft der Dynamik: »Descartes’ systematic analysis of motion established the foundation on which the modern science of dynamics has been constructed. By means of the first law of motion, he stated, ›we are freed of the difficulty in which schoolmen find themselves when they seek to explain why a stone continues to move for a while after leaving the hand of the thrower. For we should rather be asked why it does not continue to move forever.‹ Here, applied to a specific problem, was the central question to which the principle Wenn aber – in Anlehnung an Newton – von einer unbewegten Existenzweise des absoluten Raumes ausgegangen wird, soll der Ruhezustand des Körpers im Verhältnis zu dem absoluten Raum von dem Trägheitsbewegungszustand des Körpers unterschieden werden. 30 Es kann streng genommen keine Kausalstruktur im Trägheitszustand festgestellt werden; die statische und die dynamische Trägheit des Körpers, wie sie Descartes beschreibt, kann nur bei ihrer Entstehung und nicht im Zustand ihres Verharrens verursacht werden. 29
229 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
of inertia has directed dynamics – not what causes motion, since the state of motion is held to endure without the continued operation of a cause, but what causes changes of motion.« 31
Wie Westfall es betrachtet, kann eine Ursache nur einer Änderung des Trägheitsbewegungszustands, dargestellt in der Beschleunigung oder Verlangsamung, zugrunde liegen; der unveränderte Bewegungszustand des Körpers – im Modus einer linearen und gleichförmigen Trägheitsbewegung – benötigt keine Bewegungsursache. Descartes Vorstellung vom Trägheitsphänomen lässt eine bestimmte Art der mechanisch-epistemologischen Intuition erkennen, in der aus einem irdisch-mechanischen Phänomen wie dem Projektil alle ursächlichen Fakten, die dem Gang des Projektils entgegenwirken und den Körper zum Stillstand bringen, intuitiv negiert bzw. weggedacht werden. Diese Fakten sind prinzipiell die Luftresistenz und die Gravitation. Das residuale mechanische Phänomen, das von dieser intuitiv-systematischen Negation übrig bleibt, ist allein die Trägheitsbewegung des Körpers, die keine mechanische Ursache hat und nie aufhört. »For we should rather be asked why it does not continue to move forever.« Die intuitive Befreiung der reinen Trägheitsbewegung von allen ursächlichen Fakten, die in einem Projektil wirksam sind, ist hier der epistemologische Prozess, der sich in einer epistemologischen Finalität, nämlich in der Erkenntnis der unveränderlichen und unendlichen Trägheitsbewegung, vollendet. Eine derartige epistemologische Finalität sowie die Vollendung des intuitiv-epistemologischen Prozesses setzen allerdings die ontologische Finalität des Trägheitsphänomens – bzw. seine ontologische Irreduzibilität – voraus. Kurzum: Es ist das objektive Faktum des mechanischen Phänomens und seiner ontologischen Finalität, das das intuitiv erkennende Subjekt zu einer endgültigen Erkenntnis des Trägheitsprinzips veranlasst. Wie an anderer Stelle bereits dargelegt wurde, basieren die Apriorität und Apodiktizität dieser kartesischen Intuition aber letztendlich auf der ontologischen Finalität und Irreduzibilität des Freiraumes, in dem man sich das mechanische Phänomen der Trägheitsbewegung intuitiv vorstellt. Nach der systematischen Negation aller oben genannten ursächlichen Fakten bleiben in dieser strukturellen Intuition nur der sich bewegende Körper und der ihn umgebende Freiraum übrig. Wenn aber nicht von einer unmittelbaren Erfahrung des Projektils bzw. seiner Bewegung, sondern allein von der apriori31
Westfall, a. a. O., S. 59.
230 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Geschichte des Trägheitsprinzips
schen Intuition der Trägheitsbewegung ausgegangen wird, wird deutlich, dass die Trägheitsbewegung des Körpers nicht anders als linear und gleichförmig vorgestellt werden kann. Wenn wir uns zunächst einen absolut leeren Freiraum und einen Körper in diesem Freiraum intuitiv vorstellen und den Körper durch einen ebenso intuitiven Stoß in Bewegung setzen, erkennen wir, dass diese rein imaginative Bewegung notwendigerweise eine lineare und gleichförmige Trägheitsbewegung ist und dass wir uns diese nicht anders vorstellen können. Denn hier werden die Linearität und Gleichförmigkeit der sich intuitiv vorgestellten Trägheitsbewegung und ihre geometrische und mechanische Finalität ursprünglich nicht durch das erkennende bzw. durch das intuitiv visualisierende Subjekt, sondern durch die ontologische Finalität und Irreduzibilität des Freiraumes bestimmt. 32 Und gerade darin besteht auch die apodiktische Gewissheit dieser Intuition, dass die Trägheitsbewegung eines Körpers unter realen Umständen – d. h. im realen Freiraum – entstehen soll, und zwar so, wie sie sich rein intuitiv vorstellen lässt. Sowohl die geometrische Linearität als auch die mechanische bzw. dynamische Gleichförmigkeit der Trägheitsbewegung verdanken letztendlich dem ontologisch irreduziblen Seinsmodus des Freiraumes ihre Entstehung und ihr existenzielles Verharren als finale irreduzible Formen. In der mechanisch-strukturellen Intuition wird mit den Objekten gedacht oder, genauer gesagt in sie hineingedacht. Daher ist es das Faktum des Objekts, das die Apriorität jener mechanisch-epistemologischen Intuition mitbestimmt und ihre Apodiktizität gewährleistet. Die kartesische Intuition der Trägheitsbewegung könnte sich aber in Wirklichkeit bzw. unter wirklichen Bedingungen ereignen. Dieses Prinzip aus den unmittelbar erfahrbaren irdisch-mechanischen Phänomenen wie den Projektilen oder dem Gleiten eines Körpers auf einer glatten und horizontalen Ebene usw. würde – wie oben dargelegt wurde – die Negation aller ursächlichen Fakten voraussetzen. Wenn wir zunächst eine glatte und horizontale Oberfläche – wie beispielsweise die Oberfläche des Glatteises oder eines glatten Holzbodens – auf die Erde legen und darauf eine solide Kugel mit einer glatten Oberfläche gleiten lassen, beobachten wir eine zu der idealen Trägheitsbewegung fast analoge Fortbewegung der Kugel. Wenn die Kugel sich verlangsamt und nach einiger Zeit zur Ruhe kommt, entsteht die Tendenz des Körpers zum Ruhezustand offensichtlich durch 32
Vgl. dazu NSK, S. 48 f.
231 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
die gravitationelle Schwere des Körpers, durch die übrig gebliebene Bodenresistenz, aber auch durch die winzige Luftresistenz. Ebenso wirken im Falle der Projektile die gravitationelle Schwere und die Luftresistenz der Bewegung des Projektils entgegen und verhindern, dass eine reale Trägheitsbewegung bzw. eine lineare, gleichförmige und unendliche Fortbewegung des Körpers zustande kommt. Im All jedoch existieren in gewisser Hinsicht all jene ursächlichen Fakten, die der Trägheitsbewegung entgegenwirken, nicht. Wenn beispielsweise ein solider Körper im leeren Raum im All schwebt – bzw. suspendiert wird – platzieren wir den Körper in einem durchaus isolierten Raum, der frei von materieller Resistenz und gravitationellen Kräften ist. Der Körper schwebt, denn er hat im All kein Gewicht. Die Schwere des Körpers wird durch die Gravitation verursacht. In der unendlichen Verminderung der irdischen Gravitation im All verliert der Körper zwar an Gewicht, aber nicht an Trägheit. Widmen wir uns im Folgenden einem Gedankenexperiment, das möglicherweise die Trägheitsbewegung unter realen Bedingungen zur Schau stellt. Ein Golfball, der im All geschlagen wird, soll eine schnelle und linear-gleichförmige Trägheitsbewegung darstellen. Aufgrund des Nichtvorhandenseins bzw. der extremen Verminderung der Gravitationskraft und der materiellen Resistenz kann die Bewegung des Golfballes den Zug eines parabolischen Projektils nicht annehmen. Allerdings taucht ein anderes mechanisches Problem auf: Der Golfball soll bereits beim Schlagen den Trägheitsbewegungszustand erlangen, d. h. er soll in kürzester Zeit vom Ruhezustand in den dynamischen Zustand der schnellen Trägheitsbewegung versetzt werden. Dieser Übergang von der Ruhe in die Bewegung wird gewöhnlich für augenblicklich gehalten. In Wirklichkeit soll dem Trägheitsbewegungszustand jedoch eine prompte Beschleunigung bzw. eine relativ große Beschleunigung in einem unendlich kleinen Zeitraum vorausgehen. Denn der Ruhezustand bedeutet Null-Bewegung, wohingegen die Trägheitsbewegung des Golfballes eine relativ große Geschwindigkeit hat. Zwischen Ruhe und der hohen Geschwindigkeit soll der Körper eine hohe Beschleunigung in einem unendlich kleinen Zeitraum erfahren. Es stellt sich folgende Frage: Wenn eine derart augenblickliche Beschleunigung durch keinerlei ursächliche Fakten wie die Gravitation oder die materielle Resistenz verhindert wird, wie kann sie dann verschwinden, damit der Körper den gleichförmigen Trägheitsbewegungszustand erlangt? Wenn diese augenblickliche Beschleunigung 232 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Geschichte des Trägheitsprinzips
eine dem Trägheitsbewegungszustand analoge konstante Tendenz des Körpers ist, würde der Golfball auf Dauer eine extrem hohe Geschwindigkeit erreichen und weiter beschleunigen, was in Wirklichkeit jedoch nicht der Fall ist. Die augenblickliche Beschleunigung der Kugel endet unverzüglich in einem gleichförmigen Trägheitsbewegungszustand, was eindeutig allein durch die Trägheit des Körpers zustande kommt. D. h. in der augenblicklichen Beschleunigung tendiert der Körper zu einem Ruhezustand, und zwar zu einem dynamischen Ruhezustand, dargestellt durch die Trägheitsbewegung. Der heftige Schlag kann unmittelbar die Trägheitsbewegung im Körper bzw. in dem Golfball auslösen. Wenn der Körper zwischen der Instanz des Schlagens – bzw. der Berührung mit dem Golfschläger – und dem Erlangen des Trägheitsbewegungszustands eine sehr kurze Dauer der Beschleunigung erfährt, könnte eine derartige Selbstbeschleunigung als ein mechanischer Zustand des Körpers angesehen werden und als solcher analog zu den statischen und den dynamischen Trägheitszuständen betrachtet werden. Allerdings kann der Körper in diesem Beschleunigungszustand – im Vergleich zu dem Trägheitsruhezustand und der Trägheitsbewegung – nicht verharren; er tendiert ohne eine externe Ursache zu einer linearen und gleichförmigen Trägheitsbewegung. Diese körperliche Tendenz ist offensichtlich ein rein immanentes – bzw. von keinem externen Kraftphänomen verursachtes – Trägheitsphänomen; der Körper überwindet die augenblickliche Phase der Beschleunigung und erreicht den Ruhezustand der Trägheitsbewegung allein durch seine eigene bzw. ihm innewohnende Trägheit. Wir können eine derartige Trägheitstendenz mit der aristotelischen Vorstellung von Trägheit, in der ein bewegter Körper immer dann zu einem statischen Ruhezustand tendiert, wenn die externen Ursachen, die den Körper bewegen, fehlen, zwar nicht gleichsetzen. Aber sie begründet erneut die von Descartes vorgestellte ontologische Identität zwischen dem statischen und dem dynamischen Trägheitszustand eines Körpers. Sie lässt sich objektiv anmerken, dass die körperliche Tendenz zum Ruhezustand eine allgemeine und durchaus immanente Trägheitstendenz ist, unabhängig davon, dass sie in zweierlei Modi – als statischer Ruhezustand und dynamischer Bewegungszustand – in Erscheinung tritt. Descartes war nicht bereit, der notwendigen Annahme einer augenblicklichen Vorstufe der Beschleunigung des Projektils – bevor der Körper den stabilen Trägheitsbewegungszustand erlangt – zuzustimmen. Die ursprüngliche Beschleunigung des Projektils lässt sich bei 233 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die ontologische Basis der wissenschaftlichen Kontextualität
vielen irdisch-mechanischen Phänomenen beobachten. Der Ball aus der Kanone beschleunigt sich, nachdem er die Kanone verlässt. In seiner Korrespondenz mit Descartes versuchte Mersenne dieses unmittelbar zu beobachtende Phänomen durch das Prinzip des Impetus zu erklären: »How liberating the new point of view could be is seen in his correspondence with Mersenne on the acceleration that cannon balls were held to receive after they leave the cannon. Experienced gunners were all agreed that such an acceleration takes place. A cannon does not exercise its greatest effect at point blank range; the ball requires a certain distance to gain its maximum force. Mersenne attempted to explain the supposed phenomenon by means of the impetus or impetuosity impressed on the ball by the shot. In contrast, Descartes threw experienced opinion to the wind and flatly refused to believe the pretended fact. The impetus impressed on the ball is merely its motion, which is greatest at the moment the ball leaves the gun. From there on, it can only slow down as the air resists its passage.« 33
Hier lehnt Descartes zugunsten seiner Bewegungslehre, die die Wirkung eines übertragenen Impetus im Körper ausschließt, eine bereits beobachtete Tatsache, nämlich die ursprüngliche Beschleunigung eines Projektils, nachdrücklich ab, denn sie widerspricht der augenblicklichen Übertragung des Bewegungszustands. D. h. Descartes ging von einem augenblicklichen Phänomen des Drucks auf den Kanonenball aus, infolgedessen soll der Ball die größtmögliche Geschwindigkeit unmittelbar – ohne eine Zwischenphase der Beschleunigung – erlangen. Wenn wir aber das behandelte Phänomen in Kauf nehmen und zugleich einen immanenten Impetus als Beschleunigungsursache ausschließen, würde uns zugestanden werden, aus diesen Prämissen zu folgern, dass die ursprüngliche Beschleunigung des Projektils zwischen zwei Trägheitszuständen, nämlich zwischen dem ursprünglichen statischen Trägheitszustand und dem dynamischen Trägheitsbewegungszustand, als ein dritter mechanischer Bewegungs- bzw. Beschleunigungszustand angenommen werden soll. Die rein mechanische Ursache eines derartigen Beschleunigungszustands entzieht sich unserer Vorstellungskraft.
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Westfall, a. a. O., S. 59–60.
234 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Kapitel 6 Die Aporien der phänomenalen Individuation
Die phänomenale Individuation Im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie ereignete sich der historische Übergang von den mathematischen in die materiellen Wissenschaften zwar im Modus domanialer Ausweitung der bereits etablierten Wissenschaften – wie der Mechanik und der Optik –, aber der Anfang neuer Wissenschaftsdisziplinen und ihre Differenzierung oder Demarkierung voneinander basierten primär auf der phänomenalen Individuation, an der die Wissenschaften arbeiteten und auf der sie aufgebaut wurden. Das principium individuationis bildete die wichtigste Grundlage jener Wissenschaft – unabhängig von der Klassifizierung in Geistes- oder Naturwissenschaften –, indem diesem Prinzip eine ontologisch-kausale Struktur, die die absolut finale Basis der wissenschaftlichen Axiomatisierung bildet, zugrunde liegt. Im Kontext der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie bezieht sich die phänomenale Individuation nicht allein auf die materielle Individuation, sondern auch auf bestimmte mechanische Grundphänomene wie Kraft, Gravitation oder Trägheit. Auf der mentalen Ebene bezieht sie sich des Weiteren auf alle sinnlichen Qualitäten wie Farbigkeit, Ton, Geschmack, Geruch und alle taktilen Empfindungen des Leibes. Die Individuation ist streng genommen ein ontologisches Prinzip; sie impliziert einen Prozess; genauer gesagt einen Prozess der Entstehung, deren Ergebnis sie ist. Auf der phänomenalen Ebene bedeutet die Individuation notwendigerweise eine Verkörperung. Wir können die Verkörperung – oder die Objektivierung – der materiellen Welt relativ problemlos nachvollziehen. Ein Rätsel hingegen bleibt für uns die Objektivation der mechanischen Kraftphänomene wie die Gravitation oder die Trägheitsbewegung. Denn wir sind uns nicht im Klaren darüber, wie und wie weit die Kräfte materielle Phänomene sind und sich als solche an der Materialität des Körpers beteiligen. Die 235 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporien der phänomenalen Individuation
historische Entwicklung der Kinematik hin zur Dynamik setzte bekanntlich voraus, dass Kräfte als ursächliche Phänomene existieren, die allein die körperlichen Bewegungen verursachen können. Die Phänomenalität der Kräfte scheint für uns jedoch – im Vergleich zu der Phänomenalität der Bewegung – keine unmittelbare Wirklichkeit darzustellen. Denn nur die mechanischen bzw. statischen und dynamischen Zustände – nicht aber die sie verursachenden oder ihnen zugrunde liegenden Kräfte – sind erfahrbar. Die Ursächlichkeit dieser mechanischen Wirklichkeit ist uns erst durch eine epistemologische Intuition zugänglich. Eine unsichtbare Kraft wie die Gravitation verursacht die Bewegung bzw. den vertikalen Fall der Körper zur Erde. Jedoch ist diese Demonstration kaum hinreichend, um die mechanische Natur der Gravitation – d. h., ob die Gravitation lediglich ein statisches oder doch ein dynamisches Kraftprinzip ist – festzustellen. Vielmehr scheint die Gravitation ein statisches Kraftphänomen zu sein – bzw. als solches zu existieren –, das die dynamischen Bewegungen herbeiführt. Ebenso wie die Gravitation lässt sich die phänomenale Individuation der Trägheit nicht gänzlich nachvollziehen. Denn wir vermögen die phänomenale Ursächlichkeit der Trägheit nicht unmittelbar zu erfahren, sondern nur ihre Wirklichkeit bzw. ihre wirklichen Demonstrationen im statischen und im dynamischen Modus – als Trägheitsruhezustand und Trägheitsbewegung. Das principium individuationis bezieht sich nicht nur auf eine Form – auf ein morphé der materiellen und mentalen Phänomene –, sondern auch auf die der Form zugrunde liegende Struktur. Denn jede Form geht aus einer Struktur hervor; ihrer Wirklichkeit wohnt eine strukturelle Ursächlichkeit inne. Das Prinzip der phänomenalen Individuation basiert demnach zugleich auf der Singularität der Form und der Allgemeinheit ihrer Struktur. Die von Schopenhauer bezeichneten morphologischen Wissenschaften wie die Biologie oder die Mineralogie beschreiben Formen der materiellen bzw. organischen und anorganischen Phänomene und ihrer Strukturen. Jede Spezies von Pflanzen und Tieren weist zwar viele allgemeine Züge auf, aber die Individuation jedweder Pflanze oder jedwedes Tieres ist durchaus ein individuelles Phänomen. Die allgemeinen Merkmale der Spezies heben die Eigenart der Individuation nicht auf. Jede Pflanze und jedes Tier ist somit ein Individuum – unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Spezies. Handelt es sich jedoch um die der individuellen Form zugrunde liegende Struktur, wird die Autonomie der Individuation immer geringer. Den inneren Organen eines Menschen, wie z. B. 236 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die phänomenale Individuation
Herz, Leber, Lunge, Nieren etc., kann keine mit der Individuation des Menschen vergleichbare phänomenale Eigenart oder Singularität zugeschrieben werden. Auf einer tieferen strukturellen Ebene – nämlich auf der Domäne der elementaren Zellen, der organischen und anorganischen Verbindungen, der atomaren Elemente usw. – wird die Singularität der phänomenalen Individuation immer geringer. Demnach verweist jede elementar-phänomenale Individuation, die die Strukturen der materiellen Phänomene ausmacht, auch in ihrer kollektiven Identität auf ein principium individuationis, das allerdings kein rein förmliches, sondern primär ein strukturelles Prinzip ist. Während ihrer Individuation scheinen sich die mentalen Phänomene – wie die sinnlichen Wahrnehmungen, die Erinnerungen, die Imagination, das Denken, das Erkennen usw. – von der Domäne der phänomenalen Wirklichkeit vollkommen loszulösen. Diese vollkommene Autonomie der Individuation mentaler Phänomene wurde zur Basis der kartesischen Lehre der Differenzierung zwischen den phänomenalen und den rein mentalen Modi der Wirklichkeit – demzufolge zwischen dem ausgedehnten materiellen Körper und der ausdehnungslosen und immateriellen Seele. D. h. zwischen der phänomenalen und der mentalen Individuation besteht eine unlösbare ontische Differenz. Aufgrund dieser ontischen Differenz bildet die Individuation mentaler Phänomene eine Realität an sich, die sich streng genommen ontologisch-kausal nicht auf eine phänomenale Ursächlichkeit zurückführen lässt. Die Ursächlichkeit der Individuation mentaler Phänomene scheint demnach auf einem Faktum der Ursächlichkeit an sich – auf einem causa sui – aufgebaut zu werden. Allerdings werden die mentalen Phänomene durch die materiellen Prozesse verursacht. Bei der visuellen Raumempfindung ist eine Kette von phänomenalen Ursachen oder Kausalzusammenhängen nachzuweisen – beginnend mit der Reflexion einer bestimmten Wellenlänge des Lichts von der Oberfläche der Gegenstände über das geometrisch-optische Konvergieren der Lichtstrahlen und ihre Erzeugung der photoelektrischen Signale auf der Augennetzhaut bis zu ihrer neuronalen Bearbeitung im Gehirn. Ebenso entstehen andere, oben erwähnte mentale Phänomene aus der materiellen – insbesondere aus der neuronalen – Ursächlichkeit. Aber die Individuation mentaler Phänomene hat mit ihrer phänomenal-ursächlichen Basis grundsätzlich nichts gemeinsam; die ontische Identität der individuierten mentalen Phänomene differenziert sich vollkommen von der ontischen Identität der physikalischen Phänomene (aus de237 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporien der phänomenalen Individuation
nen die mentalen Phänomene entstehen). Indem unsere Wirklichkeit eine Synthese – genauer gesagt ein synthetischer Nexus – zwischen mentalem und materiellem Phänomen ist, dargestellt sowohl in sinnlichen Wahrnehmungen als auch im logischen bzw. begrifflichen Denken, bildet die Individuation mentaler Phänomene notwendigerweise eine Maske, die sich von der phänomenalen Wirklichkeit ontologisch gänzlich differenziert, aber die ihr aufoktroyiert ist. Ebenso wie die Farbe als rein mentales Phänomen die Oberfläche eines externen Objekts kleidet und maskiert, werden die begrifflichen Erkenntnisse von einem logischen Subjekt zu den Gegenständen hinzugefügt. Im Erkenntnisprozess entsteht in dieser Weise eine ständige Synthetisierung oder synthetische Verknüpfung zwischen mentalen und materiellen Phänomenen bzw. zwischen ihren Individuationen. Den vorherigen Betrachtungen ist zu entnehmen, dass die phänomenale und die mentale Individuation eine ontologische Ursächlichkeit – als ihr Entstehungsprinzip – voraussetzt. Die kategoriale Bestimmung einer ontologischen Kausalität hat sich weder im Mittelalter noch in der Frühmoderne entfaltet. Durch die Vorstellung von substantia oder essentia im mittelalterlichen Kontext entstand zwar ein streng ontologisches Gerüst für philosophisch-ontologische Spekulationen (was in der Frühmoderne – im kartesischen System – als Substanzontologie tradiert wurde), aber diese Vorstellung baute kaum auf einem Kausalprinzip auf. Bekanntlich wurde im Mittelalter versucht, die Gegebenheit der phänomenalen Individuation auf ein metaphysisches Prinzip, nämlich auf Gott, zurückzuführen. So entstanden bereits im 12. Jahrhundert philosophische Lehren, in denen die geschaffene phänomenale Welt als rationale Manifestation Gottes erdacht wurde. 1 Der Gottesbeweis von Duns Scotus, ein Philosoph der spätmittelalterlichen Scholastik, war ein aposteriorischer Modalbeweis, der auf der Vorstellung von Kausalität basierte. 2 Die Einbeziehung Gottes in die Begründung der phänomenalen Individuation impliziert zwar ein ontologisches Kausalprinzip, aber das ursächliche Faktum Gottes im Kontext der spätmittelalterlichen Scholastik, dessen rationale Manifestation die phänomenale Welt ist, entspricht kaum dem wissenschaftlichen Prinzip einer ontologischen Kausalität, Wetherbee 1988, S. 25. Vgl. Theologische Realenzyklopädie. Band 13: Gesellschaft und Christentum VI – Gottesbeweis, Walter de Gruyter Verlag, Berlin 1984, S. 736 f.
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Die phänomenale Individuation
in der die untergeordneten elementaren Phänomene ein komplexeres und übergeordnetes Phänomen ontologisch verursachen. Gott war sowohl im Mittelalter als auch im kartesischen System der Frühmoderne ein absolut übergeordnetes Prinzip, dem die gesamte phänomenale Welt und alle individuierten mentalen Phänomene untergeordnet wurden. Für den Rationalist Spinoza war Gott ein absolut primäres Kausalprinzip, ein causa sui, d. h. eine Ursache an sich. Wie bereits dargelegt wurde, war die kartesische Frühmoderne ein historischer Übergang von der Dominanz der mittelalterlichscholastischen Ontologie hin zur Hegemonie einer humanistischen Epistemologie und somit eine epistemologische Wende. Diese epistemologische Wende brachte allerdings eine philosophische Neuzeit zuwege, in der die Individuation mentaler Phänomene gegenüber der Individuation materieller Phänomene bevorzugt zu werden begann. Wie nie zuvor wurde die Erkennbarkeit der Phänomene zum Maßstab ihrer Existenz – ein Kriterium, das von Denkern in der frühneuzeitlichen Philosophie eingeführt wurde. Mit anderen Worten: Im Kontext der epistemologischen Wende in der Frühneuzeit wurde die bloße Gegebenheit der Phänomene ihrer Erkennbarkeit untergeordnet. In der Einführung der Aufsatzsammlung »Individuation and Identity in Early Modern Philosophy« beschreibt Kenneth Barber, wie die Philosophie in ihrer Geschichte durch jenes korrelative oder sogar komplementäre Verhältnis zwischen ihren theoretischen Grunddisziplinen, nämlich zwischen Ontologie und Epistemologie, charakterisiert wurde. Barber definiert dabei zwei Modelle dieser Korrelation, nämlich ein »strong model«, in dem die Epistemologie als ein Kriterium für die Adäquatheit des ontologischen Systems diente, und ein »weak model«, in dem Epistemologie und Ontologie als parallele Untersuchungsmethoden verstanden wurden: »These two concerns, ontological and epistemological, are uneasily linked in the history of philosophy. In an ideal world, philosopher’s heaven as it were, the marriage of ontology and epistemology would be completely harmonious in that all the entities catalogued and classified by the ontologist would meet with approval by the epistemologist and in turn all items on the epistemologist’s short list of knowable entities would be sufficient for the ontologist’s account of the world. In a less than ideal world, however, the two concerns are often at odds; the epistemologist complains about the cavalier attitude of his ontologically inclined brethren who generate entities and distinctions in an unconscionable manner, while the ontologist in turn dismisses the epistemologist as one blinded to the richness of the universe through a neurotic fixation on a few favorite sense organs.
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Die Aporien der phänomenalen Individuation
Less dramatically, but more sharply focused, epistemology and ontology can be related in two ways. On what I call the Strong Model of their relation, epistemological considerations serve as criteria for the adequacy of an ontological system: putative candidates for inclusion in the catalogue of existents must first pass a test for knowability and, once included, their classification in terms of categorical features must again meet the same rigorous standard. Failure to pass these tests is, or ought to be, sufficient reason for discarding all or parts of the ontology in question, no matter how firmly entrenched the latter may have been in a philosophical tradition. On what I term the ›weak model,‹ epistemology and ontology are understood to be parallel methods of investigation having in common only the fact that their respective inquiries are directed towards the same classes of objects. While the ontologist asks what is in objects that individuates those objects, the epistemologist searches for features in experience that allow us to discern the difference among objects. The results of the two investigations need not be the same. Aquinas, for example, employs designated matter to solve the ontological problem of individuation and appeals to place to account for our ability to discern the difference among objects. Since on the weak model epistemology does not function as a control for ontological claims, the disparity in accounts embarrasses neither enterprise.« 3
Das im Mittelalter herrschende »weak model« der Korrelation zwischen Ontologie und Epistemologie wurde in der Frühneuzeit durch ein kartesisches und postkartesisches »strong model« ersetzt oder überwunden: »Broadly speaking, the weak model is dominant in medieval philosophy. Epistemological concerns are subordinate or at best parallel to ontological concerns. The existents, beginning with God, are given as are the categories available for their analysis. The task of the epistemologist is to support not to challenge the schema, and any attempt to reverse the subordinate role assigned to epistemology (or to advocate the Strong Model) would have been regarded not as an indication of philosophical acumen but rather as a potential source of heresy. By 1641, however, the strong model has replaced its weaker medieval counterpart. In the opening paragraphs of the Meditations Descartes announces that he will suspend belief in the existence of anything not known with certainty. Ontological claims concerning the existence of material objects, of God, and even of the self, must be subjected to a most rigorous epistemological scrutiny before one (or at least Descartes) is entitled to accept those claims.« 4 Barber, Kenneth F: Individuation and Identity in Early Modern Philosophy, hrsg. von Barber, Kenneth F. & Gracia J. E., New York 1994, S. 4–5. 4 Ebd. 3
240 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die phänomenale Individuation
Das von Barber bezeichnete »Strong Model« – etabliert von Descartes in der Frühmoderne – bedeutete aber keine gleichrangige Korrelation zwischen den Methoden der Epistemologie und den der Ontologie. Descartes schien die epistemologische Sicherheit gegenüber der ontologischen Finalität und Irreduzibilität zu bevorzugen. Demnach ist die kartesische Methode des systematischen Zweifelns hauptsächlich eine epistemologische Methode – d. h. ein Verfahren, das in erster Linie die Erkennbarkeit der phänomenalen Welt und ihre Legitimität betont. Zwar entwickelte Descartes in seiner Methode die zwei irreduziblen und finalen Entitäten, res extensa und res cogitans, die epistemologisch nicht gleichrangig sind. Die res extensa ist das residuale Ergebnis eines epistemologischen Prozesses, der allein auf das denkende Ich und auf die Sicherheit des Denkens abzielt. Der kartesische Grundsatz, »Ich denke, also bin ich« (ego cogito, ergo sum) verbindet aber eine epistemologische mit einer ontologischen Finalität und Irreduzibilität. »Ich bin« ist eine ontologische Existenzbestimmung, die allein durch einen epistemologischen Akt – »Ich denke« – gewährleistet wird. Hier wird die menschliche Existenz einem fundamentalen epistemologischen Prinzip untergeordnet. Dass das Ich nicht nur als ein rein denkendes Ich (res cogitans), sondern notwendigerweise auch als ein räumlich ausgedehnter materieller Leib existiert, war bei Descartes keine unweigerliche Annahme. Descartes wagte auch sich vorzustellen, dass die Seele vollkommen getrennt vom Leib existieren könne. 5 Dennoch blieb von dem kartesischen Zweifel die res extensa als ein residuales ontologisches Attribut der Körperwelt übrig. Folglich etablierte Descartes neben seiner Epistemologie oder Philosophie des Geistes die Philosophie der materiellen Körper, nämlich die frühneuzeitliche Mechanische Philosophie. Während Descartes die Hegemonie der Epistemologie etablierte und unter ihr jene ontologische Letztbegründung subsumierte, schien sie sich im Verlauf der Frühmoderne weiter zu entwickeln und gipfelte schließlich im kantischen Transzendentalsystem, das die Räumlichkeit vollständig apriorisiert bzw. auf eine Form der reinen Anschauung a priori reduziert, wie zuvor erörtert wurde. Allerdings bilden res extensa und res cogitans primär ontologische Entitäten. Wir haben erörtert, wie die epistemologische Finalität der Erkenntnisse – oder genauer gesagt der Erkennbarkeit der Gegenstände – letztendlich durch ihre ontologische Finalität bestimmt wird. 5
Siehe Anmerkung 9 im Kapitel 5.
241 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporien der phänomenalen Individuation
Diese absolut finalen Entitäten bleiben von der kartesischen Methode des systematischen Zweifelns übrig, denn der Erkenntnisprozess stößt dabei auf eine ontologische Grenze. In dieser Hinsicht ließe sich annehmen, dass auch bei Descartes eine Ontologie – und zwar eine von der Scholastik tradierte Substanzontologie – der epistemologischen Letztbegründung zugrunde liegt. Aber beide finalen Entitäten, res cogitans und res extensa, sind Modi der Individuation – auf der rein mentalen und auf der rein phänomenalen Ebene. Daraus lässt sich folgern, dass das Prinzip der Individuation Vorrang vor jener epistemologischen Bestimmung und ihrer Finalität hat. In der von Barber erörterten Hochzeit zwischen Epistemologie und Ontologie, deren Realisation jeder Philosoph anstreben würde, scheint die Ontologie und ihre Finalität das Ziel oder der Limes zu sein, nach dem ein epistemologischer Prozess voranschreitet. Demnach ist es die Epistemologie, die der Ontologie bezüglich der angestrebten Hochzeit den Heiratsantrag macht – und nicht umgekehrt. Wenn die axiomatische Letztbegründung, die das wissenschaftliche Fundament ausmacht, eine erfolgreiche Hochzeit zwischen Ontologie und Epistemologie ist, sollte sie zugleich auf einer epistemologischen und ontologischen Letztbegründung basieren; in einer derartigen Letztbegründung markiert die ontologische Basis die Diskretion eines Limes, in dem die Kontinuität der epistemologischen Prozessualität aufhört. Gemäß der Art der Individuation unterscheiden sich auch die Epistemologien, die den Prozess der phänomenalen und der mentalen Individuationen zu entziffern suchen. Das »principium individuationis« – unabhängig von seinen phänomenalen und mentalen Manifestationen – ist ein einheitliches Prinzip, wogegen seine Erkennbarkeit domanial, präziser wissenschaftlich-domanial, bestimmt ist. Die Individuation der mentalen Zustände und Prozesse wird anders als die Individuation der phänomenalen Entitäten erkannt. Innerhalb der phänomenalen Welt unterscheidet sich die Erkennbarkeit der physikalischen Körper und ihrer substanziellen Strukturen von der Erkennbarkeit der Kraftphänomene oder der Trägheit im wissenschaftlichen Kontext der Mechanik. Die Vielfalt derartiger epistemologischer Erkennbarkeit ist offensichtlich auf die Vielfalt der phänomenalen Individuationen zurückzuführen. Die Individuation der Trägheits- und Kraftphänomene bleibt bis heute ein ungelöstes Problem in der Mechanik; sie verweist auf die wirkliche Existenz dieser mechanischen Phänomene, was aber gegenüber der materiellen Individuation des Körpers kaum durch eine an242 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die phänomenale Individuation
gemessene sinnliche Wahrnehmung und verstandesmäßige Erkenntnis unterstützt wird. D. h. wir vermögen nur schwerlich sicherzustellen, dass die Trägheit und die Kräfte in der Art und Weise der sicheren Existenzmodi der Körper, deren Wesenszüge sie sind, existieren. Hier führt die Unklarheit über den Existenzmodus oder die unzureichende ontologische Bestimmung zu einer ebenso unklaren oder unzureichenden Erkennbarkeit der Phänomene. Auch wenn wir unmittelbar wahrnehmen können, dass ein Körper sowohl im Trägheitsruhezustand als auch in dem – linearen und gleichförmigen – Trägheitsbewegungszustand »existiert«, vermögen wir kaum vollkommen nachzuvollziehen, wie beide dieser Zustände durch dieselbe und dem Körper innewohnende Trägheit verursacht werden. Denn Trägheit als mechanisches Phänomen lässt sich nur in ihrer bloßen Wirkung, nicht aber in ihrem existenziellen Prinzip der Verursachung feststellen. Ebenso wie die Trägheit vermögen wir nur die Wirkung der Kräfte, dargestellt in wenigen sinnlichen Modalitäten wie die sichtbare und fühlbare Bewegung, Druck, Gewicht usw., und nicht wirklich ihr ursächliches Dasein, das diese Wirkungen herbeiführt, zu erkennen. Darüber hinaus bleibt uns die Fernwirkung der Gravitation, die weder durch die materiell-mediale Anwesenheit und Resistenz noch durch die vollkommene Abwesenheit des materiellen Mediums affiziert wird, ein ungelöstes Rätsel. Newton hatte bekanntlich lange versucht, die Ursache der gravitationellen Fernwirkung anhand einer Analogie zwischen Gravitation und Magnetismus experimentell zu entdecken. Aber seine experimentellen Untersuchungen erwiesen sich als vergeblich. In einem Experiment bemerkte Newton, dass ein kleines Stück Eisen auf einer Glasplatte durch einen Magneten, der unter diese Glasplatte gelegt wurde, bewegt werden konnte. Daraus zog Newton den Schluss, dass es unmöglich ist, dass die magnetische und demgemäß die gravitationelle Fernwirkung, die alle materiellmediale Resistenz überwindet, im Rahmen der Mechanischen Philosophie erklärt werden kann. Da sich die Fernwirkung des Magnetismus und der Gravitation kausal nicht erklären lässt, muss man sich allein mit den erfahrbaren Wirkungsmodi dieser Naturkräfte begnügen, was die berühmte newtonsche Aussage »Satis est« 6 zum Ausdruck brachte. Der newtonschen Aussage lag offensichtlich die Vgl. Cohen, I. Bernard: The Newtonian Revolution, Cambridge University Press, Cambridge 1980, S. 68. »It is enough (›Satis est‹), first of all, ›that gravity really exists‹ ; second, that gravity ›acts according to the laws that we have set forth‹ ; third,
6
243 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporien der phänomenalen Individuation
Überzeugung zugrunde, dass allein die Wirkungsmodi der Gravitation, die evident sind bzw. sich experimentell beweisen und im Rahmen der Klassischen Mechanik mathematisieren lassen, ausreichen, ohne dass wir unbedingt die rein mechanische Ursächlichkeit der Gravitation (und des Magnetismus) als Erkenntnisse zur Verfügung haben sollten. Der Wirkungsbereich der materiellen und der mentalen Phänomene macht letztendlich ihre Wirklichkeit aus. Bei mechanischen Phänomenen wie der Gravitation oder der Trägheit, bei mentalen Phänomenen wie die Farb- oder Geräuschwahrnehmung sowie bei der unmittelbaren Erfahrung der materiellen Naturphänomene wie Licht, Luft, Wasser, Holz, Stein usw. kommen wir allein mit ihrer Wirklichkeit und nicht mit der dieser Wirklichkeit zugrunde liegenden (ontologischen) Ursächlichkeit in Berührung. Denn, wie vorher beschrieben wurde, maskiert diese Wirklichkeit die ontologische Ursächlichkeit, durch die sie entsteht und erhalten bleibt. Eine derartige Maskierung der Ursächlichkeit mentaler und materieller Phänomene durch ihre unmittelbar zu erfahrende Wirklichkeit scheint in vielen Fällen zu einer gewissen Aporie der Wirklichkeit zu führen, und zwar zu einer Aporie der phänomenalen Individuation. Dass wir allein die Wirkung der Gravitation, des Trägheitsphänomens, der Farbigkeit, des Tons oder des Geschmacks wahrnehmen, nicht aber die den Phänomenen innewohnende ontologische Kausalität erkennen, besagt genau genommen das Aporetische an der Erkennbarkeit materieller und mentaler Individuation dieser Phänomene.
Die Aporie der phänomenalen Individuation Die Individuation materieller und mentaler Phänomene kommt uns, dem sinnlich wahrnehmenden und begrifflich erkennenden Subjekt, eher als ein Wirkungsmodus vor. So erfahren wir beispielsweise unmittelbar die Wirklichkeit des Wassers – in seinen materiellen Zuständen des flüssigen Wassers, soliden Eises oder des gasförmigen Dampfes – sowie des Holzes, der Luft, der Farbigkeit oder des Geschmacks eines materiellen Objekts usw. Jedes dieser Phänomene ist ein einzelner Existenzmodus und in der Form eine einmalige Indivithat gravity ›is sufficient to explain all the motions of the heavenly bodies and of our sea‹.«
244 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporie der phänomenalen Individuation
duation materieller und mentaler Phänomene. Allerdings unterscheidet sich die Individuation eines materiellen Phänomens, wie die eines Wassermoleküls, von einem rein mentalen Phänomen, wie unserer sinnlichen Erfahrung von Kälte oder Wärme oder des neutralen Geschmacks des Wassers. Die Individuation materieller und mentaler Phänomene tritt anscheinend als reine Form auf, allein zu deren Wirklichkeit wir – als Subjekte – Zugang haben. Die sinnlich erfahrbare und erkennbare Form einer phänomenalen Individuation – unabhängig von der Differenzierung zwischen materiellem und mentalem Phänomen – setzt aber aus wissenschaftlicher Sicht unausweichlich eine kausale Struktur voraus, die die Individuation ontologisch bewirkt (wie vorher erörtert wurde). Die Sinnlichkeit, dargestellt in allen Sinneserfahrungen, lässt sich auf eine Kette von materiellen, i. e. rein physikalischen und physiologischen, Kausalphänomenen zurückführen. Ebenso liegen der Wirklichkeit des Wassers und seiner oben erörterten mechanischen Zustände bestimmte mechanische, i. e. molekulare sowie chemische, i. e. atomare Kausalstrukturen zugrunde. Kurzum: Wenn die uns erfahrbare und erkennbare Wirklichkeit der Individuation materieller und mentaler Phänomene eine bloße Form ist, wird diese Form unbedingt durch materielle Kausalstrukturen bedingt, die sie entstehen lassen und die ihr entweder immanent sind (wie im Falle des Wassers) oder sie vollkommen exteriorisiert bzw. von ihr gänzlich abgetrennt sind (wie im Falle der Sinnlichkeit). Die Individuation der Phänomene baut demnach zugleich auf einer wirklichen Form und auf einer ursächlichen Struktur auf. Zu der Wirklichkeit der Form der Phänomene haben wir unmittelbaren Zugang; ihre kausale Innenstruktur bleibt uns jedoch verborgen. Wir können zwar die den Phänomenen zugrunde liegenden Kausalstrukturen experimentell untersuchen: Wie z. B. die elektrische Dekomposition des Wassers, woraus sich seine atomaren Komponenten, nämlich Wasserstoff und Sauerstoff, ergeben oder die experimentelle Analyse aller optischen und physiologischen bzw. elektrochemischen und neuronalen Kausalphänomene, die unsere visuelle Wahrnehmung der Farbigkeit oder Helligkeit der Gegenstände entstehen lassen. Aber wir erfahren dabei lediglich die Wirklichkeit dieser Kausalphänomene, nicht aber die Wirklichkeit der phänomenalen Individuation – des Wassers oder der Farb- und Helligkeitswahrnehmung. Anders betrachtet besteht unweigerlich ein Sprung von der Wirklichkeit der materiellen Kausalstrukturen hin zu der Form der 245 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporien der phänomenalen Individuation
Individuation materieller und mentaler Phänomene, deren ontologische Ursächlichkeit sie sind. Dieser Sprung lässt sich ontologisch nicht auflösen; er bestimmt prinzipiell die gesamte Struktur der Wirklichkeit und ihre hierarchische Ordnung von verschiedenen Modi der individuierten Formen materieller und mentaler Phänomene, die in einer Kette von materiellen Kausalstrukturen eingebettet sind. Bei den zahlreichen Vorstellungen von Individuation materieller und mentaler Phänomene in den frühneuzeitlichen Philosophien – von Descartes bis Kant – ist jener perspektivische Unterschied zwischen philosophischen und naturwissenschaftlichen Kontexten, in denen das principium individuationis betrachtet wurde, kaum zu übersehen. Aus der (kartesisch- neuzeitlichen) philosophischen Perspektive schien vor allem die Erkennbarkeit – d. h. die epistemologische Finalität – des Individuationsprinzips betont zu werden, wohingegen die frühneuzeitliche Entstehung der Naturwissenschaften eher auf einem ontologischen Prinzip der Individuation der Naturphänomene (die die rein mechanischen und die rein materiellen Phänomene in sich einschließen) zu basieren schien. Die grundlegende Problematik oder Fragestellung, die sich unmittelbar auf die perspektivische Bevorzugung bezieht, lässt sich folgendermaßen formulieren: Ist es letztendlich allein die Erkennbarkeit oder ein – vom erkennenden Subjekt autonomes – ontologisches Prinzip, das dem Individuationsprinzip zugrunde liegt? In diesem Zusammenhang nehmen wir deutlich die Spannung zwischen Epistemologie und Ontologie im Rahmen ihrer philosophisch-wissenschaftlichen Korrelativierung wahr, die bei allen frühneuzeitlichen Philosophien unternommen wurde, und die das Problem der Individuation sowohl in der Philosophie als auch in den Wissenschaften hinreichend bewältigen sollte. Die angestrebte »Hochzeit« zwischen der Epistemologie und der Ontologie in der Frühneuzeit, die aus jenem Modus der phänomenalen Individuation die axiomatischen Prinzipien der Naturwissenschaften entwickeln sollte, schien eine unvollendete oder sogar gescheiterte Unternehmung zu sein. Die kartesische Wende hin zur Epistemologie, woraus die frühneuzeitliche Tradition der Philosophie entstand, markierte bekanntlich die philosophisch-strategische Bevorzugung der Erkennbarkeit der (mentalen und materiellen) Phänomene gegenüber ihrer bloßen Existenzweise. Demnach wurde die reale Vielfalt materieller und mentaler Phänomene anhand einer strengen Methode der epistemologischen Negation und Absonderung auf absolut einfache und residuale Entitäten der Existenzweise, nämlich der res cogitans 246 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporie der phänomenalen Individuation
und res extensa, reduziert. Die Einzelheit und die große Vielfalt der Individuation (der materiellen und mentalen Phänomene) werden bei Descartes zugunsten seines epistemologischen Reduktionismus programmatisch negiert und auf die epistemologische Finalität des bloß denkenden Subjekts und des rein materiell ausgedehnten Körpers reduziert. Descartes stellt sich die res cogitans offensichtlich als die Individuation der Seele vor, die unausgedehnt und immateriell ist. Wie aber kann ein Phänomen – auch als mentales Phänomen – ohne Ausdehnung zustande kommen? Denn die räumliche Ausdehnung ist die allererste und unabdingbare Voraussetzung für die Existenzweise eines individuierten Phänomens. In ihrer Polemik gegen die kartesische Vorstellung von res cogitans stellte Prinzessin Elisabeth von Böhmen die unausgedehnte und immaterielle Existenzweise der Seele in Frage. 7 Denn es schien nicht schlüssig anzunehmen, dass eine unausgedehnte und immaterielle Seele mit dem räumlich ausgedehnten und materiellen Leib verbunden sein sollte und durch diesen die sinnlichen Wahrnehmungen entwickelte und in ihm bzw. in dem Leib die mechanischen Willensakte durchführte. Die Prinzessin polemisierte gegen die durchaus unangemessene Vorstellung Descartes von der Individuation der Seele. Descartes gab in seiner Antwort auf die Frage der Prinzessin bekanntlich zu, dass er die Verbundenheit der Seele mit dem Körper, dargestellt in den sinnlichen Wahrnehmungen und den leiblichen Willensakten, zugunsten des bloßen Denkens vernachlässigte. 8 Hierauf erkennen wir, inwiefern der epistemologische Reduktionismus auf eine ontologische Problematik stößt. Descartes ging davon aus, dass sich die verschiedenen Modi der Individuation der Seele, wie das begriffliche Denken, die sinnlichen Wahrnehmungen, Erinnerungen, Urteile usw., einem einheitlichen Begriff des Denkens subsumieren ließen. 9 Aber jeder dieser Modi der Seele zeichnet sich durch einen bestimmten Akt der Individuation aus. Im Vergleich zu dem begrifflichen Denken, Erkennen oder Urteilen weisen alle Sinneswahrnehmungen eindeutig eine räumliche Ausdehnung auf. Allerdings unterscheiden sich die Arten der Ausdehnung der Sinneswahrnehmungen – und zwar des leiblichen Tastsinns, des Schmeckens oder Riechens und des außerleiblichen Sehens und 7 8 9
Siehe Anmerkung 7 im Kapitel 1. Siehe Anmerkung 8 im Kapitel 1. Siehe Anmerkung 10 im Kapitel 5.
247 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporien der phänomenalen Individuation
Hörens – voneinander. Ebenso lassen sich die virtuelle Ausdehnung der bildlichen Erinnerungen, der Imagination sowie der Träume von der realen Ausdehnung der Sinnlichkeit differenzieren. Nach Descartes lässt sich die Vielfalt der mentalen Individuation auf eine einheitliche Existenzweise, nämlich auf eine res cogitans, die weder räumlich ausgedehnt noch materiell ist, reduzieren. Auch wenn wir hier in Anlehnung an Descartes (und im Gegensatz zu der Polemik der Prinzessin) der Seele die Eigenschaft der Materialität nicht zuschreiben, können wir die räumliche Ausdehnungslosigkeit der sinnlichen Individuation der Seele weder erfahren noch erdenken. Denn die Sinnlichkeit ereignet sich leiblich und außerleiblich unweigerlich in einer räumlichen Ausdehnung. Aus der Erkennbarkeit der sinnlichen Wahrnehmungen können wir die Räumlichkeit, die den Wesenszug der Sinnlichkeit bzw. ihrer Individuation bildet, nicht ausschließen. Kurzum: Die scheinbare Ausdehnungslosigkeit des bloß begrifflichen Denkens soll sich von der Sinnlichkeit, die räumlich ausgedehnt ist, unterscheiden. Die unausgedehnte Individuation des mentalen Phänomens, wie das begriffliche Denken, Erkennen oder Urteilen, beschränkt sich allein auf die Domäne eines logischen Subjekts. Aber dem logischen Subjekt geht die Domäne eines vorlogischen und rein ästhetischen Subjekts voraus. Im kantischen System der Transzendentalphilosophie werden die ästhetischen und logischen Domänen des Subjekts voneinander differenziert. Dementsprechend wird versucht, diese den propädeutischen Kontexten der transzendentalen Elementarlehre, nämlich der transzendentalen Ästhetik und der transzendentalen Logik, zu unterwerfen. Die vorlogischen und rein ästhetischen Domänen des Subjekts, die hauptsächlich auf der Individuation der Sinnlichkeit aufbauen, verweisen auf einen vollkommen unterschiedlichen Seinsmodus. Das grundlegende und unabdingbare Charakteristikum der vorlogischen und rein ästhetischen Domäne des Subjekts ist nämlich, dass wir ihre Individuation – unabhängig von ihrer Virtualität und Realität – als räumlich ausgedehnt wahrnehmen. Räumlichkeit ist somit das wichtigste Faktum bei der Individuation aller Modi der Sinnlichkeit, der Einbildung oder der bildlichen Erinnerung innerhalb der Domäne eines ästhetischen Subjekts. Ebenso wie im Falle der res cogitans bleibt die kartesische Reduktion des materiell-körperlichen Phänomens auf eine res extensa – die bloß räumliche Ausdehnung – eine problematische Vorstellung von der phänomenalen Individuation. Denn es schließt die große 248 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporie der phänomenalen Individuation
Vielfalt der materiell-phänomenalen Individuation in der Natur aus. Die Vielfalt der materiell-phänomenalen Individuation in der Natur lässt sich einer einheitlichen res extensa – der rein materiellen Ausdehnung – kaum unterordnen. Die Räumlichkeit der Körper ist zwar ein einheitlicher Maßstab der phänomenalen Individuation, aber die Materialität der Körper lässt sich ontologisch nicht vereinheitlichen. Jede Negation des Sinnes- oder Verstandesattributs, wie sie in der kartesischen Methode des Zweifelns und der Absonderung unternommen wird, setzt keine einheitliche, sondern eine ganz und gar individuelle materielle Basis – als Kausalbasis – im Körper voraus, die sich epistemologisch nicht negieren lässt. Im Vergleich zu Descartes und vielen Kartesianern versuchte John Locke bekanntlich die Vielfalt der Individuation innerhalb eines ästhetischen Subjekts, das allein den primären Zugang zu unserer Erfahrungswelt und zu den realen Gegenständen der Erkenntnis hat, zu betonen. Demnach entfaltete sich das lockesche System der Philosophie – gegenüber dem kartesischen Reduktionismus – zu einem epistemologischen Pluralismus, dargestellt am ehesten durch Lockes Plädoyer für eine Vielfalt der epistemologischen, ethischen, anthropologischen oder politischen Individuationen, die seinen philosophischen Liberalismus ausmachten, und die programmatisch jener rationalistischen Tendenz zur ontologischen Reduktion entgegengesetzt waren. Die Individuation des Menschen ist nach Locke nicht einem allgemeinen Begriff »Mensch« zu subsumieren; sie erweist sich vielmehr als eine Vielfalt von einzelnen Menschen, wie Kinder und Erwachsene, Mann und Frau, Engländer und Afrikaner usw. Eine derartige pluralistische Vorstellung stand offenkundig im Widerspruch zu der rationalistischen Reduktion der Vielfalt der Menschen auf einen übergeordneten Begriff. Die lockesche Bevorzugung des epistemologischen Pluralismus lässt sich auf seinen Empirismus zurückführen: Im Gegensatz zu den Rationalisten ging Locke von der epistemologischen Grundvorstellung aus, dass es nicht die angeborenen bzw. im Subjekt apriorisch vorhandenen Ideen, sondern unsere Sinneswahrnehmungen sind, die unsere Erkenntnisse initiieren und hervorbringen. Die Ablehnung der angeborenen allgemeinen Ideen bedeutete auch die Negation jenes bloßen Abstraktums, auf das die Vielfalt der Phänomene, die uns unsere Sinneserfahrungen liefern, reduziert wird. Mit offenen Augen sehen wir keine abstrakten bzw. auf ein Abstraktum reduzierten Ideen, sondern die Vielfalt der realen Phänomene. Ebenso sehen und erfahren wir unmittelbar die Vielfalt 249 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporien der phänomenalen Individuation
der einzelnen Menschen und keine einheitliche Individuation des Menschen – als ein universales Abstraktum. Wenn unser Erkenntnisprozess mit den Sinneserfahrungen einsetzt, verfügen wir über eine große Vielfalt der phänomenalen Individuationen, die die realen Gegenstände der Sinnlichkeit sind. Die abstrakte Erkenntnis ist dagegen die Leistung des Verstandes, der allein aus der Vielfalt der Sinnesgegenstände jene einheitliche, aber abstrakte Erkenntnis entwickelt. Der Rationalismus als philosophische Strömung, die vom Verstand und den ihm angeborenen Ideen ausgeht, neigt zu allgemeinen Ideen, deren reale Manifestationen sich niemals als vollkommen erweisen. Dagegen tendiert der die Erfahrung bevorzugende Empirismus dazu, die erfahrene Realität der vielfältigen Phänomene zu legitimieren. In der von Descartes initiierten neuzeitlichen Tradition der Philosophie schien die Vorstellung von der phänomenalen Individuation zwischen zwei Domänen des Subjekts, nämlich zwischen dem vorlogisch-ästhetischen und dem logischen Subjekt, zerrissen zu sein. Bei allen Vorstellungen von der phänomenalen Individuation – unabhängig von der Differenzierung zwischen Natur- und Sinnesgegenständen – waren das Faktum des Subjekts und das des Objekts miteinander verwoben. Mit anderen Worten: In der neuzeitlichen Vorstellung von der Individuation materieller und mentaler Phänomene waren die rein subjektiven Intuitionen und die gegenständlichen Daseinsweisen eng miteinander verbunden. Während des frühneuzeitlichen Atomismus und im Rahmen der Korpuskularphilosophien – von Locke, Hobbes, Gassendi, Boyle u. a. – stellte man sich die Atome oder Korpuskeln als Individuation absolut elementarer Phänomene zunächst lediglich subjektiv vor, ohne sie sinnlich erfahren oder experimentell bewiesen zu haben. Korpuskeln und Atome waren primär rein subjektive Konstrukte, denen jene Apodiktizität und objektive Realität zugesprochen wurden. Die Einmischung des Faktums des Subjekts in die Domäne des Objekts bzw. der Naturgegenstände, was die neuzeitlichen philosophischen Spekulationen von Individuationen charakteristisch prägte, fand deren treffenden Ausdruck im Rahmen der verschiedenen Raumvorstellungen in der Philosophie – von Descartes bis Kant. Denn die Räumlichkeit bzw. die räumliche Ausdehnung und die Zeitlichkeit bzw. die zeitliche Existenz sind die zwei wichtigsten Grundlagen der Individuation materieller und mentaler Phänomene (in der ästhetischen Domäne des Subjekts). In der kartesischen Methode der 250 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporie der phänomenalen Individuation
Negation wurden alle mentalen Individuationen – die Sinnesqualitäten und die Verstandesattribute – aus einem objektiven Körper abgesondert. Was von dem Objekt übrig bleibt – als das rein gegenständliche Faktum – ist allein die materielle Ausdehnung, d. h. die res extensa, die sich nicht negieren lässt. Wir haben bereits vorher erörtert, wie sich die kartesische Anerkennung der Objektivität des Raumes in einen historischen Prozess der Apriorisierung, der in der kantischen Transzendentalphilosophie gipfelte, auflöste. Die residuale und irreduzible Existenz des Raumes wird in der kantischen Methode der epistemologischen Negation – im Kontrast zu der kartesischen Methode – nicht dem Gegenstand, sondern der subjektiven Anschauung attribuiert. Auch wenn der Raum (oder die räumliche Ausdehnung) im kantischen System ein nicht zu negierendes Faktum der Erscheinung ist, bleibt dieser ontologische Status des Raumes seiner Apriorität unterworfen; d. h. er bleibt nicht im Modus seines – vom Subjekt unabhängigen – realen Vorhandenseins bestehen. In seiner propädeutischen Lehre der Transzendentalen Ästhetik geht Kant streng genommen kaum von einer klaren Vorstellung von der rein gegenständlichen Individuation aus. Die phänomenale Individuation ist im kantischen System entweder eine Erscheinung oder ein Ding an sich. Das epistemologische Korrelat zur Erscheinung ist die empirische Anschauung. Die Gegenstände werden in sinnlichen Anschauungen nur gegeben. Aber es ist nicht das reine Objekt – als Naturgegenstand – sondern ein Ding an sich, das das Gemüt affiziert und dadurch im Subjekt jene sinnliche Empfindung erzeugt. Der in der empirischen Anschauung gegebene Gegenstand ist aber eine Erscheinung und kein Ding an sich, das den rein apriorischen Formen der Sinnlichkeit und der Anschauung nicht unterworfen ist. Was aber ist eine Erscheinung? Sie ist immer ein Gegenstand für das sinnlich wahrnehmende Subjekt. Indem Kant die räumliche und zeitliche Ausgedehntheit der Erscheinung und der Anschauung vollkommen apriorisiert bzw. auf reine Vorstellungen a priori reduziert, spricht er sowohl der sinnlichen Anschauung als auch der gegenständlichen Erscheinung Objektivität bzw. objektive Existenzweise ab. Die kantische Vorstellung von der gegenständlichen Erscheinung scheint der scholastischen und der frühneuzeitlich-kartesischen Vorstellung vom rein mentalen Existenzmodus der Gegenstände zu ähneln. In seinem Transzendentalphilosophiesystem – vor allem in der Kritik der reinen Vernunft – entwickelte Kant ein angemessenes Kon251 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporien der phänomenalen Individuation
zept von Substanz. 10 Allerdings erschwert die Idealität der Raumvorstellung das Verständnis der Funktion des Substanzkonzepts: »The ideality of space profoundly affects the role of substance in the system. The substances that are employed (hypothetically) in the ideality arguments end up nonspatial as a result of the arguments. Now the question arises: If there are any substances, what is their relation to space and extension? Kant explores part of this problem in the Second Antinomy, where he rejects the view that extended objects are composed of simple substances, or that simple substances can verifiably occur in sense experience.« 11
Bei näherer Betrachtung ist es die fast paradigmatisch festgestellte Idealität bzw. die Apriorität des Raumes (und der Zeit), die Kant stets davon abhält, den reinen Gegenstand zwischen einer vom Subjekt abhängigen Erscheinung und einem Ding an sich, das dem Subjekt unbekannt ist, ontologisch zu bestimmen. D. h. der Gegenstand befindet sich im kantischen System in einem ganz und gar zwiespältigen Verhältnis gegenüber der Erscheinung, die immer für das Subjekt ist (oder vom Subjekt in apriorischen Formen des Raumes und der Zeit angeschaut wird) oder als Ding an sich dem Subjekt völlig unbekannt ist. Denn der Raum ist die absolut elementare Basis der gegenständlichen Individuation. Wenn Raum und Zeit reine apriorische Formen der Sinnlichkeit sind und als solche nur eine Idealität und keine empirische Realität beanspruchen, kann die notwendige räumliche Individuation der Gegenstände kaum losgelöst von der Apriorität existieren und eine vom Subjekt unabhängige aber vollkommen reale Autonomie der Existenz erlangen. Es entsteht der Eindruck, dass im kantischen transzendental-philosophischen System sowohl die Erscheinung als auch das Ding an sich gegenüber der Realität der Gegenstände (wie sie im Rahmen der Mechanik und anderen Naturwissenschaften behandelt werden) als Konstrukte des transzendentalen Subjekts bestehen bleiben: »The problem about the relation of substance to space (as expressed in traditional substance philosophy terms) is closely related to the problem (in Kantian terms) of the relation of things in themselves to appearances. So I will begin by translating the Kantian problem into more traditional form. Kant states clearly that appearances are relational. Appearances, of course, Barber (Hrsg.), a. a. O., S. 246. Radner, Michael: Substance and Phenomenal Substance, in: Individuation and Identity in Early Modern Philosophy, Barber, Kenneth F. & Gracia J. E. (Hrsg.), New York 1994, S. 249.
10 11
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Die Aporie der phänomenalen Individuation
were originally characterized in terms of intuition (B34). ›Everything in our knowledge which belongs to intuition … contains nothing but mere relations; namely of locations in an intuition (extension), of change of location (motion), and of laws according to which this change is determined (moving forces)‹ (B66–67). From this starting point, Kant advances an argument that he says confirms ›the ideality of both outer and inner senses, and therefore of all objects of the senses, as mere appearances‹ (B66). ›What it is that is present in this or that location, or what it is that is operative in the things themselves apart from change in location, is not given through intuition. Now a thing itself cannot be known through mere relations; and we may therefore conclude that since outer sense gives us nothing but mere relations, this sense can contain in its representation only the relation of an object to the subject, and not the inner properties of the object in itself‹ (B67).« 12
Die transzendentalphilosophische Zweiteilung des materiellen Dinges zwischen der Erscheinung und dem Ding an sich scheint bei Kant eine natürliche Folge seiner programmatischen Apriorisierung der Anschauungs- und Erscheinungsformen, nämlich von Raum und Zeit, zu sein. Zwar negiert Kant nicht explizit die Objektivität des Raumes und der Zeit, aber sein transzendentalphilosophisches System betont von vornherein den ontologischen Status der Raum- und Zeitvorstellung als rein apriorische Form, d. h. als vom Subjekt konstruierte Formen der Anschauung und Erscheinung. Dadurch wird die Individuation der Phänomene im strengen Rahmen des Transzendentalismus kontextualisiert. Der Gegenstand kann demnach nur in zweierlei Modi der Individuation existieren: Entweder ist er eine Erscheinung, deren Räumlichkeit und Zeitlichkeit – bzw. deren räumliche und zeitliche Existenzweise – von dem transzendentalen Subjekt bestimmt bzw. apriorisiert werden. Oder der Gegenstand ist ein Ding an sich, das weder im Raum noch in der Zeit existiert, und zu dem demnach das transzendentale Subjekt keinen Zugang hat. Zwischen diesen von der Perspektive des transzendentalen Subjekts äußerst polarisierten Formen der gegenständlichen Individuation konnte Kant kaum eine Realität der Gegenstände, die in einer vom Subjekt vollkommen autonomen Räumlichkeit und Zeitlichkeit existiert, feststellen. Denn Raum und Zeit sind nach Kant notwendige Vorstellungen a priori, die wir nicht aus unserer Erfahrung gewinnen, sondern die bereits in unserer Subjektivität vorhanden sind. Allem Anschein nach war Kant in einem überbetonten Kontext des Transzendentalismus 12
Ebd.
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Die Aporien der phänomenalen Individuation
befangen und konnte folglich keine naive Realität der Welt der Naturgegenstände, die weder bloße Erscheinungen noch ein Ding an sich sind, philosophisch legitimieren. In der kantischen Transzendentalphilosophie gipfelt der von Descartes in der frühneuzeitlichen Philosophie eingeführte Subjektivismus. Es ist daher nicht verwunderlich, wie und warum Kant auf ein unlösbares metaphysisches Problem wie das Ding an sich stößt. Denn als Kant die absolut elementaren Wesenszüge jener phänomenalen Individuation, nämlich Raum und Zeit, ganz programmatisch und bereits in der Propädeutik seiner Philosophie – in der Transzendentalen Ästhetik – apriorisierte, war er kaum imstande, neben der strengen Apriorität einen zweiten und realen Existenzmodus für Raum und Zeit – als rein objektive Wesenszüge der Naturdinge – anzuerkennen. 13 Die räumliche und zeitliche Existenz der ErscheiDies löste bei den Kantianern im 19. Jahrhundert eine lange Debatte aus. Trendelenburg stellte im Rahmen der kantischen Philosophie eine doppelte Existenzweise des Raumes als idealen und realen Raum vor. Kuno Fischer widersprach dieser Auslegung radikal, indem er feststellte, dass der Raum nicht real sei, sondern nur eine bloße Idealität habe. Vgl. Radner, a. a. O., S. 248. »Space as mental or ideal gets around the problem of finding things (relata) on which to found spatial relations. For instance, one might conjecture that points are the requisite things. Then space would be constituted of points, and spatial relations would be parasitic on the points. […] Of course, the arguments about points are just one stage of a complete demonstration that space cannot be real. But they suggest that the status of relations in the substance philosophy plays a crucial role in Kant’s philosophy. It is important to note that the arguments do not just prove that space is ideal, but prove that it is ideal because it is not real. That result settles a notorious interpretive question raised in the nineteenth century. Adolf Trendelenburg defended the view that Kant’s space could be ideal and also real. Kuno Fischer opposed him: space could only be real or ideal – an exclusive disjunction. (A survey of the controversy is found in Hans Vaihinger: Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1892, S. 290–326) Since the arguments for ideality proceed by exclusion of all ›real‹ options, Fischer is right and Trendelenburg is proved wrong.« Obwohl Kant im Rahmen seiner propädeutischen Lehre der transzendentalen Ästhetik betont, dass Raum und Zeit notwendige Vorstellungen a priori sind, die nicht aus den sinnlichen Erfahrungen abgeleitet werden, scheint die Apriorität des Raumes und der Zeit mit ihrer (in der transzendentalen Ästhetik ebenso festgestellten) Apodiktizität, dargestellt vor allem in den axiomatischen geometrischen und mechanischen Erkenntnissen, selbst in Widerspruch zu geraten. Denn die Apodiktizität bedeutet unbedingt eine Bestätigung der apriorisch-axiomatischen Erkenntnisse der räumlichen und zeitlichen Konstrukte und Relationen (in den Wissenschaften der Geometrie, der Mechanik, der Optik usw.) über die Grenzen der transzendental-subjektiven Vorstellbarkeit hinaus in der phänomenalen Welt selbst. Dies besagt, dass die Apodiktizität der apriorischen Raum- und Zeitvorstellungen eine rein phänomenale
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nungen kann nach Kant bzw. gemäß seinem transzendentalphilosophischen System allein von einem transzendentalen Subjekt bestimmt werden. Dabei war Kant offensichtlich nicht bereit, den Erscheinungen eine vom Subjekt vollkommen unabhängige bzw. nicht zu apriorisierende und rein gegenständliche Räumlichkeit und Zeitlichkeit zu attribuieren. Gerade in seiner Vorstellung von den Erscheinungen scheint Kant die Beteiligung des sinnlich wahrnehmenden Subjekts zu überbetonen und demgegenüber die notwendige Beteiligung des reinen (d. h. vom Subjekt vollkommen unabhängigen) Gegenstands – oder des puren Faktums des Objekts – an der Anschauung zu ignorieren oder sogar zu unterdrücken. Demnach ist es (nach Kant) nicht lediglich ein Ding, das in seiner eigenen und vom Subjekt autonomen Räumlichkeit und Zeitlichkeit existiert, sondern ein Ding an sich (das den Rahmen des transzendentalen Subjekts sprengt oder außerhalb seiner Domäne existent ist), das das subjektive Gemüt affiziert. Das Ding an sich ist hier anscheinend eine absolut residuale Bestimmung in einer Welt, die – ansonsten – vollständig der Domäne eines transzendentalen Subjekts subsumiert ist. Wie aber kann ein Ding an sich außerhalb des Raumes und der Zeit existieren und dabei das transzendentale Subjekt, das in reinen apriorischen Formen des Raumes und der Zeit anschaut, affizieren? Außer einem unfassbaren bzw. weder sinnlich wahrnehmbaren noch durch den Verstand erkennbaren Ding an sich schreibt Kant der Welt, die eine Welt aller Naturobjekte ist, tendenziell lediglich eine transzendentale Wirklichkeit zu. – d. h. vom transzendentalen Subjekt autonome – Existenz des Raumes und der Zeit voraussetzt, die mit der apriorischen Raum- und Zeitvorstellung identisch sein soll. Dass »die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist«, ist nach Kant ein treffendes Beispiel für eine geometrische Erkenntnis a priori. Aber die Wahrhaftigkeit und Legitimität dieser Erkenntnis liegt nicht in ihrer Apriorität, sondern in ihrer Apodiktizität, die notwendigerweise die rein phänomenale Manifestation dieses geometrischen Axioms voraussetzt. Ebenso bedingt die apriorisch vorgestellte Zeitlichkeit der Trägheitsbewegung – nämlich die gleichförmige und lineare Trägheitsbewegung eines Körpers – die wirkliche bzw. phänomenale Zeitstruktur dieses Phänomens im Rahmen der Klassischen Mechanik, worauf die Apodiktizität dieses mechanischen Axioms basiert. Die strenge Korrelation zwischen Apriorität und Apodiktizität im kantischen System der transzendentalen Ästhetik verweist daher auf eine notwendige Existenz des Raumes und der Zeit auf der phänomenalen Wirklichkeitsebene, mit der die Apriorität dieser Anschauungsformen korrelieren sollte. Demnach scheint die Auslegung Trendelenburgs, dass sich im Kontext der kantischen Transzendentalen Ästhetik zugleich die Idealität und die Realität des Raumes annehmen lassen, plausibler als die Auslegung Kuno Fischers.
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Die Aporien der phänomenalen Individuation
Die Transzendentale Philosophie Kants ist zweifelsohne eine Philosophie aus der Perspektive des transzendentalen Subjekts, das die Welt zwar sinnlich erfährt aber apriorisch erkennt. Wenn sich das philosophische Denken grundsätzlich auf das Subjekt, das die Welt sinnlich wahrnimmt und durch den Verstand erkennt, und auf die Naturgegenstände, die vom Subjekt wahrgenommen und erkannt werden, bezieht, sollten beide Domänen unserer Wirklichkeit, die sich ontologisch als voneinander vollkommen unterschiedlich erweisen, gleichermaßen berücksichtigt werden. Aber wir haben bereits erörtert, dass in der Geschichte der Philosophie die Domäne des Geistes und die der Natur kaum gleichermaßen berücksichtigt und legitimiert worden sind. Das philosophische Interesse oder die Priorität des philosophischen Gedankenguts schwankt immer wieder zwischen diesen elementaren Domänen, deren angemessene Synthetisierung – im Rahmen der Epistemologie und der Ontologie – die allerwichtigste Herausforderung der Philosophie ist. Obwohl Kant eine Philosophie der Synthese entwickelte, in der die Naturgegenstände in der sinnlichen Anschauung gegeben und durch den Verstand – in apriorischen Kategorien – erkannt werden, ist seinem transzendentalen Philosophiesystem unmittelbar zu entnehmen, dass das synthetisierende Subjekt – bzw. das Subjekt, das die Gegenstände in apriorischen Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes wahrnimmt und erkennt – über die Welt und die Natur waltet, so dass die kantische Erkenntnistheorie von vornherein von den (von Kant selbst festgestellten) Rahmenbedingungen eines transzendentalen Subjekts bestimmt war. Die Apriorität und die Apodiktizität der kategorischen Imperative scheinen hierauf wenig problematisch zu sein; die strenge Apriorität der reinen Anschauungsformen – Raum und Zeit – bildet dagegen die wichtigste Grundlage des kantischen Transzendentalismus, die die Beteiligung der Naturgegenstände an der (subjektiven) Sinnlichkeit und an dem urteilenden und erkennenden Verstand auf eine bloße Gegebenheit (wiederum) in der subjektiven Anschauung reduziert. In seiner Kritik an der kantischen Philosophie betont Schopenhauer, dass Kant die Beteiligung der Naturgegenstände an dem Erkenntnisprozess, die in jeder Erkenntnistheorie für ein äußerst wichtiges Faktum zu halten ist, strategisch auf eine bloße Gegebenheit reduziert: »Nach der in der transzendentalen Ästhetik gegebenen, ausführlichen Erörterung der allgemeinen Formen aller Anschauung muß man erwarten,
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doch einige Aufklärung zu erhalten über den Inhalt derselben, über die Art wie die empirische Anschauung in unser Bewußtseyn kommt, wie die Erkenntnis dieser, für uns so realen und so wichtigen Welt in uns entsteht. Allein darüber enthält die ganze Lehre Kants eigentlich nichts weiter, als den oft wiederholten, nichtssagenden Ausdruck: ›Das Empirische der Anschauung wird von Außen gegeben.‹ – Dieserhalb gelangt Kant denn auch hier von den reinen Formen der Anschauung, durch einen Sprung, zum Denken, zur transzendentalen Logik. […] ›Unsere Erkenntniß‹, sagt er, ›hat zwei Quellen, nämlich Rezeptivität der Eindrücke und Spontaneität der Begriffe: die erste ist die Fähigkeit Vorstellungen zu empfangen, die zweite die, einen Gegenstand durch diese Vorstellungen zu erkennen: durch die erste wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird er gedacht.‹ – Das ist falsch: denn dann wäre der Eindruck, für den allein wir bloße Rezeptivität haben, der also von Außen kommt und allein eigentlich ›gegeben‹ ist, schon eine Vorstellung, ja sogar schon ein Gegenstad. […] Ich fordere Jeden, der mit mir die Verehrung gegen Kant theilt, auf, diese Widersprüche zu vereinigen, und zu zeigen, daß Kant bei seiner Lehre vom Objekt der Erfahrung und der Art, wie es durch die Thätigkeit des Verstandes und seiner zwölf Funktionen bestimmt wird, etwas ganz Deutliches und Bestimmtes gedacht habe. Ich bin überzeugt, daß der nachgewiesene Widerspruch, der sich durch die ganze transscendentale Logik zieht, der eigentliche Grund der großen Dunkelheit des Vertrags in derselben ist. Kant war sich nämlich des Widerspruchs dunkel bewußt, kämpfte innerlich damit, wollte oder konnte ihn dennoch nicht zum deutlichen Bewußtseyn bringen, verschleierte ihn daher für sich und für Andere, und umgieng ihn auf allerlei Schleichwegen. Davon ist es vielleicht auch abzuleiten, daß er aus dem Erkenntnißvermögen eine so seltsame, komplicirte Maschine machte, mit so vielen Rädern, als da sind die zwölf Kategorien, die transscendentale Synthesis der Einbildungskraft, des innern Sinnes, der transscendentalen Einheit der Apperception, ferner der Schematismus der reinen Verstandesbegriffe u. s. w. Und ungeachtet dieses großen Apparats wird zur Erklärung der Anschauung der Außenwelt, die denn doch wohl die Hauptsache in unserer Erkenntniß ist, auch nicht ein Mal ein Versuch gemacht; sondern diese sich aufdringende Anforderung wird recht ärmlich immer durch den nämlichen, nichtssagenden, bildlichen Ausdruck abgelehnt: ›Die empirische Anschauung wird uns gegeben.‹« 14
Im Vergleich zu der Dominanz des Apriorismus bei den Rationalisten und im Vergleich zu dem – dieser Dominanz entgegengesetzten – Plädoyer für den Primat der sinnlichen Erfahrung bei den Empiristen vermochte Kant bekanntlich die beiden tradierten Schulen oder KonSchopenhauer, Arthur: Kritik der Kantischen Philosophie. In: Die Welt als Wille und Vorstellung, Anaconda Verlag, Köln 2009, S. 385, 387–388.
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Die Aporien der phänomenalen Individuation
texte in der Frühneuzeit durch das transzendentalphilosophische System, das methodisch auf jener erkenntnistheoretischen Synthese zwischen dem apriorischen Verstand und dem aposteriorischen Erfahrungsgegenstand basiert, zu überbrücken. Das kantische System der Transzendentalphilosophie baut zunächst auf der verbindlichen Erkenntnis und auf ihrer Apriorität und Apodiktizität auf, was im Grunde die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem erkennenden Subjekt und dem zu erkennenden Objekt sowie die philosophische Legitimität dieses Verhältnisses aufweist. Wenn zwei (oben erwähnte) durchaus verschiedene Domänen der Wirklichkeit durch ein philosophisches System miteinander synthetisch verbunden werden, handelt es sich dabei kaum um ein einseitiges Verhältnis einer Domäne zu einer anderen – wie das Verhältnis des transzendentalen Subjekts zum Gegenstand – sondern unbedingt um eine Korrelation. Demnach sollte die programmatische Verbindung zwischen Subjekt und Gegenstand – bei jedem synthetischen Urteil a priori – eine epistemologische Korrelativierung sein. Durch seine Kritik verweist Schopenhauer insbesondere auf die Ausdehnungslosigkeit dieser epistemologischen Korrelativierung im kantischen System. Für Kant ist der zu erkennende Gegenstand in der sinnlichen Anschauung lediglich gegeben; das Faktum des Gegenstands und vor allem seiner Individuation wird dabei kaum weiter erörtert. Dagegen wird das transzendentale Subjekt bzw. sein Erkenntnisapparat bis in die kleinsten Bestandteile seziert, um alle seine Funktionen möglichst detailliert festzustellen. Die Kritik der reinen Vernunft erweist sich prinzipiell als eine Unternehmung, das Verhältnis eines transzendentalen Subjekts zu der Welt, die es erfährt und erkennt, in allen Einzelheiten zu erörtern. Bei jener Unternehmung zur Korrelativierung zwischen den Domänen des erkennenden Subjekts und des zu erkennenden Gegenstands, woraus sich jene angemessen verbindliche Erkenntnis ergeben sollte, zeigt sich jedoch ein wesentliches Problem: Das subjektive Erkennen bildet einen epistemologischen Prozess, wohingegen die gegenständliche Gegebenheit eher auf ein ontologisches Faktum bzw. auf die gegenständliche Existenzweise und ihre Finalität verweist. Demnach erweist sich die philosophisch unternommene Korrelativierung zwischen der Domäne des Subjekts und der des Gegenstands letztendlich als eine Korrelativierung zwischen der Epistemologie und der Ontologie im Rahmen eines Philosophiesystems. Die Transzendentalphilosophie Kants versucht zwar eine Korrelati258 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporie der phänomenalen Individuation
vierung zwischen dem subjektiv-epistemologischen Prozess und der objektiv-ontologischen Gegebenheit des Gegenstands herzustellen, aber die deutliche Bevorzugung der Epistemologie – gegenüber dem Faktum des in der Anschauung gegebenen Gegenstands – hat keine angemessene ontologische Auslegung der gegenständlichen Individuation, sondern eine residuale und wiederum vom transzendentalen Subjekt bestimmte ontologische Entität, nämlich das unbekannte Ding an sich, zur Folge. Die Individuation des gegebenen Gegenstands scheint folglich fast vollständig einem transzendentalen Subjekt und seiner epistemologischen Herrschaft untergeordnet zu werden. Der gegebene Gegenstand ist nach Kant entweder eine Erscheinung, die im transzendentalphilosophischen System eine Zusammensetzung aller rein subjektiv-epistemologischen und als dergestalt apriorisch attribuierten Sinnesqualitäten und der ebenso apriorisch (in der Anschauung) angewandten Räumlichkeit und Zeitlichkeit aufweist, oder eine bloß residuale Entität, nämlich das Ding an sich, das uns unbekannt ist bzw. sich unserem Erkenntnisvermögen entzieht. Aus der Transzendentalphilosophie Kants ergeben sich Formen der gegenständlichen Individuation, nämlich die Erscheinung und das Ding an sich, die allesamt einem herrschenden transzendentalen Subjekt und seinem kompromisslosen Epistemologismus unterworfen zu sein scheinen: »As we have seen, Kant’s system yields not just one but two principles of individuation. The role of substance explains why there are two such principles. For the substance framework leads to the ideality of space and thence to a sharp distinction between appearance and thing in itself. Many critics of Kant believed that Kant’s system would be improved at little cost by dropping the notion of ›thing in itself‹. That move would leave only the spatiotemporal framework as the mechanism for individuation. Yet Kant could only drop things in themselves by doing violence to the ›substance‹ concept, certainly a major alteration to the system. To discard the ›substance‹ concept would be to abandon the goal of reconciling the old metaphysics with modern mathematical science.« 15
Der Substanzbegriff ist im kantischen System im strengen Rahmen des Transzendentalismus vorgestellt. Wir stellen hier einen historischen Übergang fest – von einer ursprünglich-kartesischen Objektivität einer res extensa (auch als eine residuale Entität) hin zu einer vollkommen transzendentalen Apriorität des Raumes im kantischen 15
Radner, a. a. O., S. 263.
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System. Wie der oben zitierten Betrachtung zu entnehmen ist, führt die Idealität – oder die bloße Apriorität – des Raumes zu einer klaren Differenzierung zwischen Erscheinung und Ding an sich. Denn der Raum ist das wichtigste Faktum der phänomenalen Individuation; wird dem Raum im Kontext der Transzendentalphilosophie nur eine Apriorität zugesprochen, ergibt sich folglich jene Zweiteilung zwischen der transzendental-apriorischen Räumlichkeit der Erscheinung und dem Ding an sich, das der Apriorität des transzendentalen Subjekts nicht unterworfen ist. Es scheint, dass es Kant im Rahmen seines transzendentalphilosophischen Systems, das er aufbaut und in dem er befangen bleibt, nicht gelingt, einen dritten realen Modus der räumlich und zeitlich ausgedehnten Individuation der Naturgegenstände, die sich weder auf eine bloße Erscheinung noch auf ein Ding an sich reduzieren lassen, zu entwickeln. Denn die Überbetonung der apriorischen Idealität des Raumes und der Zeit im Kontext des transzendentalphilosophischen Systems hindert Kant daran, eine vom transzendentalen Subjekt vollkommen abgetrennte und zugleich durchaus autonome Räumlichkeit und Zeitlichkeit der Naturgegenstände – als die wesentlichen Existenzgrundlagen ihrer Individuation – zu demarkieren. Die kantische Korrelativierung zwischen Epistemologie und Ontologie – zwischen der Erkennbarkeit und der Existenz der Dinge – stellt demnach ein Ungleichgewicht dar, im Rahmen dessen das transzendentale Subjekt herrscht und demgegenüber die rein gegenständliche Existenz eine dem subjektiven Transzendentalismus lediglich untergeordnete Entität ist. Im kantischen System der Transzendentalphilosophie handelt es sich hauptsächlich um eine allem Anschein nach einseitige Relation eines transzendentalen Subjekts zu den in der Anschauung bloß gegebenen Gegenständen. D. h. die Korrelativierung zwischen Epistemologie und Ontologie in Kants Philosophie der Synthese – der verbindlichen Erkenntnis – wird vorrangig aus der Perspektive des transzendentalen Subjekts betrachtet. Es lässt sich leicht nachvollziehen, dass das Ding an sich und seine Problematik letztendlich ein notwendiges Ergebnis einer derart unausgeglichenen Korrelativierung zwischen der Domäne des Subjekts und der des Gegenstands ist. Mit anderen Worten: Die problematische Individuation des Ding an sich – als eine residuale ontologische Bestimmung, die weder räumlich noch zeitlich ist, und die sich folglich unserem Erkenntnisvermögen entzieht – ergibt sich als eine notwendige Folge aus einer einseitigen bzw. aus einer allein von einem transzendenta260 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporie der phänomenalen Individuation
len Subjekt ausgehenden und darauf verharrenden Korrelativierung zwischen den epistemologischen und den ontologischen Bestimmungen, also zwischen der Erkennbarkeit und der Existenz der Dinge. Wenn jedoch die kantische Korrelativierung zwischen dem dinglichen Dasein und seiner Erkennbarkeit umgedreht würde bzw. wenn nicht von der Perspektive des transzendentalen Subjekts, sondern von der Perspektive der gegebenen Gegenstände, die real sind bzw. in Raum und Zeit existieren, betrachtet würde, würde das problematische Ding an sich – wie es in der kantischen Transzendentalphilosophie dargestellt ist – nicht entstehen. Allerdings scheint seitens der Philosophie eine derartige Umdrehung der Korrelativierung zwischen Epistemologie und Ontologie problematisch zu sein. Denn der Gegenstand ist immer ein erkannter bzw. sinnlich wahrgenommener und begrifflich festgelegter Gegenstand; die Bestimmung der Gegebenheit des Gegenstands ist demnach notwendigerweise eine epistemologische Bestimmung, die auf die Grenzen der Erkennbarkeit stößt. Das frühneuzeitliche Aufkommen der Naturwissenschaften schien aber eher eine von der Gegebenheit oder von der objektiven Existenzweise des Gegenstands ausgehende Perspektive zu schaffen. Die frühneuzeitliche Mechanische Philosophie basierte auf der Grundannahme der realen Existenz des Raumes und der Zeit. Die Beteiligung des Objekts an dem Erkenntnisprozess wurde dabei betont; es ging weniger um die Sinnesqualitäten der wahrgenommenen Gegenstände (die einen wichtigen Untersuchungsgegenstand der frühneuzeitlichen Epistemologien bildeten) als vielmehr um die Individuation der Phänomene in der vom Subjekt autonomen räumlichen Ausdehnung und der zeitlichen Dauer, am deutlichsten dargestellt in der Vorstellung von Atomen und Korpuskeln als elementare Teilchen der Körper (die – nach dem Atomismus und den Korpuskularphilosophien der Frühneuzeit – die Sinnesqualitäten im wahrnehmenden Subjekt verursachen). Die programmatische Umdrehung der Korrelativierung zwischen Epistemologie und Ontologie, die bedeutete, dass allein die objektive Bestimmung der Phänomene über ihre Erkennbarkeit herrschte (und sie zu bestimmen schien), gipfelte bekanntlich in der newtonschen klassisch-mechanischen Vorstellung vom absoluten Raum, von der absoluten Zeit und von der absoluten Bewegung der Körper, sowie in Newtons Betrachtungsweise der Farben als objektive Bestandteile des farblosen Lichtes usw. Die perspektivische Einseitigkeit bei der kantischen Korrelativie261 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
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rung zwischen der Erkennbarkeit und der Existenz der phänomenalen Individuation lässt sich am deutlichsten aus dem Problem des epistemologischen Affizierens im kantischen System folgern. Nach Kant ist es weder die Erscheinung noch der erscheinende Gegenstand, sondern grundsätzlich das Ding an sich, also das unbekannte X, das das Subjekt affiziert und es folglich zur sinnlichen Wahrnehmung veranlasst. Indem das Ding an sich dem sinnlich wahrnehmenden und begrifflich erkennenden Subjekt unbekannt ist, erstreckt sich sowohl die logische als auch die vorlogische Domäne des Subjekts im Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozess nur bis zur Erscheinung; das Subjekt hat streng genommen keinen direkten Zugang zu dem erscheinenden bzw. nur in der Anschauung gegebenen Gegenstand. Kant verweist durch seine Vorstellung von der Gegebenheit des Gegenstands in der Anschauung zwar auf das Objekt, das sich unmittelbar an dem Erkenntnisprozess beteiligt, aber als das wahre Faktum des Objekts, das allein das Gemüt affiziert, stellte sich Kant nur ein unbekanntes Ding an sich vor. D. h. das Ding an sich ist die Grenze des Faktums des Objekts im kantischen System der Epistemologie; die Erscheinung, die im Gegensatz zum Ding an sich in apriorischen Formen des Raumes und der Zeit existiert, gehört dagegen vollständig zu der Domäne des Subjekts. Denn jene Unternehmung, die Erscheinung objektiv zu legitimieren bzw. vom Subjekt zu befreien und zu autonomisieren, setzt unbedingt voraus, dass von der Existenzweise der Erscheinungen in rein objektiver Räumlichkeit und Zeitlichkeit ausgegangen wird. Dies würde jedoch der kantischen Vorstellung von der Apriorität der räumlichen und zeitlichen Existenz der Erscheinungen von vornherein widersprechen. Warum wird das subjektive Gemüt nicht von einem in der Anschauung gegebenen und in objektiven (d. h. vom Subjekt unabhängigen) Modi des Raumes und der Zeit existierenden Gegenstand affiziert, sondern von einem Ding an sich, das weder im Raum noch in der Zeit existiert, und das als solches uns, dem erkennenden Subjekt, unbekannt ist? Hierauf tritt die Irreversibilität des kantischen Transzendentalismus bzw. der transzendental-philosophischen Epistemologie deutlich in Erscheinung. Die Domäne des transzendentalen Subjekts kann in der kantischen Epistemologie nicht über die Grenze der »Erscheinung« hinausgehen. Kant scheint stillschweigend das bloße Faktum des Objekts bzw. des Naturgegenstands zu übersehen, um zu dem unbekannten Ding an sich, das allein (laut Kant) das subjektive Gemüt affizieren kann, zu gelangen. Durch die Bestimmung, dass das 262 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporie der phänomenalen Individuation
Ding an sich im Erkenntnisprozess das Subjekt affiziert, zieht Kant eine klare und unüberschreitbare Grenze zwischen einer uns bekannten transzendental-subjektiven Wirklichkeit und einem uns unbekannten – d. h. uns weder durch den Verstand noch durch die Sinnlichkeit zugänglichen – Ding an sich. Die Wirklichkeit beschränkt Kant in dieser Weise epistemologisch allein auf eine transzendentalsubjektive Wirklichkeit, wogegen das notwendige Faktum des Objekts, das sich an dem Erkenntnisprozess beteiligt, auf ein unbekanntes Ding an sich reduziert wird. Die Unbekanntheit und Unzugänglichkeit des Ding an sich impliziert zugleich, dass die uns bekannte Wirklichkeit lediglich eine transzendental-subjektive Wirklichkeit ist; in dieser philosophischen Grundvorstellung Kants schien sich der von Descartes initiierte Rationalismus zuzuspitzen und zu einem gewissen epistemologischen Extremismus zu entfalten. In der Kritik der reinen Vernunft betrachtet Kant das Ding an sich prinzipiell als eine residuale ontologische Entität, die von dem transzendentalen Erkenntnisprozess übrig bleibt und demnach nicht zu unserer transzendentalen Wirklichkeit gehört. Wenn Kant dem Ding an sich weder Räumlichkeit noch Zeitlichkeit zuschreibt, bezieht er sich nur auf die transzendentale Idealität von Raum und Zeit bzw. darauf, dass das Ding an sich den Rahmen der apriorischen Formhaftigkeit des Raumes und der Zeit sprengt. Allem Anschein nach ist das Ding an sich im kantischen System ein notwendiges Residuum – ein Überbleibsel – in dem gesamten Konstrukt der erkennbaren transzendentalen Wirklichkeit und keine Grundlage einer Metaphysik, wie sie sich bei den Kantianern, insbesondere bei Schopenhauer, entwickelte. In gewisser Hinsicht lässt sich das Ding an sich als eine notwendige Folge des oben erörterten transzendental-philosophischen Extremismus Kants betrachten – eine Folge, die dazu prädestiniert war, ein ontologisches Rätsel zu bleiben. 16 Kurzum: Hierauf ist die Kritik von Gottlob Ernst Schulze zu erwähnen: »Nun vergleiche man aber nur die Resultate der Vernunftkritik mit den Prämissen in derselben, so wird man den zwischen denselben vorhandenen Widerspruch leicht ausfindig machen können. Nach der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, welche die Vernunftkritik geliefert hat, sollen nämlich die Kategorien Ursache und Wirklichkeit nur auf empirische Anschauungen, nur auf etwas, so in der Zeit wahrgenommen worden ist, angewendet werden dürfen, und außer dieser Anwendung sollen die Kategorien weder Sinn noch Bedeutung haben. Der Gegenstand außer unsern Vorstellungen, (das Ding an sich) der nach der Vernunftkritik durch Einfluß auf unsere Sinnlichkeit die Materialien der Anschauung geliefert haben soll, ist nun aber nicht selbst wieder eine Anschauung oder sinnliche Vorstellung, sondern er soll etwas von den-
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Kant schien sich das Ding an sich primär im Kontext seiner streng transzendentalen Epistemologie vorzustellen. Dass das Ding an sich eine fruchtbare Grundlage einer zukünftigen Metaphysik sein könnte, schien er jedoch nicht in Erwägung zu ziehen. Für Kant bildet das Ding an sich eine Grenze, genauer gesagt eine unüberwindbare Grenze eines transzendentalen Erkenntnisprozesses. Demnach wird die Unerkennbarkeit des Dinges an sich, das ebenso unerkennbar – auf irgendeine Weise – das Gemüt affiziert, betont. Dadurch wurde das Ding an sich zum Schlüsselbegriff des kantischen Transzendentalismus, das die noumenale von der phänomenalen Welt vollständig trennt. Einige Kantianer – darunter besonders Schopenhauer – versuchten aus der kantischen Vorstellung vom Ding an sich eine fruchtbare, metaphysische Grundlage zu entwickeln. Bekanntlich unternahm Schopenhauer den Versuch, die kantische Differenzierung zwischen Erscheinung und Ding an sich (obwohl Schopenhauer eine derartige Differenzierung als eine große Leistung Kants betrachtete) durch eine Willensmetaphysik zu überwinden: »Kants größter Verdienst ist nach Schopenhauer ›die Unterscheidung der Erscheinung vom Ding an sich‹, weil ›zwischen den Dingen und uns immer noch der Intellekt steht‹. […] Schopenhauer hat Kants Unterscheidung einer noumenalen und einer phänomenalen Welt inhaltlich übernommen, jedoch am Begriff der Noumena trotz ihrer Unerkennbarkeit bei Kant insofern Anstoß genommen, als dieser Begriff seit der Eleaten, die ihn prägten, soviel wie das Denken oder ein Gedankending bedeutet. Das Ding an sich ist nach Schopenhauer jedoch weder das Denken noch etwas dem Denken verwandtes, da er Denken und Vernunft zur Welt der Phänomene rechnet. Wenn die transzendentale Einheit der Apperzeption bzw. die Einheit des Selbstbewußtseins, Kants ›Ich denke‹, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können, an der Grenze zwischen dem Ding an sich und der Erscheinungswelt steht, dann zeigt sich nach Schopenhauer bereits daran, daß
selben realiter Verschiedenes und Unabhängiges sein; also darf auf ihn nach den eigenen Resultaten der Vernunftkritik weder der Begriff Ursache, noch auch der Begriff Wirklichkeit angewendet werden; und ist die transzendentale Deduktion der Kategorien, welche die Vernunftkritik geliefert hat, richtig, so ist auch einer der vorzüglichsten Grundsätze der Vernunftkritik, daß nämlich alle Erkenntnis mit der Wirksamkeit objektiver Gegenstände auf unser Gemüt anfange, unrichtig und falsch.« Vgl. Schulze, Gottlob Ernst: Aenesidemus oder über die Fundamente der von Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Verteidigung des Skeptizismus gegen die Anmaßungen der Vernunftkritik, Hrsg. von M. Frank, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1996, S. 184 [263 f.].
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dem Denken etwas Tieferes, ein letztlich nur als irrational verstehbares Prinzip zugrunde liegen muß, das nach seiner Lehre nur der Wille sein kann.« 17
Die Objektivierung des Willens ist nach Schopenhauer das Grundprinzip, das die von Kant festgestellte Kluft zwischen Ding an sich und Erscheinung überwinden soll. Wenn dieses Prinzip in der Erscheinung zutage tritt, offenbart die Erscheinung die (ansonsten) verborgene noumenale Wirklichkeit. Aus diesem metaphysischen Lösungsversuch Schopenhauers, die kantische Abgrenzung zwischen der noumenalen und der phänomenalen Welt zu überwinden, ergibt sich auch seine Lehre des principium individuationis, nämlich dass der eigene Leib und alle außerleiblichen Gegenstände der Welt die Objektivierung des Willens sind. In dieser Weise legitimiert Schopenhauer den Naturgegenstand (und befreit ihn in gewisser Hinsicht von der bloßen Zweiteilung im kantischen System zwischen Erscheinung und Ding an sich) im Zuge einer vom Subjekt vollkommen autonomen phänomenalen Individuation: »Das Ding an sich muß sich nach Schopenhauer, was von ihm stärker als von Kant herausgestellt wird, überall in der Erscheinungswelt selbst offenbaren. Die Erscheinungswelt muß das Ding an sich in seinen verschiedenen Objektivierungsstufen wenigstens widerspiegeln, wenn auch der Mensch es selbst im Willen nicht völlig adäquat zu erkennen vermag, auch nicht im Sinn intellektueller Anschauung. Der Wille ist, genau genommen, selbst bereits eine gefühlte Erscheinung, die zumindest eine zeitliche Dimension aufweist. Dennoch ist es nach Schopenhauer unzweifelhaft, daß der Mensch in der Erkenntnis des Willens ans Wesen der Welt heranreicht. Deshalb spiegelt sich auch der intelligible Charakter in den Handlungen des empirischen, deshalb zeigt sich die Willensobjektivation der Schwere im Fall eines Steines, die Willensobjektivation der Lebenskraft in den Phänomenen des Lebens. Dieser den Phänomenen immanente Wille muß nach Schopenhauer auch dem Intellekt zugrundeliegen, der sich mit ihm lediglich ein Licht angezündet hat, um seine Objektivationen gleichsam betrachten zu können, und der deshalb nur sein Diener ist.« 18
Obwohl Kants Transzendentalismus von vornherein in einem übergeordneten philosophischen Kontext steht, dem die in der Anschauung gegebenen Naturgegenstände epistemologisch unterworfen sind, können wir kaum annehmen, dass das System der TranszendentalMeyer, Walter: Das Kantbild Schopenhauers, Frankfurt am Main 1995, S. 15 und S. 75. 18 Ebd., S. 77. 17
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Die Aporien der phänomenalen Individuation
philosophie Kants die Individuation der phänomenalen – d. h. vom Subjekt vollkommen autonomen – Welt nicht anerkennt. Kant scheint ein zwiespältiges Verhältnis zur Philosophie und zur Wissenschaft, insbesondere zur newtonschen Mechanik, zu haben. Die Transzendentale Ästhetik dient der Kritik der reinen Vernunft als Propädeutik, in der Kant bereits versucht, auf einer vorlogischen und rein ästhetischen Ebene des Subjekts das Prinzip der Apriorität räumlicher und raum-zeitlicher Erkenntnisse festzustellen. Die Grundfrage der transzendentalen Philosophie, wie sind synthetische Urteile a priori möglich, wurde in der Transzendentalen Ästhetik u. a. auch im Rahmen der klassischen Wissenschaften, wie der euklidischen Geometrie und der newtonschen Mechanik, gestellt. Das Synthetische an den geometrischen und den mechanischen Erkenntnisprozessen impliziert nachdrücklich eine Individuation dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse im Reich der phänomenalen Wirklichkeit – im Modus der Manifestation oder der Materialisierung der apriorisch vorgestellten (axiomatischen) Erkenntnisse. Obwohl Kant prinzipiell von jener Anwendung apriorischer Gesetze und Erkenntnisse – wie beispielsweise die Anwendung des Kausalprinzips, das allen Naturwissenschaften zugrunde liegt – in der empirischen Anschauung ausgeht, kann das Endergebnis dieser epistemologischen Anwendung notwendigerweise auf einer phänomenalen Ebene realisiert werden. Denn die Geometrie und die geometrisch-mathematischen Wissenschaften wie die Mechanik und die Optik sollten im Rahmen der kantischen Transzendentalphilosophie ihre wahren Manifestationen nicht in der Domäne des transzendentalen Subjekts, sondern in der Domäne der Natur finden. Zwei elementare Fakten der Lehre der synthetischen Urteile a priori, wie sie in der Transzendentalen Ästhetik dargelegt werden, verdeutlichen die kantische Anerkennung und philosophische Legitimierung der phänomenalen Welt – der Welt der Naturgegenstände –, die sich weder auf bloße Erscheinungen noch auf ein unbekanntes Ding an sich reduzieren lassen. Diese Fakten sind zum einen das Synthetische an den mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, das eine notwendige Verknüpfung oder Synthetisierung zwischen dem transzendentalen Subjekt und der realen Objektwelt voraussetzt, und zum anderen die Apodiktizität der synthetischen Urteile a priori, deren Bestätigung allein auf der Ebene der materiell-phänomenalen Wirklichkeit zu suchen ist. Die Apodiktizität der synthetischen Urteile a priori, dargestellt in den mathematischen und naturwissenschaft266 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
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lichen Bereichen, impliziert eindeutig die philosophische Legitimation einer vom Subjekt vollkommen autonomen Domäne der materiell-phänomenalen Individuation – also der Domäne der Natur, in der die bloß apriorisch vorgestellten (mathematischen und mechanischen) Erkenntnisse manifestiert werden. Allerdings neigt Kant (charakteristisch für das transzendentale Denken) zu der Annahme, dass es die Apriorität der mathematischen und mechanischen Erkenntnisse ist, die die Apodiktizität dieser Erkenntnisse voraussetzt. Vielmehr scheint die Apriorität derartiger synthetischer Urteile eher von dem Faktum des Objekts bestimmt und gewährleistet zu werden. D. h. es scheint primär die Apodiktizität dieser axiomatischen Erkenntnisse zu sein, die letztendlich auf der Analogizität oder sogar der Identität zwischen der rein apriorisch vorgestellten und der real existierenden (demnach aposteriorisch gegebenen) Individuation der Phänomene basiert und die dadurch ihre Apriorität voraussetzt. Die zahlreichen Referenzen auf die Naturwissenschaften, insbesondere auf die newtonsche Mechanik und auf die Apriorität und Apodiktizität ihrer axiomatischen Erkenntnisse, scheinen im Kontext der kantischen Transzendentalphilosophie in einem gewissen Widerspruch zu stehen. Denn aus rein philosophischer Sicht vertritt Kant eine Epistemologie, die über die Grenzen der Domäne eines transzendentalen Subjekts bzw. über die Erscheinungen hinaus nur eine noumenale Individuation, d. h. das Ding an sich, anerkennt. Die Gegenstände der Naturwissenschaften, die weder bloße Erscheinungen noch Ding an sich sind, werden dabei kaum berücksichtigt. Die kantische Zulassung des Ding an sich zu seinem Philosophiesystem wurde zur Grundlage der späteren Philosophiesysteme der Kantianer wie Hegel, Fichte und Schopenhauer. Die propädeutischen Betrachtungen in Schopenhauers Hauptwerk Welt als Wille und Vorstellung wurde unmittelbar aus der kantischen Differenzierung zwischen Erscheinung und Ding an sich – demnach zwischen der uns bekannten Welt der bloß subjektiven Vorstellung und der Welt der Noumena – abgeleitet. Für Schopenhauer ist die Welt entweder die Vorstellung des Subjekts, dessen domaniale Grenze die Erscheinungen sind, oder der Wille – das Ding an sich: »›Die Welt ist meine Vorstellung:‹ – dies ist eine Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Mensch allein sie in das reflektierte abstrakte Bewusstsein bringen kann; und thut er dies wirklich; so ist die philosophische Besonnenheit bei ihm eingetreten. Es wird ihm dann deutlich und gewiss, dass er keine Sonne kennt und keine
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Erde; sondern immer nur ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt; dass die Welt, welche ihn umgiebt, nur als Vorstellung da ist. – Wenn irgend eine Wahrheit a priori ausgesprochen werden kann, so ist es diese: denn sie ist die Aussage derjenigen Form aller möglichen und erdenklichen Erfahrung, welche allgemeiner, als alle anderen, als Zeit, Raum und Kausalität ist: denn alle diese setzten jene eben schon voraus, und wenn jede dieser Formen, welche alle wir als so viele besondere Gestaltungen des Satzes vom Grunde erkannt haben, nur für eine besondere Klasse von Vorstellungen gilt; so ist dagegen das Zerfallen in Objekt und Subjekt die gemeinsame Form aller jener Klassen, ist diejenige Form, unter welcher allein irgend eine Vorstellung, welche Art sie auch sei, abstrakt und intuitiv, rein oder empirisch, nur überhaupt möglich und denkbar ist. Keine Wahrheit ist also gewisser, von allen anderen unabhängiger und eines Beweises weniger bedürftig, als diese, dass alles, was für Erkenntnis da ist, also diese ganze Welt, nur Objekte in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit einem Wort, Vorstellung. Natürlich gilt dieses, wie von der Gegenwart, so auch von der Vergangenheit und jeder Zukunft, vom Fernsten, wie vom Nahen: denn es gilt von Zeit und Raum selbst. In welchen allein sich dieses alles unterscheidet. Alles, was irgend zur Welt gehört und gehören kann, ist unausweichbar mit diesem Bedingtseyn durch das Subjekt behaftet, und ist nur für das Subjekt da. Die Welt ist Vorstellung. […] Daß jedoch diese Betrachtung, ihrer Wahrheit unbeschadet, eine einseitige, folglich durch irgend eine willkürliche Abstraktion hervorgerufen ist, kündigt jedem das innere Widerstreben an, mit welchem er die Welt als seine bloße Vorstellung annimmt; welcher Annahme er sich andererseits doch nimmermehr entziehen kann. Die Einseitigkeit dieser Betrachtung aber wird das folgende Buch ergänzen, durch eine Wahrheit, welche nicht so unmittelbar gewiss ist, wie die, von der wir hier ausgehen; sondern zu welcher nur tiefere Forschung, schwierigere Abstraktion, Trennung des Verschiedenen und Vereinigung des Identischen führen kann, – durch eine Wahrheit, welche sehr ernst und jedem, wo nicht furchtbar, doch bedenklich seyn muß, nämlich diese, daß eben auch er sagen kann und sagen muß: ›Die Welt ist mein Wille.‹« 19
Bei der Zweiteilung der Welt als Wille und Vorstellung erweist sich Schopenhauer als ein echter Kantianer, als welcher er in der Rezeptionsgeschichte seiner Philosophie häufig betrachtet worden ist. Allerdings beschränkt Schopenhauer seine Vorstellung vom Willen nicht auf eine residuale und finale Entität des kantischen Ding an sich; d. h. der Wille ist für Schopenhauer kein bloßes Residuum einer noumenalen Welt, das allein außerhalb einer uns erkennbaren Welt der 19
Schopenhauer, a. a. O., S. 25–26.
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transzendental-subjektiven Vorstellung – also außerhalb des Reiches der streng transzendental-subjektiven Epistemologie – existiert. Schopenhauer ging deutlich über Kants ontologische und funktionale Einschränkung des Ding an sich – nämlich dass es dem erkennenden Subjekt unbekannt ist und außer des Affizierens des Gemüts keine andere Funktion hat – hinaus, indem er versuchte, die von Kant tendenziell marginalisierte Gegebenheit der Naturgegenstände in ihrer existenziellen Autonomie philosophisch zu legitimieren. Nach Schopenhauer sind der eigene Leib und alle außerleiblichen Gegenstände der Natur Objektivierungen des Willens, und damit Objektivierungen des Ding an sich. Es ist derselbe Wille, der sich als Lebenskraft im eigenen Leib und als Schwerkraft in einem Naturobjekt, wie einem Stein, objektiviert. Demnach entwickelte Schopenhauer als Kantianer aus der kantischen Vorstellung vom Ding an sich seine eigene Metaphysik; die Forstsetzung der kantischen Philosophie war für Schopenhauer in dieser Weise in erster Linie ein metaphysisches Vorhaben. 20 »Die Welt ist meine Vorstellung« ist bei Schopenhauer von vornherein im Kontext der kantischen Transzendentalphilosophie gedacht; »die Welt als Wille« scheint dagegen – obwohl Schopenhauer den Willen mit dem kantischen Ding an sich gleichsetzt – deutlich den Rahmen des kantischen Transzendentalismus zu sprengen, indem der Wille zu dem Ding an sich eine ontologische Funktion, nämlich die Objektivierung in Naturgegenständen, hinzufügt, was dem Kontext der Transzendentalphilosophie fremd ist. Während das Ding an sich im kantischen System eine gewisse transzendental-philosophische Aporie ist, bildet der Wille in der Philosophie Schopenhauers eine metaphysische Entität, die allerdings durch die ontologische Objektivierung (in Naturgegenständen) eine Realität beansprucht. 21 SoMeyer, a. a. O., S. 75: »So ist Schopenhauer zugleich ein echter Nachfolger Kants, indem er die Möglichkeit einer Metaphysik gefunden zu haben glaubt, die nicht mit der Kritik der reinen Vernunft in Widerspruch steht« (Chevalier, Ludwig: Die Philosophie Arthur Schopenhauers in ihren Übereinstimmungs- und Differenzpunkten mit der Kantischen Philosophie, Prag 1870, S. 12). In der Tat ist Schopenhauer auch der einzige große Nachfolger Kants, der ganz im Gegensatz etwa zu Fichte, Hegel und Schelling Kants Begriff des Dinges an sich nahezu kritiklos und ganz im Kantischen, das heißt dualistischen Sinn, übernommen hat. Die Differenz zu Kant besteht hauptsächlich darin, daß er das Ding an sich benannt hat. Hierzu sagt Chevalier: ›Statt jenes verborgene x tritt eine durch innere Erfahrung gegebene Tatsache an dessen Stelle als Schlüssel des Welträtsels, hier ist das erste und unmittelbarste der Wille, er gilt als Urphänomen der Metaphysik (ebd.)‹« 21 Schopenhauer versuchte bekanntlich die Realität des Willens in der Natur, darge20
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wohl bei Kant als auch bei Schopenhauer wurde grundsätzlich eine Korrelativierung zwischen einem epistemologischen Prozess und einem ontologischen Zustand (oder Endzustand) vorgenommen. Während Kant eine derartige Korrelativierung im Rahmen seiner transzendental-philosophischen Synthese zu leisten suchte, gelangte Schopenhauer zu einer Willensmetaphysik. Die Unterschiede dieser Ergebnisse – zwischen einer transzendental-philosophischen Aporie und einer metaphysischen Vorstellung – ließen sich auf die Tragweite der philosophisch unternommenen Korrelativierung zwischen der Epistemologie und der Ontologie zurückführen. Die Tragweite dieser Korrelativierung verweist unmittelbar auf ihre Angemessenheit bzw. auf einen Zustand des hinreichenden Ausgleichs zwischen den epistemologischen und den ontologischen Bestimmungen. Gemäß der Angemessenheit dieser Korrelativierung zwischen dem Erkenntnisprozess und der finalen Erkennbarkeit einer ontologischen Entität können verschiedene ontologische Schlussfolgerungen gezogen werden. Im Prinzip sollten diese Schlussfolgerungen, die sich aus der Korrelativierung zwischen Epistemologie und Ontologie bei jeder gewöhnlichen Unternehmung der philosophischen Letztbegründung oder wissenschaftlichen Axiomatisierung ergeben, reale Entitäten sein, die entweder nur zu der Domäne des Subjekts (wie die Sinnesqualitäten) oder nur zu der des Objekts (wie die elementaren naturwissenschaftlichen Entitäten) gehören. Allerdings entsteht aus jenem philosophischen und wissenschaftlichen Versuch einer Korrelativierung zwischen dem Erkenntnisprozess und dem erkannten Gegenstand tendenziell eine Aporie, die mit dem Prinzip der philosophischen und der wissenschaftlichen Letztbegründung in Widerspruch gerät. Die Aporie ist im philosophisch-historisch tradierten Sinne ein epistemologisches Rätsel, das auf die Grenze der Erkennbarkeit verweist. Aber aus dem oben erörterten Problem der Korrelativierung zwischen Epistemologie und Ontologie, die die methodische Grundlage der philosophisch-wissenschaftlichen Letztbegründung ist, lässt sich schließen, dass die epistemologische Aporie letztendlich durch
stellt in vielen chemischen, mechanischen und biologischen Prozessen wie die Affinität chemischer Verbindungen miteinander, die Gravitation, die Vegetation, der sexuelle Trieb usw., nachzuweisen. Demnach verfasste Schopenhauer das Werk »Der Wille in der Natur« als einen gewissen Anhang zu seinem Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung«.
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eine ontologische Aporie – d. h. durch die Rätselhaftigkeit der Existenzweise der Gegenstände selbst – hervorgerufen wird. Die Aporie entsteht, wenn der Erkenntnisprozess, der dem Wesen nach auf jene reale bzw. phänomenale Letztbegründung der Erkenntnis gerichtet ist, durch den Erkenntnisgegenstand ins Stocken gerät. Wenn die Grenze des Alls sowie der Ursprung und das Ende der Zeit uns – dem erkennenden Subjekt – aporetisch vorkommen, wird unsere epistemologische Aporie ursprünglich und letztendlich durch das Aporetische an der ontologischen Bestimmung der Erkenntnisgegenstände, nämlich Raum und Zeit, bedingt. Ebenso lässt sich die Aporie der Erkennbarkeit des elementaren Stoffes der vielfältigen Körper auf das Problem seiner Existenzweise – ein im Grunde ontologisches Problem – zurückführen. Der Ursprung oder die tiefste Ursache der Aporie bzw. des epistemologischen Rätsels liegt in jener vergeblichen ontologischen Letztbegründung der phänomenalen Individuation. Beim Auftreten einer Aporie wird das erkennende Subjekt, das bis zu diesem Punkt über die Erkennbarkeit der Phänomene triumphierte, zu einem scheiternden Krieger, der vergeblich einen rätselhaften Gegenstand zu besiegen bzw. ihn auf eine allerletzte Kausalbasis zurückzuführen sucht. 22 Wie aber ist eine angemessene Korrelativierung zwischen Epistemologie und Ontologie möglich, die der philosophischen und wissenschaftlichen Letztbegründung als Basis dienen soll? Die wichtigste Voraussetzung dafür ist offensichtlich eine möglichst gleichberechtigte Berücksichtigung bzw. philosophische Legitimierung der beiden Domänen der Wirklichkeit, nämlich der Domäne des erkennenden Subjekts und der Domäne des zu erkennenden Objekts. Eine solche epistemologische Gleichberechtigung ist jedoch nur schwer umzusetzen, denn wir als erkennende Subjekte haben den primären und unmittelbaren Zugang zu unserer eigenen mentalen Welt. Um uns in Wir können die Entstehung der Aporie – von dem vorher zitierten Gleichnis von Barber ausgehend – anders darstellen. Wenn die Aporie sich aus einer philosophischen Unternehmung der Korrelativierung zwischen Epistemologie und Ontologie, die Barber als eine »Heirat« bezeichnet, ergibt, entsteht die Aporie eindeutig durch die Seite, die diese Heirat ablehnt oder verkompliziert. Hier ist es der Erkenntnisprozess, der den Heiratsantrag macht, und die Ontologie des Gegenstands oder der phänomenalen Individuation, die entweder den epistemologischen Heiratsantrag erfolgreich akzeptiert oder ihn ablehnt oder mit der Epistemologie bzw. mit der epistemologischen Letztbegründung in eine unglückliche und rätselhafte Ehe eintritt. In den beiden letzten Fällen entsteht eine epistemologische Aporie, die letztendlich auf der Aporie der phänomenalen Individuation basiert.
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die Domäne des Objekts bzw. der Naturgegenstände hineinzuversetzen, müssen wir lernen, widersprüchliche Fakten aufzulösen. Im Prinzip ist es nicht möglich, dass wir uns vollkommen in Naturgegenstände hineinversetzen, um zu erkennen, wie sie sind. Denn wir sind in unserer eigenen Subjektivität befangen; jede unserer Erfahrungen und begrifflichen Erkenntnisse des gegenständlichen Daseins ist wiederum eine subjektive Bestimmung – wie die Sinnesqualitäten und Verstandesattribute. Insoweit ist das Subjekt ein transzendentales Subjekt, das sich die Welt lediglich apriorisch vorstellt. Aber das bedeutet nicht, dass die Welt, die von uns unabhängig existiert, entweder eine unerkennbare epistemologische Aporie wie das Ding an sich oder eine metaphysische Entität wie der Wille bzw. die Objektivation des Willens sein sollte. Der Naturgegenstand lässt sich zwischen der unerkennbaren epistemologischen Aporie und der Meta-Physik (die beide allein vom Subjekt bestimmt werden) für real bzw. in seiner objektiven Räumlichkeit und Zeitlichkeit existent halten. Die Naturwissenschaften bauten auf einer derartigen philosophischen Haltung und Legitimation auf. Nun ist es unsere Aufgabe, diese objektive bzw. außersubjektive Perspektive der Naturwissenschaften erneut und harmonisch in eine Philosophie zu integrieren. Im Rahmen der Naturwissenschaften werden die Phänomene oder die phänomenalen Individuationen für wirkliche Entitäten gehalten, ohne dass sie eine Wirkung auf das erkennende Subjekt voraussetzen oder, mit anderen Worten, auf das Subjekt angewiesen sein sollten. D. h. die Existenz der phänomenalen Individuation wird nicht unbedingt vom Subjekt bestimmt, sondern neben der subjektiven Wirklichkeit (die eher zu der Domäne der Philosophie gehört) festgelegt. Es handelt sich dabei nicht um eine einseitige Relation vom Subjekt zu dem Objekt, sondern um eine Korrelation zwischen Subjekt und Objekt, da diese absolut elementaren Grundmodi der Wirklichkeit voneinander vollkommen autonom sind. Eine derart gegenseitige Befreiung dieser Entitäten ist notwendig, um die Angemessenheit der oben erörterten Korrelativierung zwischen Epistemologie und Ontologie und dadurch die angemessene Axiomatisierung der wissenschaftlichen und philosophischen Grundvorstellungen zu erlangen. Eine Ontologie der phänomenalen Individuation untersucht in erster Linie die ontologische Basis oder Finalität – als ontologische Letztbegründung, die bereits bei Thales zutage getreten ist und auch in den heutigen philosophisch-wissenschaftlichen Untersuchungen 272 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
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im Modus des ontologischen Reduktionismus auftritt. Was die phänomenale Individuation ist, wird durch förmliche und strukturelle Charakteristiken bedingt. Folglich beziehen wir uns sowohl auf materielle als auch auf mentale Phänomene. Die materiellen Individuationen, die die Untersuchungsgegenstände der Naturwissenschaften wie Physik, Chemie, Biologie, Mineralogie usw. bilden, bestehen aus einer Form und einer dieser Form zugrunde liegenden – oder hinter der Form verborgenen – Struktur. Auch der mechanischen Individuation – genauer gesagt der Individuation der statischen und der dynamischen Formen – liegen die Kraftstrukturen zugrunde. Die Form und die Struktur der – von Schopenhauer bezeichneten – morphologisch-wissenschaftlichen Individuationen wie die biologischen oder mineralogischen Wesen unterscheiden sich von der Form und Struktur der physischen und chemischen Elemente wie Moleküle, Atome oder subatomare Teilchen. Die Form einer Pflanze, eines Tieres oder eines Menschen ist eine kompositorische Form; ebenso wie die Innenstrukturen, die diese Formen durch ihre Opazität – meistens durch die Opazität der Haut – verbergen, sind kompositorische Strukturen, dargestellt durch die inneren Organen dieser morphologischen Individuation. Wir haben vorher erörtert, wie auch im Bereich der ätiologischen Wissenschaften wie der Mechanik, der Physik oder der Chemie jene morphologische Form, dargestellt in den materiellen Konstituenten wie Moleküle, Atome und subatomare Teilchen, nachzuweisen sind. Auch diese elementaren materiellen Individuationen, die allen Naturgegenständen zugrunde liegen, sind auf einer Form und auf einer Struktur aufgebaut. Die Form der Moleküle entwickelt sich aus einer atomaren Struktur; ebenso wohnt der Form der elementaren Atome eine dynamische Struktur der subatomaren Teilchen, nämlich Elektron, Proton und Neutron, inne. Die Formhaftigkeit der morphologischen – wie z. B. biologischen – Individuation bildet jene einfache Maske, dargestellt vor allem durch die Opazität der Haut, die die ebenso individuierten inneren Organe verschleiert. Im Vergleich dazu verweist die Formhaftigkeit der ätiologisch-wissenschaftlichen Konstituente wie Moleküle, Atome oder eben subatomaren Teilchen auf ein Kausalverhältnis zu der ihnen zugrunde liegenden Strukturalität. Bei den materiellen Individuationen wie den Molekülen und den Atomen erkennen wir, dass die Form der Moleküle und molekularen Verbindungen aus den Strukturen der elementaren Atome – d. h. aus ihren verschiedenen substan273 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
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ziellen und strukturellen Verbindungen – entsteht; ebenso ergibt sich die Form der Atome und der atomaren chemischen Elemente aus den Strukturen der subatomaren Teilchen. Allerdings bedeutet die Entstehung der Formen elementar-materieller Individuationen keine Auflösung der Strukturen, aus denen sie entstehen. Diesen Formen der Individuation wohnen die ebenso individuierten Strukturen inne. Die Koexistenz der Form und der Struktur in derartiger phänomenaler Individuation verweist auf einen anderen Modus des Kausalnexus, in dem die Wirkung oder die Wirklichkeit der Ursächlichkeit zeitlich nicht folgt, sondern die Wirklichkeit in eine zeitliche Koexistenz mit der ihr innewohnenden Ursächlichkeit tritt. Die Natur des Kausalnexus zwischen Form und Struktur der elementar-materiellen Individuation ist offensichtlich eine ontologische. Es ist eine ontologische Kausalität, die die Entstehung der Formen dieser phänomenalen Individuationen aus und ihre Koexistenz mit den ursächlichen materiellen Strukturen erklärt. Das Prinzip einer derartigen ontologischen Kausalität besagt, dass die elementaren Seinsmodi einen komplexeren Seinsmodus ontologisch verursachen. Der Seinsmodus oder die Wirklichkeit eines Moleküls organischer Verbindung wird durch jene Struktur der Atome anorganisch-chemischer Elemente herbeigeführt. Ebenso existiert zwischen der Form dieser Atome (C, H, O, P, N oder S) und ihren subatomaren Strukturen ein konstantes ontologisch-kausales Verhältnis. 23 Die Form der elementar-phänomenalen Individuation wird durch eine ebenso elementar-phänomenale Struktur ontologisch bewirkt. Die entstandene Form bildet dann die Wirklichkeit dieser phänomenalen Individuation und die konstant wirkende Struktur der elementaren Seinsmodi ihre ontologische Ursächlichkeit. D. h. die Wirklichkeit dieser phänomenalen Individuation ist nicht einheitlich; ihr wohnt eine elementar-phänomenale Ursächlichkeit inne. Diese ontologische Ursächlichkeit bleibt hinter der phänomenalen Maske der Form verborgen. In Bezug auf die wissenschaftliche Kontextualisierung haben wir bereits an früherer Stelle über die kontextualen Masken diskutiert. Im Folgenden gilt es zu untersuchen, wie die wissenschaftliche Kontextualität primär durch die phänomenal-ontologischen Masken bzw. durch die ontologische Finalität der phänoZur ontologischen Kausalität vgl. Thaliath, Babu: The Ontological Causation, Journal of Dharma 33, 1 (Januar – März 2008), Dharmaram Publication, Bangalore 2008, S. 42 ff.
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menalen Formen bestimmt oder sogar vorausgesetzt wird. Anders ausgedrückt: Wie wird die Kontextualität der Wissenschaften ontologisch bzw. durch die ontologische Finalität ihrer Untersuchungsgegenstände, die die Grenzen und Tragweite der wissenschaftlichen Domänen bestimmt, definiert? Die elementar-materiellen Formen und Strukturen bilden die gesamten Modi der Wirklichkeit und ihre hierarchische Ordnung – von subatomaren Teilchen bis zu mentalen Phänomenen, die durch die Neuronen und neuronalen Prozesse verursacht werden. Die ontische Struktur der Wirklichkeit ist eine Kette von (komplexeren) Formen und ihren elementaren Kausalstrukturen, die wiederum Formen von noch tieferen Strukturen der Ursächlichkeit sind. Die Neuronen, die die mentalen Phänomene ontologisch verursachen, bestehen aus organischen und anorganischen Verbindungen, die ebenso durch elementar-chemische Atome (C, H, O, P, N oder S) ontologisch verursacht werden. Den Formen der atomaren Elemente liegt in ähnlicher Weise die ontologische Ursächlichkeit der subatomaren Strukturen – nämlich Proton, Elektron und Neutron – zugrunde. Die ontologische Differenz zwischen der Wirklichkeit der elementarphänomenalen Form und der Ursächlichkeit der ihr innewohnenden elementar-phänomenalen Struktur verhindert jene Annahme, dass jede dieser Formen eine bloße Zusammensetzung von ihren elementaren Bestandteilen ist, die ihre Innenstrukturen ausmachen. Denn zwischen der wirklichen Form und ihrer ursächlichen Struktur besteht eine unüberbrückbare ontologische Differenz. Die Wirklichkeit eines Moleküls – wie des Wassers – lässt sich mit der Wirklichkeit seiner atomaren Konstituenten – H und O – und mit ihrer Komposition nicht gleichsetzen. Ebenso lässt sich die Wirklichkeit eines Atoms auf die Wirklichkeit der ihm innewohnenden subatomaren Teilchen ontologisch nicht reduzieren. Die ontische Differenz zwischen der wirklichen Form und der ursächlichen Struktur bei den elementar-phänomenalen Individuationen lässt sich auf die ontische Finalität und Irreduzibilität der Form selbst zurückführen, die demnach weiterhin ontologisch-kausal auf eine Struktur der elementar-phänomenalen Individuation nicht reduziert werden kann. D. h. die Form der phänomenalen Individuation hat eine Wirklichkeit an sich, obwohl sie durch eine ebenso phänomenale Struktur von elementaren Individuationen ontologisch verursacht wird. Die Wirklichkeit eines Wassermoleküls – demnach die Wirklichkeit des Wassers als eine anorganisch-molekulare Verbin275 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
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dung – unterscheidet sich wesentlich von der Wirklichkeit seiner atomaren Konstituenten, nämlich Wasserstoff und Sauerstoff. Ebenso ist die Wirklichkeit eines Atoms oder atomaren Elements wie Sauerstoff zum großen Teil autonom von der bloßen Wirklichkeit seiner subatomaren Konstituenten Elektron, Proton und Neutron. Die ontische Autonomie bzw. Unabhängigkeit der Form der elementar-phänomenalen Individuation gegenüber ihrer strukturell-ontologischen Ursächlichkeit schließt anscheinend einen epistemologischen Widerspruch in sich ein. Die elementaren Seinsmodi verursachen ontologisch die wirkliche Form eines komplexeren Seinsmodus, aber die ontische Eigenart dieser Form bzw. ihrer ontologischen Finalität und Autonomie lässt sich nicht allein auf eine immanente ursächliche Struktur dieser elementaren Seinsmodi reduzieren. Die Form der elementar-phänomenalen Individuation ist hier offensichtlich ein Phänomen der Emergenz, das zugleich ihre Wirklichkeit und Ursächlichkeit an sich hat. Die ontologische Autonomie und Finalität der Form phänomenaler Individuation variiert annähernd hierarchisch in der gesamten Struktur der Wirklichkeit. Die Koexistenz der atomaren Wirklichkeit und der subatomaren Ursächlichkeit bei der Individuation eines Atoms sowie die Koexistenz der molekularen Wirklichkeit und der atomaren Ursächlichkeit bei der Individuation eines (anorganischen oder organischen) Moleküls demonstrieren die ontische Finalität und Autonomie der wirklichen Formen der phänomenalen Individuation gegenüber ihren ontologisch-ursächlichen Strukturen, aber beide gehören kategorisch zu der Domäne der materiellen Phänomene. Allerdings verweist die Entstehung der mentalen Phänomene aus der physiologisch-neuronalen Ursächlichkeit auf eine vollständige Emergenz einer Form der mentalen Individuation, die eine vollkommene Wirklichkeit an sich hat und sich als solche von der Kausalkette der materiellen Phänomene, die sie ontologisch verursachen, gänzlich unterscheidet. Demnach ist die Form der mentalen Individuation eine Form an sich, die zwar durch materiell-phänomenale Strukturen – von physischen, chemischen, elektrischen und physiologischen Substanzen und Prozessen – ontologisch verursacht wird, aber ihr ist streng genommen keine materiell-phänomenale Struktur der Ursächlichkeit immanent. Wenn die Form der phänomenalen Individuation gegenüber den ihr innewohnenden elementar-phänomenalen Strukturen ontologische Autonomie, Finalität und Differenz aufweist, bildet sie eine 276 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
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Maske, und zwar eine phänomenale Maske, deren Wirklichkeit eine immanente ontologische Ursächlichkeit verschleiert. Die hierarchische Struktur der phänomenalen Wirklichkeit besteht demnach aus einer Kette von formalen Masken der ontologisch-ursächlichen und elementaren Phänomene. Allerdings schließt die elementar-phänomenale Individuation die bloß formale Wirklichkeit und ihre ontologische Ursächlichkeit in sich ein. Infolgedessen weisen die elementar-phänomenalen Individuationen wie Moleküle oder Atome eine kompositorische Existenzweise bzw. eine Koexistenz von Wirklichkeit und ontologischer Ursächlichkeit auf. Aber bei der Individuation mentaler Phänomene, wie der Sinnlichkeit, der Verstandesoperationen, der Imagination usw., scheint eine vollständige Trennung zwischen der formalen Wirklichkeit und ihrer phänomenal-ontologischen Ursächlichkeit einzutreten. Die Entstehung der mentalen Phänomene wie die sinnlichen Wahrnehmungen – von Farben, Ton, Geschmack, Geruch, Wärme, Schmerz usw. – lässt sich auf physikalische bzw. auf physische, chemische und biologische Kausalprozesse zurückführen. Die Entstehung der Farbwahrnehmung ist das Endergebnis einer Kette von Kausalprozessen: Zuerst wird das Licht, das auf ein Objekt fällt, reflektiert, dann folgt die geometrisch-optische Konvergenz der Lichtstrahlen auf der Netzhaut, die die photoelektrischen Signale entstehen lassen und sodann ihre Übertragung durch die Sehnerven zum Gehirn und die Initiierung aller neuronaler Prozesse. Aber die rein mentale Individuation der Farbwahrnehmung beinhaltet – im Vergleich zu der Individuation von materiellen Molekülen und Atomen – keine solchen ursächlichen Zustände und Prozesse, die sich allesamt auf der phänomenalen Ebene ereignen. Die Entstehung der mentalen Zustände – der mentalen Individuation im Allgemeinen – aus der Domäne der materiellen Phänomene indiziert einen vollkommenen ontologischen Sprung. Die mentalen Phänomene bilden daher eine vollkommen autonome und abgetrennte Form der Wirklichkeit, der ihre materiell-phänomenale Ursächlichkeit nicht innewohnt. Sie sind bloße Formen ohne ontologisch-ursächliche Strukturen. Die ontologische Autonomie dieser Formen der phänomenalen und mentalen Individuationen gegenüber ihren ontologisch-ursächlichen Strukturen sowie ihre Finalität führen letztendlich zu jener Aporie der Individuation. Die bloß formale Existenz der phänomenalen und mentalen Individuationen als eine Wirklichkeit an sich kommt uns deswegen aporetisch vor, weil sich derartige Individuation 277 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
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nicht auf eine ontologische Kausalbasis reduzieren lässt. Die Begründung der phänomenalen und der mentalen Emergenz der Wirklichkeit wird sich jedoch als eine unmögliche Unternehmung und demnach als eine Aporie erweisen. Das Prinzip derartiger Aporien materieller und mentaler Phänomene zeigt sich in erster Linie in der ontologischen Differenz zwischen der Wirklichkeit und der Ursächlichkeit der Individuationen und in der – daran anschließenden – ontologischen Finalität und Autonomie ihrer Formen. Wir erfahren und erkennen diese Formen zwar unmittelbar, aber wir sind nicht imstande, über den Seinsmodus dieser formalen Individuationen hinauszugehen und sie auf eine tiefere Kausalbasis ontologisch zu reduzieren. Der Erkenntnisprozess richtet sich hauptsächlich auf derartige kausale Reduktionen – als Letztbegründungen. Bei der Emergenz der förmlichen Wirklichkeit phänomenaler und mentaler Individuationen wird der Erkenntnisprozess durch die ontologische Finalität und Autonomie der emergenten Individuationen gehemmt und behindert und veranlasst folglich jene Aporie. Hier stellen wir fest, dass auch bei einer angemessenen Korrelativierung zwischen Epistemologie und Ontologie, die zu philosophischen und wissenschaftlichen Letztbegründungen führen sollte, tendenziell eine Aporetik entsteht. Die Aporie der Individuation mechanischer Phänomene erweist sich als ähnlich wie die oben erörterte Aporie der phänomenalen und mentalen Individuationen. Die newtonschen Axiome der Trägheit, der Gravitation und der Kräfte im Allgemeinen sind zwar keine kausalen Letztbegründungen, weil diese absolut elementaren mechanischen Individuationen der statischen und dynamischen Phänomene allein auf ihrer Wirkungs- oder Wirklichkeitsebene definiert werden. Allerdings implizieren diese und ähnliche Axiome der newtonschen Klassischen Mechanik eine immanente Kausalität, und zwar eine finale bzw. irreduzible ontologische Ursächlichkeit. Wir haben zuvor dargelegt, wie das Prinzip der Trägheit, dargestellt sowohl im Trägheitsruhezustand als auch im Trägheitsbewegungszustand der Körper, eine irreduzible ontologische Kausalbasis bildet, die den axiomatischen Erkenntnissen dieser mechanischen Phänomene zugrunde liegt. Demnach bildet das Prinzip der Trägheit selbst die ontologische Ursächlichkeit der Trägheitszustände der Körper. Ebenso bilden die Gravitation und die anderen Kräfte die ontologische Ursächlichkeit des Gravitationsphänomens – wie z. B. der statischen Schwere oder des dynamischen Falls der Körper – und aller anderen statischen und dynamischen Phänomene. Aber was für eine Kausalität ist es, in der 278 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporie der phänomenalen Individuation
zwischen der Wirklichkeit und der Ursächlichkeit dieser mechanischen Phänomene ontologisch nicht differenziert werden kann? Wie bereits erörtert wurde, scheint bei den statischen und den dynamischen Trägheitszuständen die Wirklichkeit des Trägheitsphänomens mit seiner ontologischen Ursächlichkeit zu koinzidieren. Anders ausgedrückt: Was die Trägheitszustände der Körper betrifft, so lässt sich die Wirklichkeit des Trägheitszustandes von ihrer ontologischen Ursächlichkeit, die das Prinzip der Trägheit selbst ist, nicht differenzieren. Bei der gravitationellen Fernwirkung bleibt uns ihre mechanische Ursache unbekannt. Wie Newton zugab, entzieht sich die Ursächlichkeit der Gravitation unserer Erfahrung und unserer (apriorischen) Vorstellungskraft. Demnach scheint im Gravitationsphänomen die Wirklichkeit der gravitationellen Fernwirkung mit ihrer ontologischen Ursächlichkeit zu koinzidieren. Ebenso scheint uns versagt zu sein, den materiellen Modus der Ursächlichkeit der Kräfte gegenüber ihrer mechanischen Wirkung, dargestellt in allen statischen und mechanischen Phänomenen, ontologisch zu bestimmen. Das Unbekannte an der Ursächlichkeit dieser mechanischen Grundphänomene spricht eindeutig für eine epistemologische Aporie, die ihren axiomatischen Bestimmungen zugrunde liegt. Die axiomatische Letztbegründung dieser mechanischen Phänomene, die die frühneuzeitliche Klassische Mechanik zu etablieren suchte, schließt die Aporie der Individuation dieser mechanischen Grundphänomene nicht aus; vielmehr baut die axiomatische Letztbegründung darauf auf. Diesen mechanischen Phänomenen lässt sich jene geometrischmechanische Strukturalität, dargestellt z. B. in der linearen und gleichförmigen Trägheitsbewegung oder in der zentripetalen Anziehungsstruktur der Gravitation oder in der vektoriellen Darstellung der mechanischen Kräfte, attribuieren, jedoch bildet diese geometrische Strukturalität keine mechanische Ursächlichkeit ihrer Individuation und Phänomenalität. Diese geometrischen Strukturen, die bei den mechanischen Grundphänomenen ihre wissenschaftliche Axiomatisierung ausmachen, erweisen sich letztendlich als wissenschaftlich-kontextuale Masken, die die wahre Ursächlichkeit der Phänomene und ihr aporetisches Wesen wissenschaftlich-strategisch verschleiern, wie bereits an voriger Stelle erörtert wurde. Seit Platon und Aristoteles ist die Aporie im tradierten Gebrauch des Begriffs ein epistemologisches Rätsel und deutet auf eine Ausweglosigkeit des erkennenden Subjekts hin. Die Apodiktizität verweist dagegen – vor allem im Kontext der kantischen Transzendental279 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporien der phänomenalen Individuation
philosophie – auf die unmittelbare Überzeugung und Sicherheit des Subjekts, dass das apriorisch erkannte objektiv gültig ist. Ist folglich die Aporie – im Rahmen der Epistemologie – der Apodiktizität des Erkennens entgegengesetzt? Die Aporie impliziert eine Verunsicherung des Subjekts im Erkenntnisprozess; das Apodiktische signalisiert dagegen die Gewissheit des Erkennens, dass die Erkenntnis wahr ist bzw. sich in der Domäne der phänomenalen Wirklichkeit manifestieren lässt. Allerdings ist die Verunsicherung des Subjekts in der Aporie im Grunde eine Verunsicherung vor dem Erkenntnisgegenstand, genauer gesagt vor der Aporie der phänomenalen Individuation. D. h. die Ursache der subjektiven Aporie ist letztendlich im Faktum des Objekts und damit in der Aporie des zu erkennenden Phänomens zu suchen. 24 Die Aporie entsteht meistens aus jenem vergeblichen Versuch des erkennenden Subjekts, das zu erkennende Phänomen auf eine finale Kausalbasis zurückzuführen oder sogar zu reduzieren. Die erkenntnistheoretische Aporie entwickelt sich, wenn das Subjekt bei der Fortsetzung seines Erkenntnisprozesses auf jene ontologische Barriere des Phänomens stößt, die es dann vergeblich zu überwinden sucht. Wenn die Aporien tendenziell das Ergebnis einer subjektiven Unternehmung sind, eine angemessene Korrelativierung zwischen Epistemologie und Ontologie zu schaffen, signalisieren sie Die ursprünglichen Vorstellungen von Aporie in der Philosophie von Platon und Aristoteles deuten auf jene Grenzerfahrung im Denken, also auf die Ausweglosigkeit im Denkprozess, in dem man vor allem nach einer Lösung sucht. Allerdings weist Aristoteles darauf hin, dass die Ausweglosigkeit im Denken weiterhin auf das Aporetische an der Sache bzw. an dem Objekt des Denkens zurückzuführen ist: »Wer einen guten Weg finden will, für den ist es förderlich, die Ausweglosigkeit gründlich durchgehalten zu haben. Denn der spätere Weg ist die Lösung dessen, worin man zuvor keinen Weg hatte. Man kann nicht lösen, wenn man den Knoten nicht kennt. Wenn man aber im Denken keinen Weg hat, dann zeigt das diesen Knoten in der Sache an.« (Aristoteles, Met. B 1, 995 a24 – b4) Vgl. Jacobi, Klaus: Kann die Erste Philosophie wissenschaftlich betrieben werden? Untersuchungen zum Aporienbuch der aristotelischen »Metaphysik«, in Metaphysisches Fragen. Colloquium über die Grundform des Philosophierens, hrsg. von Paulus Engelhardt und Claudius Strube, Böhlau Verlag, Collegium Hermeneuticum, Bd. 12, Köln – Weimar – Wien 2008, S. 31ff. An dieser Stelle gründet Aristoteles die Aporetik – als gedanklichen Lösungsversuch – letztendlich auf die Aporie des Objekts. Die aristotelische Betonung der objektiven Aporie schien in der kartesischen Moderne verkannt zu werden, indem die Aporetik im strengen Rahmen der Epistemologie eingeschränkt wurde.
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Die Aporie der phänomenalen Individuation
ein Scheitern des epistemologischen Strebens des Subjekts. Die Ausweglosigkeit des Subjekts in der Aporie ist eher durch den Erkenntnisgegenstand bedingt. Fast alle tradierten Aporien in der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften können wir auf eine objektive bzw. phänomenale Basis zurückführen. Wenn die Erkenntnis des Anfangs oder des Endes der Zeit – ob es etwas vor oder nach der Zeit geben kann – und demgemäß die Erkenntnis des Anfangs des Universums eine Aporie bilden, bezieht sich diese Aporie eindeutig auf eine objektive Zeit und auf eine objektiv-zeitliche Existenz des Universums. Ebenso verweist die Aporie des Raumes – d. h. die Frage danach, ob das All eine Grenze hat – auf die objektive Existenz des Raumes. Die Aporien in der Wissenschaft der Mathematik sind keine Ausnahmen. Wenn es uns aporetisch vorkommt, wie ein Punkt ohne Ausdehnung und wie eine Linie von ausdehnungslosen Punkten zusammengesetzt existieren kann, basiert die Aporie dieser und ähnlicher geometrischen Erkenntnisse auf dem Problem der objektiven Existenzweise des ausdehnungslosen Punktes und der eindimensionalen Linie. Das Problem des Infinitesimals – des unendlich Kleinen – in der Geschichte der Philosophie und Mathematik wäre ein anderes und treffendes Beispiel für eine philosophisch-mathematische Aporie, über die seit der Antike debattiert wird. Im Zuge der Erfindung der Methode der Infinitesimalrechnung von Leibniz und Newton gewann diese Problematik erneut an großer historischer Bedeutung. 25 Aristoteles – Als Georg Berkeley in seiner Abhandlung Analyst die von Leibniz und von Newton in die Mathematik eingeführte Methode der Infinitesimalrechnung kritisierte, bezog er sich hauptsächlich auf das Aporetische an dieser Vorstellung: »Wie nun die Wahrnehmung äußerst kleiner Gegenstände unseren Sinnen Anstrengung und Verlegenheit bereitet, so gerät auch die Einbildungskraft, eine Fähigkeit, die ja auf den Sinnen beruht, bei dem Versuch, klare Ideen von den kleinsten Zeitteilchen oder den kleinsten darin erzeugten Inkrementen zu bilden, in große Anstrengung und Verlegenheit; und noch viel mehr bei dem Versuch, Momente oder jene Inkremente von fließenden Größen in status nascendi, im allerersten Ursprung oder Anfang ihrer Existenz, bevor sie endliche Teilchen werden, zu begreifen. Und es scheint noch schwieriger, die abstrakten Geschwindigkeiten dieser entstehenden, unvollständigen Entitäten zu begreifen, doch die Geschwindigkeiten der Geschwindigkeiten – die zweiten, dritten, vierten und fünften Geschwindigkeiten usw. – übersteigen, wenn ich nicht irre, jedes menschliche Verständnis. […] Eine zweite oder dritte Fluxion ist wohl gewiß in jeder Hinsicht ein dunkles Geheimnis. Die Anfangsgeschwindigkeit einer Anfangsgeschwindigkeit, die entstehende Zunahme einer entstehenden Zunahme, d. h. von etwas, was keine Größe besitzt, – nehmen sie es, in welcher Hinsicht Sie wollen, die klare Vorstellung davon wird, wenn ich nicht irre, als unmöglich er-
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Die Aporien der phänomenalen Individuation
und mit ihm die Antike – stellte das unendlich Kleine als potenzial bzw. als sich im Prozess der unendlichen Verkleinerung oder Verminderung befindend vor; dagegen neigte der Mathematiker Georg Cantor dazu, sich eine diskrete Entität vorzustellen, nämlich eine aktual unendlich kleine Größe. 26 Aber die diskrete Vorstellung von Infinitesimalen bleibt an dieser Stelle eine objektive Aporie. kannt werden. Ich fordere jeden denkenden Leser auf, zu prüfen, ob es sich so verhält oder nicht. Und wenn schon eine zweite Fluxion unbegreiflich ist, was sollen wir von dritten, vierten, fünften Fluxionen usw. ohne Ende denken? […] Leibniz und seine Nachfolger machen sich bei ihrem ›Differentialkalkül‹ (calculus differentialis) keinerlei Sorge, unendlich kleine Größen erst vorauszusetzen und dann wieder zu beseitigen. […] Dieser umgekehrte Weg, Ihre Prinzipien durch Ihre Konklusionen zu beweisen, wäre für Sie eigentümlich, mein Herr, und geht ebenso gegen die Regeln der Logik. Die Wahrheit der Konklusion wird weder die Form noch den Inhalt eines Schlusses als wahr erweisen; es könnte nämlich trotz fehlerhafter Folgerung oder falscher Prämissen die Konklusion wahr sein, wenn auch nicht aufgrund dieser Folgerung oder dieser Prämissen. Ich meine, in jeder anderen Wissenschaft beweisen die Leute ihre Konklusionen mit ihren Prinzipien und nicht ihre Prinzipien mit den Konklusionen. […] Ich streite mich nicht über Ihre Konklusionen, sondern nur über Ihre Logik und Ihre Methode.« Berkeley, Georg: Schriften über die Grundlagen der Mathematik und Physik, Frankfurt 1969. Vgl. PMS, S. 60. 26 Vgl. dazu Gawronsky, Dimitry: Das Urteil der Realität und seine mathematischen Voraussetzungen, Marburg 1910, S. 39–40: »Das große Verdienst, diese neue Art des Unendlichen eingeführt und mit ihrer logischen Begründung auch die Fruchtbarkeit ihrer Anwendung auf die Mathematik nachgewiesen zu haben, gebührt Georg Cantor. Cantor weist selbst darauf hin, daß schon Bolzano diesen Begriff hatte, aber angesichts der unvollendeten und nicht widerspruchsfreien Form, die ihm bei Bolzano noch anhaftet, ist Cantor doch der erste, der ihn in vollendeter systematischer Gestalt einführt. Auf die Erzeugung der natürlichen Zahlenreihe angewandt, bietet jenes Begriffspaar den Grund und das Wesen der sogenannten zwei ersten ›Erzeugungsprinzipien‹ Cantors. Das erste Prinzip besteht darin, daß man die Zahlenreihe nach und nach, durch die fortwährende Vermehrung der schon erlangten Zahl um eine Einheit, durchläuft und so immer neue und neue Zahlen bekommt. Zu jeder ›schon gebildeter‹ Zahl wird eine Einheit hinzugefügt und so bewegt man sich ins Unendliche, durch jede Grenze hindurchgehend, nur den Prozeß der Vermehrung selbst grenzenlos fortsetzend. Demgegenüber ermöglicht das zweite ›Erzeugungsprinzip‹ diesen Prozeß sozusagen zu überfliegen und eine Setzung zu vollziehen, durch die eine unendlich große Zahl mit einem Schlage erzeugt und somit ein ganz neues Denkgebilde postuliert wird. […] In der Tat, betrachten wir genau das Wesen des Grenzüberganges, so erblicken wir in ihm einerseits den Prozeß, den unendlichen, stetigen Fortgang, andererseits aber den Grenzwert, zu dem dieser Vorgang fortstrebt. Woher kommt aber dieser Grenzwert? Aus dem Prozesse kann er nicht entstehen, denn der Grenzwert ist doch das mathematische Ende des Prozesses. Er steht in handgreiflichem Gegensatz zu ihm, und kann somit aus ihm nicht entspringen. Nein, zum Grenzwert kommen wir nur, wenn wir eine neue Setzung zu vollziehen uns erkühnen, wenn wir neben dem
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Die Aporie der phänomenalen Individuation
Das Problem der Aporie tauchte in allen frühneuzeitlichen Wissenschaftsbereichen auf. Die visuelle Distanz- und Größenwahrnehmung bleibt bis heute eine kaum hinreichend aufgelöste Aporie aus der frühneuzeitlichen Wissenschaft der Optik. Wenn Condillac die visuelle Größenwahrnehmung anhand eines konkreten Beispiels, nämlich des ungelösten Problems der »object size consistency« in der optischen Größenwahrnehmung, erneut problematisierte, 27 machte er stillschweigend von einer historischen Bedeutung und Funktion der philosophisch-wissenschaftlichen Aporie Gebrauch, nämlich von der Prädestination der Aporie, dass sie sich nie vollkommen subjektiv-paradigmatisch lösen lässt, und demnach immer wieder in der Geschichte zutage tritt. Die Aporie verdankt ihrem phänomenalen Ursprung ihre historische Persistenz oder Nachhaltigkeit. Obwohl das Subjekt versucht, die philosophische und wissenschaftliche Aporie tendenziell historisch-paradigmatisch zu unterdrücken, vermag es ihre Samen, die verborgen bleiben, kaum zu vernichten. Denn das Phänomen oder das Faktum des Objekts tendiert im Vergleich zu der Historizität des Subjekts dazu, ahistorisch zu wirken und sich dergestalt zu etablieren. In der Geschichte der Philosophie und Wissenschaften scheint das erkennende Subjekt mit der phänomenalen Wirklichkeit in einem ewigen Kampf getreten zu sein, indem es stets auf der Suche nach jener epistemologischen Letztbegründung ist. Dabei bilden die Aporien grundsätzlich objektiv-
Prozeß und unabhängig von ihm ein neues Prinzip in Tätigkeit setzen, welches die ›aktual‹, die tatsächlich vollzogene Setzung des Unendlichen hervorbringt.« Vgl. auch PMS, S. 56 ff. 27 Vgl. dazu Morgan, Michael J.: Molyneux’s Question. Vision, Touch and the Philosophy of Perception, Cambridge 1977, S. 78–79: »Take the question of ›object consistency‹ for example. Condillac knew that ›If a man four feet away … steps backward to eight feet, the image of him on the retina is halved in size.‹ Because of this it has seemed even to some contemporary theorists to be a problem that objects do not shrink rapidly in size as they go away. Originally, the descriptive term ›object size consistency‹ was used to refer to the non-shrinkage phenomenon. Its use in that way is unexceptionable. But some people now use the term ›consistency‹ as if it applied to a process which set to work on the retinal image: they speak of consistency ›scaling things up‹ or ›scaling them down‹. What exactly do they think is being altered in size by constancy? The size of objects? Obviously not. The retinal image? Still less so. The size of an image in the brain? Possibly: but for what purpose? A moment’s thought shows the problems in treating constancy as a magnifying/minifying process. The cause of the fallacy is the belief that we see the retinal image.« Siehe Exkurs »Object Size Consistency« im 8. Kapitel (S. 357).
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Die Aporien der phänomenalen Individuation
phänomenale Widerstände, die das kämpferische Subjekt vergeblich zu überwinden sucht. Während sich in einem transzendental-epistemologischen Prozess eine apriorische Erkenntnis nach Kant auf die Domäne der phänomenalen Wirklichkeit anwenden lässt – worauf die Apodiktizität der apriorischen Vorstellungen basiert –, scheint das Objekt bei der Aporie des Erkennens über das Subjekt zu herrschen. Mit anderen Worten: Aporie veranlasst eine gewisse Umdrehung der epistemologischen Hierarchie zwischen dem transzendentalen Subjekt und den Phänomenen. Von der Seite der Phänomene könnte sich die Aporie zu einer Erkenntnis entfalten – und zwar zu einer Erkenntnis, die sich das Subjekt nicht lediglich apriorisch vorstellt, sondern die vom Objekt gegeben oder sogar diktiert wird. Eine derartige, vom Objekt diktierte Erkenntnis könnte dem erkennenden Subjekt rätselhaft vorkommen, weil es unter Umständen an diese nicht glauben kann. In dieser Weise setzt die Aporie der Erkenntnis ein gewisses Zögern seitens des erkennenden Subjekts, die objektiv gegebene Erkenntnis unmittelbar anzunehmen, voraus. Denn in vielen Fällen erscheint dem Subjekt die vom Objekt diktierte Erkenntnis – die die Objektivität der phänomenalen Individuation selbst ist – unglaubhaft und aporetisch. Wenn dagegen das Subjekt bereit ist, die Hegemonie der Phänomene und ihrer objektiven Individuation anzunehmen und das Unentdeckte in dieser vom Objekt diktierten Erkenntnis weiter zu erforschen, könnte diese subjektive Bereitschaft zu fruchtbaren Erkenntnissen in der Philosophie und in den Wissenschaften führen. Die Lösung der phänomenalen Aporie liegt in vielen Fällen in der subjektiven Bereitschaft, das Faktum des Objekts und deren unmittelbare Teilnahme am Erkenntnisprozess anzuerkennen. Durch eine derartige epistemologische Annahme und Anerkennung vermag das Subjekt eine neue Form der Apodiktizität zu erlangen, die sicherer und zuverlässiger als die bloß transzendentale Apodiktizität ist. Das Aporetische an der phänomenalen Individuation kann in dieser Weise eine vom Phänomen her dem Subjekt verliehene Apodiktizität einer Erkenntnis herbeiführen. Denn die Objektivität der Erkenntnis, die durch die transzendental-subjektive Aporie verschleiert scheint, kann am ehesten seitens der phänomenalen Individuation gesichert werden. Das Aporetische an der Erkenntnis der phänomenalen Individuation kann demnach erstaunlicherweise zur Apodiktizität unserer Erkenntnisse führen, indem wir strategisch von dem Faktum des Objekts und seiner unmittelbaren Beteiligung an unserem Erkenntnis284 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporie der phänomenalen Individuation
prozess ausgehen. Eine bis heute ungelöste Aporie ist beispielweise die visuelle Distanz- und Größenwahrnehmung im Kontext der physiologischen Optik. Die historische Persistenz dieser Aporie scheint darin zu liegen, dass wir sie immer von der Seite des erkennenden Subjekts (dazu gehören sowohl die philosophischen als auch die wissenschaftlichen bzw. psychologischen und neurobiologischen Untersuchungen) zu bewältigen suchen. Von der objektiven Seite betrachtet würde die Untersuchung dieser tradierten Aporie notwendigerweise die Referenz auf die wirklichen Gegenstände, die gesehen werden, als unabdingbaren Schritt voraussetzen. Die Aporie dieses optischen Phänomens entsteht dadurch, dass das Subjekt verweigert, diese notwendige Referenz auf die wirklichen Gegenstände und deren unmittelbare Teilnahme an dem Sehprozess lediglich anzunehmen. Stattdessen ist es charakteristisch für das transzendentale Subjekt, von der Annahme auszugehen, dass die gesehenen Gegenstände ursprünglich rein mentale Konstrukte sind und als solche allein zu der Domäne eines transzendental-ästhetischen Subjekts gehören. Die Einbeziehung der Gegenstände in ihrer objektiven Existenz in den Sehprozess sprengt offensichtlich den Rahmen eines transzendentalen Subjekts und seiner Sinnlichkeit bzw. visuellen Wahrnehmung des Objekts. Wie vorher beschreiben wurde, sollte aus der Perspektive des transzendentalen Subjekts die Aporie der Apodiktizität jener Erkenntnis entgegenwirken. Die Rätselhaftigkeit an der Erkenntnis gefährdet die subjektive Überzeugung, dass die Erkenntnis objektiv gültig ist. Allerdings nimmt die Apodiktizität unausweichlich eine Referenz zu dem Objekt bzw. zu der phänomenalen Individuation vor. Da die Aporie der Erkenntnis letztendlich auf die phänomenale Aporie zurückzuführen ist, könnte die Apodiktizität von der Seite der Phänomene maßgeblich unterstützt werden. Denn die Referenz zu der phänomenalen Welt, die durch die Apodiktizität der phänomenalen Welt vorausgesetzt wird, kommt im Falle der phänomenalen Aporie natürlich von den Phänomenen selbst, indem sie die Erkenntnisse bestimmen oder sogar diktieren. Daher kann die phänomenale Aporie zu der subjektiven Apodiktizität ganz entscheidend beitragen – vorausgesetzt, dass das Subjekt die Hegemonie und Herrschaft der Phänomene in Bezug auf die aporetischen Erkenntnisse anerkennt. Die phänomenale Aporie und die Apodiktizität der subjektiven Erkenntnisse können in dieser Hinsicht keine konträren, sondern komplementäre Elemente im Erkenntnisprozess sein. 285 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporien der phänomenalen Individuation
Es ist für das Subjekt, das im Prinzip ein transzendentales Subjekt ist, nicht leicht, die notwendige Beteiligung der Phänomene am Erkenntnisprozess – und gar ihre Herrschaft in der Aporetik – lediglich anzunehmen. Insbesondere bei der Aporetik wird das Subjekt zum einen durch jene scheinbar rationale Haltung, nämlich die Unglaubwürdigkeit, und zum anderen auch durch ein psychologisches Faktum, nämlich den Egoismus, davon abgehalten, die von der Seite der Phänomene bestimmten Erkenntnisse und ihre Grenzen zu akzeptieren. Newton konnte bekanntlich an die Fernwirkung der von ihm selbst axiomatisierten Universalgravitation kaum glauben; es dauerte lange – nach vielen vergeblichen Experimenten –, bis Newton die Aporie der gravitationellen Fernwirkung, die den Prinzipien der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie widersprach, akzeptierte und sich mit der Annahme zufriedenstellte, dass es reicht (»satis est«), dass die Gravitation existiert. Seit dieser newtonschen Feststellung der Individuation des Gravitationsphänomens auf nur einer Wirkungsebene versuchten zahlreiche Wissenschaftler der Mechanik, die (von Newton legitimierte) Makroebene der gravitationellen Fernwirkung auf eine Mikroebene – und zwar auf das gravitationelle Feld, Gravitonen usw. – kausal zurückzuführen, was allerdings den Rahmen der Klassischen Mechanik sprengt. Derartige Unternehmungen sind zum Scheitern verurteilt, da die gravitationelle Anziehung als Fernwirkung eindeutig eine mechanische Wirkung ist, die sich zu jener mechanischen Phänomenalität im Rahmen der newtonschen Klassischen Mechanik analogisieren lässt und demnach allein auf eine ebenso mechanische bzw. unbedingt materielle Ursächlichkeit zurückgeführt werden kann. Das Gravitationsphänomen liefert uns allerdings keine rein mechanische Ursächlichkeit, sondern zeigt sich als eine phänomenale Aporie auf der Ursachenebene. Dadurch bleibt die newtonsche Überzeugung, dass die Aporie des Gravitationsphänomens auf der Ursachenebene nicht bewältigt werden kann, intakt. In der Wissenschaftsgeschichte wird die phänomenale Aporie gewöhnlich für eine Hürde gehalten, die den historischen Fortschritt der Wissenschaft hindert und stagnieren lässt. Bei der Identifizierung jener phänomenalen Aporie versuchen die Wissenschaftler tendenziell, diese durch wissenschaftliche Kontextualisierung oder sogar Paradigmatisierung zu unterdrücken oder zu verschleiern. Von der Antike bis heute bleibt das Unendlichkleine nicht nur in der Mathematik, sondern auch in mechanischen und materiellen Wissenschaften eine ungelöste Aporie. Bei der Erfindung der Infinitesimalrech286 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporie der phänomenalen Individuation
nung von Newton und Leibniz tauchte diese Aporie im Modus einer geometrisch-mathematischen Problematik erneut auf, nämlich als endlose Verkleinerung der unendlichkleinen Größen (�x und �y). Dieses findet allerdings auf der phänomenalen Ebene Ausdruck, nämlich in dem Problem des materiellen Unendlichkleinen oder der unendlichen Teilbarkeit der Materie. Das Prinzip der Differenzialrechnung bildete demnach die Verbindung zwischen den theoretischen und den angewandten Wissenschaften und wurde somit zu dem wichtigsten Instrumentarium bei allen Ingenieurwissenschaften. Allerdings wurde die grundlegende Aporie in der ursprünglichen Methode der Differenzialrechnung, nämlich das unendliche Tendieren des �x zur Null (was die unendliche Verkleinerung des �x mathematisch darstellt), kontextual bzw. zugunsten des Kontexts der Infinitesimalrechnung und ihrer historischen Etablierung unterdrückt, indem das Faktum des Unendlichkleinen in der Operation der Differenzialrechnung annulliert bzw. als Null eliminiert wurde. Die philosophische Polemik Berkeleys gegen die durchaus problematische Zulassung des Unendlichkleinen in die Mathematik 28 fand historisch – bis heute – keine hinreichende Resonanz. Ebenso bleibt die Aporie der Individuation des Gravitationsphänomens in der Geschichte der Mechanik marginalisiert, und zwar durch die wissenschaftlichen Paradigmen wie die newtonsche Universalgravitation und das daran anschließende Relativitätsprinzip Einsteins, das die newtonsche Universalgravitation zugleich übertraf. Die kontextuale oder paradigmatische Unterdrückung der in der Wissenschaftsgeschichte immer wieder auftauchenden phänomenalen Aporie verhindert auch jenes Bestreben der Forschung, aus der Aporie selbst fruchtbare Erkenntnisse ans Licht zu führen. Die phänomenale Aporie verlangt tendenziell von uns – dem erkennenden Subjekt –, an dem Unglaubhaften weiter zu arbeiten und dadurch die fruchtbaren Erkenntnisse zu gewinnen, die in der phänomenalen Individuation verborgen geblieben sind und deren wissenschaftlicher Auftritt durch jene historische Kontextualisierung und Paradigmen verhindert wurde. Wenn die phänomenale Aporie scheinbar einen gegenständlichen Widerstand gegen die subjektiv-epistemologische Letztbegründung und Axiomatisierung leistet, ist dieser Widerstand grundsätzlich als Zeichen seitens der phänomenalen Welt zu deuten, dass es noch Wahrheiten gibt, die die Natur nicht preisgegeben hat. 28
Siehe Anmerkung 25.
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Die Aporien der phänomenalen Individuation
Zugleich stellt dieser Widerstand jene Herausforderung an das Subjekt, wachsam zu bleiben und wiederholt und dauerhaft zu versuchen, die Natur und das menschliche Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen weiter zu erforschen.
Strukturelle und Substanzielle Ursächlichkeit Wenn sich die phänomenale Individuation nicht allein auf eine ontologische Finalität beschränkt, sondern ätiologisch-prozessual deuten bzw. auf eine der Individuation immanente ontologische Ursächlichkeit zurückführen lässt, erstreckt sich dabei die Untersuchung der phänomenalen Individuation über jene morphologische Bestimmung und deren Erkennbarkeit hinaus auf die der Form latenten Kausalstrukturen. Die ontologische Ursächlichkeit der phänomenalen (aber auch mentalen) Individuation besteht zwar in erster Linie darin, dass die elementaren und materiellen Seins- oder Substanzmodi die Form eines komplexeren Seins- oder Substanzmodus – ggf. eines rein mentalen Zustands – ontologisch verursachen. Eine derartige ontologische Verursachung ist im Vergleich mit der gewöhnlichen Vorstellung von Kausalität, in der die Wirkung dem ursächlichen Ereignis zeitlich folgt, eine konstante Kausalität, d. h. ein konstanter Kausalnexus, in dem – wie vorher erörtert wurde – der Wirklichkeit der Individuationen fortwährend ihre ontologische Ursächlichkeit innewohnt. Die der Individuation zugrunde liegende ontologische Kausalität verweist demnach auf eine konstante und simultane Koexistenz von der individuierten (materiellen und mentalen) Wirklichkeit und der die Individuation erzeugenden und sie kontinuierlich beibehaltenden ontologischen Ursächlichkeit. Allerdings befinden sich die ursächlichen Seinsmodi – wie die subatomaren Teilchen in einem Atom oder die Atome in einem Molekül – in bestimmten statischen und dynamischen Strukturen, die zu der Emergenz der Formen komplexerer Seinsmodi kausal beitragen. In einem Sauerstoffatom befinden sich die Protonen und Neutronen im Atomkern in einer statisch-strukturellen Konstellation, wobei die diesen Atomkern in elliptischen Bahnen umkreisenden Elektronen eine dynamische Struktur bilden. Wenn diese subatomaren Teilchen die wirkliche Form eines Sauerstoff-Moleküls und demnach die Wirklichkeit des chemischen Elements Sauerstoffs entstehen lassen, bezieht sich diese ontologische Ursächlichkeit nicht nur auf eine 288 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Strukturelle und Substanzielle Ursächlichkeit
substanzielle, sondern unbedingt auch auf eine strukturelle Basis. Demnach lässt sich die ontologische Kausalität im Allgemeinen als eine Zusammensetzung aus substanzieller und struktureller Ursächlichkeit der elementaren Seinsmodi bestimmen. Besonders im Fall der Individuation organischer Verbindungen gewinnt die ontologisch-strukturelle Ursächlichkeit an großer Bedeutung. Denn die große Vielfalt der organischen Verbindungen entsteht aus den vielfältigen Strukturen von wenigen anorganischen Elementen, nämlich C, H, O, N, P oder S. Die ontologische Ursächlichkeit, die der Individuation materieller und mentaler Phänomene zugrunde liegt, ist in erster Linie eine substanzielle Ursächlichkeit, in der die elementaren Substanzen eine komplexere Substanz oder lediglich einen mentalen Zustand entstehen lassen. Die vorher erörterte hierarchische Ordnung der Wirklichkeitsstruktur von subatomaren Teilchen bis hin zu mentalen Phänomenen bildet eine Kette von substanziell-ontologischen Ursachen und deren Wirkungen, dargestellt in der Individuation von allen Modi der Wirklichkeit, indem die individuierten elementaren Substanzen weiterhin höhere Substanzen ontologisch verursachen. Wie bereits dargelegt wurde, entsteht in der ontologisch-substanziellen Ursächlichkeit jene neue Substanz, die sich in ihrem Existenzmodus von ihren Konstituenten bzw. von den ursächlichen Substanzen in Gänze unterscheidet. D. h. im Rahmen der ontologisch-substanziellen Ursächlichkeit ereignet sich ein ontologischer Sprung von der Ursachenebene auf die Wirkungsebene; einen derartigen ontologischen Sprung bezeichnen wir gewöhnlich als eine Emergenz. Aufgrund dieser Emergenz lässt sich die Individuation eines jeden Phänomens nicht auf seine ursächlichen Substanzen reduzieren. Demnach ist Wasser mehr als H2O – d. h. mehr als eine Zusammensetzung von zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom; ebenso ist ein Sauerstoffatom mehr als nur eine Zusammensetzung von acht Elektronen, acht Protonen und acht Neutronen in einer atomaren Struktur. Diese Emergenz oder der ontologische Sprung in Bezug auf die ontologisch-substanzielle Ursächlichkeit vervollkommnet sich in der Emergenz der mentalen Phänomene aus der materiellen bzw. neuronalen Ursächlichkeit, indem die emergenten mentalen Zustände und Prozesse überhaupt keine materielle Substanzialität haben. Die Wirklichkeit der mentalen Phänomene unterscheidet sich ontologisch gänzlich von der neuronalen Ursächlichkeit, die die mentalen Phänomene hervorruft. 289 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporien der phänomenalen Individuation
Die ontologisch-substanzielle Ursächlichkeit ist zugleich eine strukturelle Ursächlichkeit. Denn die elementaren Seinsmodi in der ontologischen Ursächlichkeit befinden sich in bestimmten Strukturen, die die Individuation materieller und mentaler Phänomene mitbestimmen. Alle atomaren Elemente werden durch subatomare Teilchen substanziell und strukturell verursacht. Während die Neutronen und Protonen im Atomkern eine eher statische Struktur bilden, weisen die den Atomkern umkreisenden Elektronen eine dynamische Struktur vor. Ebenso werden die molekularen Verbindungen durch atomare Elemente in bestimmten strukturellen Konstellationen ontologisch verursacht. Die ontologisch-strukturelle Ursächlichkeit erweist sich als ein wichtiges Faktum bei der Individuation organischer Verbindungen. Aus wenigen atomaren Elementen, nämlich C, H, O, N, P oder S, entsteht eine große Anzahl von organischen Verbindungen. Dabei ist es vielmehr die strukturelle Vielfalt der fast identischen Substanzen, die die große Vielfalt der organischen Verbindungen entstehen lässt. Das Prinzip der ontologisch-strukturellen Ursächlichkeit tritt am deutlichsten bei der Individuation eines Isomers zutage. Die Isomere haben die gleiche substanzielle Basis – bestehend aus den elementaren Atomen C, H, O etc. – aber sie erweisen sich als verschiedene Verbindungen, da sie sich in ihren atomaren Strukturen voneinander unterscheiden. 29 Schließlich werden die mentalen Phänomene durch materielle Neuronen nicht nur substanziell, sondern auch strukturell bzw. durch bestimmte Strukturen der neuronalen Zustände und Prozesse verursacht. Die Emergenz in der ontologischen Kausalität ist nicht allein eine Emergenz der Qualitäten, sondern des Seinsmodus selbst, dessen Wirklichkeit eine Wirklichkeit an sich ist und sich als solche von der ontologischen Ursächlichkeit unterscheidet. Die Emergenz ist hier die Basis einer ontologischen Differenz zwischen der Wirklichkeit und der ontologischen Ursächlichkeit der Individuation materieller und mentaler Phänomene. Aufgrund dieser Emergenz, die eine Differenz im Seinsmodus zwischen Form und Struktur der Individuation herbeiführt, bleibt die ontologische Kausalität unzureichend. Die elementaren Seinsmodi bewirken zwar die Existenz eines höheren Seinsmodus – dargestellt in jedweder Individuation der Phänomene –, aber diese ontologische Verursachung ist kein hinreichendes Faktum, die Emergenz der Individuation bzw. ihre Wirklichkeit zu 29
Vgl. Thaliath, Ontological Causation, a. a. O., S. 44–45.
290 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Strukturelle und Substanzielle Ursächlichkeit
begründen. Denn bei der Individuation wird ein Faktum der bloß emergenten Wirklichkeit zu der ontologischen Verursachung (durch die elementaren Seinsmodi) hinzugefügt, woraus sich jene ontologisch irreduzible Form der Individuation ergibt. Was die oben erörterte substanzielle Ursächlichkeit betrifft, in der die elementaren Substanzen die Individuation einer komplexeren Substanz ontologisch verursachen, so bleibt die ontologische Kausalität hinsichtlich der unerklärlichen – und als solche aporetischen – Emergenz der Wirklichkeit mehr oder weniger unzureichend. Das gilt ebenso für die strukturell-ontologische Ursächlichkeit, die bei der Individuation mit der substanziellen Ursächlichkeit korreliert. Es gibt aber bestimmte Fälle der ontologischen Kausalität, in denen die emergenten Qualitäten vornehmlich durch die strukturell-ontologische Ursächlichkeit zustande kommen und demnach keinen ontologischen Sprung in einer substanziell-ontologischen Ursächlichkeit voraussetzen. Die ätiologischen Strukturen der Individuation mechanischer Phänomene liefern viele Beispiele für eine derartige zureichende ontologische Kausalität, in der sich die Wirklichkeit der phänomenalen Individuation auf ihre Ursächlichkeit ontologisch reduzieren lässt. Zum Beispiel werden die mechanischen Zustände des Wassers – nämlich das flüssige Wasser, das solide Eis und der gasförmige Dampf – allein durch die verschiedenen molekularen Strukturen ontologisch verursacht. Da diese mechanischen Zustände aus derselben Substanz bestehen, können sie – bzw. ihre wirklichen Formen – auf eine einheitlich-substanzielle Basis ontologisch reduziert werden. Die mechanisch-qualitativen Unterschiede zwischen Wasser, Eis und Dampf basieren auf den verschiedenen Strukturen der Wassermoleküle. Aber substanziell erweisen sie sich als einheitlich. Das Prinzip der hinreichenden ontologischen Ursächlichkeit besteht darin, dass die Form der phänomenalen Individuation keine substanziell-emergente, sondern lediglich eine strukturellemergente Form ist und sich demgemäß substanziell-ontologisch von den ursächlichen Seinsmodi (hier den Wassermolekülen) nicht unterscheidet. D. h. die Emergenz dieser mechanischen Zustände ist keine substanziell-ontologische, sondern allein eine strukturell-ontologische Emergenz. Indem die Wassermoleküle in verschiedenen Strukturen die mechanischen Zustände des Wassers entstehen lassen, bilden sie eine zureichende ontologische Kausalität. Die zureichende ontologische Kausalität verweist auf zureichende ätiologische Strukturen, die den wissenschaftlichen Axiomen zu291 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Aporien der phänomenalen Individuation
grunde liegen. Die zureichende ontologische Kausalität bestimmt demnach die epistemologische und ontologische Geschlossenheit und Vollkommenheit der wissenschaftlichen Kontextualität. Eine unzureichende ontologische Kausalität deutet dagegen auf die den wissenschaftlich-axiomatischen Grundsätzen und -formen immanenten unvollkommenen ätiologischen Strukturen und demnach auf die Unvollkommenheit der wissenschaftlichen Kontextualität. Die annähernde Geschlossenheit und Vollkommenheit der Wissenschaft der Mechanik lassen sich auf die Geschlossenheit und Adäquatheit der ontologisch-ätiologischen Strukturen, die ihren axiomatischen Grundsätzen immanent sind, zurückführen. Und gerade in diesem Faktum der den Axiomen immanenten ätiologischen Strukturen unterscheidet sich die Wissenschaft der Mechanik von der der Physik, die eine mathematische und zugleich eine materielle Wissenschaft ist. Die Unabgeschlossenheit und Unvollkommenheit der ätiologischen Strukturen würden historisch dazu führen, dass sich die Wissenschaften in andere Wissenschaftsdomänen ausweiten. Dennoch bestimmen die axiomatisch-ätiologischen Strukturen sowohl in ihrer Geschlossenheit und Vollkommenheit als auch in ihrer unabgeschlossenen und unvollkommenen Existenzweise die Grenzen der wissenschaftlichen Domänen und dadurch ihre historische Kontextualisierung. Im nächsten Kapitel untersuchen wir, wie die historische Abgrenzung, Ausweitung sowie die interdisziplinären Übergänge der wissenschaftlichen Kontextualität ontologisch bzw. durch die den wissenschaftlichen Axiomen zugrunde liegenden ontologisch-ätiologischen Strukturen mitbestimmt werden.
292 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Kapitel 7 Kontextualität als Grenze der ontologischen Ursächlichkeit
Das Verhältnis zwischen makroskopischen und mikroskopischen Phänomenen Die historisch-kontextuale Entstehung und Entwicklung der Wissenschaften bildeten letztendlich eine domaniale Ausweitung des Wissenschaftsbereiches. Im Prozess der historischen Kontextualisierung kann eine einzelne Wissenschaft aus einem bereits etablierten Wissenschaftsbereich heraustreten und eventuell beginnen, sich von ihm zu demarkieren. Jede einzelne Wissenschaft definiert sich primär durch ihre domaniale Grenze, was die territorialen Abstimmungen gegenüber den mit ihr verwandten Wissenschaften voraussetzen. Die domaniale Abgrenzung, Demarkierung sowie Ausweitung der Wissenschaften ähneln mehr oder weniger der territorialen Autonomisierung, den Disputen sowie dem Abkommen zwischen den Ländern; die Politik derartiger Prozesse in der Entwicklungsgeschichte der Wissenschaften soll im Folgenden untersucht werden. Die domaniale Entstehung und Ausweitung einer bisher unbekannten oder nicht hinreichend etablierten Wissenschaft führt nicht nur zur historisch-kontextualen Abgrenzung oder Demarkierung gegenüber anderen Wissenschaften, sondern auch zu interdisziplinären Übergängen in benachbarte Wissenschaftsgebiete. Zwischen den Wissenschaften bestimmt die Interdisziplinarität jene gemeinsame Domäne, die demnach tendenziell – um noch einmal auf den Ländervergleich zurückzukommen – den territorialen Ansprüchen und Disputen unterworfen ist. Die Ausweitung der Wissenschaften ist im Vergleich zu der territorialen Ausweitung der Länder nicht allein ein horizontales Phänomen; sie ist vielmehr eine Ergründung der ontologischen Tiefen der Phänomene mit dem allgemeinen Leitmotiv, dass die domaniale Vertiefung die Wirklichkeit der wissenschaftlich zu untersuchenden Phänomene kausal erklärt. Die domaniale Ausweitung der Wissen293 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Kontextualität als Grenze der ontologischen Ursächlichkeit
schaften ist somit prinzipiell eine Vertiefung der ontologisch-ätiologischen Strukturen, die den wissenschaftlichen Axiomen zugrunde liegen. Historisch schien diese Ausweitung maßgeblich durch den Übergang der mathematischen in die materiellen Wissenschaften im 17. und 18. Jahrhundert dargestellt zu werden. Die Emergenz der materiellen Wissenschaften wie Physik und Chemie aus der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie und ihrem gesamt-historischen Kontext liefert zahlreiche Beispiele für die domaniale Ausweitung der Wissenschaften bis auf die ontologisch-ätiologischen Tiefen. Der Übergang der mathematischen Wissenschaften wie der klassischen Mechanik und der Optik in die klassische Physik, die zugleich eine mathematische und eine materielle Wissenschaft ist, hat sich im Grunde als eine axiomatische Vertiefung der Wissenschaft hin zu den ontologisch-ätiologischen Finalitäten der Phänomene erwiesen, die im Rahmen dieser Wissenschaften untersucht wurden. Durch die Ergründung der rein physikalischen Struktur des Lichtes erhoffte man sich, die optischen und dioptrischen Eigenschaften des Lichtes sowie ihre physiologische Wirkung in der Vision kausal zu erklären. Ebenso wurde versucht, die mechanischen Kraftphänomene – insbesondere die Fernwirkung des Magnetismus und die der Gravitationskraft – auf die materiell-phänomenale Basis kausal zurückzuführen. Von der antiken Atomistik oder minima naturalia von Aristoteles bis hin zu der frühneuzeitlichen Atomistik und den Korpuskulartheorien, die im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie entstanden, belegen zahlreiche Vorstellungen das philosophische Leitmotiv, nämlich die makroskopisch-phänomenale Wirklichkeit durch mikroskopisch-phänomenale Strukturen zu erklären. Ein derartiges Leitmotiv kann sowohl als klare philosophische Auslegung der Phänomene und ihrer Eigenschaften (wie in der Atomistik oder der Korpuskularphilosophie) als auch in Form eines philosophischen Hintergedankens in Erscheinung treten. Die Suche nach der finalen und irreduziblen materiellen Realität in der Atomistik und den Korpuskularphilosophien wurde dabei nicht nur durch eine bloße ontologische Neugier, die der Vielfalt der Phänomene innewohnende Grundsubstanz zu finden (wie es deutlich bei den vorsokratischen Philosophien zum Ausdruck kam), initiiert und vorangetrieben. Jene Suche wurde auch durch ein klares epistemologisches Motiv begleitet, nämlich die makroskopische Phänomenelität durch mikroskopische bzw. elementar-phänomenale Strukturen kausal zu 294 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Das Verhältnis zwischen makroskopischen und mikroskopischen Phänomenen
erklären. Das kartesische Vorhaben, das Phänomen der magnetischen Fernwirkung durch bestimmte mechanische Formen der elementarkorpuskularen Teilchen, durch die sich die magentische Fernwirkung im Freiraum ausdehnt, kausal zu erklären, bildet eine rein mechanisch-philosophische Unternehmung. Die Aporie des magnetischen Phänomens, die diese und derartige Unternehmungen in der Frühneuzeit (bei Descartes, Newton, Hooke u. a.) zum Scheitern brachte, basiert letztendlich auf der Ontologie des Magnetismus bzw. der magnetischen Fernwirkung, die den Rahmen der von Descartes, Newton, Hooke, Huygens, Boyle u. a. vertretenen frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie sprengt. In Principia unternahm Newton bekanntlich keinen Versuch, das Kraftphänomen kausal zu erklären bzw. es auf eine materiellkausale Basis innerhalb des Rahmens der Mechanischen Philosophie zurückzuführen. Wie vorher erörtert wurde, bezieht sich in seinem Hauptwerk die mathematische Demonstrierung als Axiomatisierung der mechanischen Phänomene eher auf ihre Wirkungsebene. Die Ontologie der mechanischen Kräfte schließt aber neben ihrer Wirklichkeit notwendigerweise ihre Ursächlichkeit – und zwar eine materielle Ursächlichkeit – in sich ein, die dem Kontext der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie nicht widerspricht: »An assessment of Newton’s general position concerning the ontological problem of force depends on which Newton we choose to consider: the Newton of Principia, or the Newton we find in the Queries of the Opticks, in the post-1687 manuscript drafts and revisions relating to Principia and the Opticks, and in the early De Gravitatione? It has already been noted that Principia does not deal with the philosophical status of the forces there introduced by Newton. In Principia he is not concerned with investigations of anything other than their mathematical description, employed as an explanatory device subject to empirical and experimental control. This side to the nature and purpose of Principia is made fully explicit in several passages. For example, in the Scholium to Section XI of Book I we read: ›I here use the word attraction in general for any endeavour whatever, made by bodies to approach each other … In the same general sense I use the word impulse, not defining in this treatise the species or physical qualities of forces, but investigating the quantities and mathematical proportions of them; as I observed before in the Definitions.‹« 1
Gabbey, Alan: Force and inertia in seventeenth-century dynamics, in: Studies in History and Philosophy of Science, 2 (1971), S. 10–11.
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Kontextualität als Grenze der ontologischen Ursächlichkeit
Die geometrisch-mathematische Axiomatisierung der mechanischen Phänomene auf ihrer Wirkungsebene schien bei Newton eine strategische wissenschaftliche Maßnahme zu sein. Denn Newton wollte eine metaphysische Letztbegründung der mechanischen Phänomene, wie sie in den Untersuchungen von Descartes und Leibniz zutage tritt, vermeiden. 2 Die geometrisch-mathematische Axiomatisierung wäre diesbezüglich wie ein Terminus, der – auf dem Weg zwischen Physik und Metaphysik – den Übergang der physikalischen Erklärung in die Metaphysik blockiert bzw. stoppt. Die strategische geometrisch-mathematische Axiomatisierung wäre demnach eine konstante Maskierung der mechanischen Phänomene (wie vorher erörtert wurde), was uns hindert, die bloße Wirkungsebene anschaulich zu durchdringen bzw. eine tiefere materielle Ursachenebene, die hinter der mechanischen Wirklichkeit verborgen bleibt, zu beleuchten. Bei Newton ist aber eine lange Phase der vergeblichen Untersuchung der kausalen Basis der mechanischen Kräfte nachzuweisen. Das Problem der wahren Natur der mechanischen Kräfte, die Newton zu bewältigen suchte, bezog sich offensichtlich auf die rätselhafte materielle Basis der Kräfte, die über den Rahmen der Klassischen Mechanik hinausgeht und folglich in einer materiellen Wissenschaft, nämlich in der Chemie, zu suchen ist: »Between 1687 and the appearance of the second English edition of the Opticks (1717–18), Newton wrestled with the problem of determining the nature of those hidden forces which he felt were the ultimate causes of the enormous range of phenomena, principally chemical in nature, and including gravitation, which were not physically explicable within the framework of his mechanica rationalis. We recall the wistful lines in Principia itself: ›I wish We could derive the rest of the phenomena of Nature (other than the motions of the planets, the comets, the Moon, and the sea) by the same kind of reasoning from mechanical principles, for I am induced by many reasons to suspect that they may all depend upon certain forces by which the particles of bodies, by some causes hitherto unknown, are either mutually impelled towards one another, and cohere in regular figures, or are repelled and recede from one another. These forces being unknown, philosophers have hitherto attempted the search of nature in vain; but I hope the principles here laid down will afford some light either to this or some truer method of philosophy.‹« 3 2 3
Ebd. Ebd., S. 11–12.
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Das Verhältnis zwischen makroskopischen und mikroskopischen Phänomenen
Die Bewegungen der Planeten und Kometen, des Mondes sowie der Meere sind angemessene Untersuchungsgegenstände der Klassischen Mechanik. Die Teilchen der Körper sind wiederum Körper auf der mikroskopischen Ebene. Auf der makroskopischen Ebene lassen sich die mechanischen Phänomene geometrisch-mathematisch demonstrieren und dadurch mechanisch axiomatisieren. Auf der mikroskopischen Ebene ist jene Ursächlichkeit der mechanischen Kräfte zu suchen. Bei seinen wiederholten Unternehmungen, die Anwendbarkeit der mechanischen Prinzipien von der makroskopischen auf der mikroskopischen Ebene zu erweitern, stößt Newton immer wieder auf das Mysterium der verborgenen Natur, die sich dem mechanica rationalis nicht unterwerfen lässt: »Seeing therefore the variety of Motion which we find in the World is always decreasing, there is a necessity of conserving and recruiting it by active Principles, such as are the cause of Gravity, by which Planets and Comets keep their Motions in their Orbs, and Bodies acquire great Motion in falling; and the cause of Fermentation, by which the Heart and Blood of Animals are kept in perpetual Motion and Heat; the inward Parts of Earth are constantly warm’d, and in some places grow very hot; Bodies burn and shine; Mountains take fire, the Caverns of the Earth are blown up, and the Sun continues violently hot and lucid, and warms all things by his Light. For we meet with very little Motion in the World, besides what is owing to these active Principles. And if it were not for these Principles, the Bodies of the Earth, Planets, Comets, Sun, and all things in them, would grow cold and freeze, and become inactive Masses, and all Putrefaction, Generation, Vegetation and Life would cease, and the Planets and Comets would not remain in their Orbs.« 4
Bei der Ergründung der mechanischen Wirkungen auf deren Ursachen, bzw. auf die ursächliche Natur der Kräfte, gelangte Newton stets zu jener phänomenalen Aporie. Die Anziehung zwischen Körpern impliziert eine anziehende Kraft zwischen den Körpern. Ebenso impliziert die Trägheit des Körpers, die den Körper sowohl in seinem Trägheitsruhezustand als auch in seinem Trägheitsbewegungszustand erhält, ein Kraftprinzip, dessen ontologische Natur uns unbekannt ist. Demnach scheint das Bewegungsprinzip allein durch die Kraftprinzipien kaum hinreichend erklärt zu werden. Denn ihre Ontologie, die ihre Wirklichkeit auf eine angemessene und finale Ursächlichkeit
Newton, Isaac Sir: Opticks, based on the 4th edition of 1730, New York 1952, 399– 400.
4
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Kontextualität als Grenze der ontologischen Ursächlichkeit
zurückführt, geriet im Dunkel bzw. im Mysterium der Natur und bleibt als solches unserem rationalen Verstand versagt: »I have hitherto been arguing from the effects to their causes & carried the argument (as high as) up to certain forces (the powers) by wch little bodies act on one another at small distances. These Forces may be reckoned among the laws of motion (referred to an active principle) but whether they depend on bodies alone may be a question. For Bodies (alone considered as long, broad & thick …) are passive. By their vis inertiae they continue in their state of moving or resting & receive motion proportional to ye force impressing it & resist as much as they are resisted; but they cannot move themselves; & without some other principle than the vis inertiae there could be no motion in the world. (And what that Principle is & by (means of) [what?] laws it acts on matter is a mystery or how it stands related to matter is difficult to explain). And if there be another Principle of motion there must be other laws of motion depending on that Principle. And the first thing to be done in Philosophy is to find out all the general laws of motion (so far as they can be discovered) on wch the frame of nature depends. (For the powers of nature are not in vain. … And in this search metaphysical arguments are very slippery. A man must argue from phenomena). We find in orselves a power of moving our bodies by or thoughts (but the laws of this power we do not know) & see ye same power in other living creatures but how this is done & by what laws we do not know. And by this instance & that of gravity it appears that there are other laws of motion (unknown to us) than those wch arise from Vis inertiae (unknown to us) wch is enough to justify & encourage or search after them. We cannot say that all Nature is not alive.« 5
Die Lösung der phänomenalen Aporie setzt eine stetige Ergründung der Phänomene von ihrer uns erfahrbaren Wirkungsebene bis hin zu einer finalen Kausalbasis voraus. Jede Kausalbegründung würde weiterhin der Ursachen bedürfen, die das Kausalphänomen verursachen oder entstehen lassen; eine absolut finale Ursache oder Ursachenbasis im Falle der phänomenalen Aporie scheint aber ein neues Rätsel bzw. eine neue epistemologische Aporie hervorzubringen. Wie den oben zitierten Betrachtungen Newtons zu entnehmen ist, war er sich über die mechanischen Phänomena auf der Wirkungsebene im Klaren. In Ungewissheit geriet er jedoch, als er sie von ihrer Wirklichkeit auf ihre Ursächlichkeit zurückzuführen suchte. Die Phänomenalität der Bewegung lässt sich zwar epistemologisch auf bestimmte mechanische Kräfte oder Kraftprinzipien zurückführen, aber was solche 5
Cambridge University Library, Add. 3970, f. 620r, quoted in McGuire, op. cit., 170-I.
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Das Verhältnis zwischen makroskopischen und mikroskopischen Phänomenen
Kräfte letztendlich sind, entzieht sich unserem Erkenntnisvermögen. Die phänomenale Wirkungsebene der Kräfte wie Gravitation oder eines Kraftprinzips wie Trägheit ist demnach eine Makroebene, und zwar eine Makroebene der mechanischen Wirklichkeit. Ihre Ursächlichkeit auf einer materiellen Mikroebene sollte sich im Prinzip ebenso mechanisch (wie ihre Wirklichkeit auf der Makroebene) erklären lassen. Die Letztbegründung der mechanischen Phänomene ist demnach seine ontologische Letztbegründung auf einer – ihm zugrunde liegenden – Mikroebene der materiellen Ursächlichkeit. Wie bereits dargelegt wurde, erweist sich jedoch eine derartige Letztbegründung der mechanischen Phänomene auf einer Mikroebene, was ihre wissenschaftliche Axiomatisierung voraussetzt, immer wieder als eine Aporie. Die Ursache der Anziehung zwischen Körpern würden wir Gravitation oder Magnetismus nennen, aber was sie sind, oder wie sie ontologisch verursacht werden, entzieht sich unserem Verstand. Ebenso ist die Letztbegründung des mechanisch-phänomenalen Trägheitsruhezustands und -bewegungszustands der Körper lediglich eine ontologische Bestimmung, nämlich die Trägheit der Körper selbst. Aber wir können die Ontologie der Trägheit, die uns auf einer Makroebene der mechanisch-phänomenalen Wirklichkeit folgerichtig erscheint, auf einer materiellen Mikroebene der Körper nicht begründen. Hier scheint uns sowohl die Existenzweise als auch die ontologische Ursächlichkeit der Trägheit (die die Trägheitszustände der Körper entstehen lässt) auf einer materiellen Mikroebene ein Rätsel, genauer gesagt eine phänomenale Aporie, zu sein. Im vorigen Kapitel haben wir erörtert, wie die phänomenale Wirklichkeit eine Wirklichkeit an sich bildet, die sich nicht auf eine ontologische Ursachenbasis zurückführen lässt. Jede phänomenale Wirklichkeit bildet in diesem Sinne eine Makroebene, die – wie eine Maske – die ihr innewohnenden elementaren Phänomene und deren ontologische Ursächlichkeit auf einer Mikroebene verbirgt bzw. verschleiert. Eine derartige phänomenale Verschleierung der ursächlichen Mikroebene durch eine wirkliche Makroebene tritt bei jeder Stufe der Struktur der phänomenalen Wirklichkeit zutage. Allerdings erlangt sie Vollkommenheit erst bei der Emergenz der mentalen aus den materiellen bzw. neuronalen Phänomenen. Denn die Emergenz der mentalen Phänomene ist – wie bereits beschrieben wurde – keine partielle, sondern eine vollkommene Emergenz. Mit anderen Worten: Es besteht ein unbedingter ontologischer Unterschied zwischen der mentalen Wirklichkeit und ihrer materiellen Ursächlichkeit. Allen 299 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Kontextualität als Grenze der ontologischen Ursächlichkeit
diesen Beispielen ist zu entnehmen, dass sich die Makroebene der phänomenalen und der mentalen Wirklichkeit durch ihre elementare Ursächlichkeit auf einer Mikroebene kaum hinreichend erklären lässt. Diese Aporie, die bei den mathematischen Wissenschaften wie der Mechanik und der Optik viel deutlicher in Erscheinung tritt und bei der Emergenz der mentalen Phänomene Vollkommenheit erlangt, charakterisiert alle Formen der phänomenalen Individuation. Die ontologische Finalität der materiellen und der mentalen Phänomene auf ihrer Makroebene bestimmt auch die Grenzen der Kontextualität der Wissenschaften, die auf jener Gattung der Phänomene territorial aufbauen. Die wissenschaftliche Kontextualität, die in dieser Weise ihre phänomenale Domäne aus der ontologischen Finalität entwickelt, und die zugleich die ontologisch-ursächliche Basis der elementaren Phänomene (auf jener Mikroebene) in sich einschließt, bildet eine interne bzw. intrinsische Kontextualität, die in erster Linie durch jene objektiv-domaniale Abgrenzung entsteht. Eine derartige Kontextualität scheint dem Subjekt gegeben und demnach der subjektiven bzw. der vorher erörterten externen Kontextualisierung kaum unterworfen zu sein. Denn die Grenzen der wissenschaftlichen Kontexte werden hier eher objektiv – durch gegenständliche Domänen – bestimmt. Die domaniale Abgrenzung der Wissenschaften, woraus sich ihre Kontextualität ergibt, ist streng genommen keine subjektive Bestimmung, sondern eine gegenständliche Angelegenheit; sie wird eher objektiv-ontologisch als rein subjektiv-epistemologisch definiert. Die domaniale Grenzziehung der Wissenschaften bezieht sich unmittelbar auf die (oben erörterte) ontologische Irreduzibilität und Finalität der Phänomene auf ihrer wirklichen Makroebene. Die Wirklichkeit der Phänomene als eine Wirklichkeit an sich, die sich nicht allein auf eine intrinsische Ursachenbasis reduzieren lässt, scheint dem subjektiv-epistemologischen Streben, die Grenzen der wissenschaftlichen Kontexte auszuweiten und sich die Wissenschaftsdomänen territorial anzueignen, entgegenzuwirken. Diese ontologisch-kausale Irreduzibilität der Phänomene – abgesehen von ihrem rein mentalen oder materiellen Zug – setzt den gegenständlichen Domänen, innerhalb derer sich die Wissenschaften etablieren, klare und unüberschreitbare Grenzen. Die darauf basierende wissenschaftliche Kontextualisierung ist demnach eine kontextuale Grenzziehung. Sowohl die kontextuale Abgrenzung als auch die kontextuale Ausweitung oder Übergänge der Wissenschaften werden prinzipiell 300 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Ontologie der raumwissenschaftlichen Intuitionen
auf ihrer axiomatischen Ebene realisiert. Die Ausweitung der Wissenschaften ist grundsätzlich eine Ausweitung ihrer axiomatischen Grundlagen; ebenso liegen ihren domanial-kontextualen Abgrenzungen die Grenzen ihrer axiomatischen Grundlagen und deren ontologische Finalität zugrunde. Die historische Kontextualisierung der Wissenschaften gründet daher auf die Historizität der wissenschaftlichen Axiomatisierung. Wie zuvor dargelegt wurde, entstehen die wissenschaftlichen Axiome aus einer Korrelativierung zwischen der subjektiven Epistemologie und der objektiv-gegenständlichen Ontologie. Wenn sich die gegenständlichen Domänen ontologisch voneinander abgrenzen, wird diese Korrelativierung eher durch die objektiv-ontologische Basis der Wissenschaften bestimmt. Sowohl die axiomatische Letztbegründung, die als eine subjektiv-epistemologische Leistung zu werten ist, als auch die phänomenale Aporie, die auf die Grenzen des subjektiven Erkennens verweist, ergeben sich aus dieser axiomatischen Korrelativierung in der historischen Etablierung der Wissenschaften. Allerdings setzt die axiomatische Letztbegründung die Finalität der ontologischen Ursächlichkeit der Phänomene auf ihrer Mikroebene voraus. Wenn sich dagegen die Axiomatisierung lediglich auf eine Wirklichkeit der Phänomene (auf der Makroebene) beschränkt, wie der oben erörterte Fall der materiellen Wissenschaften zeigt, bildet die axiomatische Korrelativierung von Epistemologie und Ontologie einen historisch unvollendeten Prozess, der demnach die weitere historische Kontextualisierung zuwege bringt.
Die Ontologie der raumwissenschaftlichen Intuitionen Wir haben bereits erörtert, wie der Freiraum den raumwissenschaftlichen bzw. geometrischen, mechanischen und optischen Intuitionen als Basis dient, und wie seine ontologische Irreduzibilität und Finalität den axiomatischen Intuitionen in diesen mathematischen Wissenschaften Apriorität und Apodiktizität verleiht. Die geometrische Mathematisierung der mechanischen und optischen Phänomene – wie z. B. die Linearität und Richtungseinheit der Kräfte (die sich demnach in geometrischen Vektoren darstellen lassen), die geometrische Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit der Bewegung der Körper und des Lichtes usw. – verdankt der absolut zuverlässigen Ontologie des Freiraumes ihre Axiomatizität und Apodiktizität. Diese ontologisch 301 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Kontextualität als Grenze der ontologischen Ursächlichkeit
sichere Basis des Freiraumes impliziert auch die ebenso sicheren bzw. vollkommen geschlossenen ontologisch-ätiologischen Strukturen innerhalb der raumwissenschaftlich-axiomatischen Intuitionen, denen der freiräumliche Hintergrund als Basis dient. Worin aber liegt die absolute ontologische Sicherheit des Freiraumes und der – daran anschließenden – Geschlossenheit der ontologisch-ätiologischen Strukturen der freiräumlichen Intuitionen in den Wissenschaften der Mechanik und der Optik? Die ontologische Sicherheit des Freiraumes basiert offensichtlich auf einem objektiven Faktum, dass der Freiraum – abgesehen von seiner Extension – ein Nichts ist, d. h. lediglich ein ausgedehntes Nichts ohne materielle Gegenständlichkeit. Als rein ausgedehntes Nichts ist der Freiraum, in dem man sich die raumwissenschaftlichen Phänomene subjektiv vorstellt und in dem sie objektiv entstehen, eine ontologisch finale, irreduzible und als solche absolut zuverlässige Entität, die der Epistemologie der raumwissenschaftlich-axiomatischen Intuitionen Sicherheit bzw. Apodiktizität verleiht. In diesem Zusammenhang ist es interessant anzumerken, dass in der Wissenschaft der Ontologie das Nichts bzw. die Leere des Freiraumes gegenüber der etwaigen materiellen Gegenständlichkeit ein sicheres Faktum darstellt. Denn das Nichts, bzw. die leere Ausdehnung, erweist sich in seiner Modalität sowohl in der apriorischen Vorstellung als auch in seiner aposteriorischen Gegebenheit als gänzlich einheitlich. Dagegen wird die Existenz der materiellen Gegenständlichkeit zum Problem, da sie sich von der objektiv-phänomenalen Ebene, in der sie sich befindet, kaum in Gänze auf die rein subjektive Vorstellungsebene übertragen lässt. Indem der Freiraum – als Hintergrund axiomatischer Intuitionen – den frühneuzeitlich-klassischen Raumwissenschaften die ontologisch-ätiologische Geschlossenheit auf ihrer axiomatischen Ebene verleiht, ist die Kontextualität der modernen Raumwissenschaften historisch mehr oder weniger intakt geblieben. Die euklidisch-synthetische und kartesisch-analytische Geometrie bilden immer noch die mathematische Basis der Klassischen Mechanik und der Geometrischen Optik. Die frühneuzeitlich-klassischen Wissenschaften werden bis heute fast unverändert in den Schulen unterrichtet und in den Ingenieurwissenschaften angewandt. Auch wenn von vielen gegenwärtigen Philosophen und Naturwissenschaftlern angenommen wird, dass die einsteinsche Relativitätstheorie und Einsteins – daran anschließendes – System der Mechanik die lange tradierte newtonsch-klassische Mechanik paradigmatisch überholt haben, basieren 302 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Ontologie der raumwissenschaftlichen Intuitionen
noch immer die klassischen Ingenieurwissenschaften, wie das Bauwesen und der Maschinenbau, zum großen Teil auf der Klassischen Mechanik und der euklidisch-kartesischen Geometrie. Vom Brückenbau oder Entwurf eines Automobils bis zur Raketentechnik stützen die Ingenieure auf die Prinzipien der newtonsch-klassischen Mechanik. Eine derartige kontextuale Nachhaltigkeit verweist auf absolut sichere und unfehlbare axiomatische Grundlagen dieser Wissenschaften, die sich historisch-kontextual weder überholen noch interdisziplinär auflösen lassen. Die geometrisch-mathematische Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit verleihen den Axiomen der Mechanik und der Optik Vollkommenheit und Geschlossenheit ihrer ontologisch-ätiologischen Strukturen, wie vorher erörtert wurde. Die axiomatischen Vorstellungen von Kräften und Kraft- und Bewegungsstrukturen, wie die Trägheit, die Gravitation oder das Parallelogramm-Gesetz, sind grundsätzlich Bestimmungen auf einer Wirkungsebene, wobei ihre kausalen Erörterungen – im Kontext der newtonsch-klassischen Mechanik – kaum in Frage zu kommen scheinen. D. h. diese Axiome beschreiben mechanische Grundphänomene, als würde ihre ontologische Wirklichkeit mit ihrer ontologischen Ursächlichkeit koinzidieren (was eine gewöhnliche Zweiteilung zwischen Wirkung und Ursache auf der axiomatischen Ebene der Wissenschaft invalidiert). Eine derartige Koinzidenz zwischen Wirklichkeit und (ontologischer) Ursächlichkeit mechanischer Phänomene, die ihre Axiomatizität ausmacht, lässt sich letztendlich auf die Ontologie, bzw. auf die ontologische Finalität und Irreduzibilität des Freiraumes, zurückführen. Die Existenzweise des Freiraumes – als ein lediglich ausgedehntes Nichts auf seiner Wirkungsebene – lässt sich auf keine ontologische Ursächlichkeit zurückführen. Mit anderen Worten: In der Beschaffenheit des Freiraumes koinzidiert seine Wirklichkeit mit seiner ontologischen Ursächlichkeit. Die Leere ist demnach eine Wirklichkeit an sich, die aber gegenüber jener irreduziblen Wirklichkeit materiell-phänomenaler Individuationen einen höheren ontologischen Status hat. Zwar wurde in den klassischen Raumwissenschaften, wie der Mechanik und der Optik, mit materiell-phänomenalen Individuationen (dargestellt in den mechanischen Kraft- und Bewegungsstrukturen der Körper oder in den optischen und dioptrischen Eigenschaften des Lichtes) operiert, aber die strukturellen Intuitionen der Kraft- und Bewegungsstrukturen, aus denen sich die axiomatischen Erkenntnisse dieser Wissenschaften ergeben, sind not303 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Kontextualität als Grenze der ontologischen Ursächlichkeit
wendigerweise freiräumliche Intuitionen – bzw. Intuitionen, denen der Freiraum als Basis dient. Im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie hatte die Einbeziehung der Materie, die aus dem Abbau des mechanischen Körpers resultiert, zur Folge, dass die Geschlossenheit der disziplinären Kontextualität dieser Wissenschaften in jene ungeschlossene interdisziplinäre wissenschaftliche Kontextualität überging. Der historische Übergang der frühneuzeitlich-mathematischen Wissenschaften in die materiellen Wissenschaften – wie z. B. der Übergang der Klassischen Mechanik in die Physik und der Geometrischen Optik in die Physikalische Optik – war zugleich ein Übergang von der disziplinären Geschlossenheit und Kompaktheit der mathematischen Wissenschaften in die offene Interdisziplinarität der materiellen Wissenschaften. Die ontologisch-ätiologischen Strukturen, auf denen die Interdisziplinarität der Wissenschaften basiert, bildeten demnach keine geschlossene wissenschaftliche Kontextualität, was die Historizität der materiellen Wissenschaften (gegenüber der historisch-kontextualen Nachhaltigkeit der mathematischen Wissenschaften) nachweist. Die Einbeziehung der Materie in die ursprünglichen klassischen Wissenschaften wurde auch dadurch veranlasst, dass der Körper als eine einheitliche Entität (im Rahmen der Klassischen Mechanik) in eine Vielheit von elementaren Teilchen, nämlich von Korpuskeln oder Atomen, zerlegt wurde. Die Eigenschaft der Korpuskeln – ihre Form, Bewegung usw. – wurde zunächst zwar mechanisch bestimmt, aber die Natur der Existenzweise der Korpuskeln oder Atome konnte mit der mathematisch reduzierten Entität Körper in der Wissenschaft der Klassischen Mechanik kaum gleichgesetzt werden. Denn die Korpuskeln oder Atome als innenkörperliche Einheiten bauten die Einzelheit und Irreduzibilität des Körpers im Rahmen der Mechanischen Philosophie ab. Die Entwicklung der Korpuskularphilosophie von Boyle, Descartes u. a. sowie des Atomismus von Gassendi, Locke, Hobbes u. a. wurde grundsätzlich durch ein Leitmotiv der materiellkausalen Letztbegründung der Phänomene – besonders der phänomenalen Aporien – initiiert und vorangetrieben. Genau genommen dienten die Korpuskeln Descartes, Boyle u. a. als rein mechanischkausale Erklärung der mentalen Qualia, wie Geschmack, Wärme, Kälte oder Geruch, und der mechanischen und materiellen Phänomene wie Gravitation, Magnetismus, Kohäsion, Dissolution, usw. Der historisch-wissenschaftliche Drang nach der Erweiterung der Kausalba304 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die kontextuale Basis der wissenschaftlichen Interdisziplinarität
sis um die Domäne der Materie, die die Vertiefung der ontologischätiologischen Strukturen auf der axiomatischen Ebene veranlassen sollte, wurde primär durch die Tatsache bestätigt, dass die Individuation mentaler Qualia und phänomenaler Eigenschaften epistemologische Aporien bestehen blieben. Hierauf erkennen wir, wie die notwendige Vertiefung der ontologisch-ätiologischen Strukturen auf der axiomatischen Ebene der Wissenschaften, die die Aporie der Individuation mechanischer Phänomene und mentaler Qualia voraussetzte, den historischen Übergang der mathematischen in die materiellen Wissenschaften in der Frühneuzeit zuwege brachte.
Die kontextuale Basis der wissenschaftlichen Interdisziplinarität Woran – bzw. an welchen Charakteristiken – lässt sich die Interdisziplinarität zwischen verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen erkennen? Anders gefragt: Wie werden die Wissenschaftsgebiete interdisziplinär miteinander verbunden? Den Wissenschaftsdisziplinen wird jene Interdisziplinarität zugesprochen, wenn ihnen viele allgemeine Charakteristiken auf verschiedenen Ebenen gemein sind. Diese wären beispielsweise die allgemeinen Charakteristiken der Prämissen, der Axiome (die auf Prämissen basieren), des logischen Aufbaus, der Methode sowie der Ergebnisse. Auf der theoretisch-philosophischen Ebene könnten solche Allgemeinheiten zwischen Wissenschaftsdisziplinen in drei Kategorien eingeteilt werden, nämlich als logische, epistemologische und ontologische Allgemeinheiten. Während sich die epistemologischen Allgemeinheiten prinzipiell auf die Vergleichbarkeit zwischen Wissenschaftsmethoden beziehen, würden die logischen Allgemeinheiten die Analogizität der den epistemologischen Methodologien immanenten Denkstrukturen darstellen. Gegenüber den logischen und den epistemologischen verweisen die ontologischen Allgemeinheiten bezüglich der Interdisziplinarität der Wissenschaften auf jene gemeinsame Aneignung der wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstände und der gegenständlichen Domänen. Hier ist unschwer zu erkennen, dass die kontextuale Basis der wissenschaftlichen Interdisziplinarität primär in ontologischen Allgemeinheiten (unter den Wissenschaftsgegenständen und deren Domänen) zu finden ist.
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Kontextualität als Grenze der ontologischen Ursächlichkeit
Eines der wichtigen epistemologischen Instrumentarien – innerhalb der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie –, das im Prinzip auf der Interdisziplinarität der Wissenschaften basiert, war die Methode der Analogie. So tritt in den Modellen der Analogie die Interdisziplinarität der Wissenschaften deutlich in Erscheinung. Die wissenschaftlichen Analogien beziehen sich scheinbar auf die Methode der wissenschaftlichen Untersuchung; allerdings liegen der Analogizität der wissenschaftlichen Methoden und den epistemologischen Intuitionen (auf denen jede Methode logisch aufbaut) bestimmte ontologische Fakten und Entitäten zugrunde. Denn die Analogisierung ereignet sich in wissenschaftlichen Domänen, die gewisse primäre ontologische Allgemeinheiten (von Gegenständen) aufweisen. Im Grunde setzen die vorrangigen ontologischen Allgemeinheiten zwischen Wissenschaftsdomänen die Analogizität ihrer Prämissen, Methoden sowie der epistemologisch-strukturellen Intuitionen voraus. Ein treffendes Beispiel für ein Modell der wissenschaftlichen Analogie, das im Rahmen der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie eine ursprüngliche Interdisziplinarität zwischen den mathematischen Raumwissenschaften zur Schau stellte, war das kartesische Modell der Analogie zwischen den mechanischen Eigenschaften einer dynamischen Struktur, nämlich der Bewegung und des Rückpralls der Bälle sowie den dioptrischen Eigenschaften der Lichtstrahlen wie Reflexion und Refraktion. In seinem Modell der Analogie zeigt Descartes, wie die dynamischen Bewegungsstrukturen der Bälle und die der Lichtstrahlen durchaus analoge Formen und Gesetzmäßigkeit aufweisen: »Außerdem muß man sich diese Strahlen solange immer als ganz exakt so gerade vorstellen, wie sie nur durch einen einzigen durchsichtigen Körper hindurchgehen, der in sich völlig gleichmäßig ist. Sobald sie aber auf irgendwelche anderen Körper treffen, werden sie unausweichlich von ihnen in derselben Weise abgelenkt oder aufgehoben wie die Bewegung eines Balles oder eines in die Luft geworfenen Steines von den Körpern, auf die er trifft. Denn es ist ziemlich leicht zu glauben, daß die Einwirkung oder die Neigung, sich zu bewegen, die man, wie ich gesagt habe, für das Licht halten soll, hierein denselben Gesetzen folgen muß wie die Bewegung.« 6
Descartes, René: Die Dioptrik, in: Entwurf der Methode. Mit der Dioptrik, den Meteoren und der Geometrie, übersetzt und herausgegeben von Christian Wohlers, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013, S. 77.
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Die kontextuale Basis der wissenschaftlichen Interdisziplinarität
Figur 9 7
Figur 10 8
Sowohl die Bewegung der Bälle als auch die der Lichtstrahlen folgen bei ihrer analogen Phänomenalität – zwischen Rückprall und Reflexion und zwischen der Durchdringung im Wasser und der Refraktion – allgemeinen geometrischen und geometrisch-mechanischen Regeln. Folglich muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass in die Analogie zwischen der Ablenkung der Bewegung der Bälle im Wasser (von der ursprünglichen Linearität) und der Refraktion der Lichtstrahlen, wenn sie in analogerweise von einem Medium in ein 7 8
Ebd., S. 78. Ebd., S. 79.
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Kontextualität als Grenze der ontologischen Ursächlichkeit
anderes eintreten, nicht nur die gänzlich analogen räumlich-geometrischen, -mechanischen und -optischen Strukturen, sondern auch die Materialität des Mediums mit einbezogen ist. Dieses kartesische Modell der Analogie zeigt grundsätzlich eine ursprüngliche Korrelation zwischen den Raumwissenschaften Geometrie, Mechanik und Optik, dargestellt in der Analogizität der Intuitionen ihrer geometrisch-mechanischen und geometrisch-mechanisch-optischen Strukturen. »In der Kartesischen Dioptrik werden die Lichtstrahlen mit sich sehr schnell bewegenden Bällen analogisiert. Die geometrisch-optischen Phänomene wie die Reflexion und Refraktion werden dementsprechend unmittelbar aus den mechanischen Prinzipien der Bewegungsmodi der Bälle – wie sie von konkaven und konvexen, sowie ebenen und unebenen Oberflächen, worauf sie stoßen, abprallen (Analogie zur Reflexion), oder wie sie ein flüssiges Medium durchdringen (Analogie zur Refraktion) – abgeleitet (Figuren 9 und 10). Indem diese Analogien die optischen Phänomene (wie Reflexion und Refraktion) aus mechanischen Prinzipien ableiten und visuell in geometrischer Gesetzmäßigkeit und Proportionalität darstellen, zeigen sie eine gewisse Kongruenz zwischen mechanischen und geometrischen Modi, die der Bewegung des Lichtes inhärent ist. In der Wissenschaft der Geometrischen Optik, wie sie seit ihrer Grundlegung bei Descartes in der Neuzeit entwickelt wurde, wurde anscheinend in dieser Weise eine physikalische Optik anhand ihrer rein mechanischen Prinzipien geometrisiert. Dies besagt, dass die Grundlagen einer derartigen Geometrisierung des physikalischen Lichtes letztendlich in der rein mechanischen Eigenschaft des Lichtes, nämlich der hohen Geschwindigkeit im Raum, liegen. Aus diesen Betrachtungen ist zu folgern, dass der Entwicklung der Wissenschaft der Geometrischen Optik seit der Dioptrik von Descartes eine ursprüngliche Korrelation zwischen Geometrie, Mechanik und Optik als eine notwendige epistemologische Voraussetzung zugrunde liegt. D. h. in der Geometrisierbarkeit des physikalischen Lichtes anhand der ihm zugrunde liegenden rein mechanischen, präziser, dynamischen Gesetze, wie Descartes in seiner Begründung der Wissenschaft der (Geometrischen) Optik unternimmt, korrelieren Geometrie, Mechanik und Optik als Raumwissenschaften miteinander.« 9
Diese ursprüngliche Korrelation zwischen Geometrie, Mechanik und Optik, wie es in diesem Modell der Analogie in Descartes’ Dioptrik dargestellt ist, verdeutlicht auch eine – ebenso ursprüngliche – kontextuale Interdisziplinarität zwischen diesen mathematischen Wissenschaften. Die Basis dieser ursprünglichen Interdisziplinarität ist 9
NSK, S. 56–57.
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Die kontextuale Basis der wissenschaftlichen Interdisziplinarität
zwar dem Schein nach die Analogizität ihrer axiomatisch-strukturellen Intuitionen und der epistemologischen Methoden, die aus den Intuitionen jene Gesetzmäßigkeit der analogen Phänomene ans Licht führen. Aber dem Wesen nach basiert diese wissenschaftliche Interdisziplinarität letztendlich auf der ontologischen Analogizität der Wissenschaftsgegenstände, wie Raum, Zeit, Bewegung usw. Dass sich die Wissenschaften der Mechanik und der Optik geometrisieren bzw. ihre Formen, Prinzipien und deren Gesetzmäßigkeit geometrisch-mathematisch demonstrieren lassen, belegt eine ursprüngliche, und zwar kontextuale Interdisziplinarität zwischen der Geometrie und diesen anfänglichen Naturwissenschaften der Frühneuzeit. In dieser Hinsicht könnte Newtons Principia, dessen Leitmotiv die Demonstration der mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie war, zu einer ersten, und zwar einer der größten, interdisziplinären Untersuchungen der Frühneuzeit gezählt werden. Allerdings scheint der Status der Geometrie als eine Wissenschaft – gegenüber den mathematischen Wissenschaften der Mechanik und der Optik – bis zu einem gewissen Grad fragwürdig zu sein. Denn die – euklidische sowie kartesische – Geometrie hat außer Raum keinen anderen wissenschaftlichen Gegenstand; Zeit, Bewegung und Kräfte sowie die anderen phänomenalen Gegenstände, die im Rahmen der mathematischen Naturwissenschaften untersucht werden, gehören streng genommen nicht zu der Gegenstandsdomäne der Geometrie (obwohl sie sich geometrisch darstellen lassen). 10 Wie bereits festgestellt wurde, liegt die Geometrie als Raumwissenschaft jedoch allen freiräumlichen Intuitionen in den mathematischen Wissenschaften zugrunde. Hier ist Raum eine grundlegende ontologische Entität, die derart der vollkommenste und irreduzibelste Wissenschaftsgegenstand ist, und die demnach die ebenso vollkommene Interdisziplinarität zwischen Geometrie und den Wissenschaften der Mechanik und der Optik veranlasst. Der primäre und einfachste Beleg dieser Interdisziplinarität wäre die vollkommene Analogizität zwischen den axiomatischen Bestimmungen, wie z. B. zwischen der Zwar wurde in dem ursprünglichen geometrischen Verfahren der Infinitesimalrechnung die Bewegung, die ein räumlich-zeitliches Phänomen ist, in der statischen Raumstruktur der Geometrie eingeführt. Aber diese Bewegung in dem ursprünglichen Verfahren der Infinitesimalrechnung – bei Leibniz und bei Newton – dient der geometrisch-mathematischen Operation letztendlich dazu, den Infinitesimal bzw. das Unendlichkleine im Modus einer aktual unendlich kleinen Größe – und zwar im Raummodus – herauszuführen. Vgl. dazu PMS, S. 61 ff.
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Kontextualität als Grenze der ontologischen Ursächlichkeit
Linearität der Gerade und der eines Kraftvektors oder zwischen der linearen Tangente an einer Kurve und der linear-tangentialen Trägheitsbewegungstendenz eines sich auf dieser Kurve bewegenden Körpers. Wenn wir die Bewegungsstrukturen in der Mechanik und der Optik, dargestellt in dem oben erörterten kartesischen Gleichnis, in Betracht ziehen, wird deutlich, wie der sich bewegende Körper analoger geometrischer Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit unterworfen ist. Der gewöhnliche materielle Körper als Gegenstand der Wissenschaft der Mechanik und das Licht bzw. dessen Dynamik in der Wissenschaft der Optik bilden hier durchaus analoge Entitäten, worauf die – oben erörterte – ursprüngliche Korrelation und demgemäß die ursprünglich-kontextuale Interdisziplinarität zwischen diesen Wissenschaften basieren. In seiner Abhandlung Einheit der Welt – Vielheit der Wissenschaft erörtert Lorenz Krüger die Kriterien der disziplinären Einteilung der Wissenschaften. Neben den oben dargelegten Fundamenten der disziplinären Kontextualisierung, nämlich dem Gegenstand und den Methoden, aber auch dem historischen und theoretisch-systematischen Aufbau, ergänzt Krüger das Erkenntnisinteresse als ein wichtiges Kriterium für die disziplinäre Spezifizierung und Trennung der Wissenschaften (die allesamt die Wissenschaft der Disziplinologie ausmachen). Wenn ein Erkenntnisinteresse die Forschung vorantreibt, scheint es eher einen teleologischen Zug anzunehmen. »Wonach also unterscheiden wir Disziplinen? Ich möchte vier Vorschläge kurz betrachten, um an sie eine These darüber anzuschließen, warum wir uns mit den Disziplinen und dem Interdisziplinären so schwer tun. Die erste und ganz schlichte Antwort auf die Frage, wonach wir Disziplinen unterscheiden, lautet: nach dem Gegenstand. Von den Sternen handelt die Astronomie, von den Tieren und Pflanzen die Biologie, von China die Sinologie usw. Ganz ohne diese Banalität ist im Gewirr der Disziplinen schwerlich etwas auszumachen, und doch ist diese Antwort natürlich in hohem Maße naiv und völlig unzureichend. […] Eine zweite mögliche Antwort auf die Frage, wonach wir Disziplinen unterscheiden, lautet: nach ihren Methoden. So könnte man z. B. sagen, dass die Mathematik axiomatische Beweisanfänge ansetzt und von diesem ausgehend ihr Geschäft rein deduktiv erledigt. Es ist auch viel davon die Rede, oder jedenfalls die Rede gewesen, dass die Naturwissenschaften die in ihnen vorgestellten Zusammenhänge durch Erklärungen herstellen, die Geisteswissenschaften hingegen durch Verstehen oder Interpretation. Man kann weiterhin versuchen, gewisse Wissenschaften als experimentell, anders als klassifizierende, wieder anders als historisch-philologische auszuzeichnen.
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Die kontextuale Basis der wissenschaftlichen Interdisziplinarität
[…] Eine dritte Antwort auf die Frage, wonach wir Disziplinen unterscheiden, lautet: nach dem mit einer jeden verbundenen Erkenntnisinteresse. So hat zum Beispiel einer der großen philosophischen Disziplinologen, Wilhelm Windelband, die Naturwissenschaften von den historischen Wissenschaften so unterscheiden wollen, dass er den ersten allgemeine Gesetzmäßigkeiten, den zweiten einmalige Individualitäten als Erkenntnisziel zuschrieb. In ähnlicher Weise hat Jürgen Habermas eine Dreiteilung der Wissenschaften vorgeschlagen, indem er den Naturwissenschaften ein technisches, den historisch-hermeneutischen Wissenschaften ein praktisches, d. h. auf Verständigung im Handeln zielendes, sowie den (recht verstandenen) Sozialwissenschaften ein emanzipatorisches, d. h. auf den Abbau der Herrschaft von Menschen über Menschen gerichtetes, Interesse zuschrieb. Natürlich sind solche traditionellen Einteilungen sehr grobmaschig und unvollständig (wo bringen wir z. B. die Rechtswissenschaften unter); und es ist nicht leicht zu sehen, wie dieser Mangel behoben werden könnte. Entscheidend jedoch ist der Einwand, dass Interessen und Disziplinen (-gruppen) sich fast beliebig kombinieren lassen. […] Von den disziplinenleitenden Interessen komme ich schließlich zu einer vierten Antwort auf die Frage, wonach wir Disziplinen unterscheiden: nach ihren Theorien und deren systematischen und historischen Zusammenhängen. […] Worauf es mir beim Stichwort ›Theorie‹ ankommt, ist nämlich zunächst und vor allem dieses: Theorien haben ihren Stoff oder ihren Gegenstand, aber sie haben ihn nicht im Sinne der zuerst angebotenen naiven Antwort auf die Disziplinenfrage, d. h. als etwas Vorzufindendes, was man auflesen kann, auch wenn man nichts zu suchen im Sinne hat. Sie haben ihn vielmehr als eine durch bestimmte Fragen, Probleme, Absichten und Interessen mitdefinierte Gegebenheit.« 11
Die Disziplinologie, die auf diesen Fakten und Kriterien der Einzelwissenschaft beruht, ist nach Krüger in erster Linie eine historische Angelegenheit. Dabei kommt die Deutung der Historizität zum Vorschein, dargestellt in der Bevorzugung der Wissenschaftsgegenstände und der Methode der Untersuchung sowie in den Erkenntnisinteressen und vor allem in dem Theorieentwurf. Krüger betont das Pragmatische an der Theoriebildung, nämlich dass sie vielmehr durch ihre Angemessenheit und weniger durch ihre Wahrhaftigkeit historisch legitimiert wird bzw. Anerkennung findet: »Theorien sind etwas Pragmatisches, wobei ›Pragma‹ den alten Wortsinn hat: ›eine Sache, mit der man zu tun hat‹. Theorien sind etwas, was man
Krüger, Lorenz: Einheit der Welt – Vielheit der Wissenschaft. In: Interdisziplinarität. Praxis – Herausforderung – Ideologie, hrsg. von Jürgen Kocka, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 111, 112, 113, 115.
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Kontextualität als Grenze der ontologischen Ursächlichkeit
entwirft und verwirft, erweitert und verbessert – kurz etwas, womit man arbeitet. Und doch taugen sie nur dann, wenn sie in hinreichendem Maße Aussagen inkorporieren, die wahr sind. Kurz: Theorien sind nicht mehr oder weniger wahr, sondern mehr oder weniger angemessen – angemessen nämlich an die Sache und an unsere Bedürfnisse.« 12
Des Weiteren deutet das Pragma in der Theoriebildung auf das Paradigmatische, was die Historizität der wissenschaftlichen Disziplinarität am ehesten charakterisiert. In Krügers Erörterung der vier Fakten, auf denen die Disziplinarität einer Wissenschaft aufbaut, ist eine besondere Neigung oder sogar Priorisierung kaum zu übersehen. Krüger beginnt zwar mit dem wichtigen Sachverhalt, nach dem die Disziplinen unterschieden werden, nämlich dem Gegenstand. Aber der Akzent wird in seiner Erörterung auf den weiteren Sachverhalten, nämlich den Methoden, Forschungsinteressen und schließlich der Theoriebildung, gesetzt – und zwar in einer gewissen Progression der Gewichtung, dass es für Krüger letztendlich der Theorieentwurf ist, der die Disziplinarität einer Wissenschaft fast paradigmatisch etabliert. Denn nach Krüger sind die Theorien weniger auf die Letztbegründung des Wahren gerichtet, sondern genügen dem Wesenszug der Angemessenheit – »an die Sache und an unsere Bedürfnisse«. Hier scheinen die »Sache« auf jene historische Kontextualisierung und »unsere Bedürfnisse« auf das Faktum des Subjekts, das allein die Theorien gemäß jenem historischen Kontext der Wissenschaft entwirft, zu verweisen. Hierauf ist ein zeitgeistlicher Einfluss der Paradigmenlehre Thomas Kuhns im Hinblick auf Krügers Anschauung deutlich zu erkennen. »Wenn nun aber Theorien oder Theorienzusammenhänge und Theoriegeschichte das sein sollten, wonach wir Disziplinen unterscheiden, wird sich die Zwitternatur der Theorie zwischen Sachbezug und Interessenbezug auf die Natur der Disziplin übertragen. Das, was eine Disziplin von einer anderen unterscheidet, wird also weder allein der Gegenstand noch allein das Interesse oder das Problem sein, worauf man sich jeweils richtet. Die Identität wird vielmehr gestiftet durch einen Theorieentwurf oder ein Ganzes von Theorien, an dem sich weiterarbeiten läßt – mit dem Terminus Thomas Kuhns zu sagen: ein Paradigma, vielleicht auch eine begrenzte Menge von Paradigmata. Dieser Begriff ist notorisch umstritten und wird nicht gerade immer eindeutig verwendet; aber eines signalisiert er unmißverständlich und, wie ich meine, für unseren Zweck treffend: Disziplinen sind historische Einheiten; sie sind weder in ihrer inneren subdisziplinären Struktur 12
Ebd., S. 116.
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Die kontextuale Basis der wissenschaftlichen Interdisziplinarität
noch in ihren inter- und supra-disziplinären Außenverhältnissen ein für allemal zu bestimmen.« 13
Krüger stellt fest: »Disziplinen sind historische Einheiten«. Aber hier deutet er die Historizität der wissenschaftlichen Disziplinen eher in jener paradigmatischen Metamorphose des Theorieentwurfs. Denn die Charakterzüge einer Wissenschaftsdisziplin wurden maßgeblich durch ihre Theoriebasis bestimmt. Durch die Betonung der Historizität der wissenschaftlichen Disziplinarität setzt sich Krüger stillschweigend der tendenziellen Ahistorizität der wissenschaftlichen Wahrheiten, die die Theorien zum Ausdruck bringen sollten, entgegen. Die von Krüger betonte »Angemessenheit« der Theorie impliziert deutlich eine historische Angemessenheit, da sowohl »die Sache« als auch »unsere Bedürfnisse«, an die die Theorien angemessen sein sollen, der Historizität bzw. dem historischen Wandel unterworfen sind. Demnach ist es kaum verwunderlich, dass Krüger im Hinblick auf den Theorieentwurf, der die Historizität der wissenschaftlichen Disziplinen mitbestimmt, dem Wissenschaftsgegenstand keine elementare Bedeutung beimisst. Vielmehr akzentuiert Krüger das Pragmatische und Paradigmatische. Denn die Wissenschaftsgegenstände scheinen jener Tendenz der subjektiven Historisierung entgegenzustehen (obwohl den Wissenschaftsgegenständen jene Ahistorizität bzw. ein rein ahistorischer Wesenszug kaum zugesprochen werden kann). Es ist die Einheit des Wissenschaftsgegenstands, die der Wissenschaft domaniale und demgemäß disziplinäre Grenzen setzt. Krüger argumentiert gerade gegen die den Wissenschaftsgegenständen zugesprochene Einheit. Nach Krüger erweisen sich die Wissenschaftsgegenstände als eher synthetisch bzw. als von verschiedenen Gegenständen zusammengesetzt, was verschiedene subdisziplinäre Wissenschaftskontexte entstehen lässt: »Von den Tieren und Pflanzen handeln ebenfalls mancherlei Disziplinen; sind sie doch in verschiedener Weise für uns Gegenstände: ästhetisch, als Umwelt, als Heilkräuter, als Nahrungsmittel, nicht zuletzt auch als Materie unter denselben Gesetzen, unter denen auch unbelebte Dinge stehen. Gegenstände allein definieren in keinem Fall eine Disziplin; es muß zumindest noch so etwas wie die Auswahl von jeweils interessierenden Aspekten, Fragen oder Problemen hinzutreten. In manchen Fällen mag es sogar strittig sein, ob eine Wissenschaft überhaupt einen spezifischen Gegenstand oder Gegenstandsbereich hat. Die Psychologie ist zweifellos eine mit gutem 13
Ebd., S. 116–117.
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Kontextualität als Grenze der ontologischen Ursächlichkeit
Recht und Erfolg installierte Disziplin unabhängig von der Entscheidung und Streitfrage, ob es die Psyche als Einheit gibt.« 14
Bei seiner weiteren Erörterung des Problems der Disziplinarität und Interdisziplinarität der Wissenschaft – bzw. der problematischen Differenzierung zwischen disziplinären Grenzen und interdisziplinären Übergängen – sowie bei seinen Lösungsvorschlägen bezieht Krüger sich hauptsächlich auf den oben erörterten Theorieentwurf, der die Disziplinarität der Wissenschaft mitbestimmt. Dabei weist Krüger auf eine problematische Doppelorientierung des Wissenschaftlers im Betrieb der Wissenschaft hin, nämlich auf die Orientierung an dem Wissenschaftsgegenstand und an den eigenen Fragen. Krüger trennt kategorisch zwischen Sach- und Fragenorientierung, was auch die Interdisziplinarität der Wissenschaften hervorruft. Einer derartigen Trennung und Kategorisierung der Orientierungsformen und -modalitäten in der wissenschaftlichen Forschung ist deutlich eine grundlegende philosophische Spannung zwischen den ontologischen und den epistemologischen Betrachtungsweisen und deren Prioritäten inhärent: »An die vierte Antwort auf die Disziplinenfrage kann ich nun die angekündigte These darüber anschließen, woraus – zu einem wichtigen Teil – unsere Schwierigkeiten mit Disziplinarität und Interdisziplinarität entspringen: Die Doppelorientierung der Disziplinen zum einen auf den Gegenstand und zum anderem auf unsere Fragen bringt unvermeidlich die Gefahr mit sich, dass Einteilungen gemäß dem Gegenstand einerseits und Einteilungen gemäß unseren Bedürfnissen, Fragen, Interessen und Problemen andererseits inkongruent sind oder inkongruent werden. […] Das drückende Gewicht des praktischen Problems keineswegs verkennend, will ich mich doch auf das theoretische Problem, auf die ›Ideologie der Interdisziplinarität‹, konzentrieren und die bezeichnete Gefahr der Diskrepanz zwischen Sachorientierung und Fragenorientierung kurz erörtern.« 15
Bei jener glücklichen Übereinstimmung oder gegenseitigen Angemessenheit der Sach- und Fragenorientierung entsteht nach Krüger ein Paradigma der Forschung: »Die mich hierbei leitende Vorstellung ist die, dass ein Paradigma der Forschung genau dort zustande kommt, wo in glücklicher Weise Sache und Forschungsfrage aufeinander passen.« 16 Im Vergleich zu der ursprünglichen Vorstellung 14 15 16
Ebd., S. 111. Ebd., S. 117. Ebd.
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Die kontextuale Basis der wissenschaftlichen Interdisziplinarität
Kuhns ist hier eine gewisse Verschiebung des Akzents auf die Paradigmenbildung nur schwerlich zu übersehen. In seiner Lehre der wissenschaftlichen Paradigmen – ihrer Entstehung, Entwicklung und ihres Wechsels – betonte Kuhn bekanntlich die Interessen und Prioritäten der forschenden Wissenschaftler – in ihrem einzelnen Dasein und in ihrem Gemeinsein. Damit scheint er die von Krüger als solche bezeichnete Fragenorientierung in den Vordergrund zu rücken. Die Sachorientierung scheint dabei den vorherrschenden Forschungsinteressen und demgemäß der wegbereitenden Forschungsorientierung unterworfen zu sein. Nach Krüger stiftet die Passung zwischen Sache und Forschungsfrage Forschungstraditionen, 17 die sich unter den Paradigmata subsumieren lassen. Sowohl die Disziplinarität als auch die Interdisziplinarität der Wissenschaft und wissenschaftlichen Forschung bedingen die Passung zwischen Forschungsgegenstand und der Orientierung der Forschung, dargestellt in der Natur der Grundfragen, Methoden und Zielsetzungen. Wiederum taucht die – bereits vorher gestellte – Frage nach der Gleichberechtigung zwischen den entgegenkommenden Domänen, nämlich zwischen der Domäne des erkennenden Subjekts und der Domäne des zu erkennenden Objekts, auf; diese Frage verweist auf eine angemessene Passung zwischen Sache und Forschungsfrage. Bei der Entstehung der wissenschaftlichen Paradigmen – nach der Lehre Kuhns – dominiert die Erkenntnisfrage gegenüber dem erkannten Gegenstand. Es ist der Forschungsgegenstand, der letztendlich auf die Forschungsfrage passen bzw. sich an Forschungsinteressen und -zielen orientieren sollte. Eine derartige Passung oder Orientierung des Forschungsgegenstands führt notwendigerweise zu seiner historischen Modulierung, wie sie maßgeblich durch die – vorher erörterte – historische Metamorphose der Raumvorstellung und der Geometrie (als Forschungsgegenstände der Wissenschaft der Mechanik) dargestellt wurde. Was in der Wissenschaft begründet wird, ist zwar eine subjektive Erkenntnis, aber diese Erkenntnis ist notwendigerweise eine Erkenntnis eines Wissenschaftsgegenstands. Daher basiert die Begründung – auch als Letztbegründung, die der Axiomatizität der wissenschaftlichen Erkenntnisse zugrunde liegt – schließlich auf dem Wissenschaftsgegenstand, der erkannt wird. Die Zweiteilung zwischen der Erkenntnis und dem zu erkennenden Gegenstand, dargestellt in verschiedenen wissenschaftshistorisch geläufigen Aus17
Ebd.
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Kontextualität als Grenze der ontologischen Ursächlichkeit
drucksweisen wie explanans und explanandum, 18 sollte im Prinzip bei jeder Letztbegründung der Erkenntnis und des Seins des erkannten Gegenstands aufgehoben werden. Allerdings scheint die historisch-tendenzielle Etablierung der Wissenschaftsparadigmen gerade einer derartigen Aufhebung entgegenzuwirken, indem sie weiterhin die Autonomie und Hegemonie der Erkenntnis gegenüber dem zu erkennenden Gegenstand historisch bewahrt. Wenn die Wissenschaftler feststellen, dass im Falle eines Paradigmenwechsels neue Erkenntnisse zustande kommen und legitimiert werden, deutet dieses auch auf gewisse Formationen der neuen Wissenschaftsgegenstände hin. Zugleich zeigt es aber auch die Deformationen oder Umstrukturierungen der existierenden Wissenschaftsgegenstände auf, die zu den neuen Wissenschaftsparadigmen passen sollen. In Wirklichkeit wird die Nachhaltigkeit der wissenschaftlichaxiomatischen Erkenntnisse nicht durch die historischen Paradigmen, sondern durch die Unveränderlichkeit, also durch die ontologische Nachhaltigkeit der Wissenschaftsgegenstände gewährleistet. Somit geht es in der Wissenschaft prinzipiell um eine ontologische Letztbegründung des gegenständlichen Daseins. Wenn dagegen die Selbstbestimmung und Autonomie des menschlichen Subjekts, das die Gegenstände erkennt, betont werden, basiert diese Akzentuierung wiederum auf einer ontologisch-gegenständlich vereinheitlichten Bestimmung und nicht auf einer Vielfalt der epistemologischen Perspektiven. Die Autonomie des Seins, die in jeder Letztbegründung bzw. letztbegründeten Erkenntnis in Erscheinung treten soll, bezieht sich primär auf die Autonomie des gegenständlichen Daseins. Die Hegemonie eines Paradigmas basiert in erster Linie auf den zeitgemäßen Forschungsfragen und -interessen und ihrer allgemeinen Anerkennung bei den zeitgenössischen Wissenschaftlern. Diese subjektiv-epistemologischen Angelegenheiten sind einer Historizität unterworfen. Die Paradigmatisierung stützt sich dagegen nur marginal auf den Forschungsgegenstand, der sich gegenüber den wissenschaftlichen Perspektiven von intersubjektiv amalgamierten Forschungsgruppen mehr oder weniger als einheitlich erweist. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Sach- und Fragenorientierung ist: Bei der Orientierung auf den Gegenstand richtet sich das Subjekt nach dem Gegenstand, bzw. nach seiner ontologischen Beschaffenheit, d. h. nach seinem Seinsmodus. Hier scheint die subjektive Er18
Siehe Anmerkung 12 im Kapitel 5.
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Die kontextuale Basis der wissenschaftlichen Interdisziplinarität
kenntnis vom Objekt gesteuert zu werden. Gegenüber derartiger Vorrangigkeit und Autonomie des Gegenstands scheint die Fragenorientierung eine Orientierung des Subjekts auf sich selbst – wie eine Selbstreferenz – zu deuten. D. h. hier herrscht das Subjekt durch seine Selbstbestimmung und Autonomisierung über den Gegenstand. »Um welcher Interessen willen betreiben wir denn überhaupt Wissenschaft?« 19 Auf diese an sich selbst gestellte Frage gibt Krüger drei verschiedene Antworten, nämlich das Interesse an instrumenteller Effizienz, an Orientierung in der Welt und schließlich an Selbsterkenntnis und -bestimmung des Menschen. Diese Antworten lassen sich grundsätzlich der oben erörterten Zweiteilung zwischen Sachund Fragenorientierung, aus der sich sowohl die Disziplinarität als auch die Interdisziplinarität der Wissenschaften entwickeln, zuordnen. »Ordnung in der Welt« bedeutet zwar in erster Linie die Orientierung an den Gegenständen und ihren Ordnungen, Zusammenhängen sowie an anderen Wesenszügen ihrer Gegebenheit in der Welt. Aber die Orientierung des Menschen in der Welt anhand der Wissenschaft verweist kaum auf jene spontane Orientierung der Menschen, die eher von der Welt der Gegenstände gesteuert wird. Vielmehr scheint einer derartigen Orientierung, zu der die Wissenschaften die Menschen befähigen und veranlassen, bestimmte erkenntnisbezogene Strategien zugrunde zu liegen. Die Orientierung in der Welt bezieht sich an erster Stelle auf die gegenwärtige Gegebenheit, die demnach nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Gegebenheit ist. Die zeitliche Gegebenheit, in der die Geschichtlichkeit der Welt zum Vorschein kommt, basiert auf verschiedenen Fakten und Zuständen, wie Natur, Wissenschaft und Technik (einschließlich der Architektur), Sprachen, Regierungsformen, Kriegen und Konflikten, Kolonisation usw. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass außer jener Urform der Natur alle anderen soeben aufgezählten Fakten und Gegenstände von Menschen geschaffen sind. Die Orientierung an solchen kulturanthropologischen Gegenständen hat eine bestimmte Bedeutung und distinkte Differenz von der ursprünglichen naiven Vorstellung von Orientierung – eine Differenz, die beispielsweise vorkommt zwischen unserer Orientierung während einer abenteuerlichen Expedition in einem Urwald und unserer alltäglichen räumlichen Orientierung innerhalb eines von uns selbst entworfenen und gebauten Hauses. 19
Ebd., S. 120.
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Kontextualität als Grenze der ontologischen Ursächlichkeit
Obwohl Krüger als Antwort auf die von ihm selbst gestellte »Interessenfrage« drei Leitmotive des Wissenschaftsbetriebs gibt, scheinen die ersten zwei (oben erörterten) Antworten die dritte und wichtigste Antwort zu unterstützen, nämlich das Interesse an Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung des Menschen: »Die dritte Antwort auf die Interessenfrage lautet: Wissenschaft dient dem Interesse an Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung des Menschen. Es ist der Sinn allemal unlösbar mit Wissenschaft verknüpfter alter und neuerer Aufklärung, uns zur Autonomie zu bringen, d. h. zum Bewußtsein und zur Fähigkeit der Aufgabe, uns – freilich unter empfindlich einengenden Bedingungen, die wir nicht selbst verfügt haben – zu dem zu machen, was zu sein wir gemeinsam wollen können. Diese Aufgabe der Aufklärung kann in einem Zeitalter, das sich das ›wissenschaftlich-technische‹ nennt, noch weniger denn je vor der Wissenschaft selbst haltmachen – und zwar in dem doppelten Sinn, daß die geforderte Selbstbestimmung zumindest auch mittels der Wissenschaft gesucht wird und daß sie die heutzutage beängstigend gewordene Befähigung des Menschen zur Wissenschaft in ihren Inhalt einschließt.« 20
Im Rahmen der Aufklärung würde sodann das menschliche Interesse an Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung den Forschungshorizont der Wissenschaften immer wieder ausweiten; mit anderen Worten: Der epistemologische Drang nach Wissenserweiterung würde jene disziplinäre Einschränkung überwinden, um die Interdisziplinarität, die sich domanial oder territorial auf mehrere Wissenschaftsbereiche erstreckt, zu erlangen. Die Aneignung mehrerer Wissenschaftsbereiche im Forschungsgang scheint hier ein gewisser Machtanspruch des forschenden Geistes zu sein, mit dem sein Wunsch nach Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung in Erfüllung geht. D. h. es handelt sich hierbei um eine Machtergreifung des erkennenden Subjekts, das sich – laut Krüger – vorrangig an seinen epistemologischen Interessen und Prioritäten orientiert und dabei seinen Erfolg in dem interdisziplinären Umfang der Forschungsfelder manifestiert sieht. Wenn hier von einer wissenschaftshistorischen Orientierung hin zu einer Gegenständlichkeit die Rede ist, bildet diese Gegenständlichkeit in erster Linie das moderne Subjekt selbst, das sich seit der Renaissance in einem kontinuierlichen Prozess der Aufklärung befindet. Krüger neigt dazu, eine besondere Entwicklung der Interdisziplinarität in der Wissenschaftsgeschichte zu identifizieren, die sich nicht allein aus 20
Ebd., S. 121.
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Die kontextuale Basis der wissenschaftlichen Interdisziplinarität
den Wissenschaften selbst, sondern eher aus den Interessen und Bedürfnissen der Forscher heraus entwickelt: »Was trägt nun diese Analyse von wissenschaftsleitenden Interessen zur Ideologie der Interdisziplinarität bei? Für das Interesse an instrumenteller Effizienz sind eingangs schon einschlägige Bemerkungen gefallen. Allgemein ergibt sich unter Anleitung dieses Interesses die Forderung nach Interdisziplinarität aus dem dargelegten Umstand, daß alle Disziplinierungen der Forschung nur ein Stück weit tragen und daß sie ständig neu aus disziplinär noch nicht Ortbarem gewonnen werden müssen. Für die beiden weiteren Interessen – das an Orientierung, die wir brauchen, und das an Selbstbestimmung, die wir uns schuldig sind – ist in erhöhtem Maße und ohne weitere Worte klar, daß sie jeden disziplinären Rahmen sprengen, es sei denn, wir wollen immer noch glauben, einer oder der anderen besonderen Disziplin die theoretische Führungs- und Fundamentierungsrolle anvertrauen zu sollen. Unbestritten bleibt, daß auch jede monodisziplinäre Forschung den Zielen der Orientierung und der Selbstbestimmung dienen kann; aber offenkundig kann sie dies nur dann, wenn sie ihre Arbeit von vornherein als Stück des gesamten interdisziplinären Gefüges der Wissenschaft versteht.« 21
Freilich setzt die subjektive Orientierung in der Forschung notwendigerweise die Gegenständlichkeit voraus. Denn die Orientierung ist immer eine Orientierung an etwas, das eine außersubjektive Gegenständlichkeit impliziert. Die Art der subjektiven Orientierung ist demnach in erster Linie auf die Art des Wissenschaftsgegenstands, an dem sich das Subjekt epistemologisch orientiert, angewiesen. Hierbei scheint die vorher erörterte Dreiteilung der Wissenschaftsgegenstände – gemäß der Tragweite der subjektiven Einmischung – relevant zu sein. Die Orientierung an den reinen bzw. vollkommen außersubjektiven Naturgegenständen – im Rahmen der naturwissenschaftlichen Forschung – unterscheidet sich von der Orientierung des Subjekts an den Gegenständen der Sozialwissenschaften, die letztendlich vom Subjekt erzeugt werden. Diese wiederum unterscheiden sich von der Orientierung an den Gegenständen der philosophischen Logik, in denen sich das subjektive Denken vergegenständlicht. Die von Galilei, Descartes, Newton oder Hooke unternommenen Gedankenexperimente – in der Wissenschaft der Mechanik oder im Rahmen der Mechanischen Philosophie –, in denen man mit dem Naturgegenstand zu denken oder sich in ihn gedanklich hineinzuversetzen suchte, wären den modernen Sozialwissenschaftlern in hohem Maße 21
Ebd., S. 121–122.
319 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Kontextualität als Grenze der ontologischen Ursächlichkeit
fremd. Die Gegenstände der Sozialwissenschaften – wie u. a. Familie, Gesellschaft, Kultur, Politik usw. – wurzeln viel deutlicher in dem von Krüger festgestellten Interesse des Menschen nach Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung. Bei psychologischen, philosophischen oder kognitionswissenschaftlichen Forschungen wird das erkennende Subjekt selbst zum Gegenstand, und zwar in verschiedenen ontologischen Grundbedingungen und Kausalzusammenhängen. Gemäß der Art der Gegenständlichkeit bzw. gemäß dem Bestandteil der rein objektiven und rein subjektiven Fakten in den Wissenschaftsgegenständen ändern sich die epistemologischen, logisch-methodischen sowie teleologischen Orientierungen in der wissenschaftlichen Forschung. Die durchaus vielfältigen Gegenstände der wissenschaftlichen Forschung lassen sich unter einer allgemeinen Strategie der Forschungsorientierung kaum subsumieren. Dem Erkenntnisinteresse, mit dem die Art des Theorienentwurfs zusammenhängt, gehen gewöhnlich – wie in Bezug auf jedwedes menschliches Interesse – die Momente der Interessenentwicklung oder sogar die der Interessenerweckung voraus. Was aber kann primär im erkennenden Subjekt das Erkenntnissinteresse erwecken, wenn nicht der Erkenntnisgegenstand selbst? Bei den mathematischen und den naturwissenschaftlichen Forschungen kommt diese gegenständliche Initiierung bzw. die Erweckung des Erkenntnisinteresses viel klarer und deutlicher zum Vorschein. Diese gegenständliche Initiierung basiert wiederum auf verschiedenen Wesenszügen des Gegenstands selbst, wie z. B. auf seiner (vorher erörterten) ontologischen Eigenart und Fremdheit (gegenüber dem Subjekt), auf unzureichenden Kausalzusammenhängen und insbesondere auf dem Aporetischen an der gegenständlichen Individuation. Nach der ursprünglichen Erweckung des Erkenntnisinteresses würde der Forschungsgang eher vom Forschenden bestimmt werden. Die Steuerung der Forschung seitens der Forscher könnte zu jener beliebigen Kontextualisierung der Wissenschaftsgegenstände führen. Wie bereits erwähnt, würde jener Versuch von Wissenschaftlern unternommen werden, das explanandum gemäß dem explanans zu modulieren. 22 Die Angemessenheit des Gegenstands im Hinblick auf die historisch-paradigmatisch etablierten Forschungsmethoden wäre sodann die wichtigste Voraussetzung für die zeitliche Anerkennung oder Legitimation der wissenschaftlichen Forschungen und Forschungsergebnisse. 22
Siehe Anmerkung 12 im Kapitel 5.
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Die kontextuale Basis der wissenschaftlichen Interdisziplinarität
Allerdings ändert sich die Tragweite der Freiheit der Forschenden, die Wissenschaftsgegenstände nach ihrer Angemessenheit auf die Forschung zu orientieren, gemäß der Natur bzw. gemäß dem ontologischen Status der Gegenstände. Denn im Prinzip hat das erkennende Subjekt keine Berechtigung, die ihm zutiefst fremden und von ihm unabhängig existierenden Naturgegenstände – als Gegenstände der Naturwissenschaften – seinen Erkenntnisinteressen und Forschungszielen entsprechend zu gestalten. Bei den naturwissenschaftlichen Forschungen soll das erkennende Subjekt die zu erkennenden Naturgegenstände vielmehr so annehmen, wie sie objektiv – d. h. unabhängig vom erkennenden Subjekt – gegeben sind. Mit anderen Worten wird hier die forschungsbezogene Orientierung des Forschers eher vom Forschungsgegenstand – von seiner Gegebenheit, Ordnung und vor allem von seiner ontologischen Nachhaltigkeit – bestimmt. Gegenüber den Naturgegenständen werden die Gegenstände der Sozialwissenschaften, wie gesellschaftliche Strukturen, Ethik und Moral, politische Systeme usw., deutlich einer Historizität unterworfen. Darüber hinaus erweisen sich die Gegenstände der Sozialwissenschaften gegenwärtig als von vornherein heterogen, und zwar durch kulturelle, religiöse, gesellschaftliche und politische Eigenarten der Kontinente sowie durch binnenkontinentale Verhältnisse. Z. B. neigt jede Gesellschaft dazu, die gegenwärtig vorherrschenden Moralvorstellungen und Sitten für intakt und nachhaltig zu halten. Wird jedoch die Entwicklungsgeschichte der individuellen, familiären und gesellschaftlichen Moralvorstellungen, Sitten und Konventionen innerhalb eines Jahrhunderts in Betracht gezogen, tritt eine klare – wie von Nietzsche vorgestellte – Genealogie dieser kulturanthropologischen Gegenstände zutage. Diese Genealogie und deren Historizität entstehen grundsätzlich aus den Erkenntnisinteressen der Menschen (die die Gesellschaften bilden und alle ihre Moralvorstellungen, Sitten und Normen zu bestimmen suchen); ihnen würde es kaum schwer fallen, die von ihnen selbst geschaffenen Sozialgegenstände gemäß ihren Interessen und Zielsetzungen zu ändern und ggf. vollkommen neu zu gestalten. Die Unterschiede zwischen Natur- und Sozialgegenständen basieren auf den vielfältigen Prinzipien der Individuation dieser Gegenstände. Ebenso unterscheiden sich die Gegenstände der theoretischen Philosophie – wie Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft usw. – von denen der praktischen und angewandten Philosophien in ihren Individuationen – als individuierte rein subjektive Entitäten. Zwar lassen sich 321 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Kontextualität als Grenze der ontologischen Ursächlichkeit
zwischen diesen vielfältigen Individuationen und deren Prinzipien Analogien aufweisen (worauf sich die Interdisziplinarität zwischen den Wissenschaften, besonders zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, bezieht). Wir haben bereits die ontologische Ursächlichkeit, die der Wirklichkeit jener Individuation zugrunde liegt, als einen grundlegenden Wesenszug der phänomenalen Individuation betrachtet. Ebenso könnten die Individuationen durch gewisse aporetische Wesenszüge gekennzeichnet werden. Aber die Art der ontologischen Ursächlichkeit und der Aporien der Individuation variiert zwischen den Wissenschaftsgegenständen; die Individuation einer Gesellschaft, ihrer Moralvorstellungen und politischen Systeme usw. bedürfen gegenüber der Individuation der Naturgegenstände einer anderen Aporetik. Diesen Unterschieden in der Aporetik der Individuation entsprechend, ändern sich die – philosophischen, sozial- und naturwissenschaftlichen – Lösungsversuche, Methoden, Erkenntnisinteressen sowie die Forschungsziele; kurzum: die Orientierung der Forschenden am Forschungsgegenstand. Die Wege der wissenschaftlichen Orientierung in der Forschung können sich voneinander trennen oder gegeneinander abgrenzen, parallel laufen oder kreuzen; demnach kommen die disziplinären Abgrenzungen und die Parallelität der Wissenschaften sowie deren Interdisziplinarität zustande. Die Disziplinarität bezeichnet auch die Kontextualität der Wissenschaft, vor allem wenn wir von der domanialen Identität der Wissenschaft, dargestellt durch ihre Gegenstände, ausgehen. Dabei wird die Gegenstandsbasis der Wissenschaft nicht nur durch die Gegebenheit des Gegenstands bedingt, sondern auch durch die Methode, die epistemologische Eigenart der Forschung, die Prinzipien der Theoriebildung oder der Axiomatisierung usw., die zusammen die Objektivität der Wissenschaft mitbestimmen. Die disziplinären Grenzen der Wissenschaft sind nicht allein die ontologischen Grenzen ihrer Gegenstände, aber die Gegenstandsbasis wirkt in der Grenzziehung einer Wissenschaft gegenüber anderen Wissenschaften. Ebenso setzt die Gegenstandsbasis die wissenschaftlichen Grenzübergänge voraus, woraus sich die Interdisziplinarität der Wissenschaften entwickelt. Sowohl die Fundamente und die Mechanismen der Erkenntnisprozesse, wie axiomatische Annahmen und Methoden, als auch die daraus resultierenden Erkenntnisse, dargestellt vor allem in dem Theorieentwurf, sind nicht ohne eine notwendige Bezugnahme auf den Gegenstand möglich, der letztendlich das Faktum ist, das erkannt werden soll. Bei den Naturwissenschaften tritt diese Bezugnahme viel 322 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die kontextuale Basis der wissenschaftlichen Interdisziplinarität
deutlicher zutage, denn sie basieren auf der epistemologischen und der ontologischen Letztbegründung ihrer Gegenstände. Darauf sind ihre Methoden gerichtet und daran orientieren sich die Forschungsgänge. Die klare Abtrennung zwischen den Domänen des Subjekts und den des Gegenstands bedingt auch diese Bezugnahme der Erkenntnis auf die Wissenschaftsgegenstände, durch die die Erkenntnisprozesse gesteuert zu werden scheinen.
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Kapitel 8 Die Referenzialität der Erkenntnis
Die Erkenntnissysteme Die Unterschiede der Erkenntnisse beziehen sich primär auf die Unterschiede der Erkenntnisgegenstände; der Gegenstandsbezug bestimmt sowohl die Einzelheit als auch die kategorische Zugehörigkeit der Erkenntnis. Gegenüber der Vielfalt der Erkenntnisgegenstände – und demnach gegenüber den Gegenstandsbezügen – sollte sich das erkennende Subjekt als einheitlich erweisen. Denn diese Erkenntnis und deren Wahrhaftigkeit basieren nicht auf doxastischen Beliebigkeiten, sondern notwendigerweise auf jener epistemologischen Referenzialität, die die Gegenstandsbezogenheit der Erkenntnis als ein notwendiges Faktum voraussetzt. Demnach bauen die Kategorien der Erkenntnisse ursprünglich auf diesen kategorischen Bestimmungen bzw. auf Einheiten, Analogien oder Differenzen der Gegenstandsbezüge auf. Aus diesen Kategorien bzw. kategorischen Spezifizierungen entstehen die Erkenntnissysteme, die sich historisch etablieren. Die Universalität der Erkenntnis lässt sich ebenso auf die universale Einheit der Erkenntnisgegenstände zurückführen. Eine zweite und genauso wichtige Basis der Universalität der Erkenntnisse ist die Einheit des Geistes – trotz aller kontextualer Vielfalt kultureller, ethnischer, sozial-politischer oder religiöser Identitäten der Menschen. Hier handelt es sich sowohl im Falle des erkennenden Subjekts als auch im Falle des zu erkennenden Objekts um eine Einheit der Vielfalt. Bei naturwissenschaftlichen Gegenständen tritt diese Einheit bzw. die Universalität der vielfältigen Gegenstände am deutlichsten in Erscheinung. Die mechanischen und die optischen Phänomene sowie die anorganischen und die organischen Gegenstände der materiellen Wissenschaften sind zwar untereinander verschieden, aber in ihrer kategorialen Vielfalt universal einheitlich. Menschen und ihre Denkweisen unterscheiden sich voneinander in der Vielfalt ihrer kul324 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Erkenntnissysteme
turellen Individuationen und Identitäten; dennoch erweisen sich viele wissenschaftliche Strukturen ihres Denkens und Erkennens mehr oder weniger als einheitlich und universal. Des Weiteren ist diese Einheit und Universalität des menschlichen Geistes auf die oben erörterte Einheit der Erkenntnisgegenstände in ihrer Vielfalt angewiesen. Die Einheit und Universalität eines materiellen Gegenstands wie Wasser oder eines mechanischen Gegenstands wie Gravitation oder Trägheit basieren offenkundig auf der universalen Einheit dieser Erkenntnisgegenstände. Die Universalität der Erkenntnis, die in erster Linie durch die universale Einheit der Erkenntnisgegenstände bestimmt und gewährleistet wird, führt zur Universalität der Wissenschaften, die auf diesen Erkenntnissen aufbauen. Demnach tritt diese Universalität innerhalb der Wissenschaft der Mathematik, der mathematischen Wissenschaften sowie bei den Naturwissenschaften am deutlichsten zutage. Demgegenüber scheinen die Geisteswissenschaften den kulturspezifischen Kontexten unterworfen zu sein; ihre Einheit und Universalität sind in einem eingeschränkten Sinn zu deuten. Auch die Philosophie, die den mathematischen Wissenschaften und den Natur- und Geisteswissenschaften als Basis dient, erweist sich als kaum intakt gegenüber kulturspezifischen Kontexten. Denn ihr Gegenstand ist prinzipiell der menschliche Geist, der – abgesehen von den einheitlichen tiefgreifenden Strukturen des Erkennens, Denkens und Handelns – in vielen seiner kulturanthropologischen Ausdrucksformen, dargestellt in der Sprache, Kunst, Ethik und Moralvorstellungen, Religion und Politik usw., die Einheit und universale Legitimität kaum beanspruchen kann. Die verschiedenen Wissenschaften lassen sich auch als verschiedene Erkenntnissysteme betrachten, da die Erkenntnisse unter den Wissenschaften kategorisch und systematisch subsumiert werden. Als Erkenntnissysteme gewinnen die Wissenschaften ihre Identität in erster Linie aus dem Gegenstandsbezug, also aus der Referenzialität, die den Erkenntnisprozess initiiert und nach der die Angemessenheit der Erkenntnisse und deren kontextuale Einschränkung und Ausweitung gemessen und bewertet werden. Die Biologie als Naturwissenschaft bezieht sich auf die biologischen Phänomene; ihre Referenzialität erstreckt sich aber auf die Gegenstandsbereiche der organischen und der anorganischen Chemie, die den biologischen Phänomenen zugrunde liegen. Ebenso erstreckt sich die Referenzialität der Neurobiologie auf physiologische, physikalische und che325 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Referenzialität der Erkenntnis
mische Gegenstände und Prozesse. Demnach basieren sowohl die disziplinäre Einheit und Abgetrenntheit als auch die interdisziplinären Übergänge der Wissenschaften auf ihrer Referenzialität als Erkenntnissysteme. Kann auch die Philosophie in analoger Weise als ein Erkenntnissystem betrachtet werden? Diese Frage würde einer anderen Grundfrage vorausgehen, nämlich: Ist die Philosophie überhaupt eine Wissenschaft? In ihrer gesamten Entwicklungsgeschichte wurde die Philosophie direkt oder indirekt für eine Basiswissenschaft gehalten. Auch im Rahmen einer modernen Vorstellung von Philosophie als strenge Wissenschaft (Husserl) kommt eine derartige Sichtweise zum Vorschein. Bei der Betrachtung der Philosophie als ein Erkenntnissystem könnten zweierlei Probleme entstehen: Erstens hat die Philosophie die Erkenntnis selbst zum Gegenstand – und zwar als einer der wichtigsten Gegenstände sowohl in theoretischen als auch in praktischen und in angewandten Bereichen. Zweitens bezieht sich die Philosophie als Basiswissenschaft auf alle wissenschaftlichen Erkenntnisse, obwohl sie nicht imstande ist, das große Ausmaß und die Vielfalt der wissenschaftlichen Gegenstände allesamt erkenntnistheoretisch zu vergegenständlichen. Denn die Philosophie verleibt sich tendenziell die ersten und axiomatischen Prinzipien der Wissenschaften als ihre Untersuchungsgegenstände ein; darin liegen sowohl ihre Möglichkeiten als auch ihre Grenzen. Zum einen setzt die wissenschaftliche Systematisierung der Erkenntnisse die Gegebenheit der Erkenntnisse – als Axiome, Postulate, Theorien usw. – voraus. Zum anderen bedingt die wissenschaftliche Systematisierung der Erkenntnisse jene kategorische Vereinzelung der Erkenntnisse gemäß der einheitlichen Natur der Erkenntnisgegenstände, der Strukturverwandtschaft der Grunderkenntnisse sowie der telelogischen Vorstellungen. Freilich neigt die Philosophie charakteristisch dazu, die stillschweigend angenommene Gegebenheit der wissenschaftlichen Grundsätze erneut zu prüfen und sie ggf. zu problematisieren. Die Philosophie tendiert dazu, gerade dieser charakteristischen Vereinzelung und Demarkierung der Erkenntnis in den Wissenschaften, durch die die Philosophie ihre Identität bestimmt, entgegenzuwirken, indem sie tendenziell immer wieder versucht, die Vielfalt der Erkenntnisse, der Erkenntnisgegenstände und -prozesse zu vereinheitlichen und auf finale Grundprinzipien (einer Epistemologie) zu reduzieren. Ebenso neigt die Philosophie dazu, die Vielfalt der Phänomenalität auf einheitliche, finale und als solche irreduzible 326 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Erkenntnissysteme
Seinsmodi ontologisch zu reduzieren, was in jener charakteristischen Letztbegründung der Erkenntnisse zutage tritt. Die stark reduktionistische Tendenz der Philosophie scheint der kategorialen Vielfalt der wissenschaftlichen Systeme prinzipiell entgegengesetzt zu sein. Allerdings erweisen sich die Wissenschaften aufgrund ihrer ursprünglichen Verwandtschaft mit der Philosophie in gewisser Weise als philosophische Erkenntnissysteme. Dem Ursprung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und ihrer kategorialen Spezifizierung und Systematisierung liegen stets die philosophischen Denk- und Betrachtungsweisen sowie operationalen Modalitäten zugrunde. Kurzum: Die Philosophie umfasst die wissenschaftlichen Erkenntnissysteme in ihren Ursprüngen und in ihren gesamtheitlichen Individuationen. Selbst die theoretische Philosophie kommt nicht ohne bestimmte Grund- und Systembedingungen aus, wie es vor allem in der neuzeitlichen Entwicklungsgeschichte der Epistemologie dargestellt wurde. Das reine Erkenntnisvermögen des Menschen – unabhängig von der Vielfalt der Erkenntnisgegenstände – stellte man sich kaum einheitlich (philosophisch) vor; vielmehr entstand eine deutliche Kluft zwischen zwei Betrachtungsweisen von der Erkenntnis des Erkenntnisprozesses selbst. Es handelte sich dabei um den Ursprung der Ideen als die primärsten Entitäten der Perzeption und Erkenntnis. Der Rationalismus in der theoretischen Philosophie, der von der Annahme des Angeborenseins der Ideen im Geiste ausging, war prädestiniert, sich historisch zu einem philosophischen Erkenntnissystem zu entwickeln. Demgegenüber ging der theoretisch-philosophische Empirismus von der Grundannahme aus, dass die Ideen als Wahrnehmungs- und Erkenntniseinheiten ihren Ursprung in sinnlichen Erfahrungen und in geistigen Reflexionen haben, und entwickelte sich demnach zu einem anderen Erkenntnissystem. Die weitere Entfaltung der neuzeitlichen Philosophie, die vielfältige Denkschulen hervorbrachte, verdankt dieser ursprünglichen Entzweiung zwischen Rationalismus und Empirismus jenen historischen Anstoß zu den systematischen Abgrenzungen und Ausdifferenzierungen. Die bis heute tradierten Denkschulen innerhalb der neuzeitlichen Philosophie sind letztlich philosophische Erkenntnissysteme, die sich historisch entwickelt und etabliert haben, sich aber – unter ungünstigen Rahmenbedingungen – beeinträchtigen können. Wie nie zuvor kam das menschliche Erkenntnisvermögen in der Neuzeit als der wichtigste Gegenstand der Philosophie zum Vorschein. Wie vorher erörtert wurde, entstand nach der kartesischen 327 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Referenzialität der Erkenntnis
Etablierung der epistemologischen Wende in der Frühneuzeit eine Reihe von philosophischen Hauptwerken über den menschlichen Verstand – angefangen von den wichtigen postkantischen Philosophen wie Locke, Berkeley, Hume, Leibniz bis Kant. Der von Descartes eingeführte Rationalismus und Empirismus bezog sich grundsätzlich auf das Erkenntnisvermögen des Menschen. Diese ursprünglichen Denkschulen der Frühneuzeit entwickelten sich von ihren bescheidenen Anfängen zu komplexeren Erkenntnissystemen der Moderne. Hinsichtlich der Tatsache, dass die neuzeitlichen Philosophien im Vergleich zu den Naturwissenschaften die Erkenntnisse in ihrer Gegebenheit nicht einfach annehmen, bzw. als Axiome zu bewahren suchen, sondern sie und zugleich das subjektive Erkennen selbst stets erneut prüfen, könnte hier vielmehr von den Systemen des Erkennens die Rede sein. Als Kant diese seit Descartes tradierte Divergenz zwischen Rationalismus und Empirismus in einem transzendentalphilosophischen System aufzuheben suchte, bildete seine philosophische Unternehmung im Prinzip eine Synthese von zwei Systemen des Erkennens, indem der Ursprung des Erkennens sowohl in der Erfahrung (Empirismus), in der die Gegenstände gegeben werden, als auch in dem apriorisch synthetisierenden Verstand (Rationalismus) legitimiert wurde. Der kantische Transzendentalismus war zweifelsohne der Höhepunkt der von Descartes initiierten erkenntnistheoretischen Systembildung in der Moderne. Das Leitmotiv Kants bei der Errichtung bzw. beim Aufbau einer Transzendentalphilosophie war offensichtlich die detaillierte Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens, also das »Sezieren des Erkenntnisapparats«, wie Arthur Schopenhauer es betrachtete. 1
Die Referenzialität der Erkenntnis Unabhängig von feinen semantischen Unterschieden zwischen Erkenntnissystemen und Systemen des Erkennens in den Wissenschaften und der Philosophie basiert die epistemologische Systembildung primär auf der Referenzialität der Erkenntnisse – und zwar auf einer außersubjektiven Referenzialität, die das Erkennen notwendigerweise voraussetzt. Auch die Erkenntnis selbst als Erkenntnisgegenstand einer Epistemologie schließt eine derartige Referenzialität nicht aus. 1
Siehe Anmerkung 14 im Kapitel 6.
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Die Referenzialität der Erkenntnis
Denn die Erkenntnis ist immer eine Erkenntnis von etwas. Wir neigen dazu, unser Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen für rein subjektiv zu halten, aber es wäre ohne die außersubjektiven Objekte bzw. ohne die objektiven Inhalte vollkommen leer – oder mitunter nicht existent. Das Sehen wird prinzipiell als ein subjektiv-sinnliches Vermögen betrachtet. Wenn wir jedoch die Augen öffnen, erfahren wir unmittelbar, dass unser Sehen aus Objekten – von körperlichen Erscheinungen und dem Frei- oder Zwischenraum in einer allumfassenden perspektivischen Struktur – besteht bzw. allein auf den Gegenständen, die wir sehen, aufbaut. Ebenso ist das Erkennen ohne den Bezug auf einen Erkenntnisgegenstand, also ohne die Referenzialität der Erkenntnis, eine leere Vorstellung. Wenn die neuzeitliche Epistemologie seit ihren Anfängen, die auf Descartes zurückgehen, prinzipiell das Verhältnis zwischen einem erkennenden Subjekt und dem erkannten Objekt aufweist, wird dieses Verhältnis von vornherein durch eine gewisse strategische Orientierung und ihre »Richtung« gekennzeichnet. Die kartesisch-epistemologische Wende (ebenso wie die sokratische) vollzog sich zweifelsohne durch die philosophisch-strategische Umdrehung des Verhältnisses zwischen dem Subjekt und dem Gegenstand. Es handelte sich letztendlich um den Gegenstandsbezug, also um die Referenzialität, die eine neue Erkenntnisart bestimmen sollte. Als Kant, bei dem sich die von Descartes initiierte epistemologische Wende zur vollen Blüte entfaltete, den Anspruch erhob, dass sich seine Transzendentalphilosophie mit der kopernikanischen Revolution in der Geschichte vergleichen ließ, verwies er auf eine radikale Umdrehung der Referenzialität der Erkenntnis – vom Objekt zum transzendentalen Subjekt. Vor Kopernikus herrschte die allgemeine Annahme vor, dass die sich scheinbar bewegenden bzw. kreisenden Himmelskörper (Sonne, Mond und Planeten) eine stillstehende Erde als Referenzpunkt hatten, indem man sich vorstellte, dass sich die Sonne oder der Mond um die Erde herum kreisen. Die Dezentrierung dieses Bezugs oder dieser Referenz von einer stillstehenden Erde zu einer stillstehenden Sonne, wie sie von Kopernikus unternommen wurde, lässt sich im Rahmen der oben erörterten himmelsmechanischen Referenzialität besser nachvollziehen. Kant unternahm einen ebensolchen Versuch, um den Wechsel der Referenzialität der Erkenntnis vom Gegenstand zu einem transzendentalen Subjekt einzuleiten und radikalisierte somit die seit Descartes tradierte moderne Epistemologie:
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Die Referenzialität der Erkenntnis
»Copernicus had shown that when we think we are observing the motion of the sun round the earth what we see is the consequence of the rotation of our own earth. Kant’s Copernican revolution will do for our reason what Copernicus did for our sight. Instead of asking how our knowledge can conform to its objects, we must start from the supposition that objects must conform to our knowledge.« 2
Die kopernikanische Wende verweist auch auf eine fundamentale Differenz zwischen der Referenzialität einer unmittelbaren Sinneserfahrung und der Referenzialität einer Vorstellung, die dem Verstand entstammt. Der Gegenstandsbezug der Sinnlichkeit (die epistemologisch bzw. im Erkenntnisprozess dem Verstand vorausgeht) deutet auf die unmittelbare Beteiligung der Phänomene an dem Erkenntnisprozess hin, wohingegen der Gegenstand der verstandesmäßigen Vorstellung jener intuitiven Umformung und -strukturierung unterworfen ist. D. h. die Referenzialität der verstandesmäßigen Vorstellungen transzendiert die Grenzen der Referenzialität unmittelbarer Sinneserfahrungen. Von den einfachen geometrischen und mechanischen Intuitionen bis zu den komplexen Vorstellungen der himmelsmechanischen Strukturen erkennen wir die Umformung und -strukturierung der Erkenntnisgegenstände, auf die sich die Erkenntnisse notwendigerweise beziehen. Das Zweikoordinatensystem der kartesischen analytischen Geometrie lässt sich sowohl unmittelbar visuell wahrnehmen als auch rein intuitiv – und ebenso visuell – vorstellen. Aber das raumgeometrische Dreikoordinatensystem – gekennzeichnet durch die Achsen Abszisse, Ordinate und Kote – lässt sich in seinem wahren Existenzmodus weder unmittelbar visuell wahrnehmen noch lässt es sich intuitiv vorstellen, denn die Sichtbarkeit oder die Imagination dieser räumlichen Struktur ist immer perspektivisch bestimmt bzw. strukturiert, was auf die unabdingbare perspektivische Struktur unseres Sehraumes zurückzuführen ist. Ein einfaches Beispiel aus der Wissenschaft der Mechanik ist die kartesische Darstellung der inertial-tangentialen Fortbewegungstendenz eines rotierenden Körpers:
2
Kenny, Anthony: A New History of Western Philosophy, Oxford 2010, S. 577.
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Die Referenzialität der Erkenntnis
Figur 11
Streng genommen kann man mit bloßen Augen die inertial-tangentiale Fortbewegungstendenz des rotierenden Körpers, dargestellt durch die Tangente AG, nicht sehen. Dazu braucht man eine zusätzliche Intuition, auf die sich diese axiomatische Erkenntnis letztendlich bezieht. Obwohl die lineare und gleichförmige Trägheitsbewegung der Körper unter idealen irdischen Bedingungen (wie es Galileo experimentell versuchte) unmittelbar visuell wahrgenommen werden kann, bedarf die axiomatische Erkenntnis der Trägheitsbewegung (die besagt, dass sich der Körper unter idealen Bedingungen im All linear und gleichförmig unendlich fortbewegt) neben der rein sinnlichen Wahrnehmung einer intuitiven bzw. einer dynamisch-strukturell-intuitiven Vorstellung. An diesen und vielen anderen Beispielen der Mechanik (darunter lässt sich die kopernikanische Entdeckung der heliozentrischen Himmelsstruktur zählen) erkennen wir, wie sich die einfachen axiomatischen als auch die komplexeren Erkenntnisse in der Wissenschaft der Mechanik auf unsere mechanisch-strukturellen Intuitionen beziehen, die wir weder lediglich aus den unmittelbar visuell wahrgenommenen phänomenalen Strukturen ableiten, noch auf sie rein apriorisch anwenden. Derartige strukturelle Intuitionen
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Die Referenzialität der Erkenntnis
entwickeln sich vielmehr aus einer epistemologischen Resonanz zwischen intuitiven und phänomenalen Strukturen. 3 Ein zweites und ebenso wichtiges Faktum der erkenntnistheoretischen Referenzialität sind gewisse subjektive Präferenzen der gegebenen Erkenntnisgegenstände und der intuitiven Vorstellungen; sie könnten aus wissenschaftlichen, aber auch aus außerwissenschaftlichen Interessen zustande kommen. Die strategische Priorisierung im Rahmen der erkenntnistheoretischen Referenzialität setzt voraus, dass es mehrere Prämissen eines und desselben Phänomens geben kann, die sich in der Form und Struktur voneinander unterscheiden. D. h. ein und dasselbe Phänomen stellt sich in verschiedenen Modi dar, die als Prämissen den Erkennenden zu jener Priorisierung eines phänomenalen Darstellungsmodus (gegenüber den anderen) veranlassen. Die Phänomenalität der Gravitation war die unmittelbare Referenzialität ihrer axiomatischen Erkenntnis, dargestellt sowohl in Newtons als auch in Einsteins Vorstellung vom Gravitationsphänomen. Die newtonsche und vor-newtonsche Vorstellung von der Gravitationsstruktur bezog sich mehr oder weniger einheitlich auf die Vertikalität der gravitationellen Anziehung – wie sie beim Fallen der Objekte zur Erde in Erscheinung tritt – auf die Vertikalität der statischen Bauten sowie auf die strukturellen Intuitionen der solaren und planetarischen Gravitation. 4 Der berühmte »Fall des Apfels zur ErZur Strukturellen Intuition vgl. Thaliath, Babu: Die Strukturelle Intuition, veröffentlicht in edoc-Server der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2012, S. 25 ff. (URL: http://edoc.hu-berlin.de/docviews/abstract.php?lang=ger&id=39489) 4 Ein Beispiel dafür wäre die vor-newtonsche Vorstellung von Einzelgravitationen (particular gravities) von Hooke, Roberval u. a., in der auf die zentripetale Anziehungsstruktur der Einzelgravitationen der Himmelskörper referiert wurde. Wenn Hooke und Kepler die Hauptfunktion der Gravitationskraft darin sahen, die Teile der sphärischen Himmelskörper zusammenzuhalten (Westfall, Hooke and the Law of Universal Gravitation, a. a. O., S. 247), basierte diese strukturelle Intuition deutlich auf der zentripetalen Struktur der Gravitation, aus der auch die Sphärizität der Himmelskörper entstand. Die Gegebenheit der Planeten in einer sphärischen Form war in dieser epistemologischen Intuition eine wichtige Referenz, die die zentripetal-vertikale Struktur der Gravitationssphären voraussetzte. An dieser Stelle schien Kepler über eine erweiterte strukturelle Intuition zu verfügen, indem er auf die Wichtigkeit dieser Referenzialität in Bezug auf die axiomatische Vorstellung von der Struktur der Gravitation aufwies. Kepler argumentierte dahingehend, dass eine andere Vorstellung von der Gravitationsstruktur entstehen würde, falls diese notwendige Referenzialität fehlt bzw. falls man sich die Oberfläche der Erde nicht als sphärisch, sondern als eine ungleichmäßige Fläche vorstellt: »If the Earth were not round, heavy bodies [coming] 3
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Die Referenzialität der Erkenntnis
de«, den Newton bekanntlich in einem Garten von Woolsthorpe Manor erlebte, und woraus er letztendlich seine Vorstellung von einer Universalgravitation entwickelte, bezieht sich offensichtlich auf ein vertikales Fallen, das die zentripetal-vertikale Struktur der Gravitation zur Schau stellt. Die zentripetale Richtung und Vertikalität des Fallens bilden hier die wichtigste Referenzialität der Vorstellung von der irdischen Gravitation, die Newton auf die Vorstellung von einer grenzenlosen Universalgravitation erweitern konnte. Diese Referenzialität der axiomatischen Erkenntnis der Universalgravitation auf die Natur und Struktur eines mechanischen Grundphänomens, nämlich des Fallens schwerer Objekte zur Erde, und die – darauf basierende – Intuition der zentripetalen Struktur der Einzelgravitation setzt allerdings einen übergeordneten Kontext voraus, nämlich den euklidischen Raum (sowohl in der Wirklichkeit als auch in der intuitiven Vorstellung von einer Universalgravitation), der demnach als eine kontextuale Referenzialität der Erkenntnis von der Gravitation zu bezeichnen ist. Neben der Priorisierung des zentripetalen Fallens der Objekte bildete diese kontextuale Referenzialität ein wichtiges Faktum, aus dem sich das newtonsche Bild der Universalgravitation und des Kosmos im Allgemeinen entwickelte und historisch etablierte. Der erkenntnistheoretische Bezug auf den aktualen Gegenstand würde in dieser Weise und in vielen anderen Fällen durch einen zusätzlichen und analogen Bezug auf einen wissenschaftlichen Kontext ergänzt werden. Die kontextuale Referenzialität der Erkenntnis wird durch die Rahmenbedingungen der Wissenschaft bestimmt, die die historische Kontextualität der Wissenschaft selbst stillschweigend voraussetzen. Ein treffendes Beispiel wäre der Aufgang der nichteuklidischen Geometrie im 19. Jahrhundert, die die allgemeine mechanische Raumvorstellung maßgeblich beeinflusste und demnach Einsteins Vorstellung von der Raum-Zeit-Krümmung – im Rahmen seines Relativitätsprinzips – und viele andere axiomatische Vorstelfrom various directions would not go straight towards the central point of the Earth, but [would go] to different places.« (Koyré, Alexander: The Astronomical Revolution. Copernicus – Kepler – Borelli, übersetzt von Dr. R. E. W. Maddison F. S. A., Paris 1973, S. 194). Die Gegebenheit der sphärischen Form der Erde und der anderen Planeten war in diesem Bezug eine notwendige Referenzialität der axiomatischen Erkenntnis der einzelgravitationellen und universalgravitationellen Struktur, die man sich allem Anschein nach in einem kontextualen Rahmen der euklidischen Geometrie vorstellte.
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Die Referenzialität der Erkenntnis
lungen in der Mathematik und in den mathematischen Wissenschaften wie der Mechanik oder der Physik seit dem 19. Jahrhundert veranlasste. Allerdings lässt sich die kontextual-referenzielle Wirkung der Mathematik – insbesondere der Geometrie – bereits in der Frühphase der modernen mathematischen Wissenschaften nachweisen. In dem historischen Aufgang der kartesisch-analytischen Geometrie sieht Erwin Panofsky einen entscheidenden Wechsel der Raumvorstellung; die tradierte synthetisch-geometrische Raumvorstellung der Antike ging über zu der analytischen Raumvorstellung des kartesischen Koordinatensystems, in dem der Raum nicht mehr als begrenzt und inhomogen, sondern als unbegrenzt und homogen betrachtet zu werden begann. 5 In der neuzeitlichen Entwicklung der Geometrie und in den verwandten wissenschaftlichen Disziplinen, wie der Mechanik, der Optik, der Infinitesimalrechnung usw., wurde die kartesisch-analytische Raumvorstellung zu einer übergeordneten kontextualen Referenzialität wissenschaftlicher Erkenntnisse. Beim Aufkommen der nichteuklidischen Geometrie erfuhr diese seit Descartes und Newton tradierte Referenzialität eine radikale Umwandlung. Die strukturelle Finalität des modernen Raumkoordinatensystems – mit den fixierten drei Raumkoordinaten – wurde verworfen und durch ein flexibles Raumkoordinatensystem ersetzt, dem anstatt der festen Dreidimensionalität eine vollkommen variable Dimensionalität des geometrischen Raumes – wie z. B. ein n-dimensionaler Raum – zur Verfügung stand. Die Basis des Aufkommens der nichteuklidischen Geometrie und der darauf bezogenen Wissenschaften war die historische EntPanofsky, a. a. O., S. 699–700. Vgl. auch Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910, S. 89–93: »Die Einheit der konstruktiven Prinzipien der Geometrie tritt zurück hinter der Besonderung ihrer Einzelgestalten, deren jede für sich als eigene nicht weiter zurückführbare Wesenheit aufgefaßt und begriffen werden will. […] Die Reform der Geometrie konnte erst zu vollständiger Durchführung gelangen, nachdem ein neues Ideal der Methode in aller Klarheit erfaßt war. Die Methode Descartes aber ist überall darauf gerichtet, eine eindeutige Ordnung und Verknüpfung zwischen allen Einzeläußerungen des Denkens herzustellen. […] Geometrische Erkenntnis im strengen Sinne ist nur dort vorhanden, wo die Einzelobjekte nicht als gesonderte Gegenstände der Untersuchung unterbreitet werden, sondern ein Verfahren gegeben ist, nach welchem die Allheit dieser Objekte konstruktiv erzeugbar ist. Die gewöhnliche synthetische Geometrie aber scheitert gerade an dieser Forderung: denn ihr Gegenstand ist das isolierte Raumgebilde, dessen Eigenschaften sie in unmittelbarer sinnlicher Anschauung ergreift, dessen systematischen Zusammenhang mit anderen Gebilden sie aber niemals vollständig darzulegen vermag.«
5
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Die Referenzialität der Erkenntnis
wicklung einer besonderen (nie zuvor gegebenen) Referenzialität der Raumvorstellung, nämlich die Krümmung des Raumes. Diese Referenzialität herrschte (wie ein Zeitgeist) über die spätere Vorstellung Einsteins von der gravitationellen Raumkrümmung. Hier ist es wichtig anzumerken, dass einer der entscheidendenWege Einsteins, der zu der Vorstellung der gravitationellen Raumkrümmung – im Rahmen seines Relativitätsprinzips – führte, das geometrisch-mathematische Instrumentarium des metrischen Tensors war. Dies wurde von Marcel Grossmann, dem schweizerischen Mathematiker und Freund Einsteins, aus einer nichteuklidisch-geometrischen Basis entwickelt. Grossmanns metrischer Tensor ermöglichte Einstein, die entsprechenden Gravitationsfeldgleichungen mathematisch auszuarbeiten. 6 Der Einfluss der nichteuklidischen Geometrie – als eine kontextuale Referenzialität – auf Einsteins Vorstellung der mechanischen Phänomenalität des Raumes kam offenkundig bei seiner Auffassung vom Raumkontinuum zum Ausdruck. In seiner Berliner Vorlesung Geometrie und Erfahrung unternahm Einstein den Versuch, die tradierte (newtonsche) Vorstellung von der Unendlichkeit des Raumes im Rahmen der zeitgemäßen nichteuklidischen Geometrie umzudeuten: »Eine geometrisch-physikalische Theorie ist als solche zunächst notwendig unanschaulich, ein bloßes System von Begriffen. Aber diese Begriffe dienen dazu, eine Vielheit von wirklichen und gedachten sinnlichen Erlebnissen in gedanklichen Zusammenhang zu bringen. Eine Theorie ›veranschaulichen‹ heißt also jene Fülle von Erlebnissen zur Vorstellung zu bringen, deren schematische Ordnung durch die Theorie geleistet wird. In unserem Falle haben wir uns zu fragen: Wie läßt sich dasjenige Verhalten fester Körper in bezug auf ihre gegenseitige Lagerung (Berührung) vorstellen, das der Theorie von der Endlichkeit der Welt entspricht? […] Was wollen wir ausdrücken, wenn wir sagen, unser Raum sei unendlich? Nichts anders, als daß wir beliebig viele gleich große Körper aneinander legen könnten, ohne daß er jemals voll würde. Denken wir uns viele gleich große würfelförmige Kisten hergestellt, so können wir sie nach der euklidischen Geometrie so übereinander, nebeneinander und hintereinander legen, daß ein beliebig großer Raumteil erfüllt wird; aber diese Konstruktion würde nie zu Ende sein; immer neue Würfel ließen sich außen anlegen, ohne daß je Platzmangel einträte. Dies wollen wir ausdrücken, wenn wir sagen, der Raum sei unendlich in bezug auf praktisch-starre Kör-
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Hoffmann, Banesh: Albert Einstein. Schöpfer und Rebell, Zürich 1976, S. 141–142.
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Die Referenzialität der Erkenntnis
per, vorausgesetzt, daß die Lagerungsgesetze für die letzteren durch die euklidische Geometrie gegeben sind. Ein anderes Beispiel eines unendlichen Kontinuums ist die Ebene. Auf einer Ebene können wir quadratische Plättchen aus Karton so nebeneinander anlegen, daß jeweilen an alle vier Seiten eines Kartonquadrats je eine Seite eines Kartonquadrats anliegt. Die Konstruktion wird nie fertig; immer neue Kartonquadrate lassen sich anlegen – falls deren Lagerungsgesetze denen ebener Figuren der euklidischen Geometrie entsprechen. Die Ebene ist also in bezug auf die Kartonenquadrate unendlich. Man sagt demgemäß, die Ebene sei ein unendliches Kontinuum von zwei Dimensionen, der Raum ein solches von drei Dimensionen; was hier unter Dimensionszahl verstanden wird, darf ich wohl als bekannt voraussetzen. Nun geben wir ein Beispiel eines zweidimensionalen Kontinuums, das endlich, aber ohne Grenzen ist. Wir denken uns die Oberfläche eines großen Globus und eine Menge gleicher kreisrunder kleiner Papierscheibchen. Wir legen ein solches Scheibchen irgendwo an die Globusoberfläche an. Verschieben wir es mit dem Finger beliebig auf der Globusfläche, so stoßen wir bei dieser Reise nirgends an eine Grenze. Wir sagen deshalb, die Kugelfläche des Globus sei ein unbegrenztes Kontinuum. Die Kugelfläche ist ferner ein endliches Kontinuum. Klebt man nämlich solche Papierscheibchen auf den Globus auf, derart, daß niemals zwei Scheibchen aufeinander geklebt werden, so wird die Globusoberfläche endlich so voll, daß kein neues Scheibchen mehr darauf geht; dies bedeutet eben, daß die Kugelfläche des Globus in bezug auf die Papierscheibchen endlich sei. Die Kugelfläche ist ferner ein nichteuklidisches Kontinuum von zwei Dimensionen, d. h. die Lagerungsgesetze für in ihr liegende starre Gebilde stimmen nicht mit denen der euklidischen Ebene überein.« 7
Hier verweist der Satz der Bedingung, nämlich: »vorausgesetzt, dass die Lagerungsgesetze für die letzteren durch die euklidische Geometrie gegeben sind«, deutlich auf eine oben erörterte kontextuale Referenzialität. Die hier unternommene Umdeutung des Raumkontinuums wurde durch einen radikalen Wechsel dieser kontextualen Referenzialität – vom Kontext der euklidischen zum Kontext der nichteuklidischen Geometrie – vollzogen. Um diesen Wechsel durchzuführen, wurden zunächst bestimmte Grundlagen der euklidischen Geometrie – als Prämissen – priorisiert. Demnach bevorzugte Einstein im Rahmen der euklidischen Geometrie die Darstellung des Raumkontinuums auf einer planen Ebene – also im Rahmen der ebenen Geometrie –, denn allein dadurch war der nächste Schritt zu Einstein, Albert: Geometrie und Erfahrung, Verlag von Julius Springer, Berlin 1921, S. 14–16.
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Die Referenzialität der Erkenntnis
einer gekrümmten Raumebene möglich, die die referenzielle Basis des nichteuklidisch-geometrischen Raumkontinuums bildet. (Demgegenüber lässt sich die Krümmung eines dreidimensionalen Raumes schwer vorstellen, denn das Quale Krümmung ist nur einer linearen oder planen – bzw. einer ein- oder zweidimensionalen – Ausdehnung zuzuschreiben. Die Krümmung der Fläche lässt sich der dreidimensionalen Ausdehnung subsumieren). Das von Einstein hier vorgestellte grenzenlose zweidimensionale Raumkontinuum ist offensichtlich ein Gedankenkonstrukt, das das euklidische Raumkontinuum kaum invalidieren kann. Vielmehr scheint sich dieses Konstrukt des nichteuklidisch-geometrischen Raumkontinuums in einem euklidischen dreidimensionalen Raumkontinuum zu befinden. Allem Anschein nach war bei Einstein diese radikale Umdeutung des tradierten Raumkontinuums eine strategische Maßnahme, seine axiomatische Vorstellung von der gravitationellen Raumkrümmung im Rahmen seiner Relativitätstheorie geometrisch-wissenschaftlich zu legitimieren. Dabei wurde die Umdeutung des Raumkontinuums im Rahmen der nichteuklidischen Geometrie zu einer Umdeutung der kontextualen Referenzialität der Geometrie, die die Wissenschaft der Mechanik radikal veränderte und folglich ein neues Weltbild etablierte. Eine derartige Priorisierung der Prämissen, aus der eine bestimmte und beabsichtigte Erkenntnis entwickelt und zugleich eine kontextuale Referenzialität, die diese Erkenntnis unterstützt bzw. ihr als Basis dient, legitimiert wird, ist bereits in einem berühmten Gedankenexperiment Einsteins festzustellen, nämlich in der rein intuitiven Analogisierung zwischen dem Gravitationsmaß (in einem statischen irdischen Laboratorium) und dem Trägheitsprinzip (dargestellt in einem bewegenden Raumlaboratorium). In diesem Gedankenexperiment, das sein Äquivalenzprinzip demonstrieren sollte, ging Einstein strategisch von einer Prämisse aus, die er zugunsten einer von ihm abgezielten Erkenntnisart zu priorisieren schien: »Betrachten wir nun einige Schlüsse, die Einstein 1907 und 1911 aus seinem Äquivalenzprinzip zog. Der Einfachheit halber werden wir dabei die Reihenfolge leicht verändern, der Klarheit wegen weiterhin von der Erde sprechen, wo Einstein sich etwas sorgfältiger ausdrückte, und um der Bequemlichkeit willen das beschleunigte Raum-Laboratorium B-LAB, das Laboratorium im Gravitationsfeld der Erde G-LAB nennen. Man stelle sich zwei gleiche Klumpen Materie vor, die an zwei gleichen Federn, der eine im B-LAB, der andere im G-LAB, von der Decke hän-
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Die Referenzialität der Erkenntnis
gen. Beide Federn werden dabei ausgedehnt; im B-LAB, weil die Trägheit des Klumpens der Beschleunigung widersteht, im G-LAB dagegen durch die Anziehung der Gravitation. Die beiden Federn werden in gleichem Ausmaße ausgedehnt, daher sind die Trägheits- und Gravitationsmassen der Klumpen gleich. Dies dürfte nicht überraschen, da eben das dem Äquivalenzprinzip zu Grunde lag.
Figur 12
Nehmen wir nun aber an, die beiden Klumpen absorbieren gleiche Mengen von Energie – z. B. aus Strahlung –, dann wird gemäß E = mc2 jeder Klumpen an Masse zunehmen, und beide Federn werden sich zusätzlich um den gleichen Betrag ausdehnen – um den gleichen Betrag, weil nach dem Äquivalenzprinzip unter identischen Bedingungen im B-LAB und G-LAB das gleiche geschehen muss. Allerdings wird im B-LAB durch die zusätzliche Ausdehnung die Trägheitsmasse, im G-LAB dagegen die Gravitationsmasse gemessen. Und das bedeutet, dass auch die Energie gleiche Trägheits- und Gravitationsmassen haben muss, womit sich vor unseren Augen eine jener klaren, für Einstein so bezeichnenden Vereinheitlichungen herausbildet, zu der er die Mathematik kaum zu bemühen brauchte. Ja, in diesen Arbeiten von 1907 und 1911 gelangt Einstein zu den wesentlichen Schlüssen meistens nur mit der elementarsten Mathematik, ein seltenes und glänzendes Beispiel reiner Intuition!« 8
In dieser propädeutischen Beweisführung zum Äquivalenzprinzip, in dem die Gravitationsmasse mit der Trägheitsmasse modal gleichgesetzt wird, ging Einstein von den tradierten newtonschen Grundlagen selbst aus, nämlich von der vertikalen Anziehung der Gravitation und dem Trägheitsprinzip. Allerdings war diese hochgepriesene Intuition
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Hoffmann, a. a. O., S. 129–131. Vgl. dazu auch NSK, S. 109 f.
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des Äquivalenzprinzips von Einstein keine neue Entdeckung, denn das Prinzip der Äquivalenz zwischen der Gravitations- und der Trägheitsmasse hatte Newton bereits implizit dargelegt, und zwar in seiner Demonstration des galiläischen Problems des freien Falls von Körpern mit verschiedener Masse. 9 Newton vermochte aber nur schwerlich, die beobachtete Äquivalenz zwischen der Gravitationsmasse und der Trägheitsmasse – über die angestrebte Erklärung des galiläischen Problems hinaus – zu einem Strukturprinzip der Gravitation zu entwickeln. Das oben beschriebene Gedankenexperiment Einsteins, das das Äquivalenzprinzip demonstrierte, ging über den Kontext der Universalgravitation Newtons hinaus, deren Natur und Struktur der Anziehung man sich eher im statischen Modus vorgestellt hatte. Die Einführung der Dynamik, nämlich die Beschleunigung eines Raum-Laboratoriums (die den Effekt der Gravitation produziert), schien sich bei Einstein zu einem gewissen Leitmotiv zu entwickeln. Die in diesem ursprünglichen Gedankenexperiment demonstrierte statische Äquivalenz zwischen Gravitations- und Trägheitsmasse war bei Einstein nur ein anfängliches – und zwar propädeutisches – Model der Analogie. Als nächster Schritt wurde in diesem Basismodel seines Gedankenexperiments die horizontale Lichtbewegung eingeführt. Dadurch zielte Einstein in erster Linie auf die Demonstration der Äquivalenz zwischen den identischen Krümmungsphänomenen einer horizontal projizierten dynamisch-phänomenalen Struktur unter verschiedenen Kraftprinzipien ab:
Einstein entwickelte das Äquivalenzprinzip bekanntlich mithilfe eines Gedankenexperiments, indem er intuitiv wahrnehmen konnte, dass ein frei zur Erde fallender Mensch sein Eigengewicht nicht spürt. Denn sein gravitationelles Eigengewicht und die Trägheit seines Körpers, die durch die gravitationelle Beschleunigung beim freien Fall entsteht, gleichen sich hier aus. Dieses Gedankenexperiment ist durchaus analog zu Newtons Beweisführung des galiläischen Problems. Gegenstände verschiedener Massen fallen gleichzeitig zur Erde, weil die Unterschiede in der gravitationellen Anziehung durch die äquivalenten Unterschiede in der Trägheitsresistenz der Körper beim freien Fall ausgeglichen werden. Dieses Experiment deutet zweifelsohne eine modale Äquivalenz zwischen der Gravitation und der Trägheit an, indem beide der entgegengesetzten mechanischen Prinzipien gleichermaßen durch die Masse der Körper bestimmt werden.
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Die Referenzialität der Erkenntnis
Figur 13
»Verfolgen wir Einsteins Gedankengang weiter: Licht, in Form eines Strahles quer durch B-LAB gesandt, beugt sich in gerader Linie fort: (und zwar im absoluten Raum – wir halten an unserem Bild fest). Durch die ›Aufwärts‹-Beschleunigung von B-LAB scheint sich der Strahl aber relativ zu B-LAB nach ›Abwärts‹ zu krümmen. Deshalb folgerte Einstein 1907, dass Licht, das in der Form eines Strahls quer durch G-LAB gesandt wird, dieselbe Krümmung aufweisen muss, d. h. die Gravitation verursacht eine Krümmung von Lichtstrahlen.« 10
Die strategische Einführung der gravitationellen und inertialen Krümmung der Lichtbewegung in diesem Gedankenexperiment verweist auf einen tendenziellen Annäherungsversuch Einsteins an eine bildliche Intuition, in der nicht die zentripetale und als solche vertikal-vektorielle Gravitationsstruktur, sondern die eher horizontale Krümmung einer der Gravitation unterworfenen Trägheitsbewegungsstruktur zum Vorschein kommt. Wenn Einstein aus diesem Teil seines Gedankenexperiments die gravitationelle Krümmung des Raumes im Allgemeinen ableitet, ist darin die Priorisierung einer bestimmten bildlichen Intuition nicht zu übersehen. Welche Einflüsse könnten hierbei eine Rolle gespielt haben, die Einstein zu der Priorisierung dieser bildlich-intuitiven Prämisse, auf der er sein Äquivalenzprinzip und seine Relativitätstheorie aufbaute, veranlassten? Einstein schien in diesem Fall durch die zu seiner Zeit vorherrschende nichteuklidische Geometrie und durch die elektromagnetischen Feldtheorien beeinflusst gewesen zu sein. Sowohl die nichteuklidische Geometrie als auch die elektromagnetischen Feldtheorien (von Faraday, Maxwell u. a. aus dem 19. Jahrhundert) haben einen Wesenszug 10
Ebd.
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Die Referenzialität der Erkenntnis
gemeinsam, nämlich die Krümmung des Raumes als Basis der geometrischen Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit sowie der mechanischen Phänomenalität (des elektromagnetischen Feldes). Sowohl bei Newton als auch bei Einstein bildete das Gravitationsphänomen die gegenständliche Referenz einer Theorie der Gravitation, was allerdings nicht bedeutete, dass die beiden Wissenschaftler der Mechanik eine einheitliche Struktur der Gravitation entwickelten. Denn die erkenntnistheoretische Referenzialität im Rahmen von Newtons Vorstellung von einer rein zentripetalen Ausdehnung einer Universalgravitation – in einem euklidisch-unendlichen Raum – unterscheidet sich von Einsteins Vorstellung von der gravitationellen Raumkrümmung. Die Basis bzw. der Ausgangspunkt von Einsteins Umdeutung der Gravitationsstruktur war offensichtlich seine Präferenz einer bestimmten Prämisse als erkenntnistheoretische Referenz, nämlich die gravitationelle Kurvierung des horizontalen Lichtstrahls. Hier hat ein und dasselbe Naturphänomen, nämlich die Gravitation, zwei verschiedene phänomenale Ausdrücke – nämlich den bloß vertikalen Fall und die horizontale Krümmung eines Projektils, die aus der Zusammenwirkung der Gravitation und der Trägheitsbewegungstendenz der Körper zustande kommt. Beide sind Grundphänomene, an denen sich die Gravitation erkennen lässt; daher sind sie die Prämissen der axiomatischen Erkenntnis der Gravitation. Einstein bevorzugte hinsichtlich seiner Grundvorstellung von der Gravitationsstruktur die gravitationelle Krümmung eines horizontalen Projektils – gegenüber dem bloß vertikalen Gravitationsfall eines Körpers zur Erde. Einer derartigen Priorisierung lag auch eine kontextuale Referenzialität der zu der damaligen Zeit vorherrschenden und fast paradigmatisch etablierten nichteuklidischen Geometrie zugrunde. Denn sowohl Newton als auch Einstein hatten eine axiomatische Vorstellung von der Gravitationsstruktur in einem Raum, dessen geometrische Vorstellungen – als euklidisch oder nichteuklidisch – verschiedene erkenntnistheoretisch-kontextuale Referenzialitäten und demgemäß unterschiedliche Erkenntnisse ein und desselben Phänomens entstehen lassen können. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Priorisierung der Prämissen in diesem Fall war auch eine Priorisierung der erkenntnistheoretischen Referenzialität desselben Phänomens; ihr lag aber eine – stillschweigend vorausgesetzte – kontextuale Referenzialität der euklidischen und der nichteuklidischen Geometrie zugrunde. Durch diese unterschiedlichen Referenzen auf dasselbe Naturphänomen 341 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Referenzialität der Erkenntnis
entwickelten sich verschiedene Weltbilder, was die oben erörterte Differenz zwischen der newtonschen und der einsteinschen Vorstellung vom Raumkontinuum verdeutlicht. Die Unendlichkeit des euklidisch-newtonschen Gravitationsraumes wurde durch Einsteins Vorstellung von der gravitationellen Raumkrümmung – demgemäß durch ein nichteuklidisch-geometrisches Raumkontinuum (wie Einstein es zu belegen suchte) – ersetzt. Dies besagt, dass die Entstehung eines neuen Weltbildes primär durch die Entstehung und Etablierung jener neuen erkenntnistheoretischen Referenzialität der himmelsmechanischen Phänomene – wie die Gravitation – zustande kommt. Bei näherer Betrachtung entstand jedwedes historisch etablierte und jahrhundertelang tradierte Weltbild durch eine bestimmte Referenzialität der himmelsmechanischen Erkenntnisse und der – unmittelbaren und kontextualen – Erkenntnissysteme. Ebenso wurde das tradierte Weltbild bei jenem historischen Wechsel der Referenzialität zerstört und durch ein neues Weltbild ersetzt. Als Kopernikus das ptolemäische geozentrische Weltbild durch ein heliozentrisches Weltbild paradigmatisch ersetzte, stützte er grundsätzlich auf eine erkenntnistheoretische Referenzialität (der Zentriertheit der Bewegungen der Himmelskörper) – innerhalb eines einheitlichen Kontexts der Mechanik und der euklidischen Geometrie. Die Sonne im Zentrum des dynamischen Solarsystems und demnach die Dezentrierung der Erde in dem tradierten ptolemäischen Bild des Kosmos bedeuteten auch die revolutionäre Umdrehung einer lange historisch etablierten Referenzialität eines Erkenntnissystems, was allerdings keinen maßgeblichen Wechsel der kontextualen Referenzialität bedingte. Dagegen setzten Einsteins Umdeutung des Gravitationsphänomens – im Vergleich zu Newtons Vorstellung von der Universalgravitation – und demgemäß seine Neugestaltung des Weltbildes notwendigerweise den historischen Wechsel einer übergeordneten geometrischkontextualen Referenzialität voraus, was in der oben erörterten einsteinschen Vorstellung vom Raumkontinuum deutlich zum Ausdruck kam. Die Wahrhaftigkeit und die Legitimität der Erkenntnisse basieren auch auf der Wahrhaftigkeit ihrer Referenzialität. Von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet kann ein und derselbe Gegenstand unterschiedlich wahrgenommen werden. Aber die (ontologische) Einheit des Gegenstands verleiht der möglichen Vielfalt dieser Erkenntnisse jene epistemologische Verbindlichkeit, sodass die epistemologisch-perspektivische Differenz in Bezug auf die Referen342 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Referenzialität der Erkenntnis
zialität der Veränderlichkeit der Erkenntnis nicht schadet (auch wenn die Erkenntnis inadäquat vollzogen und als solche dargestellt wird). Aber wenn die epistemologische Referenzialität mit der reinen Gegenständlichkeit oder Phänomenalität nicht übereinstimmt, ihr sogar widerspricht, kann daraus eine vollkommen falsche Erkenntnis resultieren. Dies könnte in der gängigen Wissenschaftspraxis geschehen, wenn die epistemologische Referenzialität die ursprünglichen Phänomene (die erklärt werden sollen) nicht vollständig erreicht und – stattdessen – in einigen ihrer priorisierten Repräsentationen endet. Wenn die epistemologische Referenzialität nicht bis zum Phänomen, sondern nur bis zu seiner – rein intuitiv vorgestellten oder bildlich dargestellten – Repräsentation gelangt, könnte sich diese Erkenntnis aufgrund der partiellen und vollkommenen Disparitäten zwischen dem Phänomen und seiner Repräsentation als nicht angemessen oder hinreichend – oder sogar als gänzlich falsch – erweisen. Ein treffendes Beispiel dafür wäre die von Newton etablierte Theorie der Gezeiten. Nach der tradierten und bis heute aktuellen newtonschen Theorie entstehen die Gezeiten in den irdischen Gewässern durch die lunare und solare Anziehung der Wasserkörper auf der Erde. Die unmittelbar zu beobachtende Phänomenalität bzw. der Ablauf der Gezeiten besagt, dass die Gezeiten an den Ufern der Meere und Seen unter der unmittelbaren Anziehung der lunaren und solaren Gravitation als eine Sukzession von Flut und Ebbe entstehen. Newton begründet seine Theorie des Gezeitenphänomens im Rahmen seiner axiomatischen Vorstellung von der Universalgravitation, die besagt, dass sich alle Himmelskörper gegenseitig anziehen. Demnach zieht der Mond die dynamisch-flexiblen Wasserkörper auf großen Gewässern an, woraus die Gezeiten im unterschiedlichen Ausmaß – von der Springtide bis zur Nipptide – in einer Sukzession von Flut und Ebbe entstehen. Die bisher tradierte Gezeitentheorie Newtons stützt sich jedoch auf eine bekannte bildliche Darstellung (des Gezeitenphänomens) als ihre grundlegende epistemologische Referenz. Das Bild des Gezeitenphänomens, das trotz seiner verschiedenen Darstellungsformen ein einheitliches (newtonsches) Prinzip eines mechanischen Phänomens darstellt, hat sich seit mehreren Jahrhunderten in der Wissenschaft der Mechanik und der Geophysik sowie in ihrer Praxis – von der Schulpädagogik bis zur Forschung – fast paradigmatisch etabliert. Die folgende Figur zeigt ein durchaus geläufiges Bild der newtonschen Gezeitentheorie. Diese und ähnliche Darstellungen sind weltweit in zahlreichen Schulbüchern der Mechanik zu finden: 343 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Referenzialität der Erkenntnis
Figur 14
Die Methoden in Principia, Newtons Hauptwerk, beziehen sich in erster Linie auf geometrisch-mathematische Darstellungen der irdisch- und himmelsmechanischen Phänomene. Principia beinhaltet zahlreiche bildlich-geometrisch dargestellte Operationen mit den axiomatischen Grundvorstellungen in der Wissenschaft der Mechanik. Wie nie zuvor in der Entwicklungsgeschichte der Klassischen Mechanik kam das bildliche Denken mechanischer Phänomene in den Methoden Newtons zum Ausdruck. Daher ist es wichtig anzumerken, dass die Theorie des Gezeitenphänomens, obwohl Newton sich dieses prinzipiell bildlich vorstellte, in Principia durch keine angemessene bildlich-geometrische Darstellung demonstriert wurde. Trotzdem wurde die newtonsche Gezeitentheorie, die nach Newton die damals vorgesehene paradigmatische Etablierung der Grundvorstellung von der Universalgravitation entscheidend unterstützt bzw. ihr den notwendigen und hinreichenden Beweis liefern sollte, jahrhundertelang anhand zahlloser Bilder in den Schulbüchern dargelegt. Diese historisch-paradigmatische Etablierung der Gezeitentheorie Newtons basierte demnach auf der Referenzialität ihrer bildlichen Darstellungen. In seiner Übersetzung der Principia zeigt Subramanyan Chandrasehkhar Bilder des Gezeitenphänomens, die 344 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Referenzialität der Erkenntnis
sich aus Newtons Erklärung entwickeln lassen und mit den konventionellen Darstellungen des Gezeitenphänomens in den Schulbüchern strukturell übereinstimmen: »The basic kinematical elements of the theory outlined by Newton are the following: (i) The tidal action of one gravitating body on another is to effect equal bulges at antipodal points of the attracting body; (ii) The Moon and the Sun effect such bulges in the ocean (assumed to cover the Earth) in the instantaneous directions of the Moon and of the Sun, respectively, the effect of the latter being about one-half (or more precisely 0.44) of the former; (iii) The bulges caused by the Moon and the Sun are carried, independently, by friction with the changing positions of the Moon and of the Sun by the orbital motion of the Moon about the Earth and of the Earth about the Sun, both coupled with the rotation of the Earth. The known periodicities of the tides (which troubled Sagredo) follow from the premises in self-evident fashion (see illustration): the high tide occurs at (b) when a particular location on the Earth is carried past the bulge; at new and full moon (c) the Sun and the Moon act together to give spring tides which are greater than the neap tides at first and last quarter.«
Figur 15 11
Chandrasekhar, S.: Newton’s Principia for the Common Reader, Oxford University Press, New York 1995, S. 399–400.
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Die Referenzialität der Erkenntnis
Die Legitimität dieser und ähnlicher Bilder des Gezeitenphänomens bedingt, dass sie das wirkliche Gezeitenphänomen in den irdischen Gewässern wahrhaftig wiedergeben. D. h. die Referenzialität der Gezeitentheorie basiert letztendlich auf der Phänomenalität des Gezeitenphänomens. Wenn aber die geläufige Darstellung des Gezeitenphänomens (wie die Figuren 14 und 15 zeigen) mit den tatsächlichen Gezeiten der Gewässer auf der Erde, auf die die lunare und solare Gravitationskraft unmittelbar wirken, verglichen wird, erkennen wir eine deutliche Disparität zwischen der historisch etablierten bildlichen Darstellung des Gezeitenphänomens und seiner Wirklichkeit – also zwischen seiner bildlichen und seiner phänomenalen Referenzialität.
Exkurs Gezeitenphänomen 12 Die Aktualität und Überzeugungskraft dieses Bildes – bzw. des geläufigen Bildes des Gezeitenphänomens (dargestellt in der Figur 14), das eigentlich vor drei Jahrhunderten entstanden ist – werden immer wieder durch die wiederholte Verwendung des Bildes in der Schulpädagogik sowie in der fortgeschrittenen Forschung belegt. Aber wenn wir dieses Bild oder ähnliche Bilder erneut näher betrachten, werden wir unschwer erkennen, dass sie eine vollkommen unangemessene oder sogar falsche Darstellung des Gezeitenphänomens aufzeigen. Und zwar deswegen, weil die mechanische und geographisch-architektonische Korrektur dieses Bildes der ursprünglichen newtonschen Erklärung von vornherein widerspricht. Dieses und ähnliche Bilder stellen entweder eine Erdansicht – beliebig von oben auf die Pole betrachtet – oder einen äquatorialen Querschnitt dar. Sowohl als Erdansicht als auch als Querschnitt der Erde zeigt dieses Bild eine Erdoberfläche, die vollkommen von Wasser bedeckt ist. Dies ist ein fundamentaler Irrtum in allen diesen Darstellungen, der entweder übersehen oder stillschweigend zugunsten der newtonschen GezeiDer folgende Exkurs ist eine edierte Wiedergabe aus meiner Abhandlung: Bild und Paradigma. Wissenschaftliche Verbildlichung als Paradigmatisierung, edoc, Humboldt Universität zu Berlin, Berlin 2013, S. 10–13, 21–22. Vgl. dazu auch Thaliath, Babu: Nature of Gravitation. The Structural Intuition of Gravitation in the Framework of Early Modern Mechanical Philosophy. Philosophy Study, Vol. 2, No. 9, September 2012, S. 602–612.
12
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Exkurs: Gezeitenphänomen
tentheorie nicht aufgeklärt wurde. Denn die Ebene aller Wasserkörper auf der Erde – der Seen, Meere oder Flüsse – ist die tiefste Ebene, die durch höhere Land- und Berggebiete umgeben ist. Eliminiert man aus diesem Bild das Faktum der außerirdischen bzw. der lunar- und solargravitationellen Anziehung, zeigt es den ursprünglichen Zustand der Erde folgendermaßen:
Figur 16
Wenn die Wölbung der Meeresebene, die durch die Anziehung der lunaren und solaren Gravitation zustande kommt, aufgelöst wird, wird die Wasserebene ebenmäßig bzw. ebenso sphärisch wie die Erde die Erdoberfläche umgeben, wie das Bild (Figur 16) hier zeigt. Der dargestellte Zustand der Erde, die vollkommen geflutet erscheint, hätte in der alttestamentarischen Vergangenheit, nämlich zu der Zeit Noahs, oder in einem indisch-mythologischen Urzustand des Pralaya existiert. Der normale – vergangene und gegenwärtige – Zustand der Erde, die den außerirdischen Einzelgravitationen unterworfen ist, sollte aber anders dargestellt werden. Die Falschheit dieser tradierten bildlichen Darstellung kann leicht korrigiert werden. Man braucht hier nur von der richtigen bzw. korrigierten bildlichen Prämisse auszugehen. Sie ist offensichtlich die ursprüngliche Darstellung des Erdquerschnitts, in der die Wasserebene der Meere, Seen und Flüsse als die tiefste sphärische Ebene er347 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Referenzialität der Erkenntnis
scheint und von höheren Landgebieten und Bergebenen durchbrochen wird. Dadurch wird die hydrostatische Kontinuität, die das tradierte Bild des Gezeitenphänomens fälschlicherweise darstellt, deutlich durchbrochen und dabei die Meere und Seen, die von Land- und Berggebieten umgeben sind, im Einzelnen betrachtet bzw. als voneinander isolierte Wassermassen behandelt. Eine derartige geographisch-architektonische Korrektur kann allerdings im Rahmen der Theorie der Universalgravitation, die hier das übergeordnete Paradigma bildet (und für deren Bestätigung Newton seine Gezeitentheorie entwickelte), nicht durchgeführt werden. Denn sie würde die paradigmatische Vorstellung von der Universalgravitation maßgeblich verletzen bzw. ihr völlig widersprechen. Wenn die Meeres- oder Seenebene als die tiefste Ebene auf der Erdoberfläche dargestellt und demnach als durch die umgebenden Land- und Berggebiete isolierte Wassermassen behandelt werden, sollte sich aus der Zusammenwirkung von der lunaren und solaren Gravitation hydrostatisch keine Sukzession von Flut und Ebbe, wie in den gewöhnlichen tagtäglichen Gezeitenphänomenen beobachtet wird, sondern umgekehrt eine Sukzession von Ebbe und Flut ergeben. Dies würde darauf hinweisen, dass das beobachtete Gezeitenphänomen, in dem die Flut der Ebbe vorausgeht, nicht durch eine außerirdische gravitationelle Anziehung, sondern durch eine gravitationelle Abstoßung des Monds und der Sonne auf der Erde zustande kommt, was der axiomatischen Vorstellung von Universalgravitation von vornherein widersprechen würde. Newtons Begründung der lunar- und solargravitationellen Wirkung auf das irdische Phänomen der Gezeiten basiert offensichtlich auf dem Prinzip der hydrostatischen Gleichgewichtslage. Dabei scheint sich Newton auf eine einfache und naive Analogie zwischen der gravitationellen Anziehung, die das vertikale Fallen der soliden und fluiden Objekte zur Erde entstehen lässt, und der ebenso vertikalen bzw. zentrifugalen Abhebung der Wasserebene in Form einer Wölbung auf den Meeren (durch die Zusammenwirkung von lunarer und solarer Gravitation) zu stützen. In der Geschichte der Gezeitenforschung gab es zahlreiche Unternehmungen, in denen neben oder über das im Allgemeinen angenommene Erklärungsprinzip Newtons hinaus andere irdisch-mechanische Ursachen für das Naturphänomen der Gezeiten gesucht wurden. Denn man entdeckte Anomalien im Gezeiten-Phänomen an verschiedenen Orten der Erde, die Newtons Gesetz der Gezeiten und seiner Fähigkeit, dieses Phänomen zu prognostizieren, zu widersprechen schienen. Aber die unfehlbare 348 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Exkurs: Gezeitenphänomen
Periodizität bzw. das tägliche und regelmäßige Ereignis der Gezeiten und dessen Zusammenhang mit der himmelsmechanischen Konstellation zwischen der Erde, dem Mond und der Sonne belegen deutlich, dass die Gezeiten und die genaue Periodizität ihrer Entstehung letztendlich auf die gravitationelle Wirkung von Mond und Sonne auf den riesigen Meeren auf der Erdoberfläche zurückzuführen sind. Die Wölbung der Wassermasse durch die gravitationelle Anziehung von Mond und Sonne, wie in Figur 14 dargestellt, ist bekanntlich ein hydrodynamisches Phänomen. Denn Wasser ist ein Fluidum, dessen Oberfläche unter der Wirkung einer vertikalen Kraft wie der gravitationellen Anziehung nicht überall gleich angehoben wird. 13 Die Erhöhung der Meeresebene bei Gezeiten – in Form einer Wölbung – geschieht jedoch hydrodynamisch nicht am Rande der Meere oder Seen, sondern im Inneren des Meeres, in dem das Wasser viel tiefer ist. Neben dem hydrodynamischen Strukturprinzip, das erklärt, wie sich die Wassermasse gegenüber der gravitationellen Anziehung verhält, bildet die Tiefe des Wassers hierbei ein entscheidendes Faktum. Denn gemäß dem Gravitationsgesetz wird der tiefe und demnach schwere Wasserkörper im Meer stärker angezogen als das flache bzw. untiefe Wasser an Meeresufern. Das Phänomen der Gezeiten ereignet sich jedoch an Meeresufern in einer Sukzession von Flut und Ebbe. Gemäß Newtons Erklärung der Gezeiten veranlasst die gravitationelle Wölbung des tieferen Wasserkörpers in Meer und deren Auflösung – durch die Drehung der Erde – das Gezeitenphänomen bzw. die Sukzession von Flut und Ebbe. Diese Schlussfolgerung Newtons scheint aber auf einer unzureichenden oder sogar nicht schlüssigen strukturellen Intuition des Gezeitenphänomens zu basieren. Denn wenn wir uns in unserer intuitiven Vorstellung vom Gezeitenphänomen auf die Struktur der lunaren, aber auch auf die der irdischen gravitationellen Anziehung im Meer – zusammen mit der sphärischen Form dieser Himmelskörper und dem genauen hydrodynamisch-strukturellen Verhalten des Wasserkörpers – fokussieren, würde es uns rätselhaft erscheinen, warum die gravitationelle Wölbung der Meeresoberfläche im Gezeitenphänomen zunächst eine Flut am Meeresufer entstehen lässt. Ein Beispiel für die gleichmäßige Erhöhung der Wasserebene ist die Flut an Flüssen und Seen, die meistens durch starken und dauerhaften Regenfall sowie durch die Schneeschmelze in den Bergen zustande kommt. Die Gezeiten unterschieden sich von solchen Fluten dadurch, dass sie nicht durch derartige Addition von Wasser entstehen.
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Die Referenzialität der Erkenntnis
Die deutliche Ungereimtheit in der newtonschen Vorstellung vom Gezeitenphänomen – auf der Basis der Universalgravitation – könnte beseitigt werden, wenn das Gezeitenphänomen auf der Erde von Anfang an durch ein richtiges bzw. geographisch-architektonisch korrektes Bild der Erde oder des Erdquerschnitts dargestellt und analysiert würde. Ein korrektes Bild des Erdquerschnitts, in dem die Meeresebene als die tiefste Ebene auf der Erdoberfläche dargestellt werden sollte, würde – zwar nur repräsentativ – folgendermaßen aussehen:
Figur 17
Hier stellen die gebrochenen Linien auf der Kreisperipherie des Erdquerschnitts die von den höheren Landgebieten und Bergebenen umringten und vereinzelten Meere dar. Falls dieses Bild zur Darstellung des Gezeitenphänomens in der postnewtonschen Entwicklungsgeschichte der Himmelsmechanik benutzt worden wäre, hätte es der newtonschen Erklärung des Gezeitenphänomens von Grund auf widersprochen. Dies geschah aber nicht, da die Überzeugung von der Universalgravitation, nach der sich alle Himmelskörper gegenseitig anziehen, weiterhin vorherrschte und sich als ein übergeordnetes Paradigma etablierte. Weil Newtons Erklärung des Gezeitenphänomens 350 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Exkurs: Gezeitenphänomen
die wichtigste empirische Evidenz für die Universalgravitation darstellte, wurde diese Anomalie in der Demonstration bzw. in der bildlichen Darstellung entweder einfach übersehen, oder – zugunsten der Paradigmatisierung der Universalgravitation – nicht aufgeklärt. Allerdings ist kaum anzunehmen, dass diese deutliche Anomalie in der bildlichen Demonstration des Gezeitenphänomens in der postnewtonschen Gezeitenforschung unbemerkt blieb. Ein treffendes Beispiel dafür ist eine Bemerkung von Sir George Howard Darwin in seinem Hauptwerk »The Tides«, nämlich dass die Gezeiten scheinbar durch eine lunar-gravitationelle Abstoßung zustande kämen: »It would seem then as if the tidal action of the moon was actually to repel the water instead of attracting it, and we are driven to ask whether this result can possibly be consistent with the theory of universal gravitation.« 14
Allerdings erörterte Sir Darwin diese durchaus wichtige Bemerkung in seinem Werk nicht näher. Er versuchte außerdem die Anomalie bzw. die problematische Prämisse in der newtonschen Begründung des Gezeitenphänomens dem Gesetz der Universalgravitation nicht entgegenzusetzen, sondern sie unter dem Gesetz der Universalgravitation zu subsumieren. 15 Wie bereits erwähnt, ist es das jahrhundertlang tradierte Musterbild des Gezeitenphänomens, das die newtonsche Erklärung (des Gezeitenphänomens) historisch etablierte. Natürlich läuft eine derartige bildliche Paradigmatisierung – gegenüber der verbalen Erklärung – immer Gefahr, die ursprünglichen Ungereimtheiten oder die unterdrückten Anomalien sichtbar werden zu lassen. Dagegen scheint die Sprache die Marginalisierung oder die vollkommene Unterdrückung wichtiger Prämissen anhand semantischer Verschleierung, Überbetonung, strategischer Andeutung oder sogar durch bloßes Schweigen besser zu leisten. Das wissenschaftliche Bild, besonders wenn es sich auf die himmelsmechanischen Phänomene und ihre Strukturen bezieht, ist primär eine produktive Einbildung, die bildliche Prämissen zur Verfügung hat. In dem oben erörterten Fall erweist sich eine wichtige bildliche Prämisse als falsch. Allerdings könnten verschiedeDarwin, George Howard Sir: The Tides, Lectures delivered in 1897 at the Lowell Institute, Boston, Massachusetts, The Riverside Press, Cambridge MA 1899, S. 161– 162. Vgl. auch Brownlie, Alexander: The Science of the Tides. A Study in Physical Geography, Journal of the American Geographical Society of New York, Vol. 32, No. 5 (1900), S. 471. 15 Brownlie, a. a. O., S. 471; Darwin, a. a. O., S. 250. 14
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Die Referenzialität der Erkenntnis
ne Weltbilder aus verschiedenen Bildprämissen – die alle zwar korrekt sein mögen, aber die zugunsten der sich etablierenden Paradigmen bevorzugt werden – zustande kommen. Hier sehen wir, wie die Referenzialität eines tradierten Bildes, das ein herrschendes Paradigma, nämlich die (newtonsche) Universalgravitation, historisch etablierte, dem wirklichen Gegenstandsbezug des Gezeitenphänomens auf irdischen Gewässern von vornherein widerspricht. Offensichtlich hat das wirkliche Phänomen erkenntnistheoretisch bzw. im Rahmen der erkenntnistheoretischen Referenzialität einen Vorrang vor dem Bild, das dieses Phänomen darstellen bzw. wahrhaft wiedergeben sollte. Während bei der vorher erörterten Priorisierung bildlicher Prämissen desselben Naturphänomens, nämlich der Gravitation, eine bestimmte Wirkungsart zugunsten der Demonstration einer bestimmten Theorie bevorzugt wurde, fand in diesem Fall eine falsche Repräsentation eines Naturphänomens historische Anerkennung und Legitimität, indem diese Repräsentation vollkommen mit dem herrschenden Wissenschaftsparadigma – der Universalgravitation – übereinstimmte. Daraus lässt sich folgern, dass die Referenzialität der Erkenntnisse im Einzelnen und der Erkenntnissysteme im Allgemeinen von den herrschenden Wissenschaftsparadigmen bestimmt und sogar manipuliert werden kann. In dieser Weise bezieht sich die wissenschaftliche Paradigmatisierung auf eine gewisse Priorisierung und Manipulierung der erkenntnistheoretischen Referenzialität. In den oben erörterten Beispielen handelt es sich um eine eher verstandesmäßige Priorisierung oder Manipulation – ungeachtet dessen, ob sie bewusst-strategisch oder unbewusst zustande kam. In beiden Fällen ist es die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung der Naturphänomene, die die strategische Bevorzugung oder Verfälschung etlicher Prämissen ins rechte Licht rückt. D. h. die Sinnlichkeit ist hier der Maßstab, nach dem die Angemessenheit, Wahrheit oder Falschheit der erkenntnistheoretischen Referenzialität bewertet werden. Denn allein die Sinnlichkeit verbindet das wahrnehmende und erkennende Subjekt mit dem wirklichen Gegenstand. Daher kann der Gegenstandsbezug in unmittelbarer Sinnlichkeit gegenüber dem in den rein apriorischen Vorstellungen, die jener – oben erörterten – strategischen Priorisierung und Manipulation unterworfen werden können, eine höhere und unter Umständen unfehlbare Plausibilität erlangen. Freilich bildet die Sinnlichkeit nur in Verbindung mit dem Ver352 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Exkurs: Gezeitenphänomen
stand eine sichere Basis der Erkenntnis. Die Sinnlichkeit an sich bzw. als Erkenntnisgegenstand könnte sich als durchaus problematisch erweisen. Auch wenn die Referenzialität der Erkenntnis sich programmatisch in die Referenzialität des Verstandes und in die der Sinnlichkeit einteilen lässt, kann die reine Gegenstandsbezogenheit der Sinnlichkeit ohne den – sich darauf beziehenden – Verstand keine hinreichende erkenntnistheoretische Legitimität erlangen. Die Referenzialität der Sinnlichkeit schließt den zu wahrnehmenden Gegenstand in sich ein – und zwar in seiner unmittelbaren Gegebenheit. Mit anderen Worten: Die Referenzialität der Sinnlichkeit setzt die unmittelbare Beteiligung des Gegenstands am Wahrnehmungsprozess voraus. Diese Beteiligung garantiert oder gewährleistet allerdings nicht, dass die sinnliche Wahrnehmung des Gegenstands mit dem Modus seiner objektiv-phänomenalen Existenz identisch oder zu ihm analog ist. Denn der sinnlich wahrgenommene Gegenstand – vornehmlich im Sehen, als Sehbilder – ist diversen Verzerrungen und Täuschungen unterworfen, worauf Descartes und andere Philosophen der Neuzeit verwiesen haben. Die optischen Anomalien und perspektivischen Verzerrungen der Sehbilder zeigen deutlich die möglichen Unstimmigkeiten zwischen der perzeptiven und der phänomenalen Gegenständlichkeit. Dazu zählt auch das Problem der Objektivität der Sinneswahrnehmungen wie Farbigkeit, Ton, Geschmack, Geruch oder taktile Empfindungen. Die unmittelbare Beteiligung der wirklichen Gegenstände an den Sinneswahrnehmungen besagt, dass die Sinnlichkeit eine natürliche und unmittelbare Referenzialität hat. Allerdings ist die gegenständliche Beteiligung an der Sinnlichkeit nicht als selbstverständlich anzunehmen. Denn die Sinnlichkeit entsteht aus den Empfindungsinhalten, die zwar die Gegenstände liefern, die aber eine von den Gegenständen verschiedene Seinsweise aufweisen – wie Farbe, Ton, Geschmack usw. Zusätzlich zu dieser ontologischen Differenz bestehen andere Probleme wie die räumliche Lokalisation der Sinneswahrnehmungen, die die geläufige Vorstellung von der Referenzialität der Sinnlichkeit kaum hinreichend begründen kann. Eines der lange tradierten und durchaus aktuellen Probleme in diesem Bezug ist die visuelle Größenwahrnehmung – ein Problem, das seit der kartesischen Begründung der modernen Optik von Philosophen, Psychologen und Wissenschaftlern der Optik diskutiert wird. Die verschiedenen Probleme, die bereits beim Aufgang der Wissenschaft der Optik in der Frühmoderne festgestellt wurden, ent353 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Referenzialität der Erkenntnis
standen ursprünglich aus einer Grundproblematik der wahrnehmungstheoretischen Referenz, nämlich aus der Annahme, dass die Netzhautbilder der einzige Input im Sehvorgang seien. Johannes Keplers Entdeckung der retinalen Abbildungen markierte fast paradigmatisch einen Wechsel der Referenz – und zwar von den seit Platon tradierten Sehstrahlentheorien hin zu einer rein rezeptiven Optik, in der der Ausgangspunkt eines psychologischen Sehvorgangs nicht der aktuelle Gegenstand, sondern seine retinale Abbildung ist. Nach Platon entsteht das Sehen bzw. die visuelle Wahrnehmung nicht allein durch die Lichtstrahlen, die, von Gegenständen reflektiert, in die Augen fallen, sondern vielmehr durch die projektiven Sehstrahlen, die im Sehvorgang eine strukturelle Einheit mit den Lichtstrahlen bilden. Platons Sehstrahlentheorie herrschte während der Antike und wurde bis zum europäischen Mittelalter tradiert. Die Entdeckung des Netzhautbildes in der Frühmoderne veranlasste den Aufgang und die historische Etablierung der modernen Sehtheorien, in denen nicht von projektiven Sehstrahlen, sondern von den bloß rezeptiven Netzhautbildern, die die Lichtstrahlen im Auge entstehen lassen, ausgegangen wird. Der Preis für diese historisch-paradigmatische Überwindung der Sehstrahlentheorien war die Inkaufnahme des Problems der wahrnehmungstheoretischen Referenz bei der visuellen Wahrnehmung der richtigen Größe, Tiefe und Lage der Gegenstände sowie der perspektivischen Struktur des Sehraumes. Denn das relativ winzige, zweidimensionale und umgedrehte Netzhautbild gibt keine hinreichende Referenz zu den wirklichen Größen-, Distanz- und Lagewahrnehmungen. Unter den verschiedenen Aporien der visuellen Wahrnehmung wurde das Problem der Distanzwahrnehmung im Rahmen der physiologischen Optik, aber auch im Rahmen der Psychologie am meisten diskutiert: »Das Problem der visuellen Wahrnehmung hat eine lange Geschichte. Jahrhundertelang verspürten Menschen das Verlangen nach einer Erklärung dafür, weshalb denn Dinge gesehen werden. Unter den vielen schwierigen Fragen, die das Problem beinhaltet, ist die älteste und umfassendste vielleicht diese: Wie kann man die Ergiebigkeit des Sehvermögens erklären in Anbetracht der Unzulänglichkeit des Bildes innerhalb des Auges? Das Sehen hängt von diesem Netzhautbild ab. Aber wie unangemessen erscheint es im Vergleich zu dem Ergebnis! Die sichtbare Szene hat räumliche Tiefe, Entfernung und Körperlichkeit; das Bild ist flach. Wie kann das Sehen auf den Bildern in den Augen beruhen und doch eine Szene hervorbringen, die sich bis zum Horizont erstreckt? Die physikalische Umwelt hat drei Dimen-
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Exkurs: Gezeitenphänomen
sionen; das Licht projiziert sie auf eine lichtempfindliche zweidimensionale Oberfläche; sie wird dennoch in drei Dimensionen wahrgenommen. Wie kann die verlorene dritte Dimension in der Wahrnehmung zurückgewonnen werden?« 16
Hier verweist Gibson darauf, dass der alleinige Bezug auf das Netzhautbild überhaupt keine adäquate Referenzialität der visuellen Distanzwahrnehmung sein kann. Die Referenz auf das Netzhautbild im unmittelbaren Sehvorgang wurde im frühneuzeitlichen Diskurs vor allem dadurch problematisiert, dass wir beim Sehen nicht das Netzhautbild, sondern die Gegenstände in unserem Sehraum visuell wahrnehmen. Der Bezug auf das Netzhautbild als die einzige gegenständliche Referenzialität des Sehens und seiner Wesenszüge wie der visuellen Größen-, Lage- und Distanzwahrnehmung setzt stillschweigend voraus, dass das Netzhautbild im Auge vom Geist irgendwie gesehen wird. Selbst Kepler, der das Netzhautbild entdeckte, machte bekanntlich diese Tatsache zum Streitpunkt: »Kepler (1604) leaves to the natural philosopher the question of whether the retinal image ›is made to appear before the soul or tribunal of the faculty of vision by a spirit within the cerebral cavities, or the faculty of vision, like a magistrate sent by the soul, goes out from the council chamber of the brain to meet this image in the optic nerves and retina, as if it were descending to a lower court.‹« 17
Keplers Polemik richtet sich nachdrücklich auf die problematische Referenzialität der modernen Sehtheorien, die allein das Netzhautbild, das nicht gesehen wird, als Ausgangspunkt im Sehvorgang anerkennen. In der Geschichte der frühneuzeitlichen Sehtheorien gibt es zahlreiche Unternehmungen, die oben erörterten Probleme der visuellen Größen-, Lage- und Distanzwahrnehmung zu bewältigen. Davon sind die Lösungsversuche Berkeleys in seinem Frühwerk An Essay towards a New Theory of Vision und die Theorie der Inferenz von Locke und Helmholtz besonders erwähnenswert. Watsons Theorie der Stereoskopie schien die visuelle Tiefen- und Soliditätswahrnehmung zur damaligen Zeit erfolgreich zu erklären. Aber die Technik der Stereoskopie, die besonders heute bei der Erzeugung virtueller Dreidimensionalität aus flachen, statischen Bildern sowie
16 17
Gibson, James J.: Die Wahrnehmung der visuellen Welt, Basel 1973, S. 18. Braunstein, Myron L.: Depth Perception Through Motion, New York 1976, S. 5.
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Die Referenzialität der Erkenntnis
aus dynamischen Film- und Fernsehbildern angewandt wird, kann die ursprüngliche Entstehung der visuellen Tiefenwahrnehmung kaum hinreichend begründen. Denn wir vermögen die freiräumliche Tiefe und gegenständliche (dreidimensionale) Solidität auch mit einem Auge – wenn auch unvollkommen – visuell wahrzunehmen. D. h. es ist nicht das Faktum des stereoskopischen Sehens, das die visuelle Tiefenwahrnehmung ursprünglich erzeugt, obwohl dieses Faktum die Dreidimensionalität unseres Sehraumes weitgehend modifiziert. Die visuelle Wahrnehmung der wirklichen freiräumlichen und gegenständlichen Ausdehnung erweckt unmittelbar den Anschein, dass das Sehen sich auf einen wirklichen Sehraum ausdehnt. Ein derartiger wirklicher Bezug auf die freiräumliche Ausdehnung und auf die Gegenstände im Sehraum würde nicht nur das Problem der visuellen Tiefen- und Größenwahrnehmung, sondern auch alle anderen, mit dem Sehvermögen verbundenen Probleme – wie die richtige Wahrnehmung der Lage (trotz der Umdrehung und Seitenverkehrung des Netzhautbildes), die Perspektivität des Sehraumes, die Wahrnehmung der nicht-körperlichen (freiräumlichen) Ausdehnung usw. – auf einmal bewältigen. Aber diese wahrnehmungstheoretische Referenzialität kann im Rahmen der frühneuzeitlichen Wissenschaft der Optik kaum legitimiert werden, denn sie würde der neuzeitlichen paradigmatischen Vorstellung von einer rein rezeptiven Optik, in der man die Grenzen der Augen nicht überschreitet bzw. allein von dem im Auge entstehenden Netzhautbild ausgeht, vollkommen widersprechen. Darüber hinaus würde sie die lange tradierte und von der modernen Optik diskreditierte Sehstrahlentheorie wieder legitimieren. Während im zweidimensionalen Netzhautbild das Faktum der dreidimensionalen Tiefe gänzlich fehlt, scheinen die in ihm abgebildeten verschiedenen Größen der Gegenstände die wirkliche Wahrnehmung der Sehgrößen zu suggerieren. Auf der Möglichkeit einer derartigen wahrnehmungstheoretischen Suggestion basierte die Theorie der unbewussten Inferenzen, vertreten von den Philosophen und Wissenschaftlern der Optik in der Neuzeit wie Locke und Helmholtz. Nach der Theorie der Inferenz stützt sich der Geist bei der wirklichen visuellen Größenwahrnehmung unbewusst auf die Abbildungsgrößen der Gegenstände im Netzhautbild, also auf ihre Referenz. Étienne Bonnot de Condillac polemisierte gegen die Theorie der Inferenz, indem er auf zwei ihrer problematischen Annahmen verwies, nämlich auf folgende:
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Exkurs: »Object Size Consistency«
1. 2.
Die Theorie der unbewussten Inferenz setzt stillschweigend voraus, dass das Netzhautbild im Sehvorgang gesehen wird. Die Annahme, dass die Abbildungsgrößen auf dem Netzhautbild dem Geist die Wahrnehmung richtiger Sehgrößen suggerieren können, ist nicht stimmig.
Während das erste Argument ersichtlich war, versuchte Condillac, sein zweites Argument gegen die Inferenz-Theorie durch ein augenoptisches Phänomen, nämlich die object size consistency, aufzuzeigen:
Exkurs »Object Size Consistency« Dass es eine unmittelbar augenoptische Verbindung zwischen der Netzhautabbildung und den wirklichen Erscheinungsgrößen der Gegenstände geben soll, scheint das tradierte und immer noch aktuelle Problem der object size consistency in der visuellen Größenwahrnehmung zu belegen. In seinem Werk Molyneux’s Question. Vision, Touch and the Philosophy of Perception erörtert Michael M. Morgan, wie Condillac die Aporie der object size consistency und demnach die der visuellen Größenwahrnehmung experimentell zu belegen suchte. Condillac widerspricht der zu seiner Zeit vorherrschenden Lehre der unbewussten Inferenzen, die von Philosophen wie Locke und später von Wissenschaftlern der Optik wie Helmholtz vertreten wurde: »Locke’s error, as Condillac clearly points out, was to think that we see the retinal image at all. If we first see the flat image and then later perceive, Locke’s argument (and Helmholtz’s) follows: some process of inference must have go on. But if we never see the image – and Condillac correctly points out that we are never conscious of so doing – then the ›inference‹ is gratuitous. We do not and cannot see the retinal image: we see objects in the outside world. The Lockean and Helmholtzian language of ›unconscious inference‹ is an undesirable relic of the ›camera‹ theory of vision. In some respects Condillac thought more clearly about this problem than many contemporary psychologists. Take the question of ›object consistency‹ for example. Condillac knew that ›If a man four feet away … steps backward to eight feet, the image of him on the retina is halved in size.‹ Because of this it has seemed even to some contemporary theorists to be a problem that objects do not shrink rapidly in size as they go away. Originally, the descriptive term ›object size consistency‹ was used to refer to the
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Die Referenzialität der Erkenntnis
non-shrinkage phenomenon. Its use in that way is unexceptionable. But some people now use the term ›consistency‹ as if it applied to a process which set to work on the retinal image: they speak of consistency ›scaling things up‹ or ›scaling them down‹. What exactly do they think is being altered in size by constancy? The size of objects? Obviously not. The retinal image? Still less so. The size of an image in the brain? Possibly: but for what purpose? A moment’s thought shows the problems in treating constancy as a magnifying/minifying process. The cause of the fallacy is the belief that we see the retinal image. Condillac disposes of the fallacy. For one thing, he makes the very just remark that ›If perception is an inference involving a link between the idea of a man and a height of about five feet, either I should not see the man at all, or I should see him five feet tall‹ – whereas in fact objects seem to decrease insensibly in size as they move into the middle distance. He ends with the remark ›Nature determines that the sight of these objects should tell me how far the man is away; it is impossible that I should not have this impression every time I see them.‹ In other words, we see things as we do, not because we make inferences, but because we are as we are. As modern jargon would have it, the system is hard-wired.« 18
Figur 18 19
Die »object size consistency« ist ein augenoptisches Phänomen, die wir im Alltag fortwährend erfahren. Falls die visuelle Größenwahrnehmung allein auf die Größe der Netzhautabbildung angewiesen wäre, würden die nahen Sehobjekte während ihrer Bewegung oder während der Bewegung des Betrachters in kurzer Zeit ihre Erscheinungsgröße ändern, sich also vergrößern oder verkleinern. In dem oben dargestellten Sehmodell (Figur 18) verkleinert sich die Abbildungsgröße gemäß den geometrisch-optischen Prinzipien rapider, Morgan, Michael J.: Molyneux’s Question. Vision, Touch and the Philosophy of Perception, Cambridge 1977, S. 78–79. Vgl. auch PMS, 199–201. 19 Vgl. PMS, S. 200. 18
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Exkurs: »Object Size Consistency«
wenn sich die Bewegung bzw. das Sich-entfernen des Sehobjekts in der nahen Umgebung ereignet, als später bzw. wenn das Sehobjekt vom Auge weit entfernt wird. D. h. bei größeren Entfernungen wird die Verkleinerung der Netzhautabbildung immer geringer und langsamer. Folglich ist es verständlich, dass ein Sehobjekt bei größeren Entfernungen klein erscheint, da die Größe der Netzhautabbildung im Vergleich zu ihrer anfänglichen rapiden Verkleinerung mehr oder weniger konstant und klein bleibt (indem sie sich sehr langsam verkleinert). Allerdings kommt uns das Phänomen der object size consistency im Hinblick auf die anfängliche rapide und erhebliche Verkleinerung der Netzhautabbildung (wenn sich das Objekt in naher Umgebung des Betrachters bewegt) rätselhaft vor. Indem die rapide Verkleinerung der Netzhautabbildung der visuell wahrzunehmenden object size consistency theoretisch widerspricht, scheint dieses Phänomen eher auf der Größenkonsistenz des Objekts selbst zu basieren. Dies unterstützt nachdrücklich die oben erörterte Objekt-Referenz in Bezug auf die visuelle Größenwahrnehmung. In dieser Weise scheint das augenoptische Phänomen der object size consistency die Vorstellung zu begründen, dass die wahre Referenz bei der visuellen Größenwahrnehmung das Sehobjekt selbst ist. In der oben zitierten Betrachtung widerlegt Condillac die durchaus ungereimte Annahme, dass die visuelle Größe der Gegenstände von ihrer Abbildungsgröße im Netzhautbild abhängig ist, aus den folgenden (bereits erörterten) Gründen: 1. Nicht das Netzhautbild wird gesehen, sondern die wirklichen Erscheinungen im Sehraum. 2. Unabhängig von der rapiden Vergrößerung oder Verkleinerung der Netzhautabbildung bleibt die Erscheinungsgröße der nahen Gegenstände fast unverändert. 3. Die sehr kleine Fläche der Netzhautabbildung kann der Entstehung der annähernd richtigen visuellen Größe der Gegenstände nicht als Basis dienen. Diesen Betrachtungspunkten ist zu entnehmen, dass der wirkliche Sehvorgang in einer Einheit von Tiefen- und Größenwahrnehmung entsteht, indem der Gesichtssinn manche Wesenszüge des leiblichen Tastsinns annimmt. Sowohl bei der visuellen Größenwahrnehmung der nahen Gegenstände als auch bei der der entfernten Gegenstände erfahren wir unmittelbar, dass die visuelle Größenwahrnehmung in einer natürlichen Verbindung mit der Tiefenwahrnehmung – die durch die sichtbare Perspektivität des Sehbildes oder -feldes am ehes359 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Referenzialität der Erkenntnis
ten belegt wird – entsteht, sodass wir die Sehobjekte optisch anzutasten scheinen, ebenso wie wir die kleineren und nahen Objekte mit den Händen anfassen können. Eine derartige Einheit zwischen der visuellen Tiefen- und Größenwahrnehmung erörtern wir eingehend anhand der kommenden Ansatzpunkte. Hierbei ist noch zu bemerken, dass sich diese unmittelbar erfahrbare Einheit letztendlich auf die Domäne der externen bzw. außerleiblichen geometrischen Optik zu beschränken scheint. Denn diese geometrisch-perspektivische Struktur des Sehraumes ist primär keine interne Konstruktion – wie die Imagination –, sondern eine externe bzw. außerleibliche Erfahrung. Nun lässt sich die Frage stellen, ob die unmittelbare Erfahrung der Einheit zwischen Tiefen- und Größenwahrnehmung und alle ihre Wesenszüge wie die annähernd richtigen Größen, Lagen und die Solidität der nahen Erscheinungen, die Perspektivität des Sehbildes, die visuelle Wahrnehmung des Freiraumes (der auf der Netzhaut nicht abgebildet wird) usw. tatsächlich allein neuronal im Gehirn entwickelt werden oder in der Wirklichkeit des außerleiblichen Sehraumes, und zwar geometrisch-optisch, zustande kommen. Wie vorher erörtert wurde, bildet das Netzhautbild zugleich die Grenze und die Verknüpfung zwischen den zwei Teilen der Augenoptik, nämlich zwischen dem geometrisch-optischen und dem physiologischen Teil – bzw. dem Teil des Sehvorgangs von der Erzeugung der photoelektrischen Signale auf der Netzhaut und deren Übertragung in das Gehirn durch Sehnerven bis zu ihrer neuronalen Bearbeitung. Wenn der Sehvorgang sich allein auf den physiologischen Teil beschränkt, werden alle oben erörterten Charakteristika der visuellen Größenwahrnehmung neuronal erzeugt bzw. verursacht. Die neuronalen Prozesse als Ursache der oben erörterten object size consistency könnten experimentell demonstriert werden (obwohl die neuronale Basis der visuellen Größenwahrnehmung aufgrund ihrer ontologischen Differenz durchaus inadäquat ist). D. h. die object size consistency in Bezug auf die visuelle Größenwahrnehmung könnte durch eine ebenso konsistente neuronale Prozessbasis unterstützt werden, obwohl sich der Input – die Größe der Netzhautabbildung – radikal ändert. Dennoch scheint es ungereimt, anzunehmen, dass das Phänomen der object size consistency allein auf einer neuronalen Ursächlichkeit aufbaut. Vielmehr scheint eben diese Ursächlichkeit durch die wirkliche geometrisch-perspektivische Struktur des Sehraumes und durch die oben erörterte Objekt-Referenz in der visuellen Größenwahrnehmung vorausgesetzt zu werden. D. h. die Ursächlichkeit 360 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Exkurs: »Object Size Consistency«
der object size consistency scheint hier primär im externen geometrisch-optischen Teil des Sehvorgangs selbst zustande zu kommen und eher sekundär aber notwendig die neuronale Basis zu bedingen. In der Sprache der Logik könnte es folgendermaßen ausgedrückt werden: Für das visuelle Phänomen der object size consistency ist seine neuronale Prozessbasis eine notwendige, aber keine hinreichende Ursächlichkeit; sie bildet keine primäre, sondern eine korrelative Ursächlichkeit. Die saubere Trennung zwischen einer geometrisch-optischen Wirkung und ihrer bloß neuronalen Verursachung ist hier eine unmögliche Unternehmung. Die Ursächlichkeit dieser und ähnlicher Wesenszüge des wirklichen Sehens scheint sich zugleich auf den rein physiologischen und den außerleiblichen geometrisch-optischen Teilvorgang des Sehens zu erstrecken. Kurzum: Bei der visuellen Größenwahrnehmung lässt sich eine neuronale Ursächlichkeit von einem außerleiblichen und dem Wesen nach geometrisch-optischen Wirkungsbereich kaum trennen; vielmehr scheint die visuelle Größenwahrnehmung auf der operationalen Einheit zwischen dem physiologisch-neuronalen und dem außerleiblichen geometrisch-optischen Teil des Sehvorgangs zu basieren. Die oben erörterten Aporien der visuellen Größenwahrnehmung lassen sich nur durch eine derartige Einheit lösen. Die »Object Size Consistency« scheint zu suggerieren, dass bei der visuellen Größenwahrnehmung nicht das Netzhautbild, sondern der Gegenstand selbst (dessen wirkliche Größe unverändert bleibt) als Bezugspunkt anzunehmen ist. D. h. die Referenzialität der visuellen Größenwahrnehmung wird nicht rein physiologisch-optisch und des Weiteren neuronal, sondern in erster Linie rein gegenständlich bestimmt. Die moderne Wissenschaft der Augenoptik oder der Ophthalmologie würde eine derartige Referenzialität nicht anerkennen, denn sie setzt voraus, dass sich der Gesichtssinn tatsächlich im wirklichen Sehraum ausdehnt. Das hier angedeutete Problem der Referenzialität zwischen den wirklichen Gegenständen und deren Abbildung auf der Netzhaut gilt ebenso für die visuelle Tiefen- und Lagewahrnehmung. Während die Vorstellung vom Netzhautbild als Ausgangspunkt und demnach als alleiniger Bezugspunkt im Sehvorgang der Grund für alle oben erwähnten und erörterten Probleme der visuellen Wahrnehmung ist, würden diese Probleme durch die Vorstellung von einer unmittelbaren Referenz auf die gesehenen realen Gegenstände und auf 361 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Referenzialität der Erkenntnis
den ebenso realen Zwischenraum im Sehvorgang auf einmal gelöst. Diese (notwendige) Umdeutung der Referenzialität des Sehens würde bei den Wissenschaftlern der Optik und der Ophthalmologie jedoch keine Anerkennung finden oder gar auf sofortige Ablehnung stoßen, denn sie geht deutlich über den vorherrschenden bzw. historisch-paradigmatisch etablierten Rahmen dieser Wissenschaft hinaus. Die Entstehung des dreidimensionalen Sehbildes ist offensichtlich eine Individuation im Rahmen eines mentalen bzw. sinnlichen Phänomens. Der wichtigste Grundzug einer derartigen Individuation ist zweifelsohne der besondere ontologische Status, dass das Sehbild nicht materiell – d. h. bestehend aus wirklichen Objekten und dem ebenso wirklichen Freiraum – ist, sondern ein mentales Phänomen, das sich – mit den Worten von Descartes – als ein zweiter Modus der dinglichen Existenz erweist. Abgesehen von dieser ontologischen Differenz besteht das Sehbild rein strukturell aus räumlichen und zeitlichen Dimensionen, dargestellt in der visuellen Größen-, Distanz-, Lage- und Soliditätswahrnehmung und in der Wahrnehmung der Perspektivität und Bewegungen, sowie aus den sekundären Qualia wie Farbigkeit, Helligkeit und Dunkelheit der Gegenstände. Die Wahrnehmung der sekundären Qualia lässt sich zwar auf materielle Ursachen, wie das Licht, die chemische Komposition der gegenständlichen Oberfläche usw., zurückführen, aber die Entstehung der Farbigkeit und Helligkeit im Sehen bildet letztendlich eine reine Emergenz, also eine von materiellen Ursachen ontologisch gänzlich differente mentale Individuation. Auch wenn wir eine solche rein mentale Emergenz der sekundären Sinnesqualia für real halten (indem wir die wirkliche Existenz eines ästhetischen Subjekts von unserem subjektiven Standpunkt her legitimieren), erscheint uns die Individuation der primären Qualia im Sehbild – dargestellt in den oben erwähnten Grundzügen des Sehraumes – rätselhaft, gar wie eine Aporie. Hier sind wir uns nicht im Klaren darüber, ob das Subjekt imstande ist, aus der Gegebenheit des Netzhautbildes – als die einzige Referenz – eine fast vollkommene Größen-, Lage- oder Distanzwahrnehmung sowie die exakte Wahrnehmung der Perspektivität und Bewegungen der Objekte im unmittelbaren und nahen Sehraum zu entwickeln. Wenn die visuelle Wahrnehmung der sogenannten primären Qualia ein Rätsel – eine Aporie – ist, verweist sie im Grunde auf die Aporizität der wissenschaftlich tradierten Referenzialität selbst, nämlich der Referenzialität des Netzhautbildes. Wie zuvor dargelegt wurde, bedingt eine derartige Aporie eine Umdrehung der Referenzialität bzw. eine wahrneh362 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die gegenständliche Referenzialität
mungstheoretische Umdrehung des Verhältnisses zwischen dem Referenten und der Referenz, indem wir in Bezug auf die Begründung von visuell individuierten primären Qualia nicht lediglich vom Netzhautbild, das nicht gesehen wird, sondern von den sichtbaren realen Gegenständen und dem realen Freiraum ausgehen. Dieser Wechsel der Referenzialität impliziert auch die Geltung der lockeschen Differenzierung zwischen primären und sekundären (sinnlichen) Qualia auch für die Individuation mentaler bzw. sinnlicher Phänomene, dargestellt sowohl in den leiblichen als auch in den außerleiblichen Formen der Sinnlichkeit. Die hier angedeutete Identität zwischen Referent und Referenz in der sinnlichen Wahrnehmung verleiht dem wirklichen und primären Aufbau unserer Sinnlichkeit in räumlichen und zeitlichen Dimensionen eine vom wahrnehmenden Subjekt in gewisser Hinsicht autonome Existenz und Legitimität.
Die gegenständliche Referenzialität Die gegenständliche Referenzialität verweist auf eine vom Subjekt autonome Kontextualität der Wissenschaft, die wir vorher als die interne oder intrinsische Kontextualität der Wissenschaften betrachteten. In der gegenständlichen Referenzialität wird nicht mehr das explanandum gemäß des oder zugunsten vom explanans zugeschnitten; stattdessen soll sich das explanans auf die Gegebenheit der Gegenstände richten, was eindeutig eine Umdrehung der geläufigen und tradierten transzendentalen Sichtweise in wissenschaftlichen Untersuchungen bedeutet. Da die Referenzialität der Erkenntnis prinzipiell ein epistemologisch richtungsabhängiges Faktum ist, bekräftigt die gegenständliche Referenzialität den Wissenschaftsgegenstand, so dass man erst durch den Gegenstand einen referenziellen Zugang zu der wissenschaftlichen Erkenntnis findet. Eine derartige epistemologische Bevollmächtigung des Wissenschaftsgegenstands wirkt offenkundig den tradierten transzendental-kontextualen Masken, dargestellt vornehmlich in diversen Zügen des Formalismus – insbesondere im mathematischen oder mechanischen Formalismus –, entgegen. Die subjektive Referenzialität bildet dagegen – und zwar im Rahmen des Transzendentalismus – jene kontextuale Verkleidung des Wissenschaftsgegenstands in übergeordneten Kontexten wie im mathematischen oder im mechanischen Formalismus, Rationalismus usw. – sowie im Rahmen vieler epistemologischer Repräsentationen, wie z. B. 363 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die Referenzialität der Erkenntnis
Bilder, Modelle oder Analogien. Diese subjektiv-kontextualen Repräsentationen sollten im idealen Fall den epistemologischen Zugang zu den Wissenschaftsgegenständen erleichtern, indem sie zum einen sehr transparent wirken und zum anderen wie eine Lupe das Verborgene im Gegenstand sichtbar machen. Allerdings haben sie sich historisch in vielen Fällen als eine kontextuale Maskierung erwiesen, die die wissenschaftliche Erkenntnis eher vernebelt bzw. das Aporetische an der ursprünglichen Individuation des Wissenschaftsgegenstands zugunsten einer pragmatischen Sicherheit der axiomatischen Fundamente verschleiert. Die gegenständliche Referenzialität setzt jedoch voraus, dass das kontextual und repräsentativ verschleierte gegenständliche Fundament wieder ausgegraben bzw. neu entdeckt und erneut untersucht wird, was jene Grundlagenforschung im Wesentlichen benötigt. Wie wird ein derartiges Zerreißen der lange tradierten und mächtigen kontextualen Masken historisch initiiert und vorangetrieben? Das Bedürfnis einer philosophisch-wissenschaftlichen Umdrehung der Referenzialität kann nur schwerlich im Subjekt selbst entstehen; vielmehr wird es vom Wissenschaftsgegenstand – genauer gesagt von seinen fortbestehenden aporetischen Wesenszügen – her bedingt. Die gegenständliche Referenzialität setzt eine ontologische Akzentuierung im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess voraus. Dies wird am ehesten belegt, wenn sich der Gegenstand unmittelbar an dem Erkenntnisprozess beteiligt. Da die Gegenstände nur in der Sinnlichkeit oder in der Einbildung (die wiederum im Modus der Sinnlichkeit – vornehmlich im Modus des Sehens – geschieht) gegeben werden, ereignet sich eine derartige Beteiligung des Gegenstands am Erkenntnisprozess primär in der Domäne der Sinnlichkeit, und zwar während des Wahrnehmungsprozesses. Nun stellt sich die Frage, ob ein epistemologischer Akt oder ein ontologischer Zustand die zu jener wissenschaftlich-axiomatischen Erkenntnis notwendige gegenständliche Referenzialität vorrangig mitbestimmt. Oder mit anderen Worten: Worin liegen die Wurzeln der gegenständlichen Referenzialität tiefer – in der Erkennbarkeit oder in der Existenz des Wissenschaftsgegenstands? Hier stoßen wir erneut auf das Problem der adäquaten Korrelativierung zwischen der Epistemologie und der Ontologie im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess. Eine angemessene Korrelation zwischen der Erkennbarkeit und der Existenz des Wissenschaftsgegenstands invalidiert sowohl eine naiv vorgestellte Parallelität zwischen epistemologischen und ontologischen Betrachtungen 364 https://doi.org/10.5771/9783495818459 .
Die gegenständliche Referenzialität
(wie es in der mittelalterlichen Scholastik der Fall war) als auch den von Descartes in der Frühneuzeit etablierten Vorrang der Epistemologie vor der Ontologie. Die vielperspektivische Erkennbarkeit eines und desselben Gegenstands kann allerdings die Einheit seiner Existenz nicht ausschließen. Vielmehr legitimiert die ontologische Einheit der gegenständlichen Existenz – trotz all ihrer aporetischen Wesenszüge – die epistemologische Vielfalt der Erkennbarkeit des Gegenstands. Zwar erschweren die Aporien der phänomenalen Individuation, dargestellt in gegenständlicher Existenz und Gegebenheit, die Erkennbarkeit der Gegenstände, so dass die Wissenschaft in solchen Fällen eher zu einer Vielperspektivität der Grunderkenntnisse tendiert. Aber die Aporizität gegenständlicher Existenz und Gegebenheit bedingt – wie zuvor dargelegt wurde – erneut den unmittelbaren Ausgang der epistemologischen Betrachtungen von dem Gegenstand, was allein einen adäquaten epistemologischen Zugang zum Wissenschaftsgegenstand – im Rahmen einer gegenständlichen Referenzialität – absichern kann. Die Was-Frage, die sich in Bezug auf die rein gegenständliche Existenz und Gegebenheit stellen lässt, geht hier notwendigerweise jener Wie-Frage – im Rahmen der Erkennbarkeit der Gegenstände – voraus. D. h. die gegenständliche Existenz, besonders wenn sie sich in ihrer Gegebenheit als aporetisch erweist, wird hier zum Maßstab oder sogar zum Prüfstein der gegenständlichen Erkennbarkeit. Ein derartiges Verhältnis zwischen Existenz und Erkennbarkeit der Wissenschaftsgegenstände ist fortwährend wirksam in der Wissenschaftsgeschichte, so dass es immer wieder die Problematisierung der – ein für alle Mal sicher gehaltenen – wissenschaftlich-axiomatischen Grundlagen und demnach ihre wissenschaftshistorische Aktualisierung veranlasst. Insoweit trägt die ontologische Akzentuierung der gegenständlichen Existenz und ihrer Aporizität wesentlich zur wissenschaftlichen Grundlagenforschung bei.
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