Handlungsspielräume der Verwaltung: Vorträge und Diskussionsbeiträge auf dem gleichnamigen Forum vom 30. September bis 2. Oktober 1998 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428500123, 9783428100125

Handlungsspielräume der Verwaltung lassen sich als Notwendigkeit für das funktionsgerechte Zusammenwirken der Verwaltung

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German Pages 197 Year 1999

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Handlungsspielräume der Verwaltung: Vorträge und Diskussionsbeiträge auf dem gleichnamigen Forum vom 30. September bis 2. Oktober 1998 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
 9783428500123, 9783428100125

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Handlungsspielräume der Verwaltung

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 132

Handlungsspielräume der Verwaltung Vorträge und Diskussionsbeiträge auf dem gleichnamigen Forum vom 30. September bis 2. Oktober 1998 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

herausgegeben von

Jan Ziekow

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 3-428-10012-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Vorwort Der vorliegende Band vereint die Referate und Diskussionsbeiträge, die auf dem Forum "Handlungsspielräume der Verwaltung" vom 30. September bis 2. Oktober 1998 an der Deutschen Hochschule tUr Verwaltungswissenschaften Speyer vorgetragen wurden. Unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern waren Vertreter aller Ebenen der Verwaltung, der Verwaltungs gerichtsbarkeit, der Rechtsanwaltschaft, der Wirtschaft und der Wissenschaft. Um den gefiihrten Gedankenaustausch authentisch wiederzugeben, habe ich mich zu einem Abdruck der Diskussionsbeiträge im Wortlaut entschlossen. Meine Sekretärin, Frau Elsie Medl, hat nicht nur die Mühe auf sich genommen, die Tonbandmitschnitte der Diskussion zu transkribieren, sondern auch sachkundig die Formatierung übernommen. Darüber hinaus danke ich ihr sowie meiner Sekretärin, Frau Erika Köge!, meiner Assistentin, Frau Dr. Annette Guckelberger, und Herrn Wissenschaftlichen Referenten Thorsten Siegel fiir die engagierte Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchfiihrung der Tagung. Speyer, im Mai 1999

Jan Ziekow

Inhaltsverzeichnis

Handlungsspielräume der Verwaltung im "Schlanken Staat" Von Klaus G. Meyer-Teschendorf, Bonn........................................................

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Diskussion zu dem Vortrag von Klaus G. Meyer-Teschendorf............................

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Wiedergewinnung von Handlungsspielräumen durch Aufgabenkritik? Von Hans Peter Bull, Hamburg.....................................................................

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Diskussion zu dem Vortrag von Hans Peter Bull.................................................

47

Überlegungen zur rechtlichen Struktur von Handlungsspielräumen Von Michael Gerhardt, Berlin ......................................................................

57

Handlungsspielräume der Verwaltung und Investitionssicherheit, am Beispiel der integrierten Vorhabengenehmigung Von Jan Ziekow, Speyer.................................................................................

67

Diskussion zu den Vorträgen von Michael Gerhardt und Jan Ziekow.................

89

Mehr Handlungsfreiheit durch Rücknahme der verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte? Von Max-Emanuel Geis, Konstanz ...............................................................

97

Diskussion zu dem Vortrag von Max-Emanuel Geis............................................

113

Flexibilisierung von Standards Von PeterJakobs-Woltering, Mettmann........................................................

119

Diskussion zu dem Vortrag von Peter Jakobs-Woltering ....................................

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8

Inhaltsverzeichnis

Die Veränderung von Handlungsspielräumen durch kommunales Kontraktmanagement Von Gunnar Robert Schwarting, Mainz .......................................................

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Die Veränderung von Handlungsspielräumen durch kommunales Kontraktmanagement Von Hermann Hili, Speyer ...........................................................................

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Diskussion zu den Vorträgen von Gunnar Robert Schwarting und Hermann Hill.................................................................................................................

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Öffnungsklauseln im Kommunalbereich Von Hartrnut Borchert, Kiel...........................................................................

161

Diskussion zu dem Vortrag von Hartmut Borchert .............................................

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Verzeichnis der Referenten und Diskussionsteilnehmer ......................................

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Handlungsspielräume der Verwaltung im "Schlanken Staat" - Empfehlungen des Sachverständigenrats "Schlanker Staat" Stand der Umsetzung auf Bundesebene Von Klaus G. Meyer-Teschendorf

I. Politikziel: "Schlanker Staat" Das Wort vom "Schlanken Staat" ist Allgemeinplatz geworden. Nahezu jeder bekennt sich zu dem Erfordernis einer grundsätzlichen Staats-Verschlankung bzw. Verwaltungsmodernisierung. Vor allem die leeren Staatskassen haben viel zur entsprechenden Bewußtseinsbildung beigetragen. Allerdings ist die notwendige "Verschlankung" unserer Staatlichkeit kein zuerst fiskalisches Problem. Unsere Staatlichkeit ist vielmehr ganz generell an die Grenzen ihrer Kapazitäten gestoßen. Die entsprechenden Signale sind unübersehbar. Sie reichen von einer Staatsquote, die zwischenzeitlich 50% überschritten hatte, über Zuwachsraten im öffentlichen Dienst von zwischenzeitlich 46,5% auf der Ebene der Länder und 48, I auf der Ebene der Kommunen (bezogen auf den Zeitraum 1970 / 1996) bis hin zu einer Gesetzgebungs- und Regulierungsmaschinerie, die immer schneller läuft, die immer ausholender und intensiver wird und die zunehmend nicht mehr Effektivität, sondern Intransparenz und Überregulation produziert. Quer durch alle parteipolitischen Fronten, auf seiten des Bundes wie auf seiten der Länder und Kommunen, besteht Einigkeit, daß sich die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr so viele aufgabenmäßige Staatlichkeit oder öffentliche Verantwortung leisten kann, wie es über Jahrzehnte hinweg zu einer lieben Gewohnheit geworden ist. Diese Erkenntnis war Ausgangspunkt bzw. Leitlinie auch des SVR "Schlanker Staat", der von der Bundesregierung durch Kabinettbeschluß vom 18. Juli 1995 eingesetzt wurde. Seine Aufgabe war fachliche und politische Begleitung bzw. Förderung von Bundesinitiativen zum Thema "Schlanker Staat / Abbau überflüssiger Bürokratie". Der SVR hat im Herbst vergangenen Jahres seine Empfehlungen vorgelegt. Die Vorschläge zielen auf Straffung von Behördenstrukturen, Flexibilisierung von Verwaltungsverfahren, auf Reduzierung der Normenflut; sie reichen vom Statistikabbau über die Reform des öffentlichen Dienstrechts bis hin zur Justizentlastung.

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Klaus G. Meyer-Teschendorf

Durch Kabinettbeschluß vom 18. Juni 1997 wurde der "Lenkungs ausschuß Verwaltungsorganisation" eingesetzt. Sein Auftrag ist die ressortübergreifende Steuerung und Koordinierung der Modernisierung der Bundesverwaltung unter "gesamtheitlichem Blickwinkel". Namentlich geht es um politisch-administrative Forcierung der weiteren Umsetzung der vom SVR empfohlenen Maßnahmen. Bei der Diskussion um den "Schlanken Staat" geht es in einem ganz grundsätzlichen Sinne darum, das Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Eigenverantwortung und staatlicher Vorsorge wie Lenkung wesentlich neu zu justieren und auszubalancieren. Der Staat kann nicht - jedenfalls nicht in dem Umfang wie bisher - allseits vorsorgender, lenkender und absichernder Gestalter gesellschaftlicher Bedürfnisse oder Agenden bleiben. Aufs Ganze gesehen geht es also um ein Weniger an Staat und - korrespondierend dazu - ein Mehr an Selbstverantwortung der Bürger. Oder, wie es in der Koalitionsvereinbarung von 1994 hieß: Staatliches Handeln im normativen, administrativen und gerichtlichem Bereich muß auf das notwendige Maß zurückgeführt werden.

11. Zeitraum der Verschlankungsfrage: Kritik der Staatsaufgaben Für den SVR heißt deshalb Verschlankung des Staates zunächst und im Schwerpunkt Überprüfung der Staatsaufgaben, substantielle Aufgabenkritik. Ausdrücklich wendet sich der SVR gegen einen primär fiskalischen Ansatz, der Verschlankung der Staatsorganisation mit Personalabbau im öffentlichen Dienst gleichsetzt bzw. darin erschöpft. Stellenabbau und Stellensperren mögen wichtige Schritte auf dem Weg zum schlanken Staat sein. Sie allein bilden aber nicht das Zentrum der Verschlankungsfrage. Denn der Umfang des öffentlichen Dienstes richtet sich grundsätzlich nach dem Bestand und dem Wachstum der staatlichen Aufgaben. Folgerichtig ist zunächst und vor allem bei diesem selbst anzusetzen. Im Vordergrund der Staatsverschlankung steht die Aufgabenkritik. Verschlankungspolitik bedeutet im Kern ,,Aufgabensparen"; das "Personalsparen" ist demgegenüber nur quantitativ und sekundär. Die Staatsaufgaben müssen sich endlich und wieder ernsthaft auf das Subsidiaritätsprinzip besinnen - dies ist Ansatz und Perspektive des SVR. Dies bedeutet nicht, daß der Staat sich etwa, wie manche fordern, auf den Kanon der klassischen Hoheitsaufgaben zurückzuziehen hätte. Im System unseres verfassungsmäßigen Rechts- und Sozialstaates ist der Staat auch und definitiv dazu berufen, in umfassender Weise Partner der Gesellschaft zu sein, nicht nur Aufsichts- und Sicherheitsorgan, sondern auch umfassendes Dienstleistungsunternehmen für eine Gesellschaft zu sein, die von staatlichen Vorsorge-, Leistungs- und Lenkungssystemen in vielfältig-existentieller Weise ab-

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hängig ist. Allerdings betont der SVR immer wieder, daß etwa und namentlich in den Bereichen der sozialstaatlichen Daseinsvorsorge stärker als bisher der Grundgedanke einer kooperativen Grundverantwortung von Staat und Gesellschaft zur Geltung kommen müßte. Soweit es um klassische Hoheitsaufgaben des Staates geht, obliegt dem Staat ebenso die Gewährleistung des Aufgabenzwecks wie die Durchführung bzw. der Vollzug dieser Aufgabe. Soweit es aber allein darum geht, daß bestimmte, vor allem soziale Zwecke aufgabenmäßig erreicht werden, kann sich der Staat sehr häufig auf die "bloße Gewährleistung", namentlich durch entsprechende Rahmemegulierung, beschränken und den Aufgabenvollzug in die Hand gesellschaftlich-privater Verantwortungsträger geben. Dieses Grundmuster bewährt sich z. Zt. schon für viele daseinsvorsorgerische Aufgaben auf der Ebene der Kommunen. Verschlankung des Staates bedeutet also, aufs Ganze gesehen, Subsidiarität ernster zu nehmen. Mehr Freiräume für Private sind - so die Prognose des SVR wie auch der Bundesregierung in ihrem Bericht "Schlanker Staat: Bilanz und Ausblick" vom 19. Juni 1998 - für die Erschließung neuer Beschäftigungs- und Wachstumspotentiale sowie die Stärkung des Standorts Deutschland von entscheidender Bedeutung. Die Verwaltung der Zukunft soll und wird deutlich weniger öffentliche Aufgaben zu erfüllen haben, als sie dieses heute noch tut. In dieser aufgabenmäßigen Konzentration liegt für die Verwaltung - auch und gerade vor dem Horizont weiterer Personaleinsparungen - die umnittelbare Chance zur Rückgewinnung von Handlungsspielräumen, vor allem aber auch die Chance zu insgesamt mehr Effizienz und Leistungsstärke. Entscheidender Schritt auf dem Weg zum Schlanken Staat bzw. zur Schlanken Verwaltung ist deshalb zunächst und grundsätzlich eine konsequente Privatisierungspolitik und zwar unter dem Gesichtspunkt einer Privatisierung öffentlicher Aufgaben. Dabei geht es nicht nur um eine formale Privatisierung, bei der die jeweilige Aufgabe weiter von der öffentlichen Hand, aber in privater Rechtsform erledigt wird, sondern es muß sich um eine materielle Privatisierung handeln, bei der die öffentliche Aufgabe voll in den privatwirtschaftlichen Bereich entlassen wird.

111. Normenreduzierung und Verbesserung der Rechtssetzung Mit einer konsequenten Privatisierungspolitik muß eine breit angelegte Deregulierungspolitik Hand in Hand gehen - um private Handlungsspielräume zu vergrößern, aber auch und gleichrangig mit dem Ziel der Vergrößerung von Handlungsspielräumen der Verwaltung.

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Klaus G. Meyer-Teschendorf

1. Testkatalog für den Gesetzgeber

Zu beginnen ist bei der Gesetzgebung. Sie ist von Legislaturperiode zu Legislaturperiode rasant angewachsen. Die Entwicklung zu einem immer stärkeren und vor allem auch immer detaillierteren Wachstum staatlicher Regulierungen im Wege der Gesetzgebung ist offenkundig. Angesichts von über 2000 Gesetzen und über 3000 Rechtsverordnungen mit insgesamt weit mehr als 80 000 Einzelvorschriften allein auf Bundesebene läßt sich das Wort vom "allpräsenten Gesetzgeber" kaum mehr ernsthaft in Zweifel ziehen. Das heutige Maß gesetzgeberischer Überregulierung ist sicher zunächst ein Problem im Verhältnis Staat / Gesellschaft. Daß fiir den Wirtschaftsstandort Deutschland der Abbau von Bürokratie und hierbei in besonderem Maße ein Weniger an gesetzlichen Vorgaben von besonderer Bedeutung ist, ist sicher unbestreitbar. Der Raum fiir eigene Entscheidungen darf nicht immer weiter reduziert, er muß vielmehr ganz grundsätzlich erweitert werden. Staats-Verschlankung heißt fiir den SVR aber nicht nur Stärkung der privaten bzw. gesellschaftlichen Eigenverantwortung, sondern auch und ganz grundsätzlich Stärkung der Eigenverantwortung im bzw. fiir den Bereich der Verwaltung. Eine vom Gesetzgeber fast strangulierend bürokratisierte Verwaltung ist keine Verwaltung, die motiviert, leistungsbewußt, effektiv und wirtschaftlich arbeiten kann. Die Bundesrepublik braucht aber eine straffe, leistungsstarke und effIziente Stadtverwaltung, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Wie kann der bestehende Wachstumsmechanismus hinsichtlich der Zahl von Gesetzen durchbrochen werden? Der SVR empfiehlt ein institutionalisiertes, vor allem aber auch transparentes Kontrollverfahren, in dem die jeweiligen Regelungsvorhaben endlich ernsthaft und konsequent auf ihre entsprechende Notwendigkeit hin überprüft werden. Einen entsprechenden Testkatalog fiir den Gesetzgeber gibt es zwar schon seit 1984 in der Form der sog. "Blauen Prüffragen". Zu den Prüfstandards gehört auch die Frage, ob den administrativen Vollzugsträgern der erforderliche Handlungsspielraum eingeräumt wird. Bislang gestaltete sich die Anwendung der Blauen Prüffragen aber eher beliebig und informell; de facto liefen sie ins Leere. Dies sollte und wird sich jetzt ändern. Jedenfalls hat die Bundesregierung auf entsprechende Empfehlung des SVR im März 1996 die Überprüfung von Gesetzesvorhaben anhand der Blauen Prüffragen auf ihre Notwendigkeit auch und namentlich hinsichtlich Regelungsurnfang und Regelungstiefe zu einer endlich geschäftsordnungsrechtlichen Verpflichtung des jeweils federfiihrenden Ministeriums gemacht. Bislang waren die Blauen Prüffragen noch nicht einmal Bestandteil der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien. Mit der vorgenannten Änderung der GO 11 ist auch festgelegt worden, daß das Ergebnis der Notwendigkeitsprüfung in der Begründung des Gesetzentwurfs darzustellen ist; ferner muß die Durchfiihrung der Notwendigkeitsprüfung noch einmal ausdrücklich gegenüber dem Bundeskanzleramt dargelegt werden. Nicht gefolgt wurde bislang der Empfeh-

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lung des SVR für eine zentrale Normprüfstelle unter Federführung des Bundeskanzleramts; die vom SVR vorgeschlagene institutionalisierte Vorschriftenkontrolle sieht sich bislang nur dezentral umgesetzt. Eine wirksame Gesetzes-Bedürfnisprüfung kann nur gelingen, wenn ihr eine konsequente Gesetzesfolgenabschätzung vorausgeht. Auch dazu sind die federführenden Häuser jetzt geschäftsordnungsrechtlich verpflichtet. Aussagekräftig muß jetzt dargelegt werden, was das Gesetz kostet. Dabei geht es jetzt nicht mehr wie bisher nur um den Mehrbedarf von Haushaltsmitteln, sondern um den gesamten Vollzugsaufwand bei Bund, Ländern und Kommunen sowie in der Wirtschaft. Erste Ergebnisse zeigen, daß die neuen Instrumentarien greifen. Allerdings ist es für defmitive Aussagen noch zu früh. Die Vorgabe einer endlich ernsthaften und konsequenten Notwendigkeitsprüfung gibt jedenfalls die - institutionell abgesicherte - Chance für eine quantitative wie qualitative Reduzierung der Normen - mit dem Ziel und im Interesse von mehr privater Eigenverantwortung, mit dem Ziel und im Interesse aber auch von mehr Eigenständigkeit der ausführenden Verwaltung. 2. Abbau von Verwaltungsvorschriften Reduzierung von Normen bedeutet aber nicht nur Reduzierung von Gesetzen, sondern auch Reduzierung von Verwaltungsvorschriften. Soll die Rede von einer modernisierten Verwaltung ernst gemeint sein, so muß sie auch insoweit von überregulierend angelegten Fesseln befreit werden. Verwaltungsvorschriften expandieren - jedenfalls auf Bundesebene - nahezu unkontrolliert. Zum Beispiel ist schon unbekannt, wie viele Verwaltungsvorschriften im Bereich des Bundes überhaupt existieren. Die "Richtlinie der Bundesregierung zur Gestaltung, Ordnung und Überprüfung von Verwaltungsvorschriften des Bundes" vom 20. Dezember 1989 sieht zwar eine entsprechende Bestandserfassung vor; diese ist bislang allerdings noch nicht geleistet worden. Hier setzt der SVR an. Als prioritäre Maßnahme zur bzw. Voraussetzung für eine Reduzierung von Verwaltungsvorschriften fordert er die Schaffung eines entsprechenden Gültigkeitsverzeichnisses. Alle Verwaltungsvorschriften, die zu einem festgelegten Stichtag - der SVR empfiehlt eine Frist von drei Jahren - nicht ausdrücklich als "gültig" gemeldet sind, sollen automatisch außer Kraft treten. Die Bundesregierung hat diese Empfehlung zwischenzeitlich aufgegriffen; sie will ein ressortübergreifendes Gültigkeitsverzeichnis für Verwaltungsvorschriften des Bundes aufbauen, für dessen Erstellung zwei Jahre veranschlagt werden. In Analogie zu Gesetzesvorhaben verlangt der SVR für Verwaltungsvorschriften eine endlich wirksame und konsequente Notwendigkeitsprüfung sowie eine aussagekräftige Abschätzung der jeweiligen Kostenfolgen. Des weiteren wird vorgeschlagen, Verwaltungsvorschriften generell mit einer Befristung zu versehen. Mit Fristablauf soll die betroffene Vorschrift automatisch außer

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Klaus G. Meyer-Teschendorf

Kraft treten, es sei denn, ihre (Weiter-)Gültigkeit wird ausdrücklich bestätigt. Für die Verlängerung soll eine entsprechend qualifIZierte Bedarfsprüfung Platz greifen wie beim Erlaß einer neuen Vorschrift. Auf Landesebene wird das automatische Außerkrafttreten von Verwaltungsvorschriften nach Fristablauf schon lange - und mit Erfolg - praktiziert. In Baden-Württemberg ist die Zahl der Verwaltungsvorschriften zwischenzeitlich um ein Drittel zurückgegangen; z. Zt. treten jährlich etwa 110 Verwaltungsvorschriften automatisch außer Kraft, nur 20 bis 30 davon müssen neu erlassen werden.

3. Standardöffnung Reduzierung von Normen heißt vor allem auch Reduzierung von Normierungen. In engem Kontext mit dem Abbau von Verwaltungsvorschriften steht von daher der Abbau von Standards; d.h. von qualitativen oder quantitativen Mindestanforderungen, namentlich an Personal und Ausstattung, an Verhalten und Verfahren. Wie Verwaltungsvorschriften fmden auch Standards ihre grundsätzliche Begründung in der Erleichterung des Verwaltungsvollzugs sowie in der Förderung einer einheitlichen Rechtsanwendung. Hier wie dort kommt es aber auf das rechte Maß an. Auch hinsichtlich Standards gilt, daß sie sich auf das absolut Notwendige beschränken müssen. Daran fehlt es aber häufig. Vor allem die Kommunen sehen sich vielfaltig durch Standards belastet, die ihnen bestimmte Mindestniveaus vorschreiben, ohne daß ihnen diese Mindestniveaus im einzelnen plausibel sind bzw. erforderlich erscheinen. Tieferer Grund für diese Klage ist die Trennung der Verantwortlichkeiten für den Erlaß von Standards einerseits und der fmanziellen Lastentragung für ihre Umsetzung andererseits. Die Kosten, die Standards verursachen, werden in den weitaus meisten Fällen nicht von demjenigen getragen, der die entsprechende Norm setzt (also Bund und Länder), sondern von denen, die diese Normen umsetzen müssen, also im Regelfall die Städte und Gemeinden. Diese Trennung der Verantwortlichkeiten birgt die Tendenz - wenn nicht Gefahr in sich - daß die finanziellen Auswirkungen von Standards aus dem Blickwinkel des jeweiligen Normgebers geraten bzw. entsprechend vernachlässigt werden. Zur Vermeidung von überzogenen Standards schlägt der SVR ein Bündel von Maßnahmen vor. Ausgangs- bzw. Mittelpunkt ist - wie schon bei Rechtsetzungsvorgaben generell, wie vor allem aber auch bei Verwaltungsvorschriften - eine endlich wirksame und strenge Bedarfsprüfung sowie - in Parallele zur Gesetzesfolgenabschätzung - eine endlich konsequente Standardfolgenabschätzung, d.h. namentlich eine sorgfaltige Prüfung der entsprechenden Kostenauswirkung - auch und gerade im binnenstaatlichen Bereich. Neben diesen präventiven Maßnahmen soll, so eine weitere Empfehlung des SVR, eine institutionalisierte Standardkontrolle treten, die bestehende Standards in regelmäßi-

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gen Abständen überprüft; regelungstechnisch wäre dies etwa möglich über die zeitliche Befristung von Vorschriften, die Standards enthalten. Schwerpunktmäßig aber geht es dem SVR um Flexibilisierung von Standards. Sie sollten verstärkt als Angebote oder Empfehlungen formuliert werden. Vor allem aber müßten - so die Kernforderung des SVR - Ausnahmen mit Beweislastumkehr zugelassen werden; über entsprechende Öffnungsklauseln sollten Standards auf Antrag der betroffenen Verwaltungsträger außer Kraft gesetzt werden können, wenn nachgewiesen wird, daß der jeweilige Zweck sich auf andere Weise gleich gut erfüllen läßt. Die Bundesregierung hat diese Anstöße aufgenommen. Die "Blauen Prüffragen" sollen auch Fragen enthalten, die sich auf die Schaffung neuer bzw. auf die Erweiterung bestehender Standards beziehen - mit dem Ziel einer endlich ernsthaften Bedarfsprüfung sowie aussagekräftigen Kostenprognose. Vor allem aber sollen - durch entsprechende Öffnungsklauseln in den jeweiligen Fachgesetzen sowie durch bereichsübergreifende Regelungen im Verwaltungsverfahrensgesetz - die rechtlichen Grundlagen für ein Verfahren der Standardöffnung geschaffen werden. Als ausdrückliche gesetzespolitische Zielsetzung wird insoweit die Erweiterung verwaltungsmäßiger Handlungsspielräume genannt, namentlich durch verstärkte und bessere Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls.

IV. Mehr verwaltungsmäßige Eigenverantwortung durch flexible Haushaltsinstrumente Zur Stärkung der verwaltungsmäßigen Eigenverantwortung sowie - darin eingeschlossen bzw. dadurch bedingt - der verwaltungsmäßigen Wirtschaftlichkeit mahnt der SVR grundlegende Reformen im Bereich des Haushaltsrechts an. Gedrängt wird auf größere haushaltsmäßige Flexibilität - um die wirtschaftliche Eigenverantwortung der Mitarbeiter in der öffentlichen Verwaltung zu fOrdern und zugleich die Kosten für einzelne Verwaltungsleistungen transparenter werden zu lassen. Nach Auffassung des SVR bedarf die öffentliche Verwaltung heute einer ausgeprägten Bereitschaft zur Kosten- und Leistungsrechnung; betriebwirtschaftliche Rechnungsverfahren müßten vermehrt eingeführt werden. Eine im Sinne von mehr verwaltungsmäßiger Eigenverantwortung flexiblere Haushaltspolitik müsse vor allem aber über das Verfahren der Budgetierung verwirklicht werden. Beschrieben sieht sich darin ein System der dezentralen Verantwortlichkeit einer Organisationseinheit für ihren jeweils eigenen Finanzrahmen. Dem einzelnen Verwaltungsträger wächst größerer Bewegungsspielraum bei der Bewirtschaftung der ihm zugewiesenen Haushaltsmittel zu. Der SVR sieht im Verfahren der Budgetierung vor allem die Chance für mehr Wirt-

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schaftlichkeit und damit für mehr Effektivität der öffentlichen Haushaltsführung wie der öffentlichen Aufgabenerfüllung insgesamt. Eigenverantwortliche "Ausgabenpolitik" der jeweiligen Verwaltungsträger wird nach Auffassung des SVR vor allem dadurch verstärkt, daß den öffentlichen Verwaltungsträgem innerhalb ihres jeweiligen Budgets umfassende Dekkungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Der SVR fordert deshalb, daß jedenfalls innerhalb bestimmter Hauptgruppen wie Personalausgaben, sächliche Verwaltungsausgaben, Investitionen und Beschaffungen gegenseitige Deckungen möglich sein müßten. Neben der Ausweitung von Deckungsmöglichkeiten fordert der SVR vor allem die überjährige Nutzung der Budgetierungsmittel; auch und namentlich die Erweiterung der Möglichkeit zur Übertragung von Ausgaben über die Jahresgrenze hinweg eröffne ein höheres Maß an Wirtschaftlichkeit und Kostenbewußtsein und damit die Chance für Einsparungen in der Staatsverwaltung (Stichwort "Dezemberfieber"). In fünf nachgeordneten Bundesverwaltungen wurde zwischenzeitlich und parallel zur Arbeit des SVR - im Wege von Modellvorhaben - der Einstieg in eine flexiblere Haushaltspolitik bzw. Haushaltsführung erprobt. Eingeräumt wurden namentlich sehr weitgehende Deckungsfähigkeiten, auch über Hauptgruppen hinaus; zugelassen wurde ferner die überjährige Verfiigbarkeit nicht verbrauchter Haushaltsmittel ohne Einsparauflage. Die Ergebnisse gestalteten sich positiv. Die Flexibilisierungsinstrumente trugen dazu bei, durch Dezentralisierung der Finanzverantwortung die Eigenverantwortung des jeweiligen Mittelbewirtschafters und damit auch die Motivation der Mitarbeiter zu stärken. Die eingeräumten Handlungsspielräume sorgten vor allem auch dafür, die Haushaltsmittel mehr als bisher unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten einzusetzen. Die als globale Minderausgaben im entsprechenden Bundeshaushalt eingestellten "Efflzienzrenditen" wurden jedenfalls von allen Pilotbehörden erbracht. Vor diesem Horizont hat der SVR die flächendeckende Einführung der während der Erprobungsphase bewährten Flexibilisierunginstrumente gefordert. Die Bundesregierung ist dieser Empfehlung gefolgt. Das am 1. Januar 1998 in Kraft getretene Haushaltsrecht-Fortentwicklungsgesetz eröffnet den Verwaltungen verstärkt dezentrale, flexible Ansätze der Haushaltsführung und Ausgabenpolitik. Das Gesetz erschließt den einzelnen Verwaltungsträgem stärkere finanzielle Eigenverantwortung zum einen über eine flexiblere Anwendung des Jährlichkeitsprinzips - die Möglichkeit, Ausgaben für übertragbar zu erklären, wird erweitert; auf die bisher einschränkende Voraussetzung, daß es sich um eine mehrjährige Maßnahme handeln muß, wurde verzichtet -, zum anderen über die Ausweitung von Deckungsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Titeln des Haushalts. Bisher konnten Ausgaben nur dann für gegenseitig oder einseitig deckungsfähig erklärt werden, wenn ein verwaltungsmäßiger oder sachlicher Zusammenhang besteht; seit 1. Januar 1998 ist dies auch zulässig, wenn es einer wirtschaftlichen und sparsamen Mittelverwendung dient.

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Durch das (Bundes-) Haushaltsgesetz 1998 sind die vorgenannten Flexibilisierungsinstrumente auf sämtliche Verwaltungs bereiche des Bundes übertragen worden. Eingeräumt werden umfassende gegenseitige Deckungsfähigkeiten innerhalb der verschiedenen Ausgabeblöcke (Personalausgaben, sächliche Verwaltungsaufgaben und Investitionen) sowie in Höhe einer Quote von 20% zwischen den verschiedenen Ausgabeblöcken sowie grundsätzliche Übertragbarkeit der Ausgaben. Der Gesamtumfang der in die Flexibilisierung einbezogenen Ausgaben des Bundeshaushalts beträgt rund 26,8 Milliarden DM, d.h. rund 6% der Gesamtausgaben des Bundes. Erwartet wird, daß die an der Flexibilisierung beteiligten Einrichtungen insgesamt eine "Effizienzrendite" in Höhe von rund 450 Millionen DM erwirtschaften. Eine insgesamt flexiblere, an mehr Eigenständigkeit und Selbstverantwortung der jeweiligen Verwaltungsträger ausgerichteter Haushaltspolitik läßt sich nach Auffassung des SVR vor allem auch über schlankere Zustimmungs- und Beteiligungsverfahren verwirklichen. Das geltende Recht sieht bisher äußerst vielfältige und komplexe Beteiligungen des Bundesministers der Finanzen bzw. der Landesfinanzminister bei haushaltsrelevanten Sachentscheidungen vor. Der SVR drängt darauf, den einzelnen Verwaltungsträgern hier wieder mehr originären Bewegungsspielraum zu eröffnen. Flexibilisierungs-Ressourcen sieht der SVR etwa bei der Inanspruchnahme von überplanmäßigen und außerplanmäßigen Ausgaben. Hier machen die Finanzministerien ihre Zustimmung grundsätzlich von dem Nachweis einer entsprechenden Einsparung an anderer Stelle abhängig. Nach Auffassung des SVR sollte ausreichen, daß das antragstellende Ressort versichert, daß eine entsprechende Einsparung erbracht wird. Wo und wie diese Einsparung erfolgt, ist allein seine Sache, nicht - auch - die des jeweils zuständigen Finanzministers. Eine entsprechende Problematik stellt sich im Bereich der Inanspruchnahme von sog. Ausgaberesten. Auch hier machen die Finanzminister ihre Zustimmung von entsprechenden Einsparungen abhängig, wobei sie auf der Benennung konkreter Einsparstellen bestehen. Auch insoweit fordert der SVR, daß es der Ressortverantwortlichkeit überlassen bleiben müsse, wo die je konkrete Einsparung erbracht wird; die entsprechende Versicherung des Ressorts müsse ausreichend sein. Auf der Ebene des Bundes sind diese Anregungen zwischenzeitlich aufgenommen und in Teilen bereits umgesetzt worden.

V. Stärkung der exekutivischen Eigenverantwortung im Verhältnis zu Verwaltungsgerichtsbarkeit Ressourcen rur eine Re-Vitalisierung verwaltungsmäßiger Handlungsspielräume sieht der SVR vor allem auch im Verhältnis zur Verwaltungsgerichtsbarkeit. Erinnert wird an die vom Gewaltenteilungsprinzip geforderte "grundsätzliche Balance zwischen Verwaltung und Rechtsprechung". Gemeint 2 Speyer 132

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Klaus G. Meyer-Teschendorf

ist, daß im System des gewaltenteiligen Rechtsstaats die Staatsgewalten Exekutive und Justiz in prinzipiell eigenständiger Qualität nebeneinander ressortieren. Das Prinzip einer prinzipiellen exekutiv ischen Eigenverantwortung gehört zu den gegebenen bzw. vorgegebenen verfassungsrechtlichen Grundmaximen. Das Prinzip einer solchen eigenständigen Verwaltungsverantwortung ist indessen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer stärker in den Hintergrund getreten, teilweise im Lichte von Überjustitialisierungen auch verdrängt worden. Vernachlässigt worden ist insbesondere, daß die öffentliche Verwaltung nicht nur den rechtsstaatlichen Handlungsrnaßstäben von Gesetz- und Verfassungsmäßigkeit, sondern auch anderen, außerrechtlichen oder metajuristischen Handlungsrnaßstäben wie Aufgabenmustern verpflichtet ist; daß es immer mehr Verwaltungen gibt, die Gesetze nicht nur i. S. der Umsetzung von Rechtsfragen vollziehen, sondern die bei der breiten Masse ihre Aufgaben im Grunde metajuristische, außerjuristische Funktionen wahrzunehmen haben: von der Technik über die Wirtschaft bis hin zu pädagogischen Entscheidungen, beispielsweise bei Lehrern. Werden diese Bereiche gleichwohl voller verwaltungsgerichtlicher Kontrolle unterstellt, so werden dem Gericht Aufgaben auferlegt bzw. abverlangt, die weniger als Rechtsprechung - geht es doch nur sekundär um Rechtsfragen - denn als fachspezifische Sachverständigenstellungnahme erscheinen. Der SVR fordert, daß - gerade auch aus der Sicht eines effektiven Rechtsstaates - wieder mehr an Grundbalance zwischen Justitiabilität und bürgerlichem Verwaltungsrechtsschutz einerseits und einer auch kompetentiell gesicherten Verwaltungs verantwortung andererseits hergestellt werden müsse. Im Ergebnis und konkret spricht sich der SVR für eine deutliche Reduzierung der Kontrolldichte richterlicher Tätigkeit im Verwaltungsbereich aus. Der Rechtsstaat verliere nicht an verfassungsrechtlicher Substanz, wenn beispielsweise verwaltungsrechtliche Ermessens- bzw. Zweckmäßigkeitsentscheidungen, die in ihrem Kern in aller Regel metajuristischen Kriterien oder Aufträgen folgen bzw. solche Aufträge zu erfüllen haben, wieder auf ein stärkeres Maß an genuin-verwaltungsmäßiger Eigenverantwortung zurückgeführt werden - mit der Konsequenz auch entsprechender Begrenzungen in der verwaltungsgerichtlich zu gewährleistenden lustitiabilität. Die Empfehlung des SVR geht dahin, den behördlichen Beurteilungsspielraum durch eine generelle Regelung in der Verwaltungsgerichtsordnung zu erweitern. Im Ergebnis soll - obwohl dies im Abschlußbericht nicht so deutlich ausgesprochen wird -, bei verwaltungsrechtlichen Abwägungs-, Prognose- oder Beurteilungsentscheidungen der Maßstab der lustitiabilität auf prinzipielle Evidenzkontrollen beschränkt werden. Auf grundsätzliche Sympathie stieß in den Beratungen des SVR folgender Gesetzesvorschlag des Landes Mecklenburg-Vorpommern für einen neuen § 114a VWGO: "Erfordert die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs Abwägungen, Prognosen oder Wertungen, so steht der Verwaltungsbehörde dabei ein Beurteilungsspielraum zu", der - so wäre zu ergänzen - für die gerichtliche Beurteilung wie Ermessen behandelt werden soll.

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Allerdings will sich der SVR, namentlich im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Beurteilungsspielräumen der Verwaltung - einer Rechtsprechung, die kontrollfreie Räume eher und tendenziell zurücknimmt -, in dieser Frage noch nicht definitiv festlegen bzw. sieht er die Frage im Augenblick als noch nicht entscheidungsreif an. Zugestimmt wird dem Beschluß der 66. lustizministerkonferenz vom November 1995, die Problematik des Verhältnisses von verwaltungsrechtlicher Eigenverantwortung und Verwaltungsrechtsschutz zunächst durch bereichsspezifische Regelungen in einzelnen Fachgesetzen anzugehen bzw. aufzunehmen. Der SVR sieht in solchen bereichsspezifischen Regelungen aber nur einen "ersten Zwischenschritt"; Ziel müsse sein und bleiben, die Entscheidungsprärogative der Verwaltung im Verhältnis zur Verwaltungsgerichtsbarkeit ganz grundsätzlich zu erhöhen. Die Bundesregierung hat den Vorschlag einer Erweiterung des Entscheidungsspielraums der Verwaltung durch Einschränkung der verwaltungs gerichtlichen Kontrolle in ihrem Maßnahmenpapier "Schlanker Staat: Die nächsten Schritte" vom 19. März 1998 aufgegriffen bzw. festgeschrieben. In entsprechend geeignete Fachgesetze sollten bereichsspezifische Beurteilungsermächtigungen eingestellt werden; in Betracht gezogen werden solle aber auch eine generelle, in die VwGO eingestellte Beurteilungsermächtigung. Allerdings müßten vorab und zunächst die Vor- und Nachteile beider Lösungsansätze - auch im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Risiken - noch näher geprüft werden.

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Diskussion zu dem Vortrag von Klaus G. Meyer-Teschendorf

Gerhardt: Ich hätte gerne eine Verdeutlichung, wen Sie eigentlich mit Verwaltung hier gemeint haben. Der Eindruck, der sich mir aufgedrängt hat, Herr MeyerTeschendorf, ist der, daß es eigentlich doch immer um eine Dekonzentration gegangen ist, um Dezentralisierungsfragen. Wenn ich eine zentrale Verwaltungsvorschrift habe, verlagere ich eine an sich vorhandene Verantwortung und einen vorhandenen Handlungsspielraum bloß nach unten, und insofern vermag ich nicht ganz die rote Linie zu erkennen, von der sich der Sachverständigenrat hat leiten lassen. Letztlich muß doch, wenn es um Gewinnung von Handlungsspielräumen geht, entscheidend sein, materielle Kriterien zurückzufahren. Das erwarten Sie sich doch offensichtlich dergestalt, daß die Entscheidungen auf die niedrigere Verwaltungsebene verlagert werden und die sich dann gegenüber der potenten Wirtschaft möglicherweise als schwächer erweist. Mit anderen Worten: Ich bin nicht ganz sicher, ob hier nicht gewissermaßen materielle Entscheidungen camoufliert werden. Meyer-Teschendorf: Der Sachverständigenrat "Schlanker Staat" hat sich nicht unmittelbar und schwerpunktmäßig mit der Frage einer (Neu-)Gewinnung von Handlungsspielräumen für die Verwaltung befaßt. Schwerpunktmäßig ging es um die kritische Überprüfung staatlicher Zuständigkeiten, Aufgaben und Verfahren im Verhältnis zur Gesellschaft, zum Bürger. Perspektive des Sachverständigenrates war eine öffentliche Verwaltung, die deutlich weniger Aufgaben wahrnimmt als jetzt, die sich zugunsten privater Initiative und Eigenverantwortung zurücknimmt. "Schlanker Staat" bedeutet aber auch und in besonderem Maße - und auch dies hat der Sachverständigenrat immer wieder betont - eine effIziente und leistungsstarke Verwaltung. Unter diesen Gesichtspunkten - mehr Effizienz und mehr Leistungsstärke - hat sich der Sachverständigenrat dann auch und im Ergebnis immer wieder für mehr Verantwortung für Behörden ausgesprochen. Mehr Eigenverantwortung für Behörden hat er sich etwa durch flexible Haushaltsinstrumente versprochen, aber etwa auch durch das Verfahren der Standardöffnung.

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Diskussion

Auch beim Thema Deregulierung ging es primär darum, die Eigenverantwortung des Bürgers, der Gesellschaft zu stärken, also Abschied vom allpräsenten Gesetz- bzw. Normgeber zu nehmen. Deregulierung wurde in erster Linie verstanden als Stärkung von privater, gesellschaftlicher Eigeninitiative und Eigenverantwortung. In einem zweiten Schritt ging es aber auch immer um die Stärkung der Eigenverantwortung im Binnenbereich der Verwaltung. Der Sachverständigemat hat immer wieder betont, daß eine vom Gesetzgeber fast strangulierend bürokratisierte Verwaltung im Ergebnis sicher nicht sehr leistungsbewußt und effektiv arbeiten wird. Meyer: Sie haben vorhin die Verflechtung zwischen Exekutive und Justiz problematisiert. Sie haben aber nicht die Verflechtung zwischen Exekutive und Legislative problematisiert. Die halte ich fiir sehr viel ausgeprägter. Die Verwaltung wird doch in der Regel aus dem politischen Raum mit der Abfassung neuer Vorschriften beauftragt. Meyer-Teschendorf: In dem Testkatalog, den der Sachverständigemat fiir den Gesetzgeber vorgeschlagen hat, und der sich ansatzweise bereits in den "Blauen Prüffragen" angelegt sieht, ist die primäre Frage die nach dem Ob des staatlichen bzw. gesetzgeberischen HandeIns. Muß der Staat aktiv werden, muß ein Gesetz gemacht werden? Staatlich-gesetzgeberische~ Handeln soll und muß sich endlich und ernsthaft am Subsidiaritätsprinzip messen lassen. Es ging also um das ganz grundsätzliche Verhältnis von staatlicher Handlungs - bzw. Regelungsmacht im Verhältnis zur Gesellschaft, zu den Bürgern, zur Privatwirtschaft. In dem vom Sachverständigemat vorgeschlagenen Testkatalog wird aber auch - unter dem Gesichtspunkt einer Stärkung der EffIzienz der Staatsverwaltung - danach gefragt, ob die in Aussicht genommene Regelung der ausfiihrenden Verwaltung himeichenden Handlungsspielraum und damit Raum fiir eigenverantwortliche Entscheidung läßt. Eigenverantwortung der Verwaltung soll gestärkt werden - im Sinne und mit dem Ziel von mehr Effektivität, Wirtschaftlichkeit und vor allem auch mehr Motivation der Verwaltungsbediensteten. Wimmer: Herr Meyer-Teschendorj" hat eben gesagt, es sei nicht eigentlich die ursprüngliche Zielrichtung der Deregulierungsaktion, Personal zu reduzieren, sondern das sei allenfalls der Schlußeffekt. Ich bin mir nicht so sicher, ob man nicht gut beraten wäre, dieses in den Vordergrund zu stellen und zwar aus einem ungemein menschlichen Grunde. Je weniger Personal wir haben, umso weniger Gesetzentwürfe produziert die Verwaltung, umso weniger untergesetzliches, adrninstratives Recht schafft sie auch, und das ist eigentlich ein natürliches Regulativ, um den Entwicklungen, die Sie und die wir gemeinsam beklagen, eine Grenze zu setzen. Ich glaube, das Unterfangen, das sich diese

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Kommission gegeben hat, ist ein Verfahren, um es einmal auf katholisch zu sagen, von "Ewigkeit zu Ewigkeit". So viel Sie auch reduzieren, es dauert einmal 10 oder 15 Jahre und dann haben Sie umso mehr. Könnte es sein, daß die effektivste Methode, des Problems Herr zu werden, ist: Je weniger Personal wir haben, umso weniger wird auch produziert? Und wenn ich noch eines hinzufügen darf: Der Hinweis, die Gesetze macht der Gesetzgeber, ist in dieser Form nicht richtig. Die Gesetze macht die Ministerialbürokratie. Der Gesetzgeber sieht sich in einem fast unausweislichen Zugzwang, sie dann zu behandeln und überwiegend so oder verändert zu verabschieden. Aber je weniger Leute sie in der Minsterialbürokratie haben, die das alles machen können, umso größer ist die Chance, daß vieles, was entbehrlich ist, auch unterbleibt. Meyer-Teschendorf: Es ist richtig, daß die Mehrzahl der Gesetze von der Ministerialbürokratie ausgearbeitet wird. Deshalb richtet sich der Testkatalog, den der Sachverständigenrat fordert, primär an das jeweils federführende Ministerium. Diesem obliegt die vorrangige Prüfung nach dem Ob und Wie einer gesetzlichen Regelung. Zu Ihrem anderen Punkt: Mir ist vor Beginn der Arbeiten des Sachverständigenrates von einer Landesregierung, die entsprechende Modemisierungsvorhaben schon über Jahre hinweg betrieben hat, gesagt worden, daß das einfachste und auch wirksamste Mittel zu einer wirklichen Staatsverschlankung die Reduzierung des Personals sowie die Reduzierung der Haushaltsmittel sei. Der Sachverständigenrat ist den Weg der Aufgabenkritik gegangen. Mir scheint dieser Weg auch insgesamt logischer. Das Staatspersonal muß sich nach den Staatsaufgaben richten, nicht umgekehrt. Allerdings hat sich diese Aufgabenkritik in der Praxis sehr umständlich und langwierig gestaltet. Sie ist auch bislang keineswegs beendet. Denn wie der Bundesrechnungshof schon 1951 festgestellt hat: Um die Aufgaben zu kritisieren, muß man zunächst die Aufgaben kennen. Der Sachverständigenrat hat deshalb der Bundesregierung aufgegeben, die von ihr wahrgenommenen Aufgaben im einzelnen aufzulisten. Jedes Haus sollte darstellen, welche Aufgaben es im einzelnen wahrnimmt und warum es diese Aufgaben wahrnimmt, woher also der entsprechende Auftrag herrührt. Viele Häuser haben hier sehr konstruktiv mitgearbeitet, andere haben auf den Auftrag sehr zurückhaltend reagiert. Im Ergebnis hat es über viele Monate gedauert, bis eine erste aussagekräftige Zusammenstellung der von der Bundesregierung wahrgenommenen Staatsaufgaben erstellt werden konnte. Alle Häuser haben jetzt - auch im Hinblick auf den Regierungsumzug - mit einer qualifIZierten Aufgabenkritik begonnen. Die Aufgabenkritik hat auch schon zu ersten Ergebnissen geführt, also zum Wegfall bzw. zur Privatisierung von bisher staatlich wahrgenommenen Aufgaben. Entsprechende Bilanzen fmden Sie in den Berichten des Lenkungsausschusses Verwaltungsorganisation vom Februar und Juni diesen Jahres. Aber - wie gesagt - in der Staatspraxis wird auch im-

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mer wieder der Ansatz vertreten, daß man nur das Personal reduzieren müsse, dann reduziert sich auch die Staatstätigkeit von selbst auf das notwendige Maß. Bull: Eigentlich wollte ich zu dieser Diskussion nichts sagen, aber wenn man solche kühnen Thesen hört, wie zuletzt eben von Herrn Wimmer und Herrn Meyer-Teschendorf, und hat diese Dinge in der Praxis über Jahrzehnte aus verschiedenen Perspektiven verfolgt, so wie ich das getan habe, dann kann man doch nicht umhin, leise zu widersprechen und zu sagen, daß das etwas einseitig gesehen ist. Man kann natürlich sehr gute Beispiele finden dafür, daß in der Tat eine personell gut ausgestattete Verwaltung sich Aufgaben sucht und daß sie dann auch Normen produziert, die am Rande des Überflüssigen sind. Und ich will deshalb auch durchaus eimäumen, daß es auch in meinem früheren Arbeitsbereich, im Datenschutz so gesehen werden kann, daß da die vielen damit beruflich Befaßten, die Beauftragten und ihre Behörden, sich daran gemacht haben, auch die kleinste Lücke in der möglichen und aus ihrer Sicht notwendigen Regelung aufzuspießen und entsprechende Forderungen nach neuen Gesetzen zu stellen. Allerdings ist das auch dort schon verbunden mit einem ganz anderen Ursachenbündel, nämlich Folgen der Rechtsprechung. Die Verwaltungsgerichte und das Bundesverfassungsgericht haben in Konsequenz der Wesentlichkeitsrechtsprechung durch sehr weitgehende Forderungen nach Verrechtlichung dazu beigetragen, daß eben mehr Normen produziert werden, als bei einer anderen Betrachtungsweise nötig wären. Weitere Perspektive muß aber sein, daß man auch auf die Umwelt der Verwaltung schaut, insbesondere das Parlament, aus dem ja auch gelegentlich - wie ich aus Erfahrung der Regierungsarbeit weiß -, lästige Aufträge kommen können: Beschäftigung nicht nur mit unzähligen Berichten und Anfragen; Untersuchungsausschüsse und vor allen Dingen auch Gesetzgebungsaufträge. Die Abgeordnete in den Landtagen sind fleißig darin, sich Themen auszudenken, mit denen sie die Ministerialbürokratie beschäftigen können. Das ist das eine und dann die Lobby! Sie werden mir zugeben, daß die Lobby, die Verbände und die Gewerkschaften, kurz die jeweiligen Interessengruppen ganz entschieden darauf drängen, ihre jeweiligen Positionen rechtlich absichern zu lassen, und das heißt dann eben, daß Gesetze oder Verwaltungsvorschriften o.ä. gemacht werden. Eine sehr große Welle von Gesetzgebung, anderer Normensetzung und verwaltungsmäßiger Durchführung ist auch durch die Privatisierung ausgelöst worden, die Sie aus anderen Gründen sehr positiv beurteilen. Privatisierung von Bahn, Post und Telekom hat zu einer Deregulierung geführt, und zwar gewaltigen Ausmaßes. Ich bin nicht so sicher, daß das seine Ursache allein in dem früheren Post- und Telekommunikationsministerium hat, sondern ich denke, die entsprechenden Forderungen kommen zu einem wesentlichen Teil aus der Gesellschaft, aus der Wirtschaft, die nämlich einen

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rechtlichen Rahmen will, in dem Wettbewerb mit dem Riesen "Telekom" überhaupt erst stattfmden kann. Der Normierungsbedarf rührt also aus dem Privatierungs-/Liberalisierungsinteresse her. Das sind einige mehr aphoristische Hinweise darauf, daß die Dinge nicht ganz so einseitig zu sehen sind und daß man nicht sicher sein kann, daß - wenn man nur die Verwaltung kräftig zusammenstreicht -, weniger Normen herauskommen und daß, wenn wirklich weniger Normen herauskommen, der Gesamtzustand besser wird, für den Bürger, für die Unternehmen oder für die Verwaltung. Denn es ist ja gar nicht gefragt worden nach der Funktion der Normen - sowohl der Gesetze wie der Verwaltungsvorschriften. Das wäre ein Thema für sich, das ich jetzt aber nicht vertiefen will. Dillmann: Ich hätte bitte nur eine ganz kurze Informationsfrage an Herrn MeyerTeschendorf Sagt eigentlich dieser Abschlußbericht in dem blauen Heft auch

etwas darüber, wie weit das beanstandete Phänomen vielleicht durch europäische Vorgaben, um es einmal schnoddrig zu sagen, Vorgaben aus Brüssel, noch beeinflußt oder noch verschärft wird? Ist das ausgeblendet oder wird dazu auch etwas gesagt und etwas vorgeschlagen in der Richtung? Meyer-Teschendorf: Der Sachverständigenrat hat die europäische Dimension keineswegs ausgeblendet. Ich darf das an zwei Punkten nachweisen: Reduzierung von Rechtsvorschriften und Reduzierung von Statistikanforderungen. Im Zusammenhang mit der Forderung nach einer qualifizierten Bedürfnisprüfung für neue Rechtsvorschriften hat der Sachverständigenrat deutlich gemacht, daß eine allein auf nationale Rechtssetzungsvorhaben bezogene Notwendigkeitsprüfung heute nicht mehr ausreiche, daß auch und gerade die immer weiter ausholende Praxis europäischer Normsetzung einer entsprechenden Überprüfung bzw. Kontrolle unterzogen werden müsse. Ausdrückliche Forderung im Abschlußbericht ist denn auch eine stringentere Anwendung des Subsidiaritätsprinzips durch die Organe der Europäischen Union; unterstrichen wird, daß Deregulierung auf Dauer als fester Bestandteil auch in der europäischen Politik verankert werden müsse. Der Sachverständigenrat konnte auf der anderen Seite aber auch feststellen, daß es bereits ernsthafte Schritte zur Verringerung der Komplexität und Regelungdichte europäischer Rechtsetzungsakte gibt. Wichtige Vorarbeiten hat hier insbesondere die von der Europäischen Kommission im Herbst 1994 eingesetzte sogenannte Molitor-Gruppe geleistet. Deren zwischenzeitlich vorgelegten Empfehlungen für die Vereinfachung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften im europäischen Bereich können, soweit sie die Bedarfs- bzw. Qualitätskontrolle im Vorfeld europäischer Regelungsvorhaben betreffen, durchaus Orientierungsgrundlage für ein verbindliches Prüfraster auf der Ebene der Europäischen Union sein. Es geht also letztlich und der Sache nach darum - und

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auch dies hat der Sachverständigenrat sehr deutlich akzentuiert -, einen dem nationalen Testkatalog vergleichbaren europäischen Testkatalog verbindlich zu statuieren - einen Testkatalog, der sich im Ergebnis an die "Blauen Prüffragen" anlehnt und sie im Hinblick auf die Besonderheiten der Europäischen Union erweitert. Auf diesem Gebiet passiert also schon einiges, wenngleich vielleicht auch noch nicht genug. Aber als Aufgabe bzw. als Ziel ist die Reduzierung der Normenflut auch auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene inzwischen anerkannt. Ein weiteres Beispiel bildet der Statistikabbau. Sicher ist es richtig, daß viele nationale Statistikanforderungen auf gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben beruhen. Von daher hat der Sachverständigenrat ausdrücklich betont, daß eine allein auf nationale Statistikvorhaben bezogene qualifizierte Bedürfnisprüfung heute nicht mehr ausreicht. Auch und gerade die immer weiter ausholende Praxis europäischer Statistikvorhaben bzw. Statistikanforderungen müsse einer entsprechenden Überprüfung bzw. Kontrolle unterzogen werden. Sicher mögen im Zeichen des Binnenmarktes und zur Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion Harmonisierungen bei einer ganzen Reihe von Statistiken sowie vereinzelt auch neue, europäische Statistiken erforderlich sein. Daneben bleibt jedoch ein weiter Bereich statistischer Aktivitäten der Kommission, die zwar auf lange Sicht durchaus von europapolitischem Sinn sein mögen, die aber jedenfalls derzeit - die personellen und sachlichen Ressourcen der Mitgliedstaaten und vor allem auch die jeweiligen Auskunftspflichtigen in den Mitgliedstaaten übermäßig belasten. Der Sachverständigenrat hat deshalb auch insoweit eine (wieder) stringentere Anwendung des Subsidiaritätsprinzips durch cjie Organe der Europäischen Union angemahnt. Er hat in diesem Zusammenhang ein Memorandum der Bundesregierung zur EG-Statistik vom Januar 1996 zitiert, in dem vielfaltige Verletzungen fundamentaler Prinzipien des EGVertrags, namentlich des Subsidiaritätsprinzips und des Verhältnismäßigkeitsprinzips, durch Statistikvorhaben der Gemeinschaft gerügt werden. Der Sachverständigenrat hat die Forderung bzw. Feststellung der Bundesregierung ausdrücklich unterstützt, daß die Gemeinschaft statistische Maßnahmen nur in Bereichen anstreben dürfe, für die ihr nach dem EG-Vertrag entsprechende Kompetenzen zugewiesen sind, und dann auch nur in dem Umfang, der für die Politik der Gemeinschaft zwingend erforderlich ist. Eindeutige Priorität müsse deshalb bei jenen Statistiken liegen, deren Harmonisierung für die Verwirklichung der Ziele der Wirtschafts- und Währungsunion unerläßlich sei. Innerhalb dieses Rahmens müßten die europäischen Datenanforderungen auf das absolut notwendige Maß beschränkt werden. Für die EU-Regierungskonferenz in Amsterdam hatte der Sachverständigenrat die Aufnahme einer speziellen Statistikvorschrift in den EG-Vertrag vorgeschlagen, die die Tätigkeit der Gemeinschaft im Statistikbereich präzisieren und vor allem auch begrenzen sollte. Der Vertrag von Amsterdam sieht jetzt eine eigene Statistikvorschrift vor. Darin wird eine qualifizierte Bedürfnisprüfung festgeschrieben; vorgegeben wird ferner, daß Statistikanforderungen der Gemeinschaft nicht zu übermäßigen Belastungen für die Wirtschaft führen dürfen.

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Hagen: Durch diese verschiedenen Beiträge habe ich jetzt vier Punkte: Der erste: zu den Normen. Ich habe in bisheriger Ministeriumsarbeit miterlebt, wie der ursprüngliche Vorschlag rechtlich einwandfrei, klar, verständlich und unangreifbar war. Dann kamen die Interessenvertreter oder andere Ministerien, die wiederum andere Interessen hatten, dann kam die Industrie dazu, dann kamen wieder gegenläufige Vorschläge vom Städtetag oder von Vollzugsbehörden oder wieder von anderen, und es kam ein Wust von Vorschlägen, der behelfsmäßig zusammengestückelt wurde. Dann wurde das Gesetz schon fast unverständlich. In einigen Punkten konnte überhaupt kein Kompromiß erzielt werden. Dann nahm man eine allgemeine Formulierung und überließ das weitere einer Rechtsverordnung. Für die Rechtsverordnung wurden wieder Arbeitskreise eingesetzt, die sich dann häufig über die verschiedenen Länder, also Länderarbeitskreise wie LABO, erstreckten, und wieder diskutierte man stundenlang. Die gleiche Problematik kam aber auch dort wieder hoch, weil ja die Konflikte nicht entschärft worden waren, und dann vertagte man es vielleicht auf eine Verwaltungsvorschrift oder auf einen Altlastenleitfaden o.ä. Also das Problem liegt nicht darin, daß die Verwaltungsbeamten nicht fahig wären, ordentliche Vorlagen zu machen, sondern daß die Konfliktlösung nicht in der Politik getroffen oder nicht eindeutig vorgegeben, sondern verlagert wird und dann kommt ein Wust heraus. Das zeigt sich auch daran, daß die Gesetze und ganzen Rechtsänderungen häufig so verkehrt sind, daß unsystematische Sachen herausgekommen sind. Nächster Punkt: "Reduzieren wir einfach die Beschäftigten". Das fande ich gewissermaßen einen hervorragenden Punkt, wenn wir gleichzeitig die Aufgaben, die nicht zur Verwaltung gehören, reduzieren würden. Das sind persönliche Schreiben für Minister etc., insbesondere, wenn sich Bürger direkt an den Minister wenden. Ein Drittel unseres Hauses war jeweils beschäftigt mit nichtadministrativen Aufgaben, seien es Parteitagsprogramme oder irgendwelche Reden zu schreiben, Gutachten zu irgendwelchen Dingen. Wie gesagt: Jeder Bürger, der in unserem Land an den Minister schrieb, bekam als erstes einen Brief, der Minister werde sich darum kümmern. Dann wurden fünf Leute, die irgendwie vielleicht etwas damit zu tun haben könnten, um Stellungnahme gebeten - denn die Verwaltung geht ja normalerweise im Landratsamt los, da muß man dann ja erst Erkundigungen einholen. Es wurde von oben wieder alles aufgerollt, damit der Minister nach drei Wochen dann schreiben konnte: Entweder: "Lieber Bürger, ich kann da doch nichts für Sie tun" oder im schlimmeren Fall: "Lieber Bürger, ich habe für Dich eingegriffen und ich mache das jetzt so und so", was dann meist am Recht vorbeiging. Eigentlich sollten die Dinge ja beim Landratsamt entschieden werden und dann zur Regierung gehen und damit aus. Aber wir sind ja heute bürgerfreundlich. Wir können gerne diese zusätzlichen Aufgaben und dann auch Personal reduzieren.

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Dritter Punkt und das war der, wo ich eigentlich einhaken wollte: Ich schluckte etwas, als ich Ihren Vorschlag von der flächendeckenden Budgetierung hörte. Ich bin jetzt seit 2 Y, Jahren am Landratsamt, leite dort die Umweltabteilung und sitze gleichzeitig in der Projektgruppe Verwaltungsreform. Ich habe selbst meinen Straßenbau budgetiert, ich würde sehr gerne meine Abfallwirtschaft budgetieren. In diesen Bereichen, wo der Staat sozusagen wirtschaftlich tätig wird, ist Budgetierung ein phantastisches Modell. Allerdings muß ich sagen, daß man wesentliche Randbedingungen ändern müßte. Mein Sachgebietsleiter Straßenbau kam nach der Budgetierung als allererstes strahlend zu mir und sagte: "Jetzt habe ich 6.000,- DM eingespart", für sein Budget natürlich, er konnte sie dann anderweitig gebrauchen. Ich wollte ihn schon beglückwünschen, und dann erzählte er mir, er hätte jetzt nicht den dreifachen Familienvater eingestellt, sondern den Ledigen, da würde er nämlich 500,- DM im Monat weniger zahlen. Das fand ich dann keine soziale Auswirkung und habe sofort versucht, Riegel vorzuschieben, was nicht einfach ist. Also da sind extrem viele Schwierigkeiten überhaupt nicht geregelt. Der letzte Punkt ist: Meines Erachtens eignen sich für eine Budgetierung die wirtschaftlichen Bereiche, aber nicht die hoheitlichen. Ich habe große Probleme, z. B. Naturschutz, Wasserrecht, Abfallrecht, Abfallaufsicht oder Immissionsschutzrecht zu budgetieren. Was mache ich denn, wenn ich Altlasten entdecke und ich habe kein Geld? Ich lasse sie liegen. Was mache ich, wenn ich eigentlich die Kleinkläranlagen nachrüsten müßte und wahnsinnig viel Verwaltungsarbeit dadrinsteckt, daß ich mit jedem einzelnen sprechen müßte. Ich tue es einfach nicht. Meines Erachtens führt da die Budgetierung einfach zu einer schlechteren Verwaltung. Meyer: Ich möchte die Ausführungen meiner Vorrednerin und von Herrn Prof. Bull noch um einige eigene Erfahrungen aus Schleswig-Holstein ergänzen, die in die gleiche Richtung gehen. Wir haben in Schleswig-Holstein Aufgabenanalyse und Aufgabenkritik in der Ministerialebene durchgeführt und sind auch bereits in der Umsetzungsphase. Dabei hat sich deutlich gezeigt, daß gerade die Ministerialbürokratie, wie dies ja auch schon vereinzelt vorher angerissen wurde, in der Größenordnung von wenigstens 2/3 ihrer Arbeitszeit fremdbestimmt ist. Also ist nicht die Minsterialbürokratie ursächlich für zu viele Gesetze. Auch die Wirtschaft verlangt wiederholt Vorschriften, weil sie klare, sprich geordnete und deshalb für sie auch kalkulierbare Verhältnisse in ihrem rechtlichen Umfeld haben will. Aus praktischer Erfahrung der letzten Zeit - ich bin in der Abfallwirtschaft tätig, in der Sonderabfallwirtschaft - kann ich die Abgrenzungsdiskussion zwischen Beseitigung und Verwertung bzw. Abfall und Produkt als typisches Beispiel dafür nennen, wie hier von seiten der Politik und Wirtschaft umfangreiche Regelungen verlangt werden.

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Es ist klar, daß natürlich der Stellenbau das nahe1iegendste Motiv für die Aufgabenkritik ist. Aber was ist, wenn das nun beendet ist? Sie sagten vorhin, es ginge eigentlich nicht nur um Stellenabbau, sondern um Eigenverantwortung der Gesellschaft. Wie wird das denn nun konkret vollzogen? Das haben wir schon bei der Aufgabenkritik beobachtet, wie immer dann Vorschläge abgelehnt wurden, wenn sie in politisch sensiblen Bereichen lagen. Da hat man gleich gesehen, wo die Grenzen sind, wenn die Verwaltung etwas zum Vorschriftenabbau vorschlägt. Es ist ja auffa1lig, daß die sog. Staatsverschlankung zeitlich so eindeutig mit den Haushaltsproblemen der öffentlichen Hand zusammentrifft. Da ist nicht erkennbar, wie eine stärkere Eigenverantwortung der Gesellschaft erreicht werden soll. Meyer-Teschendorf: Mit Sicherheit ist der Modernisierungsprozeß ein sehr langfristiger Prozeß. Aber etliche Empfehlungen des Sachverständigemates sind ja bereits umgesetzt - mit guten Ergebnissen. Beispielhaft möchte ich die Modellvorhaben zur Erprobung flexibler Budgetierungsinstrumente nennen. Sowohl die Pilotbehörden als auch das Bundesministerium der Finanzen haben festgestellt, daß die probeweise eingesetzten Flexibilisierungsinstrumente durchaus dazu beigetragen haben, durch eine Dezentralisierung der Finanzverantwortung die Eigenverantwortung des jeweiligen Mittelbewirtschafters und damit auch die Motivation der Mitarbeiter zu stärken. Auf der Basis dieser insgesamt positiven Erfahrungen ist dann das Haushaltsrechts-Fortentwicklungsgesetz beschlossen worden. Auf der anderen Seite gibt es auch immer wieder Ängste gerade auch gegenüber solchen Instrumenten, die mehr Freiraum und damit mehr Selbstverantwortung eimäumen. Manche Verwaltungen wollen vielleicht gar keine flexibleren Haushaltsinstrumente; sie fühlen sich in den hergebrachten Bahnen des Haushaltsrechts bzw. der Haushaltspraxis wohler (und sicherer). Entsprechend verhält es sich bei der Empfehlung, jedenfalls vorsichtig betriebswirtschaftliche Managementkonzepte in die öffentliche Verwaltung zu übernehmen. Oder ein anderes Beispiel: Die Zusammenführung von Fach- und Ressourcenverantwortung etwa die in der öffentlichen Verwaltung bisher aufgesplitteten Zuständigkeiten für Finanzen, Personal, Organisation und Fachverwaltung. Das stellt die jeweils Verantwortlichen vor ganz neue Herausforderungen, sie müssen jetzt Entscheidungen treffen, die ihnen vorher andere abgenommen haben. Aber auch kleine Schritte führen weiter. Ich möchte nur auf den Bereich Privatisierung zurückkommen. Ich selbst komme ja aus dem Innenministerium. Da kann natürlich im Großen nicht viel privatisiert werden. Bei näherer Betrachtung konnte aber gleichwohl festgestellt werden, daß etwa in den Servicebereichen ein enormes Privatisierungspotential steckt: von den Hausdruckereien über die Fuhrparks in den einzelnen Ministerien bis hin zum ärztlichen Dienst.

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Auch konnte festgestellt werden, daß das Innovationspotential in den Köpfen der Mitarbeiter bislang kaum richtig genutzt wurde. Hier gibt es noch viel zu tun. Sicher kann die Modernisierung nicht gegen die Bediensteten durchgesetzt werden, dies muß mit den Bediensteten geschehen. Es sind viele Einzelschritte, die sich in einem langen Prozeß - hoffentlich - zu einem großen Ganzen der Staatsverschlankung bzw. Staatsmodernisierung fügen. Hagen: Ich möchte noch zu den Auswirkungen Ihrer an sich guten Ideen etwas sagen: Budgetierung soweit wie möglich - wunderbar! Z.B. in Bayern hat der Landkreistag das voll übernommen und es sollen jetzt in allen Landkreisen alle Bereiche budgetiert werden. Nun muß man den Landkreis als Wirtschaftsunternehmen verstehen. Der Landkreis hat eine zugewiesene Menge an Geld und die gibt er aus für die einzelnen Bereiche und damit muß er auch die Staatsverwaltung machen. Die Staatsverwaltung ist für den Landrat, der ja in Bayern gewählt wird, aber ein ungeliebtes Kind. Denn dann muß er ja z.B. verbieten, daß im Außenbereich gebaut wird oder Naturschutzgebiete verteidigen oder Altlasten sanieren. Also wird er sehr gerne die Idee der Budgetierung aufgreifen und sagen: Das steht Euch zu, da könnt Ihr machen, was Ihr wollt, mehr kriegt Ihr jetzt erst einmal nicht. Damit behält er aber die Verfügungsrnacht und kann die Intensität der Staatsverwaltung in den einzelnen Bereichen steuern. Der gesetzliche Auftrag aber ist ein ganz anderer, nämlich, daß wir im Gemeinwohlinteresse die Gesetze vollziehen, so wie die entsprechende Lage sich darstellt. Wenn das Wasserwirtschaftsamt uns meldet, da ist irgendetwas los, dann müssen wir eine Sanierung in Gang bringen und können nicht erst einmal schauen, ob jetzt eventuell im Budget Geld ist. Das Budget ist verständlicherweise so knapp wie möglich bemessen und auf solche Fälle nicht vorbereitet. Darüber hinaus ist - wie gesagt - auch ein ganz anderes politisches Interesse des Landrats vorhanden. Meyer-Teschendorf: Ich hatte es ja bereits angedeutet, daß neue Freiräume mit entsprechender Eigenverantwortung nicht immer auf Begeisterung stoßen, sondern durchaus auch Ängste wecken können. Man muß sich jetzt viel mehr Gedanken machen, wie man Geld und Personal sinnvoll einsetzt. Mancher mag sich da überfordert fühlen. Aber deshalb kann man doch nicht die Konsequenz ziehen, daß alles so bleiben müsse wie bisher. Auch von den Beteiligten des Modernisierungsprozesses, also den Angehörigen des Öffentlichen Dienstes, wird viel verlangt. Deshalb müssen ihnen Ziele und Verfahren des Modernisierungsprozesses immer wieder nahe gebracht werden - etwa und namentlich durch entsprechende Fortbildungsveranstaltungen. Perspektive ist eine Verwaltung der Zukunft, die deutlich weniger öffentliche Aufgaben zu erfüllen haben wird, als sie dieses heute noch tut. Für die Verwaltung selbst liegt darin die Chance zur Rückge-

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winnung von Handlungsspielräumen, vor allem aber auch die Chance zu insgesamt mehr Effizienz und Leistungsstärke. Hagen: Das ist ein etwas anderer Punkt. Also ich habe wirklich den Eindruck, daß die Budgetierung auch benutzt wird, um Veränderungen durchzuführen. In Bayern existiert ein besonderes System des ,janusköpfigen Landratsamtes", in anderen Bundesländern ist es teilweise anders. In Bayern steht ein politisch gewählter Landrat an der Spitze der Staatsverwaltung im Landkreis. Und der hat einfach andere Interessen, es werden extra von der Regierung Staatsjuristen hingeschickt, um eine funktionierende Verwaltung dort zu garantieren. Jetzt sollen diese Bereiche durch die Budgetierung im Grunde genommen beschränkt, in den Griff bekommen werden. Und da steckt eine ganz andere, m. E. politische, Gefahr darin. Krause: Aus meiner Sicht nur ganz wenige Worte, weil ich auch Vertreter eines Landkreises bin und an der Liste gesehen habe, daß wir uns doch hier sehr heterogen zusammensetzen, von der kommunalen bis zur Ministerialebene. Zum Wort: Budgetierung. Es macht sich vieles daran fest, wenn man über Verwaltungsmodemisierung spricht. Aber ich möchte auch hier eigentlich der Kollegin etwas zur Seite treten. Für meine Begriffe wird das Wort Budgetierung in einer Grauzone verwendet. Das kommt bei vielen ganz anders an. Die einen verstehen darunter: Wenn ich kein Geld habe, muß ich nur budgetieren und alles läuft hervorragend. So wird es im politischen Bereich verstanden. Ich als Kreiskämmerer lehne das generell ab, weil viele Leute, die diese Meinung zum Ausdruck bringen, eigentlich nicht sparen wollen. Wer sparen will, kann es auch, ohne das Wort Budgetierung zu verwenden. Der zweite Punkt ist, und der ist mir viel wichtiger, daß man das Wort Budgetierung abhängig von der Ebene, auf der man es benutzt, auch anders definiert. Für Sie, in einem Ministerium, hat das Wort einen ganz anderen Klang. Ich gebe Geld als Finanzminister an irgendein Ministerium. Die rullen damit bestimmte Fördertöpfe, und wenn da weniger drin ist, kriegt irgendein Bauherr vielleicht ein bißchen weniger Geld. Damit muß er zurechtkommen. Da bricht die Welt überhaupt nicht zusammen. Wenn Sie das weiter herunternehmen: Auf Landesebene geht das auch noch. Auch die könnten noch Kredite aufnehmen. Das können die Landkreise überhaupt nicht. Da ist schon Schluß. Ich hatte einmal eine Diskussion mit Wirtschaftsmanagern, die stand unter dem schönen Titel: Nieten gegen Nadelstreifen. Also ich war die Niete, das andere waren die Nadelstreifen, das ist ja vollkommen klar. Das war in der Selmer Woche! Ich habe Ihnen dann gesagt: Übernehmen Sie einmal ein Sozialamt und machen Sie es wirtschaftlich. Das wollte man nicht. Aber im Bereich der Bauordnung, Ordnungsamt usw., das wäre schon interessant. Budgetierung hat

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auf Bundesebene, Landesebene, Kreisebene und Kommunalebene eine völlig andere Bedeutung. Und in Zeiten des knappen Geldes, wo wir eigentlich nur noch rote Zahlen verwalten, macht Budgetierung keinen Sinn mehr, denn jeder Kämmerer ist im Grunde genommen Sparkommissar geworden. Und das ist eine völlig andere Geschichte. Und ich bitte darum, daß man das einmal differenziert, damit nicht irgendein Kreistagsabgeordneter mir sagt: "Also wissen Sie, ich weiß gar nicht, was für Probleme Sie haben. Budgetieren Sie doch, dann haben Sie keine Probleme mehr". Das muß raus aus den Köpfen.

Wiedergewinnung von Handlungsspielräumen durch Aufgabenkritik? Von Hans Peter Bull

I. Einleitung Das Thema, das Sie mir gestellt haben, fordert eigentlich dazu heraus, vorweg die Diskussion um die Aufgaben von Staat und Verwaltung in ihrer ganzen Komplexität aufzugreifen, also die politische, politikwissenschaftliche, ökonomische und verfassungsrechtliche Betrachtung des Staates in seiner gegenwärtigen Gestalt und seinen wünschenswerten Funktionen ausfiihrlieh zu erörtern. Lassen sich denn die Staatsaufgaben hinreichend sicher bestimmen? Ist der "schlanke Staat" ein ehernes Gebot oder nur eine modische Formel? Welche Faktoren bestimmen die tatsächlich vom Staat wahrgenommenen Aufgaben? Und man könnte auch fragen: Warum eigentlich soll gerade die Verwaltung "Handlungsspielräume" besitzen? Hat sie in der Vergangenheit wirklich größere Spielräume gehabt? Wir kämen bei dieser Erörterung zur Überprüfung von Adolph Wagners "Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit" und seiner "Umkehrung" in der neueren Literatur I oder zur Kritik der Staatsverschuldung, die ja eine andere - freilich nur kurzfristige - Möglichkeit darstellt, politische Handlungsspielräume zu gewinnen. Vermutlich komme ich Ihren Erwartungen aber näher, wenn ich mich auf die Frage konzentriere, welche Verhaltensweisen der staatlichen und kommunalen Verwaltung dazu geeignet sind, günstige Voraussetzungen dafiir zu schaffen, daß in der Zukunft mehr Aktivitäten entfaltet werden können oder bei Entscheidungen mehr Alternativen offen sind. Es geht insbesondere um die Finanzierbarkeit von Verwaltungsleistungen in der Zukunft. Eine andere Lesart des Themas würde auf die Kritik an zu engen rechtlichen Voraussetzungen des Verwaltungshandelns abzielen. Diese können aber kaum

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VgJ. eh. Hood, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, S. 93.

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durch Aufgabenkritik, sondern allenfalls durch Kritik der Gesetzgebung verändert werden.

11. These Meine Antwort auf die Themenfrage will ich sogleich geben: Sie ist ein klares Ja. Die Verwaltung kann in der Tat wieder gewisse Handlungsspielräume gewinnen, die sie in der Vergangenheit verloren hat, wenn eine methodisch richtig angelegte Aufgabenkritik durchgefUhrt und ihre Ergebnisse richtig umgesetzt werden. Erfahrungen von Ländern und Kommunen stützen diese Behauptung. Die wiedergewonnenen Handlungsspielräume gehen freilich in der Regel nicht über diejenigen hinaus, die vor den Sparaktionen bestanden haben. Umgekehrt bedeutet dies, daß heute vielfach schon deshalb Aufgabenkritik nötig ist, weil die Verwaltung sonst ihre unverzichtbaren Aufgaben nicht mehr durchfUhren könnte. Nur im günstigen Fall werden infolge systematischer Aufgabenkritik alte Zöpfe abgeschnitten und wichtige neue Felder staatlicher oder kommunaler Aktivität in die Agenda aufgenommen.

111. Erfahrungen Eine besonders breit angelegte Aktion der Aufgabenüberprüfung hat das Land Schleswig-Holstein durchgefUhrt. Dadurch sind allein bei den obersten Landesbehörden die Voraussetzungen fUr die Streichung von mehreren hundert Stellen geschaffen worden2 • Die Aufgabenkritik soll bei nachgeordneten Behörden und Einrichtungen des Landes fortgesetzt werden (jedoch unter Ausklarnmerung bestimmter Bereiche wie Schulen und Justiz). Besonders bemerkenswert ist bei der schleswig-holsteinischen Aktion, daß sie von unten nach oben verläuft. Darauf werde ich zurückkommen. In Hamburg ist in zwei Fachbehörden (Behörde fUr Inneres und Wirtschaftsbehörde) im Jahr 1995 eine Aufgabenanalyse durchgefUhrt worden3 .

2 Die schleswig-holsteinische Ministerialverwaltung umfaßt ca. 2.500 Stellen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben im Rahmen der Aufgabenkritik die Einsparmöglichkeiten auf rd. 19 % der Gesamtarbeitszeit geschätzt. Da die Vorschläge z. T. kleinteilig und nicht alle umsetzbar sind, rechnet die Staatskanzlei Schleswig-Holstein z. Z. mit einem Einsparergebnis von 200 bis 250 Stellen (knapp 10 %), was einem Betrag von 17 bis 21 Mio. DM jährlich entspricht. 3 Zur Reorganisation der Behörde für Inneres vgl. Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft in Drs. 15 / 5690 vom 17 / 18.6.1996.

Wiedergewinnung von Handlungsspielräumen durch Aufgabenkritik?

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Alle Bundesressorts haben mit einer Aufgabenkritik begonnen4 • Der Sachverständigemat "Schlanker Staat" hat die Aufgabenkritik in seine Empfehlungen aufgenommens . Aus dem kommunalen Bereich ist u. a. durch einen KGSt-Bericht bekanntgeworden, daß die Städte Bergisch Gladbach, Dortmund, Mannheim, Stuttgart und Bochum durch Aufgabenkritik Einsparungen zwischen 12,5 und 97 Mio. DM errechnet und teilweise bereits erreicht haben6 • Nach Ansicht von Heinrich Siedentop! hat im Bereich der Aufgabenanalyse und Aufgabenkritik die kommunale Ebene einen Vorsprung gegenüber der Länder- bzw. der Bundesebene. Es ist kaum möglich, die Vielfalt der Initiativen zu erfassen. Manche sind schon weit vorgerückt, manche noch im Anfangsstadium. Überall aber treibt die Finanznot die Verantwortlichen zu entsprechenden Überlegungen.

IV. Bedingungen erfolgreicher Aufgabenkritik Aus den erfolgreichen Ansätzen läßt sich einiges lernen. Man sollte freilich keine Illusionen hegen; deshalb stelle ich an den Anfang einen Satz aus dem erwähnten KGSt-Bericht: "Aufgabenkritik war in der Vergangenheit nur unter dem Druck von Einsparungszwängen erfolgreich"s. Ob das in Zukunft anders sein wird, ist zu bezweifeln. Da aber voraussichtlich auch in Zukunft keineswegs reichlich Finanzmittel zur Verfügung stehen werden, braucht man sich bei diesem Punkt nicht lange aufzuhalten. Ich will statt dessen einige praktische Bemerkungen zu den Voraussetzungen erfolgreicher Aufgabenkritik versuchen: 1. Beteiligung der Verwaltungsmitarbeiter

Brauchbare Vorschläge sind nur zu erwarten, wenn die Aufgabenkritik systematisch richtig angelegt wird. Dabei ist entscheidend wichtig, daß sie nicht 4 Dazu Klaus G. Meyer-TeschendorJ / Hans Hofmann, DÖV 1997,268 (270) und DÖV 1998, 217 (222) m. w. N.; Petra Wuttke-Gätz, in: Klaus König / Natascha Füchtner (Hrsg.), "Schlanker Staat" - Verwaltungsmodemisierung im Bund, Speyerer Forschungsbericht 183, 1998, S. 193 (209); Andreas Frh. van GaU, ebenda S. 215 ff. mit einem Fallbeispiel (Bundesamt für Kartographie und Geodäsie). 5 Sachverständigenrat "Schlanker Staat" Abschlußbericht Band I, Bonn 1998, S 49 ff.; s. a. Band 2: Materialband, Bonn 1998, S. 217 ff. (Sachstandsbericht des BMI). 6 KGSt-Bericht 6 / 1994. 7 In: König / Füchtner (Hrsg.), (FN 4) S. 230. 8 AaO. S. 7.

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nur "verordnet" und von oben nach unten organisiert wird, sondern daß mindestens im gleichen Maße und mit gleicher Intensität die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der ,,Basis" beteiligt werden. Diese sind in der Lage und offensichtlich auch bereit, brauchbare Vorschläge zu erarbeiten, die dann auf anderer Ebene unter Einbeziehung anderer Kompetenzen gegeneinander abgewogen und entscheidungsreif gemacht werden können. 2. Die Stufen der Aufgabenkritik Die Auswertung von Erfahrungen führt ebenso wie eine theoretische Überlegung zu dem Ergebnis, daß die Aufgabenkritik in verschiedene Abschnitte gegliedert werden muß, die sinnvollerweise nacheinander auszuführen sind9 • a) Am Anfang jeder ernsthaften Aufgabenkritik steht die Analyse der tatsächlich wahrgenommenen Aufgaben der jeweiligen Verwaltungseinheiten (mitsamt ihren Rechtsgrundlagen und der Darstellung des tatsächlichen Aufwandes in Zeiteinheiten lO , der Finanzvolumina sowie der Fallzahlen und zu erwartenden Einnahmen). Diese Analyse sollte für verschiedene Ebenen aufgestellt und untergliedert werden bis zum einzelnen Dienstposten. Zur Erhöhung der Transparenz ist eine systematische Aufgabenstrukturierung nach Sachzusammenhängen und eine möglichst genaue Zuordnung der Ressourcen zu den so zusammengefaßten Aufgabenbereichen 11 wünschenswert. b) Der so erarbeitete Aufgabenkatalog ist mit den künftigen Anforderungen zu konfrontieren. Es muß geklärt werden: Was soll die jeweilige Einheit in Zukunft (noch) machen? Fiskalisch ausgedrückt: Was kann man sich leisten?12 Als methodischer Trick hat es sich in Schleswig-Holstein bewährt, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die diese Frage beantworten sollten, eine hohe "DenkhÜfde" vorzugeben: Jeder und jede sollte für 80 % seiner oder ihrer in der Aufgabenanalyse defmierten Aufgaben Vorschläge machen, die ein Einsparvolumen von 40 % der gesamten Jahresarbeitstage ergeben sollten. Diese 80 / 40-HÜfde mag auf den ersten Blick viel zu hoch erscheinen; als "TabuBrecher" hat sie sich aber sehr günstig ausgewirkt und zu ungewöhnlichen Vorschlägen beigetragen. Andere haben realistischere Hürden aufgebaut, also

9 Siehe allgemein zur Aufgabenkritik auch H. P. Bull in: Klaus König / Heinrich Siedentopf (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung in Deutschland, 1996 / 97, S. 343 (350 ff.). 10 Z. B. Jahresarbeitstage. 11 Siehe a. die Erfahrungen aus Dortmund, KGSt- Bericht (FN 6) S. 18. 12 Vgl. dazu die Äußerung aus Bergisch Gladbach in KGSt-Bericht S. 13.

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z. B. Einsparungen von 10 % bis 30 % gefordert. Werden sie umgesetzt, ist dies ebenfalls ein großer Erfolg. c) Selbstverständlich muß auf die Vorschlagsphase die Prüjungsphase folgen. Dazu bedarf es mehrerer Stufen: Schon auf der untersten Ebene kann die Erörterung der Vorschläge im Team, also in der Arbeitseinheit (z. B. Referat eines Ministeriums) oder in einer besonderen Analyse-Einheit (in SchleswigHolstein besteht diese aus ca. 15 - 20 Mitarbeitern) sehr konstruktiv wirken. Eine weitere Überprüfung auf höherer Ebene ist notwendig (in SchleswigHolstein sind dafür Lenkungsgruppen in den Ministerien eingesetzt worden, die aus dem Staatssekretär, den Abteilungsleitern, dem Personalrat, der Projektleitung und der Gleichstellungsbeauftragten bestehen). 3. Das Verhältnis zur "Politik"

Eine besonders wichtige Erfolgsbedingung besteht darin, Übereinstimmung mit den politisch Verantwortlichen zu erzielen. Aufgabenkritik ist nicht von der politischen Umwelt isoliert als Eigenleistung der Verwaltung durchführbar, sondern sie ist eingebunden in zahlreiche Abhängigkeiten politischer, wirtschaftlicher, rechtlicher und sozialer Art. Aus "der Politik" kommen regelmäßig retardierende Einflüsse, von den Verwaltungsangehörigen als "Querschüsse" empfunden, in manchen Fällen freilich auch Impulse zu strengerer Kritik und Rationalisierung. Daß politisch begründete Sparvorgaben in bestimmter Höhe nützlich sein können, obwohl sie eigentlich irrational sind, nämlich nicht systematisch abgeleitet und wissenschaftlich begründet, ist bekannt. Sogar die "Rasenmäher-Methode" kann ja durchaus erfolgreich sein. Aber aus der Sphäre der politischen Instanzen kommen immer wieder auch andere Vorgaben, die die Modernisierung und Rationalisierung erschweren - und dies keineswegs immer aus Blindheit oder ideologischer Voreingenommenheit der Akteure, sondern teilweise aus gut vertretbaren Gründen. Es scheint zwar so einleuchtend zu sein, wenn gesagt wird: "Keiner kennt die Aufgaben, die Stärken und die Schwächen der Verwaltung so gut wie diejenigen, die darin arbeiten"l3. Aber Insider können betriebsblind sein oder eigene Interessen vertreten, die nicht sämtlich mit dem Interesse der externen Betroffenen übereinstimmen müssen. In der Demokratie ist die Aufgabenbestimmung letztlich - und nun komme ich doch auf die Eingangsfragen zurück eine politische Thematik. Die Verwaltung kann sich nicht ihre Aufgaben selbst wählen oder sich von ihren Aufgaben kraft eigener Entscheidung entlasten.

13 Rolf Sebelin, zentraler Projektleiter für Aufgabenanalyse und -kritik in der Staatskanzlei Schleswig-Holstein in einer Projektbeschreibung.

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Hans-Peter Bull 4. Die Bedeutung des Neuen Steuerungsmodells

Eine bedeutsame Methode der Aufgabenkritik ist durch das Neue Steuerungsmodell eingeführt worden. Indem nämlich die einzelnen Verwaltungsstellen ihre "Produkte" bestimmen und beschreiben, betreiben sie Aufgabenanalyse, und in die "Kontrakte" mit der Verwaltungsspitze und der politischen Führung über Quantität und Qualität dieser Produkte geht notwendigerweise das Ergebnis von Aufgabenkritik ein. Durch die Einführung dieses neuen Verfahrens in zahllosen Verwaltungen ist also auch die Aufgabenkritik zu einem zentralen Bestandteil der Verwaltungsreform geworden und auf Dauer gestellt. Sie ist die notwendige Basis für künftige Budgetierung, Kostenrechnung und Berichtswesen. 5. Externe Beratung Aufgabenkritik kann zu großen Teilen von der Verwaltung allein bewältigt werden. Die Beratung durch externe Consulting-Unternehmen ist jedoch für Teilaspekte und die Steuerung des Prozesses u. U. sehr nützlich. Das Methodenwissen, das diese Unternehmen ansammeln, kann dazu beitragen, die inhaltlichen Kenntnisse und Erfahrungen der Verwaltungsangehörigen besser in die Analyse und die Entwicklung von Vorschlägen eingehen zu lassen. Der Gesamtprozeß muß sorgfliltig strukturiert, angestoßen und begleitet werden. Soweit ich sehe, hat sich eine im voraus sorgfältig durchdachte Arbeitsteilung und Kooperation zwischen internen und externen Beteiligten bewährt. Wichtig ist auf jeden Fall, daß diese Arbeitsteilung nicht etwa nach der Methode erfolgt, daß die einen (die Externen) Anweisungen geben und Fragen stellen und die anderen (also die Verwaltungsangehörigen) nur reagieren und antworten. 6. Verstetigung der Aufgabenkritik Aufgabenkritik ist eine ständige Aufgabe und muß permanent fortgesetzt werden. Sie soll nicht nur Einsparungen produzieren, sondern im Idealfall zu einem höheren Grad von Rationalität der Verwaltungstätigkeit beitragen. Dafür gibt es durchaus Chancen. Auf jeden Fall muß die Umsetzung gesteuert werden, und dazu ist eine weitere Begleitung durch eine Lenkungsgruppe oder ähnliche Einheit nötig. In der Umsetzungsphase ist selbstverständlich auch öffentlich Bericht zu erstatten, z. B. an den Landtag.

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v. Ergebnisse von Aufgabenkritik:

Zur Disposition gestellte Aufgaben 1. Die unterschiedlichen Ansätze

Die Materialien beschreiben die möglichen und erzielten Ergebnisse der Aufgabenkritik auf recht unterschiedliche Weise. Die Kommission "Schlanker Staat" stellt besonders heraus, daß schon in der Vergangenheit eine ganze Reihe von Aufgaben des Bundes "privatisiert" worden ist l4 , und legt für die Zukunft einen Akzent auf den Abbau überflüssiger Regelungen l5 • Andere äußern sich vornehmlich über durchgeführte und geplante Organisationsänderungen l6 . Aus den Unterlagen wird aber nicht recht deutlich, inwieweit Maßnahmen der Privatisierung, des Abbaus von Regelungen oder der Änderung von Organisationsformen gerade auf die Kritik bestimmter Verwaltungsaufgaben zurückzuführen sind. Zwar stellt die Ausgliederung von Dienstleistungs-, Versorgungsund Hilfsfunktionen der Verwaltung auf formell oder materiell private Träger stets die Konsequenz der Entscheidung dar, daß die entsprechende Aufgabe nicht mehr in unmittelbarer öffentlicher Regie durchgeführt werden soll, aber ob zuvor stets die Zweckmäßigkeit und die Kosten der einen und der anderen Erfüllungsweise gründlich miteinander verglichen wurden, läßt sich bezweifeln. Auch die Vorteile der Deregulierung und der Veränderung von Organisationen werden offensichtlich nicht immer im vorhinein errechnet und gegen die Nachteile der Veränderungen abgewogen; der Sachverständigemat "Schlanker Staat" wie auch manche Länder-Kommissionen erwecken mitunter durch einige ihrer Formulierungen den Eindruck, daß die Ergebnisse aus relativ abstrakten Prinzipien und nicht aus konkreten administrativen Erfahrungen abgeleitet wurden. Noch eine Unterscheidung ist zu treffen: Als "Aufgabenkritik" wird nicht nur die Frage behandelt, ob eine Tätigkeit überhaupt der Verwaltung obliegen soll, sondern auch wie ihre Erfüllung in Zukunft zu gestalten sei, also die Frage nach der Intensität der Aufgabenerfüllung, den Standards von Leistungen, der Dichte von Kontrollen usw. Auch Vorschläge zur Kürzung von Leistungen gelten als "Aufgaben"-Kritik. Geht man aber von dem für die Aufgabenerfüllung notwendigen Verwaltungs aufwand im engeren Sinne aus, so gehört diese Form von Aufgabenkritik nicht zum Thema.

Siehe insbes. Abschlußbericht (FN 5) S. 61 ff., 72 ff. Abschlußbericht S. 15 ff., 74 ff. 16 Z. B. "Verwaltungsreform in Bayern", in: Materialband (FN 5) S. 204 ff.

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Die schleswig-holsteinische Untersuchung l7 folgt, wie erwähnt, dem Prinzip "von unten nach oben" und fördert daher viele sehr spezielle, nicht aus übergeordneten Prinzipien hergeleitete Vorschläge zutage. Da die Aktion sich zunächst auf die Aufgaben der obersten Landesbehörden bezog, der nachgeordnete Bereich also noch weitgehend ausgespart blieb, sind die Fachaufgaben der verschiedenen Ressorts in der Zwischenbilanz unterrepräsentiert l8 und vorrangig solche Vorschläge zusammengestellt worden, die Bezug zur verwaltungsmäßigen Erfiillung der Aufgaben haben, also nicht die inhaltlichen Voraussetzungen im eben erörterten Sinne (z. B. Höhe einer Rente oder Subvention), sondern das Verfahren ihrer Gewährung betreffen. 2. Drei Gruppen von Vorschlägen Bei den zur Disposition gestellten "Querschnittsaufgaben" können mindestens drei Gruppen unterschieden werden: a) solche, die die Eigenorganisation der Verwaltung betreffen, insbesondere die internen Abläufe beschleunigen oder verbessern sollen, b) solche, die den Abbau lästiger Nebenpflichten zum Gegenstand haben, und schließlich c) solche, die sich auf personalwirtschaftliche und personalrechtliche, soziale und ökologische Belange beziehen. Zu a): Es liegt auf der Hand, daß Rationalisierungsmöglichkeiten stets bei den Hilfsfunktionen der Verwaltung gegeben sind: Die "SchriftgutersteIlung" bzw. künftig (vielleicht) die Organisation des "papierlosen Büros", die "Schriftgutbef6rderung" (Botendienste, Poststellen usw.), die Gebäudebewirtschaftung und sonstige technische Dienste, die Beschaffung von Geräten und Kraftfahrzeugen - das sind seit je beliebte und bewährte Themen; sie waren es schon im Rahmen des "betrieblichen Vorschla~swesens" und sind es heute auch im Rahmen systematischer Aufgabenkritik 9. Die Bundesregierung plant 17 Vgl. den Bericht der Landesregierung und der KPMG Unternehmensberatung GmbH über die flächendeckende Aktion der Aufgabenanalyse und der Aufgabenkritik in den obersten Landesbehörden und das weitere Vorgehen im nachgeordneten Bereich vom 24.11.1997. Ich danke Herrn Ministerialdirigent Dr. Dietmar Lutz rur die Vermittlung dieses Materials. 18 Der letzte Bericht (vgl. vorige FN) nennt (S. 73) hier nur 5 Vorschläge, und zwar solche von geringer Bedeutung; allerdings sind so wichtige Bereiche wie u. a. die Polizei, die Schulen, die Landesbauverwaltung und die Katasterverwaltung noch Gegenstand weiterer Untersuchungen, die z. T. nicht als Aufgabenkritik, sondern als Modernisierung der Verwaltungsorganisation firmieren (vgl. Bericht S. 52 - 54). 19 Die Beispiele stammen aus dem Bereich des Bundes - vgl. Meyer-Teschendorf / Hofmann, DÖV 1998, 222 f. - und des Landes Schleswig-Holstein.

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eine umfassende ,,Auskontrahierung von Verwaltungs leistungen" anläßlich des Umzugs nach Berlin20 • Hinzu kommen Vorschläge, "Sitzungen zu straffen", einheitliche BÜTokommunikations-Software anzuschaffen, Telefonverzeichnisse und Reisekostenabrechnungen zentral herzustellen und Ähnliches mehr. Darüber hinaus sind als wichtige Verfahrensvereinfachungen Vorschläge wie die zu nennen, das Widerspruchsverfahren für zahlreiche Materien auf die Ausgangsbehörde zu verlagern, den Landesbeamtenausschuß weniger häufig mit Ausnahmewünschen zu beschäftigen, einzuschränken oder Entscheidungen wie die Anspruchseinbürgerungen von dem Ministerium auf die Kommunen zu verlagern. Auch die Abschaffung des Vertreters des öffentlichen Interesses gehört hierher. Zu b): Gern sind die Mitarbeiter damit einverstanden, daß sie weniger Statistiken führen müssen, daß ihre dienstlich geführten Telefongespräche nicht "bestätigt" werden müssen und die Dienstausweise länger gelten. Auch ein geringerer Standard der Gebäudereinigung wird allgemein akzeptiert. Akten sollen nicht mehr so lange wie bisher aufbewahrt, ihre Aussonderung soll dem Landesarchiv überlassen werden. Man ist aber auch bereit, Koordinierungspflichten einzuschränken. Zu c): Zu der dritten Gruppe zähle ich Vorschläge wie die Auflösung des Behördenselbstschutzes und den Verkauf von Landesmiet- und -dienstwohnungen. Besonders bemerkenswert sind Vorschläge zur Aufhebung des (schleswig-holsteinischen) Bildungsfreistellungs- und Qualifizierungsgesetzes (also Verzicht auf Bildungsurlaub) und zur Aufhebung der Landesdisziplinarordnung (statt dessen wird eine "Regelung im Beamtenrecht mit kürzeren Verfahren" vorgeschlagen). 3. Bewertung Diese Ergebnisse bedürfen der Interpretation und Bewertung. a) Realistische und unrealistische Vorschläge

Die Vorschläge sind teils realistisch und ohne größere Schwierigkeiten umsetzbar, z. B. mehr und bessere Informationstechnik - die kostet zwar Geld, aber in der längerfristigen Berechnung deutlich weniger als das durch sie zu ersetzende Personal-; Einsatz moderner Methoden der Büroorganisation

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Dazu Peter Budig, in: König I Füchtner (Hrsg.) (vgl. FN 4) S. 277 ff.

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oder - um ein etwas abgelegenes Beispiel zu nennen - Verzicht auf Pförtnerdienste am Samstag. Durchführbar waren und durchgeführt worden sind Vorschläge zur Vereinfachung des Verfahrens, z. B. die erwähnten Zuständigkeitsverlagerungen auf die untere Ebene und die Abschaffung des Vertreters des öffentlichen Interesses. Hier sind auch erhebliche Einsparungen erzielt worden. Aufgabenverlagerungen und -bündelungen führten auch in Hamburg zu Erfolgen. Andere Vorschläge sind auf den ersten Blick als unrealistisch erkennbar, so das Verlangen nach "Straffung" der Sitzungen oder - um ein ganz anderes Gebiet zu nennen - die Forderung nach Abschaffung des Ladenschlußgesetzes. Ich habe auch große Zweifel, ob die Reduktion der Normenflut durch verwaltungseigene Anstrengungen erreicht werden kann. Trotz der Empfehlung durch die hochrangige Kommission "Schlanker Staat" halte ich die Bemühungen, den Gesetzgeber zur Deregulierung zu nötigen, für weitgehend chancenlos. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die an bestimmten Regelungen interessierten Lobbies und politischen Gruppen sich den Vorgaben eines "GesetzgebungsTÜV" unterwerfen werden. Erfolge halte ich hier nur für möglich, soweit es um die angemessene, knappe und präzise Formulierung eindeutig feststehender politischer Vorgaben und um die Aufhebung allzu spezieller oder obsolet gewordener Vorschriften ("Rechtsbereinigung") geht. Betrachtet man den output der Gesetzgeber aus den letzten Jahren, so ist freilich kaum erkennbar, daß die sachverständige Ministerialbürokratie Qualitätsverschlechterungen verhindert hätte. Gewiß ist es eine Erfahrungstatsache, daß gelegentlich stimmig formulierte Gesetzentwürfe in Parlamentsausschüssen dadurch verschlimmbessert werden, daß Einzelregelungen unsystematisch und u. U. sogar widersprüchlich eingefügt worden sind. Die überaus komplizierten und formalistisch (im schlechten Sinne) wirkenden Normtexte stammen aber ganz überwiegend aus der Ministerialbürokratie selbst. Wird sie sich am eigenen Schopf aus diesem Sumpf ziehen? Wie auch immer - der "Gesetzgebungs-TÜV" erschließt für die Verwaltung ein weiteres, wenn auch nicht ganz neues 21 Betätigungsfeld. Wie so oft, macht auch hier ein Rationalisierungsvorhaben zunächst neuen Aufwand erforderlich. Ich will damit die lobenswerten Bemühungen und Vereinfachung und Transparenz unseres Normensystems nicht abqualifizieren, wohl aber ihre Bedeutung relativieren. Wenn z. B. irnrner wieder vorgeschlagen wird, Verwaltungsvorschriften pauschal aufzuheben oder nur für einige Jahre zu erlassen, so ist genauer nach dem erwarteten Nutzen zu fragen. Die Verwaltung hat sich viele Normen gerade zum Zweck der Beschleunigung und Routinisierung ihrer 21 Vgl. die von der Bundesregierung schon am 11.12.1984 beschlossenen "Blauen Prüffragen", dazu Abschlußbericht des Sachverständigenbeirats S. 17 f.

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Entscheidungen geschaffen. Die Verwaltungsvorschriften, die bekanntlich den größten Teil der Normenflut ausmachen, belasten nicht notwendigerweise die Verwaltung 22, sondern die betroffenen Bürger und Unternehmen und vor allem ihre Rechtsberater, im Streitfall vielleicht die Gerichte; für den täglichen Ablauf der Verwaltungsgeschäfte kann es aber durchaus praktisch sein, den nicht juristisch ausgebildeten Sachbearbeitern konkretere Regeln an die Hand zu geben als die Gesetzestexte. Dies gilt um so mehr, je häufiger die politischen Instanzen zu Formelkompromissen Zuflucht nehmen, statt klare Entscheidungen zu treffen. Nicht zu vergessen ist auch, daß Verwaltungsvorschriften zur Gleichbehandlung beitragen können. b) Bewußtseinswandel

Erwähnenswert ist auch, daß die Aufgabenkritik geeignet ist, dem verwaltungstypischen übertriebenen Sicherheits streben entgegenzuwirken. Die zahllosen Kontrollen etwa im Subventionswesen, in der Sozialverwaltung und im internen Haushalts- und Rechnungswesen werden durch Aufgabenkritik einem Test unterworfen, den sie nicht alle bestehen. Sie haben offensichtlich z. T. ihren Sinn eingebüßt, sind durch Stichproben ersetzbar oder - als Ausdruck unbegründeten, lebensfremden Mißtrauens - ganz verzichtbar. Wenn solche Vorschläge - die eine Änderung im Bewußtsein der Mitarbeiterschaft widerspiegeln - tatsächlich umgesetzt werden, kann die Verwaltung dadurch auch ihr Verhältnis zu den Bürgern, die gerade über solche Erschwernisse oft klagen, deutlich verbessern. Es darf aber nicht beim Kontrollabbau im internen Bereich (z. B. Abrechnung der Gebühren für private Telefongespräche) bleiben! c) Spareffekte oder Lastenabwälzung?

Manche Vorschläge dürften einen minimalen Spareffekt haben, so der Verzicht auf die Beflaggung von Dienstgebäuden. Andere Vorschläge führen nur zu einer Verlagerung der bisher von der Verwaltung getragenen Lasten auf Dritte. Die Ausgliederung der Stadtreinigung oder Müllabfuhr macht diese Leistungen für die Bürger nicht ohne weiteres billiger; der Ersatz eines hundert Jahre alten Sielsystems durch neue Kanalisation kostet viel, gleichgültig ob die Abwasserentsorgung in städtischer Regie oder von einer privatrechtlichen Gesellschaft betrieben wird. Entlastet sich der Bund zu Lasten der Länder oder ein Land zu Lasten seiner Gemeinden von bestimmten Aufgaben, so bringt auch dies nicht ohne weiteres einen Spareffekt. Ebenso steht es mit anderen Vor22 Gegenbeispiele (mehr oder weniger mißlungene Verwaltungsvorschriften) im Abschlußbericht des Sachverständigenrats "Schlanker Staat" (FN 5) S. 75 f.

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schlägen zur Zentralisierung oder auch Dezentralisierung - welche verwaltungsmäßigen Vorteile, z. B. Synergie-Effekte, im einen oder anderen Fall eintreten, kann nicht generell bestimmt werden. Auch das Spannungsverhältnis zwischen wünschenswerter Ortsnähe und zentralisierter Fachkompetenz gehört in diesen Zusammenhang. Solche Probleme sind in den Vorschlägen der Basis nicht immer berücksichtigt - ein Grund mehr für die Notwendigkeit einer "zweiten Instanz" der Aufgabenkritik. d) Koordination und Rechtmäßigkeitsprüfung

Werden Koordinierungspflichten gelockert, so mag dies aus der Perspektive des einzelnen Ressorts einen Spareffekt bewirken, aber aus übergeordneter Sicht gilt u. U. das Gegenteil. Koordination dient dem Abgleich vorhandener Interessen und dem Abbau von Widerständen; wird nicht himeichend koordiniert, so kann dies erhebliche negative Folgen für die Akzeptanz der Entscheidungen haben. Anders ausgedrückt: Vereinfachungsvorschläge, in denen die nicht innerhalb der Verwaltung repräsentierten Interessen vernachlässigt werden, können sich als kontraproduktiv erweisen. Von einigen wird vorgeschlagen, die Prüfung von Normierungsvorschlägen unter Aspekten der Verfassungsmäßigkeit und Rechtsförmlichkeit zentral beim Iustizministerium anzusiedeln und die entsprechende Prüfung in den Einzelressorts abzubauen. Auch dieser Vorschlag ist ambivalent. Fachliche Aspekte - die "Realien" - sollten auch bei der rechtlichen Prüfung berücksichtigt werden; das ist bei einem zentralen "Normen-TÜV" nicht gewährleistet. Zu befürchten ist auch, daß die Zentralisierung der Rechtsprüfung von den Fachressorts als Alibi für die Vorlage rechtlich bedenklicher oder jedenfalls nicht hinreichend ausgestalteter Normen benutzt werden wird. Außerdem besteht die Gefahr, daß die zentrale Stelle nicht alle Mängel der rechtlichen Ausgestaltung erkennt, eben weil sie die fachlichen Hintergründe und die Folgen der Normen nicht erkennen kann. Wenn derartige Fehler zu spät entdeckt werden, ist der Schaden u. U. größer als wenn gleich zu Beginn des Normierungsprozesses ein gewisser Prüfungsaufwand getrieben wird. e) Abbau sozialer Standards

Soweit Vorschläge der Aufgabenkritik auf die Senkung sozialer Standards abzielen, liegen sie zwar auf der Linie der herrschenden politischen Meinung, würden aber den Widerstand von Gewerkschaften und Personalräten herausfordern. Es ist schon erstaunlich genug, daß auch solche Vorschläge von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern selbst gemacht werden. Möglicherweise sind die Ministerialbeamten bei ihrem Verzicht auf den Bildungsurlaub nicht repräsentativ für die anderen Angehörigen des öffentlichen Dienstes.

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VI. Schlußbemerkung Die Beispiele haben wohl belegt, daß systematisch angelegte Aufgabenkritik in der Tat Einsparungsmöglichkeiten aufzeigt und damit Handlungsspielräume rur künftige Verwaltungstätigkeit eröffnet. Die Hoffnung darauf, auf diese Weise Mittel und Kräfte für umfassende Reformen freizubekommen, trügt jedoch. Aufgabenkritik tut not, und sie muß nicht einmal bitter schmecken - das Abschneiden alter Zöpfe macht ja Spaß. Aufgabenkritik bedeutet in ihrer besten Form auch die Neubewertung von Aufgaben - sei es durch Veränderung der Rangfolge, sei es durch Ersatz alter Aufgaben durch neue oder weniger wichtiger durch wichtigere. So kann die Verwaltung "Vorlagen" für die Politik liefern - hoffen wir, daß diese dann auch "Tore schießt".

Diskussion zu dem Vortrag von Hans-Peter Bull

Dillmann: Noch einmal zu den Verwaltungsvorschriften: Nach meiner Beobachtung besteht das Phänomen, daß sich vor allem nachgeordnete Behörden und ihre Bediensteten gerne irgendwo anlehnen oder auch absichern, um vor der Öffentlichkeit nicht bestinuntem Druck ausgeliefert zu sein. Die Regelungsdichte, wie es vorhin dargestellt wurde, ist natürlich groß, und wenn es die Verwaltungsvorschrift in manchen Bereichen nicht mehr gibt, wenn das ausgedünnt wird, dann gibt es sozusagen Ersatz dafür in Form von Gerichtsentscheidungen. Es gibt Rechtsgebiete, die sind sehr stark fallrechtsorientiert, wie z.B. das Konununalabgabenrecht. Da gibt es in manchen Teilbereichen in Bayern viele Verwaltungs vorschriften, in anderen weniger. In den Teilen des Konununalabgabenrechts, in denen es weniger Verwaltungsvorschriften gibt, ist die Folge, daß dafür die Gerichtsentscheidungen einem direkt aus der Hand gerissen werden und wie ein Evangelium verbreitet werden, weil man anstelle der nicht mehr vorhandenen Verwaltungsvorschriften ein Substitut sucht, um gleichermaßen sich wieder anlehnen zu können. Nur ist das Tückische daran, daß Gerichtsentscheidungen oft, wenn auch durch Verschulden der Richter mitverursacht, noch schwerer zu lesen sind als Verwaltungsvorschriften. Da müßten dann eigentlich die die Entscheidungen absetzenden Richter wieder in Fachseminaren ihre Entscheidungen erläutern. Im Steuerrecht gibt es ja zum Teil solche Phänomene. Krause: Herr Prof. Bull, Sie haben ja schon mit dem nötigen Unterton darauf hingewiesen, daß diese Organisation der Verwaltung - Nebenaufgaben, Nebenpflichten, Personalproblerne - sich doch oft, wenn man sich die Beispiele dann anschaut, in gewissen Lächerlichkeiten erschöpft. Ich würde aber noch einmal auf den Begriff der Handlungsspielräume zuTÜckkonunen. Wenn man das doch ein bißchen wörtlich ninunt, ist das ein Raum, in dem ich etwas tun kann, etwas tun müßte. Die Entscheidung zu fällen, muß ich das noch machen, muß ich das jetzt nicht mehr machen, ist relativ einfach. Aber wo haben die Verwaltungen tatsächlich Gestaltungsmöglichkeiten? Und hier sollte man noch einen Schritt weitergehen. Die Probleme, die wir haben, sind eigentlich die, daß in den Gesetzen oft nicht genügend defmiert ist, wer wofür zuständig ist. Ich könnte jetzt auch ein paar Beispiele nennen. Also: Wo ist eigentlich klar defmiert, was ein

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Geschäft der laufenden Verwaltung ist? Wir haben wahrscheinlich hier das Problem, das Sie angedeutet haben: Zunächst einmal ist ein Gesetz klar und deutlich, dann gibt es einen gewissen Lobbyismus und zum Schluß kommt eine allgemeine schwammige Formulierung, die allen das Recht gibt, da mitzumischen. Was ist ein Geschäft der laufenden Verwaltung? Oder, wie sieht es aus mit der Allzuständigkeit des Rates? Das ist auch so eine Sache. Man kann plötzlich Dinge auf den Tisch ziehen, die eigentlich schon geklärt und entschieden waren. Oder: Klare Abgrenzung zwischen Selbstverwaltungsaufgaben und sogenannten gesetzlich pflichtigen Aufgaben. Oder: In den Landesgesetzgebungen, Landesorganisationsgesetz, wo liegt die Organisationsgewalt? Die Fragen sind für meine Begriffe, ich spreche jetzt einmal von der Kreisebene, nicht ausreichend geklärt und führen dazu, daß wir eine diffuse Mischung an Zuständigkeitsgefühlen haben. Ich will einmal ein Beispiel nennen: Es gibt ein abgeschlossenes Verfahren einer Trassenführung irgendwo auf dem Dorfe. Man ist bereits im Planfeststellungsverfahren. Alle Träger öffentlicher Belange haben ausreichend reagiert; die Fachleute haben Raumwiderstände, alles prima aufgeschrieben, und plötzlich kommt ein Bürger auf die Idee und sagt: "Moment mal, das Ding führt ja 20m vor meiner Tür vorbei. Das kann nicht sein". Also mobilisiert er 200 Einwohner in dem Dorf, Unterschriftensammlung, und jetzt geht das Ganze in den Rat, denn kurz vor den Wahlen macht sich das gut. Dann faßt der Rat einstimmig den Beschluß, daß der Landrat eine Resolution ans Land zu schicken hat, es wäre alles zu ändern. Genau so passiert es. Das kostet unheimlich viel Aufwand; jeder weiß, daß es Unsinn ist, aber man kommt nicht dagegen an, weil die Zuständigkeiten nicht ausdrücklich klar sind und weil man nicht sagen darf: "Liebe Leute, Ihr seid zwar die gewählten Volksvertreter, aber Ihr habt leider in diesem Fall nichts zu sagen". Wir haben die größten Probleme und die Verwaltung wird auch als inkompetent dargestellt. Anderes Beispiel: Das Land Berlin kommt mit zwei Kfz-Zulassungsstellen aus. Bei uns wird gegenwärtig von zwei Abgeordneten durch die Sammlung von 3000 Unterschriften versucht, daß wir drei haben sollen in einem kleinen Landkreis von 158.000 Bürgern. Solche Dinge legen die Verwaltung auch lahm. Warum? Nicht, weil wir nicht wüßten, wie es richtig wäre, wie man Geld, wie man Ressourcen sparen kann, wie man das alles rationell machen könne. Das wissen wir. Das Problem ist, daß wir diese diffusen Zuständigkeitsgefühle und leider auch in den Gesetzen der Kommunalverfassungen keine ausreichenden Regelungen haben, die sagen: Das ist meine Spielwiese oder mein Handlungsspielraum, in dem ich entscheide, zurnindestens für eine gewisse Zeit. In vier Jahren kann man mich ja abwählen. Das habt Ihr zu entscheiden. Noch ein Beispiel: Ich verstehe bis heute als Kreiskämmerer nicht, warum ich mit einem Kreishaushalt in den Rat gehen muß. Über 95% des Haushaltes sind Ausgaben, über die nicht abzustimmen ist. Das ist gesetzlich zu zahlen, und die restlichen 5% sind vielleicht in gewisser Weise gestaltbar. Das müßte

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alles völlig anders geregelt werden aus meiner Sicht, dann wäre die Verwaltung viel effIzienter. Nur hier müssen die gesetzlichen Vorgaben geändert werden. Hagen: Ich kann dem zustimmen. Ich habe mich auch schon immer geärgert, daß ich mit meinen Altlasten in den Kreistag muß. Ich kann gar nicht anders, ich muß sie sanieren. Trotzdem muß der Kreistag mir die Million bewilligen. Also gehe ich immer rein und sage: "Ihr müßt mir das bewilligen, ich muß nämlich sanieren, es ist nur eine formale Zustimmung, die Ihr haushaltsrechtlich geben müßt". Das hören die gar nicht gerne. Die rechtliche Regelung ist klar: Das Landratsamt (LRA) muß notfalls in Ersatzvornahme sanieren, wenn eine Gefahr z.B. für das Grundwasser vorliegt. Aber es kommen Begehrlichkeiten, und die werden eben durch den Reformprozeß geweckt. Wir haben am LRA den ganzen Verwaltungsreformprozeß begonnen, wir haben eine externe Beratergesellschaft, wir versuchen ein neues Steuerungsmodell etc. einzuführen. Herr Bull, Sie haben auch die Kontrakte erwähnt und unser externer Berater meinte: Wunderbar, die Politik sagt dann den Verwaltungsbeamten, was sie zu tun haben. Dann wagte ich einzuwerfen: Ja, der Kreistag, meine Herren, ist für Kreisangelegenheiten zuständig, aber wir vollziehen das Recht; wir vollziehen Staatsgesetze, wo der Landrat als Dienstvorgesetzter uns sagen kann, wie wir sie vielleicht anwenden sollen, aber das Ob ergibt sich aus dem Gesetz. Das war dem Mann nicht beizubringen. Der Berater ist kein Jurist. Der versteht nichts eigentlich von Verwaltung. Aber das führt zu dem Problem, daß zwischen Staatsaufgaben und Kreisaufgaben nicht differenziert wird, daß verwischte Grenzen entstehen. Wimmer: Die kommunale Selbstverwaltung ist wirklich ein gutes Beispiel dafür, wie die verfassungsrechtliche Generalklausel der gemeindlichen Daseinsvorsorge dadurch denaturiert worden ist, daß der Gesetzgeber sich im Laufe von Jahrzehnten der Einschränkung "im Rahmen der Gesetze" in vielen Bereichen bemächtigt hat. Es bleibt ja ohnehin nicht viel an frei gestaltbarer kommunaler Daseinsvorsorge, aber ein paar klassische Dinge, die es immer gab, sind unterdessen nun auch gesetzlich reglementiert. Wofür z. B. brauchen wir eigentlich Kindergartengesetze? Kindergärten haben jahrzehntelang funktioniert ohne daß der Gesetzgeber vorgab, wie sie im einzelnen gestaltet sein müssen. Wofür brauchen wir Weiterbildungsgesetze, wenn doch die kommunalen Weiterbildungseinrichtungen, Volkshochschulen oder wie immer sie heißen, jahrzehntelang funktioniert haben, ohne daß der Gesetzgeber alles mögliche vorgegeben hat. Zugegeben: Das Hergeben von Geld für Weiterbildungseinrichtungen bedarf einer gesetzlichen Regelung. Die kann aber auch in den Finanzausgleichsgesetzen stehen. Oder Sportforderung, auch ein Bereich kommunaler Daseinsvorsorge, wird nun durch Landessportgesetze reglementiert. Warum um Himmels Willen denn? Sachsen ist sogar hingegangen und hat nun ein Kulturraum4 Speyer 132

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gesetz gemacht. Ich sage wieder: Das Sammeln von Geld, um bestimmte Kulturräume damit zu bezuschussen, mag einen Sinn geben und mag vielleicht auch gesetzlich normiert werden. Aber den kommunalen oder regionalen Kulturräumen vom Gesetzgeber vorzuschreiben, wie sie kommunale oder übergemeindliche Daseinsvorsorge im Bereich der Kultur betreiben sollen, das ist einfach zu viel. Und der kommunale Selbstverwaltungsbereich ist ein hervorragender Sektor, um viele Dinge zu überdenken und auch wieder gesetzlich zurückzufahren. Bull: Lassen Sie mich versuchen, systematisch zu antworten. Es sind ein paar Fragen aus dem staatlichen Bereich, andere aus dem Kommunalbereich gestellt worden. Ich will unterscheiden. Die Gesetzgebung der Länder, von der Herr Wimmer zuletzt sprach, kann ich nicht so negativ beurteilen wie er. Ich denke, es ist ein völlig legitimer politischer Vorgang, wenn ein Landtag auf Vorschlag einer Landesregierung und auch aus eigener Initiative Standards für Kindergärten, für Weiterbildung, rlir die Sportförderung oder Verfahrensweisen festlegt, Lotteriemittel einem bestimmten Zweck widmet, sich dabei überlegt, wie man es besser als bisher machen kann, also z. B. die Bewilligungsbedingungen auf diese Weise überflüssig macht, eigene Ansprüche der Sportverbände begründet und dgl. mehr. Das sind ja inhaltliche und verfahrensmäßige Besonderheiten, die da geregelt werden, für die auch Regelungsbedarf besteht. Wenn das ordentlich und rechtlich korrekt gemacht wird, dann hilft es. Ich komme zu den Verwaltungsvorschriften. Wenn ich im Referat ein bißehen zugespitzt den Wert der Verwaltungsvorschriften betont habe, dann muß ich natürlich einräumen, daß es in der Tat viele gibt, die nicht mehr oder von Anfang an nicht sinnvoll sind. Erstaunlicherweise gibt es auch bei den Verwaltungsvorschriften dasselbe Phänomen wie bei den Gesetzen, daß nämlich die Sachbearbeiter, die eigentlich Gesetze anwenden sollen, sich mangels Sicherheit im Umgang mit den Gesetzen Verwaltungsvorschriften wünschen, manchmal dann aber auch diese Verwaltungsvorschriften gar nicht kennen und dann doch nach Routinen entscheiden, nach dem, was üblich ist, was man eben vorher gesagt hat, was die Vorgänger ihnen mitgeteilt haben. Das ist natürlich eine Fehlentwicklung, und als Bürger ist man manchmal in der Situation zu fragen: Warum macht ihr das denn so und wie steht es eigentlich im Gesetz? Solche Fehlentwicklungen kann man natürlich nicht durch individuelle Beschwerden ändern, sondern nur dadurch, daß die Ausbildung der Verwaltungsleute, insbesondere des gehobenen Dienstes, geändert wird, daß also Selbständigkeit als Prinzip, das der Dezentralisierung zugrundeliegt, auch in die Köpfe hineingerät, daß die Verwaltungsmitarbeiter nicht nach Vorschriften rufen und sich nur sicher fühlen, wenn sie ein verwaltungsgerichtliches Urteil zur Bemessung der Abwasserabgaben oder zur Gestaltung der Bebauungspläne usw. vor sich haben. Die Dinge sind so ungünstig, weil sich schlechte Traditionen herausgebildet haben, die man durch Maßnahmen im Bereich der Ausbildung, der

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Bildung, der Veränderung bekämpfen muß, aber nicht dadurch, daß man zunächst einmal alle Verwaltungsvorschriften autbebt und keine neuen erläßt. Das hieße, das Kinde mit dem Bade ausschütten, das wäre auch nicht erfolgversprechend, weil damit diejenigen, die es machen sollen, in ihren Erwartungen enttäuscht werden und nichts wirklich Konstruktives an die Stelle gesetzt wird. Herr Krause hat noch einmal nach den Handlungsspielräumen gefragt und hat Beispiele gebracht, daß in der Kommunalverwaltung durch falsche, unscharfe Zuständigkeitsbestimmungen Mehrbelastung entsteht und vielleicht auch eine zusätzliche Bindung von Ressourcen. Ich denke, daß sich hier besonders deutlich zeigt, daß zum einen die politischen Vorgaben zu kompromißhaft formuliert sind, zu unscharf. Die Probleme werden bewußt auf die Ausfiihrungsebene verlagert. Darüber hinaus herrscht aber auch an vielen Stellen Mangel an Zivilcourage, zu wenig Bereitschaft, auf das geltende Recht wirklich hinzuweisen, unbequeme Wahrheiten zu sagen, also zuviel Populismus. Ich habe mich lange genug um Kommunalpolitik gekümmert, um sagen zu können, daß das leider in diesem Bereich besonders häufig ist, daß man sich scheut, Zuständigkeitsgrenzen einzuhalten, oder dem ehrenamtlich Tätigen, die ja viel Zeit aufwenden und in sehr anzuerkennender Weise sich am Gemeinwesen beteiligen, zu sagen, daß sie nicht fiir alles zuständig sind und daß das auch richtig oder jedenfalls unvermeidbar ist. Mit der EU-Normsetzung wird diese Diskrepanz zwischen Mitbestimmungsanspruch und rechtlichen Grenzen noch viel größer. Man muß sehr aufpassen, den Kommunen Handlungsmöglichkeiten zu lassen. Das hat dann gar nichts mehr mit Aufgabenkritik zu tun, sondern sehr viel mit dem Zustand unseres Gemeinwesens insgesamt. Wimmer: Ich bin da gänzlich anderer Ansicht als Herr Bull, sowohl was das Schaffen gesetzlicher Freiräume z.B. fiir die kommunalen Gebietskörperschaften angeht als auch was die dringende Regelungs-Notwendigkeit betrifft. Sie haben ja Recht: Die Kommunen haben jahrelang gejammert, ohne daß sie Grund hatten, und jetzt glaubt es ihnen keiner mehr. Jetzt haben sie aber Grund. Sie sind durch eine Vielzahl von Erlassen eingeengt in allen Bereichen, die ja hier genannt worden sind. Wenn es also im Bereich des Bundes 80.000 sind, dann sind es im Bereich von 16 Ländern wohl Hunderttausende. Davon sind viele überflüssig, und mich überzeugt niemand vom Gegenteil. Deshalb kann man eigentlich nur pragmatisch sagen: Werft alle 10 Jahre einmal ein paar Hundertausend davon weg! Ich weiß, das ist unwissenschaftlich. Vom systematischen Ansatz her ist das vermutlich wenig überzeugend. Aber dies ist mit wissenschaftlichen Methoden alleine nicht zu lösen.

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Bull: Wenn es mit wissenschaftlichen Methoden nicht zu lösen ist, dann ist es im Zweifel gar nicht lösbar! Denn jede Methode, die praktisch umgesetzt werden soll, muß natürlich auch wissenschaftlich begründbar sein. Sie mögen sagen: Ich mache es bewußt, ohne die Grundlagen genau zu kennen, ich versuche es. Das ist das Verfahren von trial and error. Manchmal hat man Glück, dann bewährt es sich. Manchmal trifft man voll daneben. Mich überzeugt es nicht zu sagen, es sind 100.000 Vorschriften. Meinetwegen lassen Sie es 200.000 sein! Das besagt doch gar nichts über Qualität und Funktion dieser Vorschriften. Wenn wir uns hier darüber unterhalten, was sich ändern sollte, damit bessere Verwaltung möglich ist, möchte ich jedenfalls nicht den Anspruch aufgeben zu wissen, ob die Zahl zu groß ist und wenn ja, aus welchen Gründen, und dann gezielt in die weitere Untersuchung gehen. Wimmer: Vermutlich liegt die Wahrheit in der Mitte. Daß es viel zu viele Verwaltungsvorschriften gibt, darüber herrscht wohl Einigkeit. Die Frage, ob man daran nur mit den Methoden und den Mechanismen herangehen soll, die wir in dem Referat gehört haben, möchte ich mit Nein beantworten. Der Sparzwang, die Tatsache, daß kein Geld mehr da ist, ist ein hervorragender Motor, um viele Dinge zu erreichen, die man sonst nicht erreichen könnte. Das schließt ja überhaupt nicht aus, daß man das nicht nur nach dem System trial and error tut, sondern man mag es so wissenschaftlich wie nur möglich tun. Bull: Ein Satz dazu noch: Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt hat in vielen Publikationen immer wieder das Klagelied gesungen, daß ein junger Unternehmer, der einen Betrieb aufmachen will, bei uns durch unsere enorme Regelungsflut genötigt sei, Dinge zu tun, die unzumutbar seien. Er hat dann aufgezählt, wieviele Seiten die Sammlungen des Bürgerlichen Rechts, der Prozeßgesetze, des Steuerrechts, des Arbeitsrechts usw. umfassen und hat so getan, als müßte jemand, der einen kleinen Maklerladen oder eine Schreinerei aufmachen will, erst einmal die Gewerbeordnung von vorn bis hinten und sämtliche Steuergesetze und Umweltschutzgesetze auswendig lernen oder sogar begreifen müßte. Das ist doch absurd. Das ist doch eine völlig verkehrte Herangehensweise, im Grunde schlicht Stimmungsmache. Mir ist zwar durchaus sympathisch, wenn überflüssige Normen kritisiert werden. Aber es ist doch in Wahrheit so, daß jeder, der in der Gesellschaft eine bestimmte Rolle wahrnimmt, nur einen sehr begrenzten Ausschnitt der geltenden Normen kennen und beachten muß. Die Straßenverkehrsordnung muß jeder kennen, aber wer eine Gaststätte anmeldet, muß zunächst nur das Gaststättengesetz und das Lebensmittelrecht und ein paar benachbarte Vorschriften kennen. Das sind aber alles Dinge, die ad hoc und sehr speziell und genau gelernt und begriffen werden können, und

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keiner wird sich ernsthaft bemühen, sämtliche Rechtsnormen erst zu kennen, bevor er einen wirtschaftlich vernünftigen Schritt tut. Das wäre sowieso ein geborener Nichtunternehmer, der so etwas täte. Wir haben in diesem Bereich zu viele oberflächliche Meinungsäußerungen und wir sollten uns um etwas sorgfältigere Begründung bemühen. Gerhardt: Herr Bull, Sie haben 100prozentig Recht. Es geht um die jeweiligen Sachgesetzlichkeiten. Zurück zu den Realien kann ich nur sagen. Im Prinzip ist natürlich immer die Aufgabe, daß wir uns rückbesinnen auf das Wesentliche. Aber es geht um die konkreten Realien und um die konkreten Ausschnitte der öffentlichen Verwaltung. Und diese allgemein gehaltene Diskussion ist m.E. in dieser Allgemeinheit sinnvoll nicht fiihrbar. Soweit die Kommunalverfassung angesprochen wurde: Sie mag schlecht formuliert sein, wobei diese sogenannten unbestimmten Rechtsbegriffe Traditionsbegriffe sind, die seit Beginn der Bundesrepublik funktionieren, und zum Teil noch auf die deutsche Gemeindeordnung zurückgehen. Man muß sie vernünftig anwenden; man muß miteinander reden, und man muß dann natürlich den Lokalpolitikern nicht weiß machen, daß sie die großen Demokraten sind, sondern sie sind Verwaltungsteile. Krause: Das, was Sie gesagt haben, weiß natürlich jeder in der Verwaltung. Aber diejenigen, die Politik machen, die bestimmen, wissen das oft nicht. Vielleicht kann ich den Dissens der Wissenschaft wieder auf ein einfaches praktisches Beispiel zurückfiihren. Sie haben von den vielen Verwaltungsvorschriften gesprochen. Vielleicht ist es auch noch ein wesentlicher Beitrag, wenn man sich einmal anschaut, welche Unmengen an Fragebögen und Formularen Verwaltungen produzieren. Ich habe festgestellt, daß ich davon nicht 90% vernünftig allein ausfiilIen konnte. Dies lag einfach daran, daß diese Bögen so fatal von der Logik und so schlecht von der Didaktik her waren, daß man immer jemanden brauchte, der sagt: "Da müssen Sie das hineinschreiben". Was ich sagen will ist einfach, daß wir manchmal auch in der Verwaltung unsere Bedeutung daraus ziehen, daß wir zwei Fragebögen richtig beherrschen. Hier müssen wir es so vereinfachen, daß jeder, der eine Schule absolviert hat, mit Fragebögen und Formularen umgehen kann, ohne die Assistenz eines anderen. Hagen: Im Grunde ist unser wirklich sehr kompliziertes Rechtssystem Ausdruck unserer rechtsstaatlichen Auffassung, daß viele Parteien, viele Verbände, Interessenvertreter, auch föderale Gliederungen, daß das alles zusammenwirkt und ein komplexes Regelwerk scham. Kompromisse sind immer schwieriger als diktatorische Regelungen. Und entweder stehen wir dazu und akzeptieren viele

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mißliche Folgen, die dann auch Geld kosten. Wir können uns nicht hinstellen und sagen, wir machen Aufgabenkritik, wir streichen diese ganzen überflüssigen gesetzlichen Regelungen weg und dann wird es schon von selber billiger. Das geht letztlich an unsere rechtsstaatlichen Grundlagen. Bull: Komplexe Lebensverhältnisse bedürfen erstens entsprechender Regelungen, weil das allgemeine Sicherheitsbedürfnis und der Gleichheitssatz dies fordern, und zweitens einer entsprechenden Verwaltung. Die Frage ist bloß: Ist es eine staatliche oder eine private Verwaltung? Die sogenannte Deregulierung im Sicherheitsbereich ruhrt Z.B. dazu, daß versicherungsrechtliche Lösungen gesucht werden, und letztlich wird dann der Umweltstandard von der Münchener Rückversicherung bestimmt werden. Das ist der einzige Unterschied. Wir verlagern Regeln aus dem Gesetzblatt oder aus den Vorschriftensammlungen der Ministerien hinein in die allgemeinen Geschäftsbedingungen. Ob sie dort besser untergebracht sind, muß außerordentlich bezweifelt werden. An der Regelungsdichte ändert sich jedenfalls nichts. Wir sollten so gelassen sein wie andere, die obsolet gewordene Normen einfach vergessen. Es ist doch überhaupt nicht nötig, ständig den Normenbestand zu aktualisieren. Die Engländer würden nie auf den Gedanken kommen, ihre Präjudizien aus dem 17. oder 18. Jahrhundert zu ändern oder formell aufzuheben. Wir brauchen nicht alle Verwaltungsvorschriften, die nicht mehr angewendet werden, aufzuheben. Das ist viel zu viel Aufwand. Wir sollten gezielter vorgehen, konzentriert auf das, was lösungsbedürftig ist, und bei wichtigen Materien dann natürlich auch an die Evaluation des geltenden Rechts denken. Zahlenmäßige Betrachtungen, Quantitäten von Aufgaben oder Formen sind völlig irrelevant. Kienzle: Es gibt einfach ein Bedürfnis nach Regelungen. Ein Beispiel aus dem Entwurf der Novellierung der Bauordnung im Freistaat Sachsen: Dort wurde das Baugenehmigungsverfahren weitgehend zurückgedrängt zugunsten einer Genehrnigungsfreistellung, des vereinfachten Genehmigungsverfahrens bzw. zugunsten eines Anzeigeverfahrens, in der Erwartung des Gesetzgebers, daß man damit zur Verfahrensbeschleunigung beitrage und insbesondere dem Bauherrn eine große Freude macht. Kaum ist der Gesetzentwurf im Raume, melden sich die Vertreter der Bauherrn, melden sich die Architekten, melden sich die Rechtsanwälte, die zumindest ein Wahlrecht zwischen Genehmigungsverfahren einerseits und Anzeigeverfahren andererseits fordern, die sich z.T. sogar rur ein ausschließliches Genehrnigungsverfahren aussprechen, und zwar aus einem einfachen Grund: Die Genehmigung gibt Rechtssicherheit auch rur den Bauherrn. Der Bauherr erhält einen Verwaltungsakt, der wird bestandskräftig, und er weiß dann, woran er ist. Bei der Genehmigungsfreistellung und dem Anzei-

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geverfahren hat er diese Rechtssicherheit nicht. Er hat nicht eine Genehmigung von der zuständigen Behörde, er hat nicht für vergleichsweise billiges Geld eine qualifizierte fachliche Prüfung erlangt, auf die er sich nachher beim Vollzug stützen kann. Also insofern teile ich da ganz die Auffassung von Herrn Gerhardt: Man kommt von einem Regelungsbedürfnis nicht weg. Man verlagert es dann nur in Richtung privater Regelungen oder technischer Standards usw. Wolters: Das Stichwort "Ausbildung" ist hier mehrfach gefallen, und ich meine auch, daß die Verwaltungsmitarbeiter in der Regel recht gut ausgebildet und fähig sind, ihre Aufgaben zu bewältigen. Wir haben hier über verschiedene Störfaktoren gesprochen, zum Teil sind das auch Kommunalpolitiker, und da habe ich in meiner Praxis des öfteren festgestellt, wie wünschenswert es wäre, wenn bei diesen Politikern schlicht die Grundlagen unseres Staatswesens bekannter wären. Deshalb vielleicht die Anregung, vielleicht so eine Art Fähigkeitszeugnis für Landtags- oder Bundestagsabgeordnete einzuftihren. Bull: Jeder kann sich selbst ausmalen, welch ein Echo ein solcher Vorschlag hätte. Das können Sie noch auf die Spitze treiben. Staatssekretär kann man nur werden über die Beamtenlaufbahn, Minister kann man werden ohne jegliche Ausbildung und Qualifikation. Das gehört zu unserem demokratischen Prinzip. Demokratisch gewählte Funktionsträger brauchen richtigerweise keinen Qualifikationsnachweis. Das sollten wir uns auch erhalten. Die Kosten sind manchmal hoch. Die Geduld der ausgebildeten und qualifizierten Beamten im Umgang mit diesen gewählten Volksvertretern wird manchmal arg strapaziert. Aber wir sollten dabei bleiben. Krause: Der gesunde Menschenverstand in den Parlamenten ist durch nichts zu ersetzen. Ich bin sehr froh, daß wir nicht nur ein Parlament von Juristen haben, sondern daß da auch "Du" und "Ich" dabei sein können.

Überlegungen zur rechtlichen Struktur von Handlungsspielräumen Von Michael Gerhardt

I. Einführung Der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts Franßen hat jüngst in einem Beitrag zu 50 Jahren Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland die Neigung angesprochen, "die Leistungsfähigkeit verwaltungsrechtlicher Regelungen permanent zu überschätzen, indem man ihre rechtliche Tiefenschärfe fortlaufend vergrößert und ihren Programmcharakter ebenso fortlaufend verkleinert. Auf diese Weise wird der im Gesetz immer auch mit enthaltene und an die demokratisch legitimierte Verwaltung gerichtete Gestaltungsauftrag in einen "Subsumtionsauftrag" umgedeutet, der keine echte Entscheidungsleistung mehr verlangt, sondern sich praktisch in einem bloßen Erkenntnisvorgang erschöpft" 1. Mit dieser Äußerung ist unser Thema in dreifacher Hinsicht angeschlagen: Zum einen geht es um den Antagonismus von subsumierender, strikter Rechtsanwendung einerseits und andererseits gestaltender Verwaltung anband programmatischer Vorgaben des Gesetzgebers, kurz der Ermessensverwaltung. Wir werden den jeweiligen Normstrukturen nachzugehen haben. Kern dieses Vortrags ist der Versuch, die in der rechtlichen Struktur der behördlichen Ermessensentscheidungen angelegten Sachgesetzlichkeiten herauszuarbeiten und als Modell für exekutivische Handlungsspielräume anzubieten. Zum zweiten muß konstatiert werden, daß dem Subsumtionsmodell vordergründig auf Kosten der Ermessensverwaltung immer weitere Anwendungsräume zugestanden worden sind. Es stellt sich die Frage, inwiefern dies in der Struktur von Ermessensnormen angelegt und wie diese Entwicklung zu interpretieren ist. Zum dritten werden wir uns mit dem Postulat Franßens auseinanderzusetzen haben, jede verwaltungsrechtliche Regelung enthalte auch einen GestaltungsI

Franßen DVB11998, 413 (417).

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auftrag. Wie paßt das zusammen? Kann ein Rechtsanwendungsbefehl - z.B. eine Ist-Ausweisung zu verfügen oder eine Genehmigung, auf die ein Anspruch besteht, zu erteilen - zugleich einen Gestaltungsauftrag enthalten?

11. Zur rechtlichen Struktur behördlicher Handlungsspielräume Zunächst zwei Vorbemerkungen: a) Die Erwägungen, die ich Ihnen vortrage 2 , gehen zurück auf eine ca. zehnjährige richterliche Tätigkeit am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof hauptsächlich im Atomrecht, Gewerbe- und Immissionsschutzrecht und im Planfeststellungs- sowie im Wasserrecht. Wer diese Materien gleichzeitig zu bearbeiten hat, und das heißt zu wesentlichen Teilen, sich in deren Sachgesetzlichkeiten hineinzudenken, dem muß sich aufdrängen, daß vergleichbare Sachgesetzlichkeiten auch rechtlich strukturelle Gemeinsamkeiten haben müssen. Das heißt nicht, daß normative Besonderheiten zu vernachlässigen wären. Aber wenn man nach Grundlagen für eine rationale und systemgeleitete Rechtsanwendung sucht, wird man diese Gemeinsamkeiten in den Blick nehmen, so wie dies jüngst Schmidt-Aßmann in der Arbeit "Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee" vorgeführt hat. Und wir können nicht vernachlässigen, daß europäische Juristen, die nicht in der deutschen Tradition stehen, den Zusammenhang zwischen Sachgesetzlichkeit und rechtlicher Struktur wesentlich unbefangener und direkter sehen - längerfristig werden die deutsche Dogmatik und Praxis sich dem anzupassen haben. Die zweite Vorbemerkung betrifft den von Herrn Meyer-TeschendarJ gestern wieder ins Spiel gebrachten § 114 a VwG0 3 . Ich beschränke mich darauf hervorzuheben, daß es um Fragen des materiellen Rechts geht. Diese können nicht pauschal und losgelöst von den einzelnen Materien behandelt werden. Sog. Reduzierungen der Kontrolldichte bedürfen differenzierter Lösungen. Zudem bestehen erhebliche Zweifel, ob die Kontrolldichte vom Bund, gestützt auf die Kompetenz zur Regelung des Prozeßrechts, geregelt werden kann. Doch nun zum Thema: Das strikte Subsumtionsmodell geht davon aus, daß mit der Erfüllung des gesetzlichen Tatbestands automatisch eine bestimmte Rechtsfolge eintritt. Die Rechtsanwendung ist im wesentlichen auf die Erkenntnis des Sachverhalts beschränkt. Der Behörde steht kein Handlungsspielraum zu. Das Verwaltungsver2 Vgl. - auch zu weiteren Nachw. - die Darstellung in Schach / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Vorb § 47 Rn. 2ff.; Vorb § 113 Rn. 17 ff., § 114 Rn. 4 ff. 3 Vgl. dazu Gerhardt (Fn. 2), Vorb. § 113 Rn. 28.

Überlegungen zur rechtlichen Struktur von Handlungsspielräumen

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fahren hat insoweit lediglich dienende, keine selbständige Funktion. Für unsere Betrachtung ist wichtig, daß unvermeidbare und in nahezu jeder Norm des Verwaltungsrechts enthaltene Unschärfen auf der Tatbestandseite wegfingiert werden. Daraus folgt zweierlei: Zum einen besagt der Grad der Bestimmtheit oder vielmehr Unbestimmtheit der jeweiligen Rechtsbegriffe nichts darüber, ob der Verwaltung ein Gestaltungsspielraum zukommt. Zum anderen beansprucht dieses Modell nicht, die Wirklichkeit der Entscheidungsfindung abzubilden; m. a. W. wird der Umstand, daß man in concreto über die Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals berechtigterweise unterschiedlicher Meinung sein kann, zugunsten einer Wahrheitsfiktion vernachlässigt - es gibt nach der Rechtsordnung nur eine richtige Lösung des Falles. Ist hingegen - wie in § 40 VwVfG umschrieben - die Behörde ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, hat sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Derartige Ermessensermächtigungen sind typischerweise zweistufig aufgebaut. Auf der ersten Stufe geht es um die rechtlichen Voraussetzungen' also die Bestimmung des Ob und der Reichweite des behördlichen Handlungsspielraums. Die äußeren Grenzen des Verwaltungshandelns sind - jedenfalls im Geltungsbereich des Vorbehalts des Gesetzes - der jeweiligen Ermächtigungsnorm im Wege strikter Subsumtion zu entnehmen. Die Eigenart behördlicher Handlungsermächtigungen entfaltet sich auf der zweiten Stufe. Sie ist gekennzeichnet durch die am Zweck der Ermächtigung und an den sonstigen im Einzelfall relevanten Direktiven orientierte Ermittlung, Gewichtung und Abwägung von Belangen (Interessen). Die gebräuchliche Wendung, Ermessensermächtigungen gäben der Verwaltung die Befugnis zur "Gesetzesergänzung", verdeutlicht die der Behörde übertragene Gestaltungsaufgabe. Damit ist der Exekutive keineswegs ein amorpher Raum der Beliebigkeit eröffnet. Vielmehr finden wir - wie übrigens in prinzipiell vergleichbarer Weise auf der Ebene der Normgebung - rechtliche Strukturen vor, die aus den rechtstaatlichen Anforderungen an eine zweckorientiert-rationale Ausübung der Staatsmacht - namentlich, aber nicht nur im Bereich planerischen Gestaltens - entwickelt worden sind und die sowohl den Bedürfnissen der Verwaltung als auch den Anliegen Betroffener in ausgewogener Weise Rechnung tragen. Danach steht die behördliche Entscheidung unter einem dreifachen Handlungsgebot: - Das erste betrifft die Entscheidungsfindung insgesamt. Sie ist zu strukturieren und damit transparent und intersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Das anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entwickelte planungsrechtliche Abwägungsgebot steht dafür modellhaft zur Verfügung. Das bloße Abhaken von Einwendungen genügt beispielsweise diesen Anforderungen nicht. - Das zweite Gebot betrifft das Abwägungsmaterial, also die tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung. Ermittlungen, Abschätzungen und Wahrscheinlichkeitsurteile über künftige Entwicklungen haben soweit wie möglich

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realitätsbezogen zu sein. Ungewißheiten sind durch entsprechende Methoden zu minimieren oder, soweit unausräumbar, als solche in die Abwägung aufzunehmen. - Der Vorgang der Abwägung, also der bewertenden Erarbeitung der Entscheidung, unterliegt zunächst dem Gebot, daß die Behörde bei ihren Gewichtungen und Abwägungen die nonnativen Vorgaben beachtet, wobei dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (dem Gebot angemessenen Ausgleichs) als (materiellem) Grundgesetz rechtsstaatlichen Abwägens zentrale Bedeutung zukommt. Die Behörde ist aber andererseits von Gesetzes wegen vor allem auch dazu verpflichtet, die mit der Zuweisung einer Aufgabe in Letztverantwortung - meist stillschweigend - verbundenen "außerrechtlichen" Richtigkeitskriterien anzuwenden und in Entscheidungen umzusetzen. Das heißt im Fall des allgemeinen Verwaltungsennessens, den Einzelfall zweckmäßig und gerecht zu regeln, oder bei der Planung einer öffentlichen Anlage, deren Vor- und Nachteile gestalterisch zu optimieren. Das bisher Vorgetragene dürfte als Grundgerüst allgemein akzeptiert sein. Der Grundidee fiir die Einräumung behördlicher Handlungsspielräume, nicht das Ergebnis nonnativ zu fixieren, sondern Vorgaben fiir den Entscheidungsvorgang zu machen, sind zwei weitere Strukturelemente verpflichtet. Mit ihnen allerdings bewegen wir uns in Bereiche, die nach meinem Eindruck nicht zum herkömmlichen Kanon verwaltungsrechtsdogmatischer Vorstellungen gehören. Es geht zunächst um die Abwägungsdirektiven. Nach wohl h. M. unterliegen die nonnativen Vorgaben, die die Behörde bei der Abwägung zu berücksichtigen hat, dem Subsumtionsmodell (sog. dualistischer Ansatz). Demzufolge soll also zwischen den rechtlichen Vorgaben der Abwägung und dieser selbst zu trennen sein - Abwägungsdirektiven werden wie Tatbestandsmerkmale behandelt und gemeinhin als Ennessensschranken bezeichnet. Beispielhaft zu erwähnen sind hier die fiir die bauleitplanerische Abwägung erheblichen Belange oder etwa betroffene Grundrechtspositionen, aber auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Gerade bei diesem wird deutlich, wie zweifelhaft die Grundthese der herkömmlichen Auffassung ist: Das Gebot des angemessenen Ausgleichs betrifft gerade jenes Bewerten und in Bezugsetzen, das die Offenheit von Ennessensennächtigungen kennzeichnet. Es handelt sich eben um eine Handlungsanweisung, nicht um einen subsumtionsfähigen Obersatz. Blickt man auf die Grundrechte, gilt Entsprechendes, allerdings mit der Maßgabe, daß der Bewertungsspielraum der Verwaltung enger wird, je strikter die Rechtsgewährung gefaßt ist. Gerade dann aber, wenn das Grundrecht unter einem Abwägungsvorbehalt steht, macht es wenig Sinn, eine sog. Subsumtion unter das Grundrecht vorzunehmen und dieses Ergebnis als fixe Größe in die Ennessensabwägung einzustellen. Vielmehr sind die grundrechtsreievanten Faktoren herauszuarbeiten und unter Berücksichtigung des nonnativen Gewichts des Grundrechts in die Gesamtabwägung einzubeziehen. Folgt man dieser Sicht, ist es nur nur noch ein kleiner Schritt, auch einfach-gesetzliche Ennessensvorga-

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ben als richtungweisende, voller Subsumtion nicht bedürftige Gebote an die Behörde zu verstehen. Diese Erwägung mag auf den ersten Blick - abgesehen vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und vielleicht dem Gleichbehandlungsgebot - kaum weitreichende Konsequenzen haben, hat die Behörde den rechtlichen Gehalt der Direktive doch in jedem Fall richtig zu erfassen. Bevor ich darauf zurückkomme, erlauben Sie mir, auf das zweite Strukturelement behördlicher Handlungsspielräume zurückzukommen. Es betrifft die Tatsachenermittlung. Nach herkömmlicher Auffassung ist die entsprechende Pflicht der Behörde ausschließlich verfahrensrechtlich normiert. Dies wirkt sich in der gerichtlichen Kontrolle dahingehend aus, daß die abwägungserheblichen Umstände vom Gericht selbst ermittelt werden. Der Eigenart behördlicher Handlungsspielräume entspräche m. E. folgende Struktur, die sich zugegebenermaßen explizit im deutschen positiven Recht nur vereinzelt findet. Danach bestehen näher umschriebene und differenzierte Ermittlungspflichten der Behörde. Das materielle Recht enthält Handlungsanweisungen, welcher Sachverhalt in welchem Umfang, mit welcher Genauigkeit und mit welchen Mitteln zu klären ist. Im Nachhinein wird nicht gefragt, ob die Behörde den "wahren" Sachverhalt ihrer Entscheidung zugrundegelegt hat, sondern ob sie ihr Prüfprogramm in der gebotenen Weise absolviert hat, eine Fragestellung, die in bezug auf bestimmte Arten von Prognosen bereits Allgemeingut ist. Eine solche - nennen wir es - "Prozeduralisierung" des materiellen Rechts im Tatsächlichen wird sinnvollerweise mit den zuerst angedeuteten Erwägungen zur Struktur von Abwägungsdirektiven Hand in Hand gehen. Normative Wertung und Sachermittlung sind in komplexen Zusammenhängen eben nicht so getrennt, wie unsere Schuldogmatik es suggeriert. Nehmen Sie z. B. die Leitbegriffe des Naturschutzrechts wie Störung des Naturhaushalts o. ä. Hier greifen allgemeine und konkrete Erwägungen so ineinander, daß ehrlicherweise von subsumtionsfähigen Obersätzen nicht die Rede sein kann - und die Umweltverträglichkeitsprüfung hätte hier die Chance zu sachgerechten Lösungen geboten. Daß der 4. Senat des Bundesverwaltungsgrichts einer rein verfahrensrechtlichen Lösung gefolgt ist, betrachte ich als einen kaum verzeihlichen Rückschritt. Folgt man diesem Modell, gewinnt das Verwaltungsverfahrensrecht an Bedeutung, und die Entfaltung von Beteiligungsrechten, aber auch präklusionsbewehrten Pflichten in der neueren Gesetzgebung findet eine innere Rechtfertigung. Entsprechende dogmatische Gewinne ergeben sich, was hier nicht auszufuhren ist, fur das Fehlerfolgenrecht. Vor allem aber eröffnet diese Betrachtungsweise der Behörde Raum fur Zweckmäßigkeitsüberlegungen, und zwar sowohl norm- und sachspezifischer Art wie auch solcher allgemein verwal-

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tungspolitischer Art4 . Gerichtliche Äußerungen zu den Abwägungsdirektiven sind weniger statisch, die Verwaltung kann neueren Entwicklungen im außerrechtlichen Bereich leichter Rechnung tragen. Während das herkömmliche Modell voller rechtlicher Determiniertheit der rechtlichen Vorgaben Schwierigkeiten hat, den verbleibenden Rest an Handlungsspielraum überhaupt nur auszumachen - denken Sie etwa an eine durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz weitgehendst gebundene Polizeiverfiigung -, ergibt sich der Handlungsspielraum bei dem hier angebotenen Verständnis aus der offenen Struktur der Zielvorgaben behördlichen HandeIns. Damit ist Raum nicht nur fiir kompensatorische Erwägungen geschaffen, ein m. E. nicht zu unterschätzender Vorteil. Es wird darüber hinaus auch die Realität des Hin- und Herwanderns des Blicks zwischen Sachverhalt und Entscheidungsauftrag erfaßt, ein Gewinn an methodischer Transparenz und möglicher Ausgangspunkt fiir die Weiterentwicklung der verwaltungsgerichtlichen Kontrollaufgabe.

111. Tendenzen zur Restriktion behördlicher Handlungsspielräume Sie werden einwenden, die Rechtsentwicklung habe in den letzten Jahren eine gegenläufige Entwicklung genommen. Zu nennen wären etwa Einschränkungen des Ermessens, die sich aus der vollen Justiziabilität des Tatbestandsmerkmals "in der Regel" bzw. des Regel-Ausnahme-Falls bei Sollvorschriften ergeben, durch die Entwicklung der Argumentationsfigur des "intendierten Ermessens" oder die nicht seltene Annahme einer Ermessensreduzierung auf Null. Auch darf nicht übersehen werden, daß die Verwaltung über weite Strekken sich durch Verwaltungsvorschriften selbst bindet mit der entsprechenden Konsequenz einer Verrechtlichung des Geschehens - und ich habe als Richter stundenlange Verhandlungen zur konsequenten Anwendung von Straßenausbaurichtlinien betreffend den Straßenquerschnitt erlebt. Ich meine allerdings, daß diese Phänomene über die zugrunde liegenden Normstrukturen nichts aussagen. Bei näherem Hinsehen geht es in den genannten Fällen - von Ausreißern abgesehen - entweder darum, daß die Verwaltung keine Gesichtspunkte vorzubringen hatte, deretwegen der Gesetzeszweck oder etwa eine überragend bedeutsame Grundrechtsposition fiir die Entscheidung im Einzelfall nicht die dominierende Direktive hätte bilden sollen. Oder die Verwaltung hat sich aus Gründen einer gleichmäßigen - Stichwort: Massenverwaltung, Sozialhilferichtlinien - und sachrichtigen Praxis - Stichwort: Fixierung 4 Zu den Maßstäben des Verwaltungshandelns Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, Rn. 6 / 82 ff.

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technischer Standards - selbst gebunden und keine Gründe für eine Abweichung in concreto deutlich gemacht. Letztlich setzt sich in derartigen Fällen das Gebot praktischer Vernunft in erfreulicher Weise durch - und nach meiner festen Überzeugung sind die Ermessensreduzierung auf Null und verwandte Erscheinungen nicht rechtsdogmatisch faßbar, sondern beruhen allein auf rechtspraktischen Erwägungen. Den behördlichen Ermittlungs- und Begründungsaufwand in typischen Fällen möglichst klein zu halten, ist ebenso sachgerecht wie das Verwaltungsverfahren ergebnisorientiert abzukürzen, wenn der Mangel an behördlichen Gegenargumenten offensichtlich ist. Problematisch werden diese - bildlich gesprochen - "rechtsstaatlichen Abkürzungswege" erst dann, wenn die Verwaltung unter Berufung auf eine vermeintliche Rechtsbindung schematisch vorgeht und gewissermaßen blind für konkrete Besonderheiten davon Abstand nimmt, das ihr grundsätzlich aufgegebene Prüf-, Ermittlungs- und Entscheidungsprogramm abzuarbeiten. M. E. liegt die Gefahr insoweit also im wesentlichen in der Justizzentriertheit des Verwaltungsrechts und der Verwaltung, normstrukturelle Konsequenzen sehe ich nicht für erforderlich an.

IV. Vereinbarkeit von Subsumtionsmodell und zieldirigierten Handungsspielräumen Ich komme zum letzten Teil meiner Überlegungen. Nach dem bisher Gesagten bestehen keine prinzipiellen Schwierigkeiten, den Tatbestand einer jeden verwaltungsrechtlichen Norm als Handlungsanweisung an die Behörde zu verstehen. Was mit dem atomrechtlichen Schutzniveau nach dem Stand der Wissenschaft gemacht worden ist, läßt sich ebensogut auf den Begriff der gewerberechtlichen Unzuverlässigkeit übertragen. § 35 Abs. 1 GewO lautete dann in Langfassung in etwa: Ermittle und bewerte das Verhalten des Gewerbetreibenden im Hinblick auf seine Gefährlichkeit für einen ordnungsgemäßen Wirtschaftsverkehr. Es liegt auf der Hand, daß für ein solches Normverständnis praktisch desto weniger Raum bleibt, je dichter eine Materie durchnormiert ist. Am Prinzip ändert das nichts. Und daß Verwaltungsrechtsordnungen auf diesem Prinzip aufgebaut sein können, belegt der Umstand, daß die Trennung zwischen Tatbestands- und Rechtsfolgenseite eher als deutsche Eigentümlichkeit anzusehen ist. Jedenfalls habe ich den Eindruck, daß der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften eher von dem Modell zieldirigierten Verwaltungshandelns ausgeht, wenn auch erhebliche Unterschiede in der Handhabung je nach Materie festzustellen sind. Die kruziale Frage, wann ein solches Normverständnis angezeigt oder umgekehrt von Verfassungs wegen ausgeschlossen ist, gehört nicht zu meinem Thema. Hier ist lediglich festzuhalten, daß normstrukturelle Erwägungen grundsätzlich zulassen, auf der Tatbestandsseite verwaltungsrechtlicher Nor-

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men Gestaltungsspielräume (Beurteilungsermächtigungen) angesiedelt zu sehen. Wesentlich schwieriger dürfte es sein, beide Modelle zusammenzuführen. Hinter die These Franßens, im Gesetz sei immer auch ein Gestaltungsauftrag der Verwaltung enthalten, ist mithin ein Fragezeichen zu setzen. Dabei gehe ich davon aus, daß nicht Gestaltungsmöglichkeiten gemeint sind, die sich aus dem Verwaltungsverfahren ergeben, wie insbesondere zeitbezogene, so wichtig sie sein mögen (zu erinnern ist an die "katechontische Wirkung des Verwaltungsverfahrens"). Ich möchte Ihnen meine Skepsis anband eines Falles verdeutlichen, der soeben vor dem 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts verhandelt worden ist. Es ging um die Ausweisung eines türkischen Arbeitnehmers. Er ist seit dem 12. Lebensjahr im Bundesgebiet, im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung und hat eine vierköpfige Familie. Wegen Drogenbande1s wurde er zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Bis zu seiner Verhaftung hatte er ein verfestigtes Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsrecht Türkei / EG erworben. Der Ausweisungsverfügung ließ sich nicht entnehmen, ob der Ausländer aus spezial- oder aus generalpräventiven Gründen ausgewiesen wurde. Auch befaßte sich die Behörde in keiner Weise mit den assoziationsrechtlichen Aspekten des Falles. Klage und Berufung blieben erfolglos, weil die Gerichte sämtliche Aspekte des Falles in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts fur rechtlich voll determiniert, also auch voll justiziabel angesehen haben und kein behördliches Ermessen in Rede stand. Der Anwalt des Klägers hat im Revisionsverfahren im wesentlichen vorgebracht, die Behörde hätte pflichtwidrig unterlassen, die Gefährlichkeit des Ausländers bzw. die abschrekkende Wirkung einer Ausweisung zu ermitteln und im Hinblick namentlich auf die Ziele des Assoziationsrechts zu bewerten. Diese Argumentation wäre schlüssig und im vorliegenden Fall wohl erfolgreich gewesen, wenn die maßgeblichen Vorschriften des Ausländerrechts den Behörden Handlungsspielräume gäben. In Betracht kämen hier die Fragen, ob der Regelfall der Ausweisungspflicht gegeben ist oder eine Ausnahme vorliegt, sowie die Gefahrenprognose. Wie bereits angedeutet, bestehen nach ständiger Rechtsprechung insoweit keine Beurteilungsermächtigungen, und es unterliegt nach Zielsetzung und Aufbau des Ausländergesetzes - bewußte Abstufungen nach gebundenen, Regel- und Ermessensentscheidungen - keinem Zweifel, daß dies richtig und vom Gesetzgeber so gewollt ist. Dennoch drängt sich die Frage auf, ob die Ausländerbehörden nicht wenigstens in Randbereichen, gewissermaßen zur Feinsteuerung, Handlungsspielräume haben sollten. Dies setzte aber Binnendifferenzierungen im Tatbestandsbereich voraus, wie sie die frühere Faktorenlehre postuliert hatte und wie sie vereinzelt bei zusammengesetzten Tatbeständen vorkommen (z. B. im Umweltrecht durch Einbau planungsrechtlicher oder prognostischer Komponenten). Ohne solche - bildlich gesprochen -

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"Inseln" unterschiedlicher Normstruktur muß es aber wohl dabei bleiben, daß sich die zwei geschilderten Normstrukturen ausschließen. Das führt zu einer letzten Bemerkung. Sie betrifft den von Franßen angesprochenen "Programmcharakter" des Gesetzes. Die Doppelaussage moderner Gesetze ist nicht zu verkennen. Es werden zum einen eine Fülle von punktuellen Fragen und Details geregelt, die mit dem Ziel der Vereinfachung de facto die Rechtslage komplizieren. Zugleich enthalten diese Gesetze den Appell, die Verwaltungsaufgaben doch bitte "schlank" wahrzunehmen. Angesichts der Überfeinerung und Vernetzung des Verwaltungsrechts bleibt dem Gesetzgeber praktisch wohl keine andere Regelungstechnik. Die Konsequenz ist aber, daß der appellative Teil der Gesetzgebung sich nicht rechtlich greifen läßt. Er hat Beachtung zu finden, soweit bereits zieldirigierte Handlungsspielräume bestehen. Im übrigen kann er nur das Vorverständnis des Rechtsanwenders beinflussen. Das mag nicht wenig sein, bleibt normstrukturell aber unfaßbar.

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Handlungsspielräume der Verwaltung und Investitionssicherheit, am Beispiel der integrierten Vorhabengenehmigung Von lan Ziekow Das Thema des Vortrags steht unter dem folgenden Spannungsbogen: Eines der Kernanliegen der gegenwärtig geführten Modernisierungsdiskussion ist es, die Verwaltung zu verschlanken und zu dynamisieren. Der "Schlanke Staat" aber ist kein Selbstzweck, sondern soll auch den Bürgern zugute kommen. I Für eine Investitionsentscheidung eines Unternehmens ist es nicht ohne Bedeutung, wenn er sich einer Verwaltung gegenübersieht, die das Genehmigungsverfahren souverän durchführt und deshalb schnell und kompetent entscheidet. Diese Einsicht lag schon dem Bericht der sog. "Schlichter-Kommission,,2 zugrunde, auf dem schließlich das Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 12.9.19963 fußt. Die Schlichter-Kommission hat immer wieder betont, daß zahlreiche Maßnahmen als reine Standortpsychologie zu verstehen sind. 4 Wenn

I Vgl. den Abschlußbericht des Sachverständigenrats "Schlanker Staat", 1997. Dazu etwa Volker Busse, Verfahrenswege zu einem "schlankeren Staat", DÖV 1996, S. 389 ff.; Hartmut Klatt, Auf dem Weg zum schlanken Staat, ZBR 1998, S. 381 ff.; Klaus G. Meyer-Teschendorf, Handlungsspielräume der Verwaltung im "Schlanken Staat", in diesem Band; ders. / Hans Hofmann, Zwischenergebnisse des Sachverständigenrats "Schlanker Staat", DÖV 1997, S. 268 ff.; Heribert Schmitz, Fortentwicklung des Verwaltungsverfahrensrechts im Schlanken Staat, in: Ziekow (Hrsg.), Beschleunigung von P1anungs- und Genehmigungsverfahren, 1998, S. 171 ff. 2 Investitionsförderung durch flexible Genehmigungsverfahren. Bericht der Unabhängigen Expertenkommission zur Vereinfachung und Beschleunigung von Planungsund Genehmigungsverfahren, 1994. 3 BGB\. I 1354. Dazu Heinz Joachim Bonk, Strukturelle Änderungen des Verwaltungsverfahrens durch das Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz, NVwZ 1997, S. 320 ff.; Nico Fengler, Rechtsprobleme zum Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz, RiA 1997, S. 279 ff.; Henning Jäde, Beschleunigung von Genehmigungsverfahren nach dem Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz, UPR 1996, S. 361 ff.; Heribert Schmitz / Franz Wessendorf, Das Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz - Neue Regelungen im Verwaltungsverfahrensgesetz und der Wirtschaftsstandort Deutschland, NVwZ 1996, S. 955 ff., sowie die Beiträge in Jan Ziekow (Hrsg.), Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren, 1998. 4 Vgl. InvestitionsfOrderung (0. Anm. 2) Rn. 204 f.

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aber gesetzgeberische Maßnahmen positive Standortsignale setzen können, so können sie auch negative setzen. Diese Gefahr besteht insbesondere dann, wenn die Verwaltung zu schlagkräftig wird. Wenn für das Unternehmen nicht mehr sicher prognostizierbar ist, anhand welcher Kriterien eine Investitionsentscheidung von der Verwaltung mit welchem voraussichtlichem Ergebnis genehmigt wird, wird es sich die Sache noch einmal überlegen. Bedauerlicherweise scheint sich das immissionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren auf diesem gefährlichen Weg zu befinden. Die sog. integrierte Vorhabengenehmigung ist ein Instrument, das von vielen als Wunderwaffe des Umweltverfahrensrechts angesehen wird. Doch auch eine Wunderwaffe kann daneben zielen. Um das zulässige Wirkungsspektrum zu ermitteln, sind zunächst die Vorgaben für Entscheidungsspielräume der Verwaltung im Anlagenzulassungsrecht zu eruieren.

I. Vorgaben für Entscheidungsspielräume der Verwaltung im Anlagenzulassungsrecht Rechtliche Vorgaben ergeben sich in erster Linie aus der Verfassung. Zu nennen sind hier der Grundsatz der Bestimmtheit und der Berechtigungsgehalt der Grundrechte. Das rechtsstaatliche Gebot der ausreichenden Bestimmtheit von Rechtsvorschriften soll Rechtssicherheit gewährleisten. 5 Es fordert eine so genaue Fassung der Vorschrift, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte und mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist. 6 Unbestimmte Rechtsbegriffe sind zwar danach zulässig. Jedoch müssen im Interesse einer Kontrollierbarkeit durch die Gerichte jedenfalls die äußeren Grenzen des Interpretationsspielraums abgesteckt sein.? Die durch die Norm defmierte Lage muß für den Betroffenen erkennbar sein, damit er sein Verhalten darauf einrichten kann. 8 Für das Handeln privater Wirtschaftssubjekte bündeln sich diese Anforderungen im Grundsatz der Meßbarkeit: Meßbarkeit bedeutet, daß

BVerfGE 49, S. 168 (181); 59, S. 104 (114); 62, S. 169 (183); 80, S. 103 (107 f.). BVerfGE 49, S. 168 (181); 59, S. 104 (114); 78, S. 205 (212); 84, S. 133 (149); 87, S. 234 (263); 89, S. 69 (84); 93, S. 213 (238). 7 BVerfGE 6, S. 32 (42); 20, S. 150 (158); 21, S. 73 (80). Zur Zu lässigkeit unbestimmter Rechtsbegriffe BVerfGE 4, S. 352 (357 f.); 49, S. 168 (181); 80, S. 103 (108); 87, S. 234 (263 f.). B BVerfGE 21, S. 73 (79); 52, S. 1 (41); 59, S. 104 (114); 62, S. 169 (182 0; 78, S. 205 (212); 84, S. 133 (149). 5

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die Steuerung ökonomischer Rahmenbedingungen durch Gesetz so erfolgt, daß für die Wirtschaftssubjekte Rechts- und Dispositionssicherheit besteht. 9 Der grundrechtliche Aspekt besteht darin, daß die Grundrechte die Qualität subjektiver Rechte haben. Der Bürger als Grundrechtsberechtigter kann alle staatlichen Beeinträchtigungen seiner geschützten Freiheitsbetätigung abwehren, die sich nicht auf Grundrechtsschranken stützen lassen. Gestützt auf die Grundrechte der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG und der Eigentumsgewährleistung aus Art. 14 GG kann das private Wirtschaftssubjekt betriebliche Anlagen errichten und in Betrieb nehmen, wenn ihm diese Tätigkeit nicht durch ein Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes verboten wurde. Totalverbote sind insoweit nur in äußerst seltenen Ausnahmefällen zulässig. Im übrigen darf grundsätzlich nur vorgesehen werden, daß die beabsichtigte Tätigkeit vor ihrer Aufnahme auf die Übereinstimmung mit den zum Schutz von Gemeinwohlbelangen oder der Rechte privater Dritter erlassenen Gesetze überprüft wird (präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt). Die vom Bundesverfassungsgericht aus dieser Ableitung gezogene Folgerung ist deutlich: Wenn ein Gesetz für die Aufnahme einer grundrechtlich geschützten Betätigung die Einholung einer Genehmigung vorschreibt, so muß es sich um eine gebundene Genehmigung handeln. lO In den Worten des Gerichts: "Hält der Gesetzgeber es für erforderlich, der Ausübung von grundrechtlichen Befugnissen ein Genehmigungsverfahren vorzuschalten, so muß sich aus der Rechtsvorschrift selbst ergeben, welche Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung gegeben sein müssen und aus welchen Gründen die Genehmigung versagt werden darf." 11 Sind die gesetzlich aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, so hat der Bürger einen Rechtsanspruch auf Erteilung der Genehmigung. Für die Genehmigung umweltrelevanter Vorhaben gelten strukturell keine Besonderheiten. Eine allgemeine Umweltpflichtigkeit der Grundrechte gibt es nicht. 12 Eine grundrechtlich geschützte Tätigkeit verliert diesen Schutz nicht dadurch, daß sie umweltbelastend wirkt oder wirken kann. Vielmehr ist es auch hier Sache des Gesetzgebers, die Schranken des Grundrechts zu konkretisieren. Er hat zwar den Vorteil, sich in Gestalt des Staatsziels Umweltschutz nach Art. 20a GG und des Rechts Dritter auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auf grundrechts immanente Schranken stützen zu kön-

Rolf Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, 11. Aufl. 1998, S. 92. BVerfGE 18, S. 353 (364); 21, S. 73 (79 f.); Hans D. Jarass, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 3. Aufl. 1995, Art. 20 Rn. 40. 11 BVerfGE 62, S. 169 (183). 12 Michael Kloepfer, Umweltrecht, 2. Aufl. 1998, § 3 Rn. 53. 9

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nen. 13 Jedoch ändert dies nichts daran, daß fiir diese Schrankenziehung durch einfaches Gesetz grundsätzlich nur das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, also die gebundene Genehmigung, zur Verfiigung steht. Der Wechsel vom präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zum repressiven Verbot mit Befreiungsvorbehalt, also zur sog. Ermessensgenehmigung, ist nur unter engen Voraussetzungen zulässig. Das Bundesverfassungsgericht verlangt, daß ohne die Stellung der Genehmigungserteilung in das Ermessen der Behörde der Schutzzweck des Verbots nachweisbar beeinträchtigt wird. 14 In Betracht kommt dies vor allem, wenn ein fiir die Allgemeinheit lebenswichtiges Gut, etwa das Grundwasser, gefährdet wird. 15 Wie eng selbst dann die Grenzen einer Genehmigungserteilung nach Ermessen sind, hat das Bundesverfassungsgericht unmißverständlich in seinem Beschluß zum Schnellen Brüter in Kalkar klar gemacht. Das Gericht billigte das im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren bestehende Versagungsermessen ausschließlich deshalb, weil der Gesetzgeber den wissenschaftlichen und technologischen Erkenntnisstand bezüglich der möglichen Gefahren und ihrer Beherrschbarkeit vorerst als unzureichend einschätzen und die Kernener-gienutzung deshalb einer besonderen Regelung unterstellen durfte. Anschließend weist es ausdrücklich darauf hin, daß auch die atomrechtliche Genehmigung im Regelfall erteilt werden muß und eine Ablehnung nur zulässig ist, "falls besondere und unvorhergesehene Umstände es einmal notwendig machen" .16 Ergänzend darf darauf hingewiesen werden, daß die Entscheidung aus dem Jahre 1978 stammt. Es gibt eine Reihe von Stimmen, die das Erkenntnisdefizit als mittlerweile abgebaut ansehen und deshalb eine Rückkehr zur gebundenen Genehmigung auch im Atomrecht fordern. l ? Außerhalb des Atomrechts ist im Anlagenzulassungsrecht das Phänomen zu verzeichnen, daß die Entscheidungsspielräume der Verwaltung von der Rechtsfolgen- auf die Tatbestandsseite, d.h. vom Ermessen auf Beurteilungs-, Prognose- und Standardisierungsspielräume verlagert werden. 18 Zur Zulässigkeit sol13 Vgl. Jörn Ipsen, Staatsrecht 11, 2. Aufl. 1998, Rn. 242; Kloepfer (Anm. 12) § 3 Rn. 55. Auch aus der Dimension der Grundrechte als Schutzpflichten und der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG läßt sich kein Verfassungsgebot zur Einräumung eines Abwägungsermessens ableiten; so aber Rudolf Stein berg, Verfassungsrechtlicher Umweltschutz durch Grundrechte und Staatszielbestimmung, NJW 1996, S. 1985 (1993). 14 BVerfGE 18, S. 353 (364). IS BVerfGE 58, S. 300 (346 f.). 16 BVerfGE 49, S. 89 (146 f.). 17 Vgl. Hans-Jürgen Papier, Untersuchung im Bereich Genehmigung, Aufsicht, Nachrüstung, in: Lukes (Hrsg.), Reformüberlegungen zum Atomrecht, 1991, S. 111 (129 ff.); Hel/mut Wagner, Die Siebte Novelle zum Atomgesetz, NVwZ 1993, S. 513 (519). 18 Christian Tünnesen-Harmes, in: Hans D. Jarass, Wirtschaftsverwaltungsrecht, 3. Aufl. 1997, § 9 Rn. 19.

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cher Spielräume bei der Erteilung von Genehmigungen, die eine grundrechtlich geschützte Betätigung betreffen, hat das Bundesverfassungsgericht schon 1967 deutlich Stellung bezogen: Ein Genehmigungserfordernis, das die Auslegung der tatbestandlichen Voraussetzungen der Verwaltung vorbehält, ist unzuläs.

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Aus der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur gerichtlichen Kontrolle im Prüfungsrecht läßt sich wohl nichts anderes enmehmen. Allerdings ging es dort nicht um die Genehmigung von Anlagen, sondern um die juristischen Staatsprüfungen als Schranke für den Zugang zum Beruf. Das Gericht betonte, daß eine Prüfung ihren Zweck nur im Rahmen der Verhälmismäßigkeit verfolgen dürfe. Die Zweckbezogenheit der Prüfungsbewertung lasse einen Bewertungsspielraum des Prüfers nur dann zu, wenn die Richtigkeit von Lösungen nicht eindeutig bestimmbar sei. Im übrigen müsse das Gericht die Fehlerhaftigkeit einer wissenschaftlichfachlichen Annahme des Prüfers gegebenenfalls durch Einholung eines Sachverständigengutachtens feststellen. 20 Überträgt man diese Grundsätze auf das Anlagenzulassungsrecht, so ist zunächst festzuhalten, daß es sich bei der Genehmigungspflichtigkeit von umweltrelevanten Anlagen nicht um Berufswahl-, sondern um Berufsausübungsregelungen handelt. 21 Entsprechend geringer sind die Anforderungen, die der Grundsatz der Verhälmismäßigkeit an die Einräumung von Spielräumen flir die Verwaltung auf der Tatbestandsseite stellt. Gleichwohl muß der zwingende Bezug zum Zweck des Genehmigungserfordernisses gewahrt bleiben. Nur wenn sie der Erreichung dieses Zwecks immanent sind, sind behördliche Entscheidungsspielräume denkbar. Schwierigkeiten bei der gerichtlichen Sachverhaltsfeststellung und Bewertung reichen insoweit nicht aus.

BVerfGE 21, S. 73 (80 ff.). BVerfGE 84, S. 34 (54 f.). Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Zulässigkeit einer Beurteilungsermächtigung für die Prüfung einer beruflichen Eignung, BVerwGE 72, S. 195 (204), ist überholt. Vgl. zum Wandel der Rechtsprechung im Prüfungsrecht Christian Hofmann, Der Beitrag der neueren Rechtsprechung des BVerfG zur Dogmatik des Beurteilungsspielraums, NVwZ 1995, S. 740 ff.; Jens Michaelis, Kontrolldichte im Prüfungsrecht, VBIBW 1997, S. 441 ff.; Stefan Mucket, Verwaltungsgerichtliche Kontrolle von Prüfungsentscheidungen, WissR 1994, S. 107 ff.; Wolfgang Zimmerlin / Robert Brehm, Die Entwicklung des Prüfungverfahrensrechts seit 1991, NVwZ 1997, S. 451 ff. 21 Ktoepfer (Anm. 12) § 3 Rn. 60. 19

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11. Die Struktur anlagenbezogener Genehmigungen im Immissionsschutzrecht Der für das Atomrecht geprägte Satz, gesetzestechnisch werde zwischen Kernkraftwerk und Schankwirtschaft kein Unterschied gemacht,22 ist so schön wie zwischenzeitlich relativiert. In seinem Wyhl-Urteil aus dem Jahre 1985 nämlich hat das Bundesverwaltungsgericht den atomrechtlichen Vorsorgegrundsatz des § 7 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 AtomG als Zuweisung von Kompetenz an die Exekutive bezeichnet, in eigener Verantwortung die Risiken zu ermitteln und zu bewerten. Zur Begründung verweist das Gericht auf die in der Normstruktur zum Ausdruck gekommene Besonderheit des Regelungsgegenstandes. 23 Im Schrifttum ist immer wieder gefordert worden, diesen Ansatz auf andere Gebiete des Umweltrechts, etwa das Immissionsschutzrecht, zu übertragen. 24 Hier hält sich die Rechtsprechung aber sehr bedeckt. Vielmehr hat das Bundesverwaltungsgericht selbst ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es einen Bereich eigenverantwortlicher Ermittlung und Bewertung wie im Atomrecht bisher für das Immissionsschutzrecht nicht anerkannt hat. 25 Betrachtet man unter diesem Blickwinkel die immissionsschutzrechtliche Genehmigung nach § 6 BImSchG, so ließe sie sich als gebundene Genehrnigung 26 im strikten Sinne bezeichnen: Nach § 6 BImSchG ist die Genehmigung zu erteilen, wenn sichergestellt ist, daß die Grundpflichten nach § 5 BImSchG und die durch Rechtsverordnung (nach § 7 BImSchG) bestimmten Pflichten erfli1lt werden und andere öffentlich-rechtliche Vorschriften (und Belange des Arbeitsschutzes) der Errichtung und dem Betrieb der Anlage nicht entgegenstehen. Strukturell handelt es sich um ein Konditionalprogramm im Wenn /

22 Fritz Ossenbühl, Die gerichtliche Überprüfung technischer und wirtschaftlicher Fragen in Genehmigungen des Baus von Kraftwerken, DVBI. 1978, S. 1 (7). 23 BVerwGE 72, S. 300 (316 f.). 24 Vgl. Ernst Benda, Technische Risiken und Grundgesetz, in: Blümel / Wagner (Hrsg.), Technische Risiken und Recht, 1981, S. 10; Rupert Schatz, Technik und Recht, in: FS zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 691 (711 f.). 25 BVerwGE 85, S. 369 (379). 26 Rüdiger Breuer, Die rechtliche Bedeutung der Verwaltungsvorschriften nach § 48 BlmSchG im Genehmigungsverfahren, DVBI. 1978, S. 28 (29, 33 f.); Hanns Engelhardt / Jahannes Schlicht, Bundesimmissionsschutzgesetz, 4. Aufl. 1997, § 6 Rn. I; Hans D. Jarass, Bundes-Immissionsschutzgesetz, 3. Aufl. 1995, § 6 Rn. 19; Rudalf Stich / Karl-Wilhelm Parger, Immissionsschutzrecht des Bundes und der Länder, 1976, § 6 Rn. 3, 6, 7. Für Ermessen dagegen Dietrich Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 353 ff. Vgl. zum Problem noch Hans-Heinrich Trute, Vorsorgestrukturen und Luftreinhaltung im Bundesimmissionsschutzgesetz, 1989, S. 279 ff.

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Dann-Schema: Wenn die Voraussetzungen erfiillt sind, dann muß die Genehmigung erteilt werden. Hinter dieser Struktur steht das Schutzkonzept des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Nach der mittlerweile doch recht verbreiteten Systematisierung ist zu unterscheiden zwischen medialem, kausalem, vitalem und integriertem Umweltschutz. 27 Zwar ist das nur eine Grobeinteilung, die in sich Überschneidungen kennt. Sie eignet sich aber gut, um die behandelte Problematik zu verdeutlichen. Im hier interessierenden Zusammenhang sind zunächst vitaler, medialer und kausaler Umweltschutz von Bedeutung. Während der vitale Umweltschutz auf den Schutz von Tieren oder Pflanzen als Elementen der Umwelt gerichtet ist, setzt der mediale Schutz bei den Umweltmedien Boden, Luft und Wasser an. Der kausale Umweltschutz schließlich versucht, bestimmte Gefahrenquellen zu erfassen. 28 Das Bundes-Immissionsschutzgesetz ist ein typisches Beispiel fiir ein Gesetz, das Aspekte aller drei Schutzkonzepte aufweist. Seine Zwecke bestehen (ausweislieh des § 1) im Schutz sowohl von Menschen, Tieren und Pflanzen als auch von Boden, Wasser und Atmosphäre. An anderer Stelle (§§ 32 ff. BImSchG) kennt das Bundes-Immissionsschutzgesetz Anklänge an einen kausalen Umweltschutz. 29 Im Kern aber bleibt das Schutzkonzept des Bundes-Immissionsschutzgesetzes medial auf die genannten Umweltmedien bezogen. 3o Die Medien Boden und Wasser werden dabei sogar nur mittelbar geschützt. Sie sind zwar laut § 1 BImSchG Schutzgüter, die vor schädlichen Umwelteinwirkungen bewahrt werden sollen. Jedoch definiert § 3 Abs. 1 BImSchG die schädlichen Umwelteinwirkungen als Immissionen. Immissionen wiederum sind Umwelteinwirkungen, die sich gerade über das Medium Luft verbreiten (§ 3 Abs. 2 BImSchG). Die Luft wird also einerseits medial geschützt und andererseits als Belastungspfad erfaßt. Dieses im wesentlichen auf Medium und Belastungspfad konzentrierte Schutzkonzept steht hinter der Struktur der immissionschutzrechtlichen Genehmigung als gebundener Genehmigung. Der Zweck des Immissionsschutzes ist - jedenfalls dem Modell nach - ohne behördliche Entscheidungsspielräume erreichbar.

27 Vgl. nur Rüdiger Breuer, Strukturen und Tendenzen des Umweltschutzrechts, Der Staat 20 (1981), S. 393 (395 ff.); ders., Umweltschutzrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, Rn. 38 ff.; Bemd Becker! Reinhard Sparwasser ! Rüdiger Engel, Umwe1trecht, 3. Aufl. 1995, Rn. 1 / 11; Kloepfer (Anm. 12) § 1 Rn. 66. 28 Breuer (Anm. 27), Der Staat 20 (1981), S. 393 (396 ff.). 29 Breuer (Anm. 27), in: Schmidt-Aßmann § 5 Rn. 41. 30 Breuer (Anm. 27), Der Staat 20 (1981), S. 393 (397).

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Die gegen dieses Modell vorgetragene Kritik, es sei praxisfern und durch zahlreiche Spezifika des immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahrens relativiert, überzeugt nicht. Völlig verfehlt ist in diesem Zusammenhang die Erwähnung des § 7 Abs. 3 BImSehG. Diese Vorschrift beruht auf dem Kompensationsgedanken 31 und erlaubt auf der Grundlage einer Rechtsverordnung die Abweichung von Vorsorgeanforderungen, wenn durch technische Maßnahmen an anderen Anlagen des Betreibers oder Dritter insgesamt eine weitergehende Minderung von Emissionen erreicht wird als bei Beachtung der sonst geltenden An-forderungen. Daraus eine Relativierung der Gebundenheit der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung zu folgern 32 , geht an der Sache vorbei. Denn Ausnahmen von der Einhaltung der Voraussetzungen einer gebundenen Genehmigung sind immer nach Ermessen zu erteilen. Umgekehrt wird es richtig: Gerade weil das Gesetz eine gebundene Genehmigungserteilung vorsieht, müssen Ausnahmemöglichkeiten ausdrücklich vorgesehen werden. Ebensowenig fuhrt das in § 12 Abs. I BImSchG der Behörde eingeräumte Ermessen, die Genehmigung mit Nebenbestimmungen zu erteilen, dazu, daß Genehrnigungsvoraussetzungen und Nebenbestimmungsermessen zu einem wabernden Gesamtermessen diffundieren. 33 Ausweislieh des § 12 Abs. 1 BImSchG dürfen Nebenbestimmungen vielmehr nur den Zweck verfolgen, gerade die Erfullung der Genehmigungsvoraussetzungen sicherzustellen. Entsprechendes gilt fur den Versuch, § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG fur die Aufweichung der Gebundenheit der Genehmigung in Anspruch zu nehmen. § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG macht zur Voraussetzung der Genehmigungserteilung, daß andere öffentlich-rechtliche Vorschriften der Errichtung und dem Betrieb der Anlage nicht entgegenstehen. Zweifellos gibt es danach zu beachtende Vorschriften, die wiederum als Ermessens- oder als Planungsnormen der Behörde Entscheidungsspielräume eröffnen. Damit wird jedoch der § 6 Abs. 1 BImSchG nicht zu einer "vermischten Gesamtnorm", die "unter dem Strich ein Ermessen" einräumt. 34 Zum einen paßt diese Bezeichnung in all den Fällen nicht, in denen Vorschriften mit Entscheidungsspielraum keine Rolle spielen. Zum anderen ist es keineswegs ungewöhnlich, daß eine gebundene Entscheidung von Vorfragenentscheidungen abhängt, die ihrerseits ermessens- oder abwägungsgesteuert sind. Dies und nichts anderes ist Inhalt der sog. Faktorenlehre des Bundesverwaltungsgerichts. Das Gericht beharrt zu Recht darauf, daß die Rückkoppelung einzelner Entscheidungsfaktoren an EntscheidungsspielKloepfer (Anm. 12) § 14 Rn. 84. So Alexander Blankenagel, in: Koch / Scheuing (Hrsg.), Gemeinschaftskommentar zum Bundes-Immissionsschutzgesetz, 1998, § 6 Rn. 6. 33 So aber Blankenagel (Anm. 32) § 6 Rn. 10. 34 So aber Blankenagel (Anm. 32) § 6 Rn. 9. 31

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räume der Verwaltung nichts am Charakter der abschließenden Entscheidung als gebundener Entscheidung ändert. 35 Erst recht gilt dieses Ergebnis rur die Einbeziehung der Ergebnisse einer Umweltverträglichkeitsprüfung in das immissionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren. Das in § 12 UVPG ausgesprochene Gebot, die Bewertung der Umweltauswirkungen des Vorhabens bei der Entscheidung über dessen Zulässigkeit zu berücksichtigen, macht die gebundene Genehmigung nicht zu einer Ermessensgenehmigung. 36 Die verfahrensrechtliche Reichweite dieses Berücksichtigungsgebots bei der Erteilung gebundener Genehmigungen ist zwar noch immer nicht restlos ausdiskutiert. Ganz überwiegend wird die Implementation der UVP-Ergebnisse bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe versucht. 37 Unabhängig von der Frage, ob damit den gemein-schaftsrechtlichen Vorgaben der UVP-RL ausreichend Rechnung ge-tragen wird,38 bleibt es jedoch dabei, daß die immissionsschutzrechtliche Genehmigung bei Vorliegen der - gerichtlich voll kontrollierbaren - Voraussetzungen erteilt werden muß. Als letzte der vermeintlichen Relativierungen der Gebundenheit der Genehmigungserteilung verbleibt die auch schon bei dem Gebot zur Berücksichtigung der UVP angeklungene Frage der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe im Immissionsschutzrecht. § 6 Abs. 1 NT. 1 BImSchG formuliert als Genehmigungsvoraussetzung die Errullung der sich aus § 5 BImSchG ergebenden Pflichten. Geprägt ist der Grundpflichtenkatalog des § 5 BImSchG durch die Verwendung einer großen Zahl unbestimmter Rechtsbegriffe wie Vgl. für das Beamtenrecht BVerwGE 26, S. 65 (76 f.). A.A. Blankenagel (Anm. 32) § 6 Rn. 10. 37 Vgl. Andreas Gallas, Die UmweItverträglichkeitsprüfung im immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren, in: Neuere Entwicklungen im Immissionsschutzrecht, 1991, S. 96 (\07); Werner Hoppe / Gerald Püchel, Zur Anwendung der Art. 3 und 8 EG-Richtlinie zur UVP bei der Genehmigung nach dem BundesImmissionsschutzgesetz, DVBI. 1988, S. I (12); Klaus Lange, Rechtsfolgen der UmweItverträglichkeitsprüfung für die Genehmigung oder Zulassung eines Projekts, DÖV 1992, S. 780 (784); Rudolf Steinberg, Die Bewertung der UmweItauswirkungen eines Vorhabens nach dem Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung, DVBI. 1990, S. 1369 (1370 f.); Axel Vorwerk, Die Bewertung von UmweItauswirkungen im Rahmen der UmweItverträglichkeitsprüfung nach § 12 UVPG, Verw. 29 (1996), S. 241 (252 ff.); Arthur Ziegler, UmweItverträglichkeitsprüfung in Genehmigungsverfahren nach dem Bundes-lmmissionsschutzgesetz, NJW 1991, S. 409. Ablehnend Alexander Schink / Wilfried Erbguth, Die UmweItverträglichkeitsprüfung im immissionsschutz-rechtlichen Zulassungsverfahren, DVBI. 1991, S. 413 (416 ff.). 38 Eine defizitäre Umsetzung des medienübergreifenden Ansatzes der UVP-RL nimmt Christian Heitsch, Durchsetzung der materiellrechtlichen Anforderungen der UVP-Richtlinie im immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren, NuR 1996, S. 453 (456 ff.) an. Für Einführung eines Optionenermessens de lege ferenda Wolfgang Hoffmann-Riem, Immissionsschutzrechtliches Genehmigungsverfahren mit UVP, in: Koch I LecheIt (Hrsg.), Zwanzig Jahre Bundes-Immissionsschutzgesetz, 1994, S. 74 (94 ff.). 35

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"schädliche Umwelteinwirkungen", "Vorsorge" oder "Stand der Technik". Für das Problem der gerichtlichen Kontrolldichte hinsichtlich der Auslegung dieser Begriffe sind zwei Fragen aus-einanderzuhalten. Deren erste betrifft das Bestehen eines kontrollreduzierten Beurteilungsspielraums der Verwaltung bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe. Sie ist auf der Grundlage der Rechtsprechung und der überwiegenden Auffassung im Schrifttum klar zu beantworten: Ein derartiger Beurteilungsspielraum besteht nicht. 39 Die zweite Frage bezieht sich auf eine Ermächtigung der Verwaltung, in auch für die Gerichte verbindlicher Weise durch Verwaltungsvorschriften gesetzliche Begriffe zu konkretisieren. Die in diesem Zusammenhang allgemein bekannten Schlagworte sind "antizipiertes Sachverständigengutachten" und "normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift" . Hierzu einige kurze, gleichwohl klarstellende Vorbemerkungen: Verwaltungsvorschriften sind keine Rechtsnormen, entfalten also grundsätzlich keine über die Verwaltung hinausgreifende Verbindlichkeit. N ormkonkretisierende Verwaltungsvorschriften sind im Regelfall nicht mehr als die vorweggenommene Ausübung von Beurteilungsermächtigungen. 4o Wo es - wie im Immissionsschutzrecht - keine Beurteilungsspielräume für den Einzelfall geben kann, ist rur die Figur der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift von vornherein kein Platz. Eine Ausnahme kann nur dann gelten, wenn das Gesetz ausdrücklich zum Erlaß von Verwaltungsvorschriften mit erhöhter Bindungswirkung ermächtigt. Für das Immissionsschutzrecht wird eine solche Ermächtigung nach der mittlerweile wohl überwiegenden Ansicht in § 48 BImSchG gesehen. 4 \ Bekann39 BVerwGE 55, S. 250 (253 f.); 85, S. 368 (379); Jarass (Anm. 26) § 5 Rn. 103 ff.; Kloepfer (Anm. 12) § 14 Rn. 209; Ernst Kutscheidt, in: Landmann / Rohmer, Umweltrecht I, 1998, § 3 BlmSchG Rn. 18 ff.; Peter J. Tettinger, Überlegungen zu einem administrativen "Prognosespielraum", DVBI. 1982, S. 421 (432 f.); Bodo Wiegand, Zur Problematik der Grenzwertfestsetzung in Verwaltungsvorschriften, VR 1991, S. 110 (112 f.). Zum Problem der Prognose- und Beurteilungsspielräume im Immissionsschutzrecht vgl. noch Rudi Müller-Glöge, Die verwaltungsgerichtliche Kontrolle administrativer Immissionsprognosen, 1982, S. 83 ff.; Dieter Sellner, Beurteilungsspielräume der Exekutive und ihre Handhabung im Immissionsschutzrecht, in: Neuere Entwicklungen im Immissionsschutzrecht, 1991, S. 24 ff. 40 Vgl. Udo Di Fabio, Verwaltungsvorschriften als ausgeübte Beurteilungsermächtigung, DVBI. 1992, S. 1338 (1344); Michael Gerhardt, Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften, NJW 1989, S. 2233 (2234); ders., in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, 1998, § 114 Rn. 63; Hermann Hili, Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften, NVwZ 1989, S. 401 (406); FranzJosef Kunert, Normkonkretisierung im Umweltrecht, NVwZ 1989, S. 1018 (1021 f.); Horst Send/er, Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften im Umweltrecht, UPR 1993, S. 321 (324). 41 Gerhardt, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner (Anm. 40), § 114 Rn. 64; Jarass (Anm. 26) § 48 Rn. 13 ff.; Kutscheidt (Anm. 39) § 3 BImSchG Rn. 19; Reiner Schmidt, Einführung in das Umwe\trecht, 4. Aufl. 1995, § 3 Rn. 16; Dieter Sellner, Immissionsschutzrecht und Industrieanlagen, 2. Aufl. 1988, Rn. 45 ff.; Trute (Anm. 26)

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testes Beispiel von nach dieser Bestimmung ergangenen Verwaltungsvorschriften ist die technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft, die sog. TALuft. Die Gerichte halten sich an den Inhalt der Verwaltungsvorschrift gebunden, wenn sie nicht durch Erkenntnisfortschritte in Wissenschaft und Technik überholt ist. 42 Was allerdings diese Ermächtigung der Verwaltung zur VorabKonkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe rür die Rechtsnatur der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung besagen soll, ist nicht ganz einsichtig. Der Erlaß einer norrnkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift bewirkt ein Mehr an Bindung bei der Erteilung einer Genehmigung, kein Weniger. Ein nur beschränkt kontrollierbarer Beurteilungspielraum besteht hinsichtlich der Voraussetzungen rur die Erteilung der einzelnen Genehmigung gleichwohl nicht. Eine Rücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte erfolgt lediglich für die Überprüfbarkeit der Ausübung der Standardisierungsermächtigung nach § 48 BImSchG. Unter dem Gesichtspunkt der Berechenbarkeit der Verwaltungsentscheidung, beispielsweise für die Investitionsplanung eines Unternehmens, verstärkt das Instrument der norrnkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift sogar die mit der Ausgestaltung als gebundene Genehmigung vermittelte Sicherheit. Der Antragsteller verharrt nicht in Unsicherheit darüber, wie ihm gegenüber die unbestimmten Rechtsbegriffe konkretisiert werden, sondern hat bereits bei der Vorbereitung seines Antrags eine grundsätzlich verbindliche Richtschnur in den Händen. In einem Zwischemesümee bleibt es also dabei, daß die immissionsschutzrechtliche Genehmigung nach § 6 BImSchG eine gebundene Genehmigung ist. Sind ihre tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt, so muß sie erteilt werden. Beurteilungsspielräume sind der Verwaltung ebensowenig eingeräumt wie ein Ermessen. Die Ermächtigung zum Erlaß norrnkon-kretisierender Verwaltungsvorschriften ändert daran nichts, sondern verstärkt eher noch den verfassungsrechtlich unterlegten Berechenbarkeitsaspekt. Grundlage ist ein im wesentlichen mediales Schutzkonzept, das sich auf die Luft als geschütztes Medium und als Belastungspfad konzentriert.

s. 317 ff.

Kritisch etwa Christian Bönker, Die verfassungs- und europarechtliche Zulässigkeit von Umweltstandards in Verwaltungsvorschriften, DVBI. 1992, S. 804 ff.; Kloepfer (Anm. 12) § 14 Rn. 51; Hans-Joachim Koch, in: Koch / Scheuing (Anm. 32) § 48 Rn. 71 ff. 42 BVerwGE 55, S. 250 (258); BVerwG NVwZ 1988, S. 824 f.; DVBI. 1995, S. 516 (517); NVwZ-RR 1996, S. 498 (499); Jarass (Anm. 26) § 48 Rn. 19,71 ff.

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III. Das Konzept der integrierten Vorhabengenehmigung Der Begriff der integrierten Vorhabengenehmigung ist dem geltenden Recht fremd und findet sich so auch in keinen Vorschlägen zur Neunormierung des Umweltrechts. § 80 des Umweltgesetzbuch-Entwurfes der Unabhängigen Sachverständigenkommission43 kennt nur die Vorhabengenehmigung - unter-

teilt in gebundene, planerische und einfache Vorhabengenehmigung. Allerdings adeln aber die einschlägigen Passagen der Entwurfsbegründung den Begriff. Dort ist die Rede von der "Vorhabengenehmigung ... (mit) Integrationswirkung im Bereich des Umweltschutzes,,44, so daß die Abbreviatur "integrierte Vorhabengenehmigung" vertretbar sein mag. Sellner hat zu Recht darauf hingewiesen, daß man den Begriff der integrierten Genehmigung ohne viel Federlesens aus dem Begriff des integrierten Umweltschutzes entwickelt hat. 45 Damit schließt sich der Kreis wieder zu den umweltrechtlichen Schutzkonzepten, die im Zusammenhang mit der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung erwähnt wurden (0.2.).

Zurückhaltend formuliert ist der Begriff des integrierten Umweltschutzes äußerst vage und ungenau. Di Fabio hat das Geheimnis des Siegeszuges des Begriffs im deutschsprachigen Kulturraum - wohl nicht ganz zu Unrecht - in seiner emotionsmobilisierenden, Einheit versprechenden Kraft gesehen. 46 Integration verspricht Überschaubarkeit, Beherrschbarkeit, Geborgenheit. Erinnert werden darf in diesem Zusammenhang an die Integrationslehre Rudolf Smends47 , die die weit zurückreichenden Wurzeln dieser Vorstellungen versinnbildlicht. Da zumindest die aktuelle Diskussion durch die EG-Richtlinie über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung vom 24.

43 Bundesministerium flir Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hrsg.), Umweltgesetzbuch (UGB-KomE). Entwurf der Unabhängigen Sachverständigenkommission zum Umweltgesetzbuch beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, 1998. Zum Entwurf vgl. Michael Kloepfer ! Wolfgang Durner, Der Umweltgesetzbuch-Entwurf (UGB-KomE), OVBI. 1997, S. 1081 ff.; Gertrude Lübbe-WoljJ, Anforderungen an das Umweltgesetzbuch, ZAU 1998, S. 43 ff.; Alexander Schmidt, Die Vorbereitung des Umweltgesetzbuchs, ZUR 1998, S. 277 ff. 44 Entwurf der Unabhängigen Sachverständigenkommission (Anm. 43) S. 614. 45 Dieter Sel/ner, Die integrierte Genehmigung als neues Instrument für die Zulassung raumbedeutsamer Anlagen, in: Rengeling (Hrsg.), Integrierter und betrieblicher Umweltschutz, 1996, S. 79 (83). 46 Udo Di Fabio, Integratives Umwe\trecht, NVwZ 1998, S. 329. 47 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 18 ff.

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Sept. 199648 (IVU-RL) angestoßen wurde, ist deren Verständnis derzeit wohl prägend. Auch die IVU-RL bleibt allerdings eine explizite Antwort auf die Frage nach dem Inhalt ihres integrativen Ansatzes schuldig. Rückschließen läßt er sich vor allem aus dem in den Begrundungserwägungen enthaltenen Vorwurf, daß getrennte mediale Konzepte, die lediglich der isolierten Verminderung der Emissionen in Luft, Wasser oder Boden dienen, dazu führen können, daß die Verschmutzung von einem Umweltmedium auf ein anderes verlagert wird, anstatt die Umwelt insgesamt zu schützen (Erwägungsgrund 7). Das integrierte Konzept dagegen ziele darauf ab, Emissionen in Luft, Wasser und Boden unter Einbeziehung der Abfallwirtschaft soweit wie möglich zu vermeiden, um ein hohes Schutzniveau für die Umwelt insgesamt zu erreichen (Erwägungsgrund 8). Im Mittelpunkt dieses Verständnisses von integrativem Umweltschutz steht also ein übermediales Schutzkonzept. Es soll vor allem Verlagerungseffekte von einem Umweltmedium in ein anderes verhindern und ist auf Emissionsbegrenzung ausgelegt. 49 Bekanntes Beispiel ist die Rauchgasentschwefelung: Als Maßnahme zur Reinhaltung der Luft bringt sie ihrerseits Abscheidungen hervor, die deponiert werden müssen und damit für das Medium Boden relevant

48 Richtlinie 96 / 61 / EG des Rates vom 24. September 1996 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, ABI. EG L 257 / 26. Dazu Hernd Hecker, Einflihrung in Inhalt, Bedeutung und Probleme der Umsetzung der Richtlinie 96 / 6 I / EG des Rates der Europäischen Union vom 24. September 1996 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, DVBI. 1997, S. 588 ff.; Klaus-Peter Dolde, Die EG-Richtlinie über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (lVU-Richtlinie) - Auswirkungen auf das deutsche Umweltrecht, NVwZ 1997, S. 313 ff.; Jürgen Dürkop / Harald Kracht / Andreas Wasielewski, Die künftige EG-Richtlinie über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (lVU-Richtiinie), UPR 1995, S. 425 ff.; Hans-Joachim Koch / Klaus Jankowski, Die IVU-Richtlinie: Umsturz im deutschen Anlagengenehmigungsrecht?, ZUR 1998, S. 57 ff.; Harald Kracht / Andreas Wasielewski, Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 1998, § 35; Ludwig Krämer, Der Richtlinienvorschlag über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, in: Rengeling (Hrsg.), Integrierter und betrieblicher Umweltschutz, 1996, S. 5 I ff.; Marc Röckinghausen, Integrierter Umweltschutz im EG-Recht, 1998, S. 95 ff.; Kurt Schäfer, Zum integrierten Konzept der IVURichtlinie, UPR 1997, S. 444 ff.; Dieter Sellner / Jörn Schnutenhaus, Die geplante EGRichtlinie zu "Integrated Pollution Prevention and Control (IPC)", NVwZ 1993, S. 828 ff.; Rudolf Steinberg /Isabell Koepfer, IVU-Richtlinie und immissionsschutzrechtliche Genehmigung, DVBI. 1997, S. 973 ff.; Johannes Zöttl, Die EG-Richtlinie über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, NuR 1997, S. 157 ff. 49 Zu diesen Schwerpunkten der IVU-RL vgl. Dolde (Anm. 48) S. 314; Michael Krings, Immissionsschutzrechtliche Aspekte der Umsetzung von IVU- und UVPRichtlinie durch ein Erstes Buch zum Umweltgesetzbuch, Jb. des Umwelt- und Technikrechts 1998, S. 47 (50 ff.); Röckinghausen (Anm. 48) S. 99.

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werden. Die Vorstellung, daß damit gegenüber dem medial orientierten deutschen Immissionsschutzrecht notwendig eine Verbesserung des Umweltschutzes verbunden ist, ist jedoch eher im erwähnten Bereich der Emotionen angesiedelt. Das Immissionsschutzrecht fangt solche Verlagerungseffekte über die Genehmigungsvoraussetzung des § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG auf, wonach andere öffentlich-rechtliche Vorschriften der Errichtung und dem Betrieb der Anlage nicht entgegenstehen dürfen. So verhindern es beispielsweise die wasserrechtlichen Vorschriften, daß Schadstoffe, die nach Immissionsschutzrecht nicht in die Luft entlassen werden dürfen, nunmehr ins Wasser geleitet werden. 50 Allerdings besteht Einigkeit in der Umwelt-rechtswissenschaft, daß damit das medienübergreifende Konzept der IVU-Richtlinie nicht in vollem Umfang abgebildet werden kann. 51 Für die Zwecke dieser Untersuchung wichtiger sind die instrumentellen Vorgaben, die dem deutschen Recht gemacht werden. Die verfahrenstechnischen Anforderungen formuliert die Richtlinie offen: Art. 7 IVU-RL verlangt von den Mitgliedsstaaten nur die "erforderlichen Maßnahmen rur eine vollständige Koordinierung des Genehmigungsverfahrens und der Genehmigungsauflagen, wenn bei diesem Verfahren mehrere zuständige Behörden mitwirken, um ein wirksames integriertes Konzept aller rur diese Verfahren zuständigen Behörden sicherzustellen". Das integrierte Schutzkonzept der Richtlinie fordert also keine einheitliche Genehmigung rur die Zulassung einer Anlage. Möglich ist auch die Zulassung der Anlage durch mehrere Genehmigungen - selbst verschiedener Behörden, sofern das Verfahren und die die Einhaltung der Anforderungen sichernden Genehmi-gu!lgsauflagen koordiniert sind. 52 Entspricht die Anlage nicht den Anforderungen der IVU-RL, so muß die Genehmigung abgelehnt werden (Art. 8 IVU-RL). Im übrigen läßt es Art. 8 IVU-RL den Mitgliedstaaten frei, ob die Anlagengenehmigung als gebundene oder als Ermessensentscheidung ausgestaltet wird. 53 Auch ein letztes Einfallstor rur strukturelle Änderungen gegenüber der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung ist noch im Verfahren des Erlasses der Richtlinie geschlossen worso Vgl. zum ganzen grundlegend Manfred Rebentisch, Die immissionsschutzrechtliche Genehmigung - ein Instrument integrierten Umweltschutzes?, NVwZ 1995, S. 949 ff; sowie Di Fabio (Anm. 46) S. 334; Schäfer (Anm. 48) S. 446. 51 Dolde (Anm. 48) S. 316; Dürkop / Kracht / Wasielewski (Anm. 48) S. 430 ff; Johannes Zättl, Integrierter Umweltschutz in der neuesten Rechtsentwicklung, 1998,

S. 356 ff. 52 Dolde (Anm. 48) S. 317 f; Kracht / Wasielewski (Anm. 48) § 35 Rn. 78; Krämer (Anm. 48) S. 69; Zättl (Anm. 51) S. 212 f 53 Dolde (Anm. 48), S. 318; Dürkop / Kracht / Wasielewski (Anm. 48) S. 433; Kracht / Wasielewski (Anm. 48) § 35 Rn. 73; Räckinghausen (Anm. 48) S. 105; Steinberg / Koepfer (Anm. 48) S. 974; Zättl (Anm. 51) S. 224.

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den. Nach Art. 9 Abs. 3 IVU-RL muß die Genehmigung Emissionsgrenzwerte für die Schadstoffe enthalten, die von der betreffenden Anlage unter Berücksichtigung der Art der Schadstoffe und der Gefahr einer Verlagerung der Verschmutzung von einem Medium auf ein anderes in relevanter Menge emittiert werden können. Es ist durchaus nicht unberechtigt, darin einen Kern des integrativen Gehalts der IVU-RL zu sehen. Denn die Gewichtung der Emissionen verschiedener Belastungspfade zueinander ist ein Akt der Bewertung für die konkrete Anlage. Unübersehbar kommt damit ein dezisionistisches Element in die Genehmigungserteilung hinein. 54 Die damit verbundene Relativierung des Konzepts der gebundenen Genehmigung nimmt Art. 9 Abs. 8 der Richtlinie jedoch wieder zurück. Diese Bestimmung erlaubt den Mitgliedstaaten, bestimmte Anforderungen für Anlagen in Form von allgemein bindenden Vorschriften statt in Genehmigungsauflagen festzulegen, sofern die integrativen Ziele der IVU-RL gewährleistet werden. D.h.: Sind Emissionsgrenzwerte durch Gesetz oder Rechtsverordnung - nicht: durch Ver-waltungsvorschrift55 - festgelegt, so bedarf es keiner Festsetzung im Einzelfall. Die deutsche Tradition einer Normativsteuerung der Genehmigungserteilung braucht nicht verlassen zu werden. Im Ergebnis zwingt also das integrierte Schutzkonzept der IVU-RL nicht dazu, von der verfassungsrechtlich vorgegebenen Genehmigungsstruktur als gebundener Entscheidung abzuweichen. 56 Gegenteilige Behauptungen57 vermischen subjektiv Wünschenswertes mit objektiv Gebotenem. Die Richtlinie macht vielmehr deutlich, daß selbst ein integratives Schutzkonzept ohne das Instrument der integrierten Vorhabengenehmigung auskommt. Das Modell der integrierten Vorhabengenehmigung ist entsprechend ambitionierter. Greift man auf die Vorstellungen der Unabhängigen Sachverständigenkommission im UGB-Entwurf zurück, so ist die angestrebte Integrationswirkung eine doppelte. Zum einen geht es um eine verfahrensbezogene Integration: Für ein umweltrelevantes Vorhaben ist nur noch eine Genehmigung erforderlich, die die Prüfung und Entscheidung der umweltbezogenen Fragen in ein Verfahren integriert. Zum anderen wird materiellrechtlich ein integratives Schutzkonzept verfolgt: Für alle Vorhaben geltende Grundpflichten geben eine medienübergreifende Betrachtung und ein einheitlich hohes Schutzniveau vor. Auf dieser Grundlage ist bei der Genehmigungserteilung zu prüfen, welche 54 Vgl. Di Fabio (Anm. 46) S. 334 f.; Röckinghausen (Anm. 48) S. 120; Matthias Schmidt-Preuß, Veränderungen grundlegender Strukturen des deutschen (Umwelt-) Rechts durch das "Umweltgesetzbuch I", DVBI. 1998, S. 857 (860 f.). 55 Dolde (Anm. 48) S. 318; Dürkop I Kracht I Wasielewski (Anm. 48) S. 432. 56 Befürchtungen in dieser Hinsicht bei Rüdiger Breuer, Zunehmende Vielgestaltigkeit der Instrumente im deutschen und europäischen Umweltrecht, NVwZ 1997, S. 833 (839). 57 Vgl. [vo Appel, Emissionsbegrenzung und Umweltqualität, DVBI. 1995, S. 399 (400,407 f.).

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Maßnahmen unter Berücksichtigung aller Belastungspfade und der Wechselwirkungen zwischen den Umweltgütern zu ergreifen sind, damit die Umwelt in ihrer Gesamtheit möglichst wenig belastet wird. 58 Soweit es die heute immissionsschutzrechtlich genehmigungspflichtigen Anlagen betrifft, sollen diese Vorstellungen durch eine sog. gebundene Vorhabengenehmigung im Sinne der §§ 83 ff. UGB-KornE verwirklicht werden. Entsprechend der Bezeichnung als gebundene Genehmigung ist die Genehmigungserteilung formal nach dem Wenn / Dann-Schema aufgebaut: § 84 UGBKornE nennt Voraussetzungen, bei deren Vorliegen die Vorhabengenehmigung erteilt werden muß. Die Normstruktur ist erkennbar an § 6 Abs. 1 BImSchG angelehnt. Voraussetzungen ftir die Erteilung der Genehmigung sind die Sicherstellung der Erftillung der ftir das Vorhaben geltenden Grundpflichten (§ 84 Abs. 1 Nr. 1 UGBKornE), die Erftillung der sonstigen umweltrechtlichen Voraussetzungen (§ 84 Abs. 1 Nr. 2 UGB-KornE), beispielsweise hinsichtlich der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung, sowie der Umstand, daß andere öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht entgegenstehen (§ 84 Abs. 1 Nr. 3 UGB-KomE). Ungeachtet einiger Abweichungen ist dabei der Grundpflichtenkatalog des § 422 Abs. 1 S. 1 UGB-KornE durchaus mit dem des § 5 Abs. 1 BImSchG vergleichbar. Neu ist allerdings die sog. Integrationsklausel des § 83 Abs. 2 UGB-KornE. Nach ihr sind u.a. die Grundpflichten so zu erftillen, daß unter Berücksichtigung aller Belastungspfade und der Wechselwirkungen zwischen den Umweltgütern die Maßnahmen getroffen werden, die die Umwelt in ihrer Gesamtheit möglichst wenig belasten. Präzisiert werden sollen die Kriterien ftir die Anwendung des Integrationsgebots durch Rechtsverordnung. Vereint also das Genehmigungskonzept des UGB-KornE die Geborgenheit integrierten Umweltschutzes und die Dispositionssicherheit der gebundenen Genehmigung? Betrachtet man die Sache von der praktischen Seite, so sind Zweifel erlaubt: Das Wesentliche der gebundenen Genehmigung sind ihre Be58 Entwurf der Unabhängigen Sachverständigenkommission (Anm. 43) S. 614 f. Zum Konzept der integrierten Vorhabengenehmigung nach dem UGB-KomE vgl. Jürgen Fluck, Das Konzept der Vorhabengenehmigung - Eine Stellungnahme zum UGB I aus der Sicht der Industrie, ZAU 1998, S. 23 ff.; ders., Die Vorhabengenehmigung im Kommissionsentwurf eines Umweltgesetzbuches aus Unternehmenssicht - eine erste Kritik, NVwZ 1998, S. 1016 ff.; ders., Die Vorschriften über die Vorhabengenehmigung im Kommissions-Entwurf eines UGB, Jb. des Umwelt- und Technikrechts 1998, S. 93 ff.; Klaus Hansmann, Das Konzept der Vorhabengenehmigung - Eine Stellungnahme zum UGB I aus der Sicht des Vertreters eines Landesumweltministeriums, ZAU 1998, S. 14 ff.; Heinz-Joachim Peters, Die Vorhabengenehmigung nach dem künftigen Umweltgesetzbuch, ZUR 1998, S. 295 ff.; Christian Schrader, Das Konzept der Vorhabengenehmigung - Eine Stellungnahme zum UGB I aus der Sicht des BUND, ZAU 1998, S. 19 ff.; Horst Sendler, Umweltgesetzbuch I mit dem Konzept der Vorhabengenehmigung, ZAU 1998, S. 9 ff.

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rechenbarkeit und gerichtliche Erzwingbarkeit. Ist es für den Antragsteller aber berechenbar, wie eine Minimierung der Umweltbelastungen unter Einbeziehung aller Belastungspfade und Wechselwirkungen ausgeht? Kann es dabei überhaupt ein eindeutiges Ergebnis geben? Kann es einem Gericht rein tatsächlich möglich sein, alle die für eine solche Integrationsbewertung maßgeblichen Faktoren zu ermitteln und zu bewerten? Oder ist nicht vielmehr schon in der Wortwahl der Integrationsklausel mit Begriffen wie "unter Berücksichtigung" oder "möglichst wenig" ein Entscheidungsspielraum der Behörde, möglicherweise im Sinne eines Optimierungs gebots, angelegt? Für die Protagonisten der reinen Lehre des integrierten Umweltschutzes ist das alles kein Thema: Integrativer Umweltschutz heiße ganzheitliche Betrachtung. Sie könne nur in Ansehung des konkreten Vorhabens erfolgen und lasse sich nur beschränkt, nämlich final, gesetzgeberisch programmieren. Die Bewertung und Entscheidung selbst könne nur bei der Behörde "vor Ort" liegen. Allein sie könne die im Einzelfall relevanten Faktoren ermitteln und die im Sinne einer Gesamtbilanz vorzunehmende Optimierung leisten. Ohne entsprechende Bewertungs- und Abwägungsermächtigung der Behörde sei integrierter Umweltschutz konzeptionell nicht denkbar. 59 Hat demgegenüber die Unabhängige Sachverständigenkommission die Quadratur des Kreises geschafft und eine materiell integrierte Vorhabengenehmigung ohne Entscheidungsspielräume der Behörde konzipiert? Die Antwort ist bedauernd, aber eindeutig: Nein, die Bezeichnung der im UGB-KornE vorgesehenen integrierten Genehmigung als gebundene Vorhabengenehrnigung ist schlicht und einfach eine Mogelpackung. Beschritten wurde der Weg, der sich im Immissionsschutzrecht als Sackgasse erwiesen hatte: Die über das fehlende Versagungsermessen nicht mögliche Ressourcenbewirtschaftung wird auf die Tatbestandsseite verlagert. Soweit es um konkrete Sachfragen wie die Einschätzung von Risiken oder die zusätzliche Belastbarkeit eines Gewässers gehe, seien Abwägungs- und Gestaltungsspielräume auf der Tatbestandsseite und Rechtsfolgeermessen weitgehend austauschbar. Vor allem die Integrationsklausel, aber auch andere Tatbestandsvoraussetzungen enthielten Abwägungs-, Gestaltungs- und Bewirtschaftungsspielräume für die Behörde. 60 Allgemeinen Ausdruck hat diese Betrachtungsweise in der für das gesamte geplante Umweltgesetzbuch geltenden Vorschrift des § 43 UGB-KornE gefunden. Sie reduziert die gerichtliche Kontrolldichte für behördliche Prognosen und BewerS9 Uwe Volkmann, Umwe1trechtliches Integrationsprinzip und Vorhabengenehmigung, VerwArch 89 (1998), S. 363 (390). 60 Entwurf der Unabhängigen Sachverständigenkommission (Anm. 43) S. 618, 630. Die Gebundenheit der "gebundenen Vorhabengenehmigung" verneinend auch Krings (Anm. 49) S.81 f.; Horst Sendler, Zur Umsetzung der IVU- und der UVP-Änderungsrichtlinie durch ein Umweltgesetzbuch I, Jb. des Umwelt- und Technikrechts 1998, S. 7 (28 ff.).

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tungen, die technischen oder naturwissenschaftlichen Sachverstand voraussetzen, auf die Einhaltung des für die Prognose und Bewertung vorgeschriebenen Verfahrens sowie die Nachvollziehbarkeit der Prognose oder Bewertung. 61 Wiederum in einem Zwischenresümee zusammengefaßt, würde die integrierte Vorhabengenehmigung, wie sie im UGB-KomE vorgesehen ist, einen klaren Bruch mit dem dem Bundes-Immissionsschutzgesetz zugrunde liegenden Konzept der gebundenen Genehmigung bedeuten. Entscheidungsspielräume der Behörde sind im geltenden Recht weder auf der Tatbestands- noch auf der Rechtsfolgenseite eröffnet. Demgegenüber ist die "gebundene Vorhabengenehmigung" alles andere als gebunden, sondern implantiert eine ganze Palette verschiedener Entscheidungsfreiräume.

IV. Kritische Bewertung Zur Umsetzung von lVU-RL und UVP-Änderungsrichtlinie62 im Mantel des Ersten Buchs eines Umweltgesetzbuchs ist im Bundesumweltministerium eine Projektgruppe eingesetzt worden, die im März 1998 einen "Arbeitsentwurf für ein Umweltgesetzbuch - Erstes Buch" vorgelegt hat. 63 Kernstück dieses sog. UGB I ist die Vorhabengenehmigung, die für die bisher immissionsschutzrechtlich genehmigungspflichtigen Anlagen als gebundene Vorhabengenehmigung erteilt wird (§ V 2 UGB I). Die Genehmigungsvoraussetzungen (§ V 5 Abs. 1 UGB I) entsprechen weitgehend denen des § 84 Abs. I UGB-KornE. Allerdings wird hier mit kleinerer Münze bezahlt: Aus den - wenngleich recht vagen - Andeutungen in der Entwurfsbegründung wird man entnehmen können, daß andere als die nach dem fortgeltenden Fachrecht bestehenden Entscheidungsspielräume nicht eröffnet werden sollen. 64 Nicht gelten soll dies offensichtlich bei der Anwendung der aus dem UGBKornE übernommenen Integrationsklausel. Sie lautet in der Fassung des Projektgruppenentwurfs (§ V 5 Abs. 2 UGB I): Die Grundpflichten "müssen so er-

61 Dazu Rüdiger Breuer, Tendenzwende des Rechtsschutzes? Betrachtungen zu den §§ 43 ff. UGB-KomE, Jb. des Umwelt- und Technikrechts 1998, S. 161 ff. 62 Richtlinie 97 / 11 / EG des Rates vom 3. März 1997 zur Änderung der Richtlinie 85 /337 / EWG über die Umwe\tverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABI. EG L 73 / 5. Dazu Bernd Becker, Überblick über die umfassende Änderung der Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung, NVwZ 1997, S. 1167 ff. 63 Projektgruppe UGB, Z 11 4-41022. 64 VgI. die Einführung in die Arbeitsentwürfe für ein UGB I und ein Einführungsgesetz zum UGB, Projektgruppe UGB (Anm. 62), Anlage 3 S. 8 ff.

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füllt sein, daß nach Einschätzung der Genehmigungsbehärde unter Berücksichtigung 1. nachteiliger von Wechselwirkungen zwischen den Schutzgütern,

2. der Gefahr einer Verlagerung Umweltauswirkungen von einem Schutzgut auf ein anderes, 3. der Beschaffenheit des Vorhabens, seines Standorts und der örtlichen Umweltbedingungen Mensch und Umwelt in ihrer Gesamtheit geschützt werden." Den Passus "nach Einschätzung der Genehmigungsbehörde" wird man wohl so deuten müssen, daß insoweit ein Beurteilungsspielraum der Behörde besteht, der gerichtlich gar nicht oder nur beschränkt kontrollierbar ist. Was die Behörde wie einschätzt, entzieht sich damit der Berechenbarkeit durch den Antragsteller. Na und, mag mancher sagen, die gute Sache eines ganzheitlichen Umweltschutzes fordere eben kleine Opfer: "Umfassende Bewertung und Berücksichtigung aller Umweltauswirkungen, Alternativenvergleich, Interessenausgleich, ... eine mögliche Ressourcenbewirtschaftung gar gehen ins Leere, wenn über ihnen doch das Damoklesschwert eines gerichtlich durchsetzbaren Anspruchs des Antragstellers schwebt. Warum man es dort aufgehängt hat, ist auch nicht recht erkennbar.,,65 Um im Bild zu bleiben: Es gibt gute Gründe, warum das Damoklesschwert der gebundenen Genehmigung dort hängt wo es hängt. Der erste ist verfassungsrechtlicher Natur: Der Bürger hat einen grundrechtlich geschützten Anspruch auf Erteilung einer Anlagengenehrnigung, wenn die im Interesse der Allgemeinheit und Dritter aufgestellten Genehmigungsvoraussetzungen erfüllt sind. Ausgestaltet sein müssen diese Voraussetzungen so, daß der Betroffene sein Verhalten, seine Dispositionen auf die Erfüllung der Anforderungen hin ausrichten kann (0.1.). Diesen Vorgaben genügt das Angebot eines "Abwägungseintopfs", wie ihn Breuer bezeichnet hat66 , nicht. Auch der Zweck des Genehmigungserfordernisses, die Gewährleistung eines bestmöglichen Umweltschutzes, zwingt nicht zur Eröffnung von Entscheidungsspielräumen der Verwaltung. Es gibt mittlerweile zahlreiche Stimmen, die im Gegenteil einem präzisen Konditionalprogramm ohne Aufweichungsmöglichkeit die Erreichung

Volkmann (Anm. 59) S. 65. Rüdiger Breuer, Empfiehlt es sich, ein Umweltgesetzbuch zu schaffen, gegebenenfalls mit welchen Regelungsbereichen?, Verhandlungen des 59. Deutschen luristentages, Bd. I, Teil B, 1992, S. 47. 6S

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jenes Ziels weitaus eher zutrauen. 67 Eine diesbezügliche Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers wird nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kaum angenommen werden können. Das Damoklesschwert ist also außerordentlich scharf. Der zweite Grund, die gebundene Genehmigung im strikten Sinne beizubehalten, ist ein standortpolitischer. 68 Der Zusammenhang von privater Planungsentscheidung und rechtlicher Berechenbarkeit ist sensibel. Unsicherheiten werden im Entscheidungsverhalten mit seismographischer Präzision registriert. Nicht nur die Verwaltung, auch die Wirtschaft, arbeitet effizienzorientiert. Häufig geht das gut zusammen: Eine effizient und präzise arbeitende Verwaltung' die ein Genehmigungsverfahren zügig durchführt, dient gleichzeitig einer effizienten und beweglichen Unternehmenspolitik. Allerdings mündet dieser Gleichklang nicht in allgemeine Harmonie. Die langwierige Vorbereitung komplexer Investitionsentscheidungen, die schließlich an einer nicht sicher prognostizierbaren Bewertung durch die Verwaltung scheitert, können sich Unternehmen auf die Dauer nicht leisten. Sicherlich läßt sich das Überraschungsmoment im Vor-Antragsverfahren, durch Beratung, Antragskonferenzen etc. minimieren. Doch darf nicht übersehen werden, daß der integrative Ansatz einer ganzheitlichen Betrachtung der Umweltauswirkungen es eben gerade ausschließt, daß sich die Behörde schon vorab zu weit in der Bewertung festlegt. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß auch aus behördlicher Sicht die Durchführung des Genehmigungsverfahrens nicht eben erleichtert wird. 69 Keineswegs kann sich die Verwaltung auf die Rolle eines bloßen Moderators beim Ausgleich verschiedener Interessen zurückziehen. 70 Es bleibt vielmehr originäre Aufgabe der Verwaltung, verbindliche Entscheidungen durch Konkretisierung gesetzlicher Vorgaben im Einzelfall herzustellen. In einem sicher etwas zugespitzten Resümee muß vor der verbreiteten Tendenz gewarnt werden, in der Eimäumung von Handlungsspielräumen der Verwaltung, jedenfalls soweit sie sich als Entscheidungsspielräume gegenüber dem Bürger darstellen, ein Allheilmittel zur Effizienzsteigerung zu sehen. Es liegt 67 Vgl. dazu Udo Di Fahio, Wege zur Materialisierung des europäischen Umweltrechts, in: Rengeling (Hrsg.), Integrierter und betrieblicher Umweltschutz, 1996, S. 183 (190); Johannes Masing, Kritik des integrierten Umweltschutzes, DVBI. 1998, S. 549 (552, 558). 68 Vgl. zum Problemkontext auch Rohert Dehner, Deutschland - Standortfaktor Rechtsstaat, GewArch 1997, S. 226 ff.; Christo! Münch, Rechtssicherheit als Standortfaktor, NJW 1996, S. 3320 ff. 69 Hansmann (Anm. 58) S. 16. 70 In diese Richtung aber Dirk Weinreich, Integration versus Flexibilisierung der umweltrechtlichen Zulassungsverfahren: Menü oder a la carte?, NVwZ 1997, S. 949 (956).

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im Wesen von Spielräumen, daß sie verschieden ausgefüllt werden können. Entscheidungsspielraum und Entscheidungssicherheit gehen nur schwer zusammen. Der Erhöhung der Beweglichkeit auf Seiten der Behörde entspricht eine verminderte Beweglichkeit, ein Zwang zur Vorsicht auf Seiten des Privaten. Ob dies gewollt wird, ist eine Grundfrage des Rechtsstaats.

Diskussion zu den Vorträgen von Michael Gerhardt und Jan Ziekow

Hagen: Herr Gerhardt, Sie haben auf den Widerspruch hingewiesen, eine UVP sei durchzuführen, aber wie soll man das Ergebnis berücksichtigen? Ich glaube, daß ein Bedürfnis besteht, mehr Dinge hineinzubringen in dieses immissionsschutzrechtliche konzentrierte Verfahren. Es ist ein Unding, daß wir die UVP durchführen, eine halbe Million dafür ausgeben und sie aber nur formell abhaken können. Wir können sie nicht berücksichtigen. Ich sehe in der integrierten Vorhabengengehrnigung eine Chance, daß man das, was die UVP bis jetzt geliefert hat, nämlich die Grundlagen für die umweltmäßige Bewertung - und die UVP ist genauso ausgerichtet auf Wechselwirkungen, auf Verlagerungswirkungen, auf Summenwirkungen -, endlich materiell auch wirklich einmal einbringen und bewerten kann. Gerhardt: Ich möchte, Herr Ziekow, zu Ihren verfassungsrechtlichen Prämissen eine Bemerkung machen. Sie haben es ja aufgehängt an der Sammlungsentscheidung und der Kalkar-Entscheidung, die m.E. einem dogmatischen Denken verhaftet sind, das heute nicht mehr Bestand haben kann. Ich glaube nicht, daß diese Hilfsbrücke - Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, Verbot mit Befreiungsvorbehalt - wirklich noch eine zielführende Differenzierung darstellt. Wir müssen in die Sachmaterien einsteigen. Wir müssen z.B. bei den Pflichten nach § 5 BImSchG unterscheiden zwischen der Schutzpflicht und dem Vorsorgegebot. Beim Vorsorgegebot geht es ohne Beurteilungsspielraum denknotwendig nicht. Das kann nur in Form einer Verwaltungsvorschrift oder einer Verordnung konkretisiert werden. Standortübergreifende Umweltvorsorge oder Luftreinhaltungsvorsorge kann nicht ohne einen Ermessensspielraum der Behörde betrieben werden. Ich komme zu dem nächsten Punkt. Es gibt eine ganze Reihe von Vorhaben, die einmal immissionsschutzrechtlich und dann wieder planfeststellungsrechtlich zu würdigen sind. Herr Ziekow, gibt es denn verfassungsrechtliche Vorgaben an den Gesetzgeber unter welchen Voraussetzungen er eine Anlage dem Planfeststellungsrecht unterwirft, mit anderen Worten ein Ermessen eröffuet und wann er eine gebundene Entscheidung vorzuhalten verlangt? Ich glaube,

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daß diese rein formellen Ansätze auf Dauer vor dem europäischen Ansatz keinerlei Bestand haben werden, und letztlich eine Scheinrechtssicherheit herstellen. In Wirklichkeit geht es doch bei abwägenden Entscheidungen um solche, die in ein Verfahren eingebettet sind. Wir haben die UVP mit dem Scoping, wir haben eine Verpflichtung der Behörde, mit dem Unternehmer zusammen zu arbeiten, und ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß das, was in allen anderen Industrienationen funktioniert, nämlich, daß man ohne gebundene Entscheidungen zu einer Standortsicherheit kommt, ausgerechnet in Deutschland von der Frage "gebundene" oder "nichtgebundene" Entscheidung abhängen soll. Ziekow: Der Standort Deutschland wird wahrscheinlich nicht untergehen, wenn wir eine integrierte Vorhabengenehmigung bekommen. Die Frage ist bloß, ob man die Entscheidung zwischen der gebundenen Genehmigung und dem Weg - wie es Walter Leisner formuliert hat - zum "Abwägungsstaat" als Standortfaktor ansieht oder rur vollkommen unbedeutend hält. Jedenfalls sind gründlichere Vorarbeiten vorzunehmen als bei der Beschleunigungsgesetzgebung erfolgt ist, wo zur Frage der Standortsicherheit kaum etwas ermittelt worden ist. Wenn so ein deutlich negatives standortpsychologisches Signal gesetzt wird, sollte man sehr genau ausloten, ob der vermeintliche Zugewinn an Abwägungserweiterungen diese negativen Faktoren auszugleichen vermag. Zum Thema Scheinrechtssicherheit: Sicherlich sind immissionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren zu komplex, um oben einen Antrag hineinzuwerfen und unten eine Genehmigung herauszuholen. Gleichwohl bietet dieses zumindest dem Modell nach strikter kontrollierbare Schema einer gebundenen Genehmigung mehr Sicherheit, insbesondere mehr Erzwingbarkeit, rur den Investor als eine von vornherein nicht kontrollierbare Entscheidung. Man kann das Problem genausogut von der Seite des Umweltschutzes betrachten Die lVU-Richtlinie läßt genügend Spielräume offen, um ganz andere Frage zu implementieren, beispielsweise auch standortpolitische, arbeitsplatzpolitische u.ä. Es würde ein weitaus breiterer Spielraum von implementationsflihigen Parametern hineinkommen in die integrierte Vorhabengenehrnigung als wir sie jetzt nach dem Immissionsschutzrecht haben, wo solche Fragen grundsätzlich draußen bleiben müssen und Vorfragen des gesamten Verfahrens sind. Zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben: Für die Frage, wann ist der Wechsel zum Planungsverfahren zulässig, gibt es in der Tat keine Vorgaben. Insoweit wird man wohl auf die Sachgesetzlichkeit der jeweiligen Fachmaterie abstellen müssen. Allerdings ist diese Sachgesetzlichkeit keine, die der Gesetzgeber nach Belieben intepretieren kann, sondern der Wechsel zum Planungsverfahren ist immer dann vorgesehen, wenn nach der entsprechenden fachgesetzlichen Schutz- oder Zielvorgabe eine Vielzahl verschiedener Interessen integriert werden muß. Für die gebundene Genehmigung im Immissionsschutzrecht zei-

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gen die bisherigen Erfahrungen, daß hier die Sachgesetzlichkeit nicht dazu zwingt, ein planerisches Genehmigungsverfahren zu veranlassen. Peter: Ich hätte eine Frage an Herrn Dr. Gerhardt: Investoren werden weniger an akademischen Auseinandersetzungen, sondern mehr an Ergebnissen interessiert sein. Deshalb die Frage, inwieweit es möglich wäre, auch in das materielle Recht Merkmale aufzunehmen, die wir im Verfahrensrecht teilweise haben, nämlich die Fristgebundenheit von Entscheidungen. Das ist etwas, was für uns in Baden-Württemberg im Interesse der Beschleunigung von Verfahren an Bedeutung gewinnt. Dies ist aber natürlich so zu gestalten, daß es verfassungsrechtlich und auch nach Maßgabe der Verwaltungsrechtsprechung zulässig ist und auf der anderen Seite natürlich Investoren Entscheidungsicherheit gibt. Mich würde daher interessieren, ob Sie die Möglichkeit sehen, im Bereich der Tatsachenermittlung und der Subsumtion der Behörde durch einen zeitlichen Rahmen das Recht einzuräumen, komplizierte Entscheidungsvorgänge zügig abzuschließen. Und da stellt sich natürlich die Frage, wie das gesetzestechnisch zu fomulieren ist und wie der Einklang der Regelung mit unserer Verfassungsordnung gemacht wird. Deshalb stelle ich die Frage, wie Sie die Problematik als Praktiker in der Verwaltungsgerichtsbarkeit sehen. Gerhardt: Zunächst einmal darf ich vorausschicken, daß nach meinem Wissen Klagen auf Erteilung immissionsschutzrechtlicher Genehmigungen über den Kleinkram hinaus so gut wie unbekannt sind. Mir sind in den letzten Jahren überhaupt keine Verfahren, jedenfalls keine obergerichtlichen und höchstrichterlichen Verfahren bekannt geworden, wo sich der Investor nicht mit der Behörde geeinigt hätte. Das ist noch eine Ergänzung zu dem, was Herr Ziekow gesagt hat. Zu dem zweiten Punkt: Die sogenannte Umweltbehörde vor Ort halte ich für eine akademische Fiktion. Sobald es um eine Investition einer gewissen Größenordnung geht, haben Sie immer die Politik dabei, und es gibt Weisungsgebundenheiten, mit anderen Worten: Die Verwaltung steht uns insoweit als eine Einheit gegenüber. Es gibt natürlich verschiedene Varianten: Es gibt die Präklusionsvorschriften, die sind bekannt, die wirken massiv; wir haben, was das gerichtliche Verfahren anbelangt, in den Beschleunigungsgesetzen die Kanalisierung der gerichtlichen Prüfung durch die in der fristgebundenen Klageerhebung zu benennenden Umstände. Der 4. Senat des BVerwG prüft in den Fällen des VKPlBG nur, was gerügt worden ist. Also fmdet flächendeckende weitere Ermittlung seitens des Gerichts gar nicht mehr statt. Es gibt dann die Variante des sogenannten Fristenhammers. Die Genehmigung gilt als erteilt, wenn sie nicht innerhalb der Frist verweigert wird. Allerdings ist es inopportun, so etwas einzuführen, weil Sie die notwendige Befriedung, die mit einem Verwaltungsverfahren Hand in Hand geht, nicht erreichen. Sie haben das Problem der Verlagerung insbesondere ins Zivilrecht.

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Was das Verfassungsrecht anlangt, meine ich, daß wir in der Tat in dem Moment, wenn eine adäquate Sachverhalts ermittlung nicht mehr gewährleistet ist, in verfassungsrechtliche Schwierigkeiten kommen. Das materielle Grundrecht der Nachbarn muß eine faire Durchsetzungschance haben. Wir haben eine Diskussion in der Vergangenheit gehabt, ob Präklusionsvorschriften überhaupt zulässig sind. Darüber sind wir inzwischen hinweg. Aber so unproblematisch sind sie nach wie vor nicht. Wenn nicht einmal die Möglichkeit besteht, sich wirksam durchzusetzen, glaube ich, stößt man hier auf verfassungsrechtliche Schranken. Was die sonstigen öffentlichen Interessen anlangt, so gibt es die Behördenpräklusion weitestgehend. Hier wird sich, was die Gerichtsfestigkeit betrifft, die Frage stellen: Wie ist es mit Art. 14 Abs. 3 GG bei denjenigen Vorhaben, für die Grund und Boden in Anspruch genommen werden muß? Ich meine, daß hier äußerste Vorsicht am Platz ist. Man kommt nur dann hin, wenn man in Abkehr von der bisherigen Doktrin sagt, daß der betroffene Eigentümer sich nicht auf die Verletzung von öffentlichen Belangen berufen kann, die nicht auch gleichzeitig seinem eigenen Schutz dienen. Hier sind m.E. gewisse verfassungsrechtliche Spielräume drin; das ist das Weiterdenken der Schutznormtheorie hinein in den Rechtswidrigkeitszusammenhang, und hier hat insbesondere die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Beförderungsverboten von Fluggesellschaften eine Schneise geschlagen. Es könnte durchaus sein, daß wir weg von dieser Grundphilosophie kommen, der Eigentümer könne jede Verletzung öffentlicher Belange, einen Verstoß gegen das Abwägungsgebot durch Verkennung öffentlicher Belange, rügen. Wenn wir davon herunterkommen, dann hätten wir ernsthaft eine Chance, daß öffentliche Belange in einer strikten Form präkludiert werden können. Wimmer: Die Polarität des Themas ist in vielem unauflösbar, und darum ist es ja auch ein Thema, das Rechtswissenschaft und Praxis schon sehr lange beschäftigt. Und das bleibt wohl auch so. Ich will es einmal auf andere Rechtsgebiete verlagern, um die Dimension ein bißchen auszuweiten. Es gibt ja große Handlungsspielräume der Bundesexekutive, der Länderexekutive, der kommunalen Exekutive, die unbestreitbar sind. Immer da, wo Grundrechte nicht im Spiel sind, wo nicht Haushaltsrechte des Parlaments in Frage stehen, gibt es Gestaltungs- und Handlungsspielräume der Verwaltung, die man zunächst einmal nennen muß. Sonst entsteht hier der Eindruck, wir sprächen nur von gesetzesgebundener Verwaltung und Grundrechten, also von den Kernkonfliktfeldern. Solche großen Handlungspielräume muß es geben, weil Gestaltung bei Verwaltung nicht nur gesetzesausführende Verwaltung ist, sondern sie ist in erheblichem Umfang zukunfts- und daseinsgestaltende Verwaltung. Die Frage, ob der Gesetzgeber im Bereich der Grundrechte der Art. 12 und 14 GG der Exekutive Handlungsfreiräume eröffnen darf und - wenn ja welche, ist nach meiner Einschätzung, hochrestriktiv zu betrachten. Immer dann, wenn Grundrechte im Spiel sind, muß der Gesetzgeber die Prüfungs- und

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Abwägungskriterien und die Gewichtungskriterien, nach denen die Exekutive vorgeht, selbst vorgeben und zwar so präzise, wie eben möglich. Das gelingt zunehmend in einer großen Zahl von Rechtsgebieten. Nehmen Sie z.B. das Prüfungsrecht und die Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht die langjährige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, es gebe impermeable und rechtlich nicht weiter überprütbare Prüfungs- und Gewichtungsspielräume, beendet hat. Die gibt es bis auf kleine Restbestände nicht und der zuständige Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgenommen. Erstaunlich ist, zur Kenntnis zu nehmen, was denn nun alles judikabel ist. Und das ist im Ergebnis meiner Ansicht nach richtig. In anderen Bereichen sind wir noch nicht so weit. In § 7 des Außenwirtschaftsgesetzes wird z. B. das Grundrecht, Außenhandel zu treiben, das ja in Art. 12 Abs. 1 des GG wurzelt, dann als einschränkbar bezeichnet, wenn die Ausfuhr der Ware den außenwirtschaftlichen Belangen der Bundesrepublik erheblich schadet. Ich halte es fiir hochzweifelhaft, ob man einen Zirkelschluß des Inhalts machen kann, daß die Exekutive definiert, wann die Ausfuhr der Ware den Belangen der Bundesrepublik Deutschland schadet, und die Judikative betrachtet das als einen impermeablen, rechtlich nicht überprütbaren Spielraum mit der Folge, daß das Grundrecht auf freie Berufsausübung des Art. 12 Abs. 1 an diesem Punkte leerläuft. Solche Vorschriften gibt es noch mehrere in unserem Rechtssystem. Im Ergebnis muß Ziel weiterer legislatorischer Bemühungen aber auch der Rechtsprechung der Obergerichte sein, den Grundrechten in möglichst hohem Maße zum Durchbruch zu verhelfen. Überall, wo Grundrechte im Spiel sind, muß der Gesetzgeber ein Programm vorgeben, das die Tätigkeit der Exekutive und insbesondere auch die Genehmigungs- oder restriktive Tätigkeit der Exekutive in vollem Umfange auf den verwaltungs- und verfassungs gerichtlichen Püfstand stellt. Bull: Die vermeintlich so strenge grundrechtliche Argumentation läßt in Wahrheit auch erhebliche Räume der Auslegung oder Gestaltung offen. Denken wir doch nur an die Rechtsfigur des "kollidierenden Verfassungsrechts", wonach selbst schrankenlose Grundrechte unter den Vorbehalt anderer Entscheidung und der Nichtberücksichtigung des Freiheitsraumes gestellt sind. Das Verfassungsgericht hat dabei zum Teil sehr abstrakte Formeln wie "Verteidigung der Rechtsordnung", "Gewährleistung der Strafrechtspflege" oder die "Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik" benutzt. Wenn man das näher anschaut, dann wandert doch die rein rechtliche Argumentation, also die Anwendung von Gesetzen, in einen Bereich, den wir den sonst auf der Abwägungsseite festmachen. Wir sollten ferner auch das dynamische Element der Technikentwicklung bedenken, das ebenfalls Auswirkungen auf die rechtliche Beurteilung hat. Die Genehmigung eines großen umweltbelastenden Vorhabens allein zu betrachten nach Würdigung der aktuellen Voraussetzungen, ist ja nicht ganz ohne Risiko.

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Je mehr ich diese Genehmigung allein auf die Beurteilung der gegenwärtigen Lage, also der gegenwärtigen Erkenntnisse über die Umweltbelastung, die verschiedenen Risiken und möglichen Folgen stütze, desto eher komme ich in die Situation, die Sache nach kurzer Zeit wieder aufrollen zu müssen, evtl. eine Rücknahme oder einen Widerruf einer solchen Genehmigung zu erwägen, und ich sage bewußt: Rücknahme oder Widerruf. Wenn man sich vorstellt, daß schon im Zeitpunkt der Erteilung der Genehmigung Überlegungen über die künftige Entwicklung angestellt werden müßten, dann könnte man ja zu dem Ergebnis kommen, daß die ohne solche Überlegung erteilte Genehmigung später als rechtswidrig anzusehen wäre. Aber das sind schon wieder "Glasperlenspielräume" , abstrakte rechtstheoretische Überlegungen, die doch vielleicht ein bißchen zu abgehoben sind. Unter diesem Aspekt neige ich auch dazu, wie Herr Gerhardt, eine stärkere Offenheit der Prozesse und eine geringere Bindung an strikte rechtliche Vorhaben anzunehmen, als Sie das uns skizziert haben, Herr Ziekow. Hagen: Im UGB-Entwurf ist nicht nur eine integrierte Vorhabengenehmigung vorgesehen, sondern es ist in § 84 Abs. 3 eine Ermessensentscheidung, in der der Behörde erlaubt wird, von Grenzwerten abzuweichen zugunsten des Antragstellers, wenn die Gesamtbewertung ergibt, daß daraus Vorteile für die Umwelt in ihrer Gesamtheit erwachsen, die die Nachteile nach Einschätzung der Behörde eindeutig und erheblich überwiegen. Es wird damit eine Kompensation von Grenzwerten ermöglicht, wogegen bis jetzt noch kein Einspruch erhoben wurde. Mit dieser Ermessensentscheidung kann wohl die Industrie ganz gut leben. Eine Aufweichung der gebundenen Entscheidung zugunsten der Industrie wird nicht als Problem gesehen. Was mich jetzt allerdings etwas stört, ist diese systematische Verbrämung. Alles schreit eigentlich nach Abwägung. Wir haben jetzt so viele Dinge, die in die irnmissionsschutzrechtliche Entscheidung einbezogen werden müssen, vor allem wenn es eine volle Konzentration wird, die auch das Wasserrecht urnfaßt. Im Wasserrecht hat man ja eine Ermessensentscheidung aufgrund des Schutzes des Grundwassers. Dann wird also diese Ermessensentscheidung auch noch in eine gebundene Entscheidung transferiert. Das ist schon sehr problematisch. Und dann hat man nur, um sozusagen den Frieden zu wahren, an den Schluß eine gebundene Entscheidung gesetzt. Wäre es nicht insgesamt richtiger, eine Planfeststellung zu machen? Halten Sie das wirklich für so gefährlich oder ist das eine historische Entwicklung? Die ursprünglichen Gewerbegenehmigungen und dann die irnmissionsschutzrechtlichen Genehmigungen hatten früher einfach ein ganz anderes Ausmaß. Ziekow: Mir ging es darum, klar zu machen, daß der Wechsel zur integrierten Vorhabengenehmigung ein vollkommener Systembruch ist. Wenn man einen solchen Systembruch vollzieht, muß man sich erst überlegen: Darf ich ihn vollzie-

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hen? Wenn man ihn nicht vollziehen darf, braucht man keine weiteren Überlegungen anzustellen. Zumindest ist festzustellen, welche Vorgaben bestehen, um einen solchen Systembruch umzusetzen. Schließlich muß man überlegen, will ich den Systembruch und was ist sinnvoll, um verschiedene Ziele, beispielsweise Investitionssicherheit, zu verwirklichen. Diese Überlegungen sind bisher nicht angestellt worden. Unter dem Zeitdruck, die IVU-Richtlinie und die UVP-Änderungsrichtlinie umzusetzen, wird ein Torso projektiert, ein vollkommener Systembruch ohne jede Reflexion systematischer Änderung vollzogen. Das würde ich dann also doch für sehr bedenklich halten. Daß ich, Herr Bull, anderer Meinung hinsichtlich der Aufweichung von Bindungen an strikte Vorgaben bin, habe ich deutlich gemacht. Die Justitiabilität des Verwaltungsverfahrens hat man ja nun schon ad acta gelegt. Wenn Sie die Kontrollierbarkeit jetzt noch auf der materiellrechtlichen Ebene zurückdrehen, dann haben Sie zum Schluß einen wirklich unkontrollierbaren Prozeß. Sie haben keine Kontrollierbarkeit der materiellrechtlichen Standards, und es ist ein bißehen wenig, was zum Schluß von der gerichtlichen Kontrolle übriggeblieben ist. Beides geht nicht, Verfahren abwerten, materiellrechtlich abwerten. Noch ein letztes zur Grundrechtsanwendung: Ich widerspreche vehement dem Gedanken, dem Eigentümer einfach die Möglichkeit zu nehmen, die Verletzung öffentlicher Belange zu rügen. Es ist nun einmal strukturell in der deutschen Grundrechtsdogmatik verankert, daß eine Grundrechtsbeeinträchtigung nur dann hingenommen werden muß, wenn die Beeinträchtigung in jeder Hinsicht mit materiellem Recht in Einklang steht. Man müßte einen Quantensprung vollziehen, der noch viel weiter über das integnerte Schutzkonzept hinausgeht. Das fände ich doch sehr gefährlich. Hagen: Ich verstehe Ihre juristischen Bedenken. Ich mache im Moment diese Scoping-Termine, Erörterungstermine, Bürgerbesprechungen mit 200 Leuten. Es kommen alle möglichen Dinge, die wir in die irnmissionsschutzrechtliche Genehmigung hineinbringen müssen und die im Grunde genommen wie in einer Planfeststellung in irgendeiner Weise unter den Hut gebracht werden müssen. Das machen wir alles über Auflagen oder über Veränderungen. Schon im Vorfeld, schon im Scoping-Termin, wird überlegt, ob man das so oder anders gestalten könnte. Der Genehmigungszwang befriedet am Schluß. In der Bürgerversammlung sage ich dann: Wenn der Antragsteller die Grenzwerte einhält, dann muß ich genehmigen, ich kann nicht anders. Er muß es mir aber auch nachweisen, mit der Überprüfung nach der Störfallverordnung und so weiter. Wenn er die Anforderungen nicht erfüllt, bekommt er keine Genehmigung. Da stehe ich auf festem Terrain. Das macht die Entscheidung leichter durchsetzbar und befriedet mehr. Die Industrie hat dann keine Angst, wenn sie diese formale Position behält, und die Bürger verstehen es eher. Ich kann mit dieser Mogelpackung gut leben.

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Diskussion Gerhardt:

Die Sache mit dem Prüfungsrecht ist in der Tat sehr interessant. Der Ausgangspunkt war doch der, daß das Bundesverwaltungsgericht gesagt hat, es fmdet nur eine Willkürprüfung statt, d. h., Prüfungsergebnisse werden nur auf Willkür, d.h. aufs Ergebnis hin überprüft. Das nennen Sie, Herr Wimmer, Impermeabilität! Handlungsspielräume, so wie ich Sie verstehe, haben mit Impermeabilität nichts zu tun. Es geht darum, daß jetzt nicht das Ergebnis überprüft wird, sondern es werden die Einsatzgrößen und die rechtlichen Vorgaben überprüft, ähnlich wie Sie das alles kennen von der Planfeststellung her, von der Fachplanung. Sie haben einen Abwägungsvorgang, der überprüft wird. Und diese Prüfung kann so genau sein, daß sie geradezu strangulierend wirkt. Deshalb müssen dort Evidenzkriterien eingebaut werden. Mit anderen Worten: Ich kann nicht argumentieren, um eines besseren Grundrechtsschutzes willen brauche ich unbedingt das Wenn-Dann-Schema der Subsumtionsmodelle, sondern im Gegenteil erlaubt ein genaues Hinschauen, welche Erwägungen die Behörde hätte anstellen müssen und welche sie angestellt hat, wie sie sie hätte bewerten müssen und wie sie sie bewertet hat, eine geradezu skrutinöse Prüfung durch das Gericht. Im Endeffekt ist damit nicht nur eine ehrlichere Prüfung angezeigt, sondern möglicherweise auch eine genauere. Das ist sogar gerade das Argument gegen diese Abwägungskontrolle, daß sie zu genau sein kann. Mit anderen Worten: Der Handlungsspielraum der Behörde, der sich eröffnet, birgt Gefahren. Zugleich muß ich natürlich Herrn Ziekow Recht geben: Wir müssen zurückkommen zu einer Verfahrenskontrolle, und was jetzt mit diesem Fehlerfolgemecht passiert ist, erstens durch die Beschleunigungsgesetze und zweitens in der Handhabung des Bundesverwaltungsgerichts, die gewissermaßen die Beweislast umdrehen zu Lasten des Bürgers, das ist ein absolutes Unding.

Mehr Handlungsfreiheit durch Rücknahme der verwaltungs gerichtlichen Kontrolldichte? Von Max-Emanuel Geis

I. Dogmatische Verortung von Handlungsspielräumen im allgemeinen Verwaltungsrecht Nähert man sich dem Thema dieses Vortrags, so hat man zunächst zu suchen, wo die Dogmatik des Verwaltungsrechts Handlungsspielräume einräumt. Dabei ist zunächst zwischen dem gesetzesakzessorischen und dem nichtgesetzesakzessorischen Bereich zu unterscheiden I. Letzterer - vornehmlich dem Bereich der leistenden Verwaltung zuzurechnen - ist eine klassische Domäne des Handlungsspielraums, da eben keine spezialgesetzlichen Vorschriften bestehen und das Handeln daher regelmäßig nur durch die zur Verfiigung stehenden Ressourcen, durch ermessensbindende Richtlinien und gegebenenfalls durch den Gleichheitssatz limitiert ist. Dogmatisch interessanter bleibt gleichwohl der Bereich der gesetzesausfiihrenden Verwaltung. Die hier angesiedelten - Spielräume gewährenden Rechtsfiguren sind bekannt: Es sind - auf der Rechtsfolgenseite - der Bereich des "klassischen", d.h. einzelfallbezogenen Ermessens, und der des anders strukturierten Planungs- bzw. Abwägungsermessens. Auf der Tatbestandsseite wird die Trias komplettiert durch den in der Theorie immer wieder problematisierten2 , gleichwohl in der Praxis selbstverständlich gewordenen Einschätzungs- bzw. Beurteilungsspielraum als Ausnahme von der vollständigen gerichtlichen Überprütbarkeit unbestimmter Rechtsbegriffe. Hier hatte sich in vielen Jahren in Rechtsprechung und Literatur eine gefestigte Dogmatik entwickelt, die einerseits bestimmte Ermessens- oder Abwägungsfehler herausge-

I Zur Tenninologie M.-E. Geis, Die öffentliche Förderung sozialer Selbsthilfe, 1997, S. 125, m. weit. Nachw. 2 Vgl. statt vieler die Beiträge in V Götz / Fr. Klein / ehr. Starck (Hrsg.), Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgeber und richterlicher Kontrolle. Göttinger Symposion, 1985; weit. Nw. bei M.-E. Geis, Die Anerkennung des "besonderen pädagogischen Interesses" nach Art. 7 Abs. 5 GG, DÖV 1993,22 (23, Fn. 6 ff.).

7 Speyer 132

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arbeitet hatte - ich nenne nur das Flachglasurteil des BVerwG 3 -, andererseits bestimmte Fallgruppen case-Iaw-artig der exekutiv ischen Domäne des Beurteilungsspielraums zugewiesen hatte -, nämlich: dienstliche Beurteilungen, höchstpersönlich-situationsbedingte Entscheidungen wie staatliche Prüfungen, fachwissenschaftliche und / oder unabhängigen Gremien zugewiesene Entscheidungen sowie Entscheidungen politisch-prognostischen Charakters 4 . Die Auslegung aller sonstigen unbestimmten Rechtsbegriffe unterwarf man dagegen der vollinhaltlichen gerichtlichen Kontrolle. Dieses Zusammenspiel von Grundsatz und bestimmten, festumrissenen Ausnahmen empfand man - nachdem man seit den 50er Jahren heftig darum gestritten hatte S - bis zum Anfang der 90er Jahre als weitgehend ausgewogenes, das "gewaltenteilige Reibungsverhältnis" von Exekutive und Judikative vernünftig auslotendes und mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG in Einklang stehendes System6 .

11. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Beurteilungsspielraum - Paradigmenwechsel zu höherer Kontrolldichte 1. Die schrittweise Einschränkung von Beurteilungsspielräumen

durch das BVerfG

Einen massiven Einbruch in dieses Gleichgewicht bedeutete die vielbeachtete Serie verfassungsgerichtlicher Entscheidungen zu Anfang der 90er Jahre. Erinnern wir uns: In drei Stufen wurde das bis dahin unangefochtene Institut des Beurteilungsspielraums arg zerzaust und fast bis zur Unkenntlichkeit diminuiert. Diese Stufen waren:

3

BVerwGE 45,309 (314 ff.).

4 Übersicht bei Geis (0. Fn. 2), 23. 5 O. Bachof, Beurteilungsspielraum, Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff im Verwaltungsrecht, JZ 1955, S. 97; C. H. Ule, Zur Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im Verwaltungsrecht, in: Gs. für Walter Jellinek, 1955, S. 309; P. Badura, Gestal-

tungsfreiheit und Beurteilungsspielraum der Verwaltung, bestehend aufgrund und nach Maßgabe des Gesetzes, in: Fs. für Bachof, 1984, S. 160; P. Tettinger, Überlegungen zu einem administrativen "Prognosespielraum", DVBI. 1985, S. 421; H. Sendler, Skeptisches zum unbestimmten Rechtsbegriff, in: Fs. für Ule, 1987, S. 337 ff.; M. Herdegen, Beurteilungsspielraum und Ermessen im strukturellen Vergleich, JZ 1991, S. 747. 6 Vgl. statt vieler die Beiträge von G. Pültner und F. 0. Kopp, Handlungsspielräume der Verwaltung und Kontrolldichte gerichtlichen Rechtsschutzes, in: Götz / Klein / Starck, Göttinger Symposion (Fn. 2), S. 131 ff.; 146 ff.

Rücknahme der verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte

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a) Die "Mutzenbacher-Entscheidung" Den Auftakt machte die "Mutzenbacher-Entscheidung" des Bundesverfassungsgerichts vom 27.11.1990, in der der 1. Senat die Frage, ob im Sinne von § 6 GjS ein Werk der Kunst diene, im Ergebnis der vollen richterlichen Kontrolle unterwarf7. Markant an dieser Entscheidung ist, daß damit die - bis dato unbestrittene - Letztentscheidungskompetenz der pluralistisch zusammengesetzten Bundesprüfstelle zwar nicht ausdrücklich negiert, aber doch weitgehend abgeschafft wurde s. Damit fiel die Fallgruppe "Beurteilung durch pluralistisch zusammengesetzte Entscheidungsgremien" praktisch weg.

b) Prüfungsrecht Der zweite Schritt war das Bündel von Entscheidungen zur Überprüfbarkeit von juristischen bzw. medizinischen Staatsprüfungen9 • Hier galt der Stoß dem bis dahin nahezu als sakrosankt angesehenen und verteidigten Prüferspielraum bei der Entscheidung über "richtig" und "falsch"\O. Auch im Prüfungsbereich statuiere Art. 19 IV GG eine Pflicht der Gerichte, angefochtene Prüfungsverwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen, weil das Bestehen der Prüfung maßgebliche Berufszugangsvoraussetzung i. S. des Art. 12 GG sei; Prüfungsantworten, die auf einer in der Fachliteratur vertretenen Ansicht beruhen oder - trotz Abweichung von der Lehrmeinung überhaupt plausibel erscheinen, können nicht mehr als falsch beurteilt werden. Besonders deutlich sei dies im multiple-choice-Verfahren. Lediglich in einem engen Rahmen bleibe für "prüfungs spezifische" Wertungen ein gewisser Beurteilungsspielraum 11. Theuersbacher sieht hierin - nicht ganz zu Unrecht - ein

7 BVerfGE 83, 130 (145 ff., insb. 148); dazu ausf. M.-E. Geis, Josefine Mutzenbaeher und die Kontrolle der Verwaltung, NVwZ 1992, 25 (28 0; eine Übersicht der unterschiedlichen Folgerungen bei J. Würkner, Das Bundesverfassungsgericht und die Kunst, 1994, S. 67. 8 K. Redeker, Verfassungsrechtliche Vorgaben zur Kontrolldichte verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung, NVwZ 1992, 305 (307 f.); ähnlich M. Gerhardt, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 114 Rdn. 70 m. weit. Nachw.; dies ist freilich recht umstritten, vgl. J. Würkner, BVerfG auf Abwegen? Gedanken zur Kontrolldichte verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung, NVwZ 1992, 309 (311). 9 BVerfGE 84, 34 (46); 84, 59 (78); BVerfG NVwZ 1992,657. 10 BVerwG Buchholz 421.0 NT. 121; H. von Golitschek, Bewertung der PTÜfungsleistungen in juristischen Staatsprüfungen und deren gerichtliche Kontrolle, BayVBI. 1994, 257; zusammenfassend P. Niehues, Prüfungsrecht, 3. Aufl 1996, Rdn. 399 ff.,

407.

11 BVerfGE 84, 34 (55); dazu zählen die Einschätzungen und Erfahrungen der Prüfer, die Art der Aufgabestellung, insb. die Einordnung in eine bestimmte Notenstufe.



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bloßes Lippenbekenntnis l2 • Mit diesen Entscheidungen wurde also auch die Fallgruppe "Höchstpersönlichkeit" in einem maßgeblichen Punkt zumindest erheblich eingeengt. c) Zulassung privater Volksschulen

Die dritte - in der breiten juristischen Öffentlichkeit etwas weniger bekannte - Stufe betraf die Zulassung privater Grundschulen; nach Art. 7 Abs. 5 GG ist für die Genehmigung das Vorliegen des "besonderen pädagogischen Interesses" Voraussetzung \3. Die Kultusbürokratie hatte aus begreiflichen Gründen bei der Auslegung dieses Tatbestandsmerkmals einen breiten Beurteilungsspielraum für sich reklamiert. Auch hier schaffte das BVerfG das Institut des Beurteilungsspielraums zwar nicht gänzlich ab - es blieb die Bewertung des pädagogischen Konzepts im Einzelfall - , unterwarf aber die Nachprüfung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen weitgehend der richterlichen Kontrolle l4 . Wichtigstes Substrat dieser Entscheidung ist die Beschneidung der Fallgruppen "fachwissenschaftliche Beurteilung" und "Prognoseentscheidung" , die durchaus einer Verifikation durch Sachverständige zugänglich seien.

2. Grundrechtsrelevanz als Maßstab der Rechtsschutzgarantie In allen drei genannten Fallgruppen spielt ein Faktor die wesentliche Rolle für die Überprüfbarkeit durch die Gerichte: die Grundrechtsrelevanz l5 • Kurz gesagt: Je mehr eine Entscheidung grundrechtsgeschütztes Handeln betrifft, bzw. die Grundrechtsrealisation von der Entscheidung abhängt, desto intensiver muß die Möglichkeit gerichtlicher Kontrolle sein - eine Folgerung aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG. War es im Mutzenbacherfall vor allem der Jugendschutz, war es in den Prüfungs entscheidungen Art. 12 GG, so war es im Privatschulfall die Garantie auf Errichtung privater Schulen nach Art. 7 IV, V GG, womit die Entscheidung noch einmal markant den subjektivrechtlichen Charakter dieser Normen hervorhob. Dabei schält sich ein gleitender Maßstab heraus: Hängt von der Entscheidung die Möglichkeit der Grundrechtsausübung schlechthin ab - Stichworte: Chancengleichheit und Berufszugang -, bestehen strengere Anforderungen an die Kontrolldichte als bei Ent12 P. Theuersbacher, Gerichtliche Kontrolle der Prüfungsentrscheidungen im Antwort-Wahl-Verfahren der medizinischen und pharmazeutischen Prüfungen, BayVBI. 1991,649 (651). 13 Zur Problematik eingehend Geis, DÖV 1993, 22 ff. 14 Gerhardt (Fn. 8), Rdn. 72 m. weit. Nachw. 15 Vgl. hierzu auch H. Schulze-Fielitz, Neue Kriterien rur die verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, JZ 1993, 772 (776).

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scheidungen, die diese nur einschränken - im Grunde ist dies fast eine banale Selbstverständlichkeit, die aber, wie das Beispiel Prüfungsrecht zeigt, bis dato eben nicht der gängigen Doktrin entsprach l6 • In der Rechtsprechung wurde diese Judikatur des BVerfG namentlich durch das BVerwG in weiteren Indizierungsentscheidungen 17 und Prüfungsentschei18· 19 dungen sogleich umgesetzt .

3. Reaktionen in der Literatur Diese Koordinatenverschiebung hat zunächst einen gewaltigen Widerhall in der Literatur20 ausgelöse l • Die einen meinten, daß ungeachtet der dogmatischen Konstruktion wohl inhaltlich keine großen Änderungen eintreten würden 22 - so auch der oberste Pragmatiker der Bundesrepublik Roman Herzog, der die Rechtsprechung insgesamt positiv beurteilte23 . Andere malten mit breitem Pinselstrich eine neue Klagenflut, den totalen Justizstaat und die Entmündigung der Verwaltung an die Wand 24 . Es wurde beklagt, Verwaltungsgerichte nähmen zuviel Einfluß auf bedeutsame Vorhaben, drängten sich gelegentlich selbst in die Rolle der Verwaltung 25 • Namentlich die Verwaltungsrichter selbst waren über den ihnen zugebilligten "Machtzuwachs" in Form erhöhter Kon-

Ebenso H. Goerlich, Urteilsanmerkung, DVBI 1993, 490 f. BVerwGE 91,211 - "Opus Pistorum" m. Anm. Geis, JZ 1993,790; E 91,223 "Zärtliche Rituale; BVerwG NJW 1993, 1492 - "Cold Steel"; 7 C 23.92 v. 26.11.1992 "Rambo 111". 18 BVerwGE 91, 262; 92,132; NVwZ 1993,686 und 689; NVwZ-RR 1994,582 und 585. 19 Siehe auch die Zusammenstellung bei W.-R. Schenke, Rechtsprechungsübersicht zum Verwaltungsprozeß - Teil 2, JZ 1996, 1055 (1065 ff.). 20 Theuersbacher, BayVBI. 1991, 649 (652); Redeker, NVwZ 1992, 305 (309); Würkner, NVwZ 1992, 309 (312); Seebass, NVwZ 1992, 609 (612); B. Wortmann, (Un)erhebliches zum Beurteilungsspielraum, NWVBI. 1993, 324 ff.; von Golitschek (Fn. 10), 257 ff; Schulze-Fielitz (Fn. 15), 772 ff. weit. Nachw. bei Gerhardt (Fn. 8), § 114, Fn. 451. 21 Nachw. bei von Golitschek, BayVBI. 1994,257 (261). 22 So etwa Wortmann, NWVBI. 1993, 324 ff., mit bestätigendem Zahlenmaterial (Zahl der einschlägigen Verfahren gleich geblieben). 23 R. Herzog, Verfassung und Verwaltungsgerichte - zurück zu mehr Kontrolldichte?, NJW 1993,2061 ff. 24 Vgl. etwa Wahlers, Gerichte als letzte Chance flir verpatzte Examen, DUZ 1991, Heft 19, 26. 25 W. Jöhnk, Zur Kritik an verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen: Nehmen Verwaltungsgerichte zuviel Einfluß auf bedeutsame Verwaltungsentscheidungen, Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1995,253. 16 17

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trolldichte gar nicht so glücklich, stellte er sie doch in der Sachaufklärung vor oftmals heikle, jedenfalls aber mühselige Arbeit. 26

IH. Die Gegenbewegung: Das Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz (GenBG) und das 6. VwGO-ÄndG von 1996 Die konstatierte und auch in der Wirklichkeit zunehmende Stagnation staatlicher Entscheidungsprozesse aufgrund einer hypertrophierten gerichtlichen Kontrolle fiihrte zu Forderungen nach massiven Änderungen im Fachplanungsrecht, aber auch im allgemeinen Verwaltungsrecht und im Prozeßrecht. Volkswirtschaftlich sah man vor allem den Aufbau Ost, aber auch ganz allgemein den "Wirtschaftsstandort Deutschland" massiv bedroht. 27 Vordringlich mit dem Ziel einer Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen von Investitionen und der schnellen Schaffung von Arbeitsplätzen widmeten sich bekanntlich mehrere Regierungsentwürfe der Beschleunigung und Vereinfachung des Bauleitplanungsrechts, des Immissionsschutzrechts, auch des Wasserrechts. Ein Hauptregelungspunkt war die Unbeachtlichkeit oder Heilung von Verfahrens- oder Ermessens- bzw. Abwägungfehlern. An dieser Stelle schauen wir uns stellvertretend die Änderungen an, die seit den Änderungen durch das GenBG und das 6. VwGOÄndG bei den "allgemeinen Vorschriften" im VwVfG und in der VwGO schon recht unauffällig im Gesetzestext "versteckt" sind. Dabei regeln die aufeinander abgestimmten §§ 45 11 VwVfG, 87 I S. 2 NT. 7, 94 S. 2 VwGO die Sanierung von Verfahrens- und Formfehlern im Prozeß, § 114 S. 2 VwGO erlaubt das Nachschieben von Ermessenserwägungen, also eine materiell-rechtliche Sanierung. Daß diese Vorschriften schon unter dem Aspekt einer Verletzung der richterlichen Neutralitäes und auch wegen der Inanspruchnahme von Verfahrenskompetenz durch den Bundesgesetzgebel9 höchst fragwürdig sind, sei hier nur am Rande erwähnt. Unter dem Aspekt gerichtlicher Kontrolle lassen sich darauf auf breiter Front fehlerhafte VAe nachträglich geradebiegen - was natürlich die Gewährleistungsfunktion

26 Vgl. den Tagungsbericht von N. Burke, Abbau oder Zunahme der velWaltungsgerichtlichen Kontrolle?, DVBI 1994, 994 (997). 27 Vgl. hierzu V. Busse, Verfahrenswege zu einem "schlankeren Staat", DÖV 1996, 389 (393); Hufen, Fehler im VelWaltungsverfahren, 3. Aufl 1998, Rdn. 585. 28 R. Schenke. "Reform" ohne Ende - Das Sechste Gesetz zur Änderung der VelWaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze (6. VwGOÄndG), NJW 97, 81 (86); vgl. auch K. Redeker. Die "Heilungsvorschriften" der 6. VwGO-Novelle, NVwZ 1997,625 (627) und A.Hatje. Die Heilung formell rechtswidriger VelWaltungsakte, DÖV 1997, 477 (482). 29 Schenke (Fn. 28), 89.

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des Verwaltungsverfahrens massiv entwerteeo. Polemisch ausgedrückt werden damit nahezu alle Fehler einschließlich der Anhörungsfehler sanktionslos, da der Kläger damit rechnen muß, daß die Verwaltung im Prozeß immer noch den Joker zieht. Die Möglichkeit einer Erledigterklärung 31 mit der Folge, daß die Verwaltung die Kostenlast trägt, stellt nur ftir reine Prozessualisten eine adäquate Lösung dar. Tatsächlich stellt aber der Zwang zu einem Prozeß, auch wenn er später durch Erledigung endet, ftir den rechtsuchenden Bürger eine erhebliche psychologische Belastung dar, die die Neigung, sich wegen verfahrensmäßiger Mängel an das VG zu wenden, auf breiter Front sinken lassen wird. Nun ist das natürlich genau der angestrebte Effekt; mit der offenbar antiquierten, gleichwohl aus Art. 2 I GG ableitbaren Vorstellung, daß der Bürger einen Anspruch darauf habe, daß in seine Rechte nur unter Einhaltung des formellen und materiellen Rechts eingegriffen werde, hat dies jedoch nichts mehr zu tun. Zum anderen weisen viele Autoren darauf hin, daß eine nachträgliche Durchführung von versäumten Verfahrenshandlungen (namentlich einer unterlassenen Anhörung) wohl kaum dazu führen wird, daß die Behörde ihre Entscheidung noch einmal überdenkt oder gar revidiert32 . Denn sie würde in diesem Fall ja riskieren, daß ihre Entscheidung sich im Prozeß auch im Ergebnis als rechtswidrig erweist, was sie begreiflicherweise vermeiden will. Kurz gefaßt, befindet sich die Verwaltung im Prozeß nicht mehr im Stadium unvoreingenommener Objektivität, die für die Durchftihrung und Wahrnehmung der Verfahrensrechte des Klägers notwendig ist; die Verwaltung ist vielmehr selbst Partei und wird trachten, die Entscheidung unter allen Umständen zu halten33 . Insgesamt wird dadurch die Vorstellung von der Funktion eines Verwaltungsverfahrens nicht nur auf die klassische Sichtweise von der rein "dienenden" Funktion des Verfahrens zurückgeworfen34 - es hat, da die Einhaltung oder Nichteinhaltung der Förmlichkeiten letztlich völlig irrelevant sind, sogar noch diesen "dienenden" Bezug verloren. Unmißverständlich haben dies das BVerwG und verschiedene Stimmen der Literatur ausgedrückt: Das Beharren auf Verfahrensrechten, bzw. die Durchftihrung von gesetzlich vorgesehenen Verfahrenshandlungen, sei, wenn sich am Ergebnis ohnehin nichts ändere, "leere Förmelei,,35. Damit ist der Paradigmenwechsel im Verwaltungsverfahren Schenke (Fn. 28), 87; Hatje (Fn. 25),480. Dazu Redeker (Fn. 28), 628; Hatje (Fn. 28),479. 32 Z. B. Hatje (Fn. 28), 484. 33 Hatje (Fn. 28), 485, hält § 45 VwVfG insofern ftir verfassungswidrig, als er das Nachholen der Anhörung noch im Prozeß gestattet. 34 Für eine nicht nur "dienende" Funktion z. B. Hatje, (Fn. 28), 480; Schoch, Der Verfahrensgedanke im allgemeinen Verwaltungsrecht, Die Verwaltung 25 (1992), 21 (28). 35 BVerwGE 85,163 (167). 30

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endgültig vollzogen; der Geist des Verwaltungsverfahrensgesetzes von 1976/77, der eine Aufwertung des Verfahrens zu Gunsten der Rechtsverwirklichung des Bürgers intendierte 36 und der ein prozeß-, nicht ergebnisorentiertes Entscheidungsfindungsmodell favorisiert hatte: Dieser Geise 7 wurde vom Gesetzgeber des Jahres 1996 zurück in die Flasche verbannt. Nicht anders verhält es sich mit der Änderung des § 114 S. 2 VwGO. Wird der Verwaltung erlaubt, Ermessenserwägungen nachzuschieben, so heißt dies vice versa, daß die Fehlerkategorien des Ermessensdefizits oder -fehlgebrauchs dem Rechtswidrigkeitsverdikt entzogen werden. Nach der Formulierung des § 114 S. 2 VwGO fuhrt nur noch der in der Praxis eher seltene völlige Ermessensausfall zur Rechtswidrigkeit. Es fuhrt nicht gerade zu einer "Entscheidungshygiene", wenn die Verwaltung die Möglichkeit hat, erst einmal ihre Verwaltungsakte mit irgendwelchen Ermessenserwägungen zu garnieren, im Bewußtsein, im Zweifel ja alles nachträglich heilen zu können. Zusammen mit der eingeschränkten Kontrolldichte des § 114 S. 1 VwGO werden Klagen gegen ermessensfehlerhafte Verwaltungsakte damit fast durchweg chancenlos bzw. können allenfalls eine Erledigung erzwingen, nicht aber ein stattgebendes Anfechtungsurteil. Dies stellt die Substanz des Rechtsschutzsystems der VwGO grundlegend in Frage. Davon abgesehen geht die Gesetzesbegründung zu § 114 S. 2 noch von der falschen Prämisse aus, damit nur eine längst vorgezeichnete Entwicklung in der Rechtsprechung positiviert zu haben. Die zitierte Entscheidung BVerwGE 85, 163 f. betraf einen speziellen Einzelfall, der sich zu einer Verallgemeinerung nicht eignet und außerdem argumentativ höchst fragwürdig ist. Der Trick in dieser Entscheidung besteht darin, in der Ergänzung einen neuen VA zu sehen 38 , der im Wege einer Auswechslung (bzw. einer sachdienlicher Klageänderung) an die Stelle des alten VA tritt. Das in diesem Fall notwendige Vorverfahren wird vom Gericht in einer eleganten Begründung contra legern fur entbehrlich erklärt39 • All dies ist freilich in die Konstruktion des § 114 S. 2 VwGO nicht eingegangen, vielmehr wurde - qualitativ gesehen - lediglich der Leitsatz der Entscheidung positiviert.

36 R. Wahl, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL 41 (1982), S. 151 (160 ff.). 37 Dazu Schoch (Fn. 34),29 f. 38 Dazu Schenke (Fn. 28), 89. 39 Gegen das BVerwG z. B. Schenke, Rechtsprechungsübersicht (Fn. 19), 1062.

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IV. Verfassungsrechtlicher Maßstab: Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG 1. Handlungsspielräume und Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG

Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG schließt normativ eröffnete Gestaltungs- Ermessens- und Beurteilungspielräume der Verwaltung nicht von vornherein aus40 . Art. 19 Abs. 4 GG gewährt effektiven Rechtsschutz, d.h. wirksamen Rechtsschutz. Dieser setzt voraus, daß der Rechtsprechung entsprechende Kontrollmaßstäbe zur VerfUgung stehen. Räumt aber der Gesetzgeber der Verwaltung einen entsprechenden Freiraum ein - was im Einzelfall durch Normauslegung zu eruieren ist - , enthält er also im Gegenzug der Rechtsprechung verbindliche Maßstäbe vor, so ist eine Einschränkung der Kontrolldichte nach mittlerweile ganz h.M. nicht zu beanstanden41 . Begriinden läßt sich dies auch mit der Lehre von der funktionellen Gewaltenteilung, die Konrad Hesse 1981 in der Festschrift fUr Hans Huber entfaltet hat: Die moderne Gewaltenteilung ist keine strikte Gewaltentrennung im klassischen Sinne; vielmehr ist unabhängig von der nach wie vor geltenden Dreiteilung der Gewalten - zur Letztentscheidungskompetenz diejenige Gewalt berufen, die hierfiir am besten geeignet ist42 . Hat daher die Verwaltung die uneinholbar besseren Erkenntnismöglichkeiten, die sich einem Gericht verschließen - zu denken ist etwa an die Bewertung komplexer technischer Zusammenhänge und darauf basierender Prognosen - dann fordern weder der Gewaltenteilungsgrundsatz noch Art. 19 Abs. 4 GG eine vollständige Kontrolldichte durch die Gerichte43 . Im Bereich überwiegend politischer Prognosespielräume fUhrt der funktionellrechtliche Ansatz dazu, daß die Letztverantwortung der politisch verantwortlichen Verwaltung zugewiesen wird (Beispiel: Wyhl-Urteil zu § 7 11 Nr. 2 AtomG)44. Dieses Ergebnis läßt sich schließlich mit der demokratischen Legitimation der Verwaltung untermauern: Aus ihr folgt, daß die Verwaltung grundsätzlich einen gleichgewichtigen Stellenwert wie die Gerichte einnimmt; stehen ihr die besseren Erkenntnismöglichkeiten zu Gebot, dann ist es kaum sinnvoll, der auf schlechteren Erkenntnismöglichkeiten beruhenden Rechtsprechung notwendig BVerfGE 61,82 (111); 84, 34 (50). W.-R. Schenke, Die Bedeutung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4, JZ 1988, 317 (323). 42 K. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Fs. für Hans Huber, 1981, S. 261 (266 ff.); ähnlich Herzog (Fn. 23), 260 I ff. 43 Zurückhaltend R. Wahl, Risikobewertung der Exekutive und richterliche Kontrolldichte - Auswirkungen auf das Verwaltungs- und das gerichtliche Verfahren, NVwZ 1991,409 (418). 44 Schenke (Fn. 41), 317 (324). 40 41

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eine umfassende Kontrollbefugnis einzuräumen; hierdurch würden der Rechtsschutz des einzelnen und die materielle Richtigkeitsgewähr der Verwaltungsentscheidung eher geschwächt, der Ansatz der funktionalen Gewaltenteilung damit unterlaufen. 2. Verfahren als Komplement eingeschränkter Kontrolldichte Die eingeschränkte Kontrolldichte gibt es nicht umsonst. Bundesverfassungsgericht, Verwaltungsgerichtsbarkeit und Literatur haben schon früh die Komplementär- bzw. Kompensationsfunktion des Verfahrens 45 betont: Handelt es sich - wie meist - um grundrechtsrelevante Entscheidungen, so verlangen die Grundrechte in ihrer objektivrechtlichen Funktion, wenn nach der oben referierten Rechtsprechung überhaupt noch eine eingeschränkte Kontrolldichte in Frage kommt, eine entsprechende Verfahrensausgestaltung. Die eingangs zitierten Entscheidungen zum Prüfungsrecht folgen insoweit der (schon alten) Doktrin vom "Grundrechtsschutz durch Verfahren". Ausdrücklich hat BVerfGE 84, 34 (45 f.) noch einmal festgehalten: "Ob und inwieweit Garantien für das Verwaltungsverfahren grundrechtlich gefordert sind, richtet sich zum einen nach Art und Intensität des Grundrechtseingriffs, zum anderen danach, inwieweit der Grundrechtsschutz durch die nachträgliche Kontrolle der Gerichte gewährleistet ist". Eine Zurücknahme gerichtlicher Kontrolldichte ist mithin nur zulässig, wenn quasi als Ausgleich materieller Richtigkeitsgewähr das Verwaltungsverfahren so ausgestaltet wird, daß es eine möglichst objektive, von störenden externen Einflüssen unbehelligte Entscheidung ermöglicht. Ein Beurteilungsspielraum muß also "verdient" werden46 • Paradebeispiel ist auch hier die umfangreiche Rechtsprechung zum Prüfungsverfahren, das entsprechend strikt ausgestaltet sein muß und keine prozedurale Benachteiligung der Kandidaten duldet - als Stichworte seien genannt: unzumutbarer Prüfungsraum, Lärmbelästigung, ständige Anwesenheit der Prüfer, Voreingenommenheit der Prüfer u. dgl. mehr. Den Prüfern in juristischen Staatsexamina ist das alles bestens bekannt, wenn das halbjährliche Zirkular der Landesjustizprüfungsämter die Formulierung der Prüfungsbewertung bis in grammatische Details vorschreibt, um spätere Anfechtungen wegen inkonsistenter Begründung zu vermeiden.

45 46

Vgl. Wahl (Fn. 36), 158 f. Wahl (Fn. 43), 418; Schulze-Fielitz (Fn. 15), 777.

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3. Zwischenfazit Lassen Sie mich an dieser Stelle bereits ein Zwischenfazit ziehen: Betrachtet man die Forderung nach größeren Handlungsspielräumen vor dem Hintergrund der Komplementärfunktion des Verfahrens, so wird deutlich: Ein dermaßen kastriertes Verfahren, das die wichtigsten Sanktionsmechanismen rur fehlerhaftes Verwaltungshandeln zur Irrelevanz verurteilt, kann keine Ausgleichsfunktion bei der Zurücknahme der inhaltlichen Kontrolldichte übernehmen. Der Gesetzgeber hat sich insoweit selbst blockiert; die zu Recht viel gescholtenen47 Heilungsvorschriften erweisen sich auch aus dieser Sicht als "Kurz-Schluß". Oder anders ausgedrückt: Man kann nicht einerseits die inhaltliche Kontrolle aus dünnen, wenn man gleichzeitig auch das ordnungsgemäße Zustandekommen von Entscheidungen zu einer im Ergebnis irrelevanten Größe herabstuft.

V. Systematische Verwerfungen durch die neuen Heilungsvorschriften Neben diesen verfassungsrechtlichen Defiziten bringen die Neuregelungen aber auch eine ganze Reihe von Verwerfungen in der Dogmatik des Allgemeinen Verwaltungsrechts mit sich. Diese begründen fiir sich zwar noch nicht notwendig Verfassungswidrigkeit. Man muß sich aber fragen, ob diese ein angemessener oder ein zu hoher Preis rur die Beschleunigung und Verfahrensstraffung sind. Rechtspolitische Fragwürdigkeit ist sicherlich ebenfalls em Punkt, der in die Gesamtwürdigung der Problematik eingehen sollte. 1. Relativierung der Fehlerlehre Die Dogmatik des allgemeinen Verwaltungsrechts hat - bereits vor dem Erlaß der Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder - eine Palette der Verfahrensfehler entwickelt, die dann in die Regelungen der § 45 und § 46 VwVfG eingeflossen sind. HUtS und Hufen 49 gebührt das Verdienst, die Fehlertypen und ihre Folgen systematisch erfaßt und aufgearbeitet zu haben. Roter Faden der Fehlerlehre ist dabei der Gedanke, daß eine Heilung von Verwaltungsakten solange sinnvoll sei, solange die volle Entscheidungsbefugnis Deutlich z. B. Schenke (Fn. 28), 81, 93. H. Hili, Das fehlerhafte Verfahren und seine Folgen im Verwaltungsrecht, 1986. 49 F. Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, 3. Aufl. 1998. 47

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noch bei der Verwaltung liegt, da nur dann eine nicht-parteiische Sachbehandlung gewährleistet ist. Wie bereits erwähnt, führt eine Ausweitung in den Prozeß zu einem natürlichen Beharrungsvermögen der Verwaltung (Problem der "psychologischen Bestandskraft"so); die präventive Funktion des Verfahrens geht dadurch verloren. Siebt man diese Entwicklung mit dem gebotenen Pessimismus, so ist, wie Hufen schon befürchtet, zu fragen, ob das "Projekt Fehlerlehre" ganz ad acta zu legen ist. Denn jede Fehlerlehre bezieht ihren Sinn aus der Frage nach ihren kassatorischen Konsequenzen. Eine Lehre von Fehlern, die durchweg heilbar sind - vielleicht von einigen ganz groben "Klöpsen" abgesehen - erweist sich als akademisches Glasperlenspiel, als juristische r art pour rart.

2. Relativierung der Ermessenslehre Ganz ähnlich ist es mit der Rückwirkung auf die Ermessenslehre. Rechtsprechung und Literatur haben seit den Zeiten Dtto Mayers daran gearbeitet, eine gefestigte Dogmatik der Ermessenslehre, insbesondere eine Ermessensfehlerlehre zu erstellensI. Auch sie kann nur vor dem Hintergrund der gerichtlichen Geltendmachung am Maßstab der § 40 VwVfG, § 114 VwGO ihren Sinn entfalten. Es gilt hier ganz ähnliches wie bei der Fehlerlehre: Beschränkt sich die tatsächliche Sanktion auf die Geltendmachung eines Ermessensausfallss2 , bleibt für das differenzierte System der Ermessensfehlerlehre kaum noch praktischer Anwendungsraum, und es reduziert sich auf zu lernenden Ballast in juristischen Lehrbüchern. Völlig ungeklärt ist in diesem Zusammenhang auch das Schicksal des Anspruchs auf fehlerfreie Ermessensausübung S3 • Dieser fußt darauf, daß der Sachverhalt vollständig ermittelt ist und die einschlägigen Fakten zutreffend berücksichtigt sind, und zwar zum Zeitpunkt der Entscheidung. Die Neuerung des § 114 S. 2 VwGO geht demgegenüber davon aus, daß die Entscheidungsgrundlage sukzessive ergänzt wird, was aber im Entscheidungsprozeß die Gewichte ganz anders setzen kann. Gerhardt als Verteidiger der Neuregelung konzediert dies zwar, will aber die Lösung in einem "erweiterten Verständnis" des Verwal-

Hufen (Fn. 49), Rdn. 620. Vgl. hier stellvertretend R. Alexy, Ermessensfehler, JZ 1986, 701 ff., sowie Kopp / Schenke, VwGO, I!. Aufl. 1998, § 114 Rdn. 7 ff., m. weit. Nachw. 52 Vgl. sub. III. a. E.; Redeker (Fn. 28),627. 53 Ähnlich L. Knopp, Novellierung der Verwaltungsgerichtsordnung: Verfahrensbeschleunigung durch Rechtsschutzverkürzung, BB 1997, 100 I (1003 f.). 50

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tungsprozesses als "schrittweise Nachbearbeitung des Stoffes" sehen54 • Jedoch wertet eine solche Sicht die Vorstellung eines dislrursorientierten Modells des Verwaltungsverfahrens ab, weil seine Eigenständigkeit gegenüber dem Verwaltungsprozeß 55 dadurch partiell aufgegeben wird. Jedenfalls aber muß die Ermessenslehre in ihrer praktischen Anwendung neu durchdacht werden, wenn die Regelung des § 114 S. 2 VwGO so bestehen bleibt.

3. Relativierung des Vorverfahrens Die Neuregelungen im VwVfG und in der VwGO führen schließlich zu Inkonsequenzen im Rechtsschutzsystem selbst. Werden formelle Verfahrens- und materielle Ermessensfehler in jeder Phase des Verwaltungs- und des gerichtlichen Verfahrens heilbar, dann werden die in der Theorie immer noch hochgehaltenen Funktionen des verwaltungsprozessualen Vorverfahrens - als da sind: Rechtsschutzfunktion, Kontrollfunktion, Entlastungsfunktion - desavouiert56 • Die Möglichkeit der Heilung oder Ergänzung in den Gründen wird dazu führen, daß diese Option auch renutzt werden wird - denn ohne Bedarf wäre diese Regelung nicht entstanden5 . Das führt zu einer weiteren Verschlechterung der Rechtsschutz/unktion des Vorverfahrens, das schon bislang diesem Zweck nur unzureichend genügte; denn die Versuchung ist groß, im Widerspruchsverfahren die Prüfung einfach in die Gerichtsbarkeit weiterzuschieben. Ganz ähnliches gilt für die Kontrollfunktion. Denn die Heilungsregelungen der §§ 45 II VwVfG, 87, 94 VwGO setzen wiederum voraus, daß die Heilung erst im Prozeß zum Thema wird oder aber im Vorverfahren ihrerseits unzureichend war. Das bedeutet aber, daß die Kontrollfunktion der Widerspruchsbehörden offenbar nicht erfüllt wird. Auch psychologisch liegt hierin ein DefIzit, da der Impuls zur Heilung im eigentlichen Verwaltungsverfahren nicht ergeht, vielmehr erst des Anstoßes eines Prozesses bedarf. Schließlich wird die Entlastungsfunktion zugunsten der Verwaltungsgerichte konterkariert, wenn erst einmal die Prozeßrnaschinerie in Gang gesetzt werden muß, bevor die Verwaltung ihre "Hausaufgaben" macht. Und zeitlich tritt keine Entlastung ein; vielmehr beinhaltet die Drei-Monatsfrist des § 87 I Nr. 7 VwGO und die Aussetzungsmöglichkeit nach § 94 VwGO weiteres Potential zur Verschleppung der Entscheidung unter Einbeziehung von Gerichten.

Gerhardt (Fn. 8), Vorb. § 113 Rdn. 20. Grundlegend hierzu Wahl (Fn. 36), 160 ff. 56 Schenke (Fn. 28), 90. S7 Vgl. die amtl. Begründung in BT-Drs. 13 /3993, S. 12. 54 55

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Fazit: Statt die seit langem geforderte Aufwertung und Effektivierung des Vorverfahrens vorzunehmen, hat der Gesetzgeber gerade die Hebel geschaffen, um dieses vollständig in der Bedeutungslosigkeit verschwinden zu lassen. Ich halte das rechtspolitisch für das falsche Signal, da hier - paradoxerweise - ein Element zum Abbau des Justizstaates gerade zerstört wird.

4. Relativierung des Verfahrensgedankens überhaupt Liest man heute etwa das Referat von Wahl auf der Konstanzer Staatsrechtslehrertagung von 1982 zum Thema "Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag", so wirkt das wie Musik aus längst vergangenen Tagen. Wahl hatte für ein prozeßorientiertes Verständnis des Verwaltungsverfahrens plädiert: Jeder Fall der Rechtsverwirklichung müsse ein Verfahren durchlaufen und werde dabei durch das "Medium" des Verfahrens geprägt und ausgeformt. 58 Verfahren hat daher nicht nur dienende Funktion, sondern übernimmt wesentliche Aufgaben für die Richtigkeitsgewähr und Akzeptanz des Verfahrensergebnisses 59 ; es ist dem Prozeß in dieser Funktion absolut gleichwertig, z.T. überlegen, weil es zur Herstellung der Akzeptanz beim Bürger des (Schieds-)Richters nicht bedarf. Schmidt-Aßmann hat auch im Handbuch des Staatsrechts den Gedanken vom Verfahren als Ordnungsidee, als Interaktionssystem zwischen Verwaltung und Bürger entwickelt60 • Soweit die graue Theorie. In der tiefschwarzen Praxis ist spätestens seit den genannten Gesetzesänderungen dieses Verfahrensverständnis ad acta gelegt worden. Verwaltungsverfahren als Ausdruck einer kalten, schematischen Technizität des Rechts, die es der Verwaltung sanktionslos in die Hand gibt, zu welchem Zeitpunkt sie den Bürger in die Entscheidungsfindung einbezieht: Der alte Geist des VwVfG ist dann tot.

VI. Ergebnis Als Resümee auf unseren Vortragstitel ergibt sich also: Weitere Handlungsspielräume für die Verwaltung sind derzeit insofern verfassungsrechtlich bedenklich, als gleichzeitig die verfahrensrechtlichen Sicherungen einer prozeduralen Richtigkeitsgewähr abgebaut, ja nahezu abgeschafft wurden. Legt man al-

Wahl (Fn. 36), 153. Ausf. Schoch (Fn. 34), 23 ff.; Hatje (Fn. 28),480. 60 E. Schmidt-Aßmann, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. 3, § 70 Rdn. 4. 58

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so die eingangs zitierten Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts zur Komplementärfunktion von gerichtlicher Kontrolldichte und Verfahrenskontrolle zugrunde, so lautet der Befund: Eine weitere Zurücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte ist derzeit pauschal nicht vertretbar. Dieses Ergebnis beruht auf dem legislatorischen Hüftschuß von 1996, dessen systematische Weiterungen offenbar nicht annähernd bedacht wurden. Vielleicht haben die neuen Mehrheiten in der Legislative und Exekutive Gelegenheit, diese Friktionen sachverständig zu revidieren. Zu wünschen wäre es dringend, zu hoffen ist es kaum.

Diskussion zu dem Vortrag von Max-Emanuel Geis

Gerhardt: § 114 Satz 2 VwGO ist eine rein prozeßrechtliche Vorschrift nach mittlerweile, glaube ich, zwei Entscheidungen unseres Hauses. Zweitens: Es hat sich gegenüber der früheren Situation nichts geändert. Das Nachschieben von Ermessensgründen war in gewissem Umfang immer schon möglich, und § 114 S. 2 ist so interpretiert worden, daß es genau dabei geblieben ist. § 114 S. 2 führt nicht zu einer Verschiebung des maßgeblichen Zeitpunkts, so daß die Überlegung, daß sozusagen permanent in den Verwaltungsgerichtsverfahren nachgebessert werden könnte, nicht zutrifft. Der Gesetzgeber hat wieder einmal ein Signal gesetzt, aber mehr auch nicht, und es besteht von daher keine Veranlassung, die Abwägungsfehlerlehre in Frage zu stellen. Der zweite Punkt, den ich bemerken möchte: Ich fmde es natürlich auch bedauerlich, daß das Verwaltungsverfahren so extrem entwertet worden ist. Auf der anderen Seite aber müssen wir unsere gesamte Tradition im Auge behalten, und die ganze Tradition mit ihren materiellen Rechtsbindungen auf der Tatbestandsseite geht eben auf die wahre, die richtige Entscheidung hinaus. Die sogenannte psychologische Bestandskraft, die Sie, Herr Geis, gerade angesprochen haben, ist m.E. eine Geschichte, die im ersten Schritt so ganz witzig klingt. Aber wird die Situation eigentlich dadurch besser, daß das Verwaltungsgericht einen Bescheid aufhebt und dann entscheidet die Behörde noch einmal? Warum soll sie dann nicht gleich im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nachbessern können? Das Verwaltungsverfahrensrecht ist mitnichten entwertet dergestalt, daß es nicht mehr angewendet wird. Sie tun so, als ob es nicht eine Pflicht der Beamten gäbe, die Gesetze anzuwenden. Die reine ex post Betrachtung von der gerichtlichen Kontrolle her verkürzt die Perspektive doch ganz erheblich. Meine letzte Bemerkung betrifft die Vereinfachungsgesetze. Ich stimme Ihnen zu, daß hier eine massive Entwertung stattgefunden hat. Auf der anderen Seite hat der Gesetzgeber seinen Zweck hundertprozentig erreicht. Es gibt praktisch keine Klagen mehr gegen Projekte. Es lohnt sich nämlich nicht. Man muß sich fragen, ob es wirklich so ist, daß die Maßnahmen diese weitreichenden dogmatischen Konsequenzen, die Sie, Herr Geis, gezogen haben, wirklich tragen oder handelt es sich nicht eigentlich um ad-hoc-Maßnahmen, für die ein

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gesamtgesellschaftlicher Konsens da war, daß Verzögerungen durch Gerichtsverfahren nicht hingenommen werden können. Hufen: Sie haben gesagt: Es bestehe gesellschaftlicher Konsens über die Notwendigkeit bestimmter Vorhaben. Wie ist es denn wirklich? Wir haben eben bei den Projekten, die Sie angesprochen haben, keinen Konsens. Die gesellschaftliche Situation ist die, daß es heftige Interessen dafür gibt und daß es immer heftigere Interessen dagegen gibt. Das hängt nicht mit der Streitsucht der Leute, sondern mit der erheblichen Verdichtung der Lebensräume in diesem Lande und damit auch einer erheblichen Steigerung der Konfliktpotentiale zusammen. Außerdem haben wir ein wachsendes Umweltbewußtsein und sicherlich auch höhere finanzielle Risiken, die sich mit Großvorhaben verbinden. Und das alles zusammen schafft noch mehr Konflikte und damit auch noch mehr Konfliktlösungsbedürfnisse und das heißt einen Bedarf nach konsensherstellenden Verfahren und einer Konfliktlösung durch das Verfahren. Der Konsens ist nicht a priori vorhanden, genauso wie die objektive Rechtslage nicht apriori vorhanden ist. Sie kann es gar nicht sein, und je komplexer die Probleme sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß ein Konsens oder auch eine gerechte Lösung von vor:nherein vorhanden sind. Die einzige Lösung zur Herstellung ist dann ein ordnungsgemäßes Verwaltungsverfahren. Das Verfahrensrecht muß es also schaffen, die Dinge so zu lösen, daß Konflikte so früh wie möglich bereinigt werden und es nicht erst im Verwaltungsprozeß ex post zu einem dann immer besonders verdichteten und komplexen Versuch der Konfliktlösung kommt. Was die Bedeutung einiger anderer Änderungen angeht, kann ich Ihnen in vielem Recht geben. Das liegt größtenteils daran, daß die Rechtsprechung schon vorausgeeilt war. Das gilt etwa für § 114 S. 2, aber auch für die Unbeachtlichkeit von Verfahrensfehlern bei Ermessensentscheidungen in § 46 VwVfG. Das Bundesverwaltungsgericht hat den Finger gegeben, der Gesetzgeber hat dann die ganze Hand genommen und § 46 nicht nur auf Fälle der Reduzierung des Ermessens auf Null, sondern auf die ganze Ermessensentscheidung erstreckt. Und das ist nun wirklich rechtsstaatlich ein Unding. Insgesamt aber scheinen die neuen §§ 45/46 VwVfG wie auch die prozessualen Parallelvorschriften in §§ 87 und 94 VwGO in der Praxis eine wesentlich geringere Rolle zu spielen, als das nach den Befürchtungen der Fall war. Die Verwaltungsrichter berichten in der Tat samt und sonders Entsprechendes. Wenn das daran läge, daß die Verwaltung von vornherein weniger Verfahrensfehler begeht, dann wäre ich beruhigt. Wenn es aber damit zusammenhängt, und in diese Richtung geht ja das, was Herr Gerhardt gesagt hat, daß der Bürger von vornherein sein Recht nicht mehr sucht, dann halte ich das nicht nur ftir rechtsstaatlich verheerend, es könnte auch sein, daß die Rechnung insgesamt nicht aufgeht. Ich darf daran erinnern, daß z.B. in Frankreich schnelle Planungsverfahren ftir TGV und ähnliche Projekte immer schon bestanden haben. Dort ist

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man inzwischen so weit, daß sich die Weinbauern, die keine Rechtsschutzmöglichkeiten haben, mit ihren Traktoren auf die Trasse begeben. Ansätze zu dieser verhängnisvollen Entwicklung sind auch bei uns erkennbar. Geis: Zum ersten Punkt: Der § 114 S. 2 ist nach meinem Verständnis eben doch eine Frage des materiellen Rechts. Es ist natürlich eine Glaubensfrage. Die Literatur hat überwiegend wohl auch die Meinung vertreten, daß es eine Frage des materiellen Rechts ist. Wenn man das als rein prozessuale Norm deklariert, kommt man in Begründungsschwierigkeiten hinsichtlich der Kompetenzgrundlage. Denn sagt man, es ist eine Prozeßvorschrift, dann hätte der Bundesgesetzgeber die Kompetenz gehabt. Sagt man, es ist eine reine Verfahrensvorschrift, dann fällt es im Prinzip in die Domäne der Länder. Ich meine, die Frage, wie und zu welchem Zeitpunkt Ermessen ausgeübt werden kann, ist eine Frage des materiellen Rechts und deshalb in § 114 S. 2 zumindest systemfremd angesiedelt. Es wäre eigentlich ein Problem, das ins Verwaltungsverfahrensgesetz gehört. Eine andere Geschichte ist die Behauptung, daß diese Regelung durch das Bundesverwaltungsgericht vorgezeichnet wäre, insbesondere die Entscheidung im 85. Band. Diese Entscheidung betraf nun gerade einen ganz speziellen Ausnahmefall, in dem das Bundesverwaltungsgericht zu dem Problem, ob man Ermessenserwägungen nachschieben darf, über die Konstruktion des Auswechselns gekommen ist. Ob es eine Klageänderung i.S. von § 91 ist oder nur eine "uneigentliche" Klageänderung, darüber kann man geteilter Meinung sein. Auf jeden Fall hat das Bundesverwaltungsgericht in dieser Entscheidung gesehen, daß es qualitativ etwas anderes ist: Falls es diesen Verwaltungsakt jetzt quasi auswechselt, dann ist ja ein Vorverfahren notwendig. Das Gericht hat daraufhin zu der eleganten Begründung contra legern gegriffen, daß das Vorverfahren wieder einmal aus ungeschriebenen Gründen entbehrlich sei und zwar deswegen, weil die Widerspruchsbehörde zu gar keiner anderen Entscheidung hätte kommen können, weil sie genau wie die Ausgangsbehörde durch Ermessensrichtlinien der obersten Landesbehörde gebunden sei. An anderer Stelle hat freilich gerade das Bundesverwaltungsgericht gesagt, daß auch die Existenz von Richtlinien die Verwaltungsbehörde nicht der Notwendigkeit enthebt, notfalls zu überprüfen, ob eine Ausnahme von diesen Richtlinien notwendig ist. Sonst hätte man nämlich gerade den klassischen Fall eines Ermessensausfalls. Von dieser Sondersituation der Entscheidung im 85. Band erscheint natürlich im § 114 S. 2 überhaupt nichts mehr. Die Fragen, ob ein Vorverfahren notwendig ist, wie sich dieses Nachschieben von Gründen rechtlich darstellt, ob dadurch der Verwaltungsakt durch einen anderen Verwaltungsakt ausgewechselt wird, erscheinen alle nicht mehr. Deswegen muß die These, daß die Gesetzgebung hier nur eine Rechtsprechung aufgenommen hat, kritisch hinterfragt werden. Zum zweiten Punkt: Psychologische Bestandskraft - das habe ich von Hufen übernommen. Ich erinnere mich an einen Fall vor 10 Jahren, einen baurechtliS·

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chen Fall auf der Schelinger Höhe am Kaiserstuhl, wo es um einen Schwarzbau ging, in dem ein allseits beliebter Winzer Wein ausgeschenkt hat. Man hat in einem Verfahren versucht, den Schwarzbau wegzubringen, und alle haben geraten: Nütze alle irgendwie möglichen Rechtsschutzmöglichkeiten, damit wir nach wie vor den frischen Faßwein mit den Schälnüssle genießen können. Das ist im Grunde eine Frage, wie man die Öffentlichkeit für seine Zwecke einspannen kann. Zum dritten Punkt: Ich habe natürlich nicht dafür plädiert, daß das Verfahren als solches abgeschafft wird. Ich habe gesagt, das Verfahren, so wie es ursprünglich konzipiert war, ist seines Sinnes weitgehend entleert: Wenn man das VwVfG beachtet, ist es fast eine leere Förmelei, denn was am Schluß herauskommt, spielt für das Ergebnis nahezu keine Rolle mehr. Gerhardt: Die Entscheidung im 85. Band ist ein absoluter Ausreißer. Es gab eine kontinuierliche Rechtsprechung, wonach während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens bei Identität des Verwaltungsaktes die Ermessenserwägungen ergänzt werden können. Die Idee, daß der Spruch und die Gründe eines Ermessensverwaltungsaktes eine Identität bilden, ist beeindruckend, entspricht aber nicht einer Vielzahl von Judikaten. Der § 114 S. 2 knüpft an diese andere Rechtsprechung an. Insofern gebe ich Ihnen recht, daß just diese Entscheidung zur Begründung des § 114 S. 2 nicht herangezogen werden kann, der sonst ganz andere Konsequenzen haben müßte. Ich stimme Herrn Hufen zu, daß es nämlich um eine priviligierte Klageänderung gehen müßte, und dann hätte man eine Regelung des Widerspruchsverfahrens treffen müssen. Zu der anderen Thematik. Ich kann nicht verstehen, wie jemand, der sich dem Recht verpflichtet fühlt, es schön findet, daß auf dem Kaiserstuhl ein Schwarzbau stehen bleibt. Es geht nicht um die Emotion, sondern darum, daß Sie eine gewisse Verbindlichkeit und Unverbrüchlichkeit des Rechts haben. Es hat gute Gründe, warum z.B. das Ermessen bei der Beseitigung von Schwarzbauten im Prinzip intendiert ist. Dillmann: Ich möchte nicht noch einmal zu § 114 S. 2 etwas sagen, sondern zu den anderen Heilungs- und Beschleunigungsvorschriften. Es hat schon bisher Heilungen gegeben; vor allem Anhörungsmängel sind schon früher behoben worden als erst im gerichtlichen Verfahren. Ich sehe selten Akten, in denen wir, die Richter, die Anhörung nachholen müßten; dies muß man zur Ehrenrettung der Verwaltung sagen. Was die Reparatur von Verwaltungshandeln im Rahmen der gerichtlichen Verfahren betrifft, so wird der Richter, der die Prozeßförderungspflicht ernst nimmt, rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung den Stoff der mündlichen Verhandlung so strukturieren, daß die Beteiligten von ihm vorher erfahren - sei es bei der Ladung oder in einem aufklärenden Schriftsatz -, über

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welche kritischen Punkte in der Verhandlung gesprochen werden muß. Dann ist, ohne daß damit die Absicht der Bevorteilung der Verwaltung verbunden ist, für beide Seiten rechtzeitig signalisiert, um was es im Termin geht. Nun ist es Sache einer flexibel reagierenden Verwaltung, ob sie sich noch darauf einstellt und ggf. die Beschwer des Bürgers von sich aus vor oder in der Verhandlung beseitigt oder ob sie das nicht tut. Es ist nun die Aufgabe des Verwaltungsjuristen, der bei der Verhandlung dabei ist, hier entsprechend flexibel zu reagieren. Das spricht dafür, daß nicht nur der betreffende Amtsleiter bei der Verhandlung zugegen ist, der häufig geneigt ist, seinen Verwaltungsakt zu retten.

Flexibilisierung von Standards Von Peter Jakobs-Woltering Als Einleitung zum Thema Flexibilisierung von Standards möchte ich den Bundespräsidenten zitieren, der auf dem Juristentag sagte: "lch möchte angesichts der Normenmassen, die ich in den deutschen und nicht minder in europäischen Gesetzessammlungen vorfinde, angesichts der Unmengen von Verordnungen, Verwaltungsvorschriften, Richtlinien, Runderlassen, DIN-Normen usw. nicht zuletzt auch angesichts der Urteilsbegründung und Leitsätze, die unsere obersten Gerichte zum besten geben, vor diesem großen Sachverständigenkreis wieder einmal die Frage aufwerfen, ob wir nicht beim Ausbau unserer Rechtsordnung, vor allem bei ihrer Perfektionierung und Ausdifferenzierung allmählich des Guten zu viel getan haben und ob es nicht hoch an der Zeit ist, wie auch auf so vielen anderen Gebieten, aber auch hier zu etwas bescheideneren Verhältnissen zurückzukehren". Worüber reden wir: Wir haben es mit Personalstandards, mit Sachstandards sowie mit Unfallverhütungsvorschriften und mit technischen Regelwerken zu tun, wenn wir von Standards reden. Daß nicht alle sinnvoll bzw. widersprüchlich sind, sollen die nachfolgenden Beispiele verdeutlichen: 1. Wer in Deutschland eine Bäckerei eröffnen will, unterliegt sowohl den Vorschriften der Berufsgenossenschaft als auch denen der Gewerbeaufsicht. Die Berufsgenossenschaft schreibt aus Sicherheitsgründen für die Backstube geriffelte Fliesen vor, hingegen verlangt die Gewerbeaufsicht aus hygienischen Gründen glatte Fliesen. Der Bäcker ist insoweit gezwungen, gegen eine dieser Verordnungen zu verstoßen. 2. Die Stadt Dortmund läßt täglich 40 Fahrzeuge mit je zwei Personen durch die Straßen fahren, um diese nach möglichen Schäden abzusuchen. Man möge hier die dafür entstehenden Kosten einmal hochrechnen. 3. Auch dieses Beispiel zeigt, zu welchem "Irrsinn" und zu welchen Kosten Standards und Vorschriften führen können. Für Kindergärten gilt, daß diese ab einer bestimmten Größe (Raumgröße) Subventionen erhalten. In Niedersachen wurde die Vermessung eines Kindergartens allerdings erst im nachhinein vorgenommen. Es stellte sich dabei heraus, daß etwa 1 m2 Fläche für den Erhalt der Subventionen fehlte. Dieser Sachverhalt durchlief diverse Behörden bis schließlich zum Regierungspräsidenten, der tatsächlich den Vorschlag machte,

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Putz von den Wänden zu schlagen, um die Innenmaße des Kindergartens auf die fiir die Subvention erforderliche Größe zu bringen. Diese "Lösung" wurde auch realisiert und die Subvention entsprechend gezahlt. Bei unserer Untersuchung zum Thema Standards haben wir verschiedene Verwaltungsleitungen befragt, wo die Probleme von Standards liegen. Die fast einheitliche Antwort lautete: "In der Vielzahl der Standards und Verordnungen". Wurden die Verwaltungsleiter befragt, welche reduziert werden könnten bzw. auf welche man verzichten könne, so wurde immer wieder auf die Bauämter, die Basis, verwiesen. Hier nachgefragt, hieß es dann: "Ganz im Gegenteil, am liebsten hätten wir noch mehr Standards und Richtlinien, denn diese sichern uns ab. Klare Regelungen vermeiden Unklarheiten und Ärger." Insofern ist es nicht verwunderlich, daß beim Deutschen Institut fiir Normung z. B. im Jahr 1993 32.169 Normen vorlagen und weitere ca. 61.000 in Planung waren. Was bedeutet dieses? Durch unterschiedliche Interessen gibt es unterschiedliche Standards, die wiederum zu unterschiedlichen Spannungsfelder fiihren. So gibt es einerseits das Spannungsfeld Europa mit dem Cen, Cenelek, den ISO-Normen und den Interessen von 18 Staaten. Ferner gibt es das Spannungsfeld Politik / Gesellschaft mit dem Anspruchsdenken der Bürger, dem Profilierungsdruck der Politiker sowie der unteren Landesbehörden. Nicht zuletzt existieren die Spannungsfelder Verwaltung, Wirtschaft, Sicherheit und Recht. Gerade letzteres wird in Diskussionen vielfach als K.O.-Argument eingesetzt, denn hierdurch können die Verantwortlichen sich exkulpieren. Was heißt Spannungsfeld Europa? Wir haben unterschiedliche Interessen im Harmonisierungs- und Richtliniennormungsmarkt in Europa. Wir haben auf der einen Seite das Ziel der Harmonisierung, den Abbau von Handelshemmnissen bei Festlegung grundlegender Schutzanforderungen. Dieses erfordert ein Wechselspiel von Regulierung und Deregulierung. Handelshemmnisse sollen abgebaut werden. Das entspricht dem Unternehmerinteresse, da er hierdurch neue Märkte erobern kann. Durch eine Harmonisierung der Richtlinien beginnt die Normung, und von dem Augenblick an ändert sich sein Interesse, nämlich die Sicherung seines Marktes. Er hat also ein Interesse daran, daß auch Cen und Cenelek die entsprechenden Standards schaffen. Gleichzeitig wird dadurch wieder fiir die Normungsgremien ein weiteres neues Wirkungsfeld geschaffen. Dieses fiihrt wieder dazu, daß sich die Standardschraube nach oben dreht. Eine Auswirkung einer solchen Standardisierung zeigt z. B. eine EUBleirichtlinie, nach der der Bleigehalt des Trinkwassers auf ein Viertel des bisherigen Wertes reduziert werden soll. Für die deutschen Kommunen heißt das,

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daß sämtliche aus Blei gefertigten Trinkwasserrohre ausgetauscht werden müssen. Davon sind ca. 10 Mio. Wohnungen betroffen. Für die Nachrüstung einer einzigen Wohnung entstehen dafür Kosten in Höhe von ca. DM 10.000, die zunächst von den Kommunen zu tragen sind. Was bedeutet Spannungsfeld Politik und wie sieht dort die Interessenlage aus? Unsere Politiker stehen ständig unter einem gewissen Druck. Sie müssen ihre Wiederwahl sichern, denn die Legislaturperioden sind kurz und schließlich schläft die Opposition auch nicht. Aus diesem Grunde ist der Politiker gezwungen, zu zeigen, was er kann. Er muß auf sich aufmerksam machen. Er muß den Bürgern zeigen, daß er etwas für sie tut. Aus diesem Grunde betreiben viele Politiker Aktionismus, in dem sie Vorschriftslücken suchen und regeln, was bisher auch ohne Regel lief. Die Folge ist eine kurzatmige Gesetzgebung mit der Konsequenz, daß keine Gesetzesfolgenanalyse betrieben wird, sondern es wird über Normen entschieden, ohne deren Folgekosten etc. zu berücksichtigen. Das Resultat ist eine unausgegorene Gesetzgebung, da eine Input-orientierte Steuerung vorgenommen wird, anstatt einer Output-Steuerung, die fragt: Wofür regeln wir und mit welchen Konsequenzen? Was heißt Spannungsfeld Wirtschaft? Hierfür ein Beispiel: Ein neues Produkt wird entwickelt. Dieses wird in einem Fachausschuß des DIN vorgestellt. Es gibt etliche Sitzungen, eine Vielzahl von Besprechungen und Diskussionen sowie letztendlich eine Stellungnahme mit empfehlendem Charakter. Diese wird der obersten Landesbehörde vorgelegt, die den Standard einführt oder es kommen ggf. durch die Rechtsprechung DIN-Normen als antizipierte Gutachten zum Einsatz. Der Kostenträger, in diesem Fall die Kommune, hält von vornherein den Standard ein. Dieses ist vorauseilender Gehorsam, weil sonst die Gefahr besteht, daß sie im Falle eines Falles Schadenersatz zu leisten hat. Die unternehmerischen Mitbewerber fordern anschließend wieder eine Reduzierung der Standards, um so neue Märkte für sich zu erschließen - nur, das Rad kann nicht zurückgedreht werden, d. h. Standards werden in der Regel nicht reduziert. Für den Unternehmer heißt das, ein neues Produkt vor dem Hintergrund der Standarderfordernisse des Marktes zu entwickeln. Danach ändert sich aber auch sein Interesse insoweit, als daß er nun die Normen und Standards für sinnvoll hält, um das neue Produkt gegen auswärtige Wettbewerber zu schützen. Was sind die Hintergründe? Die Förderkreise des DIN können eigene Normungsausschüsse bilden. In den Ausschüssen des Normungsausschusses Bau sind nach Schätzungen des DINs 75 % Industrievertreter, die ihre Interessen - Sicherung bestehender Märkte durch Normen und Abbau von Handelshindernissen zur Erschließung

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neuer Märkte durch Reduzierung bzw. Aufhebung von Normen und Standards - vertreten. 1993 waren von den 44 Vertretern des Normungsausschusses Bau 29 Industrievertreter mit dem Ergebnis, daß die Standardschraube durch die Industrie nach oben gedreht wurde. Was ist das Spannungsfeld Rechtsprechung? Wir haben die Tendenz, die öffentliche Verwaltung rur alles haftbar zu machen. Nach der Rechtsprechung müssen Anlagen laufend durch die Kommunen auf mögliche Schäden untersucht werden und Mängel umgehend behoben werden. Dieses bezieht sich z. B. auf Straßenunebenheiten, Baumschäden, Grabsteinfestigkeit und Wand- / Deckenputzhaftung. Die Kommunen sind beispielsweise verpflichtet, auf den Friedhöfen einmal jährlich sämtliche Grabsteine mit einer gewissen Pondzahl zu rütteln, um deren Standfestigkeit zu prüfen. Des weiteren sind Alleebäume durch die Städte und Kommunen permanent auf loses Astwerk zu prüfen. In Münster fahren vier Personen durch einen Grüngürtel um die Stadt, um mögliche Gefahren sofort zu erkennen und zu beheben. Gleiches gilt rur Trimm-dich-Pfade. Die Urteile der Rechtsprechung sind de facto-Normen, die zu einer schleichenden Erhöhung von Standards ruhren. Die Richter beziehen sich auf Sachverständige und Regelwerke als antizipierte Gutachten. Da DIN-Normen nur empfehlenden Charakter haben, sind auch BGR-Urteile auf ihre de factoNorm hin zu hinterfragen. Es müßte der Schutzzweck der Norm hinterfragt werden, d. h. das allgemeine Lebensrisiko würde wieder erhöht und im Gegenzug dazu die Vollkostenmentalität gesenkt. Ein Beispiel hierzu: Eine Mutter geht mit drei kleinen Kindern in ein Schwimmbad. Eines der Kinder ertrinkt. Die Mutter klagt bis zum BGR auf Schadensersatz und Schmerzensgeld, da ihrer Meinung nach in dem Schwimmbad nicht genügend Bademeister waren. Dieser Fall spiegelt das Anspruchsdenken unserer heutigen Gesellschaft an die Kommunen wider. Rier ist es erforderlich, daß Richter, die den Stand unserer Verkehrssicherungspflicht auf dem derzeitigen Niveau gerechtfertigt haben, dieses auch wieder zurückdrehen müßten. Sie würden dadurch m. E. nicht einen Gesichtsverlust riskieren, denn auch jetzt gibt es Unterschiede zwischen Stand und Land sowie zwischen Ost- und Westniveau. Gerade zur Standardthematik wird in den neuen Bundesländern anders geurteilt als in den alten. Was heißt Spannungsfeld Sicherheit? Es gibt die Gemeinde-Unfall-Versicherung (GUV) und die Berufsgenossenschaften (BG) mit einer paritätischen Besetzung, d. h. Arbeitnehmervertreter sind zu gleichen Teilen wie Arbeitgebervertreter präsent.

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In diversen Vier-Augen-Gesprächen mit den Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern in der GUV und BG war zu erfahren, daß der idealtypische Kontrast zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht ausgelebt wird. Auf der Arbeitgeberseite wird versucht, Konflikte zu vermeiden, da ein Stadtdirektor oder sein Stellvertreter als Leiter der Behörde häufig Zeitprobleme hat und ihm auf der anderen Seite das unternehmerische Interesse fehlt. Ferner will er oftmals keine Konflikte mit Kollegen und Mitarbeitern riskieren, da er mit Ihnen später wieder in einer Behörde zusammenarbeiten muß. Auf der Arbeitnehmerseite nutzen die Mitglieder die Konflikte, um sich zu profilieren, denn sie haben auch die Zeit dafür. Darüber hinaus reizen manch einen Interessenvertreter sowohl auf Arbeitgeber- als auch Arbeitnehmerseite die Reisen, die vielfach mit der Gremienarbeit verbunden sind. Die Arbeitgeber verlassen zudem teilweise vorzeitig die Sitzungen mit der Begründung, sie hätten nicht die Zeit. Dieses fUhrt regelrecht zu Abstimmungsmanipulationen, um Konflikte zu vermeiden. Bedenkt man, daß so eine UVV sehr lange, nämlich durchschnittlich 5 Jahre dauert, so kann man sich überlegen, was der Gremientourismus für eine Bedeutung hat. Die Kosten für die Berufsgenossenschaft steigen dementsprechend. Jahr fUr Jahr wird mehr Geld fUr die Erarbeitung von UVVs ausgegeben. Von 1950 stiegen die aufgewendeten Summen in der Berufsgenossenschaft für Unfallverhütungsvorschriften von 645.000 DM auf 11.270.000 DM im Jahr 1992. Nicht nur die GUVs bzw. das Arbeitgeber-/ Arbeitnehmerverhältnis sind fUr diese "Dramatik" verantwortlich, sondern auch die Verwaltung. So sind teilweise ganze Bereiche in Ministerien mit Förderprogrammen beschäftigt. Planung, Entwicklung und Umsetzungen von Förderprogrammen sind nun mal ein Kampf um Ideen, Macht, Einfluß, Anhänger, Klienten und Geld. Der Erfolg dieses Systems zeigt sich nicht nur in der öffentlichen Verwaltung, sondern auch in privatwirtschaftlichen Unternehmen. Verblüffend ist, daß selbst in innovativen und schnellebigen Branchen sehr schnell Strukturen verkrusten. Insofern ist dieses nicht ein Phänomen der öffentlichen Verwaltung. Festzustellen ist, daß sich die öffentliche Verwaltung in vielen Bereichen gar nicht so stark von der Privatwirtschaft unterscheidet. Sie ist vielfach besser als ihr Ruf. Nur hat die Privatwirtschaft im Gegensatz zur öffentlichen Verwaltung einen Markt, der ständige Bewegung zum Überleben der Unternehmen erfordert. Förderprogramme, d.h. monetäre Mittel beeinflussen Beförderungen, berufliches Ansehen und gesellschaftlichen Einfluß. Wer auf der einen Seite evaluiert, der muß auf der anderen Seite schließlich und endlich seine Aufgabe und Verantwortung selbst hinterfragen. Und das tut keiner gerne. Kommunen kennen die Mechanismen sehr häufig beim DIN und beim Cen und Cenelek nicht. Ähnlich wie beim Erstbeispiel müssen sie bei der Basis nachfragen. Sie kennen die konkrete Standardbelastung auch in den Kommunen nicht. Ein weiteres Beispiel: In Niedersachsen gibt es eine Bestimmung, daß der Abstand zwischen den Kleiderhaken in den Kindergärten 20 cm betragen muß,

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in Nordrhein-Westfalen müssen nach der Schulbaurichtlinie Handwaschbecken 7,551 cm neben der Tür angebracht werden. Alleine dieses zu messen, ist ein immenser Zeitaufwand, der erhebliche Kosten verursacht. Das letzte Beispiel, das auch in den Medien viel diskutiert wurde, zeigt wieder den "Unsinn" mancher Verordnung: Ein schwer gehbehinderter Mann ließ einen Treppenfahrstuhl in sein Privathaus einbauen, woraufhin die Behörde ihn aufforderte, einen Führerschein als Fahrstuhlftihrer zu machen. Um auch einmal in den Ministerien die Wege aufzuzeigen oder überhaupt in der öffentlichen Verwaltung, möchte ich einen Vorgang am Beispiel einer neuen Schule darlegen. Er gibt zunächst einen Sachaufwandsträger, der eine Schule bauen oder umbauen möchte. Er setzt sich deshalb mit dem Oberschulamt in Verbindung. Das Oberschulamt schaltet einen technischen Berater ein, der wiederum Rücksprache mit dem Sachaufwandsträger hält. Danach geht der Vorgang an die Rechtaufsichtsbehörde, die ihre Stellungnahme an das Oberschulamt abgibt. Das Kultusminsterium sowie diverse andere Ministerien werden ebenfalls involviert bis letztendlich das Plazet zurück zum Oberschulamt und zum Sachaufwandsträger geht, bis der Bau begonnen werden kann. In all diesen Ämtern, Behörden und Ministerien sitzen Menschen, die für ihre Arbeit durch Steuermittel bezahlt werden, ohne daß eine Prüfung stattfmdet, ob diese Verfahrensweise effIzient ist, d. h. ob jeder Mensch, der diesen Vorgang bearbeitet, auch eine Wertschöpfung für den Sachverhalt bringt. Wie ist diese Situation zu ändern? Einerseits ist es erforderlich, daß bestehende Seilschaften zersetzt werden, da sie Transparenz vermeiden. Andererseits müßte eine Verantwortungszentralisierung stattfmden, d. h. wer die Entscheidung trifft, muß auch dafür zahlen. Bisher gibt es Standardhersteller, Standarddurchsetzer und Standardanwender. Alle behaupten für die Standards / Normen die Kosten zu tragen. Wie ist die Situation in anderen Ländern? Obwohl es im Ausland ähnliche Haftungsregeln gibt, gibt es dennoch keine vergleichbaren Standardkuriositäten wie z.B. die vorgenannten. Die Menschen in anderen Ländern scheinen einen geringeren Standard zu akzeptieren. So gibt es z. B. lediglich einen Seitenstreifen statt Leitplanken wenn man durch die Alpen nach Italien fährt. Alle akzeptieren dieses. Gleiches gilt beispielsweise wenn in Florenz, Siena oder wo auch immer Randsteine oder Kopfsteinpflastersteine fehlen. Wenn in Italien, in Spanien oder Portugal Grabsteine wakkeIn, so würde keiner behaupten, daß diese einmal jährlich mit einer gewissen Pondzahl auf ihre Festigkeit hin zu prüfen sind. Das Lebensrisiko im Ausland wird eben anders eingeschätzt, und dieses gilt nicht nur für die Einheimischen, sondern auch die deutschen Touristen akzeptieren dieses, denn schließlich gehört eine gewisse "Nachlässigkeit" zum Süden. Wer über einen herausstehenden Kopfsteinpflasterstein stolpert, sagt sich,

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"da hab' ich wohl nicht aufgepaßt", anstatt wie in Deutschland gleich zu einem Gericht zu laufen und zu klagen. Dieses führt dazu, daß sich die Standardschraube in Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen Ländern nach oben dreht anstatt ihr Niveau zu halten. Wie können Standards reduziert werden? Zunächst ist eine Transparenzerhöhung zwingend erforderlich, d. h. der Nichtanwender von Standards muß die Sicherheit erhalten, daß er nicht im Schadensfall haftbar zu machen ist. In Bietigheim-Bissingen wurde hierzu ein Versuch gestartet. Dort sollte ein Kindergarten, der ursprünglich mit 1,4 Mio. DM veranschlagt war, mit Standardreduzierung auf das erforderliche Maß gebaut werden. Die GUV und Facharchitekten konnten durch ihren Erfahrungsaustausch diesen Kindergarten mit nur einem Drittel der veranschlagten Bausumme realisieren. Was ist vor diesem Hintergrund zu tun? Nachfolgend finden Sie ein Drei-Ebenen-Modell. Es gibt drei StandardBeteiligte: 1. den Standardsetzer 2. den Standardadressaten 3. den Standardanwender. Sie alle sollen sich mit der Frage "Warum?" auseinandersetzen. Der Standardadressat, der von dieser Norm betroffen ist, sollte sich fragen: "Warum muß ich beim Bau eines Hauses eine bestimmte Norm erfüllen?" Der Standardanwender der Baubehörde muß sich entsprechend fragen: "Warum muß der Adressat diese Norm anwenden und was bringt sie?" Häuser billiger zu bauen, ist mittlerweile schon ein Thema. Dieses ist jedoch nur durch den Abbau von Baustandards möglich. Hierzu wäre ein ganzer Maßnahmenkatalog erforderlich. Zunächst müßte eine Art Standardpranger geschaffen werden, der die Standardkuriositäten an die Öffentlichkeit bringt. Um das Interesse der Öffentlichkeit, der Bürger, zu forcieren, könnte der kurioseste Standardklopfer regelmäßig prämiert werden. Ferner sollte ein Standard für Standards geschaffen werden, um die Bürokratie drastisch zu reduzieren. Darüber hinaus sollte ein Kostenfolgennachweis bzw. ein Regelungsbedarfnachweis gefordert werden. Standard-Controlling und Nichtanwendungserlasse sowie der Einfluß auf die Regelsetzer sind weitere Erfordernisse zum Abbau von Standards. Nur durch diese diversen Maßnahmen lassen sich nicht nur die Standards, sondern auch die durch Standards entstehenden Kosten auf ein sinnvolles Maß reduzieren.

Diskussion zu dem Vortrag von Peter Jakobs-Woltering

Luczak-Schwarz: In Baden-Württemberg wurde mit großer Euphorie die Kindergartenrichtlinie aufgehoben. Was ist passiert? Im Landtag wurde beschlossen, daß das Sozialministerium im Wege der Rechtsaufsicht Sorge dafiir zu tragen hat, daß die Qualitätsstandards in den Kindergärten sich nicht verschlechtern dürfen. Folge war, daß das Landesjugendamt, welches die Betriebsgenehmigung fiir die Kindergärten erteilt, eine interne Handlungsrichtlinie erlassen hat, in die genau die Anforderungen der Kindergartenrichtlinie wieder aufgenommen wurden. So werden über die Hintertür Standards wieder eingefiihrt. Was in der Praxis interessiert ist die Frage: Wie zerschlagen wir die Seilschaften? Dieses Problem zieht sich durch alle Ebenen: von den Unfallverhütungsvorschriften bis hin zu den Verkehrssicherungspflichten. Hufen: Herr Gerhardt meinte eben, was die moderne Fachplanung angehe, seien wir zum absolutistischen "Dulde und liquidiere" zurückgekehrt. Was die Transparenz und Legitimität der Standards angehe, sind wir immerhin bis zur Feudalgesellschaft bzw. zum Korporatismus des 19. Jahrhunderts vorgedrungen. In beiden Fällen geht es um Transparenz und um Verfahren. Machen Sie sich bitte deutlich, daß die Industriestandards irgendwo entstehen und formuliert werden, und zwar unter Beteiligung der betroffenen Industriekreise. Aus der Sicht der Verfahren herrscht hier nicht nur Intransparenz, es stellen sich auch vielfältige Probleme der Legitimität, weil diese Standards eben nicht nur fiir die Beteiligten selbst gelten, sondern allgemeine Rechtswirkungen erzeugen. Deshalb heißt es wohl nicht, den Verfassungsgedanken mit Gewalt in jedes Thema hineinzubringen, wenn ich sage, daß man die Verfahren des Entstehens und die Geltung der Standards transparenter gestalten muß. Ein ähnliches Problem haben wir im Kassenarztrecht, wo Herr Wimmer und ich einen gemeinsamen Kampf im Hinblick auf die vollkommen intransparenten und von kleinen Seilschaften der Kassenärztlichen Vereinigung ausgearbeiteten sog. Normverträge kämpfen. Dagegen ist das Feld der anderen Standards geradezu Gold. Aber auch im Lebensmittelrecht und im allgemeinen Produktsicherheitsrecht sind Maßstäbe und DIN-Normen zu beachten, und hier haben sie sogar eine wichtige Funktion, denn sie halten über die Grenzen hinweg fest, was im europäischen Binnenmarkt verkehrsfähig ist. Dieser Binnenmarkt würde ohne Standards nicht funk-

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Diskussion

tionieren. Das Problem bleibt trotzdem: Wie entstehen solche Standards? Dieses Problem geht heute bereits bis auf die WTO-Ebene hinaus. Dort werden internationale Standards formuliert; die demokratische Legitimation ist aber geradezu homöopathisch verdünnt. Es geht also in beiden Fällen um Legitimation durch Verfahren. Und das ist ein Thema, das wir nicht einfach beiseite schiebenkönnen. Bull: Das ist sehr treffend von Herrn Hufen charakterisiert, aber die Konsequenz daraus muß nicht sein, daß man die Standards pauschal oder einzeln verdammt, sondern daß man sich fragt: Warum werden sie immer wieder geschaffen, warum leben sie immer wieder auf? Es besteht doch offensichtlich ein enormes Bedürfnis nach solchen Normierungen. Standards sind ja Normen. Und wenn im Stuttgarter Landtag darüber gesprochen worden ist, dann haben die Konsequenzen aus der Erkenntnis dieses Umstandes gezogen und sich mit Recht gefragt: Ist die Regelung zu intransparent oder ist es von der Verwaltung falsch gehandhabt? Eigentlich müßte man jetzt schlußfolgern, daß möglichst viele Standards in den Landtagen und im Bundestag oder im Europäischen Parlament diskutiert werden, damit die Interessengegensätze, die sich in den Produkten, Richtlinien, Normen niederschlagen, offengelegt werden, daß sie gegeneinander abgewogen werden können, daß entschieden wird und zwar politisch. Und Herr Jakobs-Woltering hat mit Recht darauf hingewiesen, daß die Ursache, die tiefere Ursache für die Flut von Standards nicht oder nicht nur darin liegt, daß die Verwaltung ein großes Sicherungsbedürfnis hat, sondern ganz wesentlich in dem Sicherungsbedürfnis und den Ansprüchen der Gesellschaft selbst. Ich habe in Schleswig-Holstein versucht, kostengünstiges Wohnen voranzubringen; da hat sich eben genau das erwiesen: Im Blick nach Dänemark oder in die Niederlande erkennt man, daß sehr viel günstiger gebaut werden kann, aber solche Vorschläge, solche Anregungen werden bei uns sehr wenig aufgegriffen. Die Leute wollen nicht die steilen Treppen, die in den Niederlanden zulässig sind, sie wollen als Norm die Unterkellerung, sie wollen nicht sehr einfache Ausstattungen akzeptieren, auch nicht im sozialen Wohnungsbau. Von daher wird immer wieder die Schraube hochgeschraubt werden; die Anforderungen werden immer höher werden, selbst wenn man sie für einige Zeit einmal zu Fall gebracht hat. Es stehen sehr mächtige, sehr stark verwurzelte Wünsche, Kräfte, Interessen hinter solchen Normierungen, und es ist fraglich, ob man sie mit technokratischen Maßnahmen bekämpfen kann. Vordergründige Maßnahmen wie Befristung oder pauschale Abschaffung werden nicht viel ändern. Bewußtseinsprozesse anstoßen, das war auch Ihr Appell und das kann sicher auch teilweise auf die Weise geschehen, wie Sie es skizziert haben, Herr Jakobs-Woltering. Aber man muß sehen, daß das eine überaus schwierige Aufgabe ist und wohl immer nur Teilerfolge erreicht werden können.

Diskussion

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Jakobs-Woltering: Das Entscheidende ist Transparenz. Diese Transparenzregelung muß so weit gehen, daß der einzelne, der belastet wird, immer fragen muß: Warum immer ich? Krause: Daß Standards im internationalen Austausch nötig sind, dariiber sind wir uns alle einig. Der zweite Punkt: Wir müssen uns auch fragen, welche Standards sind unnötig. Ein Geländer, das 80 cm hoch ist, über das 50 Jahre lang niemand dariiber gefallen ist, muß nicht automatisch 90 cm hoch sein, nur weil irgendwann einer das in eine DIN-Norm geschrieben hat. Das Problem haben wir im Osten jetzt massiv. Aber, und jetzt komme ich zum dritten Punkt: Standards sind ein sehr erwünschter Wirtschaftsfaktor. Es ist doch einfach genial, wenn jemand feststellt, daß in Bleirohren irgendwelche Dinge sind, die man nicht gebrauchen könne für seine Gesundheit. Was soll denn so ein armer Klempner machen, dessen Urgroßvater in irgendein Haus ein Bleirohr eingebaut hat: Der Sohn hat nichts mehr zu tun, also sagt er, wir müssen etwas erfmden. Jetzt nehmen wir Kupferrohre. Anschließend aber stellt man fest, Kupfer ist auch im Trinkwasser. Dann kommt die nächste Firma und sagt: Da habe ich ein tolles Rezept dagegen. Das muß man ein bißchen mit Phosphor impfen. Alle machen mit, jeder hat seinen Anteil. Das ist ein enormer Wirtschaftsfaktor. Nur: Die Zweckmäßigkeitsfrage ist wichtig, und ich glaube, es muß auch eine Grenze gezogen werden. Wenn jemand so genial ist, das private Geld zu mobilisieren durch neue Dinge, mag das ja noch angehen. Aber wenn es dann um die Steuergeider geht, dann muß man wirklich harte Grenzen ziehen. Hier muß man noch tiefer eindringen in die Problematik und sagen: Was ist wirklich wichtig, was ist entbehrlich oder schädlich für die Steuerzahler, und wo ist es halt ein Wirtschaftsfaktor? Meyer: Ich möchte einmal eine Lanze für Standards brechen, denn ich fmde, daß Standards in Deutschland auch Ausdruck unserer Zivilisation und unserer technologischen Entwicklung sind. Ich weiß aus praktischer Erfahrung, wie moderne zukunftsfähige Technologien scheitern können, weil wegen zu niedriger Standards anderswo solche Technologien z.B. nicht wettbewerbsfähig sind. Es ist unbestritten, daß es überflüssige Standards gibt. Aber ich kenne keine Instrumente und Verfahren, mit denen man differenzieren kann zwischen Standards, die wir haben müssen und solchen, die wir nicht mehr brauchen. Jakobs-Woltering: Zweifelsohne ist das richtig: Nicht alle Standards sind schlecht. Aber es ist nicht mehr das Geld dafür da, um das alles zu bezahlen. Und damit muß man einfach die Standards stärker hinterfragen. 9 Speyer 132

Die Veränderung von Handlungsspielräumen durch kommunales Kontraktmanagement Von Gunnar Robert Schwarting

I. Ein Blick auf die Themen, die im Rahmen dieses Forums bereits erörtert wurden, stimmt nachdenklich, ob und ggf. welche Handlungsspielräume in einer durch Gesetz, Jurisprudenz oder technische Standards geprägten Umwelt aus kommunaler Sicht überhaupt präsentiert werden können. Denn in der Tat scheitern viele Ideen vor Ort an externen Hemmnissen, fiir deren Überwindung - zumindest partiell- dieses Forum gute und, hoffentlich, auch an der richtigen Stelle angekommene Vorschläge geboten hat. Gleichwohl wäre es unredlich, auf kommunaler Seite lediglich die Standards Dritter zu beklagen, ohne zu überprüfen, welche "hausgemachten" Fesseln existieren. Bei genauer Betrachtung läßt sich feststellen, daß in den Städten, Gemeinden und Kreisen selbst vielfältige Vorgaben - wie Dienstanweisungen, politische Einzelentscheidungen u.a.m. - bestehen, die ebenso wie andere Standardsetzungen auch auf den Prüfstand gehören. Dies gilt um so mehr, als es sich dabei in aller Regel nicht um allgemeingültige Regelungen handelt; jede Kommune hat ihre spezifischen Eigenheiten entwickelt. Allein der Vergleich untereinander vermag daher manche überraschende Möglichkeit zutage fordern, Freiräume zu erweitern. An die Stelle fixierter Regeln oder unkoordinierter Eingriffe soll mit dem Kontraktrnanagement ein neues Instrument in die kommunale Praxis treten. Der Begriff des Kontraktrnanagements hat allerdings in der kommunalen Praxis zunächst einige Verwirrung gestiftet. Zwischen dem Grundsatz des rechtmäßigen Handelns auf der einen und dem Primat der Politik auf der anderen Seite schien das Kontraktrnanagement zunächst keinen Platz zu fmden. Nicht selten war daher die Meinung zu hören, Verwaltungshandeln könne doch nicht beliebig dem Ergebnis eines Verhandlungsprozesses unterworfen werden. Dies zeigt, wie problematisch - nicht nur in diesem Punkt - manche Begriffswahl im Rahmen des Neuen Steuerungsmodells ist. Hinzu kommt, daß es an einer eindeutigen Begriffsbestimmung fiir das Kontraktrnanagement fehlte, insofern durchaus unterschiedliche Sachverhalte 9*

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Gunnar Robert Schwarting

mit dem Begriff verknüpft wurden. An dieser Stelle sollen jedoch nicht alle Facetten der Begriffsbildung nachgezeichnet werden. Kontraktmanagement wird vielmehr im folgenden definiert als praktische Ausformung einer Steuerung kommunaler Aktivitäten durch Zielvorgaben. Was zunächst sehr abstrakt klingt, läßt sich mittlerweile in der Realität gut beobachten. Auf vielen größeren Bahnhöfen hat die Deutsche Bahn ihre Pünktlichkeitsanzeige installiert, die nichts anderes darstellt als einen - der Kundschaft präsentierten - Zielerreichungsgrad, der selbstverständlich nahe 100% liegen soll. Ziele und Zielvorgaben sind aber auch der kommunalen Praxis nicht fremd. So steht rur die Stadtentwicklung der Flächennutzungsplan, ergänzt um Verkehrs-, Grünordnungs- oder Wohnbedarfspläne. Typische Fachziele sind z.B. in Schulentwicklungs-, Kindergartenbedarfs- oder Abfallwirtschaftsplänen enthalten. Dementsprechend beschreiben die Platzversorgung in Kindergärten oder der Bestand an Pflegeplätzen in Relation zur Bevölkerung einer bestimmten Altersgruppe typische Zielerreichungsgrade. Aber auch das Investitionsprogramm bietet - bei konsequenter Nutzung die Möglichkeit, Prioritäten im Hinblick auf die Realisierung einzelner Ziele bei knappen Ressourcen zu definieren. Finanzziele schließlich sind nicht nur dem Haushaltsplan, sondern auch der mittelfristigen Finanzplanung zu entnehmen. Allerdings stehen die in den jeweiligen Plänen z.T. ausdrücklich formulierten, z.T. auch nur indirekt erkennbaren Ziele oft isoliert nebeneinander. Ob und inwieweit sie miteinander kompatibel sind, bleibt zumindest fraglich.

11. Zielvereinbarungen enthalten - dies wird nicht selten übersehen - zwei Seiten: Die Ziele sind zum einen sachbezogen, d.h. sie erfassen Leistungen, die mit dem Einsatz kommunaler Ressourcen erreicht werden sollen. Auf der anderen Seite stehen Finanzziele, die vor allem aus dem Postulat des Haushaltsausgleichs bzw. Konsolidierungserfordernissen abgeleitet sind. Sie defmieren den fmanziellen Rahmen rur die konkrete Ausgestaltung der Leistungsziele auf der anderen Seite. Beide sind naturgemäß nicht voneinander unabhängig, denn bei gegebenen fmanziellen Ressourcen - das ist die typische Vorgabe in der Praxis - ist nicht jedes beliebige Leistungsvolumen realisierbar. Diese Wechselwirkung wird jedoch noch immer nicht mit der notwendigen Deutlichkeit hervorgehoben. Das mag u.a. damit zusammenhängen, daß es in der Praxis an den hierftir erforderlichen Informationen und Instrumenten fehlt. Während für Finanzziele vergleichsweise leicht handhabbare Größen gefunden werden können, lassen sich Leistungsziele nicht ohne weiteres bestimmen. Dies ist u.a. deshalb schwierig, weil

Handlungsspielräume und kommunales Kontraktmanagement

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kommunale Aktivitäten, anders als die Aufgabenfelder privater Unternehmen, außerordentlich differenziert sind, die Vergleichbarkeit und Kompatibilität von Zielen mithin besonders schwer zu erreichen ist,



kommunales Handeln nur in begrenztem Umfang selbst bestimmt ist, im übrigen aber gesetzlichen und anderen externen Vorgaben unterliegt,



konsensfähige Ziele auf einer sehr abstrakten Ebene ("Förderung der Stadtentwicklung") noch vergleichsweise einfach, in der für die jeweilige Fachebene notwendigen operationalen Form indes viel schwieriger sind,



operationale Zielvereinbarungen - unabhängig von ihrer Konsensfähigkeit die Definition von Leistungen voraussetzen, deren Erfüllungsgrad Inhalt der Vereinbarung sein kann, kommunale Aktivitäten jedoch bisher nicht leistungsbezogen dargestellt werden.

Im weiteren ist an einigen Beispielen zu zeigen, wie sich die kommunale Praxis behilft, trotz dieser Probleme Zielformulierungen zu finden. Dabei ist ein Blick in den privaten Sektor durchaus hilfreich, denn - anders als oft dargestellt - konzentrieren sich Unternehmen keineswegs ausschließlich auf monetäre, insb. Gewinnziele. Die Qualitätskontrolle liefert Beispiele für weitere Zielvorgaben - nichts anderes ist im übrigen die Pünktlichkeitsanzeige der Bahn. Der Begriff des Kontraktes setzt im Grunde zwei gleichberechtigte Partner voraus. Dies kann es im Verhältnis von Rat und Verwaltung nicht geben, da letztlich der Ratsbeschluß maßgeblich ist. Die Tatsache, daß Zielvereinbarungen erst durch eine Ratsentscheidung verbindlich werden, steht dem Gedanken des Kontraktrnanagements im Neuen Steuerungsmodell jedoch nicht entgegen. Solange der Beschluß am Ende eines kooperativen Beratungsprozesses zwischen Rat und Verwaltung steht, darf ein gemeinsam getragener Kontrakt unterstellt werden. Dies gilt vor allem im Hinblick darauf, daß Ratsentscheidungen wiederum der verwaltungsmässigen Vorbereitung bedürfen. Würde hingegen die Zielvereinbarung als förmliche Anweisung des Rates an die Verwaltung verstanden, wären wichtige Grundprinzipien des Neuen Steuerungsmodells verletzt. Das Neue Steuerungsmodell setzt insoweit Kooperationsbereitschaft und gegenseitiges Vertrauen der Beteiligten voraus. Ganz ähnlich stellt sich die Situation im übrigen auch bei verwaltungsinternen Kontrakten, innerhalb eines ja nach wie vor hierarchisch strukturierten Systems, dar. Dabei wäre es ein Mißverständnis anzunehmen, Kontrakte würden Führung ersetzen. Steuerung ist ein wesentliches Führungsinstrument; das Kontraktrnanagement soll also Führung unterstützen. Insoweit kann es auch keine Kontrakte bis auf den einzelnen Mitarbeiter geben. Sie bleiben auf die Führungsfunktionen begrenzt. Der Planungshorizont erstreckt sich in der Praxis dabei bisher im wesentlichen auf das Haushaltsjahr; dies ist für verschiedene kommunale Leistungen - z.B. im Bereich der Kultur - sehr knapp bemessen. Aus fachlicher Sicht erscheint eine längerfristige Festschreibung der Zielvereinbarungen oft geboten,

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um entsprechend planen zu können. Deshalb wird im Einzelfall bereits durchaus erwogen, Zielvereinbarungen auf z.B. den Finanzplanungszeitraum auszudehnen. Wenn dennoch in nahezu allen Kommunen, die sich mit der Einführung des Neuen Steuerungsmodells befassen, zumindest für die Finanzziele das Haushaltsjahr zugrundegelegt wird, ist dies in erster Linie eine Folge der prekären kommunalen Finanzsituation, die eine verläßliche längerfristige Planung nicht zuläßt. Im übrigen soll gerade in der Anfangsphase des Neuen Steuerungsmodells eine zu starre Bindung vermieden werden, um ggf. erforderliche Korrekturen ohne größere Reibungsverluste vornehmen zu können. Im übrigen dürfte es derzeit noch schwerfallen - zumindest im Verhältnis von Politik und Verwaltung - eine längere Verbindlichkeit von Zielvorgaben zu erreichen und zu gewährleisten. Ein besonderes Problem ergibt sich allerdings, wenn externe Einflüsse die Gültigkeit von Zielvereinbarungen ganz kurzfristig in Frage stellen. Dies wird besonders deutlich bei den Finanzzielen. Ein unvermuteter Einbruch bei den Steuereinnahmen oder der unerwartete Anstieg unvermeidlicher Ausgaben, z.B. der Kreisurnlage, machen die einmal vereinbarten Finanzziele zwangsläufig hinfällig. Da jedes Einzelbudget aus dem Gesamtbudget abgeleitet ist, hat eine Verringerung des fmanziellen Spielraums der Kommune insgesamt auch Folgen für die der Fachebene zur Verfügung stehenden Mittel und damit im Ergebnis auch für die Zielvereinbarung auf der Leistungsebene. Aber auch die Leistungsziele unterliegen äußerem Einfluß. Werden z.B. durch die staatliche Gesetzgebung neue Aufgaben auf die Kommunen übertragen, erfahren die Leistungen der betreffenden Fachebene eine nachhaltige Veränderung; die Leistungsziele und - bei größerem Aufgabenvolumen - auch die Finanzziele sind entsprechend anzupassen. So hat die Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz - insb. bei Aufhebung der Stichtagsregelung - eine nachhaltige Korrektur der Leistungs- und Finanzziele im Bereich der Jugendverwaltung zur Folge. Eine besondere Form der Zielveränderung wird durch aktive Bürgerrnitwirkung ausgelöst. Das in vielen Bundesländern eingeführte Institut des Bürgerbegehrens / Bürgerentscheids (z.B. § 21 GO BW, § 8b GO HE, § 26 GO NW, § 17a Gema Rh-Pi) bietet, wenn auch in der Regel eingeschränkt, den Bürgerinnen und Bürgern jederzeit die Möglichkeit, eigene Ziele durchzusetzen, sofern die hierfür erforderlichen Mehrheiten erreicht und die sonstigen gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Die Zielvereinbarungen zwischen Rat und Verwaltung unterliegen insoweit dem Vorbehalt, daß sie nicht durch einen Bürgerentscheid korrigiert werden. Dies ist zwar in der Praxis selten der Fall, darf aber bei der Diskussion über Zielvereinbarungen im Neuen Steuerungsmodell nicht übersehen werden.

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III. Unter dem Titel des mir gestellten Themas ließe sich nun eine Fülle von Beispielen aus der Praxis subsumieren, wie tatsächlich oder potentiell Handlungsspielräume _. zur Verbesserung des kommunalen Leistungsangebots - genutzt werden können. Dabei wird sich auch zeigen, welche - oft einfachen Zielvorgaben eingesetzt werden können. Beispiel 1: Eines der größten Ärgernisse rur den Besucher einer Verwaltung (im übrigen z.B. auch eines Arztes) sind Wartezeiten. Daher geben sich einzelne Kommunen das Ziel vor, daß z.B. im Einwohnermeldeamt niemand länger als x Minuten warten soll, bis sein Anliegen bearbeitet wird. Dies setzt aber voraus, daß das Amt seine Arbeit an die Kundennachfrage anpassen kann. Dazu gehören z.B. abweichende Öffnungszeiten, flexibler Personaleinsatz und eine gezielte Information der Bürgerschaft. Mehrere Städte sind dementsprechend dazu übergegangen, längere Zeit vor Ablauf eines Ausweises per Postkarte an die Verlängerung zu erinnern, um so den Ansturm unmittelbar vor Ferienterminen zu entzerren. Auf den Einwand, eine solche Anpassungsstrategie an die Nachfrage sei nicht möglich, sei nur an die kürzlich in Mannheim gezeigte Ausstellung "Körperwelten" erinnert. Als der Besucherandrang unvermutet anschwoll, wurde sehr rasch mit Öffnungszeiten "rund um die Uhr" reagiert. Beispiel 2: Eine öffentliche Bücherei ist bestrebt, möglichst viele Nutzer zu gewinnen. Eine ganz typische Zielformulierung richtet sich auf die Umschlagshäufigkeit des Medienbestandes. In vielen Bibliotheken beträgt sie zwischen 1 und 2; es gibt aber auch Büchereien, die auf einen Wert von 6 kommen, deren Medienbestand also ganz intensiv genutzt wird. Um ein solches Ziel erreichen zu können, sind das Medienangebot und die Öffnungszeiten ganz wichtige Handlungsparameter. Es kann aber durchaus auch geboten sein, an Stelle einer verstärkten Aufstockung des Medienbestandes Mittel für die Schaffung einer angenehmen räumlichen Atmosphäre ("Schmökerecke") einzusetzen. Hierfür braucht die Leitung der Bücherei aber den notwendigen Handlungsspielraum Beispiel 3: Eine weitere Zielgröße kann auf die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger abstellen. Eine ganze Reihe von Kommunen erfragt daher in regelrnässigen Abständen in der Bürgerschaft die Beurteilung des Leistungsangebots der Kommune. Einen ganz typischen Fall zur Zufriedenheit liefert das Standesamt. Manche herkömmlichen standesamtlichen Trauungen sind trotz Blumen-

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strauß und netter Ansprache des Standesbeamten nicht gerade ein Augenblick, an den man sich ein Leben lang erinnert. Früher war dafür die anschließende kirchliche Trauung "zuständig". Angesichts gewandelter sozialer Verhältnisse gilt diese Arbeitsteilung nicht mehr, so daß in Städten die Trauung am Samstag, im Schloß, ja sogar im städtischen Weingut erwogen und praktiziert wird.

IV. Zweifel an den Fähigkeiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, mehr Verantwortung tragen zu können, sind durchweg unbegründet. Hierfür spricht nicht zuletzt das beträchtlich gestiegene Qualifikationsniveau der Verwaltungsausbildung. Auch an der Bereitschaft, zusätzliche Kompetenzen auszufüllen - entsprechende Einweisung und Fortbildung vorausgesetzt - fehlt es, wie die Praxis zeigt, durchweg nicht. Weit schwieriger jedoch erscheint die Veränderung der Verantwortungsstruktur auf der Seite derjenigen, die Kompetenzen abgeben sollen. Sie verzichten zunächst auf Einflußmöglichkeiten in der Sache, ohne die Sicherheit zu haben, im Gegenzug dafür Raum für andere, bisher nicht oder nicht ausreichend wahrgenommene Funktionen - insb. im Bereich der Steuerung und Planung - zu gewinnen. Dabei ist es durchaus nicht selbstverständlich, daß auf der Leitungsebene derzeit entsprechende Defizite empfunden werden. Das Bewußtsein, mehr Zeit für strategische Entscheidungen haben zu müssen, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Einführung des Neuen Steuerungsmodells. Denn nur dann besteht die Bereitschaft, die Verlagerung von Verantwortung in Erwägung zu ziehen Für das Verhältnis von Politik und Verwaltung wurde zunächst das "WasWie-Modell" entwickelt. Die Rolle des Rates konzentrierte sich nach den ursprünglich gängigen Empfehlungen darauf, die Ziele, das "Was", für die Verwaltungsarbeit vorzugeben. Das "Was" sollte seinen Niederschlag in den Zielvereinbarungen zwischen Politik und Verwaltung finden. Demgegenüber sollte danach der Verwaltung die Durchführung, das "Wie" der Aufgabenwahrnehmung obliegen. Das wäre die konsequente und stringente Verwirklichung eines Kontraktmanagements. Der Inhalt des Kontraktes wäre in dem Sinne das "Was", seine Ausfüllung dementsprechend das "Wie". In der Praxis erweist sich eine derart schematische Aufgabenverteilung zwischen Politik und Verwaltung indes als äußerst schwierig. Allein eine, auch nur für eine einzelne Kommune dauerhaft gültige Abgrenzung zwischen dem "Was" und dem "Wie" ist kaum möglich. Sie wird sich im Zeitablauf immer wieder ändern. Probleme, die üblicherweise der Aufgabenerledigung, und damit der Sphäre des "Wie" zugerechnet werden, können plötzlich eine so herausragende Bedeutung gewinnen, daß sie der Sphäre des "Was" zuzuordnen

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sind. So wird die Frage der Begriinung von Straßen im einzelnen durchweg der Verwaltung - z.B. auf der Basis eines Grundsatzbeschlusses des Rates - zugewiesen sein; gleichwohl kann trotzdem die Pflanzung oder der Erhalt von einzelnen Bäumen auf einem innerstädtischen Platz oder in der Fußgängerzone als strategische Entscheidung, mithin als "Was" empfunden und damit der Ratsentscheidung unterworfen werden. Doch selbst wenn in der Praxis eine entsprechende Zuordnung zwischen "Was" und "Wie" gelänge, wird es oft genug zu "Grenzübertretungen" kommen, d.h. strenggenommen wird die Verbindlichkeit des Kontrakts in Frage gestellt. Viele Ratsmitglieder sehen gerade in der Erörterung von Detailfragen, seien sie nun ortsteil- oder gruppenbezogen, ein besonderes Maß an Wählernähe. Dementsprechend haben sie den Eindruck, daraus ihre politische Legitimation abzuleiten. Dies gilt verstärkt in jenen Bundesländern, in denen Elemente der Persönlichkeitswahl, wie - z.B. in Baden-Württemberg, Bayern oder Rheinland-Pfalz - das Kumulieren und das Panaschieren, dominieren. Eine ausschließliche Beschränkung des Rates auf strategische Grundsatzentscheidungen wird daher keinesfalls kurzfristig, wahrscheinlich sogar überhaupt nicht in Betracht kommen. Für den Rat muß die Bereitschaft, zumindest teilweise und in Schritten Kompetenzen an die Verwaltung zu delegieren, insoweit mit der sicheren Erwartung verknüpft sein, daß die zielorientierte Steuerung die Entwicklung der Kommune fördert und zu einer - für den Bürger sichtbar - besseren Aufgabenwahmehmung führt. Ein bürgerfreundliches Rathaus, in dem kommunale Leistungen nah am Empfänger, rasch und effIzient bereitgestellt werden, sollte auch als Ergebnis kommunalpolitisch erfolgreicher Arbeit zu werten sein. Ob und inwieweit sich dies schließlich auch in entsprechend positiven Wahlergebnissen dokumentiert, muß Spekulation bleiben. Allerdings dürfte sich umgekehrt starres, bürokratisches Handeln der Verwaltung bei Wahlentscheidungen eher negativ auswirken. Dies gilt um so mehr, je besser die Bürgerinnen und Bürger über den Veränderungsprozeß in anderen Kommunen infonniert sind, insoweit also interkommunaler Wettbewerb besteht. In einem ähnlichen Zwiespalt zwischen persönlicher Einflußnahme und Bereitschaft zur Delegation befmdet sich auch die Verwaltungs führung, d.h. der Bürgenneister oder der Hauptverwaltungsbeamte. Zwar fehlt ihm in aller Regel die Zeit, strategische Planungen für die Kommune zu entwickeln, da er von den Anforderungen des Tagesgeschäfts nahezu völlig in Anspruch genommen wird. So befaßt er sich mit zahlreichen Einzelfragen, die durch Dritte - seien es Bürger, Ratsmitglieder oder Mitarbeiter - an ihn herangetragen werden. Die dezentrale Gesamtverantwortung auf der Fachebene im Neuen Steuerungsmodell soll ihn gerade hiervon entlasten. Er muß jedoch darauf vertrauen können, daß die von anderen übernommene Verantwortung sachgerecht ausgefüllt wird. Zugleich hat er dafür Sorge zu tra-

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gen, daß die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihn stets umfassend über ihre Tätigkeit infonnieren. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß ein einmal begonnener Veränderungsprozeß eine Eigendynamik entwickelt, die in die richtige Bahn gelenkt werden muß. Für die Verwaltungsführung ist es daher von entscheidender Bedeutung, daß sie diesen Prozeß hinreichend steuern und ggf. auch korrigieren kann. Wie die Bürgerinnen und Bürger, die besonders im Bürgermeister ihren Ansprechpartner sehen, diesen Rückzug aus dem Alltagsgeschäft bewerten, kann - gerade in den Bundesländern, die eine Direktwahl der Bürgermeister vorsehen - auf Grund der bisherigen Erfahrungen noch nicht beantwortet werden. Zwar wird auch dem Bürgermeister bürgernahes, effIzienteres Verwaltungshandeln positiv zugerechnet werden. Es wird indes nicht ausbleiben, daß ähnlich wie bei der Rolle des Rates - der Bürgermeister ebenfalls "GreßZÜbertretungen" vornimmt.

v. Eine Antwort auf die im Thema gestellte Frage ist mithin nicht einfach. Unbestreitbar gibt es auch auf der lokalen Ebene Handlungsspielräume, gerade in der Art der Aufgabenerfüllung, die durch ein gestuftes System der Delegation von Verantwortung durchaus noch intensiver genutzt werden können. Dabei läßt es sich jedoch kaum vermeiden, daß derartige Ansätze zunächst punktuell und möglicherweise auch nicht unter Bezug auf ein konsistentes Zielsystem verfolgt werden. Dies muß als schrittweise Annäherung an ein umfassendes und abgestimmtes Kontraktmanagement angesehen werden. Die größten Probleme scheinen zum einen unerwartete externe Einflüsse zu sein. Verläßlichkeit und Planbarkeit wären mithin wichtige - wie die Praxis zeigt, leider vergeblich eingeforderte - Voraussetzungen. Zum anderen muß die Bereitschaft in Politik und Verwaltungsführung, Handlungsspielräume zu gewähren, gestärkt werden. Das Kontraktmanagement oder - nach der hier gewählten Definition - die Steuerung durch Zielvorgaben hat gerade erst begonnen.

Zur Veränderung von Handlungsspielräumen durch Kontraktmanagement Von Hermann Hill Das Kontraktmanagement als Bestandteil des sog. Neuen Steuerungsmodells ist in der deutschen Verwaltung bisher noch wenig ausgeprägt. Dies liegt sowohl an Unsicherheiten über seine rechtliche Qualifikation als auch an den Eigenarten der überkommenen hierarchischen Verwaltungskultur. Der Beitrag beschäftigt sich mit der weiteren rechtlichen Durchdringung des inneradrninistrativen Kontraktmanagements. Seine rechtliche Einordnung wird durch den Zusammenhang zwischen sachzielorientierten und personalorientierten Elementen und seinen Charakter als Handlungsprozess bestimmt.

I. Kontraktmanagement als Antwort auf veränderte Handlungsanforderungen der Verwaltung Die traditionelle Dogmatik des öffentlichen Rechts ist noch sehr von ordnungsrechtlichen Vorstellungen bestimmt. Ein unter rechts staatlichen und demokratischen Aspekten geordnetes Staatshandeln ist dabei durch eine vom Parlament ausgehende ununterbrochene Legitimationskette gekennzeichnet, durch die die Verwaltung in konditionaler Weise programmiert wird. Dadurch werden Voraussetzungen und Grenzen ihres Handelns festgelegt, Handlungsspielräume, wie sie die Rechtsfiguren des Ermessens oder der Abwägung gewähren, sind allenfalls die Ausnahme. Allerdings ist auch anerkannt, dass die Verwaltung insgesamt über funktionsspezifische Besonderheiten verfügt, die ihr Handeln von dem der Gesetzgebung oder Rechtsprechung unterscheiden. Dazu gehören etwa ihre Organisation und Ausstattung, ihre ständige Handlungsbereitschaft, der situative Bezug ihres HandeIns, besondere Handlungstypen, aber auch der über rechtliche Aspekte hinausgehende Gesamtauftrag bei der Verwirklichung der Staatsziele und der Repräsentation des Staates vor Ort, der ihr auch die Verwirklichung

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von Wirtschaftlichkeit und Bürgerorientierung aufgibt.\ Diese eher faktischen Vorbehalte oder Spielräume waren indessen der Verwaltung als Ganzes zuerkannt, eine Differenzierung innerhalb des Verwaltungsbereichs fand dagegen nicht statt. Fraglich ist indes, ob dieses Verständnis noch der Rolle des Staates, dem Zusammenwirken der Staatsfunktionen sowie den handelnden Akteuren gerecht wird. Ein ordnungsrechtliches Denken, das dem Staat lediglich Grenzen fiir Eingriffe oder Ausgaben durch Gebote oder Verbote zieht, verhindert eine Optimierung staatlichen HandeIns. 2 In einer Gesellschaft, die auf Innovation und die Entfaltung von Potentialen angewiesen ist, verfehlt ein nur auf begrenzende und Ordnungsfunktionen ausgerichteter Staat seine Aufgabe der Förderung des Gemeinwohls und der Bürgerinteressen. Neben der Veränderung der Rolle des Staates insgesamt ist auch die Veränderung der Rolle der Verwaltung innerhalb der Staatsfunktionen zu beachten. Wenn die Verwaltung nach ihrer Funktion gesetzlichen Intentionen zu zeitgerechtem dauerhaftem Erfolg verhelfen soll, bleibt zu beachten, dass normative Gebote und Bindungen schon in sich verflochten und komplex, teilweise sogar widersprüchlich sind. Insbesondere treten aber zwischen Normenerlaß und Normenumsetzung immer häufiger dynamische Veränderungen der Sachverhalte ein. Auch die Anwendungsbedingungen der Vollzugsorgane und ihr Anwendungsumfeld ändern sich. 3

In diesem Umfeld werden direktive und konditionale Verhaltensnormen sowie Verhaltensanweisungen oder gar Allzeit-Regeln immer weniger brauchbar. Statt dessen gewinnen vorläufige, konzepthafte Programmierungen und Vereinbarungen sowie situative, prozesshafte und reflexive Handlungsformen an Bedeutung. 4 Die Rechtskonkretisierung entwickelt sich von der Subsumtion im Sinne der Anwendung eines antizipierten Konfliktlösungsmodells hin zu einer Abwägung 5 vorgegebener und aus dem Sachverhalt gewonnener Gesichtspunkte, bei der eine Annäherung an vorgegebene Zielvorstellungen und eine Optimierung der Mittel zu ihrer Erreichung gefordert sind. Die Komplexität des Problemhintergrundes sowie die Notwendigkeit einer aktuellen und interessengerechten Problemlösung stellen auch andere Anforde-

I Hili, in: Götz / Klein / Starck (Hrsg.), Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, 1985, S. 236. 2 Hili, DÖV 1987, 885 (890). 3 Hili, Zeitschrift für Gesetzgebung 1995, 82; ders., Zeitschrift für Gesetzgebung 1998,101. 4 Hili, in: Ellwein / Hesse (Hrsg.), Staatswissenschaften: Vergessene Disziplin oder neue Herausforderung?, 1990, S. 55 ff. S Leisner, Der Abwägungsstaat, 1997; Gassner, NJW 1998,119.

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rungen an die Akteure in der Verwaltung. Information und Qualiftkation sowie das Qualitätsbewußtsein der Rechtsanwender in der Verwaltung sind in den letzten Jahren immer weiter gestiegen. Ein verbesserter Informationszugang bei der Entscheidung stärkt dabei die dezentrale Funktion und die situative Handlungsorientierung gegenüber normativen und zentralen Vorgaben. Eine bessere Qualifikation sowie ein gestiegenes Qualitätsbewußtsein ruhren zu einer eigenständigeren und effektiveren Aufgabenerrullung. Wenn aber dem Grundgesetz auch ein Optimierungsgebot im Sinne einer bestmöglichen, d.h. zweck- und funktionsgerechten Errullung staatlicher Aufgaben inne wohnt, 6 so sind die in diesen Veränderungen liegenden Chancen rur effektuierendes Verwaltungshandeln zu nutzen. Kontraktmanagement ist eine Antwort auf diese Veränderungen.

11. Kontraktmanagement zur Effektuierung der Sachzielerfüllung Ein wesentliches Kennzeichen des sog. Neuen Steuerungsmodells ist die Ersetzung einer detaillierten, input-orientierten VerhaItenssteuerung durch eine zielorientierte Ergebnissteuerung. 7 Diese Steuerungsform wird im angelsächsischen, skandinavischen und niederländischen Sprachgebrauch mit Kontraktmanagement, im schweizerischen mit Führen durch Leistungsauftrag und im deutschen mit Zielvereinbarungen umschrieben. 8 Die rechtliche Würdigung dieser Zielvereinbarungen steckt erst noch in den Anfangen. 9 Dabei muß sicher auch nach der Art der Kontrakte und den jeweiligen Kontraktpartnem differenziert werden. So reicht nach der Kommunalen Gemeinschaftsstelle die Steuerung über Zielvereinbarungen vom produktorientierten Haushalt als Hauptkontrakt zwischen Rat / Kreistag und Verwaltung über den Fachbereichs- bzw. Amtskon-

6 Hill, Die politisch-demokratische Funktion der kommunalen Se1bstvelWaltung nach der Reform, 1987, S. 23. 7 Hill, in: Schmidt-Aßmann / Hoffmann-Riem (Hrsg.), VelWaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997, S. 65 (71). 8 ter Bogt / van Helden, in: Mix / HelWeijer (Hrsg.), 10 Jahre Tilburger Modell, 1996, S. 39 ff.; Oggier, in: Hablütze1 u. a. (Hrsg.), Umbruch in Politik und VelWaltung, 1995, S. 357 ff.; Biaggini, in: Land Salzburg (Hrsg.), Gesetzgebung und VelWaltungsmodernisierung, 1998, S. 27 ff.; Gerstiberge / Grimmer / Kneissler, VelWaltung und Management 1998, 282. 9 Hill, Schneider, Trute, HojJmann-Riem, in: Schmidt-Aßmann / Hoffmann-Riem (Fn. 7), S. 65 (83); 103 (128 ff.); 249 (278 ff.); 355 (386 ff.); Wallerath, DÖV 1997,57; Otting, VR 1997,361; Pünder, DÖV 1998,63.

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trakt bis zu den mit den Mitarbeitern in Zielvereinbarungsgesprächen vereinbarten Zielen. 1o Im schweizerischen Kanton Wallis werden Politikkontrakte zwischen Parlament und Regierung, Managementkontrakte zwischen zwischen Regierung und einzelnen Ministerien sowie Ausfiihrungskontrakte zwischen dem Ministerium und der einzelnen Dienststelle unterschieden. 11 Hinzu kommen Kontrakte zwischen verschiedenen Verwaltungen sowie mit Privaten. Nach einem Leitfaden rur den Abschluss von Zielvereinbarungen der Senatsverwaltung fiir Inneres des Landes Berlin 12 sind Zielvereinbarungen in eingehender Kooperation abgestimmte schriftlich formulierte Grundlagen fiir gezieltes Verwaltungshandeln. In Zielvereinbarungen sollen die zu erreichenden Leistungs- und Arbeitsergebnisse rur Steuerungszwecke präzisiert werden, mit gleichzeitiger Festlegung und Delegation der darur notwendigen Befugnisse und Ressourcen. Zielvereinbarungen sind danach inhaltlich mit den Adressaten abgestimmte, auf gegenseitiger Information beruhende Weisungen. Diese Zielvereinbarungen innerhalb einer Verwaltung möchte ich im Folgenden näher beleuchten. Sie dienen einerseits dazu, die Sachzielerfiillung zu effektuieren, andererseits die Potentiale der Mitarbeiter in Richtung der Zielverwirklichung zu aktivieren. Sie bezwecken, dass beide Partner sich auf die wesentlichen Arbeitsinhalte konzentrieren und diese im Hinblick auf vereinbarte Ergebnisse reflektieren. Durch die Verknüpfung von sachzielorientierten und personalorientierten Aspekten werden die Qualität und Produktivität der Verwaltungsleistung verbessert und die Interessen der Mitarbeiter in diese Qualitätssicherung einbezogen. \3 Die Steuerung durch Zielvereinbarung endet nicht mit der Vereinbarung, sondern beinhaltet einen regelmäßigen Kommunikationszwang, der Erfolgskontrollen und Nachsteuerungen einschließt. Vergleicht man daher die alte Steuerung mit der neuen, so lässt sich durch die zeitnahe Information über erfolgsorientierte Zielverwirklichungen und Verbesserungsmöglichkeiten eher ein Gewinn rur die Führung feststellen. Die Verhandlungen über Herstellungsund Ergebnisqualität sowie über zu erzielende und erreichte Wirkungen erlauben nicht nur einen tieferen Einstieg der Führung in die Sache, sondern auch eine verbesserte Nutzung und Verknüpfung der Vorstellungen der Führung mit dem Wissen und den Kompetenzen der Mitarbeiter. Dem verbesserten Wissen 10 KGSt (Hrsg.), Kontraktmanagement: Steuerung über Zielvereinbarungen, Bericht Nr.4/1998. 11 F. König, Erfahrungsbericht "Projekt der Neuen Staats- und Verwaltungsflihrung im Kanton Wallis", unveröff. Manuskript, Juni 1997. 12 Senatsverwaltung flir Inneres (Hrsg.), Leitfaden flir die Verwaltungsreform - Abschluss von Zielvereinbarungen, März 1997, S. 4. \3 Vgl. noch Pippke, Verwaltung und Management 1997,290; Schäfer, Die Verwaltung 1998, 241.

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der Führung entsprechen klare Erwartungen bei der Ausführung. Dies stärkt die Transparenz und wechselseitige Information. Wenn Führung und nachgeordnete Einheiten bzw. Mitarbeiter ihre Interessen abstimmen und zielorientiert ausrichten, so konstruiert dies gemeinsame Wirklichkeiten bei den Beteiligten sowie ein gemeinsames, gleichgerichtetes Erfüllungsinteresse. Wenn dabei auch das Rechtsprogramm bezogen auf die zu bearbeitenden Sachverhalte gemeinsam konkretisiert wird und Zielfelder, Schwerpunkte und Prioritäten der Aufgabenerfüllung sowie Kernprozesse und Schlüsselindikatoren 14 gemeinsam festgelegt werden, so grenzt dies eher den Handlungsspielraum der ausführenden Stelle beim Gesetzesvollzug ein als dass dieser ausgeweitet wird. Dies entspricht einem geführten und zielgeleiteten Handlungsermessen und erfordert eine ebensolche Rechenschaftslegung. Im Hinblick auf diesen verlängerten, fortwirkenden Einfluss der Führung werden im Verhältnis Parlament / Regierung teilweise schon Bedenken wegen Durchbrechung der Gewaltenteilung 1S oder im Verwaltungsbereich wegen Verwischung der Zuständigkeiten laut. Sicher verlangen Verantwortung und Rechenschaft für bestimmte Ergebnisse auch eine gewisse operationale Autonomie. Insofern ist eine Delegation von Verantwortung erforderlich, die die Art und Weise der Zielausführung betrifft und die Suche nach verbesserten alternativen Wegen der Zielerreichung beinhaltet. Sie wird gemeinhin durch die dezentrale Ressourcen- und Ergebnisverantwortung im Rahmen der neuen Steuerung gekennzeichnet. 16 Nach dem zitierten Leitfaden des Landes Berlin wird in Zielvereinbarungen das Maß der zu delegierenden Verantwortung - in konsequenter Ausrichtung auf die zu erreichenden Arbeitsergebnisse - festgelegt. Damit erfolgt die Verantwortungsdelegation nicht abstrakt, sondern nur soweit sie für das vereinbarte Ergebnis notwendig ist. Sie ist zudem gekoppelt mit einer vereinbarten Berichtspflicht als Kehrseite der Delegation. Durch die Zielvereinbarung wird damit auch eine oft in der bisherigen Praxis vermißte Verknüpfung von Leitbild und strategischen Zielen mit operationalen Erfordernissen erreicht. Sie stellt das Bindeglied zwischen Grundsatzentscheidungen und dem Arbeitsalltag dar. Zielvereinbarungen sind auf konkrete Ergebnisse ausgerichtet. Sie enthalten eine Verknüpfung von Leistungen und Finanzen, verbunden mit einer Aufgabenkritik. Dies dient in besonderer Weise dazu, die Erfüllung der Sachziele zu 14 Vgl. etwa KGSt (Hrsg.), Steuerung der Sozialhilfe, Bericht Nr. 11 / 1997, S. 19 ff.; sowie Hili, VOP 7 - 8 / 1998, 20 (21). 15 Mastronardi, in: Mastronardi / Schedler (Hrsg.), New Public Management in Staat und Recht, 1998, S. 47 (71 f.). 16 Zum "Managementfreiraum" bei der Bewirtschaftung des Budgets im Rahmen der Leistungsvereinbarung vgl. Amold, in: Schedler u. a. (Hrsg.), Wirkungsorientierte Verwaltungsflihrung bei der Polizei, 1998, S. 127 (135).

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effektuieren. Übergreifende, etwa rechts staatliche oder soziale Ziele sowie allgemeine Maßstäbe des Verwaltungshandelns müssen bei dieser konsequenten Ausrichtung auf Ergebnisse nicht verloren gehen, sondern können als Merkmale der Herstellungs- und Wirkungsqualität in die Zielvereinbarung einfließen. 17 Durch die konkrete Verabredung darüber, was wichtig und was weniger wichtig ist, erhält die Führung einen verbesserten Einfluss auf die Schwerpunkte der Aufgabenerfüllung. Durch die Bündelung und ganzheitliche Betrachtung von Arbeits- und Leistungsergebnissen nach Produkten und Produktgruppen erhalten alle Beteiligten einen guten Überblick und werden Zusammenhänge und Wechselwirkungen bei der Aufgabenerfüllung und Zielverfolgung erkennbar.

III. Kontraktmanagement als Aktivierung der Potentiale der Mitarbeiter Zielvereinbarungen kombinieren Aspekte der Effektuierung der Sachzielerfüllung mit personalorientierten Elementen, insbesondere Fragen der Personalentwicklung und Potentialaktivierung. 18 Sinnvollerweise sollten Zielvereinbarungen mit Mitarbeitergesprächen verknüpft werden. Diese haben u.a. die weitere QualifIkation der Mitarbeiter sowie die Beratung und Förderung durch den Vorgesetzten zum Inhalt. Zielvereinbarungen beziehen sich dabei auch auf kritische Arbeitsinhalte und Tätigkeitsmerkmale, 19 um persönliche Potentiale und Fähigkeiten zu erkennen und zu fördern. Auf diese Weise wird eine Verbindung von Verwaltungszielen und persönlichen Zielen der Mitarbeiter sowie eine Verpflichtung auf die gemeinsam vereinbarten Ziele erreicht. Die Information über die Vorstellungen des Vorgesetzten und die Beteiligung an der Diskussion über Zielinhalte und -verwirklichung fördern die QualifIkation und Motivation der Mitarbeiter. Wenn ihnen, etwa beim zweckentsprechenden Einsatz der Mittel, Eigenverantwortung eingeräumt und die Suche nach Verbesserungen durch Leistungsanreize angeregt wird, so dient dies der Aktivierung ihres Wissens und ihrer Kompetenzen. Die Entfaltung ihrer Kreativität und Innovation im Rahmen der vereinbarten Ziele wird gefördert und ihre IdentifIkation mit den angestrebten Ergebnissen gestärkt. Zielvereinbarungen enthalten damit gewissermaßen einen Auftrag zur Selbstoptimierung der eigenen Leistung der Mitarbeiter.

Vgl. schon Hili / Rembor, Die innovative Verwaltung 5 / 1995,42 (44). Mauch, in: Damkowski / Precht (Hrsg.), Public Management in der Praxis, 1998, S. 51 ff.; Malik, in: Bullinger / Warnecke (Hrsg.), Neue Organisationsfonnen im Unternehmen, 1996, S. 864 ff.; Knicker, Personal 1996, 462. 19 Oechsler, Personal und Arbeit, 6. Aufl 1997, S. 359. 17 18

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Überkommene beamtenrechtliche Regelungen erfahren dadurch eine Verstärkung und neue Interpretation. Schon bisher sind in den Beamtengesetzen Ansätze einer vertrauensvollen Zusammenarbeit enthalten. Diese werden durch Zielvereinbarungen noch weitergehend verwirklicht. Die Verpflichtung des Beamten, sich mit voller Hingabe seinem Beruf zu widmen (§ 36 BRRG), kann als Qualitäts- und Optimierungsgebot verstanden werden, seine Beratungs-, Unterstützungs- und Remonstrationspflicht gegenüber dem Vorgesetzten (§§ 37, 38 BRRG) ist Ausgangspunkt fUr eine kooperative Zielkonkretisierung und -umsetzung. Insgesamt ist diese Zusammenarbeit Ausdruck der Treuepflicht des Mitarbeiters und der Fürsorgepflicht des Vorgesetzten. Die Zielvereinbarungen konkretisieren dieses dienstrechtliche Verhältnis, indem sie die Arbeitsbeziehungen und -ergebnisse mit Blick auf die vereinbarten Ziele regeln. Die schriftliche Festlegung der Vereinbarung gibt dem Mitarbeiter dabei Sicherheit über die erwartete Leistung sowie über die Spielregeln der Zusammenarbeit und der Inanspruchnahme durch den Vorgesetzten. Die Gefahr, dass die Konzentration und Festschreibung der Ergebnisse zu einem statischen Kästchendenken und zu einer Beschränkung auf explizites und messbares Wissen fUhrt, ist nicht zu übersehen, ist aber bei klaren, einseitigen Weisungen mindestens ebenso gegeben. Diese Gefahr kann dadurch gemindert werden, dass ein gemeinsamer Ausgangspunkt nach Art einer Geschäftsgrundlage sowie Gründe, Motive und Abwägungsbelange fUr die Zielverwirklichung formuliert und eine regelmäßige aufgabenkritische Überprüfung vereinbart werden. Dies fUhrt zu einem notwendigen Hineindenken in das Umfeld der Arbeitsaufgabe und ihre Entwicklung. Ein wesentliches Kennzeichen des Kontraktmanagements liegt auch darin, dass Führungskräfte und Mitarbeiter oder verschiedene Organe nicht nur eine einmalige Vereinbarung abschließen, sondern dauerhaft zusammenarbeiten und dadurch regelmäßig wieder zusammenkommen. Damit ist das Verhältnis weniger einem Vertrag, sondern eher einem Dauerrechtsverhältnis oder einem Gesellschaftsvertrag vergleichbar, bei dem man darauf angewiesen ist, auch morgen noch vertrauensvoll zusammenarbeiten zu können. Die in dem Kontraktmanagement zum Ausdruck kommende Kooperationsfunktion gewinnt somit leitenden Charakter sowohl fUr die Vereinbarung als auch ftir die Analyse und Kontrolle ihrer ErfUllung. Das bedeutet, dass auch die Vereinbarung von Sanktionen und Folgen bei Nicht- oder Schlechterftillung nicht einseitig, sondern gemeinsam erfolgen muß. Dies geschieht am besten schon bei der erstmaligen Vereinbarung, gilt aber auch fUr spätere Folgenregelungen.

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IV. Kontraktmanagement als Handlungsprozess statt Handlungsform Eine Sichtweise, die Kontraktmanagement als einmalige Vereinbarung oder bloß als Handlungsform zwischen Vertrag und Weisung ansehen würde, würde der Komplexität dieses Managementansatzes nicht gerecht. Soweit Entscheidungsbefugnisse und Erfüllungsverantwortung delegiert werden, werden die dadurch eingeräumten Handlungsspielräume zugleich auf prozessuale Weise konkretisiert und entwickelt. Der Zielvereinbarung folgt die situative Ergebnisverwirklichung, dieser wiederum die Auswertung der Erkenntnisse in einem zu erstattenden Bericht. Mit weiteren Erläuterungen und Verbesserungsvorschlägen versehen dient dieser als Begründung und Rechtfertigung des eigenen HandeIns. Darauf folgt eine gemeinsame Folgendiskussion und Neukonzeption. Der eingeräumte Handlungsspielraum wird also durch einen Handlungsprozess und Entscheidungskreislauf ausgefüllt. Auch die Erfolgskontrolle, Rechtfertigung und Folgenvereinbarung sind immanenter Bestandteil dieser Konkretisierung. Gesetzesvollzug stellt sich damit als situative Konkretisierung, Rechtfertigung und Optimierung im Rahmen vorläufiger Ziele, vereinbarter Korridore und entscheidungs leitender Gesichtspunkte dar. Das Kontraktmanagement beinhaltet somit eine Einheit von Programm, Vollzug, Kontrolle und Verbesserung. Der regelmäßige Kommunikationszwang führt zu einem gemeinsamen Lernprozess, in den beide Partner ihr Wissen einbringen und Antizipation und Erfahrungslernen miteinander verbunden werden. Lernen wird damit zu einem wichtigen Attribut des kooperativen Verwaltungshandelns im Rahmen des Kontraktmanagements, das kontinuierliche Verbesserungsprozesse erforderlich macht. Sowohl eine ziel- und ergebnisorientierte Führung als auch eine eigenverantwortliche Wahrnehmung von Handlungsspielräumen im Rahmen vereinbarter Ziele bedürfen der Einübung. Experimentierspielräume und Fehlertoleranzen sind damit gerade in der Übungsphase erforderlich. Darüber hinaus bedarf es aber auch einer veränderten Fehlerkultur insgesamt. 2o Fehler können picht Anlass für einseitige Sanktionen sein, vielmehr müssen sie als Quelle von Produktivität und Anstoß für gemeinsam erkannte Verbesserungsmöglichkeiten genutzt werden. Auf diese Weise wird das Kontraktmanagement zu einem lernorientierten Handlungsprozess.

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Jungesblu / van Treeck, in: Grimmer / Stabik (Hrsg.), Staat und Verwaltung 2021,

1997, S. 41 ff.

Handlungsspielräume und kommunales Kontraktmanagement

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V.Kontraktmanagement als Herausforderung an die Rechtsdogmatik In den achtziger Jahren hat das kooperative Verwaltungshandeln im Außenverhältnis zwischen Verwaltung und Bürger die Rechtsdogmatik vor neue Herausforderungen gestellt. 21 Nunmehr geschieht Gleiches durch ausdifferenzierende Entwicklungen im Binnenbereich der Verwaltungsorganisation, die stärker informelle und kooperative sowie prozessuale Elemente anstelle eindeutiger und einseitiger Regelungen aufnehmen. Darin liegt sicher nicht ein eigensinniges Interesse einer entfesselten Verwaltung, sich weisungsfreie Räume zu schaffen, die jeglicher parlamentarischer oder gerichtlicher Steuerung, Legitimation und Kontrolle entbehrten. Demokratische Legitimation und rechtsstaatliehe Kontrolle entstehen nicht nur durch lineare Ableitung, sondern auch durch bilanzierende Bewertung des Zusammenwirkens verschiedener Legitimationsquellen und Kontrollmechanismen. 22 Die Anpassung des Verwaltungshandelns an veränderte Anforderungen innerhalb und außerhalb der Verwaltung fUhrt dabei sicher auch zu einer Veränderung von Handlungsspielräumen der ausfUhrenden Verwaltung. Diese werden in neuer Form vereinbart, ausgefUllt und gerechtfertigt. Das Zusammenwirken der Partner fUhrt dabei auch zu einer funktionsgerechten Neuaufteilung der Entscheidungsanteile. Dies liegt im Sinne der Effektuierung und Optimierung staatlichen Handelns und fUhrt zur Verbesserung von Qualität und Erfolg des Verwaltungshandelns. Die Rechtsdogmatik muß fiir diesen Managementansatz neue Bewertungsund Kontrollmuster entwickeln, die eher bilanzierend und prozessual ansetzen und dem kooperativen Charakter dieses Ansatzes gerecht werden. Die isolierte Frage nach der Rechtsverbindlichkeit des Kontraktes verstellt den Blick auf die Vorteile der Delegation und Zusammenarbeit. Was kooperativ vereinbart wurde, bedarf auch einer kooperativen Fehlerfolgenregelung. Die neue Form der Zusammenarbeit erfordert nicht weniger, sondern mehr Arbeit, mehr Kommunikation und mehr Verantwortung auf beiden Seiten. Die gemeinsame Verantwortung fUhrt nicht zu einer Freizeichnung der Führung, sondern zu einer gemeinsamen Verantwortung mit besonderen Verantwortungsschwerpunkten. 23 Auch soweit Handlungsspielräume vereinbart werden, bestehen sie nur im Binnenverhältnis der Partner der Vereinbarung. Nach dem Leitfaden des Lan21 Bulling, DÖV 1989,277; Hili, Verwaltungshandeln durch Verträge und Abspraehen, 1990. 22 Hili, Zeitschrift für Gesetzgebung 1998, 101 (107); ausführlich Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 80 (92). 23 Hili, Zeitschrift für Gesetzgebung 1998, 101 (108).

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Hermann Hili

des Berlin werden durch Zielvereinbarungen die zu erreichenden Leistungsund Arbeitsergebnisse für Steuerungszwecke präzisiert. Es handelt sich damit um eine Ausführungs- und Erfüllungsvereinbarung mit arbeitsanweisendem bzw. arbeitsausrichtendem Charakter. Obwohl Dritte davon unmittelbar nicht betroffen werden, kann es indes, wie die Entwicklung der Rechtsdogmatik der Verwaltungsvorschriften für verhaltenssteuernde Vorgaben zeigt, erst recht bei ergebnisorientierten Vereinbarungen einen Bedarf geben, diese aus der verwaltungsinternen Ebene herauszuheben und ihnen auch verwaltungsexterne Berücksichtigung zuzumessen. 24 Dies kann etwa der Fall sein, soweit ergebnisorientierte Zielvereinbarungen ausgestaltende Wirkung im Hinblick auf Bürgeransprüche entfalten und entsprechende Produktkataloge und Kennzahlen veröffentlicht werden. Allerdings wird eine auf subjektiven Ansprüchen beruhende, eventuelle gerichtliche Kontrolle von inneradministrativen, aber außenrechtsrelevanten Zielvereinbarungen wohl auch nur in Form einer Gesamtbewertung des Konkretisierungsprozesses und -ergebnisses mit absoluten und relativen Elementen nach Art einer Ermessens- oder Abwägungskontrolle stattfinden können, um willkürliche Konkretisierungen bei der Verwirklichung von Bürgeransprüchen auszuschließen. Handlungsspielräume nach außen gegenüber dem Parlament oder dem Bürger können durch Kontraktrnanagement innerhalb der Verwaltungsorganisation jedenfalls nicht erweitert werden.

24

Hoffmann-Riem, (Fn. 7), S. 355 (387).

Diskussion zu den Vorträgen von Gunnar Robert Schwarting und Herrmann Hili

Hagen: Für mich sind Ihre Ausführungen, Herr Hili, zwar sicher von bestem Willen getragen, aber weit entfernt von jeglicher Praxis. Wenn ich mir das so bei Ihnen anhöre, wir wären eigentlich nur noch damit beschäftigt, Kontrakte zu machen, wir kämen zur wirklichen Arbeit nicht mehr. Darüber hinaus möchte ich auch noch sachliche Probleme aufzeigen. Man muß genau trennen zwischen freiwilligen Aufgaben und Pflichtaufgaben, zwischen Leistungsverwaltung und hoheitlicher Verwaltung. Ich kann nie richtig wissen, was auf mich zukommt. Ich kann in einem Jahr drei immissionsschutzrechtliche Großverfahren haben, mit Bürgerinitiativen und Gegendemonstrationen, und im nächsten Jahr nur unstrittige kleine Projekte, wo ich die Arbeitskapazität dann flexibel auf Überwachung und Nachrüstung von Altanlagen umsteuern muß. Was nützt mir da eine Zielvereinbarung? Im Umweltbereich haben wir die Pflicht, für die Allgemeinheit zu wirken. Was wir machen müssen, sagen uns die Gesetze. Allenfalls die Frage, wie wir etwas machen können, kann noch Gegenstand von Kontrakten sein. Wenn wir hier Budgetierung einführen und sparen sollen, dann kommen die Spareffekte daraus, daß wir weniger das Allgemeinwohl schützen, weniger die Inanspruchnahme von Umwelt verfolgen oder leichter zustimmen, weniger streiten. Damit erfolgt ganz klar eine Verschlechterung des Schutzzwecks des Gesetzes. Hill:

Sie haben durchaus zutreffend die alte, überkommene Praxis beschrieben, die sehr stark hierarchisch, durch Befehl und Anweisungen, geprägt ist. Das neue System muß von beiden Seiten erst erlernt werden, sowohl von den Mitarbeitern, denen bisher kaum die Möglichkeit eingeräumt wurde, eigenverantwortlich Aufgaben zu erfüllen, als auch von den Vorgesetzten, die auf eine Führung durch Zielvereinbarungen nicht vorbereitet wurden. Ich denke aber, daß dieser Lemprozeß zu bewältigen ist, zumal es auch gerade in den Bereichen, die Sie genannt haben - Eingriffsverwaltung oder Pflichtaufgaben -, schon immer vergleichbare Ansätze gab. So hat es nur den Anschein, als kenne das Polizeirecht als klassische Eingriffsverwaltung keine Handlungsspielräume. Vielmehr ist gerade im Polizeirecht die Errnessensent-

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scheidung typisch, so bei der Frage, welcher Störer mit welchen Mitteln in Anspruch genommen wird. Auch gibt es bei der Entscheidung, welche Rechtsverstöße eine Verwaltung verfolgt, ein Vollzugsermessen und damit eine Schwerpunktsetzung beim Einsatz von Kapazitäten. Diese schon aus Gründen der Praktikabilität anerkannten Spielräume bedurften immer einer Konkretisierung, von daher handelt es sich nicht um eine neue Entwicklung. Neu hingegen ist die explizite Führung durch Zielvereinbarungen beispielsweise im Bereich der Polizei. In der Polizeiverwaltung Nordrhein-Westfalens werden viele Modelle dieser neuen Führung erprobt, so etwa bei der Bezirksregierung Arnsberg/ Kreis Soest, die 1996 im Rahmen des Speyerer Qualitätwettbewerbs einen Preis fur Führung durch Zielvereinbarungen gewonnen hat. Ein Vertreter des Polizeipräsidiums Oberhausen hat im April bei einem Kongreß hier in Speyer erläutert, wie die Polizei als klassische Eingriffsverwaltung innerhalb ihres Hauses die Mitarbeiter statt mit Befehl und Zwang mit Zielvereinbarungen fuhrt. Dabei geht es um die Optimierung des gesetzlich intendierten Schutzzweckes Gefahrenabwehr. Die Vereinbarung von Zielen ermöglicht, daß die handelnden Polizeibeamten vor Ort die fur den jeweiligen Zweck - etwa die Sicherung der Schulwege geeigneten präventiven Maßnahmen ergreifen, gezielte Kontrollen durchfuhren oder Informations- und Aufklärungsarbeit organisieren. Für den Chef der Polizeiinspektion ist es aus der Distanz kaum möglich, die der Situation angemessenen Mittel zu bestimmen und damit dem Schutzzweck vor Ort zu entsprechen. Wenn aber Vereinbarungen geschlossen werden, die eben jenen Schutzzweck als Ziel vorgeben, können die Mitarbeiter im Rahmen ihrer Arbeit alternative Wege finden, um dieses Ziel optimal zu erfullen. Im übrigen zeigt sich eine ähnliche Entwicklung, die allerdings nicht ganz unumstritten ist, auf europäischer Ebene im Umweltbereich. Auch hier werden Umweltvereinbarungen geschlossen und Umweltqualitätsziele anhand von Kennzahlen in einzelnen Sektoren festgelegt, um zu einer Optimierung des Umweltschutzes zu gelangen. Hagen: Das ist eine wunderbare Sache. Sie braucht nur andere gesetzliche Regelungen. Ich muß jetzt noch vom Gesetz ausgehen und da habe ich keinen Spielraum. Meinetwegen könnte man das ganze Umweltrecht auf Umweltqualitätsziele oder Liquidation fur Emmission umstellen. Hill:

Es ist nicht richtig, daß Gesetze keinen Spielraum einräumen. Gesetz ist nicht gleich Gesetz, wie schon Herr Brohm vor 10 Jahren bei der Staatsrechtslehrertagung ausfuhriich dargelegt hat. Es gibt ganz unterschiedliche Gesetzesinhalte, die sich im wesentlichen in zwei Gruppen differenzieren lassen: strikte Gesetze, die anweisen, und Gesetze, die Ermächtigungen beinhalten. Zu diesem

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"Gesetz als Auftrag der Verwaltung" hat Herr Scheuner 1963 in einem Aufsatz Stellung genommen. Gesetze räumen der Verwaltung somit durchaus Handlungsspielräume ein. Hagen: Ein Unternehmer wird wirklich nicht einverstanden sein, wenn ich ihm von Ermessensspielräumen erzähle; der will seine immissionsschutzrechtliche Genehmigung.

Hi11: Dieser Fall liegt etwas anders, da Immissionsschutz eine gebundene Entscheidung ist. Aber auch hier gibt es Spielräume, beispielsweise bei der Konkretisierung von Sachverhalten. Im Zuge der Diskussion über ein Umweltgesetzbuch wird versucht, verschiedene Entscheidungsarten mit unterschiedlichen Spielräumen zusammenzubringen und eine Art kombinierte Entscheidungen herbeizuführen. Ein anderes Beispiel: Die Landesumweltverwaltung Hessen hat im Rahmen von Budgetierungsmodellen einen Produktkatalog erstellt und Zielvereinbarungen geschlossen mit der Intention, die gesetzlich vorgegebenen Ziele durch die Verwaltungspraxis bestmöglich zu verwirklichen. Der Maßstab des Verwaltungshandelns ist demnach immer der Schutzzweck des Gesetzes und seine optimale Umsetzung. Gebundene Entscheidungen können nur punktuell wirken, nicht aber eine Bandbreite von Möglichkeiten zur Optimierung des Schutzzweckes bereitstellen. Hagen: Ich habe den Eindruck, Sie gehen davon aus, daß wir durch Anweisung von oben nach unten arbeiten. Das ist einfach nicht Realität. Meine Mitarbeiter arbeiten selbständig und wenn größere Fälle kommen, dann besprechen wir gemeinsam, wie das jetzt gemacht werden soll.

Hi11: Letztlich sind Mitarbeitergespräche nichts anderes als Zielvereinbarungen über die Art und Weise der Aufgabenerfüllung. Hagen: Wenn man es so betrachtet, arbeiten wir alle nur kooperativ und mit Zielen. Aber wir arbeiten gemeinsam am konkreten Fall und machen keine schriftliche Vereinbarung darüber, wie gearbeitet werden soll. Schwarting: Frau Hagen, Sie haben an einer Stelle gesagt, es gehe ja nur um das "Wie". Doch steckt im "Wie" eine Menge an Innovationspotential. Ich will einmal ein Beispiel nennen, das ist die Feuerwehr. Die Feuerwehr hat eine klar defmierte

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Zielvorgabe. Die heißt 8 + 2 : 2 Minuten für die Alarrnierung und 8 Minuten bis zum Einsatzort. Es ist eigentlich Aufgabe jedes innovativen Feuerwehrleiters, seinen Ressourceneinsatz so zu optimieren, daß er a) das Ziel einhält und b) seine Zeiten sogar noch verbessert. Am meisten kann er bei der Alarrnierung verbessern. Damit hat er eine klare Zielvorgabe, gleichwohl ist eine Menge an Spielraum drin, mit dem sehr wohl auf die jeweiligen Besonderheiten, von der Topographie angefangen bis zur Bebauungsdichte, einzugehen ist. Weitere Bemerkung: Wichtig ist: In welchem Umfeld bewegen wir uns eigentlich? Was haben wir eigentlich vor uns? Wir haben zwei Begriffe, die etwas Unterschiedliches aussagen. Sage ich Zielvorgabe - mein 8-MinutenZiel - dann hat der Mitarbeiter dieses Ziel. Das kann auch in Brandschutzgesetzen oder in Ausführungsbestimmungen stehen. Das Ziel ist vorgegeben, das ist ein Kontrakt und dann schüttelt man sich die Hand. Aber was liegt eigentlich dazwischen? Wer sagt letztlich was? Die berühmte kooperative Weisung, die Sie genannt haben, ist ein ganz schwieriges Zwischenverhältnis. Ein Beispiel: Es gibt ein besonderes Verwaltungshandeln, das ist das Knöllchen. Selbst aus dem Knöllchen können Sie noch etwas machen. Die Damen der Verkehrsüberwachung - das ist, wenn ich das richtig sehe, maximal mittlerer Dienst - kommen auf die eigene Idee: Wir verteilen zwar Knöllchen, aber mindestens ein bißehen Pädagogik können wir machen. So kleben sie auf die Rückseite jetzt den Parkbausplan. Das ist zwar furchtbar einfach, zeigt aber, was wir an Potential in Köpfen von Mitarbeitern entwickeln können, wenn wir sie einfach nur einmal lassen. Was in der Praxis am meisten Schwierigkeiten macht ist, daß von heute auf morgen Dinge, die man sich einmal vorgenommen hat, umgeworfen werden, aus welchen Gründen auch immer - sei es irgendeine gesetzliche Vorgabe, sei es das fehlende Geld oder sei es, weil der Stadtrat oder die politischen Gremien auf neue Ideen gekommen sind und nunmehr sagen, das, was gestern war, gilt nicht mehr. Wir haben Beschlußkompetenz, wir beschließen jetzt einfach, wir setzen uns einfach über eine Vereinbarung hinweg. Das ist das eigentlich Frustrierende. Borchert: Ich habe manchmal den Eindruck, Herr Hill, daß wir uns das Leben auch dadurch schwer machen, daß wir durch neue Begriffe das überdecken, was an Altem, Bewährtem da ist und auf das man aufbauen und das man weiterentwikkeIn kann. Manchmal kommt es mir so vor, als ob alter Wein in neue Schläuche gefüllt würde. Die Mitarbeiter in der gewerblichen Wirtschaft müssen genauso motiviert sein wie die Mitarbeiter in der öffentlichen Verwaltung. Die

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Idee ist ja richtig, aber mir scheint, die Idee "Kooperative Zusammenarbeit" läßt sich auch mit anderen Begriffen, vielleicht auch motivierender bei den Mitarbeitern unterbringen. Meyer: Es ist ftir mich eine vertraute Vorgehensweise, mit meinen Mitarbeitern mündlich Zielvereinbarungen zu treffen, bei denen auch deren Interessenlage, Delegation von Verantwortung usw. berücksichtigt werden. Nun sagen Sie etwas von schriftlicher Fixierung. "Schriftliche Fixierung" verstehe ich als Grundlage ftir nachfolgende detaillierte Controlling-Maßnahmen. Das erfordert eine detaillierte und damit aufwendige Dokumentation von Qualität und Quantität der Arbeit. Dazu möchte ich doch einmal wissen, ob die Wissenschaft so eine Vorgehensweise schon einmal auf ihre Ökonomie, Arbeitsökonomie, untersucht hat, also ob eine so formelle Vorgehensweise so viele Vorteile gegenüber der bisherigen Praxis bringt. Eine zweite, ganz praktische Frage, mit der ich von Anfang meiner Laufbahn an im Zusammenhang mit der Delegation von Verantwortung zu kämpfen habe: Delegation heißt für mich natürlich auch, daß ich als Vorgesetzter nur die in der üblichen Kommunikation zwischen allen Beteiligten enthaltenen Informationen über die delegierten Arbeiten erhalte. Aber dann geht der Mitarbeiter in Urlaub oder wird krank, und es kommt mein Vorgesetzter und will von mir nun unbedingt Details aus dem delegierten Vorhaben wissen. Dann muß ich sagen: "Da ich das nun nicht selber mache, stecke ich nicht so in den Details drin". Das ftihrt dann gelegentlich zu Klagen. Wie komme ich da heraus?

HilI: Es ist richtig, Herr Borchert, daß in vielen Fällen Bewährtes lediglich mit neuen Begriffen versehen und "alter Wein in neue Schläuche" geftillt wird. In Ansätzen trifft dies auch für diese neuen Managementrnethoden zu, insgesamt jedoch sehe ich große Unterschiede. Insbesondere hat das neue Modell mit der Ausrichtung auf Produkte, Kennzahlen und Ergebnisse eine Konkretisierungsstufe erreicht, die über das sehr abstrakt angelegte 'Management by Objectives', das auf eine Beschreibung oder Quantifizierung von Leistungen verzichtet, hinausgeht. Natürlich gab es immer schon Ansätze einer kooperativen Führung im Beamtemecht, von daher handelt es sich beispielsweise bei der Führung durch Zielvereinbarungen im Grunde um eine Fortschreibung bewährter Modelle. Aber eine kooperative Führung ist nicht die Regel, in der öffentlichen Verwaltung wird überwiegend durch Befehl und Anweisung geftihrt. So wurde bei Mitarbeiterbefragungen, die wir in verschiedenen Behörden durchgeftihrt haben, kritisiert, daß die Vorgesetzen nicht kooperativ ftihrten, sondern nach wie vor an einem eher autoritativen Führungsstil festhielten. Ähnliches haben wir in gemeinsamen Workshops mit Vorgesetzten und Mitarbeitern beobachtet, in de-

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nen die Vorgesetzten ihre Führungskompetenz in der Regel um mindestens eine Note besser beurteilten als die Mitarbeiter. Obwohl viele Vorgesetzte einen großen Bedarf nach kooperativer Führung bei sich und bei den Mitarbeitern erkennen, setzen nur wenige diesen Anspruch auch um; Standard in der öffentlichen Verwaltung ist nach wie vor die überkommene Führung durch Befehl und Anordnung. Dennoch hat gerade die Bundeswehr mit der sogenannten Auftragstaktik eine neue Führungsphilosophie eingefUhrt: Der Soldat bekommt ein Ziel vorgegeben, fUr die Zielerreichung aber, d. h., fUr die Art und Weise, wie er durch das Unterholz kriecht, bieten sich ihm alternative Wege an. Ich denke, daß die Voraussetzungen fUr eine neue Führung weniger in Begrifflichkeiten oder in methodischen Ansätzen liegen, vielmehr ist für die Umsetzung kooperativer Führungsinstrumente eine veränderte Kultur der Zusammenarbeit erforderlich, die nur durch einen grundlegenden Kulturwandel, eine Art "Kulturrevolution" möglich ist. Diese Veränderungen im klassischen System der MitarbeiterfUhrung hin zu Mitarbeitergesprächen und Zielvereinbarungen, aber auch im Beurteilungswesen, das oftmals nur eine Gefälligkeitsbeurteilung ist, brauchen natürlich Zeit. Bezüglich der schriftlichen Fixierung von Zielvereinbarungen gibt es durchaus unterschiedliche Meinungen. Natürlich darf dieses Verfahren nicht zu mehr Bürokratie fUhren. Andererseits dürfen aber auch die Vorteile der Schriftform nicht übersehen werden. Zum einen werden sowohl den Vorgesetzten als auch den Mitarbeitern mehr Sicherheit hinsichtlich der abgesprochenen Leistungsqualität und Leistungsquantität vermittelt, eine einseitige Abweichung von der Vereinbarung ohne zwingenden Grund wird auf diese Weise vermieden. Zum anderen können die unterschiedlichen Wissens- und Kompetenzvorteile beider Seiten im Rahmen der schriftlichen Formulierung besser genutzt werden. Auch erhält die Führungskraft durch regelmäßige Berichterstattung zeitnahe und konzentrierte Informationen über den Umsetzungsgrad sowie über mögliche Abweichungen. Die Bertelsmann-Stiftung hat in Zusammenarbeit mit der KGSt ein Netzwerk begründet, um dieses Modell im Rahmen des Netzwerkes auf breiter Basis einzuführen. Die schriftliche Vereinbarung von Zielen fUhrt nicht zuletzt zu einer klaren Verteilung der Zuständigkeiten und einer expliziten Verlagerung von Verantwortung auf den einzelnen Mitarbeiter. Empirische Befragungen in öffentlichen Verwaltungen haben immer wieder ergeben, daß sich viele Mitarbeiter in ihrer täglichen Arbeit zu sehr eingeengt fühlen, daß sie mehr Verantwortung übernehmen möchten, aber nicht dürfen. Unter den Referendaren hier in Speyer sind sehr viele junge motivierte Leute, die ihre Kreativität in ihre Arbeit einbringen und etwas bewegen möchten. Wenn ich diese Referendare nach Jahren in der öffentlichen Verwaltung wiedertreffe, sind viele von ihnen frustriert

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und haben innerlich gekündigt, da ihnen der Handlungsspielraum fehlt, der für einen engagierten, motivierten Einsatz unerläßlich ist. Andererseits hat mir ein Oberbürgermeister einmal erzählt, daß trotz der Delegation von Verantwortung an einzelne Fachbereiche der Stadtrat daran festhalte, daß er, der Bürgermeister, auch weiterhin die Verantwortung für alle Einzelheiten trage und über sämtliche Details informiert sein müsse. Die Beispiele zeigen, daß insgesamt bei allen Beteiligten eine neue Kultur in der öffentlichen Verwaltung notwendig ist und der Umgang mit Delegation und Verantwortung noch geübt werden muß. Hagen: Ich kann da wieder etwas aus der Praxis gegensteuern. Wir haben den ganzen Verwaltungsreformprozeß durch eine Mitarbeiterbefragung durch ein externes Institut eingeleitet, auch durch Projektgruppen, die durch das externe Institut moderiert wurden. Die Zufriedenheit der Mitarbeiter und ihre Selbständigkeit mit der Führung war enorm. Das hat die Externen sehr erstaunt. Zum Ablauf: Ich habe im ersten Jahr, als ich anfmg, den Posteingang und Postausgang über mich laufen lassen, immer abschnittsweise, aus dem Wasserbereich, aus dem Immissionsschutz, aus dem Naturschutz usw., um überhaupt zu erkennen, was die Leute machen. Dann bin ich zu dem einzelnen Mitarbeiter hingegangen und habe anhand von ein oder zwei Fällen besprochen, wie seine Arbeit ist, was er so macht, ob er jetzt mit dieser Art zufrieden ist. Nachdem ich das bei allen gemacht habe, habe ich selbstverständlich nicht alles über mich laufen lassen, sondern das machen die Leute alleine. 20seitige Wasserrechtserlaubnisse unterschreiben sie selber und schicken sie selber raus. Nur die Dinge, bei denen sie selbst meinen Rat brauchen, beispielsweise ein großes immissionsschutzrechtliches Verfahren, wo ich dann denn Scoping-Termin leiten soll, wo ich dann auch am Schluß die Sache unterzeichne, mein Mitarbeiter die Sache aber teilweise vorbereitet, da ist es natürlich eine Zusammenarbeit. Aber eine Zusammenarbeit, wo wir uns zusammensetzen und gemeinsam überlegen und diskutieren. Wenn wir jetzt über alles schriftliche Zielvereinbarungen schließen sollen, ist das ein wahnsinniger Verwaltungsaufwand, der uns nichts bringt und allenfalls im Hinblick auf die Budgetierung Wirkung zeigt. Die Wirkung auf die Budgetierung ist nämlich folgende: "Warum brauchen Sie so und so viele Arbeitsstunden für eine Baugenehmigung? Im Landkreis Oberammergau geht es doch viel schneller. Ach, Sie machen so viele Schwierigkeiten, weil Sie zu selten Befreiungen erteilen. Das ist aber hinderlich. Machen Sie mal schneller. Erteilen Sie mehr Befreiungen. Geben Sie dem Naturschutz nicht so viel Raum. Argumentieren Sie doch nicht rur das Allgemeinwohl, da steht ja doch kein Interesse dahinter." Nicht das Allgemeinwohl, der Gesetzesauftrag zählt, sondern das Interesse des Landrats, gewählt zu werden. Schnell und bürgerfreundlich soll es sein. Aber unter "Bürger" wird immer nur der verstanden, der gerade etwas beantragt und nicht der Bürger, der hinter dem Allgemeinwohl steht, d.h. nicht der Nachbar und nicht die künftige Generation.

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Dillmann: Ich bilde mir ein, als Referendar in Speyer vor knapp 30 Jahren schon etwas von Führungskonferenz gehört zu haben, würde allerdings konzedieren, daß sich diese Instrumente damals sozusagen auf die Leitungsebene beschränkt haben. Der höhere Dienst hat miteinander kommuniziert und konferiert. Als ich als Regierungsrat im Innenministerium in München tätig war, da war ich manchmal an einer Montagsrunde beteiligt, das war die sogenannte Montagsandacht, und da ist mit uns immer besprochen worden, was in der Woche alles zu tun ist. In den "Etagen tiefer" hat es meines Wissens das nicht gegeben und daran knüpft sich auch jetzt meine Frage an: Wie hat man das zu verstehen mit den Zielvereinbarungen? Sind die gestuft, sagen wir, zwischen Abteilungsleiter und den Referenten und die Referenten dann mit den Sachgebietsleitern und die Sachgebietsleiter mit den Sachbearbeitern, oder schließt der Abteilungsleiter selber mit den Sachbearbeitern solche Zielvereinbarungen? Schwarting: Zu Ihrer letzten Frage: Man sollte sich nicht so sehr an der Schriftlichkeit festhalten. Das ist auch eine Frage der Größenordnung von Organisationen. Der zweite Punkt ist, daß ich Probleme habe, so ein Zielvereinbarungssystem bis auf den letzten weiter durchzustufen. Das könnten wiederum neue Instrumente für Personalvertretungen sein. Dadurch gerät das dann wieder in ein ganz anderes Gleis, das sehr problematisch ist, wenn nämlich plötzlich Zielvereinbarungen mitbestimmungspflichtig werden. Ein Beispiel, bei dem auch Extreme deutlich werden, bewegt sich im freiwilligen Bereich, nämlich der Bücherei. Eine Büchereileiterin hat eine hohe Motivation für ihre Institution. Ich kenne eine Leiterin, die ist stolz, daß ihre kleine Stadtbücherei in einer Mittelstadt in Rheinland-Pfalz in der Spitzengruppe der Nutzung durch die Leserschaft liegt. Sie engagiert sich, macht viel und darf das auch. Das ist der entscheidende Punkt. Sie darf, sie darf auch, ohne daß sie ein großes Budget hat, aber sie darf ihre Arbeit so gestalten, daß sie an die Leser herankommt. Es ist ihre Aufgabe, das zu machen. Daneben gibt es andere, ja die dürfen noch nicht einmal darüber entscheiden, an welchen Tagen gereinigt werden soll, sondern auch das ist vorgegeben. Damit wollte ich nur einmal deutlich machen, wie breit das Spektrum ist. Führung lernen ist in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor ein ganz, ganz schwieriges Kapitel. Als ich damals als Dezernent eingestellt worden bin, hat der Stadtrat mich gefragt: "Und, welches ist Ihr Führungsstil?" Ich habe ein wenig von kooperativer Führung gesprochen, das reichte; die Ratsmitglieder wußten auch nicht mehr. Und wenn Sie einmal überlegen, nach welchen Kriterien Führungskräfte ausgesucht werden, dann doch wohl in eher seltenen Fällen ausschließlich nach ihren Führungseigenschaften. Lassen Sie mich noch einen wichtigen Punkt ansprechen: Wir haben von unten die Qualifikation der Mitarbeiterschaft deutlich angehoben. Wenn Sie

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einmal überlegen, wie der gehobene Dienst heute ausgebildet ist, dann haben wir Qualifikationsniveaus geschaffen, denen die entsprechende AufgabensteIlung in der Praxis nicht unbedingt zugewiesen werden kann. Wir müßten es leisten können, daß die Mitarbeiter mit dem Wissen und dem Können dann auch etwas anfangen können. Sie sollten sehen können, daß sie etwas gelernt haben und daß das auch Wirkung zeigt. Ich will ganz kurz eingehen auf die Frage der Kennziffern, weil es da sowohl ganz schreckliche, aber auch recht gute Beispiele gibt. Ich nehme Ihr Beispiel mit der Baugenehmigung. Dies kann ein fürchterlicher Schuß nach hinten werden, denn ich kenne inzwischen einige Verwaltungen, die ins Internet schreiben möchten: Bei uns gibt es die Baugenehmigung in 10 Tagen. Das ist für mich eine Fehlentwicklung, weil das a) einen Anspruch vorgaukelt, den es so nicht gibt, und weil das natürlich b) auch den Wert einer Verwaltungsleistung in Frage stellt. Denn Baugenehmigung ist nicht Baugenehmigung. Daraus ergibt sich ein verzerrter Wettbewerb. Zum Problem Delegation: Von uns wird erwartet, daß wir allwissend sind über sämtliche Bereiche, die kommunal nur irgendwie relevant sein können. Nicht einmal in Summe unserer Mitarbeiterschaft sind wir allwissend! Das Problem hat jeder Oberbürgermeister, Bürgermeister, jeder Landrat oder jede politische Führungskraft auch. Sie entwickeln Mechanismen, wie sie damit umgehen, so daß das Gegenüber trotzdem zufriedengestellt ist. Wenn Sie die Delegation ernst nehmen und sagen, ein Mitarbeiter darf das unterschreiben, dann müssen Sie auf Nachfrage auch sagen: Tut mir leid, der Mitarbeiter ist an der Sache, und sie ist so und soweit gediehen. Hagen: Ich habe weniger Probleme damit, daß ich eben bei manchen Fällen nicht Bescheid weiß. Dann sage ich: Ich werde mich erkundigen, ich kümmere mich darum. Ich habe eher Probleme damit, Kontrollen zu finden, was nicht getan wird. Ich habe großes Zutrauen dazu, daß meine Mitarbeiter das machen, was anfällt, also Bescheide, die beantragt werden usw. Aber werden auch wirklich sämtliche Bodenverunreinigungen verfolgt? Werden sämtliche kleine Gesetzesänderungen wirklich umgesetzt? Da habe ich manchmal ganz heikle Dinge erfahren, wenn ich einmal den Sachen nachgehe. Wir machen dann zwar eine neue Zielvereinbarung, wir setzen uns dann zusammen, aber es bleibt immer etwas übrig, was wirklich von oben initiiert werden muß. Hill: Über Führungsverhalten ließe sich mit Sicherheit endlos diskutieren. Zweifellos trifft man in der Praxis häufig auf die Situation, daß Führungskräfte ihre Mitarbeiter über einen längeren Zeitraum mit ihrer Arbeit allein lassen. Wenn

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sie aber nach einiger Zeit ihre Aufsichtspflicht wahmehmen und möglicherweise Nachlässigkeit oder Deftzite feststellen, wird das häuftg zum Anlaß genommen, in Details einzugreifen und die Aufgabenwahmehmung insgesamt sowie die Verantwortung hochzuzonen. Ich stimme auch zu, daß eine Prioritätensetzung in der Aufgabenwahmehmung und die Trennung von Wichtigem und Unwichtigem notwendig ist. Um sich Klarheit über die jeweiligen Prioritäten zu verschaffen, sind meines Erachtens Abstimmungen erforderlich, wie sie in Mitarbeitergesprächen mit der Festlegung von Schwerpunkten sowie der Vereinbarung von Zielen und Indikatoren erreicht werden. Am Beispiel der Sozialhilfe läßt sich die Notwendigkeit einer Diskussion über Prioritäten verdeutlichen: Ist es Ziel der Sozialverwaltung, Sozialhilfe schnell auszuzahlen und die Bürger so zu behandeln, daß sie unselbständig bleiben und wiederkommen? Oder sollen sie durch die Betreuung nicht vielmehr in die Lage versetzt werden, selbständig ihr Leben führen und einrichten zu können? Die Frage nach den Zielen läßt sich auch am Beispiel der Politessen diskutieren: Eine Politesse, die viele "Knöllchen" verteilt, hat dann gute Arbeit geleistet, wenn lediglich die Erzielung von Einnahmen angestrebt wird. Wenn aber die Sicherheit des fließenden Verkehrs ohne Beeinträchtigung durch parkende Autos Ziel ihrer Arbeit sein soll, ist ihr Erfolg umso größer, je weniger "Knöllchen" sie verteilt, je mehr sich die Verkehrsteilnehmer also den Vorschriften entsprechend verhalten. Die Diskussion über die eigentlichen Ziele und die Indikatoren bringt den Mitarbeitern und den Führungskräften neue Einsichten in den Sinn und Zweck der eigenen Arbeit. Ohne Zweifel bedeutet die Festlegung von Zielen und Indikatoren, insbesondere wenn sie für interkommunale Leistungsvergleiche herangezogen werden sollen, zunächst zusätzliche Arbeit. So können sich die Indikatoren etwa bei der Baugenehmigung nicht nur auf die absoluten Fallzahlen oder auf die Dauer der Genehmigungserteilung beziehen, da wesentliche Unterschiede wie etwa Befreiungen nicht berücksichtigt werden. Insgesamt und auf längere Sicht gesehen bringt aber das Gespräch über Prioritäten und Indikatoren, über die wirklich wichtigen Ziele, aber auch über versteckte Probleme für beide Beteiligten erhebliche Vorteile. Ich ftnde den Ausdruck "Montags andacht" , den Herr Dillmann benutzt hat, sehr ansprechend. Auch ich habe mich mit meinen Referenten früher jeden Montagmorgen um 9.00 Uhr zusammengesetzt und gemeinsam über Prioritäten und Ziele diskutiert. In diesen Zusammenkünften habe ich viele Informationen gewinnen und sehr viel lernen können. Dies zeigt, daß Mitarbeitergespräche auch für die Führungsebene von großem Nutzen sind, ein Aspekt, der oft vernachlässigt wurde. Viele Führungskräfte meinen, mangelndes Wissen könne als Schwäche ausgelegt werden und sie müßten von daher vor ihren Mitarbeitern jederzeit umfassend unterrichtet sein. Mit diesem Anspruch manövrieren sie sich aber selbst ins Abseits. Ich stimme Ihnen zu, Herr Schwarting, Führung bedarf eines Lernprozesses. Bis-

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lang galt der Grundsatz: Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand. Allein die Tatsache, daß jemand Führungskraft wurde, zeigte seine Führungsqualitäten. Ähnliches gilt rur die Beförderung. Geprüft wird in der Regel lediglieh die Bewährung in der früheren Funktion, nicht aber die notwendige Qualifikation rur die neue Funktion. In diesem Bereich besteht noch großer Veränderungsbedarf, alle Beteiligten müssen umlernen. Natürlich darf die Einruhrung von Zielvereinbarungen keine neuen bürokratischen Hürden aufbauen, wie es am Beispiel der Mitbestimmung illustriert wurde. Meiner Ansicht nach können allenfalls die Rahmen- oder Mustervereinbarungen unter die Mitbestimmungspflicht fallen, nicht aber die Einzelvereinbarung. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Leitfaden der Landesverwaltung Baden-Württemberg verweisen, die ein geeignetes Instrument darstellen, um Beratungs- und Fördergespräche so zu gestalten, daß sowohl die Mitarbeiter als auch die Vorgesetzten davon profitieren. Schwarting: Diese ganze Kennzahldiskussion ist sicherlich auch etwas dadurch erschwert, daß wir alle berurchten, es werden unsinnige Kennzahlen in die Welt gesetzt und öffentlich ( z.B. Focus-Hitparaden oder sog. Kommunalvergleiche durch den Bund der Steuerzahler o. ä. Gruppierungen). Damit wird natürlich Politik getrieben, und es ist sehr schwer, dagegen zu argumentieren. Differenziertes Argumentieren ist nicht unbedingt gefragt. Eine zweite Bemerkung zur Frage der Kontrolle: Wie kann ich eigentlich sicherstellen, daß etwas gemacht wird? Wenn es etwas Neues ist, dann muß das von oben vorgegeben werden. Die Kommunen können sicherlich nicht allein auf das Beschwerdemanagement setzen. Selbst die Befragungen der Bürger, wenn ich direkt auf sie zugehe, ermitteln nur sehr begrenzt das Unmutspotential. Es ist ein ganz schwieriges Kapitel, wie man eigentlich verfolgt, ob denn die Prozesse so ablaufen, wie man sich das vorgestellt hat.

Öffnungsklauseln im Kommunalbereich - Zu Theorie und ~raxis der kommunalrechtlichen Experimentier- und Offnungsklauseln (Kommunalisierungsklauseln) Von Hartmut Borchert

I. Die Motive für die Experimentier- und Öffnungsklauseln (Kommunalisierungsklauseln) In den 90er Jahren begann eine intensive Diskussion um Themen der Verwaltungsmodernisierung in Verbund mit Fragen der Aufgabenkritik. Dies blieb nicht ohne Einfluß auf den kommunalen Bereich. Allein schon die Veranstaltungen in der Verwaltungshochschule Speyer 1 in den 90er Jahren machen deutlich, welche Dynamik sich hier zu entfalten begann. Der Strukturwandel in der Wirtschaft, neue Datenverarbeitungsmöglichkeiten und die Kostendiskussion hatte Auswirkungen auf Verfahrensabläufe und Organisationsfragen nicht nur in den Unternehmen, sondern auch fiir die Verwaltungen. Dies galt sowohl fiir die Verfahren, mit denen die Verwaltungsprodukte erstellt wurden als auch fiir die Kosten, die dabei entstanden und die über Steuern, Beiträge sowie Entgelte vom Bürger getragen werden mußten. Diese Diskussion ging einher mit den Erörterungen zum Thema "Schlanker Staat". Die Aufgabenkritik, die Infragestellung bestimmter Formen öffentlichen Handeins, fiihrten dazu, daß die traditionellen Formen des Verwaltungshandelns und Verwaltungsverfahrens vielfach als überholt, zu teuer und bürgerfremd eingestuft wurden. Man war sich relativ schnell über bestimmte Fehlentwicklungen einig, nicht aber bei der Frage, wie man diese beenden könnte und welche neuen Wege zu beschreiten seien. Dies zeigte die Diskussion insbesondere um die Privatisierung von kommunalen Dienstleistungen. Eine besondere Dramatik kam durch die Entwicklung der öffentlichen Finanzen hinzu, die sich zu Beginn der 90er Jahre eindeutig verschlechterte. Zeitgleich brachte aber der Aufbau der Verwaltungen, auch der kommunalen in

1 Z.B. Hermann Hill! Helmut Klages "Jenseits der Experimentierklausel", Tagung vom 6. - 8.12.1995, Stuttgart USW., 1996.

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den neuen Bundesländern Fragestellungen mit sich, die das Problem in den Vordergrund stellten, ob die heutigen Fonnen öffentlicher und vor allen Dingen auch kommunaler Verwaltungen den modemen Anforderungen unserer Gesellschaft noch gewachsen sind und ob sie so ausgestaltet sind, daß sie rur diese Gesellschaft die notwendigen Dienstleistungen kostengünstig erbringen können. Es waren also verschiedene Ansätze, die zu einer Beschleunigung der Debatte um die Verwaltungsmodernisierung auch im kommunalen Bereich ruhrten. Warum schritt man dann nicht zu entsprechenden veränderten Regelungen im kommunalen Bereich als diese Probleme virulent wurden und zu einer Lösung herausforderten? Der Grund liegt m.E. darin, daß die hier genannten Zielsetzungen zwar in pauschaler Fonn weitgehend noch geteilt wurden, daß aber hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der anzusteuernden Ziele und vor allen Dingen des dorthin einzuschlagenden Weges wenig konkrete Vorstellungen bestanden. Schon die Heftigkeit der Diskussion um die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen zeigte die unterschiedlichen Vorstellungen und Bewertungen, die im politischen Raum hierzu existierten. Auch der Begriff "Schlanker Staat" ist keineswegs unumstritten. Trotz dieser Diskussion ging die Produktion von Rechtsvorschriften bei Bund und Ländern unverdrossen weiter. Vielfach wurde das genaue Gegenteil von einem "schlanken Staat" praktiziert. Wie in anderen Bereichen ließ sich hier feststellen, daß theoretische Erkenntnisse nur sehr schwer in konkrete politische Entscheidungen umgesetzt werden konnten. Trotzdem beteiligte man sich auf allen Ebenen weiter an dieser Diskussion und forderte konkrete Maßnahmen. Diese Unsicherheiten hinsichtlich bestimmter Ziele, aber zugleich der Zwang, in der Öffentlichkeit zu demonstrieren, daß man die Notwendigkeit der Verwaltungsmodernisierung erkannt habe und sie auch tatsächlich angehe, führte nach meiner Auffassung als Interimslösung und Aktivitätsnachweis zur Schaffung von Experimentier- und Öffnungsklauseln im Kommunalrecht. Der Gesetzgeber wollte etwas tun, indem er den Kommunen ennöglichte, aktiv zu werden. Aber man hatte nur abstrakte Ziele, grobmaschige Zielvorgaben und man war sich nicht ganz klar darüber, auf welchem Weg man diese Ziele am besten erreichen würde. Was lag näher als Experimente zu ennögliehen, und zwar als Anreiz und in der Hoffnung, daß sich daraus präzise Ziele ergeben und auch Verfahren entwickeln würden, die deI Ziel erreichung dienen könnten. Das führte zu den Experimentklauseln, zunächst die Budgetierung zu ennöglichen und dann auch auf weitere Bereiche überzugreifen. Darüber hinaus ist nicht zu verkennen, daß damit eine allgemeine Alibifunktion für die Politik in den Ländern verbunden ist. Die Länder selbst und ihre Verwaltungen haben sich in dieser Zeit als relativ unbeweglich gezeigt und die politischen Kräfte in den Ländern waren auch nicht bereit und in der Lage, kurzfristig neue Ziele zu stecken sowie neue Verfahren zu entwickeln. Neben

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vielen anderen Feldern konnte man im kommunalen Bereich ein Experimentierfeld öffnen, um aus Erfolgen und Mißerfolgen evtl. Konsequenzen für die Landespolitik und Landesverwaltung zu ziehen. Im übrigen hat es in der Vergangenheit in bestimmten Politikfeldern bereits Experimente und Versuche gegeben, wenn man sich in Einzelfällen über Ziele und Ergebnisse nicht von vornherein klar werden konnte. Die meisten Schulgesetze der Bundesländern haben Schulversuche vorgesehen, mit denen von den in den Schulgesetzen vorgeschriebenen Organisationsformen abgewichen werden konnte. Hier sollten auf der einen Seite Erfahrungen gesammelt werden, auf der anderen Seite war erkennbar, daß bestimmte schulpolitische Vorstellungen nicht ohne weiteres durchsetzbar waren, so daß eine Experimentierphase vorgeschaltet werden mußte. Das Land Sachsen-Anhalt hat mit seinem § 133 Abs. 4 GO nicht nur Experimente im kommunalrechtlichen Bereich ermöglicht, sondern das gesamte Landesrecht für Versuche geöffnet. Daher spreche ich hier von einer Öffnungsklausel oder genauer von einer Kommunalisierungsklausel, weil hier bestimmte Ziele, nämlich die Entscheidungsverlagerung zu den Kommunen, deutlicher werden als bei dem in dieser Hinsicht farblosen Begriff der Experimentierklausel. Im Rahmen der Diskussion um die Einführung solcher Experimentier- und Öffnungsklauseln sind Rechtsstaatsbedenken relativ wenig zur Sprache gekommen 2 und auch Fragen des sonst so sorgsam beobachteten Demokratiegebots haben in der vorbereitenden Diskussion nur eine geringe Rolle gespielt.

11. Die Entwicklung in den Bundesländern 1. Zum Wortlaut der Experimentier- und Öffnungsklauseln

Die Kommunalverfassungen verschiedener Bundesländer haben ab Mitte der 90er Jahre sog. kommunalrechtliche Experimentierklauseln aufgenommen. Dies geschah zum Teil in den Gemeinde- und Kreisordnungen und zum Teil aber auch nur in Gemeindehaushaltsverordnungen. Bereits 1994 stellte die Regelung in § 126 GO NRW keinen Alleingang dar, denn durch § 133 HessGO, 2 Bedenken äußerte allerdings Siedentopf, Experimentierklausel - eine "Freisetzungsrichtiinie" für die öffentliche Verwaltung, DÖV 1995, S. 193; mit den Rechtsfr~t:en setzten sich auseinander: Lange, Die kommunalre~.htiiche Experimentierklausel, DOV 1995 S. 770; Jutzi, Zur Zulässigkeit genereller Offnungs- und Nichtanwendungsklauseln in Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Bezug auf normative Standards, DÖV 1996, S. 25; Brnning, Die kommunalrechtiichen Experimentierklauseln, DÖV 1997, S. 278.

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Art. 117 a BayGO sind fast zur gleichen Zeit auch im Wortlaut vergleichbare Vorschriften verabschiedet worden. Später kamen Schleswig-Holstein und Niedersachen hinzu. Baden-Württemberg, das Saarland, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern begnügten sich mit Experimentierklauseln in den Gemeindehaushaltsverordnungen3 . Nordrhein-Westfalen ist inzwischen durch sein Gesetz zur Stärkung der Leistungsfahigkeit der Kreise, Städte und Gemeinden in NR W4 noch einen Schritt weitergegangen und hat enummerativ eine Befreiungsmöglichkeit ftir bestimmte gesetzliche Vorschriften vorgesehen. Sachsen hat in § 133 Abs. 4 GO LSA unter der Überschrift "Neue Lösungen bei der kommunalen Aufgabenerledigung" Befreiungsmöglichkeiten ftir alle Rechtsvorschriften und Standards geschaffen. In Schleswig-Holstein hat der Gemeindetag einen noch weitergehenderen Vorschlag eingebracht, der darauf abzielt, durch eigene kommunale Satzungsregelungen staatliches Recht ersetzen zu können, um den örtlichen Verhältnissen besser Rechnung tragen zu können. 2. Die Unterschiede im Wortlaut Die Lektüre des Wortlauts der hier herangezogenen Vorschriften ergibt schon beim ersten Blick zum Teil große Übereinstimmungen, zum Teil völlig andere Regelungen. Bei den Überschriften wird dies deutlich. Die schleswigholsteinische Vorschrift, die sich ohnehin weitgehend an Nordrhein-Westfalen anlehnt, hat die gleiche Überschrift "Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung (Experimentierklausel)". Hessen spricht von Erprobung neuer Steuerungsmodelle (Experimentierklausel). Niedersachsen beschränkt sich auf den Begriff "Experimentierklausel" und in Bayern spricht man schlicht von ,,Ausnahmegenehrnigungen". Am weitestgehenden sind sicherlich die Formulierungen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, die besonders den Aspekt der Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung zum Ausdruck bringen. Wir wollen diesen Überschriften aber nicht zuviel Gewicht beimessen, denn wichtiger ist der Inhalt der einzelnen Vorschriften. Mit Ausnahme von Hessen taucht in allen vier anderen Kommunalverfassungsvorschriften der Begriff "Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung" auf, der das Ziel dieser Klausel ist. Um die Selbstverwaltung weiter zu entwickeln, sollen in Bayern neue Modelle der Steuerungen erprobt werden können. Das sehen auch die Vorschriften in Niedersachsen, in Nordrhein-

3

4

Vgl. im Anhang. Gesetz vom 25.11.1997, GVBI. S. 420.

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Westfalen und Schleswig-Holstein vor, und hier ordnet sich auch das Land Hessen wieder ein. Unterschiede bestehen lediglich insoweit als in Bayern und Niedersachsen die Erprobung neuer Modelle der Steuerung im Interesse der Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung erfolgen soll, während in N ordrhein-Westfalen die Erprobung neuer Steuerungsmodelle neben der Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung steht. Dies ist auch in Schleswig-Holstein der Fall. Dem Zwecke der Weiterentwicklung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts dienen in Bayern ebenfalls die vorgesehenen Ausnahmemöglichkeiten fiir das Haushalts- und Rechnungswesen, wie das in Niedersachsen auch der Fall ist. Dabei spricht allerdings die niedersächsische Regelung nicht nur vom Haushalts- und Rechnungswesen, sondern auch noch vom Kassenwesen und zusätzlich im einzelnen vom Haushaltsplan, Stellenplan, Jahresrechnung, Rechnungsprüfung, Deckungsfähigkeit, zeitliche Übertragbarkeit von Haushaltsresten. Dies geschieht in § 126 Abs. 2 GO NRW auch, wobei hier noch die organisationsrechtliche Stellung des Kämmerers besonders einbezogen wird und damit Konsequenzen aus einer Besonderheit des nordrhein-westfälischen Kommunalrechts gezogen werden. Diese detaillierten Ausfiihrungen kennt auch § 133 Abs. 2 HessGO, nicht dagegen Schleswig-Holstein. Hier heißt es in § 135 a GO SH, daß Ausnahmen von Organisations- und gemeindewirtschaftlichen Vorschriften möglich sind. Die Experimentierklauseln in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein gehen auf die grenzüberschreitende kommunale Zusammenarbeit ein und öffnen diese ausdrücklich ftir Versuche. Entsprechendes fehlt in den anderen Bundesländern. Ferner hat § 135 a GO SH die Besonderheit, daß ausschließlich fiir die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen kommunaler Körperschaften geltende dienstrechtliche Vorschriften des Landes ebenfalls unter die Ausnahmemöglichkeiten fallen. Dies ist bei den anderen Experimentierklauseln so nicht erwähnt. In Niedersachsen ist man in § 138 NGO am genauesten, wenn es darum geht, die Voraussetzungen ftir eine solche Ausnahme zu defmieren, denn die Gemeinde muß darlegen, welches Modell erprobt werden soll, bei welchen Vorschriften eine Ausnahme begehrt wird und welche Wirkungen auf das zu erprobende Modell von der Ausnahme erwartet werden. Dieses Bundesland sieht als einziges die zeitliche Befristung ausdrücklich vor und zwar von 5 Jahren, in der die Gemeinden verpflichtet werden, sicherzustellen, daß das Vorhaben plangerecht durchgeftihrt wird, ausreichend dokumentiert und ausgewertet wird. Auch diese Forderungen des Gesetzes erscheint in den anderen Kommunalverfassungen nicht. Darüber hinaus werden die niedersächsischen Gemeinden aufgefordert, einen Erfahrungsbericht vorzulegen, den das Innenministerium dem Landtag bekanntgibt. Die einzige Vorschrift, in der der Gesetzgeber ausdrücklich genannt wird, und zwar als Adressat eines Erfahrungsberichts, und zwar aus der Sicht der Kommunen selbst, nicht aus der Sicht des Innen-

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ministers, der sicherlich eine Stellungnahmen dazu abgeben wird. Allerdings wird dies auch als überflüssige Reglementierung kritisiert5 . Einen Schritt weiter als die rein kommunalrechtlichen ExperimentierklauseIn geht das nordrhein-westfälische Kommunalisierungsmodellgesetz6 . Es schafft die Möglichkeit, die Anwendung einzelner konkret benannter Vorschriften aussetzen zu können, das Ziel aber auf einem anderen als dem gesetzlich vorgeschriebenen Weg zu erreichen. Hier sind die Vorgaben präziser, aber auch in diesen Fall ist die Genehmigung des Innenministeriums notwendig. Schon von der Formulierung her unterscheidet sich § 133 Abs. 4 GO LSA von den übrigen Experimentierklauseln. "Neue Lösungen bei der kommunalen Aufgabenerledigung" sollen ermöglicht werden. Das geht über das Kommunalisierungsmodellgesetz NRW hinaus. Denn es schafft Befreiungsmöglichkeiten fiir jede Art von Rechtsvorschriften und Standards. Gewährleistet sein muß jedoch mindestens die "grundsätzliche Erfiillung des Gesetzesauftrags". Ziel ist also eine partielle, sozusagen kontrollierte Nichtanwendung von geltendem Recht.

3. Bewertung der Unterschiede Es gibt zum Teil auffällige Übereinstimmungen, wenn nicht im Wortlaut, so doch in der Intention dieser Vorschriften. Steht die "Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung" als vorrangiges Ziel in Bayern und Niedersachsen eindeutig im Vordergrund, dem die Experimentiermöglichkeiten zu dienen haben, so stehen in Nordrhein-Westfalen die Begriffe "Erprobung neuer Steuerungsmodelle" und "Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung" genauso wie in Schleswig-Holstein unverbunden nebeneinander. Dieser Aspekt der Weiterentwicklung fehlt im Saarland vom Wortlaut her völlig. Jeweils aktuelle Probleme in den Ländern mögen den Ausschlag dafiir gegeben haben, daß der Wortlaut so oder so gewählt wurde. Der Hinweis auf die interkommunale Zusammenarbeit in Schleswig-Holstein ergab sich aus dort aktuell diskutierten Fragen der interkommunalen Zusammenarbeit genauso wie konkrete Probleme im Zusammenhang mit dienstrechtlichen Vorschriften fiir Mitarbeiter kommunaler Verwaltungen zum Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens in Schleswig-Holstein eine aktuelle Rolle spielten. Sie haben den Innenminister veranlaßt, diesen Aspekt in das Gesetzgebungsverfahren und damit letzten Endes in das Gesetz mit einzubringen. Im Ergebnis also Zufälligkeiten! S Mlynek, Schlanke Gemeinde durch Experimentierklause1n?, Die Niedersächsische Gemc:inde (DNG) 1998, S. 75 / 76. 6 Gesetz zur Stärkung der Leistungsfähigkeit der Kreise, Städte und Gemeinden in NRW vom 25.11.1997, GVBI. S. 430.

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Besonders intensiv geht Niedersachsen auf die Frage des Experiments ein, indem es nämlich konkrete Begründung verlangt, eine Kontrolle des Experiments ausdrücklich vorschreibt und eine Dokumentation darüber fordert sowie eine Auswertung zum Gegenstand der gesetzlichen Regelung macht. Vergleichbares fehlt in den anderen Vorschriften, auch wenn man unterstellen kann, daß natürlich ein Experiment dokumentiert werden muß, und zwar hinsichtlich seiner Ausgangsposition, seiner Verfahrensschritte und Ergebnisse, um daraus Folgerungen für die Übertragbarkeit dieses Experiments zu ziehen. Ist Niedersachsen am genauesten - was als überzogene Regelung kritisiert wird 7 - so fehlen in den anderen Ländern vergleichbare Regelungen mit Ausnahme der Befristungen und der Regelung, daß alle Experimente mit Auflagen und Bedingungen verbunden werden können. Allen Vorschriften ist jedoch gemeinsam, daß sie eine Genehmigungspflicht der obersten Kommunalaufsichtsbehörde für diese Experimente einführen, daß aber definierte Kriterien für diese Genehmigungen weitgehend fehlen, so daß dafür auf die in den Vorschriften selbst genannten Ziele zurückgegriffen werden muß. Aus meiner Sicht ist dies ein erhebliches Manko, denn das macht vor allem bei Versagungen der Genehmigung eine rechtliche Überprüfung für die Gemeinden sehr schwierig. Die Argumente, nach denen die Genehmigung zu erteilen ist oder versagt werden kann, sind also vom Innenminister jeweils selbst zu entwickeln und sind damit schwer überprütbar8 . Machen wir uns die Ausgangssituation für die kommunalverfassungsrechtliche Experimentierklausel noch einmal klar. Die Länder wissen nicht genau, wohin es gehen soll. Sie wissen das deshalb nicht, weil ihre obersten Kommunalaufsichtsbehörden nicht in der Lage sind, neue Ziele klar zu defmieren, Verfahrensvorschriften und Regelungen vorzuschlagen, die die Erreichung eben dieser Ziele gewährleisten. Aber der Gesetzgeber sieht die Aufsichtsbehörden trotzdem in der Lage, die Experimente beurteilen zu können, die von den Kommunen vorgenommen werden sollen. Welche Maßstäbe müssen hier die Kommunalaufsichtsbehörden oder die Innenminister anlegen? Der Gesetzgeber hat dazu geschwiegen, so daß die Grenzen, die sich für die Innenrninister aus diesen Vorschriften ergeben, aus den Vorschriften selbst entwickelt werden müssen. Die Öffnungsklausel in Sachsen-Anhalt stellt das gesamte Landesrecht samt Standards zur Disposition, solange nur der Gesetzesauftrag grundsätzlich erfüllt wird. Sie geht über das Kommunalisierungsmodellgesetz NRW hinaus, das "Qualitätsabstriche" nicht zuläßt. Mlynek, aaO (Fußn. 5). Brüning, aaO (Fußn. 2), S. 282 spricht allerdings von "beschränkter NachpTÜfbarkeit". 7

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Über die Experimentierklausel hinaus gehen Vorschläge, die in Richtung "vorschriftenfreie Gemeinde" gehen9 . Dieser Begriff verkürzt natürlich die Intention, die hinter dem Begriff steht. Ich spreche daher lieber von der Kommunalisierungsklausel. So haben wir in Schleswig-Holstein im Rahmen der z.Zt. geführten Diskussion über eine Funktionalreform den Antrag gestellt, im Rahmen eines neuen § 135 b GO Landesrecht durch kommunales Satzungsrecht und im Einzelfall (zur Erprobung) durch Beschlüsse ersetzen zu können. Wir haben uns hier ganz klar an das Vorbild der skandinavischen "Freigemeinden" angelehnt, die letzten Endes auch nationales Recht durch kommunale Regelungen ersetzen können. Dies ist der Hintergrund. Über die Formulierungen im einzelnen kann man natürlich streiten. Ziel ist es aber zu ermöglichen, daß Kommunen staatliches Recht durch Satzungsrecht ablösen können. Man wird darüber diskutieren können, ob das generell der Fall sein kann oder ob die Bereiche, in denen dies zulässig sein soll, durch den Gesetzgeber definiert werden müssen. Wir als Schleswig-Holsteinischer Gemeindetag sind bemüht zu erreichen, daß generell der Gesetzgeber überall dort, wo er z.B. Verordnungsermächtigungen erläßt, überlegt, ob nicht an Stelle dieser Verordnungsermächtigung auch Satzungsermächtigungen treten könnten, mit denen an Stelle des Handelns der Ministerien als Exekutive demokratisch legitimierte Entscheidungen kommunaler Volksvertretungen treten. Wir halten dieses für einen diskussionswürdigen Weg. Entgegengehalten wird natürlich immer wieder, daß dies zu einer Auflösung der Rechtsordnung führen könnte und daß darunter die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse leiden würde. Ich halte diese Bedenken für übertrieben. Wer kommunale Selbstverwaltung will, muß unterschiedliche Lösungen in Kauf nehmen. Gerade dafür haben wir auch das Satzungsrecht. Diese Art von Öffnungsklauseln - ich will lieber von Kommunalisierungsklauseln reden - wirft allerdings rechtliche Fragen auf, die über die kommunalverfassungsrechtliche Experimentierklausel deutlich hinausgehen.

III. Systematik der Öffnungs- und Experimentierklauseln Der Vergleich der Formulierungen in den Landesgesetzen hat gezeigt, daß es durchaus Unterschiede gibt, die möglicherweise für einzelne Auslegungsfragen von Bedeutung werden können. Der gravierendste Unterschied besteht darin, daß bei einem Teil der Gemeindeordnungen die Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung (Bayern, Niedersachsen) uneingeschränkt im Vordergrund steht und sich die unterschiedlichsten Modemisierungsbestrebungen dem einzuordnen haben, während in einem anderen Teil von Gemein9 Vorschriftenfreie Gemeinde? Neuer Vorstoß zur Verwaltungsreform in Niedersächsischen Landtag, in DNG 1998, S. 142.

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deoninungen (NRW, Schleswig-Holstein) die Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung gleichrangig neben der Erprobung neuer Steuerungsmodelle steht. 1. Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung

Die Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung wirft vom Begriff her ohnehin die Frage des Ziels auf. Eine Weiterentwicklung verlangt eine Antwort auf die Frage "wohin"lO. Die Gemeindeordnungen in Bayern und in Niedersachsen versuchen von der Systematik dazu eine Antwort zu geben, indem sie als Ziele "Neue Steuerungsmodelle" und haushaltsrechtliche Konsequenzen der unterschiedlichsten Art benennen. Im Vordergrund der Experimentierklausel steht die Erprobung von neuen Steuerungsmodellen. Dieser Begriff "Neue Steuerungsmodelle" ist juristisch wenig griffig und so behilft man sich zumeist mit einem Rückgriff auf das bekannte KGSt-Gutachten 11, das die Diskussion um die Einführung dieser neuen Verwaltungsstrukturen auslöste. Ich will den Begriff hier nicht weiter untersuchen, bin aber der Meinung, daß trotz der KGSt-Gutachten und seiner häufigen Benutzung dieser Begriff keineswegs uneingeschränkt eindeutig ist. Das KGSt-Gutachten knüpft letzten Endes an das sog. "Tilburger Modell" an und versucht Konsequenzen aus betriebswirtschaftlicher Sicht für das System des deutschen kommunalen Selbstverwaltungsrechts vorzuschlagen. Das Verwaltungsmodell beruht auf einem betriebswirtschaftlichen Rahmen und soll eine dauerhafte Orientierung der Verwaltung am Ziel größtmöglicher Effizienz ermöglichen. Diese soll durch eine weitgehende Selbststeuerung dezentraler Organisationseinheiten bei lediglich zentraler Rahmensteuerung und einer Hinwendung zur Ergebnis- und Produktorientierung mit gleichzeitiger Kostentransparenz und Verantwortung der dezentralen Einheiten erreicht werden. Hinzu kommt die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Verwaltung und Politik in dem Sinne, daß die Exekutive zwar auf der Grundlage politischer Zielvorgaben handelt, ihr bei deren Ausübung aber eine freie Wahl der Mittel und Wege zukommen soll. In diesem Zusammenhang wird die Gliederung einer kommunalen Verwaltung in Sparten zur organisatorischen Voraussetzung 10 Brüning, aaO (Fußn. 2) spricht von ,,zukunftsorientiert", was auch immer das heißen mag. 11 KGSt-Bericht Nr. 5 / 1993, Das neue Steuerungsmodell: Begründung, Konturen, Umsetzung; KGSt-Bericht Nr. 6/1993, Budgetierung: ein neues Verfahren der Steuerung kommunaler Haushalte; KGSt-Bericht Nr. 8 / 1994, Das neue Steuerungsmodell: Definition und Beschreibung von Produkten. Dazu v.Mutius, Neues Steuerungsmodell in der Kommunalverwaltung, in: "Verfassungsstaatlichkeit", Festschrift f. Klaus Stern z. 65. Geb., S. 685.

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mitgedacht, um so finanzwirtschaftlich mit der Budgetierung der Mittelzuweisung bei gleichzeitiger Erweiterung der haushaltstechnischen Handlungsspielräume ftir operative Stellen nachzuziehen. Damit zusammen hängt die Schaffung von Ressourcenverantwortung einschließlich einer dazugehörenden Rechenschaftspflicht, und es soll die Konzentration der politischen Führung auf Leitentscheidungen erfolgen. Man hat man sich an einem sog. Konzernmodell in den unterschiedlichen Formen orientiert. 2. "Neue Steuerungsmodelle" Schon die Verwendung des Plurals "Neue Steuerungsmodelle" läßt aufhorchen. So eindeutig, wie es zunächst scheint, ist der Begriff "Neue Steuerungsmodelle" also keineswegs zu sehen, denn die KGSt hat nach ihrem grundlegenden Gutachten relativ bald in einem weiteren Gutachten sich bemühen müssen, die Anwendbarkeit der neuen Steuerungsmodelle auf mittlere und kleinere Kommunen nachzuweisen 12. Es liegt auf der Hand, daß in Deutschland, wo die Masse der Kommunen keineswegs zu den größeren kommunalen Einheiten zählt, der Begriff "Konzernmodell" von vornherein in zahlreichen kommunalen Bereichen auf Unverständnis, wenn nicht gar auf Ablehnung stoßen mußte. Zum neuen Steuerungsmodell gehört die Konzentration der politischen Führung auf Leitentscheidungen. In dem Zusammenhang wird häufig die sog. "Kanaldeckelkompetenz" erwähnt. Hier wird deutlich, daß es durchaus Fragezeichen zu setzen gilt, ob mit dem durch Art. 28 des GG verfassungsrechtlich verfestigten Verständnis der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland eine derart strikte Trennung von politischen Leitentscheidungen und verwaltungsmäßiger Ausführung und damit latenter Schwächung der Volksvertretung generell vereinbar ist 13 . Ich habe Zweifel daran l4, ob eine derartige Entwicklung, die zu Parlamentarisierung und Gewaltenteilung auf örtlicher Ebene fUhrt, die Selbstverwaltung voran bringt. Für die schleswig-holsteinischen Gemeinden, von denen nur knapp 90 von insgesamt 1.157 hauptamtlich verwaltet werden, wobei von diesen hauptamtlich verwalteten Gemeinden die Hälfte weniger als 10.000 Einwohner hat, stellt sich das Problem völlig anders dar. Das neue Steuerungsmodell hat in diesen kleinen Kommunalverwaltungen mit ihrer überschaubaren Verwaltung und ihrer ftir Bürger wie auch ftir Kommunalpolitiker jederzeit vorhandenen TranspaKOSt-Bericht NT. 8/95. Vgl. dazu Bovenschulte, "Neues Steuerungsmodel1" und Stel1ung der kommunalen Volksvertretungen, VR 1996, S. 115. t4 Dazu Borchert, Kommunale Selbstverwaltung - Die örtliche Demokratie und ihre Verwaltung, in: Wewer, Demokratie in Schieswig-Hoistein, Altenholzer Schriften Bd. 5, Opladen 1998, S. 427 ff. t2 \3

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renz eine ganz andere Bedeutung als für Großstädte wie Köln, Dortmund oder vielleicht auch die schleswig-holsteinische Landeshauptstadt Kiel. Hier mag das neue Steuerungsmodell einen durchaus sinnvollen Ansatz bieten, der allerdings in vielen oder den meisten kleineren Kommunen nicht so zum Tragen kommen kann. Gerade bei den kleineren kommunalen Einheiten geht der Begriff der "Neuen Steuerungsmodelle" in großen Bereichen ins Leere und ist wenig geeignet, eine Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung zu fördern. In der kommunalen Selbstverwaltung haben das haupt- und das ehrenamtliche Element immer eine ausgewogene Rolle miteinander spielen müssen. Sie waren zwei Seiten ein und derselben Medaille. Das Ergebnis in Schleswig-Holstein zeigt es auch, daß überwiegend in großen oder auch mittleren Städten das neue Steuerungsmodell insgesamt oder Teilbereiche zur Anwendung kommen, in kleineren Kommunen dies aber nicht die entscheidende Rolle spielt. Hier gibt es zum Teil andere Verwaltungsmodernisierungsansätze. So haben wir in unserem Verband ein komplexes interkommunales Kosten- und Leistungsvergleichssystem angeboten, an dem sich 50 Kommunalverwaltungen im dritten Jahr beteiligen und das erste deutliche Erfolge zeigt und in das die ehrenamtliche Seite integriert ist. Bleibt mithin festzustellen, daß die Begriffe "Weiterentwicklung der Selbstverwaltung" und "Neue Steuerungsmodelle" keineswegs durch Normenklarheit überzeugen 15 . Stehen in einigen Ländern die Begriffe "Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung" und "Erprobung von neuen Steuerungsmodellen" relativ unverbunden nebeneinander, so macht dies die Unsicherheit des Gesetzgebers deutlich, hier eine klare Systematik herauszuarbeiten. Dies betrifft insbesondere organisationsrechtliche Fragen der inneren kommunalen Selbstverwaltung, da die Verwaltungsorganisation der Kommunen eher durch die staatliche Gesetzgebung vorgegeben ist. Durchaus mitangedacht sind also geänderte Modelle im Bereich der Organisation der Kommunalverwaltungen. Diese Organisationen betreffen einmal die hauptamtliche Verwaltung und damit den Verwaltungsapparat, der in der Regel dem kommunalen Hauptverwaltungsbeamten unterstellt ist, aber sie können auch Auswirkungen auf die Organisation, d.h. auf die Aufgabenverteilung zwischen Hauptverwaltungsbeamten und der Vertretung selbst haben 16, ja sogar innerhalb der Kommunalvertretung insbesondere zwischen ihr und ihren Ausschüssen zum Problem werden.

1S 16

Kritsch dazu auch Jutzi, aaO, DÖV 1996, S. 25 /26. Kritisch dazu Brüning, aaO (Fußn. 2), S. 283.

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Die Problematik hinsichtlich der organisatorischen Regelungen, soweit sie die interne Verwaltung betreffen, wird deutlich etwa an Formulierungen, wie sie in der Begrundung zur schleswig-holsteinischen Bestimmung enthalten sind. Hier war in der Gesetzesbegrundung festgehalten worden, daß die Experimentierklausel nicht dazu ruhren dürfe, die Stellung der Gleichstellungsbeauftragten in der Verwaltung in Frage zu stellen. Der Gesetzestext allein gibt dazu überhaupt keinen Hinweis, aber in Schleswig-Holstein war die Zustimmung des Frauenrninisteriums im Kabinett zum Entwurf des § 135 a GO nicht zu erlangen, ohne daß man sich dazu bereit erklärte, in der Begrundung wenigstens die Grenzen der organisatorischen Ausnahmesituation aufzuzeigen. 3. Konsequenzen für Verfahrensbestimmungen Es gibt verschiedene Verfahrensregelungen rur die Vertretung und die Gremien. Dies betrifft Fragen der Einladung und Durchruhrung von Vertretungssitzungen, das Verfahren zwischen Vertretung und Ausschüssen und einige wenige sonstige Verfahrensänderungen. Ohne daß Verfahrensregelungen ausdrücklich im Rahmen der Experimentierklausel erwähnt sind, sind sie auf jeden Fall nicht ausgeschlossen, so daß sich hier auch die Frage stellt, ob und wie weit hier Experimente möglich sind. Insbesondere bei Fragen der Einberufung und der Geschäftsordnung können sich hier Probleme stellen. SchleswigHolstein wie alle anderen Länder sehen vor, daß bei einem bestimmten Quorum die Vertretung einberufen werden muß. Kann im Rahmen der Experimentierklausel dieses Quorum nun z.B. erhöht werden, was letzten Endes zur Einschränkung von Minderheitenrechten ruhren würde, oder können Ladungsfristen geändert werden, können Dringlichkeitsregelungen anders bestimmt werden als in der Gemeindeordnung festgelegt, so etwa die Erweiterung der Tagesordnung ohne die bisher notwendige Zweidrittelmehrheit der Vertretung? Dies sind Fälle, die in der Praxis - in Schleswig-Holstein wenigstens - noch nicht aufgetreten sind, die man aber bei adäquater Begrundung möglicherweise unter den Begriff der Weiterentwicklung der Kommunalverfassung ziehen kann. Ob auch der Begriff der neuen Steuerungsmodelle dies abdecken würde, kann mit Fug und Recht bezweifelt werden. 4. Weiterentwickung des Haushaltsrechts Einen prägnanteren Ansatzpunkt sowohl rur die Begriffe "Weiterentwicklung" und "Neue Steuerungsmodelle" bieten nur die haushaltsrechtlichen Regelungen und die Ausnahmemöglichkeiten, die darur vorgesehen wurden. Hat sich doch in den letzten Jahren herauskristallisiert, daß insbesondere das öffentliche Haushaltsrecht einschließlich des kommunalen zu einem wesentlichen Punkt der Kritik geworden ist. Diese Kritik gipfelt darin, das Haushalts-

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recht in den Kommunen dafür verantwortlich zu machen, daß die Finanzprobleme auf der kommunalen Seite so schwer in den Griff zu bekommen sind. Insbesondere das kameralistische System wurde als besonderer Nachteil angesehen, der eine Modernisierung der Verwaltung gerade im kommunalen Bereich stark behindert. Kaufmännische Buchführung, Grundsätze der Betriebswirtschaft, sie sollten in den Vordergrund treten und so ein wirtschaftlicheres Handeln der Verwaltungen auf kommunaler Ebene ermöglichen. Daß diese Überlegungen im Vordergrund standen, zeigen die Länder BadenWürttemberg und Saarland, die sich ausschließlich mit Öffnungsklauseln der Gemeindehaushaltsverordnung begnügen und diese noch nicht in die Gemeindeordnung übernommen haben. Man hofft, mit der Einführung stärkerer betriebswirtschaftlicher Elemente in das kommunale Haushaltswesen über derartige Ausnahmeregelungen bessere "Dienstleistungen" für den Bürger erbringen zu können. Diese sollen Zielpunkte der Orientierung für die Modellversuche sein, aus denen man dann Erkenntnisse für eine dauerhafte neue Regelung gewinnen könnte. Die kommunalverfassungsrechtliche Experimentierklausel spricht ausdrücklich das Haushaltsrecht an oder - in Schleswig-Holstein - auch die Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Betätigung und der privatrechtlichen Beteiligung der Gemeinden, die für experimentierfähig erklärt worden sind. Das bedeutet in erster Linie, daß Abweichungen von Regelungen der Gemeindeordnung über die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden und ihre Beteiligung an privatwirtschaftlichen Unternehmen möglich sind. Der gesetzliche Auftrag des § 103 GO SH, der die Veräußerung von wirtschaftlichen Unternehmen, Einrichtungen und Beteiligungen der Gemeinden nur unter der Voraussetzung für zulässig erklärt, daß die Erfüllung des öffentlichen Zwecks nicht beeinträchtigt wird, wird hier sicherlich zu diskutieren sein. Privatisierung, und ich meine hier die echte Privatisierung, nicht die Scheinprivatisierung, setzt voraus, daß der öffentliche Zweck gerade nicht mehr verfolgt werden muß, so daß die Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Betätigung der Kommunen und ihre Beteiligung an privatrechtlichen Gesellschaften ja gerade ein weiteres Interesse der Kommunen und damit einen öffentlichen Zweck voraussetzt. Aus der Exprimentierklausel ist also weder hinsichtlich der Privatisierung etwas positives noch etwas negatives abzuleiten. Zur Diskussion steht lediglich die Organisation der Mitwirkung der Kommunen in den Unternehmen und Einrichtungen, an denen sie beteiligt sind. Und gerade dies ist natürlich unter den betriebswirtschaftlichen Aspekten, mit denen die Experimentierklausel versehen worden ist, von großer Bedeutung. Auf der anderen Seite bedeutet aber die Zweckbindung dieser Unternehmen, Einrichtungen und Betriebe, die ausschließlich im öffentlichen Interesse geführt worden sind, von vornherein, daß die Sicherung dieser Zweckbindung durch die Ausnutzung der Experimentierklausel nicht in Frage gestellt werden kann. Es kann also lediglich darum gehen, diesen Zweck auf andere als die bisher bekannte und übliche Weise zu sichern.

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IV. Probleme der Anwendung Betrachten wir die Experimentier- und Öffnungsklauseln unter ihren Auswirkungen auf die verschiedenen an der Kommunalverwaltung Beteiligten, so ist zu unterscheiden zwischen internen Auswirkungen, also solchen zwischen kommunalen Organen oder Gremien, und Auswirkungen auf Dritte, also in erster Linie auf den Bürger. Hier kommt nun die besondere Genehmigungspflicht fiir die Anwendung der Klauseln ins Spiel. 1. Die Problematik der Genehmigungsvorbehalte

Bis vor einigen Jahrzehnten gab es eine ausfiihrliche und intensive Diskussion um die Problematik staatlicher Genehmigungsvorbehalte und damit die Auswirkung von Mitwirkungsrechten beim kommunalen Handeln. Das letzte Jahrzehnt war in allen Kommunalverfassungen davon bestimmt, die Genehmigungsvorbehalte der Aufsichtsbehörden weitgehend abzubauen. Aufgabe der Genehmigungsaufsicht ist es, dafiir zu sorgen, daß auch bei einem Modellversuch den demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien der Kommunalverwaltung Rechnung getragen wird. Da der Gesetzgeber selbst mit der Einfiihrung der Experimentierklausel in einem bisher nicht gekannten Maße der Exekutive gegenüber der kommunalen Selbstverwaltung Mitwirkungsrechte eingeräumt hat, müssen diese natürlich vor dem Hintergrund des Art. 28 Abs. 2 GG interpretiert werden. Man muß den Begriff "Weiterentwicklung" als Aufforderung verstehen, nach fast allen nur rechtsstaatlich hinreichend gesicherten Richtungen Experimente durchfiihren zu können, die gleichzeitig den demokratischen Mindestanforderungen entsprechen. Nur auf dieser Basis wird man diese Experimentierklausel unter rechtsstaatlichen und verfassungsrechtlichen Aspekten rechtlich akzeptieren können. Art. 28 Abs. 2 GG öffnet im Prinzip den Kommunen einen sehr großen Spielraum, der lediglich durch den Gesetzgeber eingeschränkt werden kann. Hebt der Gesetzgeber seine üblicherweise im Rahmen der Kommunalverfassung festgelegten Schranken zeitweilig auf und erweitert damit den kommunalen Gestaltungs- und Bewegungsspielraum, so mag man dies im Hinblick auf den Grundsatz der Normenklarkeit und des Wesentlichkeitsprinzips kritisch hinterfragen können I 7. Es macht auch die Genehmigungsvorbehalte als vorbeugende Rechtsaufsichtsmittel aus der Sicht des Art. 28 Abs. 2 GG problematisch. Unterschiede zwischen den Kommunen sind zulässig, denn die Verfas-

17

So Jutzi, aaO, DÖV 1996, S. 25 /26.

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sung fordert keine einheitlich verfaßte Kommunalinstanz l8 ; sie fordert sicherlich eine unter rechts- und sozialstaatlichen Aspekten funktionsfähige kommunale Ebene, die auch in der Lage ist, ihre Aufgaben tatsächlich zu erfiillen. Das bedeutet, daß die Funktionalität der Kommunalverwaltung auch im Rahmen von solchen Experimenten ein Beurteilungskriterium wird. Sie muß insoweit beachtet werden, als bei Fehlschlagen des Versuchs die Rückkehr zu den bisherigen Verwaltungspraktiken möglich sein muß. Dies bedeutet nach meiner Auffassung, daß die Kommunalaufsicht gerade durch die Experimentierklauseln aufgefordert ist, ein weites Experimentierfeld zuzulassen, daß sie aber auch berechtigt ist, eine Erfolgskontrolle zu fordern und selbst zu überprüfen. Dazu gehört es sicherlich, daß die Zielverwirklichung dieses Versuches eingehend im Auge behalten wird. Die Frage der Experimentierdauer ist eine Frage, die nicht schematisch entschieden werden sollte, auch wenn die Kommunalverfassung Niedersachsens 5 Jahre als Maximum vorsieht. Kürzere Fristen sind denkbar. Da heute vielfach die Kommunalwahlperioden auf 5 Jahre ausgedehnt worden sind, sollte zumindest die Vertretung, mit deren Hilfe und Unterstützung ein derartiges Experiment unternommen wird, die Ergebnisse noch bewerten und beurteilen können. Wichtig ist, daß möglichst frühzeitig die Ergebnisse aus den Versuchen im Hinblick darauf bewertet werden, ob sie in eine dauerhafte Regelung überführt werden können. Die Öffnungsklausel in Sachsen-Anhalt gibt der Kommunalaufsicht noch mehr Verantwortung und zwar gegenüber dem Land, den Kommunen und den Bürgern. Die Kontrolle der Aufgabenerflillung ist der einzige Maßstab. Befreiung von Standards soll unproblematisch sein, weil heute schon die Bürger nicht überall die gleichen Leistungen erhalten l9 . Aber die Nichteinhaltung bestimmter technischer Standards im Umweltrecht kann strafrechtliche Konsequenzen haben. Standards sind häufig an bestimmten Grenzwerten orientiert, die Toleranzen enthalten und daher nur in einem gewissen Umfang veränderbar sind. Aber wie erfahre ich, daß eine Gemeinde von der Einhaltung bestimmter Vorschriften dispensiert ist? 2. Wiederbelebung von Ermessensspielräumen Der Wortlaut aller Öffnungs- und Expermentierklauseln redet davon, daß die oberste Kommunalaufsicht solche Ausnahmeregelungen genehmigen

18 Mißverständlich die Formulierung bei Brüning, aaO (Fußn. 2), S. 282 von der "Gleichförmigkeit der Kommunalverwaltung". 19 Mlynek, aaO, DNG 1998, S. 76/77.

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"kann". Das deutet auf einen Ennessensspielraum hin20 , für dessen Ausübung die wenigsten Kommunalverfassungen, vielleicht mit Ausnahme der niedersächsischen, konkrete Hinweise geben. Haben wir es hier also mit einem großen Ennessensspielraum der obersten Kommunalaufsichtsbehörden oder mit einem unbestimmten Rechtsbegriff 1 zu tun? Die Praxis geht von einem Ennessen aus. Mir ist kein Fall bekannt, in dem eine Kommune nach Ablehnung einer solchen Ausnahmegenehmigung den Rechtsweg gegen die Kommunalaufsicht gesucht hätte. Die hier im Gesetz genannten Voraussetzungen für die angesprochenen Ausnahmen könnten im juristischen Sinne "unbestimmte Rechtsbegriffe" sein. Beim Begriff "Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung" zweifle ich aber, da es über das Ziel keine Angaben gibt und der Gesetzgeber selbst wenig konkrete Vorstellungen dazu hatte. Anders könnte man an den Begriff der "neuen Steuerungsmodelle" herangehen. Denn immerhin hat dieser inzwischen doch gewisse Konturen erlangt, daß er zumindest im Einzelfall hinreichend bestimmbar erscheint. Auch bei den anderen Begriffen wird man eine hinreichende Konkretisierung bei einem gewissen Wohlwollen annehmen können, so daß sich die Frage lediglich noch stellt, wer die Frage beantwortet, ob das geplante Modell zur Erprobung notwendig ist. Die niedersächsische Gemeindeordnung schreibt sehr schön vor, welche fonnalen Voraussetzungen zu erfüllen sind. Wenn man dies auch bei den anderen Gemeindeordnungen ähnlich unterstellt, so bedeutet dies, daß der Antragsteller das Ziel seines Ausnahmeantrags darlegen muß und daß er den Weg dahin plausibel aufzeigen muß. Es stellt sich dann die Frage, ob es einer Erprobung bedarf. Die Frage kann sich aus der Sicht der antragstellenden Gemeinde und der obersten Kommunalaufsicht unterschiedlich darstellen. Auf der einen Seite haben wir zur Zeit sehr viele Modellversuche zu laufen - manchmal habe ich den Eindruck, daß viele darüber die Übersicht schon verloren haben - und eine Erprobung von bereits woanders laufenden Modellen mag nicht ohne weiteres zusätzlich notwendig sein. Wer hat dann aber die Beweis- und Darlegungslast? Muß die Kommunalaufsicht dartun, daß genau dieses Ziel und dieser Weg bereits woanders erprobt werden? Vieles deutet darauf hin. Es kann aber auch durchaus sein, daß die Kommunalaufsicht das Ziel als solches bereits nicht akzeptiert und aus diesem Grund sagt, daß eine Erprobung im Rahmen der Experimentierklausel nicht in Betracht kommt. Das würde immer dann der Fall sein, wenn die Kommunalaufsicht unterstellen könnte, der Versuch sei erfolgreich, hätte aber dennoch keine Aussicht, zu einer dauerhaften Regelung der Kommunalverfassung zu werden. Kann dies der Innenminister beurteilen,

20 Vgl. Bericht des Innenministeriums NRW an den Landtag vom 17.3.1998 über die Erfahrungen mit der Anwendung der Experimentierklausel des § 126 GO NW, Vorlage Landtag NW 12/1983. 21 So Brünning, aaO (Fußn. 2), S. 281.

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wo dies doch letzten Endes eine Frage des Landesgesetzgebers ist? Wenn der Gesetzgeber eine solche Experimentier- und Öffnungsklausel geschaffen hat, dann war es gerade sein Ziel, hier den Kommunen den Vorrang einzuräumen und nicht sozusagen eine Zensurinstanz der Landesregierung zwischenzuschalten. Trotzdem wird man nicht umhinkommen, einen gewissen Ermessensspielraum des Innenministeriums anzunehmen, der aber wesentlich durch den Willen des Gesetzgebers bestimmt sein muß, Experimente zuzulassen und zu ermöglichen. 3. Eröffnung von Differenzierungsmöglichkeiten Im Rahmen dieser Ermessensentscheidungen wird sich vielfach auch für den Innenminister die Frage stellen: Gibt es Modellversuche, die in bestimmten Kommunen - und ich denke hier an bestimmte Größenordnungen - sinnvoll sind, während sie in anderen von vornherein wenig erfolgversprechend erscheinen? Ich meine, hier wird man insbesondere einen Spielraum der Kommunalaufsichtsbehörde annehmen müssen. Wir wissen, die Modernisierung von Kommunalverwaltungen ist bisher öffentlich vornehmlich zu Problemen größerer Kommunalverwaltungen geführt worden, weil dort auch der größte Problemdruck bestand. In kleineren überschaubaren Kommunalverwaltungen haben wir eine ganz andere Ausgangslage. Diese betrifft sowohl die Verwaltung im engeren Sinn, deren Überschaubarkeit ein anderes Führungsverhalten und andere Management-Methoden möglich machen, aber auch das Verhältnis Ehrenamt und Hauptamt grundsätzlich anders erscheinen lassen, als dies in den großen Städten der Fall ist. Ich meine daher, daß gerade hier eine gemeindegrößenklassenspezifische Betrachtungsweise notwendig und förderlich wäre. Dies hängt sicherlich von den kommunalen Strukturen der Länder ab. Gerade die heute in vielen Ländern hergestellte kommunale Einheitsverfassung, die nur wenige größenklassenspezifische Änderungen kennt, könnte auf diese Weise sinnvoll in Frage gestellt oder überprüft werden. Die Akzeptanz der Kommunalverwaltungen ist nämlich größenklassenbezogen sehr unterschiedlich. Wir sehen das in Schleswig-Holstein - und nicht nur in Schleswig-Holstein - daran, daß die Kommunalwahlbeteiligungen in den letzten Jahren zwar überall stetig zurückgegangen ist, daß sie aber in den kleineren Kommunen (bis zu 80%) deutlich über der in den größeren Städten (an die 60%) liegt. Das sollte auch bei diesen Fragen - meine ich - zu denken geben. 4. Die echten "Kommunalisierungsklauseln" Die Möglichkeiten des Kommunalisierungsmodellgesetzes NRW nennen nur einen begrenzten Aufgabenkreis, der in Betracht kommt, und nennen als

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Voraussetzungen eine effiziente Aufgabenerfüllung, die kostengÜDstiger sein soll, aber zugleich ohne Qualitätsabstriche zu erfolgen hat. Tauchen hier neue unbestimmte Rechtsbegriffe auf, oder sind es nur Kriterien für die Ausübung des aufsichtsbehördlichen Ennessens? Letzteres ist wohl der Fall. Mithin eine weiter Spielraum für das Innenministerium. Besondere Probleme wirft die sachsen-anhaltinische Regelung auf. Man hat dort darauf hingewiesen, daß die Vorschrift der Flexibilisierung der Aufgabenerftillung dienen soll, und man wollte daher die Vorschrift selbst nicht mit Reglementierungen für ihre Inanspruchnahme befrachten22 • Man hat daher auf alle Kriterien rür eine Genehmigung verzichtet. Unser schleswig-holsteinischer SHGT-Vorschlag will zwar auch staatliches Recht außer Kraft setzen, aber in der Regel durch kommunales Satzungsrecht ersetzen. Es ist also nichts anderes, als wir heute schon kennen, nämlich durch Satzungsrecht Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen. Damit bewegen wir uns wieder auf einigennaßen gesichertem Terrain. 5. Kontrolle der Experimente Da es um Versuche geht, stellt sich die Frage nach einer Erfolgskontrolle. Soweit es sich dabei um gemeindewirtschaftsrechtliche Vorschriften handelt, haben wir hier natürlich den Grundsatz der Effektivität als Legitimationsbasis für den Versuch und seine Kontrolle heranzuziehen. Ein Versuch wird dann zulässig sein müssen, wenn Ziel und Anlage des Versuchs mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, daß diese Verwaltung effizienter und effektiver arbeitet. Man wird allerdings auch noch für zulässig erachten können, daß nur im Rahmen eines Modellversuches ein Nachweis überhaupt erbracht werden kann. Entscheidend ist eine nachvollziebare Prognose. Hierzu ist es aber notwendig, daß die fonnale Seite eines solchen Versuchs stärker mit in die Betrachtung einbezogen wird, wie dies die niedersächsische Regelung vorsieht. Versuchsanlage, Versuchsdurchführung, Versuchskontrolle bedürfen einer klaren Regelung und Überwachung sollen sie denn in der Tat zu Ergebnissen führen, die geeignet sind, allgemeine Regelungen daraus abzuleiten. Nach meiner Kenntnis fehlt es jedoch daran weitgehend23 • In SchleswigHolstein ist das Innenministerium mit der KGSt und den kommunalen Landesverbänden bemüht, - im Rahmen auch natürlich wieder eines Modellversuchs Kriterien rür den Nachweis des Erfolgs von Versuchen dieser Art zu entwikMlynek, aaO, DNG 1998, S. 76/77. Der Bericht des Innenministers NW an den Landtag (Fußn. 20) entspricht aber durchaus diesen Forderungen. 22

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keIn. Dies ist wichtig, weil man bei Beginn des Versuchs versäumt hat, die Kriterien für die Erfolglosigkeit und den Erfolg eines derartigen Versuchs klar zu definieren. Es gibt nicht wenige, die Zweifel daran haben, ob es uns gelingen wird, derartige eindeutige Kriterien noch im nachhinein oder während der laufenden Versuche zu entwickeln.

v. Konsequenzen für den Rechtsstaat Grundsätzlich wird man feststellen müssen, daß die kommunalverfassungsrechtlichen Experimentierklauseln der hier erörterten Art im Prinzip gerade noch mit dem Rechtsstaat und mit den verfassungsrechtlichen Grundbestimmungen vereinbar sind24 • Zur Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gehört allerdings auch die Kalkulierbarkeit, die Berechenbarkeit und die Nachprüfbarkeit von Entscheidungen der Verwaltung. Der Bestimmtheitsgrundsatz, der auch eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips ist, wird bei den hier erörterten gesetzlichen Regelungen bis an die Grenze des Zulässigen strapaziert. Da überwiegend die Experimentierklausel die Verwaltung in ihren inneren Beziehungen betrifft und auch das Haushaltsrecht den Bürger praktisch nicht berührt, werden die hier dargestellten Fragen meist nicht sehr virulent. Da auf der anderen Seite insgesamt die modellhaft erprobten Experimente in der Kommunalverfassung im Verhältnis zur übrigen Tätigkeit der Kommunen nach wie vor relativ gering sind, sind die Auswirkungen für die Kommunen insgesamt und für ihre Tätigkeit nur in Grenzen problematisch. Ein Defizit liegt allerdings darin, daß die Genehmigungen, die zur Nichtanwendung von Rechtsvorschriften führen, nicht öffentlich bekannt gemacht werden. Dies erscheint mir zumindest dann nicht tragbar, wenn die Bürger unmittelbar betroffen sind. Aber auch hier gilt der Grundsatz: Wo kein Kläger, da kein Richter! Insgesamt meine ich, daß es an der Zeit ist, die Zielrichtung der Experimente näher zu definieren, um so Fragen, die zwangsläufig bei längerer Andauer der Experimente auftreten, vermeiden zu können. Probleme sehe ich allerdings bei der sachsen-anhaltischen Regelung. Weder hinsichtlich des Bestimmtheitgrundsatzes noch der Überprüfbarkeit der aufsichtsbehördlichen Entscheidungen gibt es hier nachvollziehbare Regelungen. Ich will nicht sagen, daß der Willkür Tür und Tor geöffnet sind, aber präzise überprüfbare Kriterien erkenne ich nicht. Ferner fehlt die öffentliche Bekanntmachung der Ausnahmegenehmigung.

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So auch Lange, aaO (Fußn. 2), S. 773; Brüning, aaO (Fußn. 2), S. 89.

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Wir haben festgestellt, daß die Initiative zu solchen Experimenten von den Kommunen ausgeht, und daß diese Experimente tendenziell geeignet sind, den Selbstverwaltungsspielraum der Kommunen zu erhöhen. Dies gilt insbesondere für die echten Kommunalisierungsklauseln. Das heißt, die Kommunen tragen letzten Endes für diesen Zeitraum des Versuchs eine besondere Verantwortung. Die Experimentierklausel ist aus meiner Sicht aber deshalb auch problematisch, weil eine modernisierte Kommunalverwaltung nur in einem modernisierten Staatsapparat ihren angemessen Platz findet. Nun ist meines Erachtens unstreitig, daß die Modernisierungsfortschritte in den Kommunalverwaltungen deutlich vor denen in den Landesverwaltungen und der Bundesverwaltung liegen. Gibt es also Rückwirkungen aus der Experimentierklausel auf die staatliche Ebene? Für Schleswig-Holstein kann ich das bejahen. Wir stehen kurz vor einer Beschlußfassung über das Landesverwaltungsgesetz, in dem ebenfalls eine Experimentierklausel vorgesehen werden solf s, die eine Aufgabenverlagerung von Kreisen und Landräten auf die Gemeinden und Bürgermeister ermöglichen soll. Es ist unverkennbar, daß diese Formulierung sich anlehnt an das, was wir im kommunalen Bereich entwickelt haben, allerdings ausschließlich bezogen auf Zuständigkeitsregelungen. Die Notwendigkeit, die Zuständigkeitsverlagerungen durch öffentlich-rechtliche Verträge zu regeln, ist nur auf den ersten Blick positiv. Es deutet sich an, daß die Kreise dem nicht überall positiv gegenüberstehen. Ferner steht zu befürchten, daß die Abhängigkeit der Zustimmung des Innenministeriums vom Einvernehmen der obersten Fachaufsichtsbehörde Sachsen-Anhalt fordert nur das "Benehmen" - zu einer zurückhaltenden Anwendung in der Praxis führen wird. Denn diese Behörden sind ausgesprochen innovationsfeindlich. Aber auch hier ist festzustellen, daß die entscheidenden Grundfragen, wo liegen die konkreten Ziele, welches ist der konkrete Weg, nicht eindeutig beantwortet werden können. Weiterhin ist der Weg das Ziel, der Weg, den man

25 SchI.H.LT. Drucksache 14/ 1478: Entwurf § 25 a LVwG Experimentierklausel. (I) Zur Erprobun.8 einer ortsnahen Aufgabenerfüllung können. I. die Kreise auf die Gemeinden oder Amter Aufgaben übertragen, 2. die Landrätinnen und Landräte auf die Bürgermeisterinnen oder Bürgermeister oder die Amtsvorsteherinnen oder Amtsvorsteher Zuständigkeiten übertragen, die ihnen durch Rechtsvorschrift des Landes zugewiesen sind. Eine solche Aufgaben- oder Zuständigkeitsübertragung ist durch öffentlichrechtlichen Vertrag zwischen den Beteiligen zu vereinbaren. (2) Der öffentlichrechtliche Vertrag bezeichnet die Aufgabe oder Zuständigkeiten, die übertragen wird. Er ist auf höchstens zehn Jahre zu befristen. Er soll einen Kostenausgleich regeln. Er ist vom Kreis im Amtsblatt für Schleswig-Holstein bekannt zu machen. (3) Der öffentlichrechtliche Vertrag bedarf der Zustimmung des Innenministeriums. Soweit er Aufgaben zur Erfüllung nach Weisung zum Gegenstand hat, erfolgt die Zustimmung im Einvernehmen mit der obersten Fachaufsichtsbehörde.

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beschreiten will in der Hoffnung, daß man zu einem Ziel kommt, das man letztendlich dann, wenn man es erreicht hat, auch bejahen kann.

VI. Handhabung in der Praxis 1. In Schleswig-Holstein haben wir zur Zeit 29 Fälle der Ausnutzung der Experimentierklausel für haushalts- und kassemechtliche Bestimmungen und nur 5 organisations- oder personalrechtliche Regelungen. Das ist wenig. Allerdings sind bereits 1997 einige haushaltsrechtliche Experimente positiv in eine Änderung der GemHVO eingeflossen. Die organisationsrechtlichen Modellversuche haben in Schleswig-Holstein auch nur eine geringe Rolle gespielt vergleicht man sie mit den Ausnahmeregelungen, die für den Bereich des Haushaltsrechts erteilt worden sind. Zu diesen wenigen organisatorischen Fragen gehörte z.B. die Entscheidung darüber, daß Entscheidungen über § 27 Abs. 1 S. 3 GO SH nicht nur auf Bürgermeister oder den Hauptausschuß übertragen werden können, sondern auch einem Ausschuß unmittelbar zugewiesen werden können. Dies erschien im Rahmen eines Modellprojektes im Amt Preetz-Land in Schleswig-Holstein für die schnellere Entscheidungsfindung und die Motivation der ehrenamtlichen Ausschußmitglieder notwendig. Diese Ausnahmegenehmigung zu erreichen, war nicht ganz einfach. Es gelang, weil man in § 27 Abs. 1 GO SH wenigstens den gesetzgeberischen Willen zur Delegation von Aufgaben durch die Gemeindevertretung an andere Gremien in der Gemeinde belegen konnte. Schwieriger würde das aber werden bei der Frage, ob im Rahmen einer solchen Ausnahmegenehmigung Abweichungen vom Katalog der durch § 28 GO SH der Gemeindevertretung vorbehaltenen Aufgaben möglich sind. Mit der Statuierung dieses Vorbehaltes hat der Gesetzgeber gleichzeitig den absoluten Vorrang der Gemeindevertretung definiert. Hätte er diesen durch die Experimentierklausel in Frage stellen wollen, hätte er dazu etwas sagen müssen. Denn der Vorbehalt der Entscheidungskompetenz der Gemeindevertretung ist im Ergebnis aus der Sicherung demokratischer Legitimität bei wichtigen Entscheidungen abzuleiten. Auch nach Einführung der Direktwahl der Bürgermeister haben wir in der schleswig-holsteinischen Kommunalverfassung anders als in süddeutschen Ländern und in NRW als Vorsitzenden der Vertretungen eine Extraperson, den Bürgervorsteher. Er hat in der Gemeindeordnung selbst keine ausdrücklichen Zuständigkeiten, die über die der Leitung der Vertretung hinausgehen. Durch die Durchftihrungsverordnung zur GO ist aber bestimmt worden, daß bei öffentlichen Anlässen die Gemeinde durch den Vorsitzenden der Vertretung und durch den Bürgermeister vertreten werden, die ihr Auftreten für die Gemeinde im Einzelfall miteinander abstimmen. Ohne daß dies bisher in Schleswig-

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Holstein aktuell geworden wäre, ist dies ein Punkt, der im Rahmen der Experimentierklausel durchaus in Frage gestellt werden könnte, wenn z.B. eine Gemeinde im Rahmen ihrer Hauptsatzungsregelung die Repräsentation ausschließlich dem jetzt direkt gewählten Bürgermeister übertragen würde und ganz bewußt die Rechte des Bürgervorstehers auf die Leitung der Vertretung beschränken würde. Ob aber umgekehrt auf diese Weise der Ausschluß des direkt gewählten Bürgermeisters von der Repräsentation möglich wäre, ist deshalb schon fraglich, weil der Bürgermeister nach den §§ 50 und 51 GO SH nicht nur für die Aufgabenerfüllung zuständig ist, sondern auch gesetzlicher Vertreter der Gemeinde ist. Ihm ist also ein Aufgabenfeld zugewiesen worden, das über das des Bürgervorstehers in Fragen der Außenrepräsentanz sicherlich hinausgeht. 2. In Nordrhein-Westfalen hat der Innenminister dem Landtag am 17.3.98 einen Erfahrungsbericht vorgelegt26 in dem von 219 Anträgen die Rede ist. Dabei sind auch Anträge von 2 Zweckverbänden, 2 Landschaftsverbänden und dem Kommunalverband Ruhrgebiet. Im übrigen stammen die Anträge aus 139 kommunalen Körperschaften. Auch hier betrifft der Großteil der Anträge haushalts- und kassenrechtliche Vorschriften der GemHVO. Sie hatten im wesentlichen die Bildung von Budgets zum Ziel, sollten die Erklärung der Deckungsfähigkeit von Haushaltsansätzen und deren Übertragbarkeit (sog. "Dezemberfieber") erleichtern. 171 Anträge wurden genehmigt, 17 abgelehnt, 12 zurückgegeben oder -gezogen. 19 Fälle waren bei der Berichtserstellung in Bearbeitung. Die Versagungen betrafen folgende Bereiche: - zur unbegrenzten Übertragbarkeit ohne vom Rat zu beschließende Haushaltsvermerke, - zur "Vermengung" von Verwaltungs- und Vermögenshaushalt, - zur Einbeziehung der Verfügungsmittel des Bürgermeisters bzw. der Dekkungsreserve in gebildete Deckungsringe, - zur Erhöhung der Wertgrenze von 800,- DM rür die Zuordnung von beweglichen Vermögen zum Verwaltungs- oder Vermögenshaushalt, - zur Bildung von Sonderabschlüssen, - zur Übertragung von Anordnungs- und Auszahlungsbefugnis auf Schulleiter, - zur generellen Freistellung von der Anwendung der VOB Teil A, insbesondere Nachverhandlungsverbot.

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AaO (Fußn. 20).

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Die Kommunen sind bei den Genehmigungen zu Berichten verpflichtet worden, für die das Innenministerium Vorgaben gemacht hat. Nach Auffassung des Innenministers geben die Berichte kein einheitliches Bild. Es wird positiv über Einsparungspotentiale berichtet. Das kommunale Rechnungswesen wurde verbessert und zwar in erster Linie durch Kosten- und Leistungsrechnungen in Verbindung mit Produktdefinitionen. Aufbau- und Ablauforganisationen wurden verändert durch Abbau von Hierarchien und Schaffung zentraler Dienstleistungseinheiten wie Bürgerbüros. Größerer Wert wurde auf Mitarbeiterorientierung in den unterschiedlichsten Formen gelegt. Das Berichtswesen und Controlling wurden ausgebaut. Allerdings konnte das Innenministerium keine Einheitlichkeit feststellen. Angesichts der Fülle der Genehmigungen zu Experimenten im Haushalts- und Kassenrecht verwundert es nicht, daß die bisher vorliegenden kommunalen Empfehlungen diesen Bereich treffen. Das sind insbesondere: - mehr Öffnungs- und Experimentierklauseln in bundes- und landesrechlichen Vorschriften, - nur noch Anzeigepflicht bei § 126 GO NRW - Wegfall der Gliederung des Haushaltsplans nach Aufgaben (Funktionen), Verbesserung der Gruppierung nach Arten, - ersatzlose Streichung von § 18 Abs. 2 GemHVO (Deckungsfähigkeit), - Ausnahmegenehmigungen für Deckungsfähigkeit und Übertragbarkeit sollten entfallen. Als besonders hinderlich wird das öffentliche Dienstrecht empfunden (z. B. StellenobergrenzenVO, Arbeitszeitregelungen, Kündigungsschutz). Es werden Reformhemmnisse benannt: Reibungen mit der Politik, Personalrat, fehlende Technikunterstützung, fehlende betriebswirtschaftliehe Kenntnisse, fehlende Motivation bei einem Teil der Führungskräfte. Insgesamt kündigt der Innenminister Änderungen der GemHVO an, weist aber zugleich auf die Notwendigkeit der Einheitlichkeit des Haushaltsrechts der Länder hin. Angestrebt werden: - Einheitlichkeit des Budgets nur im Rahmen der Einzelpläne, - Trennung von Verwaltungs- und Vermögenshaushalt bleibt aufrecht erhalten. Lediglich einseitige Deckungsfähigkeit von Ansätzen der Verwaltungshaushalts zugunsten des Vermögenshaushalts; - bei Kommunen mit Haushaltssicherungskonzepten müssen Einsparungen und Mehreinnahmen in erster Linie zur Reduzierung von Fehlbeträgen verwendet werden; - ein "konservativer" Haushalt wird aus Gründen bundesweiter Vergleichbarkeit und gesetzlichen Statistikvorgaben bis auf weiteres geführt werden müssen.

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3. In Hessen liegt als Erfahrungsbericht nur die Antwort des Innenministers auf eine kleine Anfrage von Februar 1997 vor27 . 28 Kommunen hatten damals Versuche genehmigt bekommen. Der Schwerpunkt lag bei Fragen der Budgetierung und Fragen der kaufmännischen Buchführung. Auch später blieb dies der Schwerpunkt. Kommualverfassungsrechtliche Fragen spielen im übrigen auch jetzt keine große Rolle. 4. Ähnliches gibt es von Bayern zu berichten. Schriftliche Berichte sind mir nicht bekannt. Fragen der Budgetierung stehen bei den Versuchen im Vordergrund und Probleme treten dagegen zurück. Man versucht sich auch an Genehmigungen vorbei zu lavieren. 5. In Sachsen-Anhalt wird in erster Linie ebenfalls für die haushaltsrechtlichen und kassenrechtlichen Vorschriften von der Öffnungsklausel Gebrauch gemacht. Etwas mehr 40 Fälle - zumeist im Zusammenhang mit der Budgetierung - sind bekannt. Nur 8 Anträge wurden in anderen Bereichen gestellt, davon einer genehmigt (Abweichung vom Kindergartenstandard). Regelmäßig nehmen die Fachbehörden einschließlich der Kreise negativ Stellung zu den Anträgen und verzögern deren Bearbeitung mit allerlei Einwänden. Das Innenministerium will aber die Kommunalen Verbände ermuntern, im Sinne der Öffnungsklauseln die Kommunen zu Anträgen zu bewegen. Unsicherheiten in den kommunalen Verwaltungen dieses neuen Bundeslandes lassen aber die gemeindliche Zurückhaltung erklären.

VII. Zusammenfassung der Kritik und Resümee Im Ergebnis bin ich der Meinung, daß die Experimentier- und Öffnungsklauseln sich bei einigen Bemühungen rechtsstaats- und verfassungs gemäß auslegen lassen, weil es immanente Korrektive gibt, mit denen man Defizite z.B. bei der Zieldefinition oder bei der Frage, welcher Weg zu bestimmten Zielen begangen werden soll, beseitigen kann. Wir sind in der Lage, einen Korridor aufzuzeigen für den Weg, der es ermöglicht, diese Ziele zu erreichen. Insoweit meine ich, kann man Bedenken zurückstellen. Problematischer scheint mir aber zu sein, daß es trotz der Existenz dieser Experimentierklauseln, die es nun in einzelnen Ländern doch schon einige Jahre gibt, keine Klarheit über die Ziele gibt, die erreicht werden sollen. Nur wenige Insider vermögen heute noch die zahlreichen Experimente zu verfolgen und auf ihre Sinnhaftigkeit zu überprüfen. Ich glaube zwar, daß es im Rahmen des Gemeindehaushaltsrechts innerhalb kurzer Zeit erreichbar sein müßte, vom

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Hessischer Landtag, Drucksache 14/2536 vom 5.21997.

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Experiment zu eindeutigen gesetzlichen Regelungen überzugehen. Darauf deutet auch die Einsetzung eines Arbeitskreises der Innenministerkonferenz hin, der die bisherigen Erfahrungen auswerten und Gesetzgebungsvorschläge erarbeiten soll. Wir sollten aber unsere Anstrengungen auf die Definition möglichst konkreter Ziele richten, bevor wir uns den Vorwurf zuziehen, daß zwar für Experimente ein ho her Aufwand getrieben worden ist, der z. B. in Schleswig-Holstein über Sonderbedarfszuweisungen aus dem FAG mitgefördert wird, daß aber eindeutige Ergebnisse nur schwer feststellbar sind. Für SchleswigHolstein wenigstens vermag ich derzeitig derart eindeutige Ergebnisse insgesamt nicht zu erkennen, soweit es sich nicht um Fragen des Gemeindehaushalts- und Wirtschaftsrechts handelt. Die hier stattfindenden Experimente werden zu zahlreichen konkreten positiven Ergebnissen führen, ohne eine neue und klare Standortbestimmung für die kommunale Selbstverwaltung werden diese Ziele sich aber nur schwer neu finden lassen.

Anhang Gemeindeordnung NRW § 125 - Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung (Experimentierklausel) (1) Zur Erprobung neuer Steuerungsmodelle und zur Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung auch in der grenzüberschreitenden kommunalen Zusammenarbeit kann das Innenministerium im Einzelfall zeitlich begrenzte Ausnahmen von organisations- und haushaltsrechtlichen Vorschriften dieses Gesetzes oder der zur Durchführung ergangene Rechtsverordnungen erlassen. (2) Ausnahmen können zugelassen werden von den Regelungen über den Haushaltsplan, die Haushaltssatzung, den Stellenplan, die organisationsrechtliche Stellung des Kämmerers, die Jahresrechnung, die Rechnungsprüfung und von Regelungen des Gesamtdeckungsprinzips, zur Deckungsfähigkeit und zur Durchführung sowie anderen Regelungen, die hiermit im Zusammenhang stehen. Kommunalisierungsmodellgesetz NRW (KommG) § 1 - Kommunalisierungsklausel Zur Erprobung neuer Modelle der Aufgabenerledigung können Kreise, Städte und Gemeinden auf Antrag von gesetzlichen Vorschriften nach Maßgabe dieses Gesetzes befreit werden. Der Antrag ist an das Innenministerium zu

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richten. In dem Antrag sind die angestrebten Ziele und vorgesehenen Verfahrensweisen tUr den Modellversuch darzustellen; außerdem ist anzugeben, wie die übertragenen Aufgaben effizient, ohne Qualitätsabstriche und kostengünstiger ertUllt werden können. (In Abs. 2 folgt die Aufzählung der Vorschriften.) Hessen Gemeindeordnung § 133 - Erprobung neuer Steuerungsmodelle (Experimentierklausel)

(1) Das Ministerium des Innern kann tUr die Erprobung neuer Modelle zur Steuerung der Gemeindeverwaltung auf Antrag im Einzelfall zeitlich begrenzte Ausnahmen von Vorschriften dieses Gesetzes und der nach § 154 erlassenen Regelungen nach Maßgabe des Satzes 2 zuzulassen. Die Ausnahmegenehmigung kann unter Auflagen und Bedingungen erteilt werden. (2) Ausnahmen können zugelassen werden über die Regelungen über die Haushaltssatzung, den Haushaltsplan, den Stellenplan, die Jahresrechnung, die örtliche Rechnungsprüfung und von Regelungen des Gesamtdeckungsprinzips, zur Deckungsfahigkeit und zur BuchtUhrung sowie anderen Regelungen, die hiermit in Zusammenhang stehen. Bayern Gemeindeordnung: Art. 117 a - Ausnahmegenehrnigungen Der Staatsminister des Innern kann im Interesse der Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung zur Erprobung neuer Modelle der Steuerung des Haushalts- und Rechnungswesens auf Antrag im Einzelfall Ausnahmen von organisations- und haushaltsrechtlichen Regelungen dieses Gesetzes und der nach Art. 123 erlassenen Vorschriften genehmigen. Die Genehmigung ist zu befristen. Bedingungen und Auflagen sind insbesondere zulässig, um die Vergleichbarkeit des kommunalen Rechtszuges auch im Rahmen einer Erprobung möglichst zu fördern und die Ergebnisse der Erprobung für andere Gemeinden, Landkreise und fiir Bezirke nutzbar zu machen. Niedersachsen Gemeindeordnung:) § 138 - Experimentierklausel: (1) Zur Erprobung neuer Modelle der Steuerung und des Haushalts-, Kassen- und Rechnungswesens im Interesse einer Weiterentwicklung der gemeindlichen Selbstverwaltung kann das Innenministerium im Einzelfall auf Antrag der Gemeinde Ausnahmen von den Vorschriften über

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1. den Haushaltsplan und die Haushaltssatzung, 2. den Stellenplan, 3. die Jahresrechnung, 4. die Rechnungsprüfung, 5. die Deckungsfähigkeit und zeitliche Übertragbarkeit von Haushaltsmitteln, 6. die Buchführung zulassen. (2) In dem Antrag hat die Gemeinde darzulegen, welches Modell erprobt werden soll, von welchen Vorschriften eine Ausnahme begehrt wird und welche Wirkungen auf das zu erwartende Modell von der Ausnahme erwartet werden. (3) Die Genehmigung wird auf längstens 5 Jahre erteilt. Die Gemeinde hat sicherzustellen, daß das Vorhaben plangerecht durchgeführt, ausreichend dokumentiert und ausgewertet wird. (4) Die Gemeinde hat zu einem in der Genehmigung festgelegten Zeitpunkt einen Erfahrungsbericht vorzulegen, den das Innenministerium dem Landtag bekanntgibt. Schleswig-Holstein GO

§ 135 - Weiterentwicklung der kommunalen mentierklausel)

Selbstverwaltung (Experi-

Zur Erprobung neuer Steuerungsmodelle, zur Weiterentwicklung der kommunalen Selbstverwaltung auch in der grenzüberschreitenden kommunalen Zusammenarbeit sowie zur Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Betätigung und der privatrechtlichen Beteiligung der Gemeinden kann das Innenministerium im Einzelfall zeitlich begrenzte Ausnahmen von organisations- und gemeindewirtschaftsrechtlichen Vorschriften des Gesetzes oder der zur Durchführung ergangenen Verordnungen sowie von der ausschließlich für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der kommunalen Körperschaften geltenden dienstrechtlichen Vorschriften des Landes zulassen. Baden-Württemberg GemHVO

§ 49 GemHVO - Ausnahmen zur Erprobung von Regelungen Die obere Rechtsaufsichtsbehörde kann zur Erprobung abweichender Regelungen mit dem Ziel der dezentralen Haushaltsverantwortung auf Antrag von einzelnen Vorschriften dieser Verordnung Ausnahmen zulassen. Die Ausnah-

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men sind zu befristen und können unter Bedingungen und Auflagen erteilt werden. Saarländische GemHVO

§ 47 - Ausnahmen zur Erprobung neuer Steuerungsmodelle in der Kommunalverwaltung Die oberste Kommunalaufsichtsbehörde kann zur Erprobung neuer Steuerungsmodelle in der Kommunalverwaltung auf Antrag Ausnahmen von einzelnen Vorschriften dieser Verordnung zulassen. Die Ausnahmen sind auf längstens 5 Jahre zu befristen und können unter Bedingungen und Auflagen erteilt werden. Brandenburg GemHVO § 43 a

(1) Zur Erprobung neuer Steuerungsmodelle können für einzelne Gemeinden Ausnahmen von den Vorschriften dieser Verordnung zugelassen werden. Die Ausnahmen sind zu befristen, sie können unter Bedingungen und Auflagen erteilt werden. (2) Über die Auswahl der Gemeinden, die neue Steuerungsmodelle erproben wollen entscheidet die oberste Kommunalaufsichtsbehörde. Entsprechende Regelung in § 41 a GemKassenva vom 4.7.1995 GVBl. S.499 Sachsen-Anhalt Gemeindeordnung § 133 Abs.4

Die oberste Kommunalaufsichtsbehörde kann im Benehmen mit der Fachaufsicht zur Erprobung neuer Lösungen bei der kommunalen Aufgabenerledigung für einen vorübergehenden Zeitraum einzelne Gemeinden und Verwaltungsgemeinschaften auf Antrag von der Einhaltung landes gesetzlicher und von der Fachaufsicht generell vorgegebener Rechtsvorschriften und Standards befreien, wenn die grundsätzliche Erfüllung des Gesetzesauftrags sichergestellt ist. Vorschlag Schleswig-Holsteinische Gemeindetag (SHGT) § 135 b - Ersatz landesrechtlicher Vorschriften durch Satzungen. (1) Die Gemeinde kann zur (Erprobung neuer Formen der) Erledigung ihr zugewiesener Aufgaben durch Satzung allgemein oder zur deren Erprobung

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durch Beschluß im Einzelfall von Rechts- und Verwaltungsvorschriften sowie vorgeschriebenen Mindesstandards abweichen, wenn dabei den wesentlichen Zielen der Rechtsvorschriften ausreichend Rechnung getragen wird und so insbesondere den örtlichen Besonderheiten wie Größe und Struktur der Gemeinde besser Rechnung getragen werden kann. (2) Die Satzung oder der Beschluß bedürfen der Genehmigung des Innenministers. Sie kann befristet erteilt und mit Auflagen versehen werden, die der Sicherung des Gesetzeszweckes dienen. Ein Beschluß nach Abs. 1 Satz 1 ist mit der Genehmigung öffentlich bekannt zu machen.

Diskussion zu dem Vortrag von Hartmut Borchert

Hill:

Experimentier- und Öffnungsklauseln sind in letzter Zeit modern geworden. Wir kennen sie aber schon länger, etwa bei der einstufigen Juristenausbildung gemäß § 5b Deutsches Richtergesetz oder beim Ludwigshafener Kabelpilotprojekt im Medienbereich. Das Problem ist eben: Wie kann der Gesetzgeber mit neuen Entwicklungen zurecht kommen? Wie kann der Gesetzgeber lernen? Meiner Ansicht nach ist es unmöglich, daß die Parlamentarier von vornherein alles wissen, was in der Praxis konkret vor Ort richtig und notwendig ist. Und deshalb sind für mich solche Experimentierklauseln ein gesetzgeberisches Instrument, um als Parlament zu lernen. Natürlich müssen die Erfahrungen rückgekoppelt werden und muß der Experimentierspielraum auch rechtsstaatlieh eingegrenzt werden. Meiner Ansicht nach sind diese Experimentierklauseln, es gibt ja unterschiedliche Formen in den einzelnen Ländern, in der Regel verfassungsgemäß. Der Präsident des Staatsgerichtshofs Hessen, Herr Kollege Lange aus Gießen, hat dazu das Treffende für Hessen gesagt. Dem würde ich zustimmen. Es geht dabei meistens um Fragen der Bestimmtheit, der gesetzlichen Ermächtigung zum Experimentieren. Dieser Spielraum, der der Exekutive bei der Art und Weise der AufgabenerfUllung durch Experimentierklauseln gewährt wird, ist auch dem Recht ansonsten nicht fremd. Dies fUhrt auch nicht zu einer Erosion des Rechtsstaates, sondern ist Ausdruck seiner notwendigen Weiterentwicklung. Vor 12 Jahren habe ich mich in meiner Antrittsvorlesung hier in Speyer mit dem Thema "Rechtsstaatliche Bestimmtheit oder situationsgerechte Flexibilität" beschäftigt. Und schon damals war das Spannungsverhältnis aktuell, inwieweit der Gesetzgeber beim Erlaß generell abstrakter Normen alle Fälle vorhersehen kann, oder ob er nicht vielmehr dem Rechtsanwender vor Ort einen Handlungsspielraum gewähren müsse. Wenn aber der Exekutive eine - begrenzte - Entscheidungsfreiheit eingeräumt wird, muß in jedem Fall die gesetzgeberische Intention beachtet werden. Entscheidungsfreiheit ist von daher nicht gleichzusetzen mit vollkommener Unabhängigkeit. Im Polizeirecht beispielsweise wurde schon immer das Instrument des Austauschmittels angewandt. Danach kann der Störer von sich aus ein Mittel anbieten, das zur Zielerreichung ebenso geeignet ist wie ein gesetzlich vorgesehenes, ihn aber weniger beeinträchtigt. Ähnliches gilt fUr das Baurecht, das ebenfalls sogenannte nach-

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giebige Rechtsvorschriften vorsieht, um ein vorgegebenes Ziel auf unterschiedliche Weise erreichen zu können. Die gesamte Dogmatik der Fehlerfolgemegelung baut auf einer Heilung durch Zweckerreichung auf. Der Ansatz, Zwecke und Ziele vorzugeben, ihre Umsetzung unter Berücksichtigung der jeweiligen Sachverhalte der Praxis zu überlassen und alternative Wege zur Optimierung der Zielerreichung zur Verfügung stellen, ist von daher nicht neu. Dillmann: Mir fällt im Anschluß an das, was Herr Professor Hili gerade gesagt hat, auch noch eine versteckte Form der Experimentierklausel ein. Es gibt hin und wieder Verfassungsgerichtsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, aber auch von Landesverfassungsgerichten, in denen anläßlich von Normenkontrollen Gesetze zu überprüfen sind, die besonders stark prognosebehaftet waren. Da kommt es hin und wieder vor, daß die Verfassungsgerichte die Gesetze für verfassungsgemäß halten, aber mit der Maßgabe, daß der Gesetzgeber spätestens nach so und so vielen Jahren die Regelung nochmals zu überprüfen habe. Da kommen diese Prüfaufträge praeter legern, die im Grunde auch darauf hinauslaufen, daß eine Experimentierklausel nachträglich dem Gesetz aufgestülpt wird, wenn auch vom Verfassungsgericht. Mir fällt jetzt aus Bayern ein Fall ein, wo auf Popularklage die bayerische Kampfhunderegelung zu überprüfen war. Der Verfassungsgerichtshof hat die bayerische Kampfhunderegelung zwar für verfassungsgemäß gehalten, hat also gesagt, wir glauben dem Normgeber, dem Verordnungsgeber momentan, daß bestimmte Hunderassen so gefährlich sind, aber man möge doch bitte nach 5 Jahren das ganze noch einmal überprüfen, ob die Prognose wirklich zutreffend war. Schwarting: In vielem bin ich in voller Übereinstimmung mit dem, was Herr Dr. Borchert gesagt hat. Ich will aus unserem Land zwei Entwicklungen oder zwei Beobachtungen beisteuern. Erstens: Am 31.12.1997 lief die Experimentierphase aus und keiner hat's gemerkt! Die Experimente sind einfach weitergegangen. Das ist eine kritische, durchaus skeptisch zu beobachtende Entwicklung. Zweitens: Was wird eigentlich an Experimentierfeldern oder an Experimentiermöglichkeiten in Anspruch genommen? Die Verwaltung stellt die Welt nicht auf den Kopf, auch nicht mit einer Experimentierklausel. Es ist alles ziemlich konventionell, was an Experimentiermöglichkeiten ausgedacht wird. Aus meiner Sicht ist es ausgesprochen problematisch, daß aus den Ergebnissen der Experimente nicht der Nutzen für alle gezogen wird. Jedenfalls habe ich noch nirgendwo gesehen, daß man daraufhin gesetzliche Regelungen in der einen oder anderen Weise auch einmal überarbeitet hat. Denn die Experimente sollten ja dazu dienen, daß für alle etwas herauskommt. Ich denke, man müßte solche Experimentierklauseln auch rollierend machen, so daß also bestimmte

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Erkenntnisse übernommen, dann aber weitere Experirnentierfelder eröffnet werden, um an anderer Stelle etwas neues auszuprobieren. Dabei ist das Experimentieren durchaus heikel. Man wird sicher nicht alles machen können. Ich will auf das eine noch verweisen: Wir nehmen natürlich dann auch gerne ausländische Beispiele. Unsere skandinavischen Kollegen machen uns das mit dem sog. "Ramlag" vor, also einer Rahmengesetzgebung, die weitaus offener ist. Ich habe jedenfalls in Skandinavien nicht den Eindruck, mich in einem unsicheren, rechtsfreien Raum zu bewegen. Und die öffentliche Infrastruktur macht mir auch einen recht ordentlichen Eindruck. Ich denke, insofern kann man von diesen Ländern einiges lernen. Schließlich, Herr Dr. Borchert hat auf eine Reihe von Differenzierungen aufmerksam gemacht; das ist auch eines unserer Probleme. Denn es wird viel zu viel flächendeckend argumentiert. In Rheinland-Pfalz dürfen in jedem Kindergarten nicht mehr als 25 Kinder sein. Das ist völlig unsinnig! In einem Kindergarten sind 20 Kinder schon zu viel und in einem anderen sind 30 Kinder sehr wohl denkbar, weil nämlich nur die ein Hälfte da ist, während die andere Hälfte, aus welchen Gründen auch immer, nicht anwesend ist. Es gibt ja keinen Anschluß- und Benutzungszwang beim Kindergarten, anders als bei der Schule. Wir müssen uns von solchen Vorstellungen lösen. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Wir müssen uns auch von der Vorstellung lösen, daß es notwendig ist, ein Haushaltsrecht fiir alle öffentlichen Verwaltungen zu haben. Jedenfalls erlauben wir es uns im privaten Bereich, daß es auch Kaufleute mit sehr vereinfachter Buchfiihrung geben darf. Warum sind wir eigentlich der Auffassung, im öffentlich Bereich müsse durchgehend ein und dasselbe Haushaltsrecht gelten? Borchert: Ich habe das aus Zeitgründen nicht weiter ausgefiihrt. Ein rechtliches Problem: Gesetze und Verordnungen werden ja alle öffentlich bekannt gemacht, Ausnahmengenehmigungen nicht. Das erfährt die Kommune. Das wird in der Kommune bekannt gemacht. Das erfährt vielleicht auch noch die Vertretung, und damit hat es sich. Das mag, solange das das haushaltsrechtliche Kassenrecht, also die inneren Betriebsabläufe der Kommune, berührt, relativ unproblematisch sein. Wenn wir aber zunehmend in Bereiche hineinkommen, die die Bürger unmittelbar betreffen, dann haben wir aus meiner Sicht ein großes Problem, denn man muß es irgendwie vermitteln. Der Bürger verläßt sich auf Rechtsvorschriften, ein Anwalt auch, und dann wird ihm hinterher gesagt: Es zählt alles nicht mehr, es liegt schon längst eine Ausnahmegenehmigung vor. Deswegen haben wir z.B. in unserem Vorschlag als Gemeindetag gesagt: Die Gemeinde kann zur Erledigung der ihr zugewiesenen Aufgaben durch Satzung abweichen. Dann haben wir nämlich schon die Bekanntmachung. Und nur fiir den Fall der Erprobung haben die noch eine Sonderregelung eben durch Beschluß. Der Beschluß ist dann mit der Genehmigung des Innenministers öffent-

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lieh bekannt zu machen, damit man weiß, daß hier eine Ausnahmeregelung vorhanden ist. Weiterhin haben wir in diesen Vorschlag mit eingebracht, daß in Rechtsvorschriften, Verwaltungsvorschriften und vorgeschriebenen Standards abgewichen werden kann, wenn dabei den wesentlichen Zielen der Rechtsvorschriften ausreichend Rechnung getragen wird, sowie insbesondere den örtlichen Besonderheiten, wie Größe und Struktur der Gemeinde, besser Rechnung getragen werden kann. Denn wir stellen immer wieder fest, daß Standards eben festgelegt werden nach bestimmten Mindestgrößen, und die passen dann vielfach nachher nicht mehr bei kleineren Kommunaleinheiten.

Verzeichnis der Referenten und Diskussionsteilnehmer

Hartmut Borchert, Dr., Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des SchleswigHolsteinischen Gemeindetages, Kiel Hans Peter Bull, Dr., Univ.-Prof., Minister a.D., Universität Hamburg Lothar Dillmann, Vors. Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, München Max-Emanuel Geis, Dr., Univ.-Prof., Universität Konstanz Michael Gerhardt, Dr., Richter am Bundesverwaltungsgericht, Berlin Christine Hagen, Dr., Oberregierungsrätin, Abteilungsleiterin, Landratsamt Freising Herrnann Hill, Dr., Univ.-Prof., Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Friedhelm Hufen, Dr., Univ.-Prof., Johannes Gutenberg-Universität Mainz Peter Jakobs-Woltering, Dr., Rechtsanwalt, Mettmann Peter Kienzle, Referatsleiter, Regierungspräsidium Dresden Helaman Krause, Dr., Erster Beigeordneter, Landkreis Uckerrnark, Prenzlau Gabriele Luczak-Schwarz, Regierungsrätin, Innenministerium Baden-Württemberg, Stuttgart Hartmut Meyer, Ministerialrat, Ministerium für Umwelt, Natur und Forsten des Landes Schieswig-Hoistein, Kiel Klaus G. Meyer-Teschendorf, Dr., Ministerialrat, Bundesministerium des Innem, Bonn Jörg Peter, Dr., Oberregierungsrat, Staatsministerium Baden-Württemberg, Stuttgart Gunnar Robert Schwarting, Dr., Geschäftsführer des Städtetages RheinlandPfalz, Mainz Raimund Wimmer, Dr. Dr., Professor, Fachanwalt fur Verwaltungsrecht, Bonn

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Verzeichnis der Referenten und Diskussionsteilnehmer

Pia Wolters, Regierungsdirektorin, Bezirksamt Bergedorf der Freien und Hansestadt Hamburg Jan Ziekow, Dr., Univ.-Prof., Deutsche Hochschule rur Verwaltungswissenschaften Speyer