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German Pages 571 Year 2007
Philosophische Schriften Band 70
Handeln und Bedeutung L. Wittgenstein, Ch. S. Peirce und M. Heidegger zu einer Propädeutik einer hermeneutischen Pragmatik
Von
Jörg Wernecke
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
JÖRG WERNECKE
Handeln und Bedeutung
Philosophische Schriften Band 70
Handeln und Bedeutung L. Wittgenstein, Ch. S. Peirce und M. Heidegger zu einer Propädeutik einer hermeneutischen Pragmatik
Von
Jörg Wernecke
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Augsburg hat diese Arbeit im Wintersemester 2002/2003 als Habilitationsschrift angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-12239-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Danksagung Mit dieser Untersuchung, die von der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg im Wintersemester 2002/03 als Habilitationsschrift angenommen und in der nun vorliegenden Druckfassung um das Schlußkapitel ergänzt worden ist, liegt das Ergebnis einer Forschungstätigkeit (Stand 2004) vor, mit der trotz verspäteter Drucklegung die Hoffnung verbunden ist, daß deren systematische Problemstellung sich nach wie vor für bestimmte Leserkreise als heuristisch interessant erweist. In diesem Kontext schuldet der Verfasser wesentlich der Unterstützung, Förderung und Anteilnahme anderer Personen Dank. In einer Zeit, in der sich vor dem Hintergrund der aktuellen hochschulpolitischen Bedingungen die Situation der Philosophie und der Geisteswissenschaften an den deutschen Hochschulen dramatisch verschlechtert hat, gebührt mein Dank insbesondere Herrn Prof. Dr. A. Baruzzi, der es mir ermöglichte, als Assistent an seinem Lehrstuhl tätig zu sein und dem ich vielfältige Anregungen sowie Unterstützung verdanke. Ohne diesen Hintergrund wäre die langjährige Beschäftigung mit dieser Thematik bzw. die Erstellung dieser Studie nicht möglich gewesen. Mein besonderer Dank gebührt Herrn Prof. Dr. S. Müller, dem ich nicht nur persönlich wesentliche Förderung und Unterstützung verdanke, sondern der die vorliegende Untersuchung durch gemeinsame Gespräche mit Rat und Tat über Jahre begleitet hat. Insbesondere seinem Engagement und seiner Anteilnahme verdankt sich der Abschluß dieser Studie. Es ist des weiteren der engere Kreis des Instituts für Philosophie der Universität Augsburg, der mit seinem philosophisch offenen und konstruktiven Forschungsklima direkt und indirekt diese Arbeit über Jahre begleitet hat, aus dessen Kreis mein Dank für seine wichtige Unterstützung insbesondere Herrn Prof. Dr. K. Mainzer gebührt. Nicht nur die genannten Herren, auch Herr Prof. Dr. C.-A. Scheier und Herr Prof. Dr. C. Strube unterzogen sich der nicht unerheblichen Mühe der Begutachtung. Ihnen ist ausdrücklich für diese neben den erheblichen Arbeitsbelastungen des Hochschulalltags zusätzlich auf sich genommenen Mühen Dank zu sagen. Eine weitere, dem Augsburger Institut für Philosophie nahestehende Person, soll im Rahmen dieser Danksagung nicht unerwähnt bleiben: Herr Prof. Dr. U. Weiß nahm über Jahre regen Anteil an der Entstehung dieser Studie und unterstützte mich mit wertvollem Rat.
Danksagung
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An letzter Stelle gebührt meinen Eltern eine besondere Danksagung. Aber letztlich fehlt es an den gebührenden Dankesworten, die ihrer allgemeinen Unterstützung und Anteilnahme entsprechen könnten. Meinem am 9. Mai 1999 verstorbenen Vater sei diese Arbeit gewidmet. Ulm im April 2007
Jörg Wernecke
Inhaltsverzeichnis Einleitung ....................................................................................................................... 9
1. Kapitel Zur Propädeutik von „Handeln“ und „Bedeutung“ 1. Die Begriffe „Praxis“, „Handeln“ und „Pragmatik“ .................................................. 39 2. Die Begriffe „Bedeutung“, „Bedeutsamkeit“ und „Sinn“ ......................................... 69
2. Kapitel Ludwig Wittgenstein. Von einer sprachlichen Bedeutungs- zu einer Handlungskonzeption der Sprache 1. Einleitung ................................................................................................................ 111 2. Die pragmatische Problemstellung vor dem Hintergrund von Wittgensteins Sinn- und Bedeutungsbegriff …...……………………………………………………. 122 a) Sinn und Bedeutung im Tractatus logico-philosophicus .................................... 122 b) Vom Tractatus zur Spätphilosophie Wittgensteins. Bedeutung und Sinn in Vermittlung von Regel und Grammatik ......................................................... 154 c) „Verstehen“, „Bedeutung“ und „Sinn“ in der Spätphilosophie ......................... 171 3. Sprachspiel, Lebensform und Praxis .................................................................…. 205
3. Kapitel Charles Sanders Peirce. Von einer pragmatischen Bedeutungskonzeption zu einer handlungskonzeptionellen Zeichentheorie 1. Einleitung ................................................................................................................ 231 2. Der Pragmatismus und die handlungs- sowie bedeutungstheoretischen Implikationen ………………………………………………………………………... 246 a) Eine handlungs- und bedeutungskonzeptionelle Problemanalyse: Peirces „Pragmatische Maxime“ ............................................................................. 246 b) Erkenntnistheoretische Implikationen ................................................................ 271 c) Die Beziehung von Semiotik und „Bedeutung“ ................................................. 305 3. Peirces Handlungskonzeption und der Bezug zur Zeichentheorie .......................... 342
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Inhaltsverzeichnis 4. Kapitel Sprache, Zeichen und Dasein. Von der Bedeutung zur Bedeutsamkeit
1. Wittgenstein und Peirce: Eine Bezugnahme ........................................................... 370 2. Von Wittgenstein und Peirce zu Heidegger: Widerspiegelungen und Fortführungen .......................................…...….………………..…………..……….... 389 a) Hinführung ......................................................................................................... 389 b) Methodische Linienzüge Heideggerschen Philosophierens …........................... 393 c) Von der Bedeutung zur Bedeutsamkeit .............................................................. 409 d) Bedeutsamkeit und Handeln ............................................................................... 431 e) Die Sprache und das ‚andenkende Handeln‘ ...................................................... 451
5. Kapitel Hermeneutische Pragmatik: Ein Ausblick 1. Hinführung: Jenseits von Universalismus und Relativismus .................................. 470 2. Problemsichtung – Synopsis …………………………………………..………….. 472 a) Die hermeneutische Problemstellung innerhalb des EG~0 mittels des neuzeitlichen sprachlich-theoretischen Instrumentarium verschleiert werden soll. 5
Innerhalb des sprachanalytischen Zugangs soll die Frage: „Was ist eine Handlung?“ durch die Beantwortung der Frage „Wie sprechen wir über Handlungen?“ geklärt werden. Ausgangspunkt bildet demnach unser normalsprachliches Sprechen von Handlungen, womit unterstellt wird, daß in diesem Sprechen bereits ein spezifisches Verständnis hinsichtlich des Phänomens „Handeln“ zum Ausdruck kommt bzw. rekonstruiert werden kann. Innerhalb des sprachanalytischen Zugangs zum Handlungsbegriff können idealtypisch zwei konträre Ansätze unterschieden werden: Zum einen die Intentionalisten, die eine Bestimmung einer Handlung ohne das Erfassung der immanenten Intentionen (Motive, teleologische, finale Erklärung) als nicht adäquat bewerten, und die Kausalisten, die Handeln vor dem Hintergrund einer kausalen Erklärung zu bestimmen versuchen. Hin-
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Metatheorie wäre in diesem Zusammenhang jedoch unangebracht, wenn mit ihm entweder die Erwartung einer umfassenden Theorie oder eine begründungstheoretische Funktion, vermittelt etwa über einen spezifisch methodologischen Zugang (etwa sprachanalytisch), verbunden würde. Als eine adäquatere und neutralere Kennzeichnung des Zugangs dieser Studie, in Abgrenzung zum Etikett „Handlungstheorie“, werte ich hingegen die Umschreibung „Philosophie der Handlung“, insoweit nach den Gegebenheiten, Ermöglichungsbedingungen und Erschließungsleistungen im Kontext des Phänomens der Handlung sowie nach der Handlungssituation des Menschen gefragt wird.6 Ein weiteres mögliches Mißverständnis drängt sich im Kontext des Begriffs der „Bedeutung“ auf. Auch hinsichtlich der in dieser Untersuchung erfolgenden Thematisierung des Begriffs der „Bedeutung“ sei ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß keineswegs die Intention verfolgt wird, eine sogenannte reine Theorie der Bedeutung im Sinne einer linguistischen oder sprachphilosophischen Theorie zu formulieren, die möglicherweise klärt, was unter dem Ausdruck „Bedeutung“ ‚eigentlich‘ bzw. ‚an-sich‘ zu verstehen, wie die Bedeutung der „Bedeutung“ mittels einer Sprachtheorie konsistent rekonstruktiv bestimmbar sei. Diese Abhandlung ist auch weder der formalen Semantik noch einer formalen Pragmatik im Umfeld der analytischen Philosophie zuzuordnen. Obwohl den Ausgangspunkt im folgenden Kapitel sprachphilosophische Erörterungen zum Bedeutungs- und Sinnbegriff (sowie Handlungsbegriff) bilden, wird die sprachphilosophische Ebene nach einigen Analyseschritten wieder verlassen, da zum einen m. E. inhaltliche Defizite durch die methodische Reduzierung auf das Sprachphänomen zu identifizieren sind und zum anderen innerhalb dieser Abhandlung eine weitergehende Erkenntnisintention verfolgt werden soll, indem die Momente der „Bedeutung“ sowie des „Sinns“ in Relation zum Phä____________________
sichtlich dieses analytischen Zugangs sei exemplarisch etwa auf D. Davidson (Handeln (orig.: Agency), in: dgl., Handlung und Ereignis, Frankfurt a.M. 1990, S. 73 – 98) verwiesen, der ein Modell der Handlungskausalität entwirft. 6 In Anlehnung an H. Poser (Einleitung: Probleme einer Philosophie der Handlung, in: dgl. (Hg.), Philosophische Probleme der Handlungstheorie, Freiburg, München 1982) verwende ich die Kennzeichnung einer Philosophie der Handlung insbesondere durch eine Fragestellung, „[...] die sich aus einer Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen von Handlungen und Handlungstheorie ergeben.“ (A.a.O., S. 21) Seine thematische Eingrenzung, d. h. „[...] den ontologischen Status von Handlungen, das Problem der Identität von Handlungen, das Kausalitätsproblem in Gestalt der Frage, ob Handlungsintentionen als Ursachen für Handlung anzusehen sind oder ob die Intention des Handelnden logisch mit der Handlung verknüpft ist [...]“ (ebd.), erachte ich hingegen als bereits zu spezifisch einschränkend. Hingegen folge ich der von F. Kaulbach (Kants Philosophie des Handelns und ihre aktuelle Bedeutung, in: Stachowiak, H. (Hg.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. I, Hamburg 1986, S. 455 – 482) formulierten Bestimmung: „Es geht um philosophische Erkenntnis dessen, das den Namen Handeln bzw. Handlung führen darf und der Bedingungen, unter denen Handeln in heutiger Zeit steht: in welcher Bedeutung und in welchem Maße der Mensch Freiheit zum Handeln beanspruchen kann.“ (A.a.O., S. 455)
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nomen der „Handlung“ erörtert werden. Die Thematisierung des Bedeutungsund Sinnbegriffs ist im Rahmen dieser Abhandlung somit ausdrücklich nicht primär auf einen sprachphilosophischen Themenkomplex ausgerichtet, auch wenn Sprache auf der pragmatischen Ebene selbstverständlich als genuine Handlungsform, d. i. eine Sprech- sowie Sprachhandlung, interpretiert und thematisiert werden kann.7 Hinsichtlich der eingangs formulierten Frage nach einer möglichen Verortung dieser Untersuchung bietet sich eine Zuordnung zur „Praktischen Philosophie“ an, auch wenn innerhalb der akademischen Landschaft keineswegs eine Übereinkunft dahingehend gegeben ist, was unter dem Etikett „Praktische Philosophie“ abschließend zu verstehen sei.8 Praktische Philosophie kann z. B. sowohl in Form des Aufgreifens ethischer Fragestellungen verstanden, als auch im Hinblick auf die praktische Begründung theoretischer Erkenntnis betrieben werden. Eine Parteinahme für eine der beiden Positionen soll an dieser Stelle ausdrücklich nicht erfolgen, da die jeweiligen Positionen bereits vielfältige und weitreichende Vorentscheidungen beinhalten. Der Begriff „Praktische Philosophie“ wird im Kontext dieser Untersuchung mit jenem umgreifenderen Verständnis gebraucht, insoweit mit ihm die klassische Bedeutung im Sinne einer Philosophie menschlicher Angelegenheiten verbunden wird.9 Innerhalb des Themenumfeldes einer Philosophie der menschlichen Angelegenheiten erfahren jedoch zwei Momente in den folgenden Erörterungen eine besondere Hervorhebung: dies sind die Momente „Handlung“ und „Bedeutung“ hinsichtlich ihrer ____________________ 7 Es läßt sich demnach durchaus ein enger Zusammenhang zwischen der Handlungstheorie und einer Sprachpragmatik sowie pragmatischen Sprachphilosophie identifizieren. Eine Übersicht gibt etwa: H. Lenk (Hg.), Handlungstheorie, Bde. I u. II, München 1977/78. Unter diesen Zugang sind sowohl um eine pragmatische Dimension erweiterte Sprachmodelle (Morris, Carnap) als auch die Thematisierungen expliziter Sprach- und Sprechhandlungen (Kommunikation, sprachliche Begründungshandlungen) subsumierbar. 8 Ein Ansatz vor dem aristotelischen Hintergrund der Einheit von Ethik und Politik ist etwa J. Ritter (Politik und Ethik in der praktischen Philosophie des Aristoteles, in: Pöggeler, O. (Hg.), Hermeneutische Philosophie, München 1972, S. 153 – 176) zu entnehmen. Hinsichtlich eines Verständnisses von „Praktischer Philosophie“ im Sinne einer philosophischen Anthropologie vor dem Hintergrund einer Ontologie und philosophischen Theologie vgl. m.: Schwan, A., Das Ethos des politischen Handelns, in: Poser, H. (Hg.), Philosophische Probleme der Handlungstheorie, Freiburg, München 1982, S. 327 – 348. Eine konzeptionelle Ausarbeitung unternimmt: Wetzel, M., Praktischpolitische Philosophie, Grundlegung, Freiburg, München 1993. Vor einem phänomenologischen Hintergrund sei hingewiesen auf: Sepp, H. R., Praxis und Theoria. Husserls transzendentalphänomenologische Rekonstruktion des Lebens, Freiburg, München 1997. 9 Vgl. mit: Bien, G., Einleitung, in: Aristoteles, Politik, übers. v. E. Rolfes, Hamburg 19814, S. XVII, XLV. Hinsichtlich der immanenten Verlegenheiten gegenwärtiger philosophischer Diskussionen zur Praxis und praktischen Philosophie, sowie im Hinblick auf das platonische und aristotelische Praxisverständnis vgl. m.: Baruzzi, A., Was ist praktische Philosophie?, a.a.O..
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möglichen Beziehung zueinander. Die Betonung liegt ausdrücklich auf der relationalen Struktur zwischen den beiden Strukturelementen in Form der Handlung und der Bedeutung, wonach die Relation, das Bezugsgeflecht beider Elemente einer Analyse unterzogen werden soll. Die zugrundeliegende Ausgangshypothese lautet infolge, daß eine gegenseitige Verweisung der Momente „Handlung“ und „Bedeutung“ gegeben ist, woraus im folgenden die Aufgabe erwächst, diese Beziehung und einen womöglich bestehenden (genetischen und / oder wechselseitigen) Konstitutionszusammenhang näher aufzuklären. Letztere Aufklärungsarbeit wird in unterschiedlichen Komplexitätsstufen bzw. Ausdifferenzierungen anhand der drei Autoren Wittgenstein, Peirce und Heidegger in den Kapiteln 2 bis 4 in jener Form vollzogen, indem die diesbezüglich drei unterschiedlichen Zugangsweisen hinsichtlich der Momente „Handeln“ und „Bedeutung“ je spezifische, sich ausdifferenzierende Problemeinsichten erschließen sollen. Bei diesem Vorgehen handelt es sich demnach um eine problemzentrierte ‚Material‘Sichtung, die sodann die Voraussetzungen dafür bildet, um in Kapitel 5 zusammenführend einen Ausblick auf jenen Problembestand zu geben, der im Untertitel dieser Untersuchung als „hermeneutische Pragmatik“ gekennzeichnet wird. Bevor jedoch letzterer Ausblick formuliert werden kann, nötigt der eingangs bereits formulierte Hinweis, daß die beiden Begriffe „Bedeutung“ und „Handlung“ zu den vieldeutigsten des philosophischen Begriffskanons gezählt werden können, zu einer Sichtung des semantischen Feldes beider Begriffe, um womöglich bereits im Vorfeld quasi dezisionistisch vollzogenen Begriffsdefinitionen vorzubeugen. Infolge dienen die in Kapitel 1 erfolgenden historisch-systematischen Begriffsanalysen auch der Intention, das z. T. unterschiedliche Begriffsverständnis innerhalb der anschließend diskutierten verschiedenen Paradigmata deutlich werden zu lassen, Unterschiede, die zu einem nicht unerheblichen Teil für die differenten Erschließungsleistungen der spezifisch Wittgensteinschen, Peirceschen und Heideggerschen Zugänge im Hinblick auf die Begriffe bzw. Problemfelder „Bedeutung“ und „Handeln“ verantwortlich sind. Die in den Kapiteln 2 bis 4 anschließenden Erörterungen zu Ludwig Wittgenstein, Charles Sanders Peirce und Martin Heidegger dienen vornehmlich dazu, einen differenzierten Problemhorizont und ein Analyseinstrumentarium für die Aufklärung der Relation der Phänomene „Handlung“ und „Bedeutung“ zu erarbeiten. Die Wahl bzw. der Rekurs auf diese drei Autoren ist demnach in jenem Anliegen begründet, daß trotz der weitreichenden Unterschiede des philosophischen Zugangs und der ‚Ergebnisse‘ innerhalb der drei Paradigmata ein je paradigmaimmanent heuristisch wertvoller philosophischer Beitrag im Hinblick auf die Momente „Handlung“ und „Bedeutung“ sowie deren Relation in Form eines Sprachhandelns (Wittgenstein), einer Zeichenhandlung (Peirce) und einer hermeneutisch-fundamentalontologischen Praxis (Heidegger) implizit formuliert wird. Das zugrundeliegende Erkenntnisinteresse hinsichtlich der Analysen dieser drei Autoren ist daher heuristisch systematisch und primär nicht exegetisch
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bestimmt, insofern fruchtbare Problemeinsichten innerhalb der Wittgensteinschen, Peirceschen und Heideggerschen philosophischen Überlegungen zur thematischen Ausrichtung dieser Abhandlung werkimmanent (implizit oder explizit) identifiziert werden sollen. Diese Zugangsweise impliziert somit auch, daß weder nach bloßen Analogien der drei Autoren gesucht, noch eine Reduktionsmöglichkeit der drei Paradigmata auf die diese Untersuchung leitende systematische Perspektive unterstellt wird: Weder Wittgenstein, Peirce, noch Heidegger sind auf das Etikett „hermeneutische Pragmatik“ reduzierbar oder sollen in diesem Sinne rekonstruiert bzw. erprobt werden. Hingegen werden innerhalb der Einzelparadigmata wichtige und je spezifische Einsichten hinsichtlich der systematischen Entzifferung der relationalen Struktur der Momente „Handlung“ und „Bedeutung“ implizit thematisiert, die erst in einer über die jeweiligen Autoren hinausgehenden Sichtung eine adäquatere Bestimmung einer „hermeneutischen Pragmatik“ erlauben. Die Ausführungen zu den jeweiligen Autoren sind somit auch nicht im Sinne einer Erprobung der Arbeitshypothese „hermeneutische Pragmatik“ konzipiert, sondern dienen in Form einer Materialsichtung und -sammlung der Ausdifferenzierung der Thematik, indem die je unterschiedlichen Zugangsweisen hinsichtlich der Problembereiche „Bedeutung“ und „Handeln“ einerseits und ihrer Bezugnahme andererseits erarbeitet werden sollen. Keines der drei verhandelten Paradigmata wird infolge auch im Sinne der Reduktionsmöglichkeit auf eine explizite Bedeutungs- oder Handlungstheorie erörtert. Dennoch haben die drei in dieser Untersuchung verhandelten Autoren m. E. wesentliche (d.h. implizit (unausgesprochene) und / oder explizit formulierte) Beiträge, insbesondere auch in kritischer Abgrenzung zu tradierten Bedeutungs- und Handlungskonzeptionen, formuliert, die erst in einer übergreifenden Gesamtsicht der noch zu entschlüsselnden Bezugnahme der beiden Momente „Bedeutung“ und „Handeln“ im Sinne der Kennzeichnung einer „hermeneutischen Pragmatik“ den philosophisch relevanten Inhalt zu geben vermögen. Im Hinblick auf den methodischen Zugang dieser Untersuchung im Kontext der drei Autoren muß des weiteren hervorgehoben werden, daß zunächst ein weitgehend werkimmanenter Ansatz dahingehend gewählt wird, als die Darstellung den jeweils unterschiedlichen Zugangsweisen der drei Paradigmata gerecht zu werden versucht, ohne freilich den Anspruch einer jeweiligen Gesamtsichtung auf Grund der primär systematischen Problemstellung und des begrenzten Rahmens dieser Arbeit einlösen zu wollen oder gar zu können. Darüber hinaus wird vor dem Hintergrund der sehr unterschiedlichen methodischen Ansätze der drei Autoren innerhalb der jeweiligen Einzelanalysen bewußt eine kritisch abgrenzende Stellungnahme zunächst weitgehend vermieden, nicht nur um den jeweiligen philosophietheoretischen Kontexten ihren notwendigen Artikulationsraum zu ermöglichen, sondern um eine Verengung in Form eines methodisch und inhaltlich voreingenommenen Blicks des Verfassers (und des Lesers) mög-
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lichst zu verhindern. Die Analysen folgen demnach nicht der nach wie vor des öfteren anzutreffenden methodischen Dichotomie zwischen einem einerseits sprachanalytischen, logischen und einem andererseits phänomenologischhermeneutischen Zugang. Trotz der in dieser Untersuchung verhandelten methodisch und inhaltlich sehr unterschiedlichen Paradigmata können die folgenden Erörterungen infolge auch als ein Versuch eines zumindest thematischen Brückenschlags zwischen formalsprachlich-logischen, sprachanalytischen und hermeneutisch-phänomenologischen Ansätzen verortet werden, ohne jedoch die z. T. weitreichenden Differenzen unterschlagen zu wollen. Wenn im folgenden eine erste Skizze der in den Kapiteln 2 bis 4 jeweils erörterten Paradigmata im Sinne einer Vorschau unternommen wird, so kann vorausgreifend festgehalten werden, daß allen drei Autoren (bei allen weitreichenden Unterschieden) die Verabschiedung einer essentialistischen Bestimmung einer „Bedeutung-an-sich“ im Sinne einer diesbezüglich (vermeintlich) vorausliegenden und zu entdeckenden Wesenheit bzw. eidetischen Evidenz gemeinsam ist.10 Allen drei Autoren ist des weiteren gemeinsam, daß sie in je spezifischer ____________________ 10
Wenn in den folgenden Ausführungen hinsichtlich der erörterten Autoren der Ausdruck „Bedeutungstheorie“ herangezogen wird, so muß den Begriffsklärungen in Kapitel 1 vorausgreifend hervorgehoben werden, daß mit dieser Kennzeichnung nicht eine essentialistische Bestimmung einer „Bedeutung-an-sich“ unterstellt wird. Die Verwendung des Ausdrucks „Bedeutungstheorie“ wird dahingehend herangezogen, insoweit Wittgenstein, Peirce und Heidegger in ihrer Abgrenzung von einer essentialistischen Bedeutungskonzeption heuristisch wertvolle Beiträge zur Bedeutungsthematik formulieren, die des weiteren hermeneutische und pragmatische Bezüge implizieren. Im Kontext der späten Wittgensteinschen Ausführung muß beachtet werden, daß er weder an der expliziten Formulierung einer allgemeinen Bedeutungstheorie noch Sprachtheorie interessiert war, sondern die konstitutive Funktion unserer Sprache hinsichtlich unseres Denkens bzw. Philosophierens kritisch aufzuklären trachtete. Mit der insbesondere in seiner Spätphilosophie formulierten Kritik an traditionellen Bedeutungstheorien, die durch die (nicht unproblematische) Kennzeichnung „Gebrauchstheorie der Bedeutung“ in der Sekundärliteratur des öfteren gekennzeichnet wird, begründet Wittgenstein sodann philosophisch einflußreiche Folgediskussionen. Hinsichtlich der Erörterungen zu Peirce ist anzumerken, daß den sowohl implizit als auch explizit thematisierten bedeutungstheoretischen Implikationen im Kontext sowohl seiner „Pragmatischen Maxime“ als auch seines semiotischen Ansatzes nachgegangen wird, die selbst wiederum in einen umgreifenderen methodischerkenntnistheoretischen Kontext (Theorie des Bewußtseins, Denkens, Wahrnehmens, Erkennens, der Logik, Philosophie) eingebettet sind. Ohne mit den folgenden Ausführungen daher einen Anspruch auf eine Gesamtsichtung seiner philosophischen und semiotischen Arbeiten erheben zu wollen, kann doch festgehalten werden, daß sich sein Zugang gegenüber den traditionell essentialistischen, modernen sprachanalytischen oder semantischen Bedeutungstheorien insoweit unterscheidet, als er hinsichtlich der Relationenelemente „meaning“ und „interpretant“ implizit u.a. einen spezifischen Bezug zum Moment des Handelns formuliert. Es ist infolge insbesondere der seiner „Pragmatischen Maxime“ (Methode) und seinem semiotischen Ansatz implizite originelle theoretische Beitrag hinsichtlich der Einzelmomente „Bedeutung“ und „Handeln“ sowie deren Relation, der im folgenden im Mittelpunkt der Analysen steht. Im Hinblick auf Heideggers bedeutungstheoretischen Zugang kann festgehalten werden, daß er sich zwar zunächst noch an der phänomenologischen Bedeutungstheorie Husserls orientiert hat, sie infolge jedoch
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Weise diesbezüglich eine Beziehung hinsichtlich eines EG~0) vor dem aristotelischen Hintergrund erschlossen, zugleich stets eine ethisch-normative Problemdimension beinhaltet, worauf auch jener Umstand hinweist, daß wir selbst im Moment des „Nichts-Tun“ eine ethisch motivierte Haltung einnehmen können, die auf einer bewußten Entscheidung beruhen kann. Insbesondere vor diesem ethischen Problemhintergrund wird auf eine wichtige Implikation des Handlungsbegriffs aufmerksam gemacht, wonach menschliche Existenz genuin mit der Notwendigkeit der Reflexion, sodann Verantwortung hinsichtlich Zielund Mittelwahl bezüglich des eigenen Handlungskanons konfrontiert ist. Mit dem Hinweis, auch im Unterlassen einer aktualen Handlung eine Handlung zu vollziehen, wird somit auch deutlich, daß in diesem Kontext nicht auf ein lediglich ‚blindes‘, durch einen Instinkt gesteuertes Verhalten abgezielt wird, das lediglich reflexartig auf gegebene Stimuli und im möglichen Erfolg eines Response neue Verhaltensmuster erwirbt. Doch nicht nur die Hinweise auf die ethische Problemstellung oder die begriffliche Reflexion von Handlungsvollzügen (z. B. Planung) erlauben eine Abgrenzung von einem Verhalten, vielmehr kann bereits dann sinnvoll von einer Handlung gesprochen werden, wenn durch bloßes Üben von einzelnen Handlungsschritten neue Handlungsmuster erlernt werden, ohne daß eine sprachlichkognitive bzw. explizit reflexive Vermittlung notwendig ist. Das Phänomen der Imitation mag dies im Sinne eines empirischen Belegs veranschaulichen. Demnach kann mittels der Imitation das Handeln einer anderen Person strukturiert erfaßt und in den eigenen Handlungskanon integriert werden, ohne daß bereits über eine Sprache bzw. Begrifflichkeit hinsichtlich des jeweiligen Handlungsvollzuges (hier: Imitation) verfügt werden muß. Erst das Vermögen zur Imitation ermöglicht infolge komplexe Rekonstruktionen von Handlungszusammenhängen, wie etwa die frühkindlichen Orientierungsversuche mittels des Handelns veranschaulichen. Bereits in der frühesten Kindheit werden komplexe Handlungsmuster erworben, die keineswegs schon reflexiv-begriffliche Transformationen erfordern und dennoch strukturiert sowie zielgeleitet sind. Zumindest bis zu einem gewissen Komplexitätsgrad können allein Anschauung und deren operative Umsetzung den Erwerb von komplexen Handlungen ermöglichen.28 Hinsichtlich des Fundierungsverhältnisses von Sprache und Handlung ____________________ 28
In diesem Kontext muß insbesondere auf die Arbeiten J. Piagets innerhalb der Entwicklungspsychologie (z.B.: Piaget, J./ Inhelder, B., Die Psychologie des Kindes, Frankfurt a.M. 19814) hingewiesen werden, die jedoch nicht nur von einem psychologischen Erkenntnisinteresse sind, sondern in Form seiner „genetischen Erkenntnistheorie“ auch eine philosophische Bereicherung darstellen. Hinsichtlich der Abgrenzung der Imitation
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muß sogar (in Abgrenzung vom sprachanalytischen Anspruch, wonach die Konstitution unserer Handlungswelt insbesondere im Medium der Sprache erfolgt) jene Konstitutionsrichtung betont werden, insofern der Spracherwerb, somit das Phänomen des Sprechens, das Vermögen der Imitation in Form von Handlungen voraussetzt. Demnach besteht durchaus die Möglichkeit einer Hintergehbarkeit der Sprache, kann durchaus ein Handeln als Handeln vollzogen werden, unabhängig davon, ob irgendeine Form einer sprachlichen Zeichenbildung kognitivreflexiv vorausgegangenen bzw. notwendig ist. Auch auf einer wissenschaftstheoretischen Diskussionsebene wird eine analoge Position, wonach die Möglichkeit einer Hintergehbarkeit der Sprache besteht, etwa von Protagonisten des „Erlanger Konstruktivismus“ vertreten.29 Demnach ist eine Hintergehbarkeit insoweit gegeben, als Sprache (innerhalb der Spannung von Gebrauchssprache (inhaltliches Apriori) und Sprachvermögen (formales Apriori) gedeutet) mittels eines methodisch geordneten Aufbaus innerhalb einer dialogisch-konstruktiven Logik (ausgehend vom Partikel „und“ sowie einem regelgeleitet-handlungsorientierten Dialog zwischen einem Opponenten und Proponenten) rekonstruiert bzw. konstruiert werden kann. Den (methodischen) Ausgangspunkt bildet demnach ein spezifisches Handlungsverfahren, ein Verständnis von Handeln im Sinne eines konstruktiven Herstellungsverfahrens, das infolge Erkenntnis konstituiert. Somit wird nicht nur auf eine Hintergehbarkeit der Sprache abgezielt, hingegen wird auf eine genuine Leistung des Handlungsphänomens selbst aufmerksam gemacht, d. i. das Vermögen, im methodisch geordneten Vollzug eine originäre Erkenntnismöglichkeit zu eröffnen. Diese skizzenhaften Hinweise auf entwicklungspsychologische Aspekte und auf das Wissenschaftsparadigma des „Erlanger Konstruktivismus“ gestatten es, eine wichtige Implikation des Handlungsphänomens hervorzuheben: gemeint ist der Zusammenhang von Handlung und Erkenntnis. Bereits auf der empirischen Ebene veranschaulicht die „Genetische Erkenntnistheorie“ Piagets, daß die grundlegenden Orientierungsstrukturen Raum und Zeit „[...] einer beständigen organisierenden Aktivität des Subjekts (bedürfen, Erg. d. Verf.) [...], Intelligenz ____________________
von instinktivem Verhalten einerseits und Piagets Konzept der Assimilation sowie Akkommodation andererseits vgl. m.: dgl., Nachahmung, Spiel und Traum, Stuttgart 19902, S. 105ff. 29
Vgl. mit: Lorenz, K./ Mittelstraß, J., Die Hintergehbarkeit der Sprache, in: Kantstudien 58/1967, S. 187 – 208, Lorenzen, P./ Schwemmer, O., Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, Mannheim 1973. Der Beitrag von Lorenz / Mittelstraß bedarf auch insoweit einer Hervorhebung, als er zum einen eine m. E. fundierte Kritik an Apels Hypostasierung in Form seiner transzendentalphilosophisch-hermeneutischen Sprachkonzeption zum Ausdruck bringt, zum anderen Apels Interpretation der Sprache innerhalb von Sein und Zeit entsprechende Einseitigkeiten nachweist, wohingegen von ihnen die Momente des Verstehens und der Handlung als zentrale Größen innerhalb Heideggers existenzialer Daseinsanalytik m. E. treffend betont werden.
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in der Konstruktion von Operationen zu sehen ist [...]“30, die Erkenntnis über die Umwelt eines Kindes auf einem Prozeß strukturierter Operationen beruht, die externale und internale Handlungsphänomene darstellen. Erkenntnis ist demnach nicht auf das Phänomen der Sprache reduzierbar, sondern vollzieht sich schon vor jeglichem Spracherwerb. Dieser Rekurs auf spezifische empirische Forschungsergebnisse soll hier lediglich der Veranschaulichung jener These Kants dienen, wonach bereits das Phänomen des Denkens stets auf einer Handlung, auf einem Vollzugsakt beruht. Bereits in der Kritik der reinen Vernunft wird dem Phänomen des (internen) Handelns im Kontext der Erkenntnis eine zentrale Funktion zugewiesen, indem Kant den Begriff der Handlung explizit zur Charakterisierung der Synthesis heranzieht.31 Denken ist demnach jene Handlung des Verstandes, wodurch eine Einheit des Bewußtseins in der Verknüpfung des Mannigfaltigen hervorgebracht wird. Zentral ist dabei seine Funktion der Einheitsbildung (Synthesis), wenn Anschauungen (oder: Mannigfaltigkeit der Erscheinungen) in einem Begriff, Begriffe in einem Urteil, Einzelurteile in einem umgreifenden Urteil verbunden werden.32 Demnach vollzieht innerhalb der Kantschen Erkenntniskonzeption das Erkenntnissubjekt einen Akt, eine Handlung in Form der Synthesis, der maßgeblich für den weiteren Erkenntnisprozeß ist. Dieses Vorgehen verdeutlicht, daß Kant die auf begrifflicher Ebene bestehende Differenzierung zwischen Denken, Erkennen und Handeln thematisch insoweit aufbricht, als das Denken in Form eines durch den Verstand unternommenen Vollzugsakts, als Ausdruck einer spezifischen Handlungsform (Verknüpfung) gedeutet wird.33 ____________________ 30
Piaget, J., Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, Frankfurt a.M., 19966, S.
93. 31 Vgl. m. Kant, I., K.d.r.V., B 102f. / A 77f. sowie B 130f., wo er die Synthesis als Verstandeshandlung kennzeichnet. Auf den Zusammenhang von Erkenntnis und Handeln im Kontext der Kantschen Transzendentalphilosophie hat insbesondere F. Kaulbach (Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, Berlin, New York 1978, S. 17ff.) aufmerksam gemacht. Im Hinblick auf die Fortführung des transzendentalphilosophischen Kontexte vgl. mit: Engfer, H.-J., Handeln, Erkennen und Selbstbewußtsein bei Kant und Fichte. Historische Anmerkungen zur Handlungstheorie in systematischer Absicht, in: Poser, H. (Hg.), Philosophische Probleme der Handlungstheorie, a.a.O., S. 101 – 125. G. Prauss, (Einführung in die Erkenntnistheorie, Darmstadt 1980) entwickelt vor dem Kantschen Hintergrund eine Erkenntnistheorie, die er auch als Grundlegung einer Handlungstheorie deutet, die die Dichotomie beider ‚Theorien‘ aufheben soll (a.a.O., S. 130ff., S. 172ff.). 32
Vgl. m.: Kant, I., K.d.r.V., B 94 / A 69. In diesem Kontext sei ausdrücklich auch auf E. Cassirer hingewiesen, der vor dem Hintergrund der Kantschen handlungskonzeptionellen Synthesis seinen auch semiotisch interessanten Zugang der „Symbolischen Formen“ (dgl., Die Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1: Die Sprache; Bd. 2: Das mythische Denken, Darmstadt 1973/75) entwickelt. Vgl. auch: Oehler, K., Ernst Cassirer. Denker der symbolischen Formen, in: dgl., Sachen und Zeichen. Zur Philosophie des Pragmatismus, Frankfurt a.M. 1995, S. 215 – 219. Für den Kontext dieser Untersuchung erweist sich Cassirer insoweit als inte33
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Ohne an dieser Stelle bereits ausführlicher auf letztere Thematik eingehen zu können, so soll in diesem Kontext lediglich darauf verwiesen werden, daß das Phänomen der Sprache hinsichtlich ihrer Fundierungsfunktion sehr wohl hinterfragt werden kann und muß, insoweit sie von einer Lebensform bzw. Praxis abhängig ist. Forschungshistorisch betrachtet, hat dies selbst das Paradigma der sprachanalytischen Philosophie akzeptieren müssen, indem es paradigmaimmanent ihren zunächst auf Syntax und Semantik beschränkten Zugang durch eine zusätzliche Ebene in Form der Pragmatik erweiterte. Spätestens mit der notwendig gewordenen Einbeziehung der Pragmatik war wiederum die Handlungsthematik ein wesentlicher Teil der sprachphilosophischen Untersuchungen geworden, wobei offen ist, welche Funktion neben einer bloßen Erweiterung der Deskriptionsebenen ihr eigentlich zukommt. Ist die Pragmatik lediglich eine Erweiterung der Semantik? Oder ist die Pragmatik dahingehend ein eigenständiges Moment, das womöglich erst die Semantik und die Syntax konstituiert? Die weiteren Erörterungen vorwegnehmend soll bereits angemerkt werden, daß der positive Entscheid letzterer Frage die Position dieser Untersuchung wiedergibt.34 Wenn man ausgehend von der Sprachebene vor dem Hintergrund des ‚späten‘ Wittgenstein argumentiert, so sind es nicht Syntax und Semantik, die das pragmatische Moment bestimmen, vielmehr ist es die Pragmatik, die Praxis unserer Sprachspiele, die die Bedingung der Möglichkeit von „Bedeutung“ sowie „Sinn“ (Ebene der Semantik) selbst auf der sprachlichen Ebene erst sichert. Damit ist das Problem des Verhältnisses einer formalen Pragmatik, die das formale Ausdrucksinstrumentarium der Semantik ‚lediglich‘ um ein spezifisch deskriptives Formalsystem erweitert, einerseits und einer ‚lebensweltlichen‘ Pragmatik, die auf eine Lebensform, gelebte Praxis und deren Hermeneutik verweist, andererseits in den thematischen Fokus gerückt. Wenn zuvor auf den Konstitutionszusammenhang von „Bedeutung“, „Sinn“, „Verstehen“ und „Handeln“ abgehoben worden ist, so muß des weiteren auch betont werden, daß Handeln nicht nur Bedeutungs- und Sinnkontexte konstituiert, sondern daß das Phänomen der Handlung selbst ein Sinn- bzw. Bedeu____________________
ressant, da er sich, wie E. W. Orth (Phänomenologie in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, in: Dialektik 1995/1, S. 47 – 60) aufweist, in Vermittlung seiner Beschäftigung mit Husserl auch der Bedeutungsthematik zuwendet; denn: „Was wahr ist, kann sich nur über Sinn- und Bedeutungsprobleme erschließen.“ (Orth, E. W., a.a.O., S. 52.) 34
Eine analoge Position vertritt z. B. auch H. J. Schneider (Ausprägungen pragmatischen Denkens in der zeitgenössischen Sprachphilosophie, in: Stachowiak, H. (Hg.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. IV, Hamburg 1993, S. 1 – 37), der von einer „grundlagenorientierte(n) Pragmatik“ (a.a.O., S. 2) spricht. Besteht eine zentrale Intention der vorliegenden Untersuchung in der Erörterung der heuristischen Leistungsfähigkeit der Handlungsdimension hinsichtlich der Erschließung von Bedeutungsund Sinnphänomenen (et vice versa), so ist hingegen sein Zugang an einem sprachphilosophisch Zugang in Form des „Dialogischen Konstruktivismus“ im Umfeld der Erlanger bzw. Konstanzer Schule orientiert.
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tungsphänomen darstellt. Handlungen beinhalten demnach Bedeutungs- bzw. Sinnsetzungen (etwa Zweck- und Zielsetzungen) unterschiedlichster Herkunft, die sowohl sozial, institutionell, kulturell als auch individuell vermittelt sind. Mittels Handlungen werden demnach diese kontextuellen Umfelder mit getragen und vermittelt, wie auch jene individuellen und sozialen Kontexte Bedingungen des Handelns selbst sind. Für die Soziologie und Psychologie steht auf Grund ihres spezifischen Erkenntnisinteresses sowohl das Problem der Identifikation jener sozialen Kontexte und deren funktionale Interaktion als auch das Verstehen der Handlungen sozial agierender Individuen und deren sozialer Systeme bzw. Institutionen im Vordergrund. So hat zwar Max Weber die Soziologie als eine sinndeutende und -verstehende Wissenschaft menschlichen Handelns verstanden, jedoch bleiben auch in der Fortsetzungslinie dieses Traditionsstranges durch Alfred Schütz und Talcott Parsons wesentliche Problembestände innerhalb der Soziologie umstritten.35 ____________________ 35
Im Hinblick auf die Weiterentwicklung der qualitativen Sozialforschung durch Schütz und Parsons vgl. den beiderseitigen Briefwechsel (Schütz, A. / Parsons, T., Zur Theorie sozialen Handelns. Ein Briefwechsel, hg. v. W. M. Sprondel, Frankfurt a.M. 1977), der auch die divergierenden erkenntnistheoretischen Positionen und deren Einfluß auf das Handlungsverständnis zum Ausdruck bringt. Ist es bei Parsons ein neokantianischer Ansatz (Notwendigkeit eines Begriffsschemas in Analogie zu Kants Verstandeskategorien für die Erfassung des Sinns (z. B. Motive) einer Handlung auf der Ebene des Beobachters), so ist Schütz der Beibehaltung der phänomenologischen Reduktion Husserls verpflichtet, indem die Möglichkeit eines ‚direkten‘ (jedoch kritisch-methodisch strukturierten) Zugangs hinsichtlich der Erfahrungsebene (hier: „die subjektiven Ereignisse im Bewußtsein des Handelnden“, a.a.O., S. 52) unterstellt wird. Für die Gegenwartsdiskussionen ist nicht nur die Auseinandersetzung zwischen deskriptivnomologischer, systemtheoretisch-funktionaler vs. qualitativer Sozialforschung und die Frage eines möglichen methodischen Ausgleichs charakteristisch, vielmehr muß m. E. das zugrundeliegende, jeweils unterschiedliche Rationalitäts- und Epistemologieverständnis als Ursache und Anlaß unversöhnlicher Diskussionen identifiziert werden. Im Hinblick auf die Dimension des „Sinns“ spiegeln sich diese Diskussionen z.T. auch in J. Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns (Frankfurt a.M. 1988) wider, wo er insbesondere in Kap. I., 4. „Die Problematik des Sinnverstehens in den Sozialwissenschaften“ (a.a.O., Bd. I, S. 152ff.) mit Sicht auf die Beibehaltung der Sinndimension und seines kommunikativen Handlungskonzepts einen Überblick gibt. Eine insbesondere im Kontext dieser Abhandlung interessante Kritik an Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns formuliert H. Joas (Die unglückliche Ehe von Hermeneutik und Funktionalismus. Über Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns, in: dgl., Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 1992 (org. 1986), S. 171 – 204). Joas identifiziert insbesondere im zugrundeliegenden Anspruch der Objektivierung, der Habermas zu einem Funktionalismus (System und Lebenswelt) führt, die Ursache für die begrenzte Geltung seines Paradigmas, was insbesondere auch darin seinen Ausdruck findet, daß sein zugrundeliegendes Praxisverständnis in Form der universalen Dimension der Kommunikation verkürzt ist (a.a.O., S. 175). Die innerhalb der sozialwissenschaftlichen Tradition so wichtige Dimension des „Sinns“ erfährt sodann auch innerhalb Luhmanns Systemtheorie (Luhmann, N., Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Habermas, J. / Luhmann, N., Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a.M. 1971, S. 25 – 100) eine Adaption, wobei jedoch die Subjektzentrierung durch das System
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Aber auch innerhalb einer Philosophie der Handlung verweist die Identifikation des Handelns als ein Bedeutungs- und Sinnphänomen auf das bereits erwähnte Moment des Handlungsverstehens, des verstehenden Nachvollzugs des Verhaltens von Handlungssubjekten hinsichtlich ihrer internalen und externalen Kontexte.36 Die Intention eines verstehenden Nachvollzugs im Hinblick auf Handlungen ermöglicht sodann auch die Adaption hermeneutischer Methoden, die traditionell den Phänomenen Sprache, Textualität und der Ästhetik vorbehalten waren. Handlungen bedürfen sodann der hermeneutischen Sichtung hinsichtlich ihrer immanenten Sinnkontexte, wobei sich insbesondere in diesem Kontext wiederum das Problem der Verortung des Möglichkeitsraumes hinsichtlich des Verstehens stellt: Ist dieses (Handlungs-)Verstehen bereits nonverbal gegeben und erfaßbar oder bedarf es erst der Transformation innerhalb eines sprachlichen Zeichensystems, das sodann auch eine Bedeutung bzw. einen Sinn identifizierbar macht und überhaupt erst sichert?37 ____________________
ersetzt wird. Sinn ist sodann primär eine Dimension des Systems und erst sekundär die eines Handlungssubjekts. Sinn spiegelt sodann eine spezifische Strategie innerhalb eines Systems (z. B. Handlungssubjekt) wider, indem Komplexitätsreduktionen hinsichtlich seiner Umwelt vollzogen und Ordnungsstrukturen identifiziert werden. 36 In diesem Kontext steht die Handlungsdeutung bzw. das Handlungsverstehen im Vordergrund, indem die Motive, das Wollen sozial agierender Subjekte erschlossen werden sollen. Handlungen fungieren dabei als beobachtbare Phänomene, die es ermöglichen sollen, die zugrundeliegenden Ziele und Zwecke zu erkennen, die als Sinnsetzung fungieren. Eine Abgrenzung von empirisch-sozialwissenschaftlichen Handlungstheorien identifiziert etwa W. Vossenkuhl (Zur rationalen Erklärung sozialen Handelns, in: Poser, H. (Hg.), Philosophische Probleme der Handlungstheorie, a.a.O. 1982, S. 285 – 326) in dem philosophischen Anliegen, die Kriterien anzugeben, die „[...] Handeln als eine Grundbedingung von Gesellschaft (zu) explizieren.“ (A.a.O., S. 288). Wie O. Schwemmer (Verstehen als Methode. Vorüberlegungen zu einer Theorie der Handlungsdeutung, in: Mittelstraß, J. (Hg.), Methodenprobleme der Wissenschaften vom gesellschaftlichen Handeln, Frankfurt a.M. 1979, S. 13 – 45) jedoch hervorhebt, besteht im Zusammenhang mit rationalen Erklärungen von Handlungen die Schwierigkeit, daß einerseits eine Introspektion keine Validitätssicherung erlaubt, andererseits eine Erschließung mittels bloßer Beobachtung oder Befragung subjektimmanente Intentionen und Zwecke ausschließt. Das Moment des „Verstehens“ von Handlungen wird demnach von ihm als notwendig bewertet, soll jedoch methodisch gesichert rekonstruiert werden. Von einer konstruktivistischen Perspektive aus unternimmt er einen entsprechenden Versuch, indem er ausgehend vom „praktischen Syllogismus“, erweitert um eine Rationalitätshypothese, eine Erschließung durch eine Deskription mittels Sprachregeln und Gebräuchen vollzieht. Daraus folgt für den Begriff des Handelns: „Handeln – so mein Vorschlag – soll ein Tun genau dann genannt werden, wenn es argumentationszugänglich ist. Daß ein Tun argumentationszugänglich ist, soll heißen, daß es durch Reden, die als Argumentationen darstellbar sind, verhindert oder herbeigeführt werden kann.“ (A.a.O., S. 29.) 37 Einen Überblick hinsichtlich der Diskussionen zum Verhältnis von Text- und ‚Handlungshermeneutik‘ gibt etwa: Bianco, F., Texthermeneutik und Handlungsverstehen, in: dgl. (Hg.), Beiträge zur Hermeneutik in Italien, Freiburg, München 1993, S. 113 – 139. Im Hinblick auf die sprachlich rekonstruktive Erfassung des Sinns einer Handlung betont er die Notwendigkeit der Beibehaltung des nonverbalen Charakters des Handelns (a.a.O., S. 138), der auch auf die nur bedingt überbrückbare Kluft zwischen Erfahrung
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Diese Fragestellung hinsichtlich der Beziehung von Sprache und Handlung kommt auch in jenem, im Untertitel verwendeten Begriff einer „hermeneutischen Pragmatik“ zum Ausdruck. Mit dieser Begriffsbildung soll auf die zuvor bereits hervorgehobene Beziehung hinsichtlich der beiden Momente „Bedeutung“, „Sinn“, „Verstehen“ und „Handeln“ abgehoben werden. Das Adjektiv „hermeneutisch“ soll innerhalb dieses Problemkontextes der Kennzeichnung des Aufweises der Verstehens- bzw. Bedeutungs- und Sinnhorizonte mittels und innerhalb des EG~0, ED¼=H>0, I^8C= und aG0 nicht nur in Abgrenzung zur I^8C= oder $:KG¼6, er unterscheidet auch unterschiedliche Ausformungen etwa in Form einer „EDA:B>@ EG~L>0“, „ED>=I>@d0 EGUL:K0“ oder „I|C bC“.5 Des weiteren greift er auf das sokratische Verständnis der :wEG6L¼6 im Sinne von :w EGUII:>C und deren unterschiedlichen Bestimmungen (Erfolg haben, glücken, gelingen, wohl handeln) zurück.6 Wichtig wird bei Platon dann insbesondere die politische Praxis innerhalb der EnA>0, wie er sie im Kontext der Rhetorik innerhalb des Gorgias und hinsichtlich der Konzeption eines idealen Staates in der Politeia thematisiert. Auch wenn Platon keine explizit systematische Konzeption der EG~L>0 entwickelte, wie es im Anschluß an ihn Aristoteles unternahm, so wäre es doch vollkommen verfehlt zu schließen, innerhalb der platonisch-sokratischen Philosophie wäre der Thematik ____________________
In Abgrenzung von EGUIIK verweist das Verb ED¼:K bzw. Substantiv ED>:¾C, das auch mit der Bedeutung von „tun“ (bzw. „Tun“) und „machen“ wiedergegeben werden kann, jedoch auf ein hervorbringendes Handeln im Sinne der Herstellung eines Werks (bG0 / EG~0 andererseits entspricht der in der Stoa in Gebrauch befindlichen Bedeutung, etwa bei Ciceros vollzogener Unterscheidung zwischen „agere“ (handeln) und „facere“ (tun). Dabei wird interessanterweise nicht der griechische Stamm EG6@ / EG6< fortgeführt, sondern auf das griechische Verb UC anfangen, anführen, befehlen und herrschen) und EGUII:>C (mit etwas zu Ende kommen, etwas ausrichten, es vollenden). Damit werden zwei Bedeutungsgruppen bzw. Stadien des Handelns gekennzeichnet: Beginn und Anfang einerseits (initium) und Ausführung, Vollendung andererseits. Mit dieser Differenzierung unterstreicht sie zugleich die gemeinschaftliche, somit die politische Dimension jeglichen Handelns. 3
4 Vgl. mit: Platon, Charmenides 163 a f.; Gorgias 450 b f.; Euthydemos 284 b f. (Die Zitation folgt der Ausgabe: Platon, Werke in 8 Bde. (griech. – dt.), hg. v. G. Eigler, Darmstadt 1990.) 5 6
Vgl. mit: Platon, Politikos 304 e; Sophistes 266 d; Menexenos 237 b. Vgl. z.B. mit: Platon, Charmenides 171 e – 172 a; Euthydemos 278e – 279a.
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1. Kap.: Zur Propädeutik
der EG~L>0 keine zentrale Aufmerksamkeit gewidmet worden. Das Gegenteil ist der Fall. So hat Platon zwar begrifflich zwischen Praxis und Theorie unterschieden und der Eidetik den Vorrang vor der kontingenten Praxis eingeräumt, wobei jedoch berücksichtigt werden muß, daß Platons Anliegen, in Rekurs auf seinen sokratischen Hintergrund, stets den engen Zusammenhang von Praxis und Theorie, Axiologie und Eidetik im Auge hatte, welcher sich in der Genese der frühen Dialoge bis zu den Nomoi widerspiegelt. Theorie ist sodann auch Praxis, eine Praxis, die jedoch erst in der Theorie ihre vollkommene Ausformung erfährt. Hinsichtlich der Erörterung des aristotelischen Verständnisses der EG~L>0 muß eingangs betont werden, daß die von Aristoteles formulierte praktische Philosophie nicht nur die gesamte europäische Philosophiegeschichte maßgeblich beeinflußte, sondern überhaupt den ersten systematischen Entwurf einer Handlungstheorie in der abendländischen Philosophiegeschichte darstellt. Auch wenn der Begriff „Handlungstheorie“ eine neuzeitliche Kennzeichnung darstellt, der darin verwendete Begriff „Theorie“ maßgeblich vom aristotelischen Verständnis abweicht, so ist doch bereits bei Aristoteles eine begriffliche und architektonische Systematik hinsichtlich der Handlungsthematik rekonstruierbar. Freilich muß man, wenn man im Kontext der aristotelischen Philosophie den Begriff der EG~L>0 thematisiert, auf die begrifflichen Besonderheiten aufmerksam machen, um der spezifischen thematischen Zugangsweise Aristoteles’ gerecht werden zu können. Im Hinblick auf Aristoteles’ Praxisverständnis erweist sich seine Abgrenzung von dem Begriff der ED¼=H>0, neben 9nL6 und aE>HI B= als wichtig. In der deutschen Sprache wird zwar auch eine Unterscheidung im Hinblick auf unterschiedliche Tätigkeitsformen wie etwa „Schaffen“ und „Vollzug“ unternommen, dennoch ist die Abgrenzung beider Begriffe keineswegs so strikt, wie sie von Aristoteles etwa im folgenden formuliert wird: „Denn weder ist ein Handeln (EG~L>0) Hervorbringen (ED¼=H>0), noch ein Hervorbringen (ED¼=H>0) Handeln (EG~L>0).“7 An anderer Stelle spricht er sogar hinsichtlich der zwei Begriffe von verschiedenen Gattungen.8 Diese Abgrenzung wird verständlicher, wenn man Aristoteles’ Ausrichtung der EG~L>0 auf ein :± NdC bzw. eine sokratische :wEG6L¼6 berücksichtigt. Demnach beinhaltet sein Verständnis der EG~L>0 bereits eine normative, ethische Ausrichtung, wohingegen Aristoteles die ED¼=H>0 der I^8C= zuordnet, insoweit als sie „[...] ein mit richtiger Vernunft verbundenes hervorbringendes Verhalten“9 ist. Die aristotelischen Begriffe der EG~L>0 ____________________ 7 Vgl. mit: Aristoteles, Nikomachische Ethik (NE), hg. v. G. Bien, Hamburg 19854, 1140 a1 u. 5. 8 Vgl. mit: Aristoteles, NE, 1140 b3. 9 Vgl. mit: Aristoteles, NE, 1140 a10. Des weiteren: „Das Hervorbringen hat ein Ziel außerhalb seiner selbst, das Handeln nicht. Denn das gute Handeln ist selbst ein Ziel.“ (NE, 1140 b6) Im VI. Buch differenziert Aristoteles weiter: „Das Denken für sich allein
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und der ED¼=H>0 besitzen immanent beide zwar einen teleologischen und finalen Charakter, der im Hinblick auf die unterschiedliche Ausrichtung innerhalb beider Begriffe hinsichtlich des Zieles jedoch die begriffliche Differenz bestimmt. *G~L>0 und ED¼=H>0 sind demnach zwar durch eine immanente Finalität und Teleologie zunächst strukturell miteinander verbunden, indem sie menschliche Tätigkeitsfelder beschreiben, die auf eine Aufgabe, ein Werk, eine Funktion (allgemein: bG0 jedoch zielt auf einen Zweck an sich (das gute Handeln), der nicht als ein abgelöstes Produkt (bG0 gegeben ist. Somit fungiert die unterschiedliche Bestimmung der teleologischen und finalen Dimension als ein Abgrenzungskriterium, bei gleichzeitig struktureller Verwandtschaft in Form einer Ausrichtung auf ein bG0 und der ED¼=H>0 unter einen einheitlichen deutschen Begriff wie etwa das „(Be-)Wirken“ zu subsumieren, wobei man dann auch jegliche Aktualisierungsausformung menschlichen Verhaltens einbezogen hätte, ein Ansinnen, daß jedoch eine indifferente thematische Einebnung zur Folge hätte und die axiologische Abgrenzung der EG~L>0 gegenüber einem „Viel-bewirken“ unterschlagen würde.10 Wenn man das aristotelische Verständnis des Begriffs der EG~L>0 auf den deutschen Begriff des Handelns bzw. auf die sprachliche Verwendung des Praxisbegriffs überträgt, so würde sich mittels der unterschiedlichen qualitativen, teleologischen und finalen Dimension eine Abgrenzungsmöglichkeit gegenüber anderen menschlichen Tätigkeitsformen ergeben. Somit kann auch die ED¼=H>0 bzw. I^8C= als noch nicht bis zur EG~L>0 vollständig durchgedrungene humane Tätigkeitsform gedeutet werden, oder positiv formuliert: erst EG~L>0 ist vollkommener Durchgang menschlichen Tätigseins.11 Im Hinblick auf die imma____________________
bewegt nichts, sondern nur das auf einen Zweck gerichtete und praktische Denken. Dieses ist auch der Ursprung des hervorbringenden Denkens. Denn jeder Hervorbringende tut dies zu einem bestimmten Zwecke, und sein Werk ist nicht Zweck an sich, sondern für etwas und von etwas. Das Handeln ist dagegen Zweck an sich. Denn das rechte Verhalten ist ein Ziel, und das Streben geht darauf.“ (NE, 1139 b3) 10 So versucht etwa A. W. Müller (Praktische und technische Teleologie. Ein aristotelischer Beitrag zur Handlungstheorie, in: Poser, H. (Hg.), Philosophische Probleme der Handlungstheorie, Freiburg, München 1982, S. 39, Anmk. 5) mittels des Begriffs des „Wirkens“ beide Begriffe zu erfassen. Doch es ergibt sich die bereits zuvor diskutierte Schwierigkeit, daß auch eine ‚blinde Tätigkeit‘ in Form eines Verhaltens „wirkt“, so daß eine m. E. notwendige Unterscheidung zwischen blind-reflexartigen Formen des Agierens gegenüber Formen menschlichen Tätigseins, die durch Zweck-Mittel-Wahl, Entscheidung und Planung bestimmt sind, mittels des Oberbegriffs des Wirkens nicht gegeben ist. Freilich „bewirkt“ bzw. „wirkt“ jegliche Form menschlichen Agierens, sei es ein reflexartig gesteuertes Verhalten oder bewußte und geplante Handlung. 11 Vgl. mit: Baruzzi, A., Was ist praktische Philosophie?, München 1976, Abschn. I. Zur übergeordneten Stellung der Praxis bei Aristoteles vgl. NE, 1139 b1-4. Vgl. auch mit den Ausführungen im Einleitungskapitel, Anmk. 27.
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nente Konzeption der Nikomachischen Ethik ist diese Deutung stringent, insbesondere wenn man Aristoteles’ ethisch-hierarchische Ausrichtung der menschlichen Lebensformen im Hinblick auf seine Güter-Lehre mitberücksichtigt. *G~L>0 im aristotelischen Sinn ist sodann eine Form menschlichen Tätigseins bzw. Agierens, wo Zweck, Ziel und Mittel zusammenfallen. Intentional gedeutet: wo Wille und Haltung zu (I^AD0 sowie Zweck an sich) und Ausführung in Form von (Mittel) lediglich unterschiedliche Beschreibungsebenen des gleichen Phänomens der EG~L>0 widerspiegeln. Dieser Zusammenhang von Teleologie, Finalität und ethischer Fundierung vor dem Hintergrund der EGD6¼G:H>0 wird in dem folgenden Zitat sodann deutlich: „Prinzip des Handelns als Ursprung der Bewegung (nicht als Zweck) ist der Wille; Prinzip der Willensentscheidung ist das Streben und der Begriff des Zweckes. Darum ist eine Willensentscheidung weder ohne Vernunft und Denken noch ohne ethisches Verhalten möglich. Denn ein rechtes Verhalten und das Gegenteil davon existiert nicht ohne Denken und Charakter.“12 Doch muß im Hinblick auf den Gesamtkontext der aristotelischen Schriften auch eingeräumt werden, daß die Verwendung des Begriffs der EG~L>0 nicht immer mit einer einheitlichen Bedeutungsbelegung erfolgt. Wenn Aristoteles’ Begriff der EG~L>0 zuvor mit dem Phänomen menschlichen Tätigseins identifiziert wurde, so steht diese Bestimmung im Gegensatz zu jener Verwendung, wo er sowohl Tieren, Pflanzen als auch Himmelskörpern und deren Bewegung die Eigenschaften der EG~L>0 zuerkennt.13 In Abgrenzung zur Kennzeichnung auch nichtmenschlicher Vollzugsformen im Sinne der EG~L>0 führt er jedoch in der Eudemischen Ethik etwa aus: „Der Mensch allein ist Ursprung von bestimmten Handlungen, er allein unter den Lebewesen, insofern von keinem anderen gesagt werden könnte, es handle.“14 Auch in der Nikomachischen Ethik wird Tieren die Fähigkeit zum Handeln abgesprochen,15 sie besitzen ein Verhalten, das primär von einem vegetativen Seelenteil bestimmt ist. Wie zuvor bereits erwähnt wurde, könnte ein Zusammenhang beider Verwendungsweisen in jenem Moment identifiziert werden, wonach die Ausdrücke EG~L>0 und EGUII:>C von Aristoteles auch mit der umfassenderen Bedeutung von „Wirken“, „Vollzug“ verwendet werden. Beide Ausdrücke bringen demnach eine Bewegung, Dynamik und Prozessualität zum Ausdruck, ein Bewegungsmoment, das jedoch nicht ____________________ 12
Aristoteles, NE, 1139 a33. Vgl. mit: Aristoteles, Historia Animalium, 487a, 11; dgl., De Caelo, 292b, 1; dgl., De Sensu 1, in: dgl., Werke, hg. v. E. Grumach, Bd. 17, Darmstadt 1959, 436a 4; dgl., Eudemische Ethik (EE), in: dgl., Werke, hg. v. E. Grumach, Bd. 7, Darmstadt 1962, 1220b, 27. 14 Vgl. mit: Aristoteles, EE II 6, 1222, b19. Des weiteren: EE, 1222 b38-40; dgl., NE, 1139 b4f.; I 6,1098 a3ff.; III 5, 1112 b31 f.; dgl., Historia Animalium I 1, 488b24. 13
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Aristoteles, NE, 1139a 20.
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blind bzw. beliebig ist, sondern durch ein immanentes I^AD0 im Hinblick auf die Bewegungsrichtung vorstrukturiert ist. Tätigsein im Sinne der Praxis wird demnach, unabhängig ob bei Mensch, Tier oder physischem Objekt, als dynamisch zielgerichtet bestimmt. Im Hinblick auf ein komplexeres Verständnis des Praxisbegriffs muß jedoch auf das unterschiedliche Bezugsgeflecht des Begriffs aufmerksam gemacht werden, wenn etwa eine Beziehung zum menschlichen Leben (7¼D0) vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Lebensformen thematisiert wird.16 *G~L>0 im Kontext des 7¼D0 ist dann Lebensbewegung, Lebensvollzug, insoweit es auf eine ethische Lebensführung ausgerichtet ist und kommt Tieren nicht zu. Menschliche Praxis ist dann völliger Durchgang hinsichtlich des Ziels des Menschseins.17 Die Thematisierung menschlichen Tätigseins wird jedoch nicht nur im Hinblick auf begriffliche Abgrenzungen systematisiert, vielmehr wird Aristoteles der Thematik der Praxis insoweit gerecht, als er die konkrete menschliche Praxis (einschließlich der gegebenen Bestimmungsversuche) als methodischen Ausgangspunkt des Sprechens über EG~L>0 wählt.18 Es ist der methodische Ausgangspunkt der aBE:>G¼619 in Form des konkreten menschlichen Lebens (7¼D0) bzw. den Lebensformen, das Aufgreifen der konkreten ‚Praxis des Lebens‘ und deren theoretische Entwürfe, die Aristoteles als Ausgangspunkt für seine Analysen wählt. Diese Ausgangsbasis ist zugleich aber auch der Anlaß, die für ihn in der Pluralität vorhandener Entwürfe gegebene Unverbindlichkeit zu überwinden, der Unbeständigkeit der Meinungen eine philosophische Analyse gegenüberzustellen, die in der menschlichen Praxis und ihrer Konkretisierung in Form ____________________ 16
Vgl. etwa mit: Bien, G., Einleitung, in: Aristoteles, Politik, übers. v. E. Rolfes, Hamburg 19904, Anmk. 44, S. LVII. 17 A. Baruzzi (Machbarkeit. Perspektiven unseres Lebens, Freiburg, München, 1996, S. 175) macht in diesem Kontext auf die enge Beziehung mit dem Begriff 7¼D0 aufmerksam: „Man übersetzt bios mit Lebensform und beläßt praxis in der Regel beim griechischen Wort. Leben heißt Praxis. Wir übersetzen praxis zunächst mit Selbstvollzug. Wenn Leben Praxis, Lebensvollzug, ist, erhält es eine Form.“ (Ebd.) 18 Aristoteles erörtert bereits auch die sich aus diesem Zugang ergebenden methodischen Probleme. Das Handeln betrifft das Einzelne, jene Phänomene, die sich so und auch anders verhalten können, es zielt daher nicht auf das Allgemeine. „Denn in den Untersuchungen über das Handeln sind die Allgemeinheiten zwar umfassender, die Einzelheiten aber wahrer. Denn die Handlungen betreffen das Einzelne, und dem müssen die Aussagen entsprechen.“ (NE, 1107 a31) Dies hat auch methodische Konsequenzen insoweit, als „[...] daß jede Untersuchung über das Handeln im Umriß und nicht mit mathematischer Genauigkeit geführt werden darf [...].“ (NE, 1104 a1) 19 Vgl. mit: Aristoteles, NE, 1095 a3. Des weiteren: „Man muß nun, wie in den anderen Fällen, zuerst die Phänomene nennen und die Schwierigkeiten zeigen und dann alles nachweisen, was hinsichtlich jener Affekte anerkannter Meinung ist, oder doch das meiste und Wichtigste. Denn wenn die Schwierigkeiten gelöst sind und das anerkannter übrigbleibt, so ist der Nachweis wohl hinreichend geleistet.“ (NE, 1145 b3f.).
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politischer Praxis20 eine Sicherheit hinsichtlich einer Orientierung zu leisten vermag. Menschliche Praxis ist demnach in einen Ermöglichungskontext in Form gemeinschaftlichen, d. h. politischen Handelns eingebunden, wo individuelles und gemeinschaftliches Handeln reziprok aufeinander verweisen. Diese differenzierte Semantik des griechischen Praxisbegriffs hat sich innerhalb des aktuellen deutschen Sprachgebrauchs des Ausdrucks „Praxis“, vermittelt über die mittelalterliche Gelehrtensprache des Lateins21, nur bedingt erhalten. Der Gebrauch in der deutschen Alltagssprache ist überwiegend von einer undifferenzierten Semantik geprägt, wenn der Praxisbegriff sowohl als Kennzeichnung für eine Sachkundigkeit (vgl. lat. „pragmaticus“) als auch als Ausdruck einer Anwendungsorientierung, etwa im Sinne einer Abgrenzung zu hypothetischen, konzeptionell-theoretischen Entwürfen (Theorie), verwendet wird. Im Sinne einer Anwendungsorientierung wird er oft auch synonym mit den Begriffen „Handeln“ und „Handlung“ verwendet, insoweit eine Handlungskompetenz zum Ausdruck gebracht wird. Normalsprachlich ist der Begriff der „Handlung“22 entsprechend auch mit Bedeutungen wie „Tat“, „Tun“, „Vorgang“, „Geschehen“, der Begriff des „Handelns“ analog mit „Tun“, „Tätigkeit“, ____________________ 20 Ein adäquates Verständnis von EG~L>0 bei Aristoteles kann man überhaupt nur gewinnen, wenn man den Zusammenhang zur Politik mit berücksichtigt. Praktische Philosophie bzw. Philosophie der Praxis bedeutet bei Aristoteles die Einbeziehung politischer Praxis. Denn im Hinblick auf eine konkrete Lebensführung kann sich menschliches Handeln hinsichtlich des immanenten Telos’ nur verwirklichen, wenn es sich gemeinschaftlich auf ein Gut orientierend ausrichtet. Unter einem neuzeitlichen Blickwinkel betrachtet, ist man auch mit spezifischen anthropologischen Prämissen konfrontiert. Denn zum einen bestimmt Aristoteles, wie zuvor zitiert, den Menschen als ein genuin handelndes Lebewesen, und zum zweiten wird dem Menschen eine gemeinschaftliche, politische Natur zugesprochen. „Wer aber nicht in Gemeinschaft leben kann, oder ihrer, weil er sich selbst genug ist, gar nicht bedarf, ist kein Glied des Staates und demnach entweder ein Tier oder ein Gott. Darum haben denn alle Menschen von Natur in sich den Trieb zu dieser Gemeinschaft, und der Mann, der sie zuerst errichtet hat, ist der Urheber der größten Güter.“ (Aristoteles, Politik, hg. v. G. Bien, Hamburg 19814, 1253 a28 – 30.) 21 Vgl. mit dem mlat. Ausdruck „practicus“, „practica“mit der Bedeutung „sachkundig“ vom lat. Subst. „pragmaticus“ mit der Bedeutung „Rechtskundiger“. 22 Die Begriffe „Handeln“, „Handlung“ verweisen auf einen Zusammenhang mit dem Begriff der „Hand“, was bereits auf haptische Vollzugsakte im Sinne von „mit den Händen fassen“, „berühren“, „betasten“, sodann auf Bedeutungen wie „Verrichten“, „Vollbringen“, „Betreiben“, „(Be-)Wirken“, „Schaffen“ verweist. Der althochdeutsche Ausdruck „under Handen sin“ (vgl. Schützeichel, R., Althochdeutsches Wörterbuch, Tübingen 19742), der mit der Bedeutung „gegenwärtig“ übersetzt wird, macht aber noch auf eine weitere zentrale Konnotation aufmerksam, indem er auf einen Akt einer „Vergegenwärtigung“ für einen Handlungsträger, somit auf die Konstitution von Wirklichkeit verweist. Auf diesen engen Zusammenhang von Handlung, Handeln und Wirklichkeit verweisen noch der spät-mittelhochdeutsche Ausdruck „wirkelich“, im Sinne von „tätig“, „wirksam“, „wirkend“, und die mittelhochdeutschen Ausdrücke „würke(n)lich“, „würklich“, die durch die Bedeutungen „handelnd“, „tätig“, „durch Handeln geschehend“, „in einem Tun bestehend“ wiederzugeben sind.
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„Vorgehen“, „Verfahren“, „Vollzug“ in Gebrauch. Im Sinne der Bedeutung von „Tätigkeit“ umfaßt der Begriff des „Handelns“ sodann das gesamte Spektrum menschlichen Agierens, d. h. sowohl die dinglich-produktiven Verrichtungen (Machen, Herstellen, Hervorbringen) als auch normativ ausgerichtetes Handeln im Sinne von ethisch fundierten Handlungsvollzügen sowie kognitiv-mentalen Handlungen (Erkennen, Sprachvollzüge (Sprechakte), Denken, Verstehen und Erlebnisse). Handeln und Handlung wird aber nicht nur von Theorie sowie Entwurf, sondern auch von dem Begriff des „Verhaltens“ abgegrenzt, insoweit letzterer Begriff oft zur Kennzeichnung eines lediglich reflexartigen, biologischkorporal strukturierten Agierens verwendet wird.23 Im Gegensatz zum verbreiteten alltagssprachlichen Gebrauch des Handlungsund Praxisbegriffs wurden die innerhalb der aristotelischen Thematisierung von EG~L>0 und ED¼=H>0 gegebenen Differenzierungen in den unterschiedlichsten philosophischen und sozialwissenschaftlichen Konzeptionen fortgeführt, wobei sich idealtypisch drei Ebenen innerhalb des aktuellen deutschen Sprachgebrauchs hinsichtlich des Praxisbegriffs im Sinne von Handeln und Handlung identifizieren lassen:24 ____________________ 23
Die differenzierteste Begriffsbildung im Sinne einer Abgrenzung der Begriffe „Handeln“, „Handlung“ und „Verhalten“ vor einem phänomenologischen Hintergrund ist wohl den Arbeiten von A. Schütz zu entnehmen. Insbesondere in seiner Publikation Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einführung in die verstehende Soziologie (Frankfurt a.M. 19936 (orig. 1932)) entfaltete er diese Begriffsdifferenzierung in kritischer Adaption des Weberschen Ansatzes (Schütz, A., Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, a.a.O., S. 24ff.). An Weber kritisiert er demnach, daß er „[...] zwischen Handeln als Ablauf und vollzogener Handlung, zwischen dem Sinn des Erzeugens und dem Sinn des Erzeugnisses, zwischen dem Sinn eigenen und fremden Handelns bzw. eigener und fremder Erlebnisse, zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen keinen Unterschied [...]“ (a.a.O., S. 15) macht. Vgl. auch Schütz, A., a.a.O., S. 50f. Ebenso wendet sich A. Schütz gegen M. Webers (Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1974) Abgrenzung zwischen Handeln und Verhalten, insoweit ein ‚bloßes‘ Verhalten in Form eines „reaktiven Sichverhaltens“ (Weber, M., a.a.O., Abschn. I (2)) vom Handeln (das als eine Sonderform des Verhaltens bestimmt wird –) als subjektgebundenes Sinngebilde bestimmt wird. Nach Weber ist Verhalten entweder mit Sinn (= Handeln) oder ohne Sinn (= affektives, reaktives Verhalten) besetzt, wohingegen Schütz die Dimension des Sinns als Zeitphänomen im Erlebnis („stellungnehmende Akte“ im Zeitbewußtsein; Schütz, A., a.a.O., S. 53) und nicht im Verhalten verortet. Verhalten unterscheidet sich vom Handeln nicht in Form eines sinnlosen Reflexes, sondern indem Verhalten sich ohne Vorentwurf spontan vollzieht, keine Planung impliziert, hingegen nur erinnert werden kann. Des weiteren beinhaltet Verhalten ein Moment der Sinnhaftigkeit, insoweit es eine Stellungnahme beinhaltet, die sich direkt, außerhalb einer Differenz von Psyche und Korporalität, vollzieht (a.a.O., S. 71, 79). 24
Hinsichtlich der folgenden Ausführungen zur Begriffsgeschichte und Systematik vgl. mit: Stachowiak, H., Einleitung, in: dgl. (Hg.), Handbuch der Pragmatik, Bd. I, a.a.O., S. IXX – L. Neben der Latinisierung durch Cicero und Seneca bedarf die Fortführung antiker Denktraditionen durch Plotin (Unterordnung der Praxis (EG~L>0) hinsichtlich der Theorie ($:KG¼6), obwohl es „theoretisches Handeln“ (Plotin nennt sie
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– Praxis und praktisch im Sinne einer operativ-herstellenden Tätigkeit im Kontext einer Zweck-Mittel-Rationalität. In diesen Kontext können alle Ausformungen operativer, konstruktiver, instrumenteller und technischer Handlungsphänomene eingeordnet werden, die auch in eigenständigen philosophischen Paradigmata wie Operationalismus, voluntativer Operationismus, Konstruktivismus oder in sogenannten Praxeologien ihre je spezifische Ausformulierungen erfahren haben.25 ____________________
ED¼=H>0) gibt, insofern auf das Handeln reflektiert wird und sie Gegenstand der Anschauung ($:°G=B6) ist), aber insbesondere auch Augustinus (actio et contemplatio) und Thomas von Aquin (ratio practica, intellectus practicus und consideratio veritatis, intellectus speculativus) bis hin zur Scholastik einer Hervorhebung. Es ist dann die Renaissance (z.B. Valla, Ficino, Pico della Mirandola, Bruno, Bacon und Hobbes), die den aktiven Gestaltungs- und Anwendungswillen des Menschen gegenüber der Welt zum Ausdruck bringt, und somit die EG~L>0 zusehends zu einer ED¼=H>0 im aristotelischen Sinne wandelt. Infolge ist es das „verum-factum-Prinzip“ innerhalb Vicos „scienza nuova“, das letzteren Traditionsstrang fortführt und zu einem gnoseologischen, geschichtsphilosophischen Prinzip erhöht. 25
Es handelt sich insbesondere um Paradigmata, die sich im semantisch verwandten Umfeld des EG~@n0 und 7¼D0 $:KG=I>@n0 in Form der „vita activa“ und „vita contemplativa“ vor einem christlich theologischen Hintergrund fortgeführt hat.28 Die thematische Breite des Praxis- bzw. Handlungsverständnisses wird auch in Christian Wolffs zweibändiger Philosophia practica universalis deutlich, die sowohl eine Ethik, eine Rechtslehre als auch eine Ökonomie enthält. Die Wolffsche Schulphilosophie bestimmte auch noch maßgeblich das Kantsche Denken, ein Einfluß, der in den vorkritischen Schriften Kants ____________________
Menschen zu formulieren, wertet Müller nicht als Gegenargument, sondern als Herausforderung. Vgl. auch mit O. Höffe (Philosophische Handlungstheorie als Ethik, in: Poser, H. (Hg.), Philosophische Probleme der Handlungstheorie, a.a.O., S. 233 – 261), der für einen wechselseitigen Verweisungskontext argumentiert. 28 Die Begriffsgeschichte zur „vita activa“ (vs. „vita contemplativa“) erweist sich freilich als vielschichtiger, insoweit der Ausdruck erst in der mittelalterlichen Philosophie zur Übersetzung des aristotelischen 7¼D0 EDA>I>@n0, jedoch mit einem tiefgreifend veränderten Verständnis, eingeführt wurde. War Aristoteles’ 7¼D0 EDA>I>@n0 Ausdruck einer von Arbeit (Sklave) und Herstellung (Handwerk) freien Lebensform, so daß die Möglichkeit (i. S. von H8DA ; lat. otium) eines ausschließlich öffentlich-politischen Tätigseins (EG~L>0) bestand, so wurde der lateinische Begriff zur Kennzeichnung sämtlicher Tätigkeitsformen einschl. Arbeit, Herstellen und Praxis verwendet. Innerhalb des römisch-lateinischen Sprachraums kann konstatiert werden, daß weder Cicero noch Seneca den Begriff der „vita activa“ verwenden. Cicero verwendet den Ausdruck „vita societatis“ (De officiis I, 12, 29 usw.), wohingegen Seneca vom „animal sociale“ im Kontext Aristoteles’ 7¼D0 EDA>I>@n0 spricht, so daß die explizit politische Dimension noch tradiert wird. An der Person Francis Bacon läßt sich sodann veranschaulichen, daß im Übergang von der Renaissance zur Moderne ein Verlagerung zur „vita activa“ mit einer operativen Ausrichtung stattgefunden hat. Bacon verwendet im Novum Organum die Gegenüberstellung pars contemplativa vs. pars activa (Bacon, F., Neues Organon, lat.-dt., hg. u. Einl. von W. Krohn, übers. von R. Hoffmann / G. Korf, 2 Bde., Hamburg 1990, Bd. 2, Apho. 4, S. 282), wobei er auch von pars operativa (a.a.O., Bd. 2, Apho. 5, S. 290) spricht. Des weiteren grenzt er sich von Aristoteles’ Hierarchie der Lebensformen („contemplative or active life“) zugunsten der vita activa ab (Bacon, F., The Advancement of Learning, ed. by Arthur Johnston, Oxford 1974 (Clarendon Press), p. 149f.).
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noch eindeutiger nachweisbar ist. So folgt das frühe Praxisverständnis Kants noch weitgehend einer schulphilosophischen Systematisierung von Praxis und Theorie. Nicht nur, daß eine eindeutige Abgrenzung im Sinne eines Dualismus innerhalb der Philosophie als entweder praktisch oder theoretisch mittels des Kriteriums des Bezugsobjekts (Praxis bzw. Verhalten vs. Theorie bzw. Verstand) zum Ausdruck gebracht wird, es ist auch noch ein Praxisverständnis identifizierbar, das sich ausschließlich an der Aufklärung sittlich fundierter freier Handlungen in Abgrenzung zu den Regeln des Verstandesgebrauchs orientiert.29 Die Synthesis des Verstandes im Sinne einer Handlung, wie sie die Kritik der reinen Vernunft formuliert, findet noch keinen adäquaten Ausdruck. Jedoch lassen sich bereits wesentliche inhaltliche Momente der sogenannten ‚kritischen Wende‘ Kants, wie sie später im Anschluß in der Kritik der reinen Vernunft, in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und Kritik der Praktischen Vernunft formuliert werden, identifizieren. So wird Moralität insbesondere im Kontext von Freiheit und Autonomie, in dem Willen zur Selbstgesetzgebung des Subjekts zu einem moralischen Handeln identifiziert.30 In Form der Autonomie kommt sodann auch ein spezifisches Verständnis von Freiheit zum Ausdruck, insofern es die Freiheit ist, die als Fundament der Möglichkeit zur Moralität von Kant hervorgehoben wird. Mit dieser zentralen Hervorhebung der Freiheit des Subjekts wird nicht nur die Schlüsselrolle des Individuums in der Epoche der ____________________ 29 Vgl. mit folgenden Ausführungen Kants (Eine Vorlesung über Ethik, hg. v. G. Gerhardt, Frankfurt a.M. 1990) aus der ‚vorkritischen Phase‘ (gelesen ca. 1775 – 1785): „Teil A; Philosophia practica universalis: Alle Philosophie ist entweder theoretisch oder praktisch. Die theoretische ist die Regel der Erkenntnis; die praktische ist die Regel des Verhaltens in Ansehung der freien Willkür. Der Unterschied der theoretischen von der praktischen Philosophie ist das Objekt. Die theoretische hat zum Objekt die Theorie, und die praktische die Praxis. [...] Hier ist aber der Unterschied des Theoretischen und Praktischen in Ansehung des Objekts. Die praktische Philosophie ist nicht der Form nach, sondern dem Objekt nach praktisch, und dieses Objekt sind die freien Handlungen und das freie Verhalten. Das Theoretische ist das Erkennen, und das Praktische ist das Verhalten. Wenn ich vom Gegenstand abstrahiere, so ist die Philosophie des Verhaltens diejenige, die uns Regeln gibt vom guten Gebrauch der Freiheit, und dieses ist das Objekt der praktischen Philosophie, ohne Ansehen der Gegenstände. So wie die Logik vom Gebrauch des Verstandes redet ohne Ansehen der Gegenstände, also handelt die praktische Philosophie vom Gebrauch der freien Willkür nicht in Ansehung der Gegenstände, sondern unabhängig von allen Gegenständen. Die Logik gibt uns Regeln in Ansehung des Gebrauchs des Verstandes und die praktische Philosophie in Ansehung des Gebrauchs des Willens, welches die zwo Kräfte sind, woraus alles in unserem Gemüt entsteht.“ (A.a.O., S. 11) 30 So führt Kant etwa in der Kritik der praktischen Vernunft aus: „Die A u t o n o m i e des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten; alle H e t e r o n o m i e der Willkür gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Prinzip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen. [...] Jene U n a b h ä n g i g k e i t aber ist Freiheit im n e g a t i v e n , diese e i g e n e G e s e t z g e b u n g aber der reinen, und, als solche, praktischen Vernunft ist Freiheit im p o s i t i v e n Verstande.“ (Kant, I., K.d.p.V., Lehrsatz IV, A 58f.).
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Aufklärung unterstrichen, vielmehr zeigt sich bei Kant die wesentliche Spannung zwischen der Freiheit des Individuums im Handeln einerseits und der Beschränkung der Freiheit zur Moralität aus Freiheit in Form der Verpflichtung zu einem allgemeinen Sittengesetz mittels der Vernunft im Handeln andererseits.31 Der wesentlich neue methodische Ansatz seiner Transzendentalphilosophie, ausgehend vom Erkenntnissubjekt hin zu den Bedingungen dieser Blicknahme32 im Hinblick auf die methodische Grundlegung nicht nur der theoretischen sondern auch der praktischen Vernunft, findet erst später seinen adäquaten systematischen Ausdruck. Grundlegung bedeutet sodann für Kant eine Begründung und Fundierung im Sinne einer Orientierung an der Validität des neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses, somit der Versuch einer fundierten Metaphysik der Erkenntnistheorie und der Regeln der Moralität bzw. Ethik, somit der Praxis. Auch wenn Kant den Ausdruck „Praxis“ weitgehend nicht heranzieht, sondern von praktischer Vernunft bzw. vom Handeln spricht, so zielt er doch auf jene ethisch-normative Dimension ab, die insbesondere Aristoteles’ Konzeption der EG~L>0 bestimmt. Doch sind es primär nicht Glückseligkeit (:w96>BDC¼6), Gemeinschaft (EnA>0), Wille Gottes (Theologie), Moral als Teil der Natur (Relation von Sein und Sollen) oder gar moralisches Gefühl, die Selbstzweck und Begründung der Praxis im Sinne Kants praktischen Verhaltens bzw. Moralität fundieren, sondern Autonomie, somit Freiheit zur Selbst-Gesetzgebung, i. S. der Möglichkeit sein eigenes Handeln zum einen mittels der Vernunft moralisch ausrichten zu wollen und zum anderen durch die Formulierung eines Gesetzes, eine Formulierung, die durch sich selbst und für sich selbst (Selbst-Zweck) in Vernunft erfolgt, sich in Freiheit allgemeinen Prinzipien mittels der Vernunft zu unterwerfen.33 Es ist das vernünftig wollende Subjekt, das sich in Form der ____________________ 31 Denn für Kant ist jene Differenzierung entscheidend, wonach „[...] alle Moralität der Handlungen in der Notwendigkeit derselben a u s P f l i c h t und aus Achtung fürs Gesetz, nicht aus Liebe und Zuneigung zu dem, was die Handlungen hervorbringen sollen, gesetzt werde. Für Menschen und alle erschaffene vernünftige Wesen ist die moralische Notwendigkeit Nötigung, d. i. Verbindlichkeit, und jede darauf gegründete Handlung als Pflicht, nicht aber als eine uns von selbst schon beliebte, oder beliebt werden könnende Verfahrensart vorzustellen.“ (Kant, I., K.d.p.V., A 145.) 32 Es sei an die folgenden programmatischen Ausführungen Kants im Sinne einer Revolution der Denkungsart erinnert: „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll.“ (Kant, I., K.d.r.V, Vorrede, S. BXVI) 33 Vgl. auch mit F. Kaulbach (Kants Philosophie des Handelns und ihre aktuelle Bedeutung, in: Stachowiak, H. (Hg.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. I, Hamburg 1986, S. 455 – 482), der neben Autonomie und Autarkie noch auf die Dimen-
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Formulierung des Kategorischen Imperativs mittels der Tätigkeit der Vernunft zu einem sittlichen, somit menschlichen Wesen vor dem Hintergrund seiner Freiheit macht. Insbesondere mit Kants ‚kopernikanischer Wende‘ wird eine weitere Dimension hinsichtlich des Handlungsbegriffs erschlossen: gemeint ist der Zusammenhang von Handeln und Erkennen, auf den bereits in der Einleitung hingewiesen wurde. Insbesondere Engfer34 macht in Anlehnung an Kaulbach35 auf diesen wichtigen Aspekt im Zusammenhang mit Kant aufmerksam, wonach die Grenzen zwischen dem Handeln und dem Erkennen – zumindest nach traditioneller Sichtweise – bereits in der Kritik der reinen Vernunft aufgebrochen werden. Es ist der tätigkeitsorientierte, aktionale Aspekt innerhalb Kants Verständnis von Erkenntnis, der einer Hervorhebung bedarf. (Theoretische) Erkenntnis ist nach Kant nicht bloße Rezeptivität, sie ist nicht als bloßes Abbildungsgeschehen von einem Außen zu einem Innen adäquat erfaßbar. Zwar ist das Erkennen auf die Rezeptivität als einer Fähigkeit, die Vorstellungen vor dem Hintergrund der Empirie zu empfangen, angewiesen, eine ausreichende Charakterisierung ist damit jedoch noch nicht gegeben. Denn es bedarf erst einer spezifischen Einheitsleistung, indem die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen durch das Erkenntnissubjekt zu einer Einheit (Synthesis) gebracht werden muß. Und diese Leistung stellt eine spezifische Form des Tätigseins eines Erkenntnissubjekts bzw. seines Verstandes dar. Es ist gerade diese Synthesis, die als eine aktive Leistung und somit als genuine Konstitutionsleistung im Sinne einer Tätigkeitsform, somit Handlung, bestimmbar ist. Kant gebraucht in diesem Kontext selbst den Begriff „Handlung“: „Allein die Spontaneität unseres Denkens erfordert es, daß dieses Mannigfaltige zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen und verbunden werde, um daraus eine Erkenntnis zu machen. Diese Handlung nenne ich Synthesis. Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen.“36 Nicht nur, daß Kant in diesem Kontext die Synthesis ausdrücklich als „Handlung“ kennzeichnet, aufschlußreich ist vielmehr auch, daß er diesen Vollzug als ein „Machen“ von Erkenntnis umschreibt. Die Verwendung des Verbs „machen“ in letzterem ____________________
sion des Sinns guten Handelns im Hinblick auf eine Weltperspektive aufmerksam macht. (A.a.O., S. 480ff.) 34 Engfer, H.-J., Handeln, Erkennen, Selbstbewußtsein bei Kant und Fichte, in: Poser, H. (Hg.), Philosophische Probleme der Handlungstheorie, a.a.O., S. 101 – 125. 35 Vgl. mit: Kaulbach, F., Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, Berlin, New York 1978, S. 17ff. 36 Kant, I., K.d.r.V., A 77ff. / B 102 ff. Zur Thematik der Erkenntnis als Handlung bei Kant vgl. des weiteren: K.d.r.V., B 94 / A 69; B 130f.; B102 f. / A76 f. So führt Kant auch aus: „Das Denken ist die Handlung, gegebene Anschauung auf einen Gegenstand zu beziehen.“ (A.a.O., B 304f. / A 247f.)
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Zitat verweist darauf, daß es sich hier um einen Akt des Hervorbringens handelt, der in Anlehnung an die zuvor bereits diskutierte aristotelische Unterscheidung zwischen EG~L>0 und ED¼=H>0 als eine poietische Tätigkeitsform bestimmt werden kann. Die Synthesis ist demnach eine poietische Tätigkeitsform, ein Hervorbringungs- bzw. Konstitutionsakt durch ein Erkenntnissubjekt, das sich in diesem Konstitutionsakt hinsichtlich seines Selbst (-Bewußtseins, Ich)37 konstituiert. Es drängt sich ein Zusammenhang mit dem Vico-Axiom („verum-factumPrinzip“) auf, wenn Kant in einem Brief den direkten Zusammenhang zwischen dem „Machen“ im Sinne eines Konstitutionsakts und der Rekonstruktionsmöglichkeit humaner Erkenntnis herstellt: „Wir können aber nur das verstehen“, d.h. mit Hilfe des Verstandes erkennen, „was wir selbst machen können.“38 Hinsichtlich der impliziten Zweck-Mittel-Beziehungen dieser Handlungsform stellt sich sodann die Frage, was in diesem Kontext des Erkennens als einer Tätigkeitsform der Zweck und was das Mittel ist. Kants Antwort lautet in der Kritik der reinen Vernunft: Zweck bzw. Ziel ist die Einheit der Erkenntnis, Mittel hingegen ist in der ersten Auflage die Einbildungskraft, in der zweiten Auflage ist es hingegen eine Leistung bzw. Handlung des Verstandes.39 Daß es sich bei diesem Zusammenhang nicht lediglich um ein zufälliges Beiwerk der Kantschen Philosophie handelt, haben bereits zwei zeitgenössische Autoren Kants erkannt. Gemeint sind Karl Leonhard Reinhold und Salomon Maimon, die nicht nur als Kant-Interpreten einzuordnen sind, sondern die auch die Analyse der Beziehung von Erkennen, Vorstellen und Denken als Handeln weiter vorangetrieben haben.40 Reinhold etwa entwirft ein hierarchisches Stufengefüge ausgehend von der Sinnlichkeit, über den Verstand zur Vernunft als Ausdruck aufsteigender Freiheitgrade von Handlungsformen. Demnach könne Vernunft „[...] nur als ungezwungen- und ungebunden-handelnde Spontaneität, ____________________ 37 Vgl. mit folgender Bestimmung des Ich: „Das Ich in jedem Urteile ist weder [die] eine Anschauung noch ein Begriff [sondern] und gar keine [auf irgend ein Objekt bezogene] Bestimmung irgend eines Objekts sondern [der] ein Verstandes-Akt des bestimmenden Subjekts überhaupt [...].“ (Kant, I., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (Rostocker Anthropologiehandschrift), BA 27, S. 428.) 38 Brief an J. S. Beck vom 1. Juli 1794 (Akad. Ausgabe Bd. 11, S. 514f.; zitiert nach Prauss, G., Einführung in die Erkenntnistheorie, Darmstadt 1980, S. 115). 39 Kant spricht in seiner Prolegomena explizit auch von einer „Verstandeshandlung“ (Kant, I., Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können, A 119). 40
Vgl. hinsichtlich der Ausführungen der folgenden zwei Absätze mit: Engfer, H.-J., Handeln, Erkennen, Selbstbewußtsein bei Kant und Fichte, a.a.O., S. 108 f.; Reinhold, K. L., Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, (orig. Prag, Jena 1789) Nachdruck Darmstadt 1963, S. 535ff.; Maimon, S., Versuch über die Transcendentalphilosophie, 1790, in: dgl., Gesammelte Werke, Bd. II, hrsg. von V. Verra, Hildesheim 1970, S. 202.
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d. h. als absolute T(h)ätigkeit gedacht werden.“41 Erst auf der Ebene der Vernunft gelangt die Spontaneität zu einer wirklichen Freiheit in ihrem Tätigsein, vollzieht sich in ihrem Tätigsein (Handeln) Erkenntnis. Analog zu Reinhold entwirft auch Maimon eine hierarchisch aufgebaute Architektur von Handlungsformen, die, ausgehend von der Sinnlichkeit, die kein Bewußtsein ihrer Tätigkeit besitzt, zum Verstand führt, der die eigentliche Erkenntnisleistung im Sinne einer Tätigkeit hervorbringt. Die Kantsche Konzeption der reinen Tätigkeit der Vernunft im Hinblick auf das praktische Verhalten (Sittlichkeit) und Erkennen findet in Form einer neuen Grundlegung innerhalb Fichtes Wissenschaftslehre (1794/95) mittels seines Begriffs der ‚Tathandlung‘ eine neue Artikulationsebene. Jener, die Vermutung eines Pleonasmus nahelegender Begriff der „Tat-Handlung“ stellt den Versuch dar, eine Einheit von Produkt einer Handlung (Tat) einerseits und der (reinen) Handlung im Sinne eines „initium“ andererseits in Form eines ersten Grundsatzes zu formulieren.42 Praktische und theoretische Vernunft kumulieren in diesem Begriff, der des weiteren auch jenes Problem der Kantschen „Ich“-Konstitution lösen soll, indem nach den zugrundeliegenden Konstitutionsbedingungen noch einmal zurück gefragt wird. Fichtes Antwort lautet sodann: „Also das Setzen des Ich durch sich selbst ist die reine T(h)ätigkeit desselben. – Das Ich se(t)zt sich selbst und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; [...].“43 Diese Setzung ist reine Tätigkeit und nicht bewußtseinsgebundene Reflexion eines Subjekts. Sie ist Lebensvollzug im Medium der Handlung: „Erst durch diesen Act und lediglich durch ihn, durch ein Handeln auf ein Handeln selbst, welchem bestimmten Handeln kein Handeln überhaupt vorhergeht, wird das Ich ursprünglich für sich selbst.“44 Eine Rehabilitierung der praktischen Philosophie, die einen Primat der praktischen Vernunft zu identifizieren beabsichtigt, könnte sich sodann auch auf folgende Aussage Fichtes stützen: „Wir handeln nicht, weil wir erkennen, sondern wir erkennen, weil wir zu handeln bestimmt sind; die praktische Vernunft ist die Wurzel aller Vernunft.“45 Es ist insbesondere auch Hegel, der vor dem Hintergrund der Bestimmungen von Ich und Gegenstand die reziproke Verschränkung von Erkennen, Theorie ____________________ 41 Reinhold, K. L., Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, a.a.O., S. 558. 42 Z. B.: „Handlung und T(h)at [...] Eins und eben dasselbe“ (sind). (Fichte, J. G., Wissenschaftslehre, § 1; in: dgl., Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I/2, hg. v. R. Lauth u. H. Jakob, Stuttgart – Bad Cannstatt 1965, S. 259). 43
Ebd. Fichte, J. G., Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, Zweite Einleitung, in: dgl., Gesamtausgabe, Bd. I/ 4, a.a.O., S. 213. 45 Vgl. mit: Fichte, J. G., Die Bestimmung des Menschen, in: dgl., Ausgewählte Werke in sechs Bde., Bd. III, hg. v. F. Medicus, Darmstadt 1962, S. 359. 44
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(theoretisches Verhalten) einerseits und Handeln (praktisches Verhalten) andererseits thematisiert. Hegel macht ausdrücklich auf das dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis aufmerksam, wenn er in den Grundlinien der Philosophie des Rechts etwa ausführt: „Der Unterschied zwischen Denken und Willen ist nur der zwischen dem theoretischen und praktischen Verhalten, aber es sind nicht etwa zwei verschiedene Vermögen, sondern der Wille ist eine besondere Weise des Denkens [...]. Das Theoretische ist wesentlich im Praktischen enthalten: es geht gegen die Vorstellung, daß beide getrennt sind, denn man kann keinen Willen haben ohne Intelligenz. Im Gegenteil, der Wille hält das Theoretische in sich: der Wille bestimmt sich; diese Bestimmung ist zunächst ein Inneres: was ich will, stelle ich mir vor, ist Gegenstand für mich. [...] Ebensowenig kann man sich aber ohne Willen theoretisch verhalten oder denken, denn indem wir denken, sind wir eben tätig.“46 Hegel verdeutlicht mit diesen wenigen Zeilen nicht nur den reziproken Verweisungszusammenhang von Theorie (theoretischem Verhalten) und Praxis (praktischem Verhalten), er untergräbt auch die neuzeitliche Theorie-PraxisDifferenz, indem er die Tat mit dem Geist ‚versöhnt‘: „Die Geschichte des Geistes ist seine Tat, denn er ist nur, was er tut, und seine Tat ist, sich, und zwar hier als Geist, zum Gegenstande seines Bewußtseins zu machen, sich für sich selbst auslegend zu erfassen. Dies Erfassen ist sein Sein und Prinzip, und die Vollendung eines Erfassens ist zugleich seine Entäußerung und sein Übergang.“47 Daß die Spekulation zur Praxis wird, ist nicht nur als wiederum lediglich spekulatives Moment gedacht (Hegels Kritik an einem nur sein sollenden Guten bei Kant, einem theoretischen Sollen, das keine direkte Widerspiegelung in der Praxis finden würde,48 wäre sodann unglaubwürdig), sondern ist konkret-praktisch in Form einer spezifischen Transformation der Sittlichkeit auf der Ebene von Gesellschaft und Geschichte, zentral in Form des Staates. Konkret bedeutet dies das Hereintragen eines (gemäß Hegels Kritik an Kant) zunächst lediglich individualethischen Ansatzes (des einzelnen und zugleich vernünftig allgemeinen Subjekts) in einen politik- und rechtsphilosophischen Gesamtkontext, der in der Wiederaufnahme insbesondere der aristotelischen Konzeption einer Einheit von EnA>0 und $D0 bei Hegel in Form einer Staats- und Rechtstheorie eine Wiederbelebung erfährt. Dabei handelt es sich freilich nicht um eine lediglich ana____________________ 46
Vgl. mit: Hegel, G. W. F., Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werkausgabe Bd. 7, Frankfurt a.M. 1974, § 4 Zusatz, S. 46ff. 47 Ebd., § 343, a.a.O., S. 504. Vgl. auch mit jener Bestimmung Hegels: „Das wahre Sein des Menschen ist vielmehr seine Tat; [...].“ (Hegel, G. W. F., Phänomenologie des Geistes, Hamburg 19526, S. 236.) 48 Hinsichtlich Hegels Kritik an Kants Konzeption der „Pflicht“ vgl. mit Grundlinien der Philosophie des Rechts §§ 135f. (a.a.O., S. 252f.) u. § 149 (a.a.O., S. 297f.). Des weiteren zum „Kategorischen Imperativ“: dgl., Philosophie des Rechts (Vorlesung 1819/20), Frankfurt a.M. 1983, S. 105.
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loge Adaption antiker Denkfiguren, denn die Freiheit des Subjekts, bei Kant Bedingung der praktischen Vernunft, findet innerhalb Hegels Verständnis eine Artikulationsebene innerhalb der Wirklichkeit in Form des bürgerlichen aufgeklärten Staates. Der Staat ist damit auch Ausdruck der Vernunft des Wirklichen und der Wirklichkeit der Vernunft, denn: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“49 In einem verfassungsrechtlich strukturierten und somit zugleich sittlich freiheitlichen Staat, ein Staat, der zur Vernunft gekommen ist, erfährt das neuzeitliche Problem der Entfremdung nach Hegel seine Aufhebung.50 Es handelt sich nach Hegel um die Vollendung einer geschichtlichen Entwicklung, die die bestehende Subjekt-Objekt-Spaltung, die Trennung von Vernunft und Verstand unter dem Primat des Verstandes, der jedoch noch zur Vernunft kommen muß, im verfassungsrechtlichen Staat überwunden hat. Hegel problematisiert sodann auch die Spannung / Differenz zwischen Individualität bzw. Subjekt einerseits und den frühkapitalistischen bzw. frühindustriellen ökonomischen Bedingungen51 andererseits. Es wird bereits das Problem der Transformation des (bürgerlich konstitutiven) Arbeitsbegriffs durch die fortschreitende Industrialisierung (Problem der Maschine) erkennbar, die eine lebensweltliche Entfremdung und Verarmung in Teilen der Gesellschaft nach sich zieht.52 Es sind sodann insbesondere die Junghegelianer im Kontext des Vormärz, die einen Primat der Praxis einfordern, eine Forderung, die schließlich mit der Befreiung von spekulativen Restbeständen Hegelscher Provenienz und der Realisation politisch konkreter Handlungen verbunden wird. Marx53 versucht mit seinem praktisch-kritischen Materialismus vor dem Hintergrund der Kritik an bestehenden politisch-ökonomischen Theorien, an einer idealistischen Geschichtsphilosophie, insbesondere aber an Hegels Rechtsphilosophie, eine Theorie der Praxis zu formulieren, die nicht nur eine genuin historische und gesellschaftli____________________ 49
Vgl. mit: Hegel, G. W. F., Vorrede zur Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 24. Der Trennung von Verstand und Vernunft entsprechen die Differenzen von Gesetz und Recht, von bürgerlicher Gesellschaft und Staat, von Natur und Geist, von Bedürfnis und Sittlichkeit, von Entfremdung und (absoluter) Freiheit. 50
51 Zum Phänomen der Arbeit vgl.: Hegel, G. W. F., Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., §§ 196ff., S. 351ff. 52 Hegel, G. W. F., Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., §§ 243ff., S. 389ff. 53 Eine differenzierte Analyse hinsichtlich der systematischen und inhaltlichen Stellung des Begriffs der Arbeit bei Marx gibt: Müller, S., Phänomenologie und philosophische Theorie der Arbeit, Bd. II: Rationalität – Welt – Vernunft, Teil IV: Naturalität der Technik und Zeit des Humanen. Marxsche Theorie der Arbeit in „Grundrissen“ und „Kapital“, Freiburg, München 1994. Einen Überblick vermittelt etwa: SchmiedKowarzik, W., Kritische Philosophie der gesellschaftlichen Praxis. Die Marxsche Theorie und ihre Weiterentwicklung bis in die Gegenwart, in: Stachowiak, H. (Hg.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. III, Hamburg 1989, S. 144 – 184.
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che Praxis ist, sondern die Praxis als „Arbeit“ sowohl im individuell-anthropologischen Sinne als auch in Abhängigkeit von ökonomischen Bedingungen einer Gesellschaft bestimmt. Philosophie ist sodann selbst Teil einer Praxis, die eingebettet ist in historisch entwickelte Bedingungen gesellschaftlicher Arbeit und Produktion. Das Phänomen „Arbeit“ erfährt dabei auch eine theoretische Aufwertung, indem es als bestimmendes Moment menschlicher Existenz identifiziert und theoretisch innerhalb einer Gesellschafts- und Geschichtstheorie rekonstruiert wird. Wie S. Müller54 differenziert und umfassend aufweist, erfährt der Begriff der Arbeit mit der Moderne eine weitreichende Aufwertung, indem er, entgegen der klassisch antiken Abgrenzung von EG~L>0 einerseits und bG0 andererseits, wesentliche Momente des auch neuzeitlichen Praxisverständnisses in sich aufnimmt. Nahezu das gesamte Spektrum menschlicher Tätigkeitsfelder wird unter dem Begriff der Arbeit normalsprachlich subsumierbar. Daß es sich bei diesem Prozeß nicht lediglich um ein Phänomen einer semantischen Verschiebung handelt, verdeutlichen auch H. Arendt und A. Gehlen, die auf die mit diesem Prozeß verbundene Änderung humaner Selbstverortung im Ausblick auf Technizität und Politik aufmerksam machen. Anknüpfend an die aristotelische Differenz von EG~L>0 und ED¼=H>0 veranschaulicht H. Arendt insbesondere hinsichtlich des Politikverständnisses in der Neuzeit das Mißverständnis, das Herstellen mit dem Handeln zu verwechseln, daher Politik als die Herstellung der Strukturen des Politischen reduktionistisch mißzuverstehen. Politische Praxis im Sinne menschlichen, gemeinschaftlichen Handelns geriet sodann unter die Vorherrschaft des Herstellens, der Produktion des Politischen vor dem Hintergrund von Macht und Herrschaft. Insbesondere das Motiv, den Aporien menschlicher Existenz,55 die sich in seinem Handeln zeigen, entrinnen ____________________ 54 Vgl. mit: Müller, S., Phänomenologie und philosophische Theorie der Arbeit, Bd. I: Lebenswelt – Natur – Sinnlichkeit, Freiburg, München 1992, S. 103ff. Hinsichtlich der rechtsphilosophischen Konsequenzen für die Gegenwart vgl. des weiteren mit: Baruzzi, A., Freiheit, Recht und Gemeinwohl, Darmstadt 1990, insbes. Kap. III: Das Recht auf Arbeit, S. 54ff.; dgl., Europas Autonomie, Würzburg 1999, Kap. I: Humanes Leben in Autonomie und Solidarität, S. 9ff. 55 Die menschliche Existenz charakterisiert Arendt z. B. wie folgt: „Die Tatsache, daß der Mensch zum Handeln im Sinne des Neuanfangens begabt ist, kann daher nur heißen, daß er sich aller Absehbarkeit und Berechenbarkeit entzieht, daß in diesem einen Fall das Unwahrscheinliche selbst noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, daß das, was rational, das heißt im Sinne des Berechenbaren, schlechterdings nicht zu erwarten steht, doch erhofft werden darf.“ (Arendt, H., Vita activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., S. 217.) Neben der Fähigkeit des Sprechens identifiziert sie das Handeln als die Bedingung der Möglichkeit des Menschseins, eine Bedingung, die aber zugleich Ausdruck der Grenzen des Menschen ist, Grenzen, die Arendt in den folgenden Aporien des Handelns identifiziert: – die Unabsehbarkeit der Konsequenzen des Handelns in ihrer vollen Tragweite; – das Nicht-wieder-rückgängigmachen-können von Handlungen, das heißt das Gefangensein in der Irreversibilität der Prozessualität des Handelns;
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zu wollen, identifiziert sie für diese Entwicklung als verantwortlich. An die Stelle der Offenheit der Praxis sollte nunmehr ein planbares, herstellbares Produkt treten, das die eigene Naturalität überschreitet.56 Ein wesentliches Moment der anthropologischen Bedingungen im Phänomen des Handelns zu identifizieren, verbindet H. Arendt mit A. Gehlen, eine Gemeinsamkeit, die jedoch auf unterschiedlichen Verortungen der Handlungsdimension beruht. Ist es bei Arendt der aporetische Charakter menschlicher Existenz, so identifiziert Gehlen die Fundamentaldimension „Handlung“ innerhalb eines biologisch-anthropologischen Kontextes. Ist es bei Arendt das Moment der Arbeit, das die Abhängigkeit von der humanen Korporalität und somit Naturalität zum Ausdruck bringt, so verortet Gehlen das Moment des Handelns innerhalb der Naturalität selbst. Es ist die Fähigkeit im Handeln das eigene Überleben sowie die Herstellung der eigenen Umweltbedingungen zu bewerkstelligen, wodurch sich der Mensch nicht nur gegenüber anderen Spezies biologisch abgrenzt, sondern auch selbst konstituiert.57 Diese Ausnahmestellung innerhalb der Natur ist zwar biologisch insofern begründet, als die Natur die Bedingtheit des Menschseins bestimmt, zugleich ____________________
– das Problem der Verantwortung des Einzelnen in Rückbindung an die Unabsehbarkeit der Folgen der Handlungen einschließlich ihrer Einbindung in die Pluralität von vielen Handelnden. Diese Aporien sind nicht überwindbar, sie sind fundamentale Eigenschaft jeglichen Handelns und somit des Menschseins. Es ist insbesondere der Konflikt von Herstellen (ED¼=H>0) und Handeln (EG~L>0), der sich in diesem Kontext offenbart und dieser Konflikt ist kein bloß begrifflicher, sondern verweist auf eine fundamentale Problematik menschlicher Existenz: zum einen in der Offenheit, Kontingenz, Unberechenbarkeit zu sein, Eigenschaften, die zugleich die Bedingungen menschlicher Freiheit sind, zum anderen die Unmöglichkeit – weder individuell noch gemeinschaftlich – völlige Offenheit, absolute Kontingenz faktisch leben zu können. Insbesondere in diesem Konflikt identifiziert H. Arendt die stets latente Versuchung, das Handeln durch das Herstellen, wo Zweck, Mittel und Produkt eindeutig identifizierbar und berechenbar sind, zu ersetzen. 56
H. Arendt unterscheidet demnach drei Ausformungen menschlichen Tätigseins: Arbeit, Herstellung und Handeln. Ist es noch die Naturalität bzw. Korporalität, die den Ort der Arbeit bestimmt („Die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Arbeitens steht, ist das Leben selbst.“ (Vita activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., S. 16)), so geschieht im Herstellen ein Überschritt vom animal laborans zum homo faber (ebd., S. 161ff.), indem vor dem Hintergrund der Verwirklichung vorgefaßter Zwecke und Ziele das Verfertigen eines Produkts erfolgt, das außerhalb der Naturalität und Korporalität bewußt gesetzt wird. Herstellen wird demnach negativ insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses zur Naturalität und somit auch hinsichtlich der menschlichen Existenz bestimmt, insbesondere wenn eine Ausschließlichkeit damit verbunden wird. 57 Eine zentrale Bestimmung Gehlens lautet demnach: „Der Mensch ist das handelnde Wesen. Er ist in einem noch näher zu bestimmenden Sinne nicht ‚festgestellt‘, d. h. er ist sich selbst noch Aufgabe – der ist, kann man auch sagen: das Stellung nehmende Wesen. Die Akte seines Stellungnehmens nach außen nennen wir Handlungen, und gerade insofern er sich selbst noch Aufgabe ist, nimmt er auch zu sich selbst Stellung und ‚macht sich zu etwas‘.“ (Gehlen, A., Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 198613, S. 32.)
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überschreitet jedoch der Mensch stets diese Grenzen.58 Man könnte auch anders sagen: die biologischen Grenzen sind die Bedingungen der Möglichkeit des Menschseins, indem sie den Menschen zum Handeln nötigen. Und erst dieses Phänomen des Handelns bestimmt den Menschen hinsichtlich seines Menschseins, zugleich Naturalität und mehr als Naturalität mittels des Handelns zu sein.59 Dieser Vielfalt an Bedeutungsbelegungen und thematischen Problemkontexten im Umfeld des Praxis- und Handlungsbegriffs steht ein dezidierter und auch eingegrenzter Begriffsinhalt hinsichtlich des Gebrauchs des Ausdrucks „Pragmatik“ gegenüber, wohingegen unter die Kennzeichnung „Pragmatismus“ selbst paradigmaimmanent so unterschiedliche Ansätze, wie etwa Peirces Pragmatizismus, James’ Pragmatismus, sowie neopragmatische Paradigmata oder sogar ‚Vulgär-Pragmatismen‘ subsumiert werden.60 Von einem Paradigma des Pragmatismus zu sprechen, erweist sich insoweit als problematisch, als eine Homogenität bereits in den ersten Adaptionsversuchen der Peirceschen „Pragmatischen Maxime“ durch W. James insoweit nicht gegeben war, indem Peirce seinen eigenen Ansatz durch die Kennzeichnung „Pragmatizismus“ später u. a. von James abzugrenzen versuchte. Wissenschaftshistorisch sowie systematisch läßt sich auf begrifflicher Ebene jedoch ein enger Zusammenhang zwischen den Begriffen der „Pragmatik“ und des „Pragmatismus“ identifizieren, insoweit Ch. W. Morris den Begriff der „Pragmatik“ aus seiner Adaption des Peirceschen Prag____________________ 58 Zentral ist des weiteren Gehlens Gedanke der Weltoffenheit des Menschen. Weltoffenheit bedeutet die Potenz des Menschen hinsichtlich der zielgerichteten Gestaltung seiner Umwelt, die nicht wie beim Tier passiv erfahren werden muß, sondern auch eine regionale Entgrenzung menschlicher Tätigkeitsfelder erlaubt. 59
Naturalität im Sinne seiner biologischen Ausstattung bedeutet zunächst, daß die Spezies „Mensch“ keine Spezialisierungen aufweist, daß es ein unfertiges, gefährdetes, riskiertes Wesen ist. Er hat Aufgaben in der Lebensbewältigung, er muß daher planend, vorhersehend, auf die Zukunft gerichtet vorgehen. Es handelt sich demnach um negative Kennzeichnungen, insofern es Mängel sind, die ihn gegenüber seiner biologischen Umwelt als gefährdet erscheinen lassen. Der Mensch ist daher ein „Mängel-Wesen“ (Gehlen, A., Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, a.a.O., S. 33), der nicht optimal an spezifische Umweltnischen angepaßt ist; „[...] er vergütet diesen Mangel allein durch seine Arbeitsfähigkeit oder Handlungsgabe, d. h. durch Hände und Intelligenz; eben deshalb ist er aufgerichtet, ‚umsichtig‘, mit freigelegten Händen.“ (Gehlen, A., a.a.O., S. 34) Diese Kennzeichnungen sind zugleich Charakterisierungen des Handelns, insofern sie auch die kulturellen, insbesondere politisch-institutionellen Aufgaben im Handeln bereits vorstrukturieren. Gehlens Gewichtungen innerhalb seiner ‚Institutionenlehre‘ vor dem Hintergrund seines Begriffs der Entlastungsfunktion (Gehlen, A., a.a.O., S. 36) bedürfen m. E. jedoch einiger kritischer Nachfragen. 60 Neben den Klassikern des Pragmatismus Ch. S. Peirce, W. James, J. Dewey und F. C. Schiller sind es C. I. Lewis, G. H. Mead, J. Royce, im neopragmatischen Umfeld N. Goodman, N. Rescher, M. White sowie H. Stachowiak, aber z. B. auch H. Putnam, R. Rorty und W. v. O. Quine sowie K.-O. Apel und J. Habermas, die diesem weiteren Kontext zugeordnet werden können.
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matismus ableitete. Insbesondere Morris’ Begriffsdefinition erwies sich innerhalb der ‚scientific community‘ als weitgehend prägend, so daß der Begriff der „Pragmatik“ sein aktuell dominantes Verwendungsfeld innerhalb sprachphilosophischer (und thematisch verwandter) Paradigmata erhielt, indem er eine Strukturierungsebene hinsichtlich des Phänomens „Sprache“ kennzeichnet.61 So führt Morris etwa aus: „Unter „Pragmatik“ verstehen wir die Wissenschaft von der Beziehung der Zeichen zu ihren Interpreten. „Pragmatik“ muß also von „Pragmatismus“ unterschieden werden, und „pragmatisch“ im Sinne der Semiotik von „pragmatistisch“ im Sinne der Philosophie.“62 Diese Abgrenzung zwischen „Pragmatismus“ einerseits und der Kennzeichnung „pragmatisch“ im Sinne der Semiotik andererseits hat sich weitgehend durchgesetzt, insbesondere weil sich die Bestimmung eines philosophischen Paradigmas mit der Kennzeichnung „Pragmatismus“ als weitgehend uneindeutig erwiesen hat.63 Bereits ____________________ 61 Ch. W. Morris definiert Pragmatik zunächst als ein Teilaspekt der Semiotik, insoweit sie eine „[...] Wissenschaft vom Ursprung, vom Gebrauch und von der Wirkung der Zeichen [...]“ (Morris, Ch. W., Signs, Language and Behavior, in: dgl., Writings on the General Theory of Signs, Den Haag, Paris 1971, p. 365) ist. Pragmatik kennzeichnet sodann die dritte Strukturierungsebene, neben Syntax und Semantik, innerhalb des Zeichensystems „Sprache“. Des weiteren hat sich die Pragmatik im Sinne einer deskriptiven Pragmatik als ein empirisches Forschungsgebiet etwa innerhalb der Psychologie und Soziologie im Umfeld handlungstheoretischer Untersuchungen etabliert. In letzterem Kontext ist insbesondere auch G. H. Mead zu verorten. 62
Vgl. mit: Morris, Ch. W., Grundlagen der Zeichentheorie, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1979 (orig. 1938), S. 52. Diese Begriffsbestimmung von Morris weicht insbesondere von der philosophisch bereits gegebenen Verwendung insbesondere des Adjektivs „pragmatisch“ ab. So verwendet Kant das Adjektiv „pragmatisch“ nicht nur in einem ausdrücklich philosophischen Sinne, sondern formuliert auch eine Hierarchie gegenüber der übergeordneten praktischen Vernunft. Vgl. hierzu mit den Ausführungen in dem folgenden Kapitel 3. 2.. H. Stachowiak (Einleitung. Pragmatik: ein Gemeinschaftswerk, in: dgl. (Hg.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. I, Hamburg 1986, S. XXV f.) macht darauf aufmerksam, daß bereits Christian Wolff den Ausdruck „pragmatisch“, oft sogar synonym mit „praktisch“, verwendet hat. Möglicherweise beeinflußte auch Jakob Friedrich Fries die darauf folgende Begriffsverwendung durch Morris und Carnap. Eindeutig nachweisbar ist jedoch die direkte Bezugnahme von Peirce auf Kant, sowie Morris’ Bezugnahme auf Peirces transformierter Adaption der Kantschen Architektonik. E. Rochberg-Holton (Inquiry and Pragmatic Attitude, in: Stachowiak, H. (Hg.), Pragmatik, Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. II, Hamburg 1987, S. 128 – 147) weist auch darauf hin, daß Morris’ Begriffsbestimmung als Anlaß für neue Mißverständnisse gegenüber dem Pragmatismus gewertet werden kann (a.a.O., S. 129), da sein Verständnis des Ausdrucks „Pragmatik“ wesentliche Inhalte des klassischen Pragmatismus ausklammerte, worin auch seine Abgrenzung von Pragmatik und Pragmatismus zum Ausdruck kommt. 63 Als alternative, in der Öffentlichkeit vorherrschende Kennzeichnungen für den Pragmatismus benennt K. Oehler (Einleitung, in: William James, Der Pragmatismus, Hamburg 1977, S. XIX) etwa: Praktikalismus, Instrumentalismus, Operationalismus, Experimentalismus, Humanismus, Voluntarismus und Kontextualismus, Kennzeichnungen, die durchaus Aspekte treffen, den Pragmatismus jedoch nicht hinreichend charakterisieren. Ein weiteres Beispiel für die Vieldeutigkeit des Begriffs „Pragmatismus“ kann mit-
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F. C. S. Schiller merkte an, daß es genauso viele Pragmatismen wie Pragmatisten gibt,64 so daß es sich bei dieser Kennzeichnung wohl eher um eine Verbindung hinsichtlich verwandter Ansätze handelt, die lediglich lose miteinander verbunden sind. Dennoch unternimmt R. Almeder einen Bestimmungsversuch hinsichtlich des Pragmatismus, indem er acht gemeinsame Eigenschaften (bei aller auch von ihm anerkannten Differenz der Einzelparadigmata) identifiziert.65 Neben jenen Merkmalen, eine Theorie der Erkenntnis zu sein, die im Sinne einer aktiven Anpassungsleistung zwischen Bedürfnissen und der Umwelt gedeutet wird, die ein stets vorläufiges und potentiell fallibles Geltungskonzept hinsichtlich unserer empirisch-experimentellen (lebensweltlichen und (natur-)wissenschaftlichen) und schlußfolgernden (induktiven und deduktiven) Erkenntnisbestrebungen formuliert, ist es m. E. jenes Merkmal, die praktischen Folgen hinsichtlich der lebensweltlichen Kontexte unserer Erkenntnisbemühungen konstitutiv in das Konstrukt „Erkenntnis“ einzubeziehen, das den Pragmatismus neben den übrigen Implikationen auszeichnet. Erkenntnis ist demnach weder immanent noch hinsichtlich ihrer praktischen Adaptionen aseptisch-neutral, sondern impliziert stets auch eine qualitative Fragestellung hinsichtlich ihrer (Aus-) Wirkungen, hinsichtlich derer sich Wissenschaft sodann auch zu verantworten hat. Problemstellungen der Ethik, Fragen der Moralität, die Dimension sittlichen Handelns (Praxis bzw. praktische Vernunft) waren und sind daher stets auch, freilich in transformierten und unterschiedlichen Ausformungen, implizite Themenstellungen des Pragmatismus.66 ____________________
tels H. Lenks Publikation Pragmatische Philosophie veranschaulicht werden, wenn er seine pragmatische Philosophie, (die sich als Aufforderung einer Hinwendung zu lebenspraktischen Problemen im Kontext von Technik, Wissenschaft und Technik versteht –) von pragmatistischen Ansätzen, (damit meint er die Klassiker Dewey und James –) abgrenzt (Lenk, H., Pragmatische Philosophie. Plädoyers und Beispiele für eine praxisnahe Philosophie und Wissenschaftstheorie, Hamburg 1975, insbes. S. 308ff.). N. Rescher (Pragmatism in Crisis, in: Weingartner, P., Schurz, G., Dorn, G. (Eds.), The Role of Pragmatics in Contemporary Philosophy, (Akten des 20. Intern. Wittgenstein Symposiums, 10. – 16. Aug. 1998 Kirchberg am Wechsel), Wien 1998, p. 24 – 38) diagnostiziert gar eine Krisensituation für den Pragmatismus der Gegenwart, die auf Grund relativistischer Tendenzen innerhalb von Nachfolgeparadigmata (Schiller, Rorty) entstanden sei. Er plädiert hingegen für eine Wiederaufnahme des Peirceschen Pragmatismus (a.a.O., p. 30f.), den er als objektivistisch-konstruktiv kennzeichnet, und in Form seines eigenen methodologischen Pragmatismus (a.a.O., p. 36f.) als stringente Weiterentwicklung identifiziert. Vgl. auch das von H.-P. Krüger mit ihm geführte Interview: Pragmatischer Idealismus oder idealistischer Pragmatismus?, in: Dtsch. Z. Philos., Berlin 42 (1994) 5, S. 883 – 904; insbes. S. 885. 64 Vgl. mit: Schiller, F. C. S., William James and the Making of Pragmatism, in: Personalist, Vol. 8 / 1927, p. 92. 65 Almeder, R., A Definition of Pragmatism, in: Stachowiak, H. (Hg.), Pragmatik, Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. II, a.a.O., S. 99 – 107. 66 Hinsichtlich eines programmatischen Überblicks vgl. z. B. mit: Rochberg-Holton, E., Inquiry and Pragmatic Attitude, a.a.O., S. 131ff.; Sidorsky, D., Pragmatism – Method,
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Wie zuvor bereits ausgeführt wurde, geht die systematische Einführung des Begriffs der „Pragmatik“ als eine eigenständige Strukturierungsebene auf Morris’ Adaption der Peirceschen Semiotik innerhalb des Umfelds des Logischen Empirismus zurück und sollte der rationalen Rekonstruktion der Wissenschaftssprachen neben Syntax und Semantik eine neue Deskriptionsebene erschließen. In Abgrenzung von Syntax und Semantik, die bereits formalsprachlich rekonstruktiv erfaßt wurden, stellt die Pragmatik sodann die Lehre von dem Interpretenbezug innerhalb des Zeichenprozesses gemäß Morris dar.67 Die Einbeziehung der Relation Interpret–Zeichen verweist auf eine kontextuelle Dimension innerhalb der Sprache, indem anerkannt wird, daß die Ebene der Semantik solange unvollständig bleibt, bzw. die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks nicht vollständig hinsichtlich seiner Determinanten erfaßt wird, als die Verweisungszusammenhänge, das sprachliche Umfeld von Sprecher, Interpret und Situation erschlossen werden. So thematisiert die Pragmatik im Kontext der Transzendentalpragmatik Apels und Habermas’ Universalpragmatik die Beziehung zu den Hörern, die Sinnvermittlung, Sinnverständigung und Konsensbildung innerhalb einer primär kommunikativ sich konstituierenden Lebenswelt. Sie klärt die Bedingungen sprachlichen Handelns, die von Apel in Form eines transzendentalsemiotisch kommunikativen (Sprach-)Aprioris und bei Habermas diskursrational, d. h. vor dem Hintergrund von möglichst herrschaftsfrei (sozial-)kommunikativ agierenden Subjekten, rekonstruiert werden. Neben der in Rückbindung an Peirce thematisierten Pragmatik haben die von Morris und Carnap68 initiierten Integrationsversuche der pragmatischen Dimension innerhalb der logiksprachlichen Rekonstruktionsversuche in der Folge zu zwei unterschiedlichen Entwicklungssträngen geführt. Innerhalb des sprachana____________________
Metaphysics and Morals, in: Stachowiak, H. (Hg.), Pragmatik, Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. II, a.a.O., S. 108 – 127, insbes. S. 122ff. Zur Diskussion der ethischen Implikationen klassisch pragmatischer Positionen vgl. etwa: Wernecke, J., Pragmatismus, Mensch und Natur, in: Baruzzi, A. / Takeichi, A. (Hg.), Ethos des Interkulturellen, Würzburg 1998, S. 40 – 60. 67
Morris, Ch. W., Die Grundlagen der Zeichentheorie, a.a.O., S. 26, 52ff. Wenn man Morris’ Systematik der Semiotik in Form seiner Unterscheidung zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik folgt, wobei bei ihm die Dimension der Pragmatik den Bezug zum Interpreten repräsentiert, so kann die Problematisierung eines Interpreten, somit das Aufgreifen pragmatisch-semiotischer Inhalte, bereits innerhalb der griechischen und römischen Rhetorik, insbesondere in der Sophistik, der aristotelischen Rhetorik, sowie in Augustinus’ Zeichentheorie identifiziert werden. 68 Hinsichtlich des Einflusses von Morris auf Carnap bzw. Carnaps Pragmatikverständnis vgl. mit: Morris, Ch. W., Pragmatismus und logischer Empirismus (orig. 1963), in: dgl., Pragmatische Semiotik und Handlungstheorie, mit Einl. u. hg. v. A. Eschbach, Frankfurt a.M. 1977, S. 148 – 163. Des weiteren: Carnap, R., Bedeutung und Synonymie in natürlichen Sprachen (orig. 1955), in: dgl., Bedeutung und Notwendigkeit, Wien, New York 1972; S. 291 – 309; dgl., Über einige Begriffe der Pragmatik (orig. 1955), a.a.O., S. 309 – 312.
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lytischen Methodenansatzes wurde zum einen die Ausdifferenzierung formalsprachlicher Rekonstruktionsversuche in Form einer formalen Pragmatik vollzogen, wohingegen sich eine durch den späten Wittgenstein beeinflußte eigenständige Forschungsrichtung in Form der Philosophie der Normalsprache etablierte, die sich der Deskription der Sprache im Sinne eines gesprochenen, lebensweltlich vollzogenen Phänomens zuwandte und in der „Sprechakt-Theorie“ mündete.69 Aus dieser Skizze wird bereits deutlich, daß der Begriff der Pragmatik innerhalb der Semantik unterschiedlich verortet wird, je nachdem welches Konzept der Semantik selbst zugrunde gelegt wird. So erkennt die referentielle, wahrheitsfunktionale Semantik Sätze nur dann als sinnvoll an, wenn man den Wahrheitswert bestimmen kann, d. h. eine Extension (Referenz, Referenda, ‚Etwas‘) identifizierbar ist, hinsichtlich derer eine Wahrheitswertzuordnung (Verifikationismus) möglich ist. Dabei kann es sich bei dem Bezugsbereich um empirisch nachweisbare Welten, um mögliche oder sogar platonische Welten handeln. Innerhalb der dominant gewordenen referentiellen, wahrheitsfunktionalen Semantik (Wahrheitsbedingungen-Semantik) wurde die pragmatische Dimension der Sprache insoweit zu integrieren versucht, indem sie zu einer indexikalischen Semantik erweitert wurde, die deiktische Index- und Zeigeausdrücke beinhaltet. Es handelt sich um Strukturen, wie Pronomina, die Tempora der Verben, die die Sprachbenutzer sprachanalytisch rekonstruiert repräsentieren. Diese Strukturen der Sprache werden insoweit als pragmatisch attribuiert, als sie nicht direkt der ____________________ 69 Die „Sprechakt-Theorie“ unterstreicht sodann einen wesentlichen Aspekt der Sprache, indem sie die Sprache als eine Handlung problematisiert. Pragmatik thematisiert demnach in Abgrenzung zur Syntax und Semantik den Gebrauch (die Gebrauchstypiken) von sprachlichen Formen in spezifischen Situationen bzw. Kontexten. In der unterschiedlichen Wahl der Verständigungsmittel spiegeln sich sodann auch die unterschiedlichen kulturellen und sozialen Lebensformen wider. Es besteht demnach die Möglichkeit, diese kulturellen und sozialen Faktoren innerhalb der Sozialwissenschaften durch eine Sprachanalyse zu untersuchen. Dies wurde durch die von Austin und Searle begründete Sprechakttheorie ermöglicht, etwa wenn Austin (Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 19812, (orig.: How to Do Things with Words, Oxford, 19752)) betont, daß etwas „sagen“ im ganz normalen Sinne soviel wie etwas „tun“ bedeutet. Die zentrale These lautet, daß mit dem Sprechen nicht nur sprachliche Strukturen, die einen Gegenstand bezeichnen, sondern daß zugleich nicht-sprachliche Handlungen in Form von sozialen Regeln bzw. Implikationen vermittelt werden. Diese Handlungen implizieren demnach Konventionen, die das Gelingen auf der Basis von Vorschriften sicherstellen, welche wiederum regeln, in welchen Situationen je nach Intention, Zeit und Ort, Sprechakte gelingen. In direktem Rekurs auf den ‚späten‘ Wittgenstein der Philosophischen Untersuchungen deutet sodann P. Winch (Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, Frankfurt a.M. 1974 (orig. 1958)) soziale Beziehungen als sprachlich vermittelte Interaktionen, die zugleich sozialen Sinn konstituieren, wonach „[...] unsere Sprache und unsere sozialen Beziehungen nur zwei Seiten derselben Medaille sind. Die Bedeutung eines Wortes darlegen heißt beschreiben, wie es gebraucht wird, und das wiederum heißt die sozialen Wechselbeziehungen beschreiben, in die es eingeht.“ (A.a.O., S. 157.)
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(Wahrheitsbedingungen-)Semantik zu entnehmen sind. Die Pragmatik ist dann Teil der Semantik insoweit, als sie die (Wahrheitsbedingungen-)Semantik erweitert. Jedoch haben sich auch offenere Konzeptionen einer formalen Pragmatik in diesem Kontext entwickelt, die nicht nur den Aspekt der Interpretation in Vermittlung indexikalischer Ausdrücke integrieren, sondern auch das Moment der Kommunikation in seiner Komplexität von Hörer und Sprecher, außersprachlichem Kontext und Hintergrundwissen zu erfassen versuchen.70 So kennzeichnet etwa Cresswell seinen Zugang explizit als eine „semantische Pragmatik“, die er von einer „pragmatischen Pragmatik“ abgrenzt.71 Erstere definiert er als eine Regeln enthaltende Pragmatik, die es erlaubt, von einem Kontext zu einer eindeutigen Extension (Wahrheitswert) zu gelangen, wohingegen die „pragmatische Pragmatik“ diese Regeln nicht beinhaltet, da die Bedeutung selbst vom Kontext abhängt (z. B. in Form einer metaphorischen Bedeutung). Diese Differenzierung zielt insbesondere auf eine Unterscheidung zwischen der Möglichkeit des Erfassens einer wörtlichen Bedeutung (regelgeleitet) und einer metaphorischen Bedeutung (ungeregelt) ab. Entscheidend erweisen sich m. E. jedoch die folgenden Überlegungen: Erstens muß noch offengelassen werden, was es heißt, einer Regel im Kontext der Sprache zu folgen, bzw. ob ein ungeregelter Sprachgebrauch zugleich nur eine metaphorische Bedeutung et vice versa nach sich zieht. Diese Fragen werden im Kontext Wittgensteins an späterer Stelle noch diskutiert werden. Zweitens bleibt weiterhin das Problem bestehen, inwieweit die pragmatische Dimension mittels der referentiellen, wahrheitswert-definiten Zugangsweise überhaupt in seinem gesamten phänomenalen Umfang erfaßbar ist. Anders formuliert: Läßt sich das Phänomen der Pragmatik notwendig und hinreichend mittels und innerhalb einer (Wahrheitswert-)Semantik formal beschreiben? Eine Antwort auf diese Frage setzt eine adäquate Darstellung des Phänomens der Pragmatik voraus, was im Rekurs auf Wittgenstein, Peirce und Heidegger innerhalb dieser Arbeit erst noch ____________________ 70
Beispielsweise sei auf Y. Bar-Hillel (Language and Information, New York (Addison-Wesley) 1964) oder aus dem Umkreis Montagues auf M. J. Cresswell (Die Sprachen der Logik und die Logik der Sprachen, Berlin, New York 1979) hingewiesen. Hinsichtlich eines formal-rekonstruktiven Zugangs gibt W. Kummer (Formal Pragmatics, in: Stachowiak, H. (Hg.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. IV, Hamburg 1993, S. 104 – 122) einen Überblick. Als ein weiterer Zugang, der hingegen eine informelle ‚Formalpragmatik‘ im Sinne der Erfassung der sprachphilosophischen Bedingungen der Kommunikation etwa in Rekurs auf W. v. Humboldt, Austin und Chomsky zu nutzen versucht, sei auf J. Habermas (Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, a.a.O., S. 199; dgl., Hermeneutische und analytische Philosophie. Zwei komplementäre Spielarten der linguistischen Wende? in: Information Philosophie 1999/1, S. 7 – 17) verwiesen. 71 Cresswell, M. J., Die Sprachen der Logik und die Logik der Sprachen, a.a.O., S. 386.
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zu leisten sein wird. Drittens muß die Reichweite des Ansatzes einer „semantischen Pragmatik“, die m. E. adäquater als „pragmatische Semantik“72 zu kennzeichnen ist, innerhalb der Darstellung eines Formalmodells differenziert bestimmt werden. Damit ist gemeint, daß geklärt sein muß, welcher Geltungsanspruch hinsichtlich welches Bezugsbereiches angesprochen ist; so etwa hinsichtlich jener möglichen Behauptung, daß ein formales Modell einer „pragmatischen Semantik“ eine adäquate ‚Abbildung‘ der Normalsprache darstellen würde. Man muß demnach im Hinblick auf die eindeutig darzulegende Erkenntnisintention unterscheiden, ob man ‚lediglich‘ eine idealtypische Beschreibung eines Ausschnitts eines spezifischen Phänomenbereichs (Modell) unternimmt, was durchaus im Hinblick auf ein explizit zu kennzeichnendes Erkenntnisinteresse legitim und heuristisch wertvoll sein kann, oder ob man das Formalmodell als homomorph mit dem abgebildeten Phänomenbereich kennzeichnet.73 Eine ein-eindeutige Beziehung zwischen Formalsprache und Normalsprache ist m. E. jedoch zurückzuweisen, da dieser formalsprachliche Zugang schon allein auf Grund des nicht erschöpfend bestimmbaren Hintergrundwissens Grenzen der Formalisierbarkeit, somit eine Inadäquatheit hinsichtlich der vollständigen Erfassung der Normalsprache aufweist, wobei die Frage nach der Adäquatheit von Formalisierungsidealen (Exaktheit usw.) noch nicht einmal berührt ist.74 ____________________ 72 Hinsichtlich einer Abgrenzung der „pragmatischen Semantik“ von einer „realistischen Semantik“ und der Weiterentwicklung ersterer im Anschluß an Wittgensteins ‚Gebrauchstheorie der Bedeutung‘ vgl. mit: Meggle, G., Pragmatische Semantik im Ausgang von Ludwig Wittgensteins Sprachspielkonzept, in: Stachowiak, H. (Hg.), Pragmatik, Bd. II, a.a.O., S. 279 – 301. 73 Es sei an dieser Stelle auf den diese Problemstellung erfassenden modellistischen Neopragmatismus H. Stachowiaks (Allgemeine Modelltheorie, Wien, New York 1973, S. 322) ausdrücklich hingewiesen, der hier im Sinne eines Meta-Modells die (erkenntnis-) intentionalen Momente eines Erkenntnismodells (hier: „Formale Semantik“) in Form einer rationalen Rekonstruktion zu erfassen und auf Grund dieser Transparenz zu klären gestattet. Vgl. hierzu auch: Wernecke, J., Denken im Modell. Theorie und Erfahrung im Paradigma eines pragmatischen Modellbegriffs, Berlin 1994. 74 Gemäß E. u. W. Leinfellner (Ockhams Semantik und Pragmatik, in: Stachowiak, H. (Hg.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. 1, Hamburg 1986, S. 258 – 279) muß womöglich ein Dilemma innerhalb der formalen Pragmatik identifiziert werden, das insbesondere in jenem Umstand seinen Ausdruck findet, als zum einen die wahrheitsfunktionale Semantik das Problem von Sätzen ohne die Möglichkeit einer Wahrheitswertzuordnung (einschließlich der Bedingungen) nicht befriedigend lösen kann und zum anderen das auf Wittgenstein zurückgehende Paradigma der ‚Gebrauchstheorie der Bedeutung‘ (einschließlich der „Sprechakt-Theorie“) nur bedingte Aussagen dahingehend zuläßt, worin noch ihre potentielle Verbindung mit einem nicht beliebigen Referenzbereich (‚Wirklichkeit‘) besteht. Beide Ansätze sind infolge als ungenügend zu beurteilen und bedürfen einer Reformulierung. Eine Lösung dieses Dilemmas, in der sich die gegenwärtige formale Semantik befindet, sei durch einen Rekurs auf Ockham bzw. sein Zwei-Stufen-Modell der Semantik bzw. Erkenntnis zu beheben. Im erweiterten Kontext bewerte ich jedoch jene formalsprachlich-analytischen Zugangsformen als problematisch bzw. künstlich, die auch komplexe Aussagetypen (etwa Wunsch, Befehl, Versprechen
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Bevor im nächsten Kapitel auf die sprachphilosophische Thematik näher eingegangen wird, sei jedoch festgehalten, daß die folgenden Ausführungen nicht letzterem Verständnis des Ausdrucks „Pragmatik“ folgen. Der Ausdruck „Pragmatik“ wird weder auf die Repräsentation eines Interpreten, eines Kontextes noch eines Anwendungsaspekts reduziert, sofern diese Momente ausschließlich durch sprachliche Zeichen repräsentiert werden bzw. als solche identifiziert werden können. Wie im Kontext der Hermeneutik im folgenden Kapitel aufgewiesen wird, vermag jener zuvor dargestellte sprachanalytische, rekonstruktive Zugang seine eigenen Ermöglichungsbedingungen nur bedingt kritisch zu klären, indem er weitestgehend die pragmatische Dimension als ein lediglich re____________________
usw.) im Sinne ihrer Wahrheitswertbestimmung zu erfassen versuchen. Befehle etwa sind gemeinhin nicht durch einen Wahrheitswert gekennzeichnet, vielmehr fordern sie zu einer Handlung auf. Ich folge an dieser Stelle daher nicht der Position Cresswells (a.a.O., S. 373), wonach Befehlen ein Wahrheitswert der „Wahrheit“ oder „Falschheit“ zugeordnet werden kann. Der Begriff des Wahrheitswertes ist m. E. in diesem Kontext künstlich bzw. unangebracht, da es um die Aufforderung zu einer Handlung geht, die ausgeführt oder unterlassen wird, die gelingt oder mißlingt, die jedoch weder wahr noch falsch ist. Das Gelingen bzw. Mißlingen verweist auf eine Zweck- und Zieldimension, nicht jedoch auf einen Wahrheitswert „Wahrheit“ oder „Falschheit“. So trifft etwa J. Habermas (Richtigkeit vs. Wahrheit. Zum Sinn der Sollgeltung moralischer Urteile und Normen, in: DZPhil 46(1998) 2, S. 179 – 208) eine auch für diese Problemstellung wichtige Unterscheidung, wenn er zwischen Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit differenziert, eine Differenzierung, die kaum in Form einer Formalisierung mittels einer Wahrheitswertbestimmung den gekennzeichneten Phänomenbereich adäquat zu erfassen vermag. Eine mehrwertige Logik kann dieses Problem auch nur eingeschränkt einer ‚Lösung‘ zuführen, da keineswegs mit diesem Vorgehen bereits die Adäquatheit einer Beschreibung der Normalsprache begründet wird, sondern ‚lediglich‘ ein bereits unterstelltes Exaktheitsideal erfüllt werden soll. M.E. sind Exaktheit und Regelgeleitetheit, sofern sie als universalistisch notwendige Kriterien ausgewiesen werden, jedoch ‚lediglich‘ von außen an die Normalsprache herangetragene Ideale; sie konstituieren noch nicht hinreichend unsere Normalsprache, die hingegen ihre Fundierung aus unserer (sowohl geregelten als auch kontingenten (ungeregelten)) (Lebens-)Praxis erfährt (vgl. m. Kap. 2. 3). Um potententielle Mißverständnisse zu vermeiden, sei hervorgehoben: Ein am Exaktheitsideal der Logik orientiertes Vorgehen hat durchaus seine Berechtigung bzw. einen heuristischen Wert, so etwa für die Rekonstruktion szientistischer Rationalitätsmodelle (z. B. empirische Theorien) oder im Sinne eines Vergleichs (Bild) eines Formalmodells mit unserer Normalsprache; hingegen berechtigt m. E. dieses Vorgehen keineswegs zu einem (Analogie-)Schluß auf das Gesamtphänomen Sprache bzw. Normalsprache. Wenn Logiker bzw. an der Logik orientierte Philosophen in dieser Weise vorgehen, dann haben sie sich lediglich ein ‚Bild‘ gemacht, ein Modell konstruiert. P. Stekeler-Weithofer charakterisiert m. E. das Problem der Formalisierung innerhalb der Wissenschaften zutreffend wie folgt: „Das Grundproblem der Formalisierungstendenzen in der modernen Wissenschaft und Philosophie liegt weniger darin, daß sehr viele formale Theorien bloße Trivialitäten formalisieren und daher ‚unsinnig‘ (praktisch wertlos) sind; vielmehr darin, daß der Sinn einer Theorie nie durch Exaktheit alleine präzisiert werden kann, sondern nur durch eine strenge Betrachtung des externen, vorab zu klärenden Problemfeldes, auf welches die Theorie zu beziehen ist, und für welches sie als angemessen ausgewiesen werden muß, wenn sie den Titel Wissenschaft verdienen soll.“ (Stekeler-Weithofer, P., Grundprobleme der Logik, Berlin, New York 1986, S. 378).
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1. Kap.: Zur Propädeutik
konstruktiv-deskriptives Struktur- bzw. Sprachelement innerhalb seiner Analysen handhabt. Die Aufklärung der Frage nach der Relation von „formaler Pragmatik“ und „lebensweltlicher Pragmatik“ bleibt weitgehend ein virulenter Problembestand. Andererseits greift die Reduktion der „Pragmatik“ in Form der kommunikativen Momente innerhalb von Sprechsituationen insofern zu kurz, als sie auf eine rein sprachliche Erschließungsebene beschränkt bleibt, die Kommunikation universalpragmatisch quasi absolutiert, ohne m. E. hinreichend die eigenen Bedingungen hinsichtlich dieses Anspruchs zu klären. Der Ausdruck „Pragmatik“ wird in den folgenden Erörterungen daher vor dem Hintergrund des Begriffsinhalts des Ausdrucks EG~