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German Pages 134 [137] Year 2022
Stefan Weber
Radikaler Lingualismus Von Wittgenstein zu Mitterer und einer neuen Philosophie
VELBRÜCK WISSENSCHAFT
Stefan Weber Radikaler Lingualismus
Stefan Weber
Radikaler Lingualismus Von Wittgenstein zu Mitterer und einer neuen Philosophie
VELBRÜCK WISSENSCHAFT
Erste Auflage 2022 © Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2022 www.velbrueck-wissenschaft.de Printed in Germany ISBN 978-3-95832-315-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar.
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Aspektsehen: Die Dinge und ihre Interpretationen . . 13 2. Gutartige und bösartige infinite Regresse . . . . 31 3. Objekte, Objektsprache und Metasprache(n) – und eine überraschende Auflösung des verstärkten Lügner-Paradoxons . . . . . . . . 49 4. Die Nicht-dualisierende Redeweise als dritte philosophische Revolution . . . . . . . . 65 5. Kritik der Nicht-dualisierenden Redeweise . . . . 83 6. Radikaler Lingualismus: Von Wittgenstein über den Konstruktivismus zu Mitterer . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Anhang Objekt- oder Metasprache? Antworten von 29 Sprachphilosophen . . . . . . . 107 Nachwort – Mein Weg zur Philosophie . . . . . . 121 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis . . . . . . . 131 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . 133
Vorwort »Im Alltag wie in den Wissenschaften sind wir alle Realisten. Wir glauben, daß unsere Welt vor ca. 15 Milliarden Jahren entstanden ist, daß es aber erst seit etwa 100 000 Jahren den homo sapiens als sprachbegabtes Wesen gibt. Die Welt hat also schon sehr lange existiert, bevor die ersten Menschen auftraten, und kann daher nicht Produkt menschlicher Erfahrungen und Ansichten sein.« Franz von Kutschera
»Diesen Theorien liegt ein einfaches Schema zugrunde […]: Eine ungeordnete Welt, ein Chaos, ein Fluss der Dinge, wird vorausgesetzt. In diese noch außersprachlich vorausgesetzte Welt greift nun der Mensch mit der Sprache ein und ordnet sie. Aus der ungeformten Welt wird mit Hilfe des Werkzeugs Sprache eine geformte Welt geschaffen […].« Josef Mitterer
»Schließlich hätte es die transfiniten Zahlen auch dann gegeben, wenn die gesamte Menschheit noch vor ihrer Entdeckung durch Cantor von der Schwarzen Pest hinweggerafft worden wäre.« Thomas Nagel
»Die Angabe der ›sprachverschie denen‹ Voraussetzungen für die Erkenntnisgewinnung wird durch die Erkenntnisgewinnung erst erreicht.« Josef Mitterer
»Allgemein: eine Theorie ist wahr, wenn sie mit den Tatsachen übereinstimmt; sie hat größere Wahrheitsnähe als eine konkurrierende Theorie, wenn sie mit den Tatsachen besser übereinstimmt […].« Karl R. Popper
»Änderungen kommen nicht zustande, indem wir neue Hypothesen an der Realität […] scheitern lassen; Änderungen sind eher der gelungene Versuch, die bestehende Realität an neuen Hypothesen scheitern zu lassen.« Josef Mitterer
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»Sterne beispielsweise gibt es gewiß unabhängig davon, ob man in ihnen Götter sieht oder man sie, wie heute, als kompakte gasförmige Himmelskörper beschreibt.« Wolfgang Welsch
»Ah, one man’s tree is another man’s post One man’s angel is another man’s ghost One man’s rain is another man’s drought One man’s hope is another man’s doubt« Guy Clark
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VORWORT
Dieses Buch handelt nicht von den üblichen sprachphilosophischen Debatten, die seit langem geführt werden – etwa jener zwischen Abbildtheorie (›Sprachnaturalismus‹) und Konventionalismus (Haben Wörter als ›Abbilder‹ eine ›natürliche‹ Beziehung zum benannten Objekt oder basieren sie auf arbi trären Übereinkünften?) oder zwischen (semantischem) Realismus und Nominalismus (Kommt den Ideen und Allgemein begriffen eine Realität zu oder nicht?). Wenn man Platons »Kratylos« liest, mag man sich wundern, dass am Beginn des sprachphilosophischen Denkens die Frage nach Naturalismus oder Konventionalismus steht, setzt sie doch so vieles andere voraus, ›worüber‹ die Dialogpartner in »Kratylos« nicht nachgedacht haben; etwa – wie Josef Mitterer nachgewiesen hat – dass überhaupt zwischen den Wörtern (Namen) und den Dingen (Objekten) unterschieden werden muss. Der gesamte »Universalienstreit« der Philosophie, die Debatte zwischen Realisten und Nominalisten, beruht auf weiteren Dualismen, die bereits auf dem von Wort und Ding aufbauen: dem zwischen einer Realität (Wirklichkeit ›an sich‹) und den geistigen Konstrukten (den mentalen Kategorien) oder dem zwischen spezifischen Wörtern (später: Eigennamen, als Wortketten: Kennzeichnungen) und Allgemeinbegriffen (später: Gattungsnamen, Appellativa). Das Universalienproblem lautet: Gehören Allgemeinbegriffe wie »Mensch« oder »Katze« zur Realität oder zur menschlichen Konstruktivität? – Solche eigentlich widersinnigen Fragen tauchen erst auf, wenn man sich darauf geeinigt hat (oder eben, wie Mitterer entlarvt hat, stillschweigend voraussetzt), dass es Begriffe, Wörter, Namen hier (also: Sprachliches) und Dinge, Objekte, Sachverhalte dort (also in der Regel: Nichtsprachliches) gibt; und dass es eine Realität (Wirklichkeit, Res extensa) hier und eine Irrealität (geistige Welt, Gedankenwelt, Konstruktivität, Res cogitans) dort gibt. Wie Josef Mitterers neue Philosophie, die Nicht-dualisierende Redeweise (kurz: der Nondualismus) zeigt, ist es den Versuch wert, ein Denken zu entwickeln, das ohne diese Unterscheidungen auskommt. Man kann also versuchen, die vorgegebenen und tradierten Dualismen von Platon, D escartes und auch Kant, die in die moderne Semantik mit ihrer 9
VORWORT
Unterscheidung von Bezeichnendem und Bezeichnetem führen, frech hinter sich zu lassen. – Wie sieht diese neue Denkweise aus? Davon handelt dieses Buch. In der dritten großen sprachphilosophischen Kontroverse (neben erstens Naturalismus vs. Konventionalismus und zweitens Realismus vs. Nominalismus), dem Streit zwischen Mentalismus und Lingualismus, optiert das Buch für den Lingualismus, allerdings in einer neuen, radikalen Spielart. *** Welche ist die grundlegende Idee dieses Buchs? Der Verfasser widmet sich dem Verdacht, dass eine der grundlegenden Unterscheidungen der Philosophie, nämlich jene von Sprache und nicht-sprachlicher Wirklichkeit, nicht konsistent ist, ja dass sie erhebliche Lücken aufweist und massive Probleme bereitet. Es geht sozusagen darum, die Unterscheidung von Sprache und Wirklichkeit zu dekonstruieren. Drei Beispiele: 1. Es kann etwa zwischen dem Baum da draußen und dem Gedanken jetzt über den Baum da draußen unterschieden werden – und behauptet werden, dass nur der Gedanke, nicht aber der Baum da draußen ›sprachlicher Natur‹ sei. Das geht aber nur in Form dieses weiteren, dieses nächsten Gedankens. Die Zurücksetzung des Baums da draußen vor die Gedanken ›über‹ ihn ist, wie der Philosoph Josef Mitterer zeigt, erst nach diesen Gedanken möglich. Entsteht hier ein bislang kaum diskutierter Widerspruch? Oder ein infiniter Regress, ein bösartiger gar? Ist das ›Ding da draußen‹ der dogmatisierte Regressunterbrecher? (Das klingt nach Idealismus, ist aber Nondualismus.) 2. Wo ist Sprache materiell betrachtet? Damit wir überhaupt die Schrift im Buch identifizieren können, die Druckerschwärze, benötigen wir den weißen Hintergrund. Wo aber ist dann die Sprache? Ist sie nur eine semantische Operation im Kopf, eine Art Sinnstiftungszauber? Wo ist die Grenze der Sprache nach Wittgenstein? Wenn wir sagen: »Ich meine das da.« und wir zeigen wohin, ist die Grenze der Sprache dann das Ende des Satzes »Ich meine das da.« oder das Ende der zeigenden Geste (der Ostension)? Wo ist überhaupt das ›Jenseits‹ der Sprache? Ziehen die Grenze nicht immer wir, wie Josef Mitterer wiederholt sagte? 10
VORWORT
3. Ein weiteres Grundlagenproblem: Gehört der Satz »Das Universum gab es schon lange vor der Sprachentstehung.« zur Objektsprache oder zur Metasprache? Er müsste doch eigentlich zur Metasprache gehören. Würde das erkenntnistheoretische Folgen haben? Eine Befragung unter 29 Sprachphilosophen hat hier eine große Uneinigkeit, ja auch Unsicherheit ergeben. Nun, wenn eine zentrale Erkenntnis der modernen Kosmologie nicht in das Framework von Objekt- und Metasprache passt, muss vielleicht das Framework überdacht werden (oder auch die Erkenntnis). Diese und andere Probleme und Schwierigkeiten führten mich dazu, mit der Nicht-dualisierenden Redeweise Josef Mitterers die großen Probleme, ja Rätsel der traditionellen Philosophie aus einem anderen, einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Lange Phasen war ich skeptisch, habe den Nondualismus mitunter als unsinnig verworfen und ihm dieselben Inkonsistenzen vorgeworfen, die der Nondualismus der dualistischen Architektur vorwirft.1 Meine hier vorgestellte, modifizierte und vielleicht verbesserte Version des Nondualismus nenne ich daher den »Radikalen Lingualismus«.2
1 So zuletzt hier: Stefan Weber (2020): »Why Josef Mitterer’s Non-Dualism is Inconsistent«, Constructivist Foundations (Jahrgang 15/Heft 2), 164–174. 2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Publikation weitgehend die maskuline Form verwendet. Selbstverständlich ist damit nicht nur das männliche Geschlecht gemeint, sondern es sind Menschen jedweden Geschlechts und jedweder Orientierung bezeichnet. Der Verfasser bekennt sich zum Sprachwandel, hält den gegenwärtigen Prozess in Richtung einer gendersensiblen Sprache aber für nicht abgeschlossen, weshalb er keine Zwischenlösung präferiert. 11
1. Aspektsehen: Die Dinge und ihre Interpretationen Einer gemeinhin akzeptierten Annahme zufolge gibt es Dinge (auch: Objekte, Gegenstände, Phänomene, Tatbestände, Ereignisse, Vorkommnisse etc.) und deren Interpretationen. Es gibt das, was ist, und es gibt das, was wir in das, was ist, hineinsehen oder ›hineininterpretieren‹ (können). Diese Unterscheidung spielt eine wichtige, wenn nicht zentrale Rolle in der gesamten empirischen Wissenschaft, vor allem in der Medizin und in der Psychologie, und die gegenwärtige Debatte um eine »evidenzbasierte« Wissenschaft würde es ohne diese Unterscheidung nicht geben. Ludwig Wittgenstein hat sich der Unterscheidung von Dingen und ihren Interpretationen in Abschnitt XI des Teils II der »Philosophischen Untersuchungen« ausführlich gewidmet. Wittgenstein unterscheidet zwischen zwei Arten des Sehens: dem Sehen-von-etwas und dem Sehen-von-etwas-als-etwas-anderes. Er bemerkt: »Betrachte nun als Beispiel die Aspekte des Dreiecks. Das Dreieck
kann gesehen werden: als dreieckiges Loch, als Körper, als geometrische Zeichnung; auf seiner Grundlinie stehend, an seiner Spitze aufgehängt; als Berg, als Keil, als Pfeil oder Zeiger; als ein umgefallener Körper, der (z.B.) auf der kürzeren Kathete stehen sollte, als ein halbes Parallelogramm, und verschiedenes anderes.«1 1 Ludwig Wittgenstein (1960): Schriften. Tractatus logico-philoso phicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 511. 13
ASPEKTSEHEN: DIE DINGE UND IHRE INTERPRETATIONEN
Wittgenstein zufolge gibt es einen Wahrnehmungsinhalt, der für alle gleich ist, nämlich das Dreieck. Nun ist es sprachfähigen Menschen, vielleicht auch intelligenten Tieren, möglich, auch noch etwas anderes in dieses Dreieck hineinzusehen. Dies geschieht, indem die Wahrnehmung des Dreiecks mental mit der Wahrnehmung von etwas anderem, etwa der Wahrnehmung eines Bergs, verbunden wird: Das Dreieck wird dann gleichsam zur Abstraktion eines Bergs ›umgedeutet‹. Ebenso ist es möglich, die weiße Fläche rund um das Dreieck als feste Fläche wahrzunehmen, wobei das Dreieck dann ein dreieckiges Loch symbolisiert, in das man hineinfallen kann. »Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt«, heißt es so schön. Wittgensteins Liste kann beliebig erweitert werden: etwa um ein Stück Schokolade, einen Anhänger, einen Eiskratzer, eine abgelegte Bischofsmütze etc. Wenn wir hier das Dreieck etwa als Pfeil nach rechts, als Symbol eines Bergs oder als ein halbes Parallelogramm s ehen, dann sehen wir in das Dreieck etwas hinein, das ›per se‹ nicht da ist: Wir interpretieren mehr in das Dreieck hinein, wir verbinden gleichsam unsere Wahrnehmung eines Dreiecks mit einem zusätzlichen oder Kontext-Wissen, wofür das Dreieck stehen könnte: Das Dreieck wird so zu einer Art sekundä rem semiologischen System nach Roland Barthes2, es steht, wie ein Verkehrszeichen, für etwas anderes. Das Dreieck hier kann interpretiert oder gesehen werden als Symbol/einfache Zeichnung eines Bergs, als Pfeil nach oben, rechts oder links, als Keil, als dreieckiges Loch, als halbes Parallelogramm, als Durchschnittsfläche eines Kegels usw. – Wichtig ist immer: Die Verbindung zwischen dem verbindlichen Wahrnehmungsinhalt und der unverbindlichen Deutung ereignet sich rein mental, sozusagen im Gehirn des Beobachters. Der Beobachter muss an ein Wort, an einen Begriff denken oder ihn aussprechen, damit das Sehen-von-etwas-als-etwas-anderes funktioniert. Wittgenstein nennt dies das Aufleuchten eines Aspekts, dessen Wahrnehmung heißt in der Fachliteratur As pektsehen. 2 Roland Barthes (1964): Mythen des Alltags, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 14
ASPEKTSEHEN: DIE DINGE UND IHRE INTERPRETATIONEN
Es gibt das Ding, den einen Wahrnehmungsinhalt. Und es gibt gibt dessen Deutungen, Interpretationen, eben das Hineinsehen-von-etwas-anderem in das Ding. Soweit Ludwig Wittgensteins Unterscheidung, die eine bis heute allgemein anerkannte Position der Sprachphilosophie und damit der Erkenntnistheorie überhaupt wiedergibt. – Josef Mitterer bemerkt nun: »Wenn wir davon sprechen, welchen Deutungen gemäß das Dreieck gesehen werden kann, dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass auch das Dreieck eine Deutung, ein Aspekt, ist. Das Dreieck ist zum Beispiel ein Aspekt des Dinges auf Seite 511 der Philosophischen Untersuchungen. […] Aber auch das Ding auf Seite 511 der Philosophischen Untersuchungen ist eine Deutung […].«3 Mit Wittgenstein sind wir davon ausgegangen, dass hier ein Dreieck ist (Sehen-von-etwas), in das wir nun ganz unterschiedliche Dinge hineininterpretieren können (Sehen-vonetwas-als-etwas-anderes). Dies ist die traditionelle, dualistische Auffassung von Dingen und deren Interpretationen. Mit Mitterer können wir uns nun in die Vorstellung einüben, dass auch die Wahrnehmung eines Dreiecks so eine Interpretation ist: Durch die Verbindung von drei schwarzen Linien, die drei Ecken ergeben, ›entsteht‹ der Wahrnehmungsinhalt des Dreiecks. Die Pointe Mitterers ist nun: All das, was bisher über das Sekundäre, das Hineininterpretierte gesagt wurde, trifft auch auf das Primäre, das ›Bezugsobjekt‹ selbst zu: Es erfordert auch ein, diesmal mathematisches, Kontext- und Zusatzwissen, die Verbindung dreier sich berührender Linien als Dreieck wahrzunehmen bzw. als »Dreieck« zu bezeichnen. Man kann also den gesamten Absatz hier im Text weiter oben wie folgt neu schreiben: Wenn wir die Figur da oben als Dreieck sehen, dann sehen wir in die Figur etwas hinein, das ›per se‹ nicht da ist: Wir interpretieren mehr in die Figur hinein, wir verbinden gleichsam unsere Wahrnehmung der Figur mit einem zusätzlichen 3 Josef Mitterer (2011a): Das Jenseits der Philosophie. Wider das du alistische Erkenntnisprinzip, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 18. 15
ASPEKTSEHEN: DIE DINGE UND IHRE INTERPRETATIONEN
oder Kontext-Wissen, wofür die Figur stehen könnte: Die Figur wird so zu einer Art sekundärem semiologischen System nach Roland Barthes. Sie steht, wie ein Verkehrszeichen, für etwas anderes, nämlich für ein Dreieck, und dies für alle Gesellschaften, die der Geometrie kundig sind. Und es wird schon offensichtlich: Alles bislang Gesagte, nämlich, dass auch das primäre semiologische System wie ein sekundäres aufzufassen ist, trifft nun wiederum auch auf »die Figur da oben« zu. Um da oben überhaupt eine Figur zu sehen, bedarf es eines Kontext-Wissens (ein kleines Kind oder ein Hund würden hier vielleicht gar keine Figur wahrnehmen – aber was wissen wir schon davon?). Nun wird es möglich, beliebige Wahrnehmungsinhalte an den Ausgangspunkt im Sinne Wittgensteins zu setzen. Wenn Wittgenstein sagt, wir können ein Dreieck als Keil, Pfeil oder Zeiger wahrnehmen, könnte man mit Mitterer ebenso gut sagen: Wir können einen Pfeil als Dreieck wahrnehmen. Oder: Wir interpretieren eine geometrische Zeichnung als Dreieck. Oder: Wir deuten ein halbes Parallelogramm als Dreieck.4 Was geschieht nun im Sinne Mitterers, wenn wir etwas als etwas anderes wahrnehmen? Wir sehen nicht ein Ding (wie das Dreieck) seiner Interpretation zufolge (etwa als Keil), sondern wir sehen eine Interpretation (wie das Dreieck) einer anderen Interpretation (etwa dem Keil) zufolge: »Wenn wir aber immer nur eine Deutung einer anderen Deutung gemäß sehen, dann müssen wir auch bereit sein, darauf zu verzichten, als Ausgangspunkt für die Aspekte etwas, vielleicht ein Ding, anzunehmen, das selbst nicht ein Aspekt ist, das etwas Ungedeutetes ist.«5 *** Josef Mitterer hat Ludwig Wittgensteins dualistische Konzeption von Sehen (von Dingen) und Aspektsehen (von Interpretationen, von etwas-als-etwas-anderes) kritisiert. – Wie würde nun wiederum eine Kritik von Mitterers Position aussehen? 4 Ebenda, S. 18. 5 Ebenda, S. 19. 16
ASPEKTSEHEN: DIE DINGE UND IHRE INTERPRETATIONEN
Ein erster naheliegender empirischer Einwand könnte sein (der Einwand steht im Folgenden in doppelten Anführungszeichen): 1. »Dem Dreieck
ist es völlig egal (um es etwas flapsig zu formulieren), ob es als Keil, Pfeil, Berg oder eben Dreieck gesehen wird. Es lässt sich empirisch nachweisen, dass das Objekt geradezu invariant ist gegenüber allen Interpretationen: Es handelt sich etwa immer um dieselbe Figur mit denselben Ecken in einem Koordinatensystem und derselben Fläche in Quadratzentimetern und -millimetern gemessen. Dadurch, dass jemand das Dreieck als Keil sieht, ändert sich empirisch nachweislich nichts am Dreieck. Man kann nachmessen und somit beweisen, dass bei all unseren Diskursen hier das Objekt immer gleich bleibt/invariant ist. Das Objekt ist geradezu stoisch indifferent gegenüber allen Varianten des Aspektsehens.« Wir dürfen bei diesem empirischen Einwand aber nicht vergessen, dass er selbst wiederum von mehreren Benennungen ausgeht (wie etwa »Dreieck«, »Objekt« oder »dieselbe Figur«), die wiederum Mitterers Umkehrungen gestatten. Wir könnten etwa sagen: »Ein und dieselbe Figur mit denselben Ecken und derselben Fläche wird einmal als Keil und einmal als Pfeil gesehen.«, aber auch: »Ein Keil wird einmal als ein und dieselbe Figur mit denselben Ecken und derselben Fläche und einmal als Pfeil gesehen.« Wir müssten also annehmen, dass die Beschreibung »ein und dieselbe Figur mit denselben Ecken in einem Koordinatensystem und derselben Fläche« keine interpretatorische Leistung sprachfähiger Menschen ist, sondern eine Art Invariante, die auch unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung zutreffen würde. 17
ASPEKTSEHEN: DIE DINGE UND IHRE INTERPRETATIONEN
Ein Naturwissenschaftler würde dies wohl bejahen: Die Aussagen oder Erkenntnisse »Die Fläche bleibt immer dieselbe, unabhängig von der Benennung.«, »Das Objekt bleibt immer gleich, während sich verschiedene Deutungen ereignen.« oder »Da ist etwas Invariantes, das immer so-und-so-viel Quadratzentimeter misst.« dürfen für den Naturwissenschaftler gerade keine Interpretation, keine Deutung sein: Diese empirischen Sätze sagen ja gerade aus, dass hier nicht verschiedene Sichtweisen möglich sind, wie etwa auch jene, dass sich die Fläche ändert – je nachdem, ob die Benennung »Dreieck« oder »halbes Parallelogramm« gewählt wird. Unterschlagen wird hier aber, dass im Satz »Die Fläche bleibt immer dieselbe, unabhängig von der Benennung.« der Bezug fehlt. Wird dieser ergänzt, wie etwa im Satz »Die Fläche des Dreiecks bleibt immer dieselbe, unabhängig von der Benennung.« oder im Satz »Die Fläche bleibt immer dieselbe, unabhängig von der Benennung der Figur.« entsteht schon wieder das Problem, dass »Figur« oder »Dreieck« ebensolche Deutungen wie »Pfeil« oder »Ding auf S. 511 der Philosophischen Untersuchungen« sind. Eine naturwissenschaftliche, empirische Aussage ›über‹ ein Ding, ein Objekt oder eine Figur, die Angabe (zumindest) einer Eigenschaft (im Sinne einer wissenschaftlichen Beschreibung) eines Dings, eines Objekts oder einer Figur ist nur möglich, wenn ein ›Bezug‹ gewählt wird, wie eben »Ding«, »Objekt« oder »Figur«. Mit diesem ›Bezug‹, mit dieser Benennung beginnt allerdings unweigerlich wieder Mitterers Interpretations iteration. 2. Der Sprachwissenschaftler würde einwenden: Wir brauchen eben ein Satzsubjekt, das ist die Struktur unserer Sprache. Eine Benennung (ein Eigen- oder ein Gattungsname, ein sogenanntes Appellativum) wie »Dreieck« sei unumgänglich. Verzichten wir auf ein sprachliches Satzsubjekt, würde – wie es weiter unten versucht werden wird – das Objekt selbst, das vom Satzsubjekt adressiert wird, zum Teil des Satzes werden – und dies mit dem Preis, dass das adressierte Objekt und das Satzsubjekt zusammenfallen und man so das Problem erneut nicht loswird. Der Einwand des Sprachwissenschaftlers könnte dennoch lauten: Mit der Verständigung auf ein Satzsubjekt sei noch nichts Interpretatorisches ausgesagt. – Es wurde 18
ASPEKTSEHEN: DIE DINGE UND IHRE INTERPRETATIONEN
jedoch gezeigt, dass die Benennung »Dreieck« nur Gesellschaften verwenden, die Mathematik und im Speziellen Geometrie betreiben. Aus der mehrheitlichen Einigung auf eine Benennung in Gesellschaften, die Wissenschaft betreiben, folgt nicht, dass diese Benennungen keine Interpretationen sind. Sie sind auch keine überlegenen Deutungen, die allen anderen Deutungen vorauszusetzen sind, weil das durch nichts begründbar ist. Es gibt, wie Josef Mitterer einmal gesprächsweise gesagt hat, nichts erkenntnistheoretisch Privilegiertes. 3. Ein weiteres Argument wäre die Fremdsprachen-Indifferenz. Doch mit dem Einwand, dass es der Figur
egal ist, ob sie »Dreieck« oder »triangle« genannt wird, lässt sich genauso umgehen wie mit dem unter Punkt 2 angeführten Einwand. Der Einwand der Fremdsprachen-Indifferenz würde lauten, dass die Figur sprachagnostisch ist. Dabei wird jedoch übersehen, dass diese Beobachtung nur innerhalb einer Sprache möglich ist, wodurch bereits wiederum eine (Festlegung auf eine) Benennung erfolgt ist, nämlich in diesem Fall »Figur«. 4. Versuchen wir daher, ohne eine solche Erstbenennung wie »Dreieck« oder »Figur« etc. auszukommen. Der Einwand könnte dann so formuliert werden: »Dem
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ASPEKTSEHEN: DIE DINGE UND IHRE INTERPRETATIONEN
ist es ganz egal, ob es als Figur, als Dreieck oder als Pfeil gesehen wird. Es bleibt immer dasselbe.« Wir versuchen hier gleichsam, eine Erstbenennung zu vermeiden, und das Dreieck selbst wird zum Objekt des Satzes, wird zum Teil des Satzes. – Hier darf jedoch nicht übersehen werden, dass der Satz nur verstanden werden kann, wenn das Objekt angegeben (oder in der Rede: mit Gesten angezeigt) wird und mit der Angabe »es, das immer dasselbe bleibt« in Mitterers Sinn erneut eine Deutung erfolgte. Selbst die mehrmalige Verwendung von »es« im Einwand ist eine solche Benennung/Deutung. 5. Wittgensteins dualistische Konzeption von Sehen und Aspektsehen lebt von der Vorstellung, dass wir beim Sehen das sehen, was alle sehen, und beim Aspektsehen etwas sehen, das eigentlich nicht da ist. Das, was alle sehen, ist ein Dreieck. Das, was eigentlich nicht da ist, ist ein halbes Parallelogramm oder ein Keil oder ein Berg. – Natürlich ist hier eine weitere Feindifferenzierung notwendig: Niemand würde sagen, dass das ein Berg ist:
Jeder würde sagen: Das ist die Illustration (oder die Abstrak tion), das ist die Zeichnung eines Bergs oder das Symbol eines Bergs. Hingegen würde niemand sagen: »Das ist gar kein Dreieck. Das ist nur die Illustration (oder Abstraktion) eines Dreiecks.« Diese Unterscheidung trägt aber zur Entkräftung von Mitterers Sichtweise nichts bei. Wir würden dann eben sagen: Jemand sieht die Zeichnung (oder Illustration oder Abstraktion) eines Bergs als Dreieck – oder eben umgekehrt: jemand sieht das Dreieck als Abstraktion eines Bergs. 6. Der nächste Einwand betrifft die Vorstellung, dass das Dreieck, eben die Figur jetzt, … 20
ASPEKTSEHEN: DIE DINGE UND IHRE INTERPRETATIONEN
… die hier so oft vorkommt, fehlen würde. Sie wäre schlichtweg absent. Der Einwand lautet: Allein die Vorstellung, dass dies möglich wäre, würde doch beweisen, dass da etwas ist, das verschieden von allen Aspekten, Deutungen, Interpretationen etc. ist. Alle Ausführungen sind sprachlicher Natur, zieht man die Sprache komplett ab, bleibt das Objekt übrig. Zieht man umgekehrt das Objekt ab, bleiben die sprachlichen Ausführungen übrig. – Doch auch wenn der Satz bei Wittgenstein bloß »Das Dreieck kann gesehen werden: als dreieckiges Loch, als Körper, als geometrische Zeichnung […].« gelautet hätte (also ohne Zeichnung dazwischen), wäre das von Mitterer aufgezeigte Problem genauso da gewesen: Jeder Leser ist in der Lage, sich ein Dreieck vorzustellen, und all die sogenannten Aspekte mit dazu. Es macht somit keinen Unterschied, ob das Objekt ›auf Papier‹ gegeben ist oder nur mental. 7. Ein weiterer Einwand betrifft die Verwendung der Begriffe »Deutung« und »Aspekt«: Wenn Mitterer bemerkt, »dass auch das Dreieck eine Deutung, ein Aspekt, ist«, so argumentiert er etwas unscharf. Ein »Aspekt« ist nämlich immer das Produkt, das Ergebnis, eben des Aspektsehens. Das Aspektsehen ist die Tätigkeit, der Akt, der Prozess. Der Begriff »Deutung« hingegen bezieht sich eher selten auf das Produkt, das Ergebnis. Mit »Deutung« verstehen wir meist den Prozess, die Handlung, den (Wahrnehmungs-)Akt der Auslegung, der Interpretation. Es ist eher ungebräuchlich (aber auch nicht unrichtig), zu sagen: Das Dreieck ist eine Deutung. Ebenso ungebräuchlich ist die Formulierung: Das Dreieck ist eine Deutung der Figur. Hingegen können wir sagen: Deine Wahrnehmung des Dreiecks ist eine Deutung (der Figur). Oder: Hier ein Dreieck zu sehen, ist eine Deutung der Figur. Auch der Begriff »Interpretation« kann verstanden werden im Sinne einer 21
ASPEKTSEHEN: DIE DINGE UND IHRE INTERPRETATIONEN
Tätigkeit (»Interpretiere bitte diesen Absatz!«) oder im Sinne eines Produkts (»dieses Buch enthält eine Interpretation von Kant«). Die begriffliche Gleichsetzung, die Mitterer bei »Deutung« und »Aspekt« im Halbsatz »dass auch das Dreieck eine Deutung, ein Aspekt, ist« vornimmt, ist etwas holprig. Wir können uns aber auf diesen Sprachgebrauch einigen: Die Wahrnehmung der Figur als Dreieck ist eine Deutung, eine Interpretation(sleistung). – Entscheidend ist aber, dass diese Feindifferenzierung die Wahrnehmungsiteration von Mitterer nicht aushebelt. Wir müssen den Halbsatz nur so formulieren: »dass auch das Dreieck ein Aspekt ist«, oder eben so: »dass auch die Wahrnehmung des Dreiecks eine Deutung ist«. 8. Ein letzter möglicher Einwand betrifft den Vorwurf der Unterlassung der Verwendung der Unterscheidung von Objekt- und Metasprache durch Mitterer: Die Bemerkung, »dass auch das Dreieck […] ein Aspekt ist«, hätte – dem Vorwurf zufolge – eigentlich heißen müssen, »dass auch ›das Dreieck‹ […] ein Aspekt ist«. – Die Verwendung oder Nicht-Verwendung von Anführungszeichen ändert jedoch erneut nichts am grundlegenden Argument: Es ist für die Iteration einerlei, ob ich der Konvention folge, zu sagen: »Ich sehe das Dreieck als Pfeil.« oder ob ich der Konvention folge, zu sagen: »Ich sehe das Dreieck als ›Pfeil‹.« Die Möglichkeit eines Austauschs von Dreieck und Pfeil, d.h. einer Umkehr der Relation von Dreieck und Pfeil bleibt ja auch hier erhalten. Außerdem spielt die Unterscheidung von Objekt- und Metasprache hier keine Rolle, da es Mitterer ja um etwas anderes geht: um ein Attackieren der Idee, dass die Wahrnehmung eines Dreiecks eine objektive, vorausgesetzte ist, während die Wahrnehmung eines Keils oder einer geometrischen Figur das Ergebnis unseres ›Zutuns‹ ist. Mitterer weist darauf hin, dass unser ›Zutun‹ bereits auf der ersten Ebene stattfindet. Mit anderen Worten: Die Unterscheidung von »Dreieck« und Dreieck hilft uns nicht weiter bei dem Problem, dass wir mit gutem Recht auch die Auffassung vertreten können, dass mit der Benennung »Dreieck« ein ›persönliches Zutun‹ erfolgt. Die Einwände 7 und 8 lauten somit zusammengefasst: Nicht das Dreieck ist eine Deutung, sondern die Wahrnehmung als Dreieck ist eine Deutung. Und nicht das Dreieck ist ein Aspekt, 22
ASPEKTSEHEN: DIE DINGE UND IHRE INTERPRETATIONEN
sondern »das Dreieck« ist ein Aspekt. Beide Umformulierungen (oder Präzisierungen) würden nichts an der Berechtigung von Mitterers grundlegender Kritik ändern. Aus der nun offensichtlich folgenden Einsicht, dass wir in einer Welt der Interpretationen (und nicht der Dinge und ihrer Interpretationen) leben, folgt keinesfalls eine Beliebigkeit dieser Interpretationen. Es gibt ja zumeist so etwas wie eine »Master-Interpretation«. Josef Mitterer nennt diese auch den Basiskonsens.6 Wenn wir empirisch fragen würden:
»Was sehen Sie hier?« oder »Was ist das?«, würden wohl fast 100 Prozent (in ihrer jeweiligen Sprache) mit »Ich sehe ein Dreieck.« antworten und nicht mit »Ich sehe eine geometrische Figur.« oder »Ich sehe ein halbes Parallelogramm.« (Bei indigenen Völkern würde dies vielleicht anders aussehen.) Unserer konventionellen Auffassung zufolge beginnt unser ›persönliches Zutun‹ erst auf Basis dieser Master-Interpretationen bzw. dieses Basiskonsenses. Es ist aber ebenso gut denkbar, dass das nicht für alle sprachfähigen Menschen der Erde gilt: Zu denken wäre an Alphabete, in denen
6 Josef Mitterer (2011a): Das Jenseits der Philosophie. Wider das du alistische Erkenntnisprinzip, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. 23
ASPEKTSEHEN: DIE DINGE UND IHRE INTERPRETATIONEN
vielleicht eine spezielle, den Benutzern des lateinischen Alphabets unbekannte Bedeutung hat, an die Verwendung von Piktogrammen oder an Urvölker, die nicht Geometrie betreiben und die hier vielleicht das Symbol eines (Faust-)Keils oder etwa irgendein magisches Zeichen sehen. Sehen wir uns dazu ein zweites Beispiel an:
Der rechte Teil des Verlagslogos des Routledge-Verlags kann gesehen werden als der geschwungene, rechte Teil des Buchstabens »R« oder als Silhouetten von zwei Gesichtern: von einem weißen und einem schwarzen Gesicht. Besonders eindrücklich ist hier, dass die Kombination der Wahrnehmungsinhalte zu einem Gesamtinhalt namens »R« eine spezielle kognitive Leistung ist, die die Kenntnis des lateinischen Alphabets voraussetzt. Jemand, der ein kyrillisches oder ein chinesisches Alphabet benutzen würde, hätte hier also gar keine Wahrnehmung des Buchstabens »R« und damit würde sich auch kein Kippbild ergeben. Wir können uns nun in die Vorstellung einzuüben versuchen, dass wir die Wahrnehmung des Buchstabens »R« nicht haben, weil er gar nicht Teil unseres Alphabets ist und diesen Gedanken nun auf die Wahrnehmung des Dreiecks (aus dem ersten Beispiel) übertragen … Sehen wir uns ein drittes Beispiel an. In einem Lehrbuch zu Kommunikationstheorien ist zu lesen: »Ein Objekt kann eine unterschiedliche Bedeutung für verschiedene Individuen haben: ein Baum wird ein jeweils unterschiedliches Objekt darstellen für einen Botaniker, 24
ASPEKTSEHEN: DIE DINGE UND IHRE INTERPRETATIONEN
einen Holzfäller, einen Dichter und einen Hobby-Gärtner […].«7
Wir neigen etwa dazu, zu sagen: Der Botaniker sieht viel mehr im Baum, erkennt weitaus mehr Differenzierungen als der Laie. Er sieht den Baum daher ›anders‹. Aber unbestritten ist, dass sich beide, der Botaniker und der Laie, auf ein und denselben Baum ›beziehen‹. Mit »Objekt«, das »eine unterschiedliche Bedeutung für verschiedene Individuen haben« kann, mit »ein jeweils unterschiedliches Objekt«, vor allem aber mit »Baum« wird dem Botaniker, dem Holzfäller, dem Dichter oder dem Hobby-Gärtner ein Objekt wie im obigen Beispiel das Dreieck vorausge setzt. Auch wenn auf die Frage »Was ist das?« oder »Was sehen Sie hier?« fast alle Befragten mit »Ich sehe einen Baum.« oder genauer »Ich sehe das Piktogramm eines Baums.« antworten würden, folgt daraus noch nicht, dass nicht auch der Baum (oder eben »Baum«) eine Deutung ist, etwa eines Holzgewächses. »Baum« ist die Master-Interpretation für alle Gesellschaften, die Biologie betreiben. Für gewisse Naturvölker mag es sich um ein Lebewesen oder gar einen Naturgeist handeln.
*** Die bisherige Semantik erweckt im Bereich des Objekts (links im folgenden Schaubild), den Eindruck eines ›Stand-alone‹. Die 7 Herbert Blumer (19952): »Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus«, in: Roland Burkart/Walter Hömberg (Hg.), Kommunikationstheorien. Ein Textbuch zur Einführung, Wien: Braumüller, S. 31. 25
ASPEKTSEHEN: DIE DINGE UND IHRE INTERPRETATIONEN
Dinge würden demnach auch existieren, wenn wir sie nicht benennen würden:
Baum
Dagegen: Mit jeder Objektangabe geht bereits eine »Rudimentärbeschreibung« (gegenüber der klassischen Terminologie abweichend bei Mitterer), hier: eine »Master-Interpretation« einher. Der neue Vorschlag der semantischen Situation lautet daher:
»Baum«
Baum Wenn wir ›über‹ den folgenden grau eingefärbten Bereich reden, …
»Baum«
Baum
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ASPEKTSEHEN: DIE DINGE UND IHRE INTERPRETATIONEN
… dann reden wir eigentlich über diesen grau eingefärbten Bereich:
»Baum« Baum Diskutieren wir nach dem Dreieck, dem Logo des RoutledgeVerlags und dem (Piktogramm eines) Baum(s) ein viertes und letztes Beispiel, die Acht:
8 Oft hören wir: Was wir hier sehen, ist ›lediglich‹ eine in sich geschlossene gekrümmte Linie, die zwei gleiche Schleifen bildet. Diese Linie sei ›an sich‹ bedeutungslos. Erst wir (Menschen) machen aus dieser geschlossenen Linie mit zwei gleichen Schleifen die Bedeutung, dass es etwas achtmal gibt. Eine Standardannahme der Semiotik ist auch, dass Zeichen arbiträr sind, wir hätten also auch anstelle der »8« etwa dieses Zeichen vereinbaren können:
؎
Die ›Apriorisierung‹ des Dings (hier: eines Abstraktums, einer Zahl) vor seine Bedeutung, vor seine Bedeutungszuschreibung ist nur möglich, wenn die Verknüpfung mit der Bedeutung bereits erfolgt und allgemein anerkannt ist. »Eine in sich geschlossene gekrümmte Linie, die zwei gleiche Schleifen bildet« ist in dieser Sichtweise nicht mehr und nicht weniger eine Deutung oder eine Interpretation als die Acht (oder »die Acht«). 27
ASPEKTSEHEN: DIE DINGE UND IHRE INTERPRETATIONEN
Aus dieser neuen Denkweise folgt eine ›Zurücksetzung‹ der Metasprache in die Objektsprache. – Gemeinhin sagen wir: Wir sehen ein Ding und benennen es. Nunmehr müssen wir sagen: Die Benennung ist insofern bereits mit »Ding« erfolgt. Die Pflanze, die wir als Farn bezeichnen, wurde somit bereits als »Pflanze« bezeichnet. Wir sagen im traditionellen Denken: Wir sehen eine Pflanze und bezeichnen sie mit Tulipa undulati folia. Die Benennung ist aber bereits mit »Pflanze« erfolgt. Das bislang Unbenannte ist damit das »bislang Unbenannte« und deshalb nicht mehr unbenannt. Wir können formulieren: Die unbeschriebene Art in der Biologie ist die als »unbeschriebene Art« beschriebene Art. Die noch nicht beschriebene Art ist als »noch nicht beschriebene Art« sohin bereits beschrieben, also allenfalls eine noch nicht weiter beschriebene Art. Wer ›über‹ einen Gegenstand spricht, spricht von der Master-Interpretation »Gegenstand« aus bzw. von ihr weiter.8 Wir neigen stark dazu, zu ignorieren, dass mit der bloßen Angabe des Objekts immer auch bereits eine Benennung erfolgte, in diesem Satz hier etwa die Benennung »Objekt«.9 Was würde das aber ›bedeuten‹? Welche Auswirkungen hätte dieses Denken auf die Unterscheidung von Tatsachen und deren Interpretationen (etwa in den empirischen Sozial- und Naturwissenschaften) oder auf Werke und deren Deutungen (etwa in den Kunstwissenschaften)? Wir könnten dann nicht umhin, zuzugeben, dass auch die Tatsache, das ›nackte Faktum‹ immer eine Erstinterpretation, eine Erstdeutung darstellt. Das ›nackte Faktum‹ ist etwa häufig eine Zahl, ein Wert, den ein Softwareprogramm generiert hat: Bereits diese Stufe ist Ergebnis einer Interpretation, und sei es die eines Algorithmus. In den Künsten gehört die Unterscheidung zwischen Werk (Original) und Deutung (etwa eines Regisseurs) ebenso durchdacht: Das Werk, das Original ist nichts anderes als die Erstinterpretation (oder Master-Interpretation), die der Autor/Verfasser selbst vorgenommen hat. Eine ›Werkstreue‹ kann es folglich nicht geben. In technik- und medienwissenschaftlichen Diskursen ist schließlich oft zu hören: Die Technik per se sei neutral 8 Nach Josef Mitterer (2011a). 9 Nach Josef Mitterer (2011a). 28
ASPEKTSEHEN: DIE DINGE UND IHRE INTERPRETATIONEN
(etwa die technische Infrastruktur, die Software, ein Algorithmus usw.), erst der Mensch setze das Werkzeug dann im gutartigen oder bösartigen Kontext ein. Es heißt dann etwa: G oogle an sich sei neutral, erst der Mensch nutze das Werkzeug der Suchmaschine sinnlos oder sinnvoll, im bösen oder im guten Zusammenhang. In der hier im Anschluss an Josef Mitterer entwickelten Sichtweise gibt es keine Technik per se und etwa auch keine Suchmaschine Google an sich. Nicht nur der Technikgebrauch, auch die Technik findet bereits in einem Kontext statt. Genauer und mit Mitterer formuliert: Die Apriorisierung der Technik vor ihren Gebrauch ist erst im Rahmen des Gebrauchs bzw. nach ihrem Erstgebrauch möglich. Folgt aus den Ausführungen dieses Kapitels, dass alles Interpretation, Deutung und Aspekt ist, dass es nichts Originäres, nichts Ungedeutetes gibt, dass es nur Interpretationen und Deutungen gibt, ja letztlich: dass alles eine Deutung von etwas anderem sei? Wäre diese Denkweise nicht wiederum Unsinn, würde sie nicht in einen bösartigen infiniten Regress führen? Damit beschäftigt sich (unter anderem) das nächste Kapitel.
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2. Gutartige und bösartige infinite Regresse Bösartig ist ein infiniter Regress nur dann, wenn … 1. … eine Aussage etwas behauptet wie zumeist ein Zurückschreiten in der Zeit (seltener: ein Hineinschreiten in den Raum), und … 2. … dieses aus der Aussage dann resultierende unendliche Zurückschreiten in der Zeit (seltener: dieses unendliche Hi neinschreiten in den Raum) … 3. … einen Widerspruch zu einem gegenwärtig akzeptierten Wissensstand erzeugt. Nicht die Aussage selbst (Punkt 1) ist also bereits der bösartige infinite Regress, erst die endlose Kette von Aussagen (Punkt 2) erzeugt durch die widersprüchliche Konfrontation mit einem Wissensstand (Punkt 3) den bösartigen infiniten Regress. Ob ein infiniter Regress bösartig oder gutartig ist, zeigt sich somit nur daran, ob der infinite Regress von Aussagen mit einem gegenwärtig akzeptierten Wissensstand kollidiert oder nicht. Mit ähnlichen Beispielen bemerkt Claude Gratton in seiner Abhandlung »Infinite Regress Arguments«: »An inhe rently vicious regress is any infinite regress that entails entirely by itself an unacceptable result.«1 Ein bekanntes Beispiel: Die Aussage »Jeder Mensch hat einen menschlichen Vorfahren.« führt in einen bösartigen infiniten Regress. Wenn die Aussage zutreffend wäre, hätte es Menschen immer schon gegeben, gleichsam in der Zeitachse unendlich zurück. Gegenwärtig akzeptiertes naturwissenschaftliches Wissen ist aber, dass sich der Mensch erst vor einigen Millionen Jahren auf der Erde entwickelt hat. Alle infiniten Regresse, die in der Zeit endlos zurückschreiten, sind damit nach derzeitiger Wissenschaftsauffassung bösartig, da sich die Zeit nicht unendlich ›zurückverfolgen‹ lässt. Eine Kosmologie, die mit dem Urknall beginnt, setzt allen in der Zeit unendlich zurückschreitenden infiniten Regressen einen, wenn auch gekrümmten, Endpunkt. Aussagen der Art »Jede intelligente 1 Claude Gratton (2010): Infinite Regress Arguments, Dordrecht u.a.: Springer, S. 102. 31
GUTARTIGE UND BÖSARTIGE INFINITE REGRESSE
Handlung fußt auf einer vorherigen intelligenten Handlung.«2 führen daher ebenso zu einem bösartigen infiniten Regress, aber auch noch einfachere Aussagen wie etwa »Vor jeder Sekunde war eine frühere Sekunde.«. Zwei andere, seltener diskutierte Beispiele für einen bösartigen infiniten Regress: »Es gibt zu jedem Objekt ein im Vergleich zu diesem Objekt noch kleineres Objekt.« Vielleicht auch: »Es gibt zu jedem Objekt ein im Vergleich zu diesem Objekt noch größeres Objekt.« Da es weder unendlich kleine noch unendlich große Teile gibt (immer gilt: nach herrschender physikalischer Auffassung), sind derartige Regressbehauptungen bösartig: Welches Objekt wäre (nach derzeitiger physikalischer Auffassung) kleiner als ein Down-Quark? Welches Objekt wäre (nach derzeitiger physikalischer Auffassung) größer als das Weltall? Und es müsste dann jeweils noch unendlich kleinere und unendlich größere Objekte geben… Man könnte auch formulieren: Aussagen, die die Endlosigkeit der Zeit zurück oder des Raums hinein oder heraus implizieren, führen in einen bösartigen infiniten Regress. – Der Vollständigkeit halber merke ich an, dass man auch behaupten könnte, die Aussage »Es gibt zu jedem Objekt ein im Vergleich zu diesem Objekt noch größeres Objekt.« löse keinen bösartigen infiniten Regress, sondern einen bösartigen infiniten Pro gress aus, wie etwa die Aussage: »Auf jeden Gedanken von mir folgt ein weiterer Gedanke.« Die Aussage »Auf jede Sekunde folgt eine nächste Sekunde.« wäre hingegen ein Beispiel für einen gutartigen infiniten Progress, da sie mit dem gegenwärtigen Wissensstand eines sich unendlich weiter ausdehnenden Universums oder zumindest eines ewig weiter existierenden Universums vereinbar zu sein scheint. Handelt es sich bei dem ›Verhältnis‹ von Dingen und ihren Interpretationen (Aspekten, Deutungen), das in Kapitel 1 diskutiert wurde und in eine neue Sichtweise mündete, um einen infiniten Wahrnehmungs- bzw. Interpretationsregress, und wenn ja, einen gutartigen oder einen bösartigen? In Kapitel 2 So das Beispiel aus Claude Gratton (2010): Infinite Regress Argu ments, Dordrecht u.a.: Springer, S. 2 ff. 32
GUTARTIGE UND BÖSARTIGE INFINITE REGRESSE
1 sprach ich nur neutral von ›Iterationen‹. – Diskutieren wir dazu die folgende Aussage von Josef Mitterer: »Wir dürfen jedoch nicht übersehen, dass das Etwas (hier eben das Dreieck), dessen Deutung wir sehen beziehungsweise das wir einer Deutung gemäß sehen, selbst wieder eine Deutung von etwas (anderem) ist.«3 Generalisieren wir diese Aussage (was Mitterer nicht tut): Alles, was wir4 sehen, ist eine Deutung von etwas anderem. Das Dreieck, das wir sehen, ist eine Deutung des Dings mit drei Ecken im Buch hier. Das Ding mit drei Ecken im Buch hier ist eine Deutung vielleicht von Druckerschwärze, vielleicht von schwarzen Pixeln. Wir können nun aber die Kette auch so fortsetzen: Die schwarzen Pixel, die wir sehen, sind eine Deutung des Dreiecks (wir haben ja das Dreieck gleichsam in schwarze Pixel ›zerlegt‹). – Zunächst ist festzuhalten, dass diese Kette von Aussagen nicht ›tatsächlich‹ in der Zeit zurückschreitet. Es wird ja nicht behauptet, dass jemand ›tatsächlich‹ ein Ding mit drei Ecken im Buch hier gesehen hat und das dann als Dreieck deutet – und dass er in jedem Fall schon vorher Druckerschwärze (oder schwarze Pixel) wahrgenommen hatte, die er dann als Ding mit drei Ecken im Buch hier deutete. Es wird nur die Möglichkeit einer solchen Kette behauptet. Sonst würde ja die empirische Endlosigkeit eines jeden Wahrnehmungsprozesses postuliert werden – was durch die Alltagserfahrung simpel zu widerlegen wäre. Der infinite Regress (sofern vorhanden) wäre damit an dieser Stelle vermutlich bereits bösartig, da niemand, der ein Ding wahrnimmt, dies auf Basis einer zeitlich unendlich zurückliegenden Kette von Deutungen tut. Mitterer bemerkt: »Etwas als etwas (anderes) sehen heißt eigentlich: zuerst etwas sehen und dann etwas (anderes) sehen.«5 3 Josef Mitterer (2011a): Das Jenseits der Philosophie. Wider das dua listische Erkenntnisprinzip, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 19. 4 Mit »wir« sind hier der Einfachheit halber sprachfähige Menschen und wohl auch andere intelligente Lebewesen gemeint. 5 Josef Mitterer (2011a): Das Jenseits der Philosophie. Wider das du alistische Erkenntnisprinzip, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 21. 33
GUTARTIGE UND BÖSARTIGE INFINITE REGRESSE
Das Ding mit drei Ecken im Buch hier als Dreieck zu sehen heißt eigentlich: zuerst das Ding mit drei Ecken im Buch hier zu sehen und dann das Dreieck zu sehen. Die schwarzen Pixel oder die Druckerschwärze als Dreieck zu sehen heißt eigentlich: zuerst die schwarzen Pixel oder die Druckerschwärze zu sehen und dann das Dreieck zu sehen. Wenn es nun nach Mitterer keinen »Ausgangspunkt«, kein »Ungedeutetes« gibt6, stellt sich wieder die Frage, ob die Aussage endlos in der Zeit zurückschreitet und zu einer endlos in der Zeit zurückgehenden Kette von Deutungen (Interpretationen) führt. »Alles, was wir sehen, ist eine Interpretation von etwas anderem.« – Die Aussage impliziert, dass wir schon immer – bezogen auf die Vergangenheit – interpretiert hätten. Das scheint weder ontogenetisch (irgendwann hat der einzelne Mensch oder das andere einzelne wahrnehmungsfähige intelligente Lebewesen noch nicht interpretiert) noch phylogenetisch haltbar zu sein (irgendwann gab es im Universum noch keine Menschen oder anderen wahrnehmungsfähigen intelligenten Lebewesen). Es scheint also ein infiniter Regress vorzuliegen, und zwar ein bösartiger. Die Aussage »Alles, was wir sehen, ist eine Interpretation von etwas anderem.« kollidiert mit dem gegenwärtig akzeptierten Wissensstand, dass zu einem gewissen Zeitpunkt im Universum noch keine wahrnehmungsfähigen Lebewesen existierten, die zum Interpretieren fähig waren. Dennoch handelt es sich um keinen infiniten Regress, und damit schon gar nicht um einen bösartigen, wie eine Detailanalyse mit Claude Gratton beweist. Voraussetzung für einen infiniten Regress wäre nämlich die Blockade der Zirkularität.7 Sehen wir uns dazu folgende Ableitung an: Person N sieht das Dreieck als Pfeil. Person N sah zuvor das Ding im Buch hier als Dreieck. Person N sah zuvor die Dru ckerschwärze als Ding im Buch hier. Person N sah zuvor das Dreieck als Druckerschwärze. Person N sah zuvor das Ding im Buch hier als Dreieck. Usw. usf. Die Kette ist nicht nach rückwärts gerichtet, sondern enthält Zirkularitäten (»loops« nach Claude Gratton), sie kann 6 Ebenda, S. 19. 7 Nach Claude Gratton. 34
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sich schließen, weil einzelne Wahrnehmungsinhalte wiederholt werden können. Damit liegt nach Gratton kein infiniter Regress vor, sondern vielmehr ein potenziell zirkuläres Argument. Diskutieren wir die Formulierung eines der berühmtesten infiniten Regresse: Karl Popper bemerkt, Jakob Friedrich Fries wiedergebend: »Will man die Sätze der Wissenschaft nicht dogmatisch einführen, so muß man sie begründen. Verlangt man eine logische Begründung, so kann man Sätze immer nur auf Sätze zurückführen: die Forderung nach logischer Begründung […] führt zum unendlichen Regreß. Will man sowohl den Dogmatismus wie den unendlichen Regreß vermeiden, so bleibt nur der Psychologismus übrig, d.h. die Annahme, daß man Sätze nicht nur auf Sätze, sondern z.B. auch auf Wahrnehmungserlebnisse gründen kann.«8 Wie sieht der Popper’sche Begründungs- und Wahrnehmungsregress aus, und was könnte er mit der Abwandlung von Mitterers Aussagen in die Allaussage »Alles, was wir sehen, ist eine Interpretation von etwas anderem.« gemeinsam haben? Ein Begründungsversuch, bei dem man danach trachtet, Sätze immer nur auf Sätze zurückzuführen, würde etwa lauten: Es entsteht der Farbeindruck von Rot, weil vom menschlichen Auge Licht mit einer Wellenlänge oberhalb von 600 nm verarbeitet werden kann. Licht mit einer Wellenlänge oberhalb von 600 nm kann vom menschlichen Auge verarbeitet werden, weil es die für das Rotsehen verantwortlichen L-Zapfen besitzt. Unsere Augen besitzen L-Zapfen, weil sie unsere Evolution hervorgebracht hat. Unsere Evolution hat L-Zapfen hervorgebracht, weil …? – Jeder Begründungsregress endet irgendwann entweder bei einer theologischen Auffassung (Schöpfergott) oder bei einer naturwissenschaftlichen Erklärung (Selektion und Mutation, Urknall etc.). Der Begründungsregress ist daher ein infiniter Regress bösartigen Typs, der einen Regressunterbrecher benötigt. Josef Mitterer hat nun zwei neue Spielarten von (vermeintlichen) bösartigen infiniten Regressen in den philosophischen 8 Karl R. Popper (200511): Logik der Forschung, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 69 f. – Hervorhebungen im Original. 35
GUTARTIGE UND BÖSARTIGE INFINITE REGRESSE
Diskurs eingebracht. Zumindest den ersten der beiden sieht Mitterer in Analogie zum Begründungsregress, der – wie soeben gezeigt wurde – bösartig ist. Mitterer schreibt: »Nicht nur der Abbruch der Erkenntnisbegründung erfolgt häufig durch ein Dogma, auch der Aufbruch erfolgt durch ein Dogma.«9 Der erste infinite Regress, der mit einem »Aufbruch« in die Erkenntnissituation (genauer: in ihre Dualisierung) verknüpft ist, entsteht bereits dadurch, dass versucht wird, das Objekt von seiner Benennung zu unterscheiden, etwa den Apfel von »Apfel« oder den Tisch von »Tisch«. Mitterer diskutiert in seinem Beispiel die Unterscheidung von einem Objekt (dem »wirklichen« Objekt, dem Objekt »selbst«) und einer sogenannten »Rudimentärbeschreibung«10, mithilfe derer es beschrieben wird, also etwa die Unterscheidung von einem Apfel auf dem Tisch und der Rudimentärbeschreibung »der Apfel auf dem Tisch« oder die Unterscheidung von dem Dreieck hier und der Rudimentärbeschreibung »das Dreieck hier«: »Der Versuch, das angegebene Objekt von der mit ihm einhergehenden Rudimentärbeschreibung zu unterscheiden, löst einen infiniten Regress aus, der wohl zu immer weiteren Rudimentärbeschreibungen führt, aber nicht zum Objekt ›selbst‹.«11 Das angegebene Objekt wäre etwa der Apfel, der auf dem Tisch liegt. Die mit diesem angegebenen Objekt einhergehende Rudimentärbeschreibung wäre »der Apfel, der auf dem Tisch liegt« oder auch »Der Apfel liegt auf dem Tisch.«. Es ist nun nur möglich, die Beschreibung »Der Apfel liegt auf dem Tisch.« vom Apfel, der auf dem Tisch liegt, zu unterscheiden, 9 Josef Mitterer (2011a): Das Jenseits der Philosophie. Wider das du alistische Erkenntnisprinzip, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 70. 10 »Rudimentärbeschreibung« ist ein spezieller Begriff Mitterers, der sonst in der Sprachphilosophie nicht verwendet wird. Er meint eine Benennung in Kombination mit einer räumlichen und/oder zeitlichen Spezifizierung und ist somit verwandt mit einer Kenn zeichnung in der klassischen Terminologie. 11 Ebenda, S. 69. 36
GUTARTIGE UND BÖSARTIGE INFINITE REGRESSE
indem die Beschreibung wiederholt wird. Dies soll im Folgenden markiert werden: Es wird versucht, die Beschreibung »Der Apfel liegt auf dem Tisch.« vom Apfel, der auf dem Tisch liegt, zu unterscheiden. Nun wurde aber am Ende des Satzes zuvor ebendiese Beschreibung wiederholt. Dies wird nun kursiviert dargestellt: Unterschieden wird die Beschreibung »Der Apfel liegt auf dem Tisch.« vom Apfel, der auf dem Tisch liegt. Man kann nun so fortsetzen: Der kursivierte Teil des Satzes, nämlich »Apfel, der auf dem Tisch liegt«, ist auch eine Beschreibung, die wiederum vom Apfel, der auf dem Tisch liegt, zu unterscheiden ist. Schematisch dargestellt: 1. Unterschieden wird die Beschreibung »Der Apfel liegt auf dem Tisch.« vom Apfel, der auf dem Tisch liegt.
2. »Apfel, der auf dem Tisch liegt« ist auch eine Beschreibung, die vom Apfel, der auf dem Tisch liegt, unterschieden wird.
3.
»Apfel, der auf dem Tisch liegt« ist auch eine Beschreibung, die vom Apfel, der auf dem Tisch liegt, unterschieden wird.
4. »Apfel, der auf dem Tisch liegt« ist auch eine Beschreibung, die vom Apfel, der auf dem Tisch liegt, unterschieden wird. Ad infinitum.
Wir können diesen vermeintlichen bösartigen infiniten Regress auch so übersetzen: Wir kommen aus der Sprache nicht heraus, 37
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solange wir sprechen – was etwa Franz von Kutschera als trivial ansieht und was für Ludwig Wittgenstein die Grenze der Sprache markiert. Zunächst einmal ist zu sagen, dass die Reihe 1–4 nicht in der Zeit zurückzuschreiten scheint. Es wird offenbar keine Aussage über eine zeitliche Priorität getroffen, wie etwa im Begründungsregress oder in den zu Beginn dieses Kapitels diskutierten Regressen. Auch reden wir in der gesamten Reihe 1–4 immer wieder ›über‹ ein und denselben Apfel. Schließlich scheint die Reihe 1–4 mit keinem ihr widersprechenden Wissen zu kollidieren. – Oder doch? Warum sieht Mitterer einen infiniten Regress, und auch noch einen bösartigen? Die Antwort könnte lauten: Weil der Regress einen Regressunterbrecher benötigt, ganz wie der Begründungsregress. Und der Regressunterbrecher des Mitterer’schen Regresses ist das Objekt ›selbst‹. Allerdings muss man hier genauer hinsehen: Der Begründungsregress stoppt bei einem ›letzten Prinzip‹, bei Gott als dem Urgrund aller Dinge oder dem naturwissenschaftlichen Zufall, der naturwissenschaftlichen Selbstorganisation des Universums, dem Urknall usw. Der Regress hört dann auf bei Fragen der Art »Warum gibt es Gott?« oder »Warum hat sich der Urknall ereignet?«. Wir können dann nur noch tautologisch oder mit Nichtwissen antworten. Der von Mitterer diskutierte ›Regress‹ muss indes im Satz aufhören, etwa, indem auf den Gegenstand gezeigt wird (Ostension). Dieser Regressunterbrecher würde dann so aussehen: 1. Unterschieden wird die Beschreibung »Der Apfel liegt auf dem Tisch.« vom Apfel, der auf dem Tisch liegt.
2. »Apfel, der auf dem Tisch liegt« ist auch eine Beschreibung, die vom [es folgt eine Geste auf das entsprechende Objekt] unterschieden wird.
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Zu beachten ist nun aber, dass man sich damit wieder das Problem einhandelt, das wir schon anhand Wittgensteins Dreieck im ersten Kapitel diskutiert haben. Ein derartiger Satz, in dem das sprachliche Satzobjekt durch eine hinweisende Geste als ›Platzhalter‹ ersetzt wird, ist nicht nur unüblich, er wäre auch im nicht-mündlichen Medium, d.h. ohne die Möglichkeit einer Geste nicht zu verstehen. Er bedürfe, so wie hier im schriftlichen Medium, erst recht wieder einer entsprechenden sprachlichen Angabe (der Übersetzung der Geste, der Ostension in Sprache). Mitterer könnte also meinen, der Regress sei deshalb bösartig, weil er als Regressunterbrecher eine zeigende Geste auf das angegebene Objekt benötigt. – Wir können an dieser Stelle nicht final entscheiden, wer Recht hat. Experten für infinite Regresse wie Claude Gratton oder Nicholas Rescher sehen in Mitterers erstem »Regress« jedenfalls keinen infiniten Regress, und schon gar keinen bösartigen. Es handelt sich in deren Augen eher um eine endlose Iteration desselben Sinngehalts, also um eine bloße Wiederholung von Sätzen (um Redundanz).12 Für einen bösartigen infiniten Regress spricht die Notwendigkeit eines Regressunterbrechers. Gegen einen bösartigen infiniten Regress spricht das Nicht-Zurückschreiten der Reihe in der Zeit. Legt man die strengen Maßstäbe von Claude Gratton an, würde man nicht von einem bösartigen infiniten Regress sprechen. Sehen wir uns den zweiten sogenannten bösartigen infiniten Regress bei Mitterer an: »Jede Forderung derart, dass das Objekt schon vor der Angabe des Objekts gegeben sein muss, resultiert jedoch in einer (er)neu(t)en Angabe des Objekts. Die Forderung müsste mithin dahingehend abgeändert werden, dass das Objekt schon vor jeder Forderung dieser Art gegeben sein muss. Damit wird wieder ein infiniter Regress ausgelöst.«13 Zunächst muss angemerkt werden, dass es nicht alle Objekte schon vor deren Angaben gegeben hat. Es kann ja gesagt werden 12 Das ist das Ergebnis intensiver Diskussionen der ins Englische übersetzten Regressbehauptung von Josef Mitterer mit Claude Gratton, Nicholas Rescher u.a. 13 Josef Mitterer (2011a): Das Jenseits der Philosophie. Wider das dua listische Erkenntnisprinzip, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 73. 39
GUTARTIGE UND BÖSARTIGE INFINITE REGRESSE
»Wir stellen jetzt eine Salzlösung her.«, und einige Zeit später ist die Salzlösung fertig. Grenzen wir den sogenannten bösartigen infiniten Regress also auf jene Objekte ein, von denen wir ›tatsächlich‹ fordern müssen, dass sie schon vor jeglicher Angabe des Objekts gegeben waren. Ein solches Objekt wäre etwa das Universum. Die Ableitung nach Mitterer sieht dann so aus: 1. Das Universum war schon vor jeder Forderung der Art, dass es vor der Benennung »Universum« gegeben gewesen sein muss, gegeben. 2. Der Satz »Das Universum war schon vor jeder Forderung der Art, dass es vor der Benennung ›Universum‹ gegeben gewesen sein muss, gegeben.« ist eine Forderung dieser Art. 3. Das Universum war schon vor der Forderung »Das Universum war schon vor jeder Forderung der Art, dass es vor der Benennung ›Universum‹ gegeben gewesen sein muss, gegeben.« gegeben. 4. Der Satz »Das Universum war schon vor der Forderung ›Das Universum war schon vor jeder Forderung der Art, dass es vor der Benennung ›Universum‹ gegeben gewesen sein muss, gegeben.‹ gegeben.« ist eine Forderung dieser Art. Ad infinitum. Auch diese Reihe 1–4 beschreibt immer dasselbe Universum. Es wird zwar eine einmalige Prioritätsbehauptung aufgestellt, die man übersetzen kann mit: Gewisse Objekte wie etwa das Universum waren schon vor allen Benennungen (oder eben in Mitterers Diktion: »Beschreibungen«) gegeben. Aber die Reihe 1–4 schreitet dann nicht in der Zeit zurück, vielmehr verlängert sie einen Satz ins Unendliche, ist also satzbautechnisch eigentlich in die Zukunft gerichtet, wenn man das so sagen will. Es handelt sich nach Claude Gratton um einen Regress auf successive embed ments, um einen gutartigen Regress wie den Wahrheitsregress: »Wien ist die Bundeshauptstadt Österreichs.« ist wahr. »›Wien ist die Bundeshauptstadt Österreichs.‹ ist wahr.« ist wahr. »››Wien ist die Bundeshauptstadt Österreichs.‹ ist wahr.‹ ist wahr.« ist wahr. Ad infinitum. Dieser gutartige infinite Regress verlängert einen Satz ins potenziell Unendliche. Er schreitet aber nicht in der Zeit zurück, er geht nicht zurück zu älteren Objekten oder Ereignissen und 40
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vor allem: Er enthält keine neue Information. Die sukzessiven Satz-Einbettungen können sogar eher als gutartiger infiniter Progress verstanden werden. Es ist Josef Mitterer somit nicht gelungen, die dualistische Unterscheidung von Benennungen (»Beschreibungen«) und Objekten durch den Nachweis bösartiger infiniter Regresse als problematisch auszuweisen, weil im ersten Fall sehr wahrscheinlich nur eine Iteration eines Satzes vorliegt und im zweiten Fall ein gutartiger infiniter Regress. Ein wichtiger Unterschied zwischen den ›echten‹ bösartigen Zeit- oder Raum-Regressen, die Gratton diskutiert, und den »Mitterer-Regressen« ist weiter: Raum-Zeit-Regresse werden ab einem gewissen Punkt in der Kette der Regressionen widersprüchlich. Bei den Mitterer-Regressen ist ein solcher Punkt nicht zu verzeitlichen oder zu verorten. Freilich sollen beide, die klassischen bösartigen Raum-Zeit-Regresse und die Mitterer-Regress, zeigen, dass schon das allererste Statement vor Beginn des infiniten Regresses, die sogenannte »Regressformel« nach Gratton, inkonsistent ist. Sehen wir uns aber noch weitere infinite Regresse der zweiten Fallkategorie Mitterers an: 1. Es gab mich schon, bevor ich sprechen konnte. 2. Aber erst seit ich mich komplexer ausdrücken kann, kann ich denken und sagen: »Es gab mich schon, bevor ich sprechen konnte.« 3. Es gab mich aber auch schon, bevor ich sprechen konnte: »Aber erst seit ich mich komplexer ausdrücken kann, kann ich denken und sagen: ›Es gab mich schon, bevor ich sprechen konnte.‹« 4. Aber wiederum erst seit ich mich komplexer ausdrücken kann, kann ich denken und sagen: »Es gab mich aber auch schon, bevor ich sprechen konnte: ›Aber erst seit ich mich komplexer ausdrücken kann, kann ich denken und sagen: ›Es gab mich schon, bevor ich sprechen konnte.‹‹« Ad infinitum. Eine weitere Variante: 1. Es gab meinen Körper schon, bevor ich ihn erkennen konnte. 2. Erst seit ich zu komplexerer versprachlichter Erkenntnis fähig bin, kann ich sagen: »Es gab meinen Körper schon, bevor ich ihn erkennen konnte.« 41
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3. Es gab meinen Körper aber auch schon, bevor ich sagen konnte: »Erst seit ich zu komplexerer versprachlichter Erkenntnis fähig bin, kann ich sagen: ›Es gab meinen Körper schon, bevor ich ihn erkennen konnte.‹« 4. Erneut erst seit ich zu komplexerer versprachlichter Erkenntnis fähig bin, kann ich sagen: »Es gab meinen Körper aber auch schon, bevor ich sagen konnte: ›Erst seit ich zu komplexerer versprachlichter Erkenntnis fähig bin, kann ich sagen: ›Es gab meinen Körper schon, bevor ich ihn erkennen konnte.‹« Diese Formen von infiniten Regressen liefern keine neuen Inhalte, sie wiederholen einen Inhalt (sie beschreiben mich oder meinen Körper), indem sie einen Satz ins Unendliche verlängern. Man könnte sie auch, siehe oben, als gutartige infinite Progresse bezeichnen. Josef Mitterer ging es darum, mit beiden Regress-Vorwürfen die dualistische Unterscheidung von Benennungen und Dingen im Kern zu treffen: etwas in der Philosophie zu problematisieren, was bisher noch nie als Problem wahrgenommen wurde. Entsprechend schreibt er auch: »Dieser infinite Regress wurde bislang kaum bemerkt, weil das ›sprachverschiedene‹ Objekt beinahe allgemein als Diskursvoraussetzung anerkannt wird.«14 In der philosophischen Literatur findet man bislang nicht einmal die Annahme, dass es sich um diskussionswürdige Regresse handeln könnte – zu selbstverständlich erschien wohl bislang die Annahme, dass zwischen sprachlichen Beschreibungen und nichtsprachlichen Dingen in der traditionellen Form zu unterscheiden sei und dieses Verhältnis nicht philosophisch problematisiert werden müsse. Es ist Josef Mitterers Verdienst, hier eine neue Tür geöffnet zu haben. Selbstverständlich sind die infiniten Regresse nur so lange gutartig, solange wir die Voraussetzungen ihrer Analyse teilen: eben etwa die Unterscheidung von gutartig und bösartig. Wollen wir uns von einem dualistischen Weltbild komplett verabschieden, kann es sein, dass wir auch die Regresse anders wahrnehmen. Als Schwächung (oder gar ›Widerlegung‹) der dualistischen Position taugen Mitterers »Regresse« jedoch nicht, sofern man eben die dualistischen Prämissen zu Grunde 14 Ebenda, S. 74. 42
GUTARTIGE UND BÖSARTIGE INFINITE REGRESSE
legt. Sie ›widerlegen‹ den Dualismus nicht, sie problematisieren ihn höchstens auf originelle Weise. Mitterer selbst hat übrigens an keiner Stelle die Unterscheidung zwischen gutartigen und bösartigen infiniten Regressen erwähnt. Ein Blick in einschlägige Lehrbücher und Lexika zeigt, dass diese Unterscheidung in der deutschsprachigen Philosophie zum Zeitpunkt des Abfassens von Mitterers Werk (d.h. in den Jahren 1973 bis 1978) so gut wie unbekannt war und sich die englischsprachige Unterscheidung von »benign« und »malign«/»vicious« erst nach der Jahrtausendwende durchgesetzt hat. Dennoch ist es wohl wichtig und richtig, neue Differenzierungen als Wissensfortschritt anzuerkennen und mit diesen Werkzeugen ältere Texte zu kritisieren, ohne diesen den neuen Wissensstand vorauszusetzen, nach dem Motto: Mitterer hätte es besser wissen müssen… Zusammengefasst zielen Mitterers »Regresse« auf die beiden Problembereiche ab, … 1. … dass zwischen Benennungen und Dingen nur unterschieden werden kann, indem die Benennungen wiederholt werden. 2. … dass nur behauptet werden kann, dass ein Ding schon vor allen Beschreibungen gegeben war, indem ebendiese Beschreibung erfolgt. Im Folgenden möchte ich einen komplexeren infiniten Regress darstellen. Dabei geht es um die im philosophischen Realismus weit verbreitete Annahme, dass es unser Universum, die Welt, in der wir leben, unsere Erde, die Natur, die Objekte, Ereignisse und Sachverhalte auch dann geben würde, wenn sich die Menschheit und mir ihr die menschliche Sprache nicht entwickelt hätten. Ich erlaube mir, hier ausnahmsweise Wikipedia zu zitieren, die dem sogenannten »ontologischen Realismus« die folgende Auffassung zuschreibt (sie tut dies ohne Quellenangabe): »Die Existenz von Gegenständen außerhalb des menschlichen Bewusstseins ist weitgehend unbestritten. Ontologischer Realismus bedeutet, dass es diese Gegenstände und Sachverhalte auch ohne den Menschen geben würde.«15 15 Diverse (bis 2022): Wikipedia-Eintrag »Realismus (Philosophie)«, Abschnitt »Ontologischer Realismus«, https://de.wikipedia.org/ wiki/Realismus_(Philosophie)#Ontologischer_Realismus. 43
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Wir können es auch so formulieren: Die Welt würde es auch ohne jemanden geben, der sie beobachtet. Dass den Satz »Die Welt würde es auch ohne jemanden geben, der sie beobachtet.« nur ein Beobachter sagen kann, verweist für den ontologischen Realismus auf die Unterscheidung von Objekt- und Metasprache (das Problem, dass auch der erste Satz schon Teil der Metasprache ist, siehe folgendes Kapitel, wird dabei ausgeblendet). Die Auffassung, dass es unsere Welt zum derzeitigen Erkenntnisstand auch dann geben würde, wenn sich die Evolution oder Geschichte auf andere Weise entwickelt hätte, trifft auf breite Zustimmung: Menschen sind schließlich schon an den Folgen der koronaren Herzkrankheit gestorben, bevor diese entdeckt und so benannt wurde. Das Krankheitsbild des Morbus Bechterew gab es schon, bevor es beschrieben wurde. Genetisch bedingte Anomalien gab es, bevor die Gene entdeckt wurden. Quarks hat es auch schon im 15. Jahrhundert gegeben. Und Bruno Latour fragte bekanntlich: Wo waren die Mikroben vor Pasteur? Der Realist Thomas Nagel schreibt: »Schließlich hätte es die transfiniten Zahlen auch dann gegeben, wenn die gesamte Menschheit noch vor ihrer Entdeckung durch Cantor von der Schwarzen Pest hinweggerafft worden wäre.«16 All diesen Annahmen ist gemeinsam, dass der aktuelle Wissensstand die Basis ist und dann behauptet wird, es hätte die Welt, wie sie diesem aktuellen Wissen zufolge beschaffen ist, auch dann gegeben, wenn dieses Wissen nie bekannt geworden wäre. Dabei wird aber übersehen, dass ebendieses Wissen auch zur Angabe der Möglichkeit, des Konditionals notwendig ist. Wie erwähnt, versucht der (dualistische, ontologische – wie auch immer) Realismus, sich aus dieser Situation mit der Unterscheidung von Objekten, Objekt- und Metasprache, letztlich von Welt und Wissen ›über‹ die Welt, zu befreien. Der Realismus würde also einwenden: Natürlich kann ich den Satz »Die Welt ist 13,8 Milliarden Jahre alt.« erst seit ein paar Jahren genauso (mit Wahrheitsanspruch) sagen, wir 16 Thomas Nagel (2008, Original 1979): »Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?«, in: ders., Letzte Fragen. Mortal Questions, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, S. 237. 44
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wissen dies schließlich erst seit Kurzem. Aber die Welt wäre auch dann 13,8 Milliarden Jahre alt gewesen (Urknallthese inklusive), wenn wir Menschen das nie herausgefunden hätten. Was wäre, wenn die Dinosaurier nicht ausgestorben wären und sich die Menschheit nie entwickelt hätte? Das Universum würde es doch heute auch geben, das schert sich ja nicht um die (Nicht-)Weiterentwicklung der Dinosaurier auf einem kleinen Planeten eines Sonnensystems in einer von Milliarden von Galaxien. Oder? Diskutieren wir also im Folgenden Auffassungen der Art: Etwas, etwa die Welt oder das Universum, hätte es auch dann gegeben, wenn dies niemand gesagt/erkannt/gewusst hätte. Dabei richte ich mich exakt nach dem elaborierten Schema für bösartige infinite Regresse nach Claude Gratton, bei dem ein infiniter Regress (formuliert im Satz 3) zur zwangsläufigen Schlussfolgerung (4) führt, diese aber mit (5) bis (7) kollidiert. Durch diesen Widerspruch erst wird der infinite Regress bösartig: Abb. 1: Schema eines bösartigen infiniten Regresses nach C laude Gratton 2010
Quelle: Gratton 2010, S. 3. 45
GUTARTIGE UND BÖSARTIGE INFINITE REGRESSE
Übertragung des Schemas von Gratton: 1. Regressformel: Es würde die Welt auch dann geben, wenn noch nie jemand »Es gibt die Welt.« gesagt hätte. & 2. Regressauslösendes Statement: Mit diesem Satz wurde »Es gibt die Welt.« gesagt. 3. Infiniter Regress: Ja, aber es würde die Welt auch dann geben, wenn noch nie jemand diesen Satz, nämlich »Es würde die Welt auch dann geben, wenn noch nie jemand ›Es gibt die Welt.‹ gesagt hätte.« gesagt hätte. Und es würde die Welt auch dann geben, wenn noch nie jemand ebendiesen Satz, nämlich »Ja, aber es würde die Welt auch dann geben, wenn noch nie jemand diesen Satz, nämlich ›Es würde die Welt auch dann geben, wenn noch nie jemand ›Es gibt die Welt.‹ gesagt hätte.‹ gesagt hätte.« gesagt hätte. Ad infinitum. 4. Es ist nicht notwendig, dass jemals »Es gibt die Welt.« gesagt wurde. Es ist möglich, dass noch nie (nicht) »Es gibt die Welt.« gesagt wurde.17 Aber: 5. Sprache hat sich ›nun einmal‹ entwickelt und ist die notwendige Voraussetzung philosophischer Reflexion. & 6. Um die Regressformel überhaupt denken zu können, muss »Es gibt die Welt.« gesagt werden. 7. Es ist notwendig, dass zumindest einmal »Es gibt die Welt.« gesagt wurde. Das heißt: Satz 4 und Satz 7 konstituieren einen Widerspruch. 8. Entweder die Regressformel oder das regressauslösende Statement ist »falsch«18. & 9. Das regressauslösende Statement (2) ist »wahr«. 10. Die Regressformel ist »falsch«: Wir können nicht behaupten, dass es die Welt auch dann geben würde, wenn noch nie jemand »Es gibt die Welt.« gesagt hätte. 17 So auch die in meiner E-Mail-Befragung geäußerte Auffassung eines Philosophen, siehe Anhang: »Es könnte logischerweise doch sein, dass es die Welt gibt, aber noch niemals gesagt wurde, dass es sie gibt.« 18 Aufgrund der Vorbehalte gegenüber dem Dualismus setze ich die in der Ableitung von Claude Gratton verwenden Prädikatoren »wahr« und »falsch« unter Anführungszeichen. Ich bevorzuge es, hier von »konsistent« und »inkonsistent« zu sprechen. 46
GUTARTIGE UND BÖSARTIGE INFINITE REGRESSE
Dieser infinite Regress konstruiert nun einen Widerspruch zwischen der (weit verbreiteten) Annahme des Realismus, dass es die Welt auch dann geben würde, wenn noch nie jemand »Es gibt die Welt.« gesagt hätte, und der Erkenntnis, dass dies nur denkbar ist, wenn (zumindest einmal) »Es gibt die Welt.« gesagt wurde. Damit ist aber die postulierte Möglichkeit nicht denkbar, denn (im Sinne der Begrifflichkeit der Modallogik) ist Sprache die Notwendigkeit, diese Möglichkeit zu denken. Damit wird der Satz, genau besehen, selbstwidersprüchlich: Es ist gleichsam nicht möglich, aus dem Satz »Es würde die Welt auch dann geben, wenn noch nie jemand ›Es gibt die Welt.‹ gesagt hätte.« den Satz »Es gibt die Welt.« herauszudenken bzw. herauszustreichen. Noch einmal: Der infinite Regress alleine macht diesen Regress noch nicht bösartig: 1. Es würde die Welt auch dann geben, wenn noch nie jemand »Es gibt die Welt.« gesagt hätte. 2. Es würde die Welt auch dann geben, wenn noch nie jemand »Es würde die Welt auch dann geben, wenn noch nie jemand ›Es gibt die Welt.‹ gesagt hätte.« gesagt hätte. 3. Es würde die Welt auch dann geben, wenn noch nie jemand »Es würde die Welt auch dann geben, wenn noch nie jemand ›Es würde die Welt auch dann geben, wenn noch nie jemand ›Es gibt die Welt.‹ gesagt hätte.‹ gesagt hätte.« gesagt hätte. Es ist die Konfrontation mit der Sprachentwicklung und der Notwendigkeit der Aussage »Es gibt die Welt.«19, die den Widerspruch erzeugt und diese Möglichkeitsaussage inkonsistent werden lässt. Ich behaupte nicht: Wir müssen immer schon »Es gibt die Welt.« gesagt haben. Der Terminus »immer schon« zeigt unpräzise postmoderne Philosophie an, denn das »immer schon« steht im Widerspruch zum gegenwärtigen Wissensstand über die Entstehung des Universums: das »immer schon« löst also selbst einen bösartigen infiniten Regress aus. Das würde sich ändern, wenn es vor dem Urknall bereits ein – vielleicht 19 Markus Gabriels plakativen Widerspruch »Warum es die Welt nicht gibt« lassen wir hier getrost beiseite. 47
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›gespiegeltes‹ – Universum gegeben hätte und vor diesem wieder einen Urknall und vor diesem wieder ein Universum etc.20 Wir sind also nicht »immer schon« in Sprache (gewesen). Wir sind in Sprache, und können nicht zurück in das Vorsprachliche.
20 Es gibt ja bereits (derzeit nicht mehrheitsfähige) physikalische Theorien, die dies behaupten, siehe etwa die »Pre-Big-Bang-Theorien« von Penrose und Gurzadyan. 48
3. Objekte, Objektsprache und Metasprache(n) – und eine überraschende Auflösung des verstärkten Lügner-Paradoxons Seit mehreren Jahrzehnten werden in der Sprachphilosophie nahezu ausschließlich einfache Beispiele zur Unterscheidung von Objektsprache und Metasprache angeführt. Ein objektsprachlicher Satz wäre etwa: Wien ist die Bundeshauptstadt von Österreich. Grammatikalisch ist das Subjekt des Satzes Wien. Sprachphilosophisch gesprochen ist das Objekt der Beschreibung, ›über‹ das etwas ausgesagt wird, Wien. Das Objekt Wien wird im Satz beschrieben, nicht etwa weiter beschrieben, weil im traditionellen Verständnis der Sprachphilosophie »Wien« keine Beschreibung ist, sondern ein (Eigen-)Name. »Wien ist die Bundeshauptstadt von Österreich.« ist auch eine Kennzeichnung, weil das Objekt Wien damit so beschrieben wird, dass es nur ein einziges Objekt auf der Welt gibt, auf das die Beschreibung zutrifft (es gibt weltweit vielleicht mehrere Orte, die »Wien« heißen). Metasprachliche Sätze reden nicht ›über‹ außersprachliche Objekte, sondern haben die (Objekt-)Sprache selbst zum Objekt ihrer Beschreibung. Metasprachliche Sätze wären etwa: »Wien ist die Bundeshauptstadt von Österreich.« ist eine wahre Tatsachenaussage. »Wien ist die Bundeshauptstadt von Österreich.« ist ein Satz der deutschen Sprache mit sechs Wörtern. »Wien ist die Bundeshauptstadt von Österreich.« ist eine Kennzeichnung. »Wien« ist ein (Eigen-)Name. »Wien« ist ein Wort mit vier Buchstaben. Es sind dies die üblichen Beispiele, wie man sie in Lehrbüchern zur Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie findet. Die Donau fließt gemütlich dahin, aber »die Donau« fließt nicht gemütlich dahin. Oder: »Donau« ist ein Wort, aber die Donau 49
OBJEKTE, OBJEKTSPRACHE UND METASPRACHE(N)
ist kein Wort. Josef Mitterer erwähnt Sätze dieser Art nur ein einziges Mal, und zwar in seinem zweiten Buch »Der Flucht aus der Beliebigkeit«. Er schreibt: »Kann ich nach der Beschreibung des Tisches zwischen der Beschreibung des Tisches und dem Tisch unterscheiden, etwa so: ›Der Tisch ist aus Holz, hingegen ist die Beschreibung kurz und bündig, wahr und adäquat‹ oder so: ›Der Tisch ist aus Holz, aber die Beschreibung des Tisches ist nicht aus Holz.‹ [?]«1 Es erscheint zunächst trivial: Damit eine Beschreibung vom beschreibungsverschiedenen Objekt unterschieden werden kann, muss die Beschreibung bereits vorliegen. Anders formuliert: Wer zwischen Sprache und Welt, Sprache und Wirklichkeit, genauer: Sprache und nichtsprachlicher Welt oder Sprache und außersprachlicher Wirklichkeit unterscheidet, der kann dies nur tun, weil Sprache bereits ›da‹ ist (evolutionär wie ontogenetisch betrachtet). Gehören aber nun Sätze, die ›über‹ nichtsprachliche Objekte und ›über‹ Sprache sprechen, zur Objektsprache oder zur Metasprache? – Es erstaunt, dass in Lehrbüchern zur Sprachphilosophie, zur Linguistik oder Semantik diese Frage nicht einmal erwähnt wird. Es werden nur Sätze der Klasse »Hans ist ein Mann.« versus »›Hans‹ ist ein Wort.« getrennt diskutiert. Nun ist es aber zur Begründung der Unterscheidung von Sprache und nichtsprachlicher Wirklichkeit entscheidend, sich auch die Frage zu stellen, zu welcher Art von Sätzen genau jene Sätze gehören, die diese Unterscheidung postulieren, wie etwa Sätze der Art: Es gibt die Sprache und es gibt nicht-sprachliche Gegenstände. Vor dem Spracherwerb nehmen Lebewesen nichtsprachlich wahr. Das Baby spricht noch nicht, aber es lacht schon. Die Frage, ob es eine Sprache der Tiere gibt, wird derzeit kontrovers diskutiert. Es gab unsere Erde, ja das gesamte Universum, schon Milliarden Jahre vor der Entwicklung der menschlichen Sprache. 1 Josef Mitterer (2011b): Die Flucht aus der Beliebigkeit, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 95 f. 50
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Sätze dieser Klasse scheinen über nichtsprachliche Objekte und über Sprache zu reden. Gehören sie zur Objekt- oder Metasprache? Bevor wir diese Frage beantworten, erwähnen wir ein klassisches Argument gegen den Sprachkonstruktivismus. Es lautet: Wenn man arme Menschen »reich« nennt, werden sie dadurch nicht reich.2 Damit scheint der Sprachkonstruktivismus widerlegt zu sein: Objekte ändern sich nicht, indem man ihnen einfach andere Eigenschaften zuschreibt als jene, die sie erkennbar haben. Das rote Sofa im Eck bleibt rot, auch wenn ich es »blaues Sofa« nenne. Und es bleibt auch dann noch ein Sofa, wenn ich es »Stuhl« nenne. Wir dürfen bei Beispielen dieser Art allerdings nicht vergessen, dass eine erste Beschreibung vor der dann zitierten immer bereits erfolgt ist: Wer sagt, dass er arme Menschen »reich« nennt, hat sie ja bereits zuvor »arm« genannt. Das Argument gegen den Sprachkonstruktivismus spricht nicht nur (scheinbar) gegen den Konstruktivismus, sondern es zementiert vor allem auch die Unterscheidung zwischen nichtsprachlichen Objekten und deren sprachlichen Benennungen und Beschreibungen. Der philosophische Diskurs zu Sprache und nichtsprachlichen Objekten ändert sich jedoch grundlegend, wenn wir uns zugestehen, dass alle Sätze, die die Unterscheidung von Sprache und nichtsprachlichen Objekten enthalten, zur Metaspra che gehören. Ja selbst die singuläre Rede von ›nichtsprachlichen Objekten‹, die Negation von Sprache usw. gehören zur Metasprache. Wir müssen die strenge Auffassung vertreten, dass ein Satz immer dann zur Metasprache gehört, wenn er in irgendeiner Form (auch) ›über‹ Sprache spricht. Betrachten wir dazu das folgende Schaubild, das sich in dieser oder ähnlicher Form in zahlreichen Lehrbüchern der Sprachphilosophie findet:
2 Frei nach Konrad Paul Liessmann. 51
OBJEKTE, OBJEKTSPRACHE UND METASPRACHE(N)
Abb. 2: Nichtsprachliche Objekte, Objektsprache und Metasprache(n)
Quelle: Eigener Nachbau des Originals von Karl Heinz Wagner (o. J.): Mathematische und logische Grundlagen der Linguistik, Uni versität Bremen, http://www.fb10.uni-bremen.de/khwagner/grund kurs2/kapitel2.aspx.
Auf der untersten Stufe sind die »nichtsprachliche[n] Objekte«. Das Schaubild soll auch anzeigen, dass wir auf dieser untersten Stufe nicht ›über‹ die beiden Begriffe »nichtsprachliche« und »Objekte« reden, sondern eben über nichtsprachliche Objekte. Aber der Verfasser des Schaubilds muss zugestehen (und in den meisten Lehrbüchern steht das auch so), dass wir selbstverständlich im Lehrbuch eine Stufe höher sind: Wer Objekte postuliert, ist schon in Objektsprache. Wer ›über‹ Objektsprache spricht, ist schon in Metasprache. Der Metasprache der 1. Stufe werden wir uns nur in der Metasprache der 2. Stufe gewahr. Ein unendlicher Progress in Metasprachen ist möglich, analog zum in Kapitel 2 bereits besprochenen Wahrheitsregress: 52
OBJEKTE, OBJEKTSPRACHE UND METASPRACHE(N)
»Wien ist schön.« ist ein Satz. »›Wien ist schön.‹ ist ein Satz.« ist ein Satz. »››Wien ist schön.‹ ist ein Satz.‹ ist ein Satz.« ist ein Satz. Ad infinitum. Ein unendlicher Progress in Metasprachen ist möglich; angezweifelt wird aber nicht das Fundament dieses Progresses: Angezweifelt wird nicht die Existenz nichtsprachlicher Objekte oder Gegenstände. Es wird dabei übersehen, dass auch der unterste Sockel schon Teil der Metasprache ist. Und will man zum Entkräften dieses Einwands zwischen nichtsprachlichen Objekten und der Terminologie »nichtsprachliche Objekte« unterscheiden, befinden wir uns sogar schon in der Metasprache 2. Ordnung. Sprachphilosophen, die eine klare und strenge Unterscheidung von Objekt- und Metasprache für möglich halten, können einwenden: Diese Möglichkeit einer strengen Unterscheidung besteht nur in stark formalisierten Sprachen, aber nicht in der Alltagssprache. Diese Sichtweise würde aber die grundlegende Unterscheidung der Sprachphilosophie, nämlich die von Sprache und externer (nichtsprachlicher) Welt, zur Alltagssprache degradieren – ebenso wie die grundlegende naturwissenschaftliche Erkenntnis, dass unser Universum, unsere Welt, schon Jahrmilliarden vor der Entwicklung der menschlichen Sprache existiert hat. – Ironisch gesprochen: Wir können von Glück reden, dass sich die Sprache entwickelt hat … Diskutieren wir nun den folgenden Satz: Die Welt gab es schon, bevor jemals »Es gibt die Welt.« gesagt wurde. Unserem neuen Verständnis zufolge ist dieser Satz Teil der Metasprache. Ich habe dazu 29 Sprachphilosophen vorzugsweise aus dem deutschsprachigen Raum befragt, das Ergebnis fiel höchst unterschiedlich aus: Neun ordneten den Satz der Objektsprache zu, vier der Metasprache, drei postulierten ein Weder-noch. Entscheidend ist aber, dass fünf von neun, die den Satz der Objektsprache zuordneten, ihre Ansicht im Verlauf einer anschließenden E-Mail-Diskussion mit mir relativierten, ja in einigen Fällen sogar verwarfen. Die genauen Ergebnisse inkl. der vollständigen anonymen Wiedergabe aller E-Mails findet sich hier im Anhang. 53
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So lässt sich etwa das Argument, dass der Satz »Die Welt gab es schon, bevor jemals ›Es gibt die Welt.‹ gesagt wurde.« primär ›über‹ die Welt spreche und deshalb ›eher objektsprachlicher Natur‹ sei, kaum sinnvoll aufrechterhalten. Der folgende reformulierte Satz drückt denselben Sinngehalt aus, würde aber nun pri mär ›über‹ den Satz (die Sprache) sprechen: »Der Satz ›Es gibt die Welt.‹ ist um Milliarden Jahre jünger als die Welt.« Es ist also offenbar keine Frage von Abfolge oder Haupt- und Nebensatz. Keinesfalls lässt sich auch die These aufrechterhalten, dass der Satz »Die Welt gab es schon, bevor jemals ›Es gibt die Welt.‹ gesagt wurde.« nur etwas ›über‹ die Welt, aber nichts ›über‹ den Satz »Es gibt die Welt.« aussagen würde. All diese Versuche zeigen an, dass die Unterscheidung von Objekt- und Metasprache immer genau dann versagt, wenn gerade die grundlegende Unterscheidung von Sprache und Welt Satzgegenstand ist. Die trennscharfe Unterscheidung von Objekt- und Metasprache wird oft als Lösung für das berühmte Lügner-Paradoxon gehandelt. Allerdings erscheint diese Unterscheidung nicht als Lösung, sondern eher als Voraussetzung des Problems. Im Folgenden werden andere und überraschende Auswege aus dem Lügner-Paradoxon in seiner populären Form und in Form des verstärkten Lügners aufgezeigt. Beginnen wir mit dem trivialen Schulbuch-Beispiel, dem – wie alle Kreter – stets lügenden Kreter. Betrachten wir die genaue Ableitung: 1. »Alle Kreter lügen immer.«, sagt der Kreter. 2. Wenn auch dieser Kreter immer lügt, dann hat der Kreter aber auch gerade eben gelogen, das heißt, wenn er soeben gesagt hat, dass alle Kreter immer lügen. – Also: 3. Der Satz »Alle Kreter lügen immer.« ist (selbst auch) eine Lüge. Wenn aber nun folglich nicht alle (oder auch: alle) Kreter (oder auch: nicht) immer lügen, dann lügt der Kreter beim Satz »Alle Kreter lügen immer.« womöglich (!) nicht. 4. Also sagt er womöglich (!) doch die Wahrheit! Dann wäre der Satz »Alle Kreter lügen immer.« aber wiederum wahr, weil ja womöglich (!) gerade dieser Kreter nicht immer lügt. 5. Wenn gerade dieser Kreter aber die Wahrheit sagt, nämlich, dass alle Kreter immer lügen, kann er nicht gleichzeitig 54
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die Wahrheit und die Unwahrheit sagen. Pointiert formuliert: Die Bedingung der Aussage des Kreters »Alle Kreter lügen immer.« scheint gleichzeitig die Unwahrheit (Lüge) und die Wahrheit ebendieses Satzes zu sein. Die Punkte 3 und 4 der Ableitung enthalten die beiden metasprachlichen Aussagen, die den Widerspruch konstituieren. Zunächst muss angemerkt werden, dass es sich hier eben um die populärwissenschaftliche Formulierung des Problems handelt: Die Formulierung stellt von vornherein kein bedingungsloses Paradoxon dar. Denn wie in Satz 3 angegeben, kann immer nur von der Möglichkeit gesprochen werden, dass der Kreter nicht immer lügt, also er auch manchmal die Wahrheit sagt. Der Kreter muss aber zur Gruppe jener gehören, die (manchmal oder zumeist) die Wahrheit sagt – nur so lässt sich das Paradoxon konstruieren. Wenn der Kreter indes zu jener ›Gruppe‹ gehört, die immer lügt, so entsteht kein Problem: »Alle Kreter lügen immer.« ist dann ja in der Tat eine Lüge, weil es ja eine (andere, zweite) Gruppe von Kretern gibt, die (manchmal oder zumeist) die Wahrheit sagt. Mit anderen Worten: Der Kreter, der »Alle Kreter lügen immer.« sagt, lügt, weil es eine Gruppe von Kretern gibt, die nicht immer lügt. Dies einfache Auflösung liest sich so: 1. »Alle Kreter lügen immer.«, sagt der Kreter. 2. Eine Gruppe von Kretern lügt immer, eine andere nicht. 3. Damit ist »Alle Kreter lügen immer.« eine Lüge. 4. Jener Kreter, der »Alle Kreter lügen immer.« sagt, gehört zur Gruppe jener Kreter, die immer lügt. Es entsteht kein Paradoxon. Was aber würde bedeuten: Zu einer Gruppe gehören, die immer lügt? – Man muss sich erst gar nicht in die Untiefen dieser Ableitung versteigen, um sich an dem erzeugten Paradoxon abzuarbeiten, denn die Prämisse ist schon inkonsistent: Betrachten wir eine Gruppe von Menschen, vielleicht eine Gruppe der Kreter, die immer lügt. Hat diese Gruppe immer schon gelogen? Es wäre hier die Einschränkung der Sinnhaftigkeit der Verwendung von »immer schon« zu beachten, siehe das Ende von Kapitel 2. Fragen wir deshalb genauer: Hat diese Gruppe von Menschen schon immer gelogen, seit es diese Gruppe gibt? 55
OBJEKTE, OBJEKTSPRACHE UND METASPRACHE(N)
Auf die Frage des Kindes: »Mama, was ist das?«, dürfte die Mutter als Angehörige dieser immer lügenden Gruppe von Menschen nie mit der ›richtigen‹ Benennung antworten. Sie muss ja immer lügen. Zeigt das Kind auf eine Muschel (Vorsicht: es tritt hier das in Kapitel 1 beschriebene Problem auf!), müsste die Mutter sagen: »Das ist eine Schnecke.« Die »Alles Lüge«-Bedingung kann es also gar nicht geben, da die Voraussetzung für »Alles Lüge« die Kenntnis der Wahrheit wäre. Diese wurde aber, der Prämisse zufolge, nie vermittelt. Diese Gruppe von Menschen könnte also gar nie lügen, weil sie die Wahrheit nicht kennt. Spracherwerb wäre der Lügner-Gruppe womöglich überhaupt nur mit Hilfe der Nicht-Lügner-Gruppe möglich, aber selbst das würde wohl scheitern: Denn was könnte die Mutter dem Kind ›über‹ die Nicht-Lügner-Gruppe erzählen außer Lügen? Die Basis der Lüge ist die Kenntnis der Wahrheit. Ich kann nur lügen »Ich habe kein Geld.«, wenn ich weiß, dass dem nicht der Fall ist. Das heißt aber nicht mehr und nicht weniger als folgendes: Das Konstrukt des sogenannten Kreter-Paradoxons wird nicht durch die Unterscheidung von Objekt- und Metasprache aufgelöst, es entsteht vielmehr erst durch die Unterscheidung von Objekten (im Verein mit deren Benennungen: Objektsprache) und (Meta-)Sprache. Erst wenn man sinnvoller Weise postulieren könnte »Die Mutter der Gruppe stets lügender Menschen sagt auf die Frage des Kindes, was etwas ist, immer etwas Gelogenes, also Falsches.«, entsteht die triviale Variante des Paradoxons. Das Paradoxon dieser Stufe setzt nämlich immer eine unterschwellige Ebene voraus: die der richtigen, wahren Benennungen, die es aber in der Sprechweise dieser Gruppe von Menschen gar nie geben kann und geben konnte (seit sie sprachfähig sind). Weitere notwendige Einschränkungen, um zu versuchen, das Paradoxon doch noch zu retten, würden absurde Züge annehmen, etwa dieser Art: »Alle Menschen einer bestimmten Gruppe, die nach dem 01. Januar 1950 geboren sind und mindestens vier Jahre alt sind, lügen immer, aber nur dann nicht, wenn sie anderen Menschen das Sprechen beibringen.« 56
OBJEKTE, OBJEKTSPRACHE UND METASPRACHE(N)
Betrachten wir nun das verstärkte Lügner-Paradoxon, das ja kniffliger zu sein scheint, dem eigentlichen mathematischen Mengen-Paradoxon näherkommt und an dem sich die Sprachphilosophie und philosophische Logik seit Jahrzehnten abarbeitet: 1. Dieser Satz ist falsch. 2. Das heißt: »Dieser Satz ist falsch.« ist falsch. Oder: Es ist falsch, dass dieser Satz falsch ist. 3. Damit ist der Satz »Dieser Satz ist falsch.« aber nicht falsch. 4. Daraus folgt: »Dieser Satz ist falsch.« ist wahr. 5. Wenn der Satz »Dieser Satz ist falsch.« wahr ist, dann gilt wiederum: 6. Dieser Satz ist falsch. 7. Das heißt: »Dieser Satz ist falsch.« ist falsch. Oder: Es ist falsch, dass dieser Satz falsch ist. 8. Damit ist der Satz »Dieser Satz ist falsch.« aber nicht falsch. 9. Daraus folgt: »Dieser Satz ist falsch.« ist wahr. 10. Wenn der Satz »Dieser Satz ist falsch.« wahr ist, dann gilt wiederum: 11. Dieser Satz ist falsch. Ad infinitum. Die Punkte 2, 4, 7 und 9 der Ableitung enthalten wieder die metasprachlichen Aussagen, die den Widerspruch konstituieren. Beginnen wir erneut bei der Prämisse: Was könnte der Satz »Dieser Satz ist falsch.« überhaupt bedeuten? – Zunächst könnte der Satz auf einen anderen Satz verweisen. Etwa: Dieser Satz ist falsch: »Salzburg ist die Bundeshauptstadt von Österreich.« Das tut er im Paradoxon aber nicht. Hier ist kein Doppelpunkt am Satzende, und hier ist auch kein zweiter Satz. Der Satz verweist auf sich selbst. Der Satz »Dieser Satz ist falsch.« verweist auf keinen anderen Satz und schon gar nicht auf ein sogenanntes nichtsprachliches Objekt. Das ist das ›Wesen‹ der Selbstreferenz. Wie/was kann am Satz »Dieser Satz ist falsch.« falsch sein? Um dies festzustellen, müssen wir den Satz selbst und nichts anderes außerhalb des Satzes nach seiner Falschheit absuchen. Formulieren wir den Satz daher mit einem Fehler: 57
OBJEKTE, OBJEKTSPRACHE UND METASPRACHE(N)
Dieser Satz ist falsh. Für diesen Satz gilt aber nicht, dass dieser Satz falsch ist, sondern dass er einen Fehler enthält. Die korrekte Formulierung wäre also: Der Satz »Dieser Satz ist falsh.« enthält einen Fehler. Es ist ein Unterschied, ob etwas falsch ist oder einen Fehler enthält. Der Satz »Salzburg ist die Bundeshauptstadt von Österreich.« ist sicher falsch. Der Satz »Wien ist die Bundeshauptstadt von Östereich.« enthält hingegen einen Fehler. Ein Paradoxon, ein Zirkel oder ein bösartiger Regress laufen beim Satz »Dieser Satz ist falsh.« jedenfalls nicht an. Führen wir ein weiteres Beispiel an: Dieser Satz sind falsch. Auch dieser Satz ist offensichtlich nicht per se falsch, er enthält einen Grammatikfehler, genauer: einen Mehrzahlfehler. Die korrekte Formulierung wäre also einmal mehr: Der Satz »Dieser Satz sind falsch.« enthält einen Fehler. Die Aussage »Dieser Satz ist falsch.« ist also insofern sinnlos, als dass über die Wahrheit oder Falschheit des Satzes »Dieser Satz ist falsch.« überhaupt nichts ausgesagt werden kann. Es erfolgt gleichsam eine inkonsistente Gleichsetzung der Bedeutung »Dieser Satz ist falsch.« mit »Dieser Satz enthält (zumindest einen) Fehler.« Der Satz »Dieser Satz ist falsch.« erhielte seinen Sinn aber nur semantisch (im klassisch-dualistischen Sinn der Semantik): indem er auf etwas anderes verweisen würde, einen anderen Satz oder ein nichtsprachliches Objekt (das ist das klassische dualistische Konstrukt von ›Bedeutung‹). Der Satz »Dieser Satz enthält (zumindest einen) Fehler.« ist hingegen immer syntaktischer Art: Wir können nur Rechtschreibung, Grammatik und Stilistik danach absuchen, ob wir einen Fehler finden. Mithin liegt also eine Verwechslung von Semantik mit Syntaktik vor, die das verstärkte Lügner-Pa radoxon anlaufen lässt. Betrachten wir zwei weitere Varianten des verstärkten Lügners, nämlich die Sätze »Dieser Satz ist nicht wahr.« und »Ich lüge gerade.«. Auch das Paradoxon mit dem Satz »Dieser Satz ist nicht wahr.« kann nur dann anlaufen, wenn die Zuschreibung des Nichtwahrheits- (also Falschheits-) oder Wahrheitsprädikats mit dem Vorliegen eines Fehlers oder 58
OBJEKTE, OBJEKTSPRACHE UND METASPRACHE(N)
der Fehlerfreiheit im Satz verwechselt wird. »Dieser Satz ist nicht wahr.« hat ganz offensichtlich keine Bedeutung. Auf jeden Fall ist die Bedeutung von »Dieser Satz ist nicht wahr.« nicht gleichzusetzen mit »Dieser Satz ist grammatikalisch nicht korrekt.«, »Dieser Satz ist nicht stimmig.« oder »Dieser Satz enthält einen Fehler.« Das Paradoxon aber entsteht durch die Gleichsetzung von Syntaktik mit der (metasprachlichen) Zuschreibung oder Nicht-Zuschreibung des Wahrheitsprädikats. Mit »Ich lüge gerade.« oder »Ich lüge jetzt.« verhält es sich nicht anders. Gemeint ist eben nicht: Ich lüge jetzt gleich: »Ich bin 30 Jahre alt.« Intendiert ist ja der Selbstbezug des Satzes. Und so hat der Satz schlichtweg keinen Sinngehalt, denn die Lüge benötigt irgendein Objekt, auf das sie sich ›bezieht‹ (zumindest im dualistischen, objektorientierten Denken, um das es ja hier geht). Als ich diese Einsicht gewonnen hatte3, war ich selbst erstaunt, dass sich ein klassisches Problem der Philosophie doch so elegant verflüchtigen kann. Um Josef Mitterer zu zitieren: »Eine Entscheidung für eine Philosophie ist auch eine Entscheidung für neue Probleme.«4 Einige dieser Neu-Problematisierungen wurden nunmehr in den ersten drei Kapiteln dieses Buchs diskutiert. Der (auch verstärkte) Lügner hat sich, jedenfalls in seinen sprachlichen und nicht mathematisch-formelhaften Formulierungen, in Luft aufgelöst. Dem sogenannten »Barbier-Problem« bzw. Russells Antinomie möchte ich mich in einer anderen Publikation widmen, an dieser Stelle sei nur so viel gesagt: Das Problem des Barbiers, der all jenen den Bart rasiert, die sich nicht selbst rasieren, lässt sich (zunächst etwas augenzwinkernd) dadurch lösen, dass es nicht nur einen Barbier gibt. Gibt es mindestens zwei Barbiere 3 Wie so oft, führte mich zu diesen Einsichten Josef Mitterer, der in einem Vortrag zur Konstruktion des Lügner-Paradoxons maßgebliche Ideen schilderte, an die hier angeschlossen wurde. Man sehe und höre dazu den Vortrag »Die Konstruktion von Paradoxien. Eine Anleitung« von Josef Mitterer (2015) auf dem Symposium »Wahrheit unterwegs«, Universität Klagenfurt, https://www.youtube.com/ watch?v=18DzbWnvvCg. 4 Josef Mitterer (2011b): Die Flucht aus der Beliebigkeit, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 34. 59
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und rasieren sich diese etwa wechselseitig den Bart, tritt das Barbier-Problem nicht auf. Das Barbier-Problem setzt voraus, dass es in einer gegebenen Menge von Menschen nur einen einzigen Barbier gibt. Dies wäre aber nur ein Lösungsvorschlag für die triviale Variante der Antinomie, vergleichbar mit der Variante »Alle Kreter lügen.« des Lügner-Paradoxons. Für die mengentheoretische Formulierung des Problems (Enthält die Menge aller Mengen, die sich selbst nicht als Element enthalten, sich selbst?) hat Russell ja bereits im Rahmen seiner Typentheorie einen Stufenbau vorgeschlagen. Ob dieser konsistent ist oder ähnlich inkonsistent wie die Unterscheidung von Objektsprache und Metasprache, soll an anderer Stelle erörtert werden. *** Klassische Paradoxien der dualistischen Philosophie, vielleicht sogar auch klassische Antinomien können also womöglich aufgelöst werden. Dafür treten neue Probleme zutage. Man kann sogar ein neues Paradoxon konstruieren. Es enthält einen Widerspruch im selben Satz und lautet: »Erst nach der Sprachentstehung war die Welt schon vor der Sprachentstehung da.« Wie das? Normalerweise würden wir ja sagen: 1. Die Welt war schon vor der Sprachentstehung da. 2. ›Natürlich‹ können wir erst nach der Sprachentstehung »Die Welt war schon vor der Sprachentstehung da.« behaupten. 3. Dennoch war die Welt schon vor der Sprachentstehung da. Usw. usf. Der Clou dieses Paradoxons besteht im Verzicht auf MetaMetasprache, also in einer Verkürzung. Denn normalerweise würde die Formulierung lauten: Erst nach der Sprachentstehung können wir behaupten, dass die Welt schon der Sprachentstehung da war. Aber wir müssen eben Aussagen von Gegenständen trennen; unser Wissen über die Welt von der Welt unterscheiden: Also war natürlich die Welt schon vor der Sprachentstehung da. 60
OBJEKTE, OBJEKTSPRACHE UND METASPRACHE(N)
Die kursivierten Satzsegmente im vorherigen Absatz kon stituieren den das Paradoxon enthaltenden Satz. Es entsteht nur durch den Verzicht auf die Angabe und Ausweisung des Satzes, der Behauptung in Meta-Metasprache. Aber auch der verkürzte, das Paradoxon enthaltende Satz »Erst nach der Sprachentstehung war die Welt schon vor der Sprachentstehung da.« ist Teil der Metasprache. Konfrontiert mit dem Satz, würde jeder realistisch-dualistische Philosoph behaupten: »Erst nach der Sprachentstehung war die Welt schon vor der Sprachentstehung da.« ist falsch. Richtig ist einzig und allein: »Erst nach der Sprachentstehung können wir sagen, dass die Welt schon vor der Sprachentstehung da war. Aber selbstverständlich war sie es schon lange vor der Sprachentstehung. Das ist der Unterschied zwischen unserem Reden über die Welt und der Welt.« – Es ist genau dieser Dualismus von unserem Reden ›über‹ die Welt und der Welt, den die Nicht-dualisierende Philosophie von Josef Mitterer, die im nächsten Kapitel nunmehr im Detail dargelegt werden wird, attackiert. *** In Kapitel 1 wurde gezeigt: Wenn wir vom Ding (Objekt, auch Ereignis, Sachverhalt etc.) und seinen Interpretationen sprechen, dürfen wir nicht vergessen, dass es auch eine Interpretation, eine Deutung ist, ein Ding (ein Objekt, auch ein Ereignis, einen Sachverhalt etc.) wahrzunehmen, dass also auch das Ding (Objekt, Ereignis usw.) ein Aspekt im Sinne des Aspektsehens ist. Mit dieser Deutung geht in den meisten Fällen nicht nur eine sprachliche Angabe (Benennung) einher, es ändert sich damit auch der subjektiv empfundene Wahrnehmungsinhalt, eben wie in einem Kippbild. Auf einer zweiten Stufe ist es ebenso eine Interpretation, zu behaupten, dass diese Wahrnehmungsänderung eben nur subjektiv sei und sich das Ding (Objekt, Ereignis usw.) ›an sich‹ (was immer das heißen mag, wir folgen hier nicht mehr Kant) nicht geändert habe. In Kapitel 2 wurde gezeigt: Die Unterscheidung zwischen Benennung und Objekt löst eine endlose Kette aus, weil auch »Objekt« eine Benennung ist und diese Benennung wiederum vom (›realen‹, gemeinten) Objekt unterschieden werden muss, 61
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aber auch »(›reales‹, gemeintes) Objekt« eine Beschreibung ist, die wiederum vom ›tatsächlich‹ gemeinten Objekt unterschieden werden muss, ad infinitum. In der Einschätzung dieser Kette klaffen die philosophischen Sichtweisen auseinander: Was für die einen nur eine harmlose Iteration immer derselben Grundaussage ist und nicht einmal ein infiniter Regress, was für die einen eben die Grenze der Sprache anzeigt (Wittgenstein), ist etwa für Josef Mitterer ein infiniter Regress, der nur einen Regressunterbrecher kennt: die Unterbrechung des Satzes, das Zeigen auf den Gegenstand, die hinweisende Geste (Ostension). Aber auch dann stellt sich die Frage: Wo ›endet‹ hier die Sprache? Wo ist diese Wittgenstein’sche Grenze zwischen Sprache und außersprachlichen Objekten? Die hinweisende Geste ist wahrscheinlich noch Teil der Sprache, aber der ganze Halbsatz mit Geste wird vom Empfänger nur dann verstanden, wenn die Benennung des Gegenstands (hier als »Gegenstand«) schon bekannt ist… Bei der Unterscheidung von Beschreibung und Objekt interessierte uns in Kapitel 2 eher das Objekt. In Kapitel 3 wurde gezeigt: Alle Unterscheidungen zwischen Sprache und Welt, Benennung und Objekt, Beschreibung und Objekt etc. sind Teil der Metasprache. Die Festlegung auf den Dualismus von Sprache und (außersprachlicher, nichtsprachlicher oder auch vorsprachlicher) Wirklichkeit ist also nur im Rahmen von Metasprache möglich. Auch die Prioritätsbehauptung einer Welt (eines Universums etc.) vor der Sprachentwicklung ist Teil der Metasprache. Bei der Unterscheidung von Beschreibung und Objekt inte ressierte uns in Kapitel 3 eher die Beschreibung. Die in den Kapiteln 1 bis 3 aufgezeigten Probleme mit den Unterscheidungen von Dingen und ihren Interpretationen, von Objekten und ihren Beschreibungen, von Welt und Sprache oder Wirklichkeit und Sprache führten Josef Mitterer zu einer Fundamentalkritik dualistischen Philosophierens, das auf Basis der Unterscheidung von Sprache und (nichtsprachlicher) Welt argumentiert und förmlich sein Weltbild aufbaut. Da rüber hinaus entwarf Mitterer eine Alternative des (philosophischen) Denkens und Redens, die er ursprünglich in seiner Dissertation (geschrieben in den Jahren 1973 bis 1978) die 62
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»Nicht-objektierende Redeweise« nannte (gemeint war: nicht auf ein ›sprachverschiedenes‹ Objekt hin orientiert), in der späteren Buchpublikation der Dissertation, »Das Jenseits der Philosophie« (1992) dann »Nicht-dualisierende Redeweise«. Im nächsten Kapitel wird diese Denkalternative dargestellt.
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4. Die Nicht-dualisierende Redeweise als dritte philosophische Revolution »Gibt es nur Sprache?« war der Titel eines Vortrags des Philosophen Christof Schalhorn im Jahr 2010.1 »Are Descriptions All We Have?« fragte der Soziologe Michael Dellwing in einem Paper im Jahr 2011.2 Die Welt bestehe förmlich aus Beschreibungen, heißt es in Nelson Goodmans »Weisen der Welterzeugung«: »Wir sind bei allem, was beschrieben wird, auf Beschreibungsweisen beschränkt. Unser Universum besteht sozusagen aus diesen Weisen und nicht aus einer Welt oder aus Welten.«3 Die Nicht-dualisierende Redeweise, eine vom österreichischen Philosophen Josef Mitterer entwickelte alternative Denkweise, verzichtet auf den Dualismus von Sprache und Wirklichkeit. Besagt daher auch die Nicht-dualisierende Redeweise, dass alles Sprache sei, dass es nur Beschreibungen gebe, ja das Universum aus Beschreibungen bestehe, vielleicht auch noch ›in Wahrheit‹ oder ›in Wirklichkeit‹? »Es gibt keinen Dualismus von Sprache und Wirklichkeit. In Wahrheit ist alles Sprache.« Das wäre die pointierte Formulierung einer Sichtweise, die die Nicht-Dualisierende Redeweise nicht vertritt. Sie versucht nämlich nicht zu sagen, was ist und was nicht ist (sie versucht, ohne Ontologie auszukommen). Sie trachtet auch danach, keine Allaussagen und keine Negationen von Allaussagen aufzustellen. Weiter versucht sie, ohne das dualistische Vokabular zu argumentieren. »Wahrheit« und »Falschheit« sowie »wahr« und »falsch«, statische 1 Christof Schalhorn (2010): »Gibt es nur Sprache? Der Beginn einer ›romantischen‹ Sprachphilosophie bei Herder und Hamann«, Vortrag im Gasteig, München, http://www.schalhorn.de/Schalhorn_ Sprachphilosophie_Hamann-Herder_2010.pdf. 2 Michael Dellwing (2011): »Truth in Labeling: Are Descriptions All We Have?«, Deviant Behavior, https://www.academia. edu/8151493/Truth_in_Labeling_Are_Descriptions_All_We_Have. 3 Nelson Goodman (19932, Original 1978): Weisen der Welterzeu gung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 15. 65
DIE NICHT-DUALISIERENDE REDEWEISE
Begriffe wie »bestehen« oder »Gegenstand«, weiter Begriffe wie »Identität«, »die Natur von etwas« oder auch »Definition«, gebräuchliche Wendungen wie »in Wirklichkeit«, »in Wahrheit«, »in der Tat«, »wirklich«, »wahrlich«, »tatsächlich«, »fälschlich(erweise)«, »faktisch«, »natürlich« oder »anders als angenommen« kommen in der Nicht-dualisierenden Redeweise nicht vor. Aus dem Versuch der Nicht-dualisierenden Philosophie, Objekt und Beschreibung in einer Einheit zu sehen, »folgt nicht, dass in einer Nicht-dualisierenden Redeweise das Objekt der Beschreibung kein Objekt, sondern Beschreibung ist.«4 Die Nicht-dualisierende Redeweise stellt den Versuch dar, unter alternativer Verwendung des dualistischen Vokabulars – vorgeführt anhand der Unterscheidung von Objekt und Beschreibung – eine andere Sichtweise einzuführen, die sich nicht auf einen ›Sprachmonismus‹ reduzieren lässt. Diese alternative Sichtweise ist am besten mit einem zentralen Satz in Mitterers »Das Jenseits der Philosophie« beschrieben: »Das Objekt der Beschreibung ist nicht beschreibungs- oder ›sprachverschieden‹, sondern jener Teil der Beschreibung, der bereits ausgeführt worden ist.«5 Im klassischen sprachphilosophischen Verständnis wäre ein solcher Satz nur sehr begrenzt sinnvoll. Er würde überhaupt nur dann zutreffen, wenn ein Objekt ein Teil einer Beschreibung wäre, wenn wir also etwa im Satz »Stefan Weber schreibt ein Buch.« über das Satzobjekt »ein Buch« sprechen würden. Wir könnten dann etwa sagen, dass das Objekt im Satz »Stefan Weber schreibt ein Buch.« aus zwei Wörtern besteht, im vierten Fall steht etc. – Josef Mitterer schlägt nun vor, das bis lang als ›sprachverschieden‹ aufgefasste Objekt als Teil der Be schreibung zu konzipieren. Mitterer bemerkt weiter: 4 Josef Mitterer (2011a): Das Jenseits der Philosophie. Wider das du alistische Erkenntnisprinzip, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 45. 5 Ebenda, S. 42. 66
DIE NICHT-DUALISIERENDE REDEWEISE
»Auch das zu Beschreibende, das Objekt der Beschreibung, ist bereits eine, nämlich die vorliegende Beschreibung.«6
Und: »Das jeweilige Objekt einer Beschreibung ist die jeweils geleistete Beschreibung.«7 (Die Verwendung des Verbs »sein«, hier in Form von »ist«, lässt eine definitorische, identitätstheoretische Bedeutung der Sätze vermuten. Die Angabe non-dualistischer Überlegungen ist nur mit einer dualistischen Sprache möglich.) Im klassischen dualistischen philosophischen Verständnis lässt sich oben genannte Vorschlag leicht widerlegen: 1. Es wird behauptet: »Auch das zu Beschreibende, das Objekt der Beschreibung, ist bereits eine, nämlich die vorliegende Beschreibung.« 2. Das zu Beschreibende, das Objekt der Beschreibung, ist in einem Beispiel der Apfel, der auf dem Tisch liegt. 3. Die vorliegende Beschreibung ist somit »Der Apfel liegt auf dem Tisch.«. 4. Damit ist Mitterer zufolge das zu Beschreibende, das Objekt der Beschreibung, also der Apfel, der auf dem Tisch liegt, die Beschreibung »Der Apfel liegt auf Tisch.«. 5. Das aber wäre absurd: Der Apfel, der auf dem Tisch liegt, ist gerade nicht die Beschreibung »Der Apfel liegt auf dem Tisch.«. Denn in den Apfel kann ich hineinbeißen, in die Beschreibung hingegen nicht. Die Beschreibung wiederum besteht aus Buchstaben, der Apfel nicht.8 Und den Satz »Das jeweilige Objekt einer Beschreibung ist die jeweils geleistete Beschreibung«. könnte der Dualismus erneut so verstehen, dass sich die Nicht-dualisierende Redeweise nur um Beschreibungen ›kümmert‹, also nur Satzanalysen macht. Schließlich könnte man die Nicht-dualisierende Redeweise mit einem sehr einfachen Syllogismus widerlegen: 6 Ebenda, S. 44. 7 Ebenda, S. 45. 8 So auch das Beispiel in Josef Mitterer (2011a): Das Jenseits der Philosophie. Wider das dualistische Erkenntnisprinzip, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 48. 67
DIE NICHT-DUALISIERENDE REDEWEISE
1. Die Nicht-dualisierende Redeweise behauptet: Alle Objekte sind nichts weiter als Beschreibungen. 2. Beschreibungen setzen sich immer aus Sprachzeichen oder sonstigen Symbolen, ev. auch (zum Teil) aus Gesten etc. zusammen. Daraus folgt: 3. Alle Objekte setzen sich immer aus Sprachzeichen oder sonstigen Symbolen, ev. auch (zum Teil) aus Gesten etc. zusammen. Es kann gezeigt werden, dass dies nur auf sprachliche Objekte wie etwa Sätze zutrifft. Also wäre die Nicht-dualisierende Redeweise für die große Mehrheit der Objekte ›falsch‹. Um solche Probleme und Widersprüche zu vermeiden, schlägt Mitterer im Rahmen der Nicht-dualisierenden Redeweise eine neue Notation vor, die sogenannten Ausführungs zeichen (die Notation ist /…/, also etwa /der Apfel/ statt wie bisher »der Apfel«). Ausführungszeichen markieren im Nondualismus bereits ausgeführte, geleistete, erfolgte (Teil-)Beschreibungen9, die die notwendige Basis für neue, weitergehende Beschreibungen sind: Damit ich überhaupt »Josef Mitterer ist ein österreichischer Philosoph.« sagen kann, muss die Beschreibung /Josef Mitterer/ bereits vorliegen. Mit dem Einsatz von Ausführungszeichen als Ergänzung zu den Anführungszeichen (»…«), die im Nondualismus für weitergehende Beschreibungen reserviert sind, wird es dann möglich, zu behaupten, dass der Apfel, der auf dem Tisch liegt, mit der Beschreibung so far /der Apfel, der auf Tisch liegt/ ›zusammenfällt‹, solange diese nicht fortgesetzt wird, etwa in einer Beschreibung from now on »Der Apfel, der auf dem Tisch liegt, ist faul.« – Sowohl das bei Mitterer immer englisch und kursiviert verwendete Begriffspaar so far (bis jetzt, bis hierher) und from now on (von nun an, von hier an, ab jetzt)10 als auch die Ausführungszeichen /…/ sind genuine Erfindungen Mitterers, um überhaupt im Rahmen eines dualistischen Sprechens die nondualistische Denkalternative darstellen zu können. 9 Ebenda, S. 43. 10 Ebenda, S. 46. 68
DIE NICHT-DUALISIERENDE REDEWEISE
Wir können es auch so formulieren: Objekt und Objektangabe oder Objekt und Objektsprache fallen in der Nichtdualisierenden Redeweise zusammen. Der Apfel, der auf dem Tisch liegt, hat die Beschreibung so far /der Apfel/ zur Vo raussetzung. Allerdings wird im Nondualismus eine essentialistische Gleichsetzung im Sinne einer Identitätsbehauptung strikt vermieden: Es wird nicht behauptet, dass der Apfel die Beschreibung /der Apfel/ ist. Mitterer versucht, das Verhältnis von Objekt und Beschreibung immer dynamisch, stets im Fluss aufzufassen: Das Objekt verhält sich zur Beschreibung des Objekts (die im Nondualismus immer mehr ist als das Objekt) wie die Beschreibung so far zur Beschreibung from now on. Im Dualismus unterscheiden sich Beschreibung und Objekt dadurch, dass sich die Beschreibung auf ein (in der Regel nichts-sprachliches) Objekt bezieht, auf ein Objekt gerichtet ist. Im Nondualismus ist die Beschreibung des Objekts mehr als das Objekt: Die Beschreibung des Objekts entspricht der Beschreibung from now on, während das Objekt der Beschreibung so far entspricht. Das dynamische Verhältnis von Objekt und Beschreibung nimmt in der Nicht-dualisierenden Redeweise folgende Gestalt an: Objekte sind als bisherige Beschreibungen, also als Beschreibungen so far die Basis für die weitergehenden Beschreibungen from now on, sofern an dieser Basis (diesem Basiskonsens) nicht gerüttelt wird. Wird an diesem gerüttelt, reden wir nicht mehr ›über‹ einen Apfel, der auf dem Tisch liegt, sondern vielleicht über eine Birne, die auf dem Tisch liegt. Warum setze ich bei der Erwähnung eines Redens ›über‹ etwas das Wort ›über‹ ständig in einfache Anführungszeichen? Mitterer bemerkt im Nachwort zur Neuauflage des »Jenseits der Philosophie«: »Eines Tages hatte ich die Idee, das Reden über einen Gegenstand als Reden über die schon gemachte Rede /Gegenstand/ hinaus, die Beschreibung eines Tisches als Fortsetzung der Beschreibung so far /Tisch/ zu verstehen… Diese Idee öffnete einen neuen Denkweg, in den ich mich langsam einübte. Es war die Einübung in ein Nicht-dualisierendes Denken und Reden. Statt wie gewohnt ein ›über‹ auf ein ›unter‹ zu beziehen, versuchte ich das Verhältnis zwischen Objekt und Beschreibung, 69
DIE NICHT-DUALISIERENDE REDEWEISE
zwischen Gegenstand und Aussage, als ein Verhältnis einer Beschreibung/Aussage ›bis jetzt‹ und ›von nun an‹, von so far und from now on auszuarbeiten.«11
Freilich muss hier angemerkt werden: In der dualistischen Sprachphilosophie wäre »Tisch« keine Beschreibung, sondern eine Benennung. Der Begriff »Beschreibung« ist einem bisherigen Konsens zufolge für Sätze reserviert, die zumindest eine Eigenschaft eines Dings, Objekts, Gegenstands, Sachverhalts oder Ereignisses angeben. Mitterer dehnt also der Einfachheit halber den Begriff »Beschreibung« auf alles aus, was ein Satzsubjekt sein kann, also auch »der Tisch«, »Schnee«, »es« usw. Zweitens muss zwischen dem »Reden über eine Sache« (inhaltlich-thematisch, mit Akkusativ) und dem »Reden über einer Sache« (örtlich-geografisch, mit Dativ) unterschieden werden. Mitterer setzt beide Bedeutungen gleich und unterstellt gleichsam auch dem »Reden-über« eine örtliche Konnotation, die übrigens in nicht-indogermanischen Sprachen gar nicht vorkommt. Mitterer sagt: Wenn ich über etwas rede, ist die Rede über den Dingen, über die ich rede. So wird eine inhaltlichthematische Verwendung einer Präposition zu einer topologischen. Wir halten hier aber Mitterer zugute, dass es ihm um Vereinfachungen geht, um die Nicht-dualisierende Redeweise von der Dualisierenden Redeweise abzugrenzen. Das dynamische Verhältnis von Objekt und Beschreibung sieht in der Nicht-dualisierenden Redeweise damit so aus (noch einmal: die Beschreibung des Objekts ist immer mehr als das Objekt):
11 Ebenda, S. 124. 70
DIE NICHT-DUALISIERENDE REDEWEISE
Abb. 3: Objekt und Beschreibung in der Nicht-dualisierenden Redeweise
Quelle: Deutschsprachiger Nachbau mit Anpassungen aus Weber 2020, S. 172. Neue Grafik 2022: Hannes Fuß.
Man mag sich nun fragen: Wenn jedes Objekt einer (weiteren) Beschreibung nicht mehr ist12 als die bisherigen (ausgeführten und akzeptierten, konsensuellen, geteilten) Beschreibungen, wie kommt es dann zu neuen Beschreibungen? Eine neue ›wahre‹, d.h. mit dem Objekt übereinstimmende Beschreibung eines Objekts ist ja nur dann eine solche, wenn das Objekt jene Eigenschaft, die die neue Beschreibung korrekter Weise wiedergibt, schon vor dieser Beschreibung hatte. So denkt zumindest der Dualismus. Wie sieht das der Nondualismus? Der Dualismus behauptet: Die Beschreibung »Das Universum ist 13,8 Milliarden Jahre alt.« ist ja nur möglich, wenn das Universum schon vor dieser Beschreibung 13,8 Milliarden Jahre alt war. Andernfalls würde das Universum, quasi wie 12 Ich komme – wie Mitterer – nicht umhin, Wörter wie »sein« oder »ist« zu verwenden, allerdings ohne eine essentialistische oder identitätstheoretische Bedeutung transportieren zu wollen. 71
DIE NICHT-DUALISIERENDE REDEWEISE
von Zauberhand, 13,8 Milliarden Jahre alt werden, indem dies hic et nunc gesagt wird. Dies wäre eine triviale Form von radikal-konstruktivistischer ›Sprechakttheorie‹, ein Schöpfungsakt aus Sprache. Josef Mitterer verweist nun darauf, dass die Beschreibung »Die Beschreibung ›Das Universum ist 13,8 Milliarden Jahre alt.‹ ist ja nur möglich, wenn das Universum schon vor dieser Beschreibung 13,8 Milliarden Jahre alt war.« erst nach der Beschreibung »Das Universum ist 13,8 Milliarden Jahre alt.« möglich ist, das heißt an sie anschließt.13 Wir haben es in der Nicht-dualisierenden Redeweise daher mit folgender neuer Abfolge zu tun: 1. Das Universum ist 13,8 Milliarden Jahre alt. 2. Das Universum war schon vor der Beschreibung »Das Universum ist 13,8 Milliarden Jahre alt.« 13,8 Milliarden Jahre alt. 3. Der Satz in Punkt 2 »Das Universum war schon vor der Beschreibung ›Das Universum ist 13,8 Milliarden Jahre alt.‹ 13,8 Milliarden Jahre alt.« ist eine weitergehende Beschreibung, eine Fortsetzung des Satzes in Punkt 1 »Das Universum ist 13,8 Milliarden Jahre alt.«. Dieses Umdenken ist zunächst schwierig zu verstehen, es erfordert eine lange Einübungszeit, aber es ist nicht unmöglich, so zu denken. Ähnlich verhält es sich mit allen Versuchen des Dualismus, das Objekt von ›seinen‹ Beschreibungen zu unterscheiden: 1. Der Apfel liegt auf dem Tisch. 2. Der Apfel, der auf dem Tisch liegt, ist nicht die Beschreibung »Der Apfel liegt auf dem Tisch.«. 3. Den Apfel, der auf dem Tisch liegt, kann ich essen, die Beschreibung »Der Apfel liegt auf dem Tisch.« kann ich hingegen nicht essen. 4. Der Satz in Punkt 2 ist eine Fortsetzung des Satzes in Punkt 1; der Satz in Punkt 3 ist eine Fortsetzung des Satzes in Punkt 2. 13 Josef Mitterer (2011a): Das Jenseits der Philosophie. Wider das du alistische Erkenntnisprinzip, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 75 f. 72
DIE NICHT-DUALISIERENDE REDEWEISE
Jeder Versuch, das Objekt von der Beschreibung zu trennen, setzt voraus, dass die Beschreibung bereits ausgeführt wurde. Wie in Kapitel 2 dieses Buchs gezeigt wurde, führt dies jedoch unter dualistischen Prämissen (!) nicht in einen bösartigen infiniten Regress, sondern in eine Wiederholung, eine Iteration, die immer wieder dasselbe Objekt von einer weiteren Beschreibung unterscheidet. Die Nicht-dualisierende Redeweise leugnet weder Objekte noch, dass diese empirisch untersucht werden können. Sie redet nur nicht ›über‹ Objekte, sondern geht in ihrer Rede von der Rede /Objekte/ aus. Mit aller Vorsicht (und ›restdualistisch‹) gesprochen: Sie startet mit der Sprache, genauer: mit einer Objektangabe (wie etwa /der Apfel/), oft erweitert um eine Rudimentärbeschreibung des Objekts (wie etwa, der Apfel, der auf dem Tisch liegt/).14 Was wir im dualistischen Denken eine Verifikation (den ›Wahrheitsbeweis‹, die Bestätigung) nennen, ist in der Nichtdualisierenden Redeweise die Zustimmung zu einer Auffassung, ja mitunter auch deren bloße Wiederholung. Was wir im dualistischen Denken eine Falsifikation (die ›Falschheitsausweisung‹, die Widerlegung) nennen, ist in der Nicht-dualisierenden Redeweise die Ablösung einer bisher vertretenen, dann also ›alten‹ Beschreibung durch eine neue oder die Festlegung auf eine neue Beschreibung nach Vorliegen mehrerer möglicher neuer Beschreibungen (sogenannten Hypothesen).15 Oben wurde behauptet: Weder leugnet der Nondualismus Objekte noch, dass empirische Prüfverfahren stattfinden (mittels Augenscheins oder mittels Apparaturen, Messungen, Untersuchungsmethoden usw.). Mitterer schreibt ja selbst, dass Beschreibungen überprüft werden können, indem »verschiedene Untersuchungen« ausgeführt werden wie etwa – am Beispiel der empirischen Frage nach der Gestalt eines Tisches – »›genaues‹ Hinschauen, Betasten der Tischkante, Abmessen von Diagonalen […] und/oder andere Untersuchungen«.16 Ganz 14 Ebenda, S. 68 ff. 15 Ebenda, S. 53–66. 16 Ebenda, S. 63. 73
DIE NICHT-DUALISIERENDE REDEWEISE
ähnlich in der »Flucht aus der Beliebigkeit« am Beispiel der empirischen Frage nach dem Material eines Tisches: »Eine neue These kommt vielleicht zustande, indem der Diskurspartner den Tisch scharf ins Auge fasst, dabei mit der Hand über die Tischoberfläche fährt und sich einen Splitter einzieht.«17 Anhand von solchen Stellen versuchten Kritiker mitunter zu beweisen, dass der Nondualismus inkonsistent sei: Diese Stellen würden ja anzeigen, dass es doch Objekte gäbe. Aber das ist nicht der Punkt, siehe das folgende Kapitel 5. Es wäre ja völlig absurd, wenn der Nondualismus etwa leugnen würde, dass es ein Objekt gäbe, das man vermessen, wiegen etc. kann. Aber: Es wird nicht gesagt, dass Hypothesen am Objekt scheitern. Vielmehr ›scheitern‹ sie an neuen Hypothesen, oder wie es Mitterer einmal plakativ ausgedrückt hat: »Änderungen kommen nicht zustande, indem wir neue Hypothesen an der Realität […] scheitern lassen; Änderungen sind eher der gelungene Versuch, die bestehende Realität an neuen Hypothesen scheitern zu lassen.«18 Im »Jenseits der Philosophie« beschreibt Mitterer den Prozess des Generierens neuen empirischen Wissens so: »Die Entscheidung zwischen den in Frage stehenden Beschreibungen kommt mithin nicht durch einen Rückgriff auf gegebene Beschreibungen zustande, sondern durch einen Vorgriff, durch ein Weitergehen auf neue Beschreibungen […].«19 Und in der »Flucht aus der Beliebigkeit« ist über das Ausscheiden einer These und das Favorisieren einer anderen zu lesen: »Das Scheitern der ersten These an der Realität [im dualistischen Sprachgebrauch formuliert, Anm. SW] ist damit nichts 17 Josef Mitterer (2011b): Die Flucht aus der Beliebigkeit, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 94. 18 Josef Mitterer (1983): »Die Hure Wahrheit – auch Duerr ein Zuhälter?«, in: Rolf Gehlen/Bernd Wolf (Hg.), Der gläserne Zaun. Auf sätze zu Hans Peter Duerrs »Traumzeit«, Frankfurt am Main: Syndikat, S. 276. 19 Josef Mitterer (2011a): Das Jenseits der Philosophie. Wider das du alistische Erkenntnisprinzip, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 65. 74
DIE NICHT-DUALISIERENDE REDEWEISE
weiter als ein Scheitern an einer neu aufgestellten These, ist die Ablösung der früheren These durch eine neue These.«20
*** Tab. 1: Traditionelles und alternatives Verständnis von Philosophie Dualisierende Redeweise (bisherige Philosophie)
Nicht-dualisierende Redeweise (neue Philosophie)
Unterscheidung Sprache – Wirklichkeit
Unterscheidung Beschreibungen from now on – Beschreibungen so far
Bezug auf Objekte, Referieren auf Objekte, Richtung auf Objekte, Reden ›über‹ Objekte
Ausgehen von Beschreibungen, Weitergehen/Vorgreifen auf neue Beschreibungen, Reden von etwas ausgehend
Wahrheit als Übereinstimmung Wahrheit als Zustimmung zu einer einer Aussage mit einem Sachverhalt These (ich stimme mit einer Aussage überein) Falschheit als Nicht-Übereinstimmung einer Aussage mit einem Sachverhalt
Falschheit als Ablösung einer alten These durch eine neue These
Begriffe wie »wahr«, »falsch«, »in Wahrheit«, »in Wirklichkeit«, »die Natur von etwas«, »anders als angenommen« u.a.
Streichung dieser Terminologie
Quelle: Eigene Systematik, Weber 2022.
Wenn der Nondualismus auf eine Redeweise verzichtet, die »die Idee eines von der Sprache ver- und unterschiedenen Objekts hervorgebracht hat«21, so markiert er den bisherigen ›Höhepunkt‹ einer ca. 2.500-jährigen philosophischen Entwicklung, bei der zuerst das Jenseits früher Mythen und der späteren Weltreligionen kritisiert und dekonstruiert wurde 20 Josef Mitterer (2011b): Die Flucht aus der Beliebigkeit, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 95. 21 Josef Mitterer (2011a): Das Jenseits der Philosophie. Wider das dua listische Erkenntnisprinzip, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 16. 75
DIE NICHT-DUALISIERENDE REDEWEISE
– und schließlich das »Ding an sich« Kants im Sinne einer zwar vorhandenen, aber unerkennbaren jenseitigen Welt. Letzteres ist eine Vorstellung, die sich auch noch in einigen Spielarten des (Radikalen) Konstruktivismus wiederfindet, wenn sie zwischen (erkenntnisabhängigen, also subjektiv konstruierten) Wirklichkeiten und (erkenntnisunabhängiger) Realität unterscheiden, wie etwa in einigen Schriften von Ernst von Glasersfeld und dem früheren Siegfried J. Schmidt. Ernst von Glasersfeld hat die philosophische Revolution des Nondualismus Mitterers ähnlich beschrieben: »In the course of history there have been several purges – quiet rather than violent, to be sure – in the kingdom of philosophy. Theology was slowly pushed out after the Middle Ages, and with the first edition of Kant’s Critique of Pure Reason (1781) the seeds for the ousting of metaphysics were sown, an ousting that was vigorously pushed along by logical positivism in the last century. Josef Mitterer is the proponent of a third conceptual revision that, if carried out, would thoroughly change the method and the goals of philosophical investigation.«22 Es lassen sich also drei Revolutionen nachzeichnen: • Erste Revolution: Streichung des theologischen Jenseits mitsamt aller Gottesvorstellungen aus der Philosophie, beginnend nach dem Mittelalter • Zweite Revolution: Abkehr von der Metaphysik, beginnend mit Kant, spätestens durch den Positivismus, den Empirismus und die Durchsetzung des modernen naturwissenschaftlichen Weltbilds • Mögliche dritte Revolution (durch die Philosophie Mitterers): Verzicht auf die ›sprachverschiedene‹ Wirklichkeit, also Verzicht auf die Welt ›im Fluss‹ in ihren Formen und Farben, möglicherweise ›wie sie auch ohne Sprache gegeben wäre‹ Nicht umsonst schreibt Mitterer immer wieder vom »Jenseits« und vom »Diesseits« des Diskurses: Es ist das Jenseits 22 Ernst von Glasersfeld (2008): »Can Dichotomies Be Tamed?«, Con structivist Foundations, Special Issue »The Non-dualizing Philoso phy of Josef Mitterer« (Jahrgang 3/Heft 3), S. 123. 76
DIE NICHT-DUALISIERENDE REDEWEISE
der Theologie (mitsamt der Vorstellung vom Paradies, vom Leben nach dem Tod etc.), das im Lauf der Philosophiegeschichte dekonstruiert wurde und derzeit vielleicht durch Kreationismus und Intelligent Design eine gewisse Renaissance erfährt. Es sind aber auch die Metaphysik und mit ihr der Leib-Seele-Dualismus, die von der modernen Philosophie des Geistes sukzessive durch monistische (reduktionistische) Positionen ersetzt wurden und deren vorläufig letztes Aufbäumen der Dualismus von Popper und Eccles darstellt. Nun, nach der Dekonstruktion des Jenseits der Theologen und der Metaphysiker geht es um eine dritte Dekonstruktion: die des Jenseits unseres Denkens und Sprechens, unserer Diskurse – schlichtweg die Dekonstruktion des Weltbezugs. Dass es um eine sehr grundlegende Änderung des philosophischen Diskurses geht, hat Josef Mitterer bereits in seiner im Jahr 1978 fertiggestellten und von Rudolf Haller betreuten Dissertation im »Vorwort« angemerkt: »Diese Arbeit stellt die zentrale Selbstverständlichkeit (nicht nur) der analytischen Philosophie in Frage.«23 »Realismus und Idealismus haben versucht, auf die Fragen ›Was gibt es?‹ und ›Was können wir erkennen?‹ eine Antwort zu geben. Die vorliegende Arbeit weist diese Fragen zurück.«24 »Eine Reflexion über das Verhältnis von Sprache und Welt kann erst nach der diskursbestimmenden Unterscheidung zwischen Sprache und Welt einsetzen. Die Dichotomie SpracheWelt ist das einflußreichste Dogma der gegenwärtigen Sprachund Erkenntnisphilosophie. Solange sie als ›conditio sine qua non‹ des rationalen Diskurses verstanden wird, bleibt sie außer Streit und wird nicht Gegenstand philosophischer Kon troverse. Eine Kritik darf sich gerade nicht an Problemen orientieren, die aus dieser Unterscheidung erst entstehen – und die Probleme der Semantik sind solche Probleme.«25 23 Josef Mitterer (1978): Sprache und Wirklichkeit. Eine erkenntnis theoretische Abhandlung, Graz: Dissertation, Universität Graz, S. IV. 24 Ebenda, S. III. 25 Ebenda, S. III f. – Im Original Hervorhebungen durch Sperrschrift und Unterstreichungen. 77
DIE NICHT-DUALISIERENDE REDEWEISE
Ich gehe davon aus, dass Ernst von Glasersfeld und ich die ersten waren, die die Tragweite der ›Mitterer’schen Revolution‹ erkannt haben. Nun geht es aber bei etwas Neuem nicht nur darum, es affirmativ anzunehmen, sondern auch darum, es zu kritisieren. Voraussetzung der Kritik ist allerdings im vorliegenden Fall die jahrelange Einübung und philosophische Reflexion. Nur was verstanden und durchdrungen wurde, kann kritisiert werden. Zwischen der deskriptiven Darstellung des Nondualismus und seiner Kritik liegen daher beim Verfasser dieses Buchs ca. 15 Jahre. Tab. 2: Glossar zur Nicht-dualisierenden Redeweise Terminologie
Verwandte verwendete Begriffe
Beschreibung (mit Quelle, wenn eine Beschreibung dort angegeben wurde)
Dualisierende Redeweise
Dualisierende Sprechweise, Dualisierende Denkweise, Dualismus, Objektierende Redeweise
Redeweise, die »die Idee eines von der Sprache ver- und unterschiedenen Objekts hervorgebracht hat« (Mitterer, Das Jenseits der Philosophie, S. 16)
Nicht-dualisierende Redeweise
Nicht-dualisierende Sprechweise, Nichtdualisierende Denkweise, Nondualismus, Nicht-objektierende Redeweise
Redeweise, die »eine ›sprachverschiedene‹ Wirklichkeit […] weder voraussetzt noch hervorbringt« (Mitterer, Das Jenseits der Philosophie, S. 8)
Objekt (in der Dualisierenden Redeweise)
Ding, Gegenstand, Sach- (in der Regel) von der verhalt, Ereignis, Sprache ver- und unterJenseits des Diskurses schieden; das, worüber geredet wird
Objekt (in der Nicht-dualisieren den Redeweise)
die Beschreibungen so far; »der ›letzte Stand der Dinge‹, die erreichten Diskurspositionen« (Mit terer, Das Jenseits der Philosophie, S. 86)
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DIE NICHT-DUALISIERENDE REDEWEISE
Objektangabe
Angabebeschreibung
Rudimentärbeschreibung, »deren Adäquatheit […] erhalten bleiben muss« (Mitterer, Das Jenseits der Philosophie, S. 77)
Rudimentär beschreibung
rudimentäre Beschreibung
etwa: /der Apfel auf dem Tisch/. »Häufig sind darüber hinaus noch andere Beschreibungselemente angegeben, vor allem Raum-Zeit-Koordinaten (in unserem Beispiel etwa dadurch, dass der Apfel auf dem Tisch liegt).« (Mitterer, Das Jenseits der Philosophie, S. 68)
Beschreibung so far
Diesseits (des Diskurses) »die geleistete Beschreibung« (Mitterer, Das Jenseits der Philosophie, S. 46)
Ausführungs zeichen
Beschreibung from now on
»die schon geleistete, ausgeführte Beschreibung« wird in der Nichtdualisierenden Redeweise in Ausführungszeichen gesetzt. Notation: /…/ (Mitterer, Das Jenseits der Philosophie, S. 43) Diesseits (des Diskurses) die »(noch) nicht geleistete[n] Beschreibung[en]« (Mitterer, Das Jenseits der Philosophie, S. 46)
›sprachverschieden‹ diskursjenseitig
von der Sprache ver- und unterschieden (Mitterer, Das Jenseits der Philoso phie, S. 16)
Neutrale Bezugsbasis
Objekt, auf das im Dualismus Beschreibungen gerichtet sind
Jenseits (des Diskurses)
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DIE NICHT-DUALISIERENDE REDEWEISE
Neutralistische Ausgangsbasis
Basiskonsens
Objekt, von dem aus im Nondualismus die (weiteren) Beschreibungen ausgehen
Paradogma
zum Dogma erhobenes Paradigma, in dem es »immer eine Wahrheit gibt, die […] nicht mehr verlassen werden soll« (Mitterer, Das Jenseits der Philosophie, S. 13)
Rezeptive Erkenntnisbeschreibung
Rezeptive Beschreibung
Wiederholung bereits bekannten Wissens (Mit terer, Die Flucht aus der Beliebigkeit, S. 49 ff.)
Kreative Erkenntnisbeschreibung
Kreative Beschreibung
Generieren von neuem Wissen (Mitterer, Die Flucht aus der Beliebig keit, S. 49 ff.)
Richtung des Den- Bezug, Referenz kens (in der Dua lisierenden Rede weise)
Auf das Objekt gerichtet
Richtung des Denkens (in der Nicht-dualisieren den Redeweise)
Weitergehen, Fortsetzen
Vom Objekt, von der Beschreibung so far ausgehend
Wirklichkeit (in der Dualisieren den Redeweise)
Das Jenseits des Diskurses (der Philosophie)
Voraussetzung (im Realismus) oder Hervorbringung (im Konstruktivismus)
Wirklichkeit (in Die Beschreibungen so der Nicht-dualisie far renden Redeweise)
»Der letzte Stand der Dinge«
pursuit of truth
Wahrheitsorientierte Philosophie
Streben nach Wahrheit (Mitterer, Das Jenseits der Philosophie, S. 86)
pursuit of change
Philosophie des Wandels »Streben nach Wechsel und Veränderung« (Mitterer, Das Jenseits der Philosophie, S. 13 und S. 86 und Die Flucht aus der Beliebigkeit, S. 102) 80
DIE NICHT-DUALISIERENDE REDEWEISE
Hellgraue Zeile bedeutet: Begriff, mit dem die Dualisierende Redeweise beschrieben wird (oder zumindest einige ihrer Varianten) Weiße Zeile bedeutet: Neuer Begriff der Nicht-dualisierenden Redeweise
Quelle: Eigene Systematik, Weber 2022.
81
5. Kritik der Nicht-dualisierenden Redeweise Eine Kritik an der Nicht-dualisierenden Redeweise sollte inhä rente Inkonsistenzen dieser zutage fördern. Weniger eindrücklich wäre eine Kritik der Nicht-dualisierenden Redeweise aus der Perspektive einer Dualisierenden (d.h. immer: klassisch objektorientierten) Redeweise. Ein ›Scheitern‹ der Nicht-dualisierenden Redeweise an der Dualisierenden Redeweise würde in eine philosophische Pattstellung führen, denn ebenso gut könnte die Dualisierende Redeweise scheitern, wenn man sie im Rahmen einer Nicht-dualisierenden Redeweise betrachtet. Ich versuche daher in der folgenden Kritik1 der Nicht-dualisierenden Redeweise, deren Grundannahmen immer mit einzubeziehen. Der zentrale konzeptionelle Vorschlag des Nondualismus lautet, siehe Kapitel 4: »Das Objekt der Beschreibung ist nicht beschreibungs- oder ›sprachverschieden‹, sondern jener Teil der Beschreibung, der bereits ausgeführt worden ist.«2 Es gibt also einen Teil der Beschreibung, der bereits ausgeführt worden ist. Aus dieser Aussage folgt, dass es einen (anderen) Teil der Beschreibung geben muss, der noch nicht ausgeführt worden ist. Der Satzteil »(anderer) Teil der Beschreibung« schließt aber den Satzteil »noch nicht ausgeführt worden« logisch aus. Damit man sagen kann, dass etwas Teil von etwas anderem ist, muss es bereits in irgendeiner Form bekannt, gegeben, hier: »ausgeführt worden« sein. Damit etwas Teil einer Beschreibung sein kann, muss die gesamte Beschreibung mitsamt diesem Teil gegeben sein. Man kann nicht sagen »Die Zukunft ist Teil meines Lebens.«, da nicht bekannt ist, ob es 1 Die folgenden Ausführungen sind nicht-eigenplagiatorische Wiedergaben und Zusammenfassungen einer Kritik, die ich erstmals im Englischen formuliert habe in Stefan Weber (2020): »Why Josef Mitterer’s Non-Dualism is Inconsistent«, Constructivist Foun dations (Jahrgang 15/Heft 2), 164–174. 2 Josef Mitterer (2011a): Das Jenseits der Philosophie. Wider das du alistische Erkenntnisprinzip, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 42. 83
KRITIK DER NICHT-DUALISIERENDEN REDEWEISE
diese gibt. Ich kann nur als 52-jähriger hic et nunc sagen: Die Studienzeit war Teil meines Lebens. Das setzt voraus, dass es auch andere Teile meines Lebens gegeben hat. Natürlich kann mengentheoretisch der Teil mit dem Ganzen zusammenfallen: Aber das war wohl nicht das, was Josef Mitterer gemeint hat. Denken wir an die Beschreibung »Wien ist die Bundeshauptstadt von Österreich.« Wenn ich nun behaupte, »Wien« sei der Teil der Beschreibung, der bereits ausgeführt worden ist und damit das Objekt der Beschreibung, dann irre ich mich. Es wurde ja nachweislich die ganze Beschreibung, nämlich »Wien ist die Bundeshauptstadt von Österreich.« bereits ausgeführt. Der Satz »Das Objekt der Beschreibung ist nicht beschreibungs- oder ›sprachverschieden‹, sondern jener Teil der Beschreibung, der bereits ausgeführt worden ist.« führt also genau betrachtet in einen Widerspruch: Wenn hier vom »Objekt der Beschreibung« die Rede ist, ist mit »Beschreibung« eine ganze Beschreibung gemeint, von der aber wiederum nur ein Teil bereits ausgeführt worden sein soll. Damit von einer ganzen Beschreibung aber überhaupt erst die Rede sein kann, muss sie bekannt, das heißt eben in toto »ausgeführt worden« worden sein. Die Beschreibung wurde somit sowohl zum Teil als auch zur Gänze bereits ausgeführt. Versuchen wir, der Nicht-dualisierenden Redeweise wie folgt prozessual entgegenzukommen: Wir reden ›über‹ Wien. Nun ist Wien das Objekt einer weiteren Beschreibung. Diese könnte nun etwa lauten: »Wien ist die Bundeshauptstadt von Österreich.« Nun ist das Objekt Wien jener Teil der Beschreibung, der vor ihr, also vor der Beschreibung »Wien ist die Bundeshauptstadt von Österreich.« bereits ausgeführt worden ist, also »Wien«. Modifizieren war daher den zentralen Vorschlag der Nichtdualisierenden Redeweise im Versuch, diesen stringenter zu formulieren: »Das Objekt einer weitergehenden Beschreibung ist nicht beschreibungs- oder ›sprachverschieden‹, sondern jener Teil der weitergehenden Beschreibung, der vor ihr bereits ausgeführt worden ist.« 84
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Diese Definition wäre gleichsam in die Zukunft gerichtet, und der Widerspruch, der durch die Projektion in die Vergangenheit entsteht, könnte vermieden werden. Oder? Auch dieser Vorschlag funktioniert nicht immer, wie folgendes Beispiel zeigt: Der Himmel leuchtet rot. Das Sofa ist rot. Welcher Teil der Beschreibung wurde hier vor der Beschreibung »Das Sofa ist rot.« bereits ausgeführt? Ganz offensichtlich nicht »das Sofa«, sondern »rot«. Dies würde nun aber heißen, dass das Objekt der Beschreibung »Das Sofa ist rot.« (die Farbe) rot ist, eine sicherlich absurde Behauptung. Das Objekt der ersten Beschreibung ist der Himmel, der rot leuchtet. Wenn nun die Beschreibung »Der Himmel leuchtet rot.« fortgesetzt wird mit »Das Sofa ist rot.«, dann wäre das Objekt der Beschreibung »Das Sofa ist rot.« eben nur (die Farbe) rot (der leuchtende Himmel kommt ja in der zweiten Beschreibung gar nicht vor). Das wäre aber eine unsinnige Behauptung: Die zweite Beschreibung beschreibt ja das Sofa und nicht (die Farbe) rot. – Die Nicht-dualisierende Redeweise könnte einwenden, dass ein Objektwechsel erfolgt ist: vom Himmel zum Sofa. Nun finden wir in der Alltagskommunikation aber viele solche Beispiele, sodass die Nicht-dualisierende Redeweise hier nicht ausreichend konsistent erscheint. Meist reden wir auch in der Alltagskommunikation ›über‹ etwas, aber die Fortsetzung der Beschreibung ist bereits allen Diskurspartnern bekannt. Was hieße dann »ausgeführt worden«? Vom Sprecher früher bereits »ausgeführt worden«? Oder irgendwann einmal »ausgeführt worden«? Wenn ich ›über‹ Afrika rede, dann weiß ich in aller Regel, dass Afrika einer der Kontinente der Erde ist, ohne dies wiederholen zu müssen. Die Nicht-dualisierende Redeweise stößt immer dann auf Schwierigkeiten, wenn Fortsetzungen von Beschreibungen bereits bekannt sind und daher aktuell nicht (noch einmal) ausgeführt werden (müssen). Die Nicht-dualisierende Redeweise scheint nur dann zu funktionieren, wenn eine neue Information ›über‹ ein Objekt generiert wird. – Stellen Sie sich etwa vor, dass Sie Ihre Körpertemperatur messen. Das ist ein Datum, das sie und andere zum Messzeitpunkt nicht kennen. 85
KRITIK DER NICHT-DUALISIERENDEN REDEWEISE
Sagen wir also, uns interessiert Stefan Webers aktuelle Körpertemperatur und wir führen eine Messung durch. Nach der Messung können wir sagen: »Stefan Webers aktuelle Körpertemperatur beträgt 36,6 Grad.« Das Objekt der Beschreibung vor der Messung war S tefan Webers aktuelle Körpertemperatur. Die weitergehende Beschreibung ist jene, dass Stefan Webers Körpertemperatur 36,6 Grad beträgt. – Somit reduziert sich das Funktionieren der Nicht-dualisierenden Redeweise auf Daten, die durch eine Messung generiert wurden und vorher nicht bekannt waren, und dies auch nur in der modifizierten Version des Grundgedankens: »Das Objekt einer weitergehenden Beschreibung ist nicht beschreibungs- oder ›sprachverschieden‹, sondern jener Teil der weitergehenden Beschreibung, der vor ihr bereits ausgeführt worden ist.« Betrachten wir nun den zentralen Notationsvorschlag: »Wenn ich das Objekt einer Beschreibung als schon ausgeführte Beschreibung erkläre, setze ich die schon geleistete, ausgeführte, [sic] Beschreibung nicht in Anführungszeichen (») [sic] sondern in Ausführungszeichen (/). Damit soll eine Verwechslung zwischen dem Objekt der Beschreibung, das heißt der geleisteten Beschreibung, und der Beschreibung des Objekts, also der zu leistenden Beschreibung, vermieden werden.«3 Wenn behauptet wird, dass die Beschreibung des Objekts eine »zu leistende[n] Beschreibung« ist, dann wurde sie zumindest im ›Wirklichkeitsausschnitt‹, der hier offenbar beobachtet werden soll, noch nicht geleistet. Wenn ich sage: Dein zu leistendes Arbeitspensum sind heute fünf Buchseiten, dann habe ich diese noch nicht geschrieben. Eine noch nicht geleistete, noch nicht ausgeführte Beschreibung kann aber nicht mit Anführungszeichen (») kenntlich gemacht werden. Das ist denkunmöglich und führt wieder in den weiter oben bei der Kritik des zentralen konzeptionellen Vorschlags bereits aufgezeigten Widerspruch, dass die Beschreibung sowohl vorhanden (da mit 3 Ebenda, S. 43. 86
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Anführungszeichen gekennzeichnet) als auch nicht vorhanden (da erst zu leisten) ist. Mitterer nennt die bereits ausgeführten, bereits geleisteten Beschreibungen die Beschreibungen so far; die noch nicht ausgeführten, noch zu leistenden Beschreibungen hingegen die Beschreibungen from now on. Mit anderen Worten: Die Beschreibungen from now on sind die, von denen wir noch nichts wissen (können), da sie eben noch nicht erbracht wurden. Sobald sie aber gekennzeichnet werden können, wurden sie bereits erbracht. – Dieses Problem spitzt sich im Buch »Das Jenseits der Philosophie« zu. Beschreibungen from now on sind zunächst die »(noch) nicht geleisteten«4 Beschreibungen. Deutlicher kann man ja kaum sagen, dass die Beschreibungen noch nicht aufgestellt wurden, dass sie sich erst in der Zukunft ereignen werden. In weiterer Folge sind aber die Beschreibungen from now on »die in Frage stehenden Beschreibungen«5. Damit aber eine Beschreibung in Frage stehen kann, muss sie bereits ausgeführt worden sein. Damit ich mich fragen kann, ob das Dreieck hier gleichschenklig oder ungleichschenklig ist, müssen die Beschreibungen »Das Dreieck hier ist gleichschenklig.« und »Das Dreieck hier ist ungleichschenklig.« bereits vorliegen. Wir gelangen zu einer fundamentalen Kritik der Nicht-dualisierenden Redeweise: Es ›gibt‹ nur Beschreibungen so far. Jede Beschreibung, die wir angeben, ist insofern eine ausgeführte Beschreibung und eine Beschreibung so far. Eine Beschreibung, die wir nicht angeben, ist denkunmöglich und widersprüchlich. Es entsteht ein Widerspruch dieser Art: »Dieses Dreieck ist gleichschenklig.« wurde noch nicht gesagt. Indem gesagt wurde, dass »Dieses Dreieck ist gleichschenklig.« noch nicht gesagt wurde, wurde »Dieses Dreieck ist gleichschenklig.« gesagt. Der Nicht-dualisierenden Redeweise kann daher das Kon strukt der Beschreibungen from now on zum Vorwurf gemacht werden: Es handelt sich um eine Klasse von Beschreibungen, die gleichzeitig da sind (markiert werden können) und nicht da 4 Ebenda, S. 46. 5 Ebenda, S. 80. 87
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sind (noch nicht geleistet wurden). – Aus dieser Inkonsistenz folgt nun aber interessanter Weise nicht, dass die Nicht-dualisierende Redeweise as a whole Unsinn wäre. Wir müssen uns nur von der inkonsistenten Unterscheidung von Beschreibungen so far und Beschreibungen from now on trennen. Übrig bleiben die Beschreibungen so far und übrig bleibt damit die Erkenntnis, dass die Beschreibungen so far auf gewisse Weise mit der Wirklichkeit (dem ›letzten Stand der Dinge‹, der sich durch das Weitergehen der Zeit kontinuierlich verschiebt) ›zusammenfallen‹. Wenn ich behaupte, dass Beschreibungen mit der Wirklichkeit ›zusammenfallen‹, erinnert das an Nelson Goodman (unsere Welt ›besteht‹ förmlich aus Beschreibungsweisen) als auch an Anton Zeilinger (Wirklichkeit ist Information). Im letzten Kapitel soll nun ein solcher Radikaler Lingualismus genau ausbuchstabiert (sic) werden, der auf die Mitterer’sche Unterscheidung von Beschreibungen so far und Beschreibungen from now on verzichtet, aber die Kritik am Dualismus (der Dualisierenden Redeweise) zu weiten Teilen teilt und das ›Sprachprimat‹ nicht mittels Unterscheidung von Beschreibungen so far und Beschreibungen from now on konzipiert, sondern über eine Einheit von Dingen und ihren Benennungen (hier soeben erfolgt durch die Benennung »Dinge«).
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6. Radikaler Lingualismus: Von Wittgenstein über den Konstruktivismus zu Mitterer Die philosophischen Debatten werden seit vielen Jahrhunderten von Auseinandersetzungen zwischen Realisten und Idealisten (oder Konstruktivisten), Dualisten und Monisten (oder Reduktionisten) oder Mentalisten und Lingualisten dominiert. Ein typischer Vertreter des Realismus, Franz von Kutschera, gibt die realistische Position eindrucksvoll wieder: »Im Alltag wie in den Wissenschaften sind wir alle Realisten. Wir glauben, daß unsere Welt vor ca. 15 Milliarden Jahren entstanden ist, daß es aber erst seit etwa 100 000 Jahren den homo sapiens als sprachbegabtes Wesen gibt. Die Welt hat also schon sehr lange existiert, bevor die ersten Menschen auftraten, und kann daher nicht Produkt menschlicher Erfahrungen und Ansichten sein.«1 Diese Position scheint auf den ersten Blick sehr einleuchtend zu sein: Die Welt ist viel älter als der Mensch und seine Sprache es sind. Wie kann damit jemals die Welt Produkt, Erzeugnis, Konstrukt des Menschen sein? Welchen Sinn würde es machen, zu behaupten, der Mensch habe die Dinosaurier konstruiert?2 Eine solche Aussage kann ja nur Unsinn sein, denn als es Dinosaurier gab, hat es den Menschen noch lange nicht gegeben. Auch die Sterne hat der Mensch mit Sicherheit nicht geschaffen. Nelson Goodmans Essay »On Starmaking« (1980) kann also höchstens ironisch verstanden werden. Diese naturalistische Antwort ist derzeit in der Philosophie und hier insbesondere im sogenannten »Neuen Realismus« 1 Franz von Kutschera (1994): »Zwischen Skepsis und Relativismus«, in: Georg Meggle/Ulla Wessels (Hg.), Analyomen. Perspek tiven der Analytischen Philosophie, Berlin/Boston: De Gruyter, S. 208. 2 In der in diesem Buch im Anhang abgedruckten Befragung zu Objektsprache und Metasprache antwortete ein Anhänger des Realismus: »Der Sinn, in dem wir die Welt und ihre Gegenstände irgendwie schaffen, konstruieren, konstituieren, muss noch gefunden werden.« 89
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– als Gegenposition zum früheren »Radikalen Konstruktivismus« – en vogue, siehe etwa die Arbeiten von Paul Boghossian, Quentin Meillassoux, Maurizio Ferraris u.a. Man grenzt sich ab von Kant und dem Idealismus, von jeglicher Philosophie, die die menschliche Erkenntnis in den Mittelpunkt stellt. Unvereinbar sei dies mit den modernen Erkenntnissen, heißt es, insbesondere mit jenen des 20. Jahrhunderts, wonach wir Menschen nur Planetenbewohner in einem Sonnensystem von vielleicht 100 bis 300 Milliarden von Sonnensystemen in einer Galaxie von vielleicht 100 bis 300 Milliarden von Galaxien sind. Geradezu vermessen und abwegig erschiene es, wenn sich der Mensch hier irgendwie in den Mittelpunkt der Erkenntnistheorie rücken würde. Denn ›in Wahrheit‹ sei er eine Randerscheinung irgendwo im Universum. – Diese realistische Position scheint im Einklang mit dem aktuellen naturwissenschaftlichen Weltbild zu stehen. Wir Menschen sollten uns, um es salopp zu sagen, mal nicht überbewerten, nicht zu wichtig nehmen. Wenn wir uns den Absatz von Franz von Kutschera noch einmal durchlesen, stellen wir fest, dass ›wir‹ häufig in ihm vorkommen (in verschiedenen Beschreibungen, im Folgenden kursiviert): »Im Alltag wie in den Wissenschaften sind wir alle Realis ten. Wir glauben, daß unsere Welt vor ca. 15 Milliarden Jahren entstanden ist, daß es aber erst seit etwa 100 000 Jahren den homo sapiens als sprachbegabtes Wesen gibt. Die Welt hat also schon sehr lange existiert, bevor die ersten Menschen auftraten, und kann daher nicht Produkt menschlicher Erfahrun gen und Ansichten sein.« Wir kommen in von Kutscheras Passage achtmal vor, die Welt kommt zweimal vor. Wir, der homo sapiens, sprachbegabte Wesen (eigentlich: sprachfähige) scheinen also notwendig zu sein, dass das überhaupt gedacht werden kann. Für von Kutschera wäre dies wohl trivial. Nicht trivial ist allerdings die einzig mögliche Ausflucht, die Rettung des Naturalismus und des Postulats der Beobachterunabhängigkeit der Kosmologie und Evolution: Es muss gefordert werden, dass es das Universum auch dann geben würde, wenn sich sprachfähige Lebewesen wie der Mensch nicht entwickelt hätten. Der Widerspruch 90
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zwischen der Annahme einer Möglichkeit, dass noch niemals jemand »Es gibt das Universum.« gesagt hat und der Notwendigkeit, dass zumindest einmal »Es gibt das Universum.« gesagt wurde, führt – wie in Kapitel 2 dieses Buchs gezeigt wurde – in einen bösartigen infiniten Regress. Die Bedingung der Möglichkeit, dass noch nie »Es gibt das Universum.« gesagt wurde, ist nämlich nichts anderes als die Notwendigkeit, dass zumindest einmal, und sei es hier soeben »Es gibt das Universum.« gesagt wurde. Der Realismus macht es sich einfach, er antwortet mit dem wohl beliebtesten Gegenargument gegen den Idealismus und den Konstruktivismus: ›Versuchen Sie mal, durch diese Betonwand hindurchzugehen, dann werden Sie ja sehen, dass der Realismus Recht hat.‹ Die konstruktivistische Einsicht, dass jede Aussage wie jene von Franz von Kutschera den menschlichen Beobachter voraussetzt und es gleichzeitig inkonsistent ist, ihn aus den Aussagen herauszunehmen, zu subtrahieren zu versuchen, sollte uns nicht zu einer Art der Mystifizierung unserer Existenz verleiten: Man könnte nämlich von einem Wunder sprechen, dass sich der Mensch überhaupt entwickelt hat, sodass er in der Folge die vergangene Existenz der Dinosaurier rekonstruieren konnte – und schließlich sogar den Urknall. Das sogenannte »anthropische Prinzip« geht in diese Richtung. Und wer weiß, was vor dem Urknall kam und wer weiß, welche Theorien nach der Urknall-Theorie kommen werden … Ein weiterer beliebter Einwand gegen den Konstruktivismus, der vom Realismus vorgebracht wird, ist jener, dass jede anthropozentrische Sichtweise nicht nur den ›tatsächlichen‹ Verhältnissen im Universum in keiner Weise gerecht wird, sondern auch die mögliche Existenz außerirdischen Lebens ausklammert. Nun würde aber für dieses außerirdische Leben dieselbe Gedankenbewegung gelten: Entweder, die Außerirdischen sind in einer ähnlichen Weise wie wir Menschen sprachfähig, oder sie sind es nicht. Sind sie es, gilt für sie derselbe Sprachrelativismus wie für uns. Sind sie es nicht, bleibt es beim Sprachrelativismus von uns Menschen. Der Primatenforscher Josep Call sagte in einer Fernsehdokumentation über die Intelligenz der Tiere: »Wenn Denken 91
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Sprache voraussetzt, woher kommt dann die Sprache?«3 Ähnlich von Kutschera: »Wären alle Unterscheidungen sprachlich vermittelt, so könnten wir aber keine Sprache erlernen, und da wir mit der Sprache in der Welt orientieren wollen [sic], müssen die sprachlichen Unterscheidungen sachlichen Unterschieden entsprechen.«4 Josep Call argumentiert also gegen einen Lingualismus und für einen Mentalismus: Er vertritt die Auffassung, es müsse ein nicht-sprachliches (von der Sprache unabhängiges, auch ohne Sprache mögliches, ›sprachverschiedenes‹) Denken geben, das Substrat der Sprachentstehung war und des Spracherwerbs ist. Anders ließen sich Sprachentstehung und -erwerb nicht erklären. Ähnlich Franz von Kutschera: Es muss ein Jenseits der Sprache geben, etwas, auf das sich die Sprache bezieht, sonst wäre das Erlernen einer Sprache gar nicht möglich. Das heißt: Ein »radikaler linguistischer Relativismus«5 wäre jedenfalls Unsinn. Call, von Kutschera und alle anderen Vertreter des Realismus und Mentalismus übersehen, dass nicht (nur) die Außenwelt oder das Denken Voraussetzungen für Sprachentstehung sind, sondern umgekehrt (und vor allem) auch die Sprache Voraussetzung für Beobachtungen mentalistischer Art ist. Der klassische Realismus, der Dualismus und der Mentalismus halten diesem Einspruch nun den hier bereits diskutierten ›ZweiStufen-Bau‹ der Unterscheidung von Objektsprache und Metasprache entgegen: Wir würden ja die Ebene wechseln, wenn wir nicht mehr ›über‹ Sprache und Welt, sondern ›über‹ die Erkenntnis von Sprache und Welt reden. Dabei wird aber übersehen, dass bereits Erkenntnisse der unteren Stufe, also jene 3 Gabi Schlag/Benno Wenz (2012): »Können Tiere denken?«, Dokumen tation auf ARTE, http://www.youtube.com/watch?v=J6rACspQetY. 4 Franz von Kutschera (1989): »Bemerkungen zur gegenwärtigen Realismus-Diskussion«, in: Wolfgang L. Gombocz/Heiner Rutte/ Werner Sauer (Hg.), Traditionen und Perspektiven der analytischen Philosophie. Festschrift für Rudolf Haller, Wien: Hölder-PichlerTempsky, S. 494. 5 Ebenda, S. 494. 92
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›über‹ Sprache und Welt, Lingualismus und Mentalismus usw. Teil der Metasprache sind. Dies wurde in Kapitel 3 dieses Buchs gezeigt. Denken wir nun die Erkenntnisse aus Kapitel 2 und 3 dieses Buchs zusammen: Der Satz »Das Universum würde es auch dann geben, wenn sich sprachfähige Lebewesen wie der Mensch nicht entwickelt hätten.« ist inkonsistent, weil er in einen bösartigen infiniten Regress führt. Der Satz »Die Sprache kommt aus dem Denken.« ist ein Teil der Metasprache und setzt damit Sprachentstehung und -beherrschung unweigerlich voraus, jede weitere Unterscheidung iteriert in höhere Metasprachen. – Hieße das nun, dass der »radikale linguistische Relativismus«, den von Kutschera klar ablehnt, unweigerlich Recht hat? Können wir mit Josef Mitterer dann so weit gehen und uns sogar in eine Nicht-dualisierende Redeweise einüben? Haben denn nun in letzter Konsequenz Realisten oder Konstruktivisten, haben Mentalisten oder Lingualisten recht? Was würde der Schwenk vom Radikalen Konstruktivismus zu einem Radikalen Lingualismus mit sich bringen? *** Nehmen wir zur Beantwortung dieser Fragen den Umweg über Ludwig Wittgenstein. Dieser schrieb 1931: »Die Grenze der Sprache zeigt sich in der Unmöglichkeit, die Tatsache zu beschreiben, die einem Satz entspricht (seine Übersetzung ist), ohne eben den Satz zu wiederholen. (Wir haben es hier mit der Kantischen Lösung des Problems der Philosophie zu tun.)«6
Dieses in der Auswahl »Vermischte Bemerkungen« publizierte Fragment von Wittgenstein ist von großer Wichtigkeit für unser Thema. Denken wir an die Tatsache, die dem Satz »Es schneit gerade.« entspricht: Eine solche Tatsache wäre das Schneien gerade. Also: Dem Satz »Es schneit gerade.« entspricht das 6 Ludwig Wittgenstein (1984): Werkausgabe, Band 8. Bemerkungen über die Farben. Über Gewißheit. Zettel. Vermischte Bemerkungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 463 f. 93
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Schneien gerade. Wittgenstein sagt nun: Es ist nur möglich, den Satz zu wiederholen (bei dieser Wiederholung dann ohne Anführungszeichen), wenn man den Sachverhalt ausdrücken will, den der Satz beschreibt. Im Satz »Dem Satz ›Es schneit gerade.‹ entspricht das Schneien gerade.« wird die Tatsache beschrieben, indem der Satzinhalt wiederholt wird. Wir kommen sozusagen aus der Sprache nicht heraus, das zeigt Wittgenstein zufolge ihre Grenze an. Trivialtautologisch formuliert: Solange wir sprechen, sprechen wir eben. Für Wittgenstein ist dies die »Kantische[n] Lösung«: Jenseits der Sprache, der Begriffe sind bei Kant die Anschauungen, ohne die die Begriffe leer wären, wie es in einer beliebten Kant-Paraphrase heißt. Die Formulierung »(seine Übersetzung ist)« bei Wittgenstein verwundert: Die Tatsache soll die Übersetzung des Satzes sein? Ist nicht vielmehr der Satz die Übersetzung der Tatsache? Es wird doch die Tatsache, dass es gerade schneit, in den Satz »Es schneit gerade.« übersetzt, oder nicht? Wie könnte umgekehrt die Tatsache, dass es gerade schneit, die Übersetzung des Satzes sein? Eine genaue Lektüre Wittgensteins zeigt, dass er den Begriff der »Übersetzung« für beide Denkrichtungen verwendet hat: die Übersetzung einer Tatsache in einen Satz und die Übersetzung eines Satzes in eine Tatsache: In der erweiterten »Wiener Ausgabe« der ebendort »Philosophische Bemerkungen« genannten Aphorismen-Sammlung sind im Umfeld der oben zitierten Passage zu den Grenzen der Sprache aus dem Jahr 1931 beide Denkrichtungen beschrieben. Einmal notierte Wittgenstein: »Rot ist die Farbe [sic] die ich in das Wort ›rot‹ übersetze. Aber was heißt es [sic] etwas in das Wort … zu übersetzen?«7 Dies ist ein Beispiel für eine Übersetzung einer Tatsache in einen Satz (hier in ein Wort). 7 Ludwig Wittgenstein (1999): Wiener Ausgabe, Band 3. Bemer kungen. Philosophische Bemerkungen, Wien/New York: Springer, S. 195. 94
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Ein andermal bemerkte er: »Es hat nun einen Sinn [sic] zu sagen: Ich sage ihm ›geh‹ …‹ und er übersetzt es in die Tat. Aber daß ich das nun nicht anders erklären kann als durch Wiederholung desselben Satzes, das zeigt die Grenzen /meiner/ Ausdrucksfähigkeit, die Grenzen der Sprache.«8 Und dies ist ein Beispiel für eine Übersetzung eines Satzes in eine Tatsache (hier einer Aufforderung in eine Tat). Die Übersetzung eines Satzes in eine Tat(sache) lässt sich also vor allem bei auffordernden Sprechakthandlungen beobachten, aber auch beim Empfänger der Mitteilung einer Diagnose etc. Und man könnte auch generell davon sprechen (sofern man eben bei diesem Dualismus bleiben will), dass Sprache in Wirklichkeit übersetzt wird, wann immer man etwas liest oder dem Diskurspartner zuhört und dabei ›mentale Bilder‹ evoziert werden. – Entscheidend ist nun, dass sowohl Wittgenstein I als auch – mit Abstrichen – Wittgenstein II zwischen Sprache und Wirklichkeit unterscheiden. Es gibt in Wittgensteins Denken grundsätzlich Grenzen der Sprache. Sprache wird auch nicht als Teil der Wirklichkeit aufgefasst, sondern die Wirklichkeit steht der Sprache gegenüber. Im folgenden Schaubild (Abb. 4) entspricht Wittgensteins Dualismus dem ersten Modell. Erst bei Markus Gabriel kommt es zur Einsicht, dass auch unsere sprachliche Erkenntnis Teil der Welt ist, dass also der Dualismus Sprache – Welt (oder Sprache – Wirklichkeit oder Sprache – Objekt), den die Philosophie über Jahrzehnte favorisiert hat, inkonsistent ist (zweites Modell, »Sprache als Teil der Wirklichkeit«). Das dritte Modell, jenes des Sprachidealismus/-konstruktivismus, ist mengentheoretisch dem zweiten gleichgestellt, allerdings mit dem Unterschied, dass der Sprache eine wirklichkeitserzeugende Funktion zukommt. Erst das vierte Modell, das der Nicht-dualisierenden Redeweise oder des in diesem Buch so genannten »Radikalen Lingualismus« versucht, auf den (Rest-)Dualismus von Sprache und Wirklichkeit zu verzichten, vor allem aber zieht es keine Grenze(n). 8 Ebenda, S. 194. 95
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Abb. 4: Sprache und Wirklichkeit im Dualismus, Konstruktivismus und Nondualismus
Quelle: Eigene Systematik, Weber 2022. Grafik: Hannes Fuß.
Entscheidend ist: Die Wittgenstein’sche Erkenntnis, dass man das, was ein Satz aussagt, nur durch die Wiederholung des Satzes ausdrücken kann, wird bei Mitterer zum Ausgangspunkt einer neuen Philosophie: Einer Philosophie, die den Satz und das, was er ausdrückt, zusammenzudenken trachtet: in einer Einheit von Beschreibung und Objekt. In Kapitel 5 dieses Buchs wurde die Mitterer’sche Unterscheidung zwischen Beschreibungen so far und Beschreibungen from now on kritisiert und gezeigt, dass Beschreibungen immer Beschreibungen so far sind. Beschreibungen from now 96
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on sind schlichtweg denkunmöglich, eben weil sie noch nicht bekannt sind. Der Fehler liegt bereits in der Verknüpfung von »Beschreibungen« und »from now on«. Es wurde gezeigt, dass es nicht möglich ist, zukünftige Beschreibungen bereits hic et nunc unter Anführungszeichen zu setzen. Zudem können Beschreibungen from now on nicht noch nicht geleistet sein, aber gleichzeitig (bereits) doch in Frage stehen. Ich nenne daher die diese Kritik berücksichtigende Form des Lingualismus nicht Nicht-dualisierende Redeweise, sondern »Radikalen Lingualismus«9. Radikal ist er deshalb, weil er anerkennt, dass … 1. … bei der Rede von der Interpretation eines Dings immer berücksichtigt werden muss, dass auch die Wahrnehmung als Ding bereits eine Interpretation ist; 2. … die weit verbreitete Auffassung des Realismus »Das Universum würde es auch dann geben, wenn sich sprachfähige Lebewesen wie der Mensch nicht entwickelt hätten.« einen bösartigen infiniten Regress auslöst und 3. … jede Unterscheidung zwischen Sprache und nichtsprachlicher Wirklichkeit Teil der Metasprache ist und somit Sprache zur Voraussetzung hat. Die Nicht-dualisierende Redeweise behauptet, dass die Idee einer von der Sprache verschiedenen Wirklichkeit eine Hervorbringung der Dualisierenden Redeweise ist. Der Verfasser dieses Buchs vertritt die Auffassung, dass jede Unterscheidung zwischen Sprache und sprachverschiedener Wirklichkeit zur Metasprache gehört. Wir ›sind‹ in Sprache, wenn wir zwischen Sprache und Nicht-Sprache unterscheiden. Der Klagenfurter Soziologe Franz Ofner sagte gesprächsweise: Wir können nicht zurück, womit er meinte: Wir können nicht zurück in die Zeit vor unseren Spracherwerb, etwa in die Zeit, in der wir einige Monate alt waren – die Sinne also schon sehr gut ausgeprägt waren, wir aber noch keine Vorstellung von Benennungen und 9 Den Begriff verwendet auch Josef Mitterer in einer Aufzählung der »Ismen«, die ihm bereits zugeschrieben wurden: »Und auch der Autor wurde als Konstruktivist, als Dekonstruktivist, als radikaler Lingualist, als Idealist, Rationalist, Relativist etc. eingestuft.« Josef Mitterer (2011b): Die Flucht aus der Beliebigkeit, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 18. 97
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Bezeichnungen hatten. Franz von Kutschera bemerkte: »Die These: ›Nur in einer Sprache können wir über eine Welt reden‹, ist trivial, da man eben nur in einer Sprache über etwas reden kann.«10 Sollte die Dualisierende Philosophie erst die Idee eines sprachverschiedenen Objekts hervorgebracht haben (wie es Josef Mitterer behauptet), woher kommt dann die Sprache (wie Josep Call fragt)? Wie konnte sich Sprache entwickeln, wenn es die sprachverschiedene Welt nicht schon vor der Sprache (phylo- wie ontogenetisch) gegeben haben soll? Die Nicht-dualisierende Redeweise und der Radikale Lingualismus würden antworten: Diese Positionen leugnen ja keinesfalls, dass es die Welt schon vor der Sprache gegeben hat. Sie weisen nur da rauf hin, dass die Beschreibung »Die Welt hat es schon vor der Sprache gegeben.« eine Beschreibung der Welt ist, und diese ist erst nach dem Spracherwerb möglich. Anders formuliert: Nur der Sprachfähige kann fragen: »Woher kommt die Sprache?« Wittgensteins Grenzen der Sprache – immer noch mit einem Jenseits, einer nichtsprachlichen realen Welt ›auf der anderen Seite‹ – sind bei Mitterer jene gedanklichen Grenzen, die entstehen, wenn nach dem Ursprung, dem Davor, dem Grund der Sprache und Sprachevolution gefragt wird. Wir können dies in der Nicht-dualisierenden Redeweise und im Radikalen Lingualismus genauso gut oder schlecht beantworten und denken wie in den Naturwissenschaften die Frage: Was war vor dem Urknall? Ein Argument gegen den Radikalen Lingualismus und die Nicht-dualisierende Redeweise wäre jenes, dass beide Denkrichtungen letztlich zum Solipsismus führen und damit unsinnig sind. Das Argument des Kritikers beginnt mit einer Interpretation des Nondualismus: Der Nondualismus würde behaupten, die Unterscheidung zwischen Sprache und Wirklichkeit sei eine rein sprachliche. Daraus würde der Nondualismus nun 10 Franz von Kutschera (1989): »Bemerkungen zur gegenwärtigen Realismus-Diskussion«, in: Wolfgang L. Gombocz/Heiner Rutte/ Werner Sauer (Hg.), Traditionen und Perspektiven der analytischen Philosophie. Festschrift für Rudolf Haller, Wien: Hölder-PichlerTempsky, S. 494. 98
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das Non sequitur ableiten, dass auch die Wirklichkeit eine rein sprachliche sei. Dieser Fehlschluss sei der des Solipsismus, denn dieser argumentiert gleichermaßen: Die Unterscheidung zwischen meiner mentalen Welt und der Welt da draußen ist eine meiner mentalen Welt. Daraus folgt (fälschlich!), dass auch die Außenwelt eine rein mentale sei, und zwar nur meine. – Aber die Analogie hinkt: Der Nondualismus behauptet nicht, dass die Unterscheidung zwischen Sprache und Wirklichkeit eine rein sprachliche wäre, denn allein schon mit der Annahme einer ›rein sprachlichen Unterscheidung‹ wäre ja wieder ein Dualismus zwischen Sprache und Nichtsprache vorausgesetzt. Die Voraussetzung des anschließenden Fehlschlusses wird also vom Nondualismus nicht geteilt. Ein weiteres Argument gegen den Radikalen Lingualismus und die Nicht-dualisierende Redeweise wäre jenes, dass der Verzicht auf die Unterscheidung von Sprache und Wirklichkeit nur auf Kosten eines begrifflichen Ersatzes (und damit zum Preis einer Begriffskonfusion) möglich ist: Wo der radikale Lingualist die Wirklichkeit meint, muss er eben dann etwa von ›Sprache 2‹ sprechen, während die ›traditionelle‹ Sprache dann ›Sprache 1‹ genannt werden muss. Denn irgendwie muss auch der Nondualist oder der radikale Lingualist zwischen »Donau« mit fünf Buchstaben und der Donau, die durch Österreich fließt, unterscheiden können. Die Antwort des radikalen Lingualisten würde lauten: Er kann ja zwischen beiden unterscheiden, eben durch Beschreibungen wie die vorherigen, durch Notationskonventionen wie »…« oder auch die entsprechenden Gesten dafür (hier: für Gänsefüßchen) in der Rede. *** Neben der außersprachlichen Welt, auf die sich unsere Benennungen und Beschreibungen ›beziehen‹, ›über‹ die wir sprechen, gibt es zumindest eine weitere Selbstverständlichkeit, die in der bisherigen Philosophie so gut wie nie infrage gestellt wurde: Es ist unsere Idee, ja Überzeugung, dass der Zeit pfeil in die Zukunft zeigt und nicht in die Vergangenheit(en). Wir hinterfragen ja auch so gut wie nie, dass wir uns nicht 99
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an die Zukunft, sondern eben nur an die Vergangenheit erinnern können (frei nach Stephen Hawking). Aber was geschieht, wenn wir uns an die Vergangenheit erinnern? Wie sahen wir etwa unsere Kindheit vor drei oder vier Jahrzehnten, wie sehen wir sie heute? Die Vergangenheit, so scheint es, wird mit jedem Denken an sie, mit jedem Rückblick ›geändert‹. In einer weiteren, neben der Nicht-dualisierenden Redeweise und dem Radikalen Lingualismus zu entwickelnden (oder vielleicht sogar diese Positionen weiterentwickelnde?) Denkweise wäre der Zeitpfeil nicht als ein linearer Pfeil in die Zukunft gerichtet (in unserer Kultur immer symbolisiert von links nach rechts; links ist die Vergangenheit, rechts die Zukunft, in der Mitte das sich stets ›verschiebende‹ Jetzt), sondern er würde immer wieder von Neuem zurückgehen. Es ist das, was Stephen Hawking den »Top-down-Ansatz« anstelle des »Bottom-up-Ansatzes« genannt hat: »Top-down-Ansatz – der kosmologische Ansatz, bei dem man die Geschichte des Universums von ›oben nach unten‹ verfolgt, das heißt rückwärts vom gegenwärtigen Zeitpunkt aus.«11 »Botttom-up-Ansatz – in der Kosmologie die Annahme, dass es eine einzige Geschichte mit einem wohldefinierten Ausgangspunkt gibt und dass sich der derzeitige Zustand des Universums aus diesem Anfang entwickelt hat.«12
Wie auch Josef Mitterer in einer Zwischenüberschrift in einem frühen Text bemerkte: »History is his (or her) story.«13 Der in die Zukunft gerichtete Zeitpfeil unseres bisherigen Denkens birgt streng betrachtet sogar einen Widerspruch in sich, ähnlich wie Mitterers noch nicht ausgeführte Beschreibungen from now on. Einen Zeitpfeil, der in die Zukunft gerichtet ist (was immer dieses Gerichtet-Sein wie bei einem 11 Stephen Hawking/Leonard Mlodinow (2010): Der große Entwurf. Eine neue Erklärung des Universums, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 182. 12 Ebenda, S. 180. 13 Josef Mitterer (1989): »Der König von Frankreich lebt oder Die Wirklichkeit auf Reisen«, in: Konkursbuch 21, Reisen, Tübingen: Claudia Gehrke, S. 100. 100
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Vektor bedeuten mag), kann es gar nicht geben, da die Zukunft noch nicht bekannt ist. Die folgende weit verbreitete Abstrahierung ist also eigentlich inkonsistent:
»Zeitpfeil« Gegenwart/Jetzt Zukunft Vergangenheit
Diese Vorstellung des einen in die Zukunft gerichteten Zeitpfeils könnte in einer alternativen Denkweise ersetzt werden durch 1. die Einsicht, dass die Zukunft unbekannt ist und 2. die Einsicht, dass sich Zeitpfeile immer nur in die Vergangenheit richten können:
Vergangenheiten
Gegenwart/Jetzt (schreitet fort)
Ein »Fortschreiten« der Zeit kann auch als Ausdehnung einer Zeitspanne rückwärts betrachtet werden: Es entstünde im alternativen Modell mehrerer (zahlreicher) nach rückwärts gerichteter Zeitpfeile somit kein Widerspruch. Wir wissen nicht, warum wir uns an die Vergangenheit erinnern können, aber nicht an die Zukunft. Trivialerweise könnten wir einwenden: Würden wir uns an die Zukunft ›erinnern‹ können, die gleichzeitig noch nicht passiert ist, könnten wir diese ändern. Dies führt scheinbar zu einem gedanklichen Widerspruch. Würde ich mich an die Zukunft erinnern, würde ich bereits jetzt wissen, wann ich heute Abend nach dem Schreiben das Büro verlassen werde. Ich könnte mich dann aber bewusst dafür entscheiden, das Büro früher oder später zu verlassen, also eine Abweichung von der ›Erinnerung an die Zukunft‹ vorzunehmen. Oder nicht? Oder würde ich ebendiese Abweichung auch wissen, wenn ich mich ›an die Zukunft erinnere‹? Je mehr man ›darüber‹ nachdenkt, desto mehr erscheint einem die Konstruktion, dass die Erinnerung nur in die 101
RADIKALER LINGUALISMUS
Vergangenheit reicht, durchaus rätselhaft. Warum sollte gerade dies eine Selbstverständlichkeit sein? Und entspricht obiges alternatives Schaubild nicht viel besser unserer Situation als ein in die Zukunft gerichteter Zeitpfeil? Wenn man ›über‹ sein bisheriges Leben nachdenkt, gewinnt man in seltenen Momenten den Eindruck, es hätte nicht anders kommen können, ja fast: es sei schon einmal gelebt worden. Es gibt so viele Geheimnisse und Rätsel unserer Existenz und unseres Universums, dass es viel zu schade ist, ausgetretene Pfade erneut zu gehen. Josef Mitterer sprach von einer Philosophie der Veränderung anstelle von einer Philosophie der Wahrheit (»pursuit of change« statt »pursuit of truth«). Trauen wir uns also zu, neue Probleme attraktiv zu machen – wie etwa: 1. Wenn die sprachverschiedene Wirklichkeit eine Idee, eine Hervorbringung der Sprache ist, woher kommt dann die Sprache? 2. Warum ist ein »Ich wäre nie geboren worden.« genauso unverstellbar wie ein Universum ohne sprachfähige Menschen? 3. Was würde sich in Bezug auf einige bösartige infinite Regres se ändern, wenn es eine Welt bereits vor dem Urknall unseres Universums gegeben hätte, es also keinen naturwissenschaftlich plausibilisierten Regressunterbrecher gegeben hätte? 4. Warum können wir uns an die Vergangenheit erinnern, aber nicht an die Zukunft? Der Mensch, der Beobachter, seine Sprache – das kann man nicht vom Beobachteten, vom Besprochenen abziehen. Diese Erkenntnis prägte das 20. Jahrhundert der Menschheit – angefangen von Wittgenstein II über Whorfs linguistisches Relativitätsprinzip bis zu den autopoietischen Systemtheoretikern und Radikalen Konstruktivisten. Josef Mitterer hat mit seinem Nondualismus nun auch den Radikalen Konstruktivismus einer Kritik unterzogen und damit das philosophische Denken weiter radikalisiert. Die um den Widerspruch des Konstrukts der Beschreibungen from now on bereinigte Nicht-dualisierende Redeweise nenne ich Radikalen Lingualismus. Seine Leitthemen sind die Sprache als Voraussetzung der Welterkenntnis und die unwissbare Zukunft, also Sprache und Zeit. 102
RADIKALER LINGUALISMUS
Dass wir in Sprache denken und reden können und dass wir uns nicht an die Zukunft, sondern nur an die Vergangenheit erinnern können, das bleiben die Rätsel der Philosophie. Sie bleiben dies auch ohne auf Platons Höhlengleichnis zurückgehende Vorstellungen einer Computersimulation oder einer Simulationshypothese, aber freilich erst recht mit diesen, auch wenn diese wiederum dualistischer Art sind. Sinn und Zweck der Philosophie ist die Bestimmung des Stellenwerts des Menschen im Universum. Alle Debatten von Materialisten und Immaterialisten, von Monisten und Dualisten, von Konstruktivisten/Idealisten und Realisten, von Lingualisten und Mentalisten kreisen letztlich nur darum. Dieses Buch ist die Niederschrift eines Philosophierens, das die Nicht-dualisierende Redeweise angeregt hat. Der Nondualismus eröffnet einen neuen Schauplatz jenseits des Dualismus von Sprache und Wirklichkeit und auch jenseits des Dualismus von Realismus und Konstruktivismus. Von Francisco Varela stammt das Bonmot: Die Wissenschaft versteht es bestens, metaphysische Annahmen zu zerstören, aber sie liefert keinen Ersatz. Die Suche geht weiter. – Und bis auf Weiteres gilt die Übung: Versuchen Sie einmal, Ihre Sprache vom Nicht-Sprachlichen fein säuberlich zu trennen. Reflektieren Sie etwa den Fluss Ihrer (dualistisch gesprochen:) auch sprachlichen Gedanken und versuchen Sie, diesen vom Nicht-Sprachlichen abzugrenzen. Das ist gar nicht so einfach. Es ›gibt‹ in einer nondualistischen oder radikal-lingualistischen Sichtweise daher keine »Grenze der Sprache« im Sinne Wittgensteins, und damit keine Unterscheidung sprachlich/ nicht-sprachlich, die empirisch durchzuhalten wäre. Etwas ›ist‹ nicht ›in Sprache‹ (oder ›Teil der Sprache‹) oder nicht. – Ich erinnere an die gesprächsweise Frage von Josef Mitterer: Sind wir beim Zeigen auf ein Objekt noch im sprachlichen Bereich oder schon jenseits, schon auf der anderen Seite? Wie sieht das der Dualismus? Mit dem Verzicht auf diesen Dualismus von Sprache/Nicht-Sprache ist eine Weltbeobachtung möglich, die die Welt eben nicht von der Sprache her denkt (wie die bisherige idealistische, relativistische und konstruktivistische Sprachphilosophie), sondern beide, Sprache und Welt, zusammendenkt. 103
Anhang
Objekt- oder Metasprache? Antworten von 29 Sprachphilosophen Meine untenstehende E-Mail-Anfrage ging im Jahr 2012 an 29 vorwiegend deutschsprachige Sprachphilosophen. Ich wollte wissen, ob der Satz »Die Welt gab es schon, bevor jemals ›Es gibt die Welt.‹ gesagt wurde.« zur Objektsprache oder zur Metasprache gehört. Neun Sprachphilosophen ordneten den Satz der Objektsprache zu. Vier Sprachphilosophen ordneten den Satz der Metasprache zu. Drei Sprachphilosophen verzichteten auf eine Zuordnung zur Objektsprache oder Metasprache. Dreizehn haben nie geantwortet. Fünf der neun Vertreter der Zuordnung zur Objektsprache relativierten ihre Ansichten auf meine Nachfragen und schrieben dann entweder, dass sie sich geirrt hätten, der Satz also doch der Metasprache zuzuordnen sei, oder aber, dass die Unterscheidung von Objektsprache und Metasprache in diesem Fall gar nicht sinnvoll angewendet werden könne. Auch weil es sich bei den Antwortenden fast ausnahmslos um prominente Philosophen und zum überwiegenden Teil um Autoren von sprachphilosophischen und logischen Grundlagenwerken handelt, habe ich die Namen der Antwortenden durchgehend aus den E-Mails gestrichen. Hier meine E-Mail-Anfrage: Hallo XX, ich bitte Sie um Beantwortung einer fachlichen Anfrage. Die Welt gab es schon, bevor jemals »Es gibt die Welt.« ge sagt wurde. Ist dieser Satz Teil der Objektsprache oder der Metasprache? Oder nichts von beidem? Ich darf Sie weiter höflichst bitten, Ihre Einordnung zu begründen. Viele Grüße Ihr PD Dr. Stefan Weber
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OBJEKT- ODER METASPRACHE?
OBJEKTSPRACHE – 1 Sehr geehrter Herr Weber, in meinen Augen handelt es sich eindeutig um einen Satz der Objektsprache. Herzliche Grüße OBJEKTSPRACHE – 2 Hallo Herr PD Dr. Weber, ich würde erst einmal sagen, dass das ein objektsprachlicher Satz ist. Mit freundlichen Grüßen OBJEKTSPRACHE – 3 Lieber Herr Weber, das ist ein objektsprachlicher Satz mit einem metasprachlichen Zitat. Im zweiten Satzteil wird über Sprachliches berichtet. Das ist die semantische Hauptfunktion von Anführungszeichen. Im ersten Satzteil werden Wörter gebraucht, im zweiten erwähnt. Mit freundlichen Grüßen OBJEKTSPRACHE – 4 Sehr geehrter Herr Weber, scheint mir der Objektsprache anzugehören (es wird über die Welt gesprochen). Der ausgezeichnete Zeitpunkt wird allerdings mithilfe eines metasprachlichen Ausdrucks formuliert. Mit freundlichen Grüssen
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OBJEKT- ODER METASPRACHE?
OBJEKTSPRACHE – 5 ja klar, Objektsprache, alles andere ist reiner Unsinn; nur: die Frage nach der Wahrheit einer Aussage setzt die Aussage voraus. Ihr OBJEKTSPRACHE – 6 Sehr geehrter Herr Weber Weil man ja auch sagen könnte: »Die Welt gab es schon, bevor etwas gesagt wurde.« ist der Satz in meinen Augen ein objektsprachlicher. Auf den Inhalt des Sagens kommt es ja nicht an. Es wird nicht über einen bestimmten Ausdruck geredet. Wenn »Ich sitze auf dem Stuhl« objektsprachlich ist und »›Stuhl‹ hat fünf Buchstaben« metasprachlich, dann wird in Ihrem Hauptsatz über die Welt gesprochen, in dem Nebensatz über das Sprechen über die Welt. Ich hoffe, dass Ihnen damit weitergeholfen ist. Mit freundlichen Grüssen OBJEKTSPRACHE – 7 Sehr geehrter Herr Weber, das ist doch wohl ein ausgedachtes Problem. – Wenn man dem überhaupt einen Sinn geben will, könnte man doch sagen, der Satz, dass es die Welt gibt, sei die Feststellung einer (empirischen) Tatsache, und dass jemand sagt, es gebe die Welt, sei eine andere Tatsache. Es ist wohl wahr, dass die Welt schon gewesen sein muss, wenn jemand, der in der Welt ist, sagt, dass er in der Welt sei. Es könnte logischerweise doch sein, dass es die Welt gibt, aber noch niemals gesagt wurde, dass es sie gibt. Freundliche Grüße
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OBJEKT- ODER METASPRACHE?
OBJEKTSPRACHE – 8 Schnelle Antwort: »Es gibt die Welt« ist einfach die Anführung direkter Rede, wie: Hans hat gesagt: »Meine Oma ist krank«. Solche zitierte direkte Rede rechnet man normalerweise nicht zur Metasprache, sondern zur »wiederholten Rede«. Metasprachlich wäre der Satz: »›Es gibt die Welt‹ besteht aus vier Wörtern«. Hier wird etwas über die Sprache des Satzes gesagt. Gruß OBJEKTSPRACHE – 9 I think the question has no simple answer. :) but if you insisted that i make a decision i would say it is object language. I say it is object language because this sentence is an object or complement in a subordinate clause. (Auf meine nochmalige Nachfrage:) I am standing by my solution. it is object language. METASPRACHE – 1 Lieber Herr Weber, es sind ja im Ganzen drei Sätze: – Die Welt gab es schon (einst). – Es wurde (jemals) gesagt. – Es gibt die Welt. Der Haken dabei ist, dass zwei Sätze temporal miteinander verschränkt sind: »Die Welt gab es schon, bevor …« Oder: Die Welt hatte es schon gegeben, bevor jemand etwas sagte. Dann ist der Innensatz (Metaebene) die Antwort auf die Frage: Was hatte jemand gesagt? Folgerung: Objektsprache: Es 110
OBJEKT- ODER METASPRACHE?
gab die Welt, bevor jemand x sagte. Metasprache: Es gibt die Welt. Dabei soll man sich nicht irreleiten lassen von der Inhaltsähnlichkeit der Sätze: »Es gab die Welt« und »Es gibt die Welt«. Das ist m. E. bei der Beurteilung von Objekt- und Metaebene irrelevant. Mit freundlichen Grüßen (Auf meine Nachfrage, ja was denn nun …:) Sie können generell davon ausgehen, dass wörtliche Rede immer Metasprache ist. Mit freundlichen Grüßen METASPRACHE – 2 Lieber Herr Weber, entschuldigen Sie bitte die Verzögerung, ich bin gerade erst von zwei Konferenzen zurückgekommen. > Es gab die Welt schon, bevor jemals »Es gibt die Welt.« ge sagt wurde. > Ist dieser Satz Teil der Objektsprache oder der Metaspra che? Oder > nichts von beidem? Ich darf Sie weiter höflichst bitten, Ihre > Einordnung zu begründen. Auf der metasprachlichen Ebene, aufgrund der Bezugnahme auf den Satz »Es gibt die Welt« – die reine Verwendung von »Es gab die Welt« für sich alleine genommen wäre objektsprachlich, aber das Erwähnen dieses Satzes bringt einen auf die Metaebene. (Die Objektsprache ist übrigens normalerweise ein echter Teil der Metasprache.) Wenn Sie noch weitere Fragen haben, schreiben Sie mir doch bitte einfach. Schöne Grüße
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OBJEKT- ODER METASPRACHE?
METASPRACHE – 2 (Fortsetzung) Lieber Herr Weber, > Ich habe tatsächlich noch – erwartungsgemäß – eine Folge frage: Folgt > daraus, dass der Satz zur Metasprache gehört, erkenntnis theoretisch > irgendetwas? > Etwa im Sinne von: Die der Sprache prioritäre Welt ›gibt‹ es erst, > insofern bzw. seitdem wir sprechen? nein, gar nicht: Metasprachlich zu sprechen, heißt einfach nur, über Sprache zu sprechen. Man sollte sich halt darüber klar sein, wann man über die, sagen, wir, physikalische Welt spricht und wann über Sprache selbst, aber für viele wissenschaftliche Disziplinen ist es ganz normal, über Sprache zu reden (z.B. die Linguistik oder die Logik). > Ich teile Ihre Auffassung, dass der Satz der Metasprache an gehört. > Allerdings habe ich nicht nur bei Ihnen, sondern auch bei 28 anderen > Philosophen nachgefragt (rein aus Interesse und Neugierde, kein > Zusammenhang mit einer Publikation o.Ä.). Neun ordne ten den Satz auf > Anhieb der Objektsprache zu, nur vier der Metasprache. > Interessanterweise haben auf mein Nachhaken mehrere der neun > Vertreter der objektsprachlichen Sicht Ihre Ansicht revidiert und dann > behauptet, der Satz gehöre streng genommen doch zur Me tasprache oder > die Unterscheidung von Objekt- und Metasprache sei auf den Satz gar > nicht anwendbar, da keine formale Sprache vorliege. 112
OBJEKT- ODER METASPRACHE?
Es stimmt, dass die Unterscheidung bei formalen Sprachen viel klarer ist, aber es gibt kein grundsätzliches Problem, den Ausdruck »metasprachlich« über formale Sprachen hinaus auf Sätze und Fragmente der natürlichen Sprache anzuwenden. Dort würde ich ihn dann einfach als synonym zu »auf natursprachliche Sätze Bezug nehmend« verstehen. Was die natürliche Sprache aus philosophischer Sicht schwierig – aber auch interessant – macht, ist, dass die natürliche Sprache als Ganzes als ihre eigene Metasprache angesehen werden kann; dass bei der natürlichen Sprache Objekt- und Metasprache zusammenfällt. Aus eben diesem Grunde lässt sich die Eigenschaft der Wahrheit von natursprachlichen Sätzen nicht wieder in der natürlichen Sprache selbst definieren. (Dies folgt aus Arbeiten Alfred Tarskis aus den 1930er Jahren.) Dies ist aber ein semantisches, kein erkenntnistheoretisches Problem. > Wie immer, ist man nachher mehr verwirrt als vorher ;-), aber > vielleicht können Sie mir mit der Beantwortung der oben ge stellten > Frage doch noch ein wenig weiterhelfen. > Beste Grüße und Danke für Ihre Antwort! Jederzeit! Schöne Grüße METASPRACHE – 3 Lieber Herr Weber, vielen Dank für Ihre fachliche Frage. Die Objektsprache ist die Sprache, die Objekt ist. Die Metasprache ist die Sprache, mit der man über die Objektsprache spricht. In dem Beispiel von Ihnen gehört der Satz »Es gibt die Welt« zur Objektsprache (und auch zur Metasprache, da diese ja darüber spricht, also den Satz auch enthalten muss) und der Satz »Die Welt gab es schon, bevor jemals ›Es gibt die Welt‹ gesagt wurde« gehört zur Metasprache. Mit freundlichen Grüssen 113
OBJEKT- ODER METASPRACHE?
METASPRACHE – 4 Lieber Herr Weber! Zunächst hätte ich gesagt, der Satz ist korrektes Deutsch, und in der Umgangssprache sind Objekt- und Metasprache nicht klar geschieden. Die Anführungsstriche sind ja einfach Teil des Deutschen. Aber man kann auch sagen, dass man mit der Verwendung von Anführungen schon über Sprachliches spricht und damit automatisch die Objekt-/Metasprachen-Unterscheidung macht. Und dann gehört Ihr Satz natürlich zur Metasprache und der darin angeführte Satz zur Objektsprache (auch wenn der gleiche Satz im Imperfekt im Hauptsatz Ihres Satzes vorkommt). Die Hauptsache an Ihrem Beispielsatz ist aber, dass er wahr ist, und dass jeder, der meint, ihn irgendwie bestreiten zu müssen, offenbar schlechte philosophische Gründe dafür haben muss. Der Sinn, in dem wir die Welt und ihre Gegenstände irgendwie schaffen, konstruieren, konstituieren, muss noch gefunden werden. Freundliche Grüße WEDER-NOCH – 1 Dear Stefan: No taxonomy is faultless; all categories have fuzzy boundaries; all systems leak; some tokens fit in two categories at once. The question, then, is probably not: Is this ›x‹ or ›y‹? but: What can we say about the world if we call this ›x‹ or ›y‹? Best wishes WEDER-NOCH – 2 Weder-noch. Das Weder-noch erklärt sich so, dass eine Aussage dazu, ob ein sprachlicher Ausdruck zur Objekt- oder Metasprache gehört, nur anhand einer formalen Beschreibung einer Sprache 114
OBJEKT- ODER METASPRACHE?
getroffen werden kann. Objektsprache ist die Sprache, die z.B. eine formale semantische Analyse in ihren Eigenschaften beschreibt; während Metasprache die Sprache der Theorie ist. Da kein solcher theoretischer Rahmen für ihr Beispiel geliefert wurde, kann diesbezüglich keine Aussage getroffen werden. LG WEDER-NOCH – 2 (Fortsetzung) Hallo Herr Weber! Wie ich schon sagte, hat diese Unterscheidung eigentlich nur in einer formal aufgebauten Semantik ihren Platz. Und natürlich darf dann die Objektsprache keine Zeichen der Metasprache enthalten, weil es sonst zu Zirkularitäten oder Anomalien kommt. Der bekannteste Fall ist der von »ist wahr«, dessen Besprechung sich ausführlich z.B. bei Alfred Tarski findet. Über ihr Beispiel kann deshalb nichts gesagt werden, weil es sich um Umgangssprache handelt, und eben nicht um eine semantische Beschreibung eines Ausschnittes einer Sprache. Das Beispiel enthält überhaupt keine Metasprache/Theorie; und in diesem Sinne auch keine Objektsprache, die von einer Theorie beschrieben wird. Am 11.03.2012 11:31, schrieb Stefan Weber: Hallo Herr XX, bitte entschuldigen Sie, dass ich nochmals nachhake: Ich bin von der Regel ausgegangen (und deshalb auch meine Frage), dass die Objektsprache keine Zeichen der Metasprache ent halten darf, das habe ich in ähnlicher Terminologie bei Tarski oder Russell gelesen. Wenn ich nun etwa den Satz in einen Kontext wie den folgen den einbette: Die Welt ist viel älter als die menschliche Sprache. Die Welt gab es schon, bevor jemals ein Mensch »Es gibt die Welt.« ge sagt hat. Kann DANN eine klare Aussage getroffen werden? LG sw 115
OBJEKT- ODER METASPRACHE?
WEDER-NOCH – 3 Hallo Dr. Weber, in Ihrem fettgedruckten Satz wird in deutscher Sprache sowohl über einen außersprachlichen als auch einen sprachlichen Gegenstand gesprochen. Der sprachliche Gegenstand – der Satz »Es gibt die Welt« – ist durch Anführungsstriche als solcher gekennzeichnet. Auf die Rede von Objekt- und Metasprache würde ich hier verzichten. Natürlich könnte man hinsichtlich Ihres fettgedruckten Satzes sagen: Objektsprache ist die deutsche Sprache, Metasprache ist ebenfalls die deutsche Sprache zuzüglich der Verwendung von Anführungsstrichen für die Kennzeichnung sprachlicher Gegenstände. Aber zur Lösung welches Problems sollte damit ein Beitrag geleistet werden? Etwa eine Entscheidung in der Realismus/Idealismus-Kontroverse? Lieber Herr Weber, ich würde mich freuen, wenn Sie mir etwas über den Hintergrund Ihrer Anfrage mitteilen würden. Mit freundlichen Grüßen ABSCHWÄCHUNGEN DER OBJEKTSPRACHEN-VERTRETER – 1 Lieber Herr Weber, meine erste Antwort war irreführend. Die Metasprache M einer Objektsprache O muss reicher sein als diese Objektsprache O. Alle in O formulierbaren Sätze müssen auch in M wiedergegeben werden können und zudem muss M noch Bezeichnungen für alle sprachlichen Ausdrücke von O enthalten sowie auf O bezügliche semantische Prädikate, wie »wahr«, die in O nicht vorkommen dürfen, um Antinomien zu vermeiden. Man kann also innerhalb der Metasprache zwei Teile unterscheiden: den nichtsemantischen und den semantischen Teil. Zum ersten Teil gehören alle Begriffe und Sätze von O, was nötig ist, um die Möglichkeit der Übersetzung aller Sätze von O in die Metasprache L zu gewährleisten. Zum zweiten Teil gehören alle Sätze von L, in denen Ausdrücke von 116
OBJEKT- ODER METASPRACHE?
O angeführt oder beschrieben werden und die Sätze, in denen diesen Ausdrücken von O Prädikate zugeschrien werden. Ihr Beispielsatz ist demnach ein metasprachlicher Satz, dessen erster Teil lediglich vom nichtsemantischen Vokabular von L Gebrauch macht. Mit besten Grüßen ABSCHWÄCHUNGEN DER OBJEKTSPRACHEN-VERTRETER – 2 Lieber Herr Weber, die Trennung (nicht Unterscheidung) von Sprachstufen bzw. Sprachen funktioniert nur in Kunstsprachen sauber. In der normalen Sprache sind Sätze wie Ihr Beispiel offensichtlich nicht ganz eindeutig zuordenbar. Wenn man sich entscheiden müsste, dann gehört der Satz aufgrund seines Themas der Objektstufe an. Beste Grüsse ABSCHWÄCHUNGEN DER OBJEKTSPRACHEN-VERTRETER – 2 (Fortsetzung) Lieber Herr Weber, man muss zwischen formalen Sprachen und natürlichen Sprachen unterscheiden. 1. Bei formalen Sprachen haben Sie zwei verschiedene, definitorisch eingeführte Zeichensätze, für die Objektebene und für die Metaebene. Schon aufgrund der in einem Satz verwendeten Zeichen können Sie dann entscheiden, ob der Satz der Objektoder der Metasprache angehört (also rein syntaktisch). Meines Wissens, contra Sukale, dürfen Sätze der Metasprache auch Zeichen der Objektsprache verwenden (bin aber kein Spezialist hierfür). Mir scheint sogar, sie müssen es: Wie sonst könnte ich in der Metasprache über die Objektsprache reden? Z.B. der metasprachliche Satz: »P ist ein einstelliges Prädikat«: Da kommt »P« aus der Objektsprache notwendigerweise drin vor. 2. Natürliche Sprache. Hier kann man nicht Objekt- und Metasprache unterscheiden, denn es ist nun mal nur eine Sprache. Wohl aber kann ich Sprachstufen unterscheiden, je nachdem, 117
OBJEKT- ODER METASPRACHE?
wovon gesprochen wird: von Objekten oder von Elementen der Sprache (also ein semantischer Unterschied). Darum meine kostenpflichtige Anfangsdiagnose Ihres Beispielssatzes: Gehört der Objektsprache an: Es wird nicht über Sprache, sondern über ein Objekt gesprochen. Was vielfach, auch in anderen Zusammenhängen, in der üblichen Logik nicht gemacht wird und was m.E. bisweilen (aber nicht immer) ein schwerer Fehler ist: Es wird nicht zwischen natürlicher Sprache und formalen Sprachen unterschieden. Hier scheint mir der Unterschied zentral. Beste Grüsse ABSCHWÄCHUNGEN DER OBJEKTSPRACHEN-VERTRETER – 3 Lieber Herr Weber, vielleicht bin ich gar nicht der Richtige, Ihre Frage zu beantworten. Ich habe Ihnen nur mein Verständnis von »Metasprache« kommuniziert, so wie ich den Ausdruck gelernt und im Laufe meines Lebens gebraucht habe, eben als Sprechen über Sprachliches: In »Der Wolf ist ein wildes Tier« wird der Wolf als Objekt in der Welt, in »›Wolf‹ ist ein Substantiv« wird »Wolf« als Wort besprochen: Metasprache. Es kann natürlich sein, dass es andernorts üblich ist, alles, was zwischen Anführungszeichen steht, als metasprachlich zu bezeichnen, was ja in der Tat nicht ganz sinnlos ist: Es ist ja ein Sprechen über Sprechen. Nach meiner Auffassung von Metasprache muss aber dieses Sprechen über Sprechen dann dieses Sprechen auch ALS SPRACHE thematisieren. Das ist in Ihrem Beispielsatz nicht der Fall. Beste Grüße > Sehr geehrter XX, > ich hoffe, ich werde Ihnen nicht lästig, aber: Ich bin von der Regel > ausgegangen, dass die Objektsprache keine Zeichen der Me tasprache > enthalten darf, das habe ich zumindest bei Tarski und Rus sell (in 118
OBJEKT- ODER METASPRACHE?
> ähnlicher Terminologie) so gelesen. Und egal, wo ich nach lese, finde ich die > Regel, dass mit Anführungszeichen, wenn sie nicht bloß der > Hervorhebung eines Begriffs dienen, Metasprache einher geht. Woher > »stammt« die Regel, dass ein Zitat wie in meinem Beispiel satz NICHT > zur Metasprache gehört? > Ihr nun noch mehr verwirrter > Stefan Weber ABSCHWÄCHUNGEN DER OBJEKTSPRACHEN-VERTRETER – 4 Sehr geehrter Herr Weber! Meines Erachtens hängt bei diesen Fragen sehr viel davon ab, inwiefern man Unterscheidungen, die für den Umgang mit formalen Sprachen getroffen wurden, auf die Umgangssprache überträgt. Die ganze Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache hängt bei Russell ja an der Typentheorie und dem Versuch der Vermeidung mengentheoretischer Paradoxien in der logischen Grundlegung der Arithmetik und bei Tarski am Versuch einer Definition eines Wahrheitsbegriffs für formale Sprachen. Davidson hat dann Tarski auch auf die Umgangssprachen angewendet. Das halte ich für einen Fehler. (Ebenso wie ich die Übertragung von Gödels Reaktion auf das Hilbert-Programm auf alle möglichen nicht-formalen Sprachen für einen Fehler halte.) Ich glaube, kurz gesagt, gar nicht, dass Widerspruchsfreiheit und die Differenz zwischen Objekt- und Metasprache für Umgangssprachen besonders relevant ist. Umgangssprachen sind eben keine Theorien, im Unterschied zu formalen Sprachen. »Die Welt gab es schon, bevor von ihr gesprochen wurde« ist m.E. eine umgangssprachliche Aussage, die beispielsweise Geologen und Evolutionsbiologen als wahr voraussetzen, ohne dass sie Teil ihrer Theorien wäre. Sie verwenden einfach Zeitdimensionen, die die Wahrheit dieser Aussage implizieren: Wenn Geologen die Welt, wie sie vor 150 Millionen Jahren war, erforschen, es vor 150 Millionen Jahren aber noch keine Menschen gab, dann erforschen sie Zustände 119
OBJEKT- ODER METASPRACHE?
der Welt, die ihrem eigenen Verständnis nach vor der Zeit lagen, als etwas über die Welt gesagt wurde. Ich glaube, die Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache hilft nicht, um die alltagssprachliche Voraussetzung der Zeit- und Weltbegriffe, die dieser wissenschaftlichen Forschung zugrunde liegen, in Zweifel zu ziehen. Aber vielleicht schreibe ich damit an Ihrer Frage völlig vorbei. Mit freundlichen Grüssen ABSCHWÄCHUNGEN DER OBJEKTSPRACHEN-VERTRETER – 5 Sehr geehrter Herr PD Dr. Weber, ich würde den Satz so verstehen, dass er bestimmte Ereignisse und den Bestand der Welt in Verbindung bringt. Es handelt sich in diesem Fall um Sprech- bzw. Aussageereignisse, die mit »Es gibt die Welt« spezifiziert werden. Die Verbindung, von der ich spreche, wird objektsprachlich konstatiert. Sicher kann man den Satz auch als metasprachlich interpretieren (es ist ja letztlich immer eine Frage der Interpretation). Das scheint mir aber erst einmal nicht so überzeugend. Mit besten Grüßen
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Nachwort – Mein Weg zur Philosophie Mein Interesse für Philosophie wurde wohl in der vorletzten Klasse des Neusprachlichen Gymnasiums geweckt, das ich in der Stadt Salzburg besucht habe. Mein damaliger PsychologieLehrer Wolfgang Mühlbacher betrat das Klassenzimmer unserer Klasse 7B zum ersten Mal und hob an mit: »Die Psychologie beschäftigt sich mit der Seele. Die Seele ist kein Gegenstand der Wissenschaft. Also ist die Psychologie keine Wissenschaft. – Bitte um Ihre Kommentare dazu!« Ich fand das damals sehr herausfordernd und konfrontativ – und dachte wahrscheinlich lange ›darüber‹ nach. Immerhin kann ich mich heute, mit 52 Lebensjahren, noch genau an diese Ableitung erinnern. Ich erinnere mich auch, dass ich als damals 16-jähriger den Begriff der »Seele« (in Opposition zu einer »materiellen« oder »physischen Welt«) radikal hinterfragt habe, was ja nichts Ungewöhnliches ist. Irgendwann, mit 12 oder 13 Jahren, hielt ich nämlich das Leben erstmals für sinnlos, weil es mit dem Tod endet. Da war es nur konsequent, sich über eine vermeintlich »unsterbliche Seele« wieder seine Gedanken zu machen. Wir lasen damals im Psychologie-Unterricht allerdings nicht Philosophie, sondern »Am Anfang war Erziehung« von Alice Miller. Ich kann mich an kein schulisches Fach so genau erinnern wie an dieses. Im zweiten Jahr meines »psychologisch-philosophischen Einführungsunterrichts« (wie er, glaube ich, damals hieß) hatte ich einen Lehrerwechsel, ein gewisser Geza Szigeti übernahm die Klasse 8B. Er war Dualist im Sinne von Popper und Eccles, also eigentlich »Triadist«, wenn man an Poppers Drei-WeltenTheorie mit der Kultur und dem Wissen als dritte Welt neben dem Geistig-Bewussten und dem Physisch-Materiellen denkt. Auch hier erinnere ich mich noch gut an eine Dokumentation, die wir damals im Schulunterricht guckten: Eine Sendung über das menschliche Schmerz-Phänomen, in der auch Popper und Eccles zu Wort kamen. Einem Mann wurden am Oberarm im Labor bewusst Schmerzen zugefügt, um seine Reaktionen zu erkunden und Hirnströme zu messen. Geza Szigeti sagte 121
NACHWORT – MEIN WEG ZUR PHILOSOPHIE
sinngemäß, auf alle Fälle aber mit dem Brustton der Überzeugung: Wie wir gesehen haben, ist das subjektive Schmerzempfinden des Mannes etwas völlig anderes als die physiologischen Vorgänge, die es auslösen können. Für meinen Philosophielehrer war klar, dass damit der Dualismus von Seele (Geist, Psyche, Bewusstsein, Mentalem, Immateriellem, Res cogitans, wie auch immer) und Materie (Gehirn, Soma, Körper, Physikalischem, Materiellem, Res extensa, wie auch immer) »bewiesen« sei. Ich indes neigte schon als 17-jähriger dazu, Lehrbuch-Positionen anzuzweifeln und sagte sinngemäß: Wer sagt das? Warum weist das auf einen Dualismus hin? Mein Lehrer war nicht sehr begeistert, wie ich mich erinnere. (Interessanter Weise wurde demselben Herrn Szigeti kurz vor dem Ende seiner Lehrerlaufbahn »Atheismus« vorgeworfen, er wurde Gegenstand der Medienberichterstattung. – Hat er seine Ansichten geändert oder wurde er zuletzt missverstanden? Ich habe ihn damals hoffentlich nicht missverstanden.) Für das mündliche Abitur wählte ich natürlich das Schulfach Philosophie, ich las mit kritischer Begeisterung Popper und Eccles sowie erstmals Kant. Geprüft wurde ich zum kategorischen Imperativ. Das Lesen von philosophischen Texten empfand ich endlich als geistige Befreiung und Inspiration, ganz im Gegensatz zum öden halbtägigen Auswendiglernen etwa einen Tag vor einem Geografie-Test. Nach meiner Matura verfolgte ich ernstlich den »bescheidenen« Gedanken: Ich will das Leib-Seele-Problem lösen. Popper und Eccles ließen mich mit ihrem Dualismus nicht mehr los. Ich studierte aber nur ein Semester lang Philosophie und gewählte Fächer aus Biologie an der Universität Salzburg, was mir ein gewisser Paul Weingartner in der Edmundsburg oberhalb der Salzburger Altstadt relativ kommentarlos bewilligte. (Ich hoffe, ich habe ihn damals nicht begrüßt mit den Worten: »Grüß Gott! Ich will das Leib-Seele-Problem lösen. Hier mein Vorschlag für ein Studium irregulare.« Denn irgendwie habe ich ihn als sehr indifferent in Erinnerung. Aber wahrscheinlich war es ihm auch unabhängig von meinen Ambitionen egal.) Nach einem Semester Vorlesungen in Logik und Ethik war ich sehr frustriert. Ich hatte mir die Universität völlig anders 122
NACHWORT – MEIN WEG ZUR PHILOSOPHIE
vorgestellt, als Fortsetzung des Diskursorts, den ich aus der Schule kannte. Aber da sprachen ältere Herren monologisch in Sälen mit schlechter Akustik und Säulen dazwischen. Man konnte sie weder richtig sehen noch hören. Eine schriftliche Klausur in Ethik bei einem Philosophen, der später Rektor an der Universität Salzburg wurde, empfand ich als Zumutung. Er und seine Kollegenschaft trieben mich schnell in die Flucht. Ich entschied mich für eine pragmatische Lösung und studierte jenes Fach, das damals fast alle meine Freunde belegten: Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Während mir sowohl die kritische Medienlektüre als auch die katholische Kirchenpublizistik – zwei der damals in Gestalt der beiden Ordinarien existierenden Schwerpunkte, einmal SPÖ, einmal ÖVP – verhasst waren, holte mich die Philosophie in den Personen meiner akademischen Lehrer Peter A. Bruck und Siegfried Zielinski wieder ein. Beide waren Professoren auf Zeit am Institut. Und sie waren ganz anders als der etablierte Rote und der etablierte Schwarze. Eines Tages hörte ich in der Cafeteria, wie Peter A. Bruck mit dem späteren Schriftsteller Peter Truschner, einem seiner damaligen Studenten, angeregt diskutierte. Man sprach vielleicht über Semiose, Signifikanten, Arbitrarität und Poststrukturalismus. Ich verstand minutenlang kein Wort und wusste: Da will ich hin! – Während meines Studiums wurde ich dann durch Peter A. Bruck mit der Ethnomethodologie vertraut gemacht, später eignete ich mir in Eigenregie den Radikalen Konstruktivismus Siegried J. Schmidts und anderer, die Systemtheorie Niklas Luhmanns und schließlich die Nicht-dualisierende Philosophie Josef Mitterers an. In meinen ersten beiden Seminararbeiten bei Peter A. Bruck waren meine Theorien noch die Ethnomethodologie von Harold Garfinkel und anderen sowie die Oralitäts- und Literalitätstheorie von Walter J. Ong. Das waren rückblickend meine ersten schriftlichen Theoriearbeiten. Auf die Philosophie Josef Mitterers wiesen mich fast zeitgleich mein »Doktorvater« Peter A. Bruck in seinem Diplomanden- und Dissertantenseminar sowie Siegfried J. Schmidt in einer noch unpublizierten, mir übermittelten Fassung von »Kognitive Autonomie und soziale Kontrolle« (so ein früherer Titel seines 1994 bei Suhrkamp veröffentlichten Buchs) hin. 123
NACHWORT – MEIN WEG ZUR PHILOSOPHIE
Die Nicht-dualisierende Philosophie (oder auch kurz: der Nondualismus) sollte mich nicht mehr loslassen. Nach dem ersten Daumenkino durch Mitterers Buch »Das Jenseits der Philosophie«, ca. 1993, dachte ich: Was will der denn? Ich versuchte, den Radikalen Konstruktivismus zu retten, den Mitterer in seinem Anhang scharf kritisierte, ja geradezu zerlegte – und dem ich mich damals intellektuell verbunden fühlte. Nach und nach sickerte Mitterers Position aber ein. Endlich hatte ich meine dualismuskritische, ja offenbar die gesamten Dualismen der Philosophie überwindende Position gefunden. Nach einem Vortrag von Siegfried J. Schmidt in Salzburg sprach ich mit einem älteren Zuhörer, einem Berliner Philosophen. Ich habe seinen Namen nie erfahren. Ich erzählte ihm vom Radikalen Konstruktivismus, der Kritik Mitterers an ihm und dem Versuch Mitterers, noch radikaler zu denken. Der Mann sagte: »Sie brauchen kein Stipendium für die weite Welt. Sie machen das alles in ihrem Kopf.« Das war irgendwann 1993 oder 1994. Fortan galt ich viele Jahre als erster »Jünger« Mitterers, wie es etwa der Medienphilosoph Reinhard Margreiter einmal in einer Publikation formulierte. Vor der Position Mitterers wurde ich gewarnt: Ich mache einen Karrierefehler, wenn ich mich nun auf die Speerspitze des Idealismus setze, sagte ein mittlerweile leider bereits verstorbener österreichischer Medienphilosoph. Warum ich eine Position favorisiere, die international nicht anschlussfähig sei, von einem Autor, dessen Werk nicht einmal ins Englische übersetzt wurde, sollte mich später ein bekannter österreichischer Politologe fragen. Man mache mit dieser Position doch keine Karriere. Gegenüber alternativen, wohl »karriereförderlicheren«, aber »erzählerischen« Formen der Philosophie wie etwa den Postmodernisten war ich immer sehr skeptisch. Ich las Jean Baudrillard und andere, wurde aber mit diesen nie warm. Mein anderer akademischer Lehrer neben Peter A. Bruck, Siegfried Zielinski, hatte ein besonderes Faible für diese. Hingegen war ich etwa von Texten wie »Die Beschleunigung der Bilder« von Peter Weibel mehr begeistert, vor allem wegen des Schreibstils und des Spiels mit Wörtern und neuen Begriffen. Auch der Stil Arthur Krokers hat mich eine Zeitlang beeindruckt. Funken 124
NACHWORT – MEIN WEG ZUR PHILOSOPHIE
sollte es aber letztlich nur mit dem »Jenseits der Philosophie« von Josef Mitterer. (Irgendwann, Jahre später auf einem Symposium, saßen Mitterer, Weibel und ich zusammen. Weibel sagte in seiner unnachahmlichen, immer leicht augenzwinkernden Art zu Mitterer über mich: »Du hast unseren besten Mann versaut.« Weibel hielt von Mitterers Philosophie nichts. Er sagte damals beim Abendessen: Vor einer Herzoperation braucht man ein virtuelles Abbild des Herzens. Also gibt es Beschreibung und Objekt.) Die Philosophie Josef Mitterers nahm eine zentrale Rolle in meiner Dissertation (1996) und in meiner Habilitationsschrift (2005) ein. Ich muss heute sagen, die Tragweite des Mitterer’schen Denkens damals noch kaum verstanden zu haben, aber auch die mögliche und berechtigte Kritik am Nondualismus nicht ausreichend durchgedacht zu haben. In meiner Habilitationsschrift unterschied ich weder zwischen Objektund Metasprache noch zwischen gutartigen und bösartigen infiniten Regressen – ein Makel, der offenbar nicht einmal dem genauesten meiner vier Gutachter, dem Marburger Philosophen Peter Janich, aufgefallen war. *** Im Jahr 2007 wurde mein erstes Kind Maximilian in Dresden geboren. Durch die Beobachtung seines Spracherwerbs wurde mein Interesse an der Philosophie wieder geweckt. Ich erinnere mich noch, als ich im Badezimmer unserer damaligen gemeinsamen Wohnung am Weißen Hirsch stand und mir dachte: »Jetzt will ich wissen, ob Mitterers Nondualismus konsistent ist. Ist er das, gibt es keine Seele, keinen Gott, kein Jenseits, keine Unsterblichkeit. Denn jeder metaphysische Dualismus ist dann widerlegt. Ist er inkonsistent, gibt es doch ›Hoffnung‹ auf ein Jenseits und alle Fragen stellen sich von neuem.« Ich hatte mir ernstlich gedacht, ich könne die großen Fragen der Menschheit an der Frage entscheiden, ob der Nondualismus »Recht hat« oder nicht. Als mein Sohn mit vielleicht eineinhalb Jahren in seiner Kleinkinder-Badewanne lag und draußen ein Auto vorbeifuhr, sagte er kurz darauf »Pframm!«. Das war seine Imitation des soeben gehörten Automotorengeräuschs. 125
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In Salzburg wohnte ich nahe der Itzlinger Kirche, und immer, wenn Maximilian als Kleinkind die Kirchenglocken hörte, sagte er »Gong!«. Ich dachte mir damals: Da muss es etwas von der Sprache Verschiedenes geben, einen Auslöser für die Lautmalerei meines Sohnes, der Nondualismus muss also Unsinn sein. Dass ich die Beschreibungen »Auto« oder »Kirche« schon ausgeführt hatte (im Nondualismus mit seiner eigenen, neuen Notation also dann die Beschreibungen /Auto/ oder /Kirche/), das kratzt ja meinen Sohn nicht. Alles andere wäre letztendlich Solipsismus! Für meinen Sohn muss es also einen »Außenreiz« geben, dessen Benennung durch mich für ihn herzlich unerheblich ist. Auch Fragen der Notation spielen da keine Rolle. Oder hat er am Ende doch »Pframm!« und »Gong!« von uns Eltern gelernt, und waren wir uns dessen nicht bewusst? In den folgenden Jahren war ich geradezu manisch philosophierend unterwegs. Philosophen von Peter Strasser bis Claude Gratton erhielten von mir über Jahre dutzende E-Mails zu jenen zentralen Fragen, die Mitterer in »Das Jenseits der Philosophie« aufgeworfen hat. Peter Strasser wurde nicht müde, mir zu schreiben, dass ein Denken, in dem Objekte Beschreibungen sind, ein Holzweg sei. Der Tisch in der Ecke habe eben keine Syntax, keine Semantik. Er habe keine Eigenschaften der Sprache, und er, Strasser, glaube auch, dass ich das wisse. Die Diskussionen mit Peter Strasser waren die fruchtbarsten und geistreichsten, die ich jemals hatte, weil er nicht aufhörte, ein freundlicher und doch hartnäckiger Opponent zum Nondualismus zu sein. Im Frühjahr 2010 wollte ich meine Erkenntnisse zu Papier bringen, wozu mich Peter Strasser ermutigte. Ich schrieb einige Seiten unter dem Arbeitstitel »Die Sagbarkeit des Unsagbaren«. Es war Konrad Paul Liessmann, der mich mit einer einzigen E-Mail zur Aufgabe meines Vorhabens brachte. In dieser E-Mail schrieb er sinngemäß: Das Wort »Donau« besteht aus Buchstaben, die Donau aber nicht, die fließt ganz gemütlich dahin. Niemand habe mit dieser Unterscheidung wirklich ein Problem!1 Ich wurde so sehr mit Mitterers neuer Notation der 1 Später sagte Liessmann in einem Magazin-Interview analog: Man kann einen armen Menschen nicht reich machen, indem man sagt, er sei reich. 126
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sogenannten Ausführungszeichen (/…/) sozialisiert, dass ich die Unterscheidung zwischen Objektsprache und Metasprache und die Kennzeichnung der Metasprache durch Anführungszeichen in der Philosophie (»…«) schlichtweg nicht zur Kenntnis nahm. Sie kam weder in meiner Dissertation noch in meiner Habilitationsschrift vor. Die Konfrontation mit der etablierten Notation und den Unterscheidungen der traditionellen Philosophie ließen mich mein Vorhaben eines neuen großen Manuskripts stoppen. Wenig später, im Juli 2010, wurde meine Tochter Anna geboren und ich stellte die Arbeit am Manuskript aus Zeit- und Prioritätsgründen endgültig ein. Die Beobachtung des Spracherwerbs meines zweiten Kindes war wichtiger geworden als die einsame Tätigkeit des Tippens. Bald war mir klar, dass ich weiter nachdenken müsse, ohne Philosophisches zu publizieren. Diese Phase hat 2008 begonnen und ab der E-Mail von Liessmann war mir klar, dass die Ideen- und Materialsammlung weitergehen müsse. Es folgten somit 14 Jahre des Nachdenkens, mal intensiver, mal wieder wochenlang nicht. Rückblickend glaube ich, dass ich damals sehr glücklich war, als ich über Fragen der Art einschlief: War der Tisch schon aus Holz, bevor dies mittels Prüfverfahren festgestellt wurde? Scheitert die These, dass der Tisch aus Plastik ist, am Tisch aus Holz oder an der Erkenntnis, dass er aus Holz ist? Wie Josef Mitterer mir gegenüber einmal sinngemäß sagte: Es ist ein Privileg, zu philosophieren. Während ich mit meinem zweiten Kind auf die Routineuntersuchung wartete, machte ich Skizzen zu infiniten Regressen. *** Ich habe mich oft gewundert, warum es kaum eine (kritische) Auseinandersetzung mit dem Nondualismus im realistischen Mainstream der Philosophie gibt.2 Ist die Position einfach zu 2 Eine Ausnahme bilden die österreichischen Philosophen Volker Gadenne und Peter Strasser. Siehe die Beiträge dieser in Alexander Riegler/Stefan Weber (Hg.) (2010): Die Dritte Philosophie. Kriti sche Beiträge zu Josef Mitterers Non-Dualismus, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. 127
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radikal, zu kontraintuitiv? Was kann das denn heißen, dass Beschreibungen und Objekte irgendwie ›dasselbe seien‹, aber Beschreibungen der Objekte über die Objekte hinausgehen? Oder hat sich gar niemand mit Mitterers Denkweise präzise genug beschäftigt? Geht das am Ende gar nicht, weil es auch bei mir Jahrzehnte dauerte? Fällt Mitterers Philosophie, die ein enorm fokussiertes Hineindenken erfordert, vielleicht dem zu oberflächlichen Lese- und Schreibverhalten in der Wissenschaft zum Opfer? Verschärft sich dieses Rezeptionsproblem noch durch Internet und Social Media? Spätestens 2010 war mir klar, dass ich die Diskussion selbst in die Hand nehmen und proaktiv führen müsse. Auf einem Symposium oder in einem Sammelband mit den »Arrivierten« war das nicht zu erwarten. In dieser Zeit erhielten (wieder) Peter Strasser, weiter Claude Gratton, Nicholas Rescher, Herbert Hrachovec, Franz Ofner und einige andere zahlreiche E-Mails zu gutartigen und bösartigen infiniten Regressen, zum Lügner-Paradoxon und zu Objekt- und Metasprache. Alle waren immer freundlich zu mir und nahmen sich die Zeit. Mein besonderer Dank dafür! Ich initiierte auch eine Diskussionsgruppe im Netz, um den Diskurs auf breiterer Basis zu führen.3 Wann immer es möglich war und ich einen »Leuchtturm« in einer meiner Lehrveranstaltungen ausmachte, regte ich an, dass sich dieser »Leuchtturm« mit dem Nondualismus beschäftigen möge.4 Ich konnte aber beileibe nicht erwarten, dass auch meine allerfähigsten Studenten innerhalb eines Semesters die 3 Diverse (seit 2011): »Die Paradogma-Diskussionsgruppe. Handelt es sich bei der Nicht-dualisierenden Philosophie Josef Mitterers um eine Grundlagenrevolution oder um Schabernack?«, https:// sprachewelt.iphpbb3.com. 4 Alexander Korab (2011): »Der Tisch, der in der Ecke steht ... Mitterers Non-Dualismus, Schrödingers Quantenmechanik sowie eine kritische Position gegenüber der infiniten Wahrheitssuche und weiteren wissenschaftlichen Fortschritten im Dienste des Kapitalismus«, Seminararbeit, Universität für angewandte Kunst Wien, https://plagiatsgutachten.com/blog/wp-content/uploads/2011/06/ Korab_Nondualismus.pdf. (Ich bin mir dessen bewusst, dass Seminararbeiten nicht zitierwürdig sind. Daher mache ich hier bewusst eine Ausnahme von dieser Regel.) 128
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Tragweite eines Denkens verstehen, für dessen Durchdringung ich 25 Jahre oder länger benötigt habe. Im Bürgerbräu in Bad Reichenhall diskutierte ich in diesen Jahren, in denen meine ersten beiden Kinder klein waren, alle anstehenden Fragen mehrfach stundenlang mit Josef Mitterer. Inwiefern ist das Dreieck vom »Dreieck« (nicht) verschieden? Was ist, wenn ich das Dreieck (die grafische Figur selbst) in den Satz integriere, also einen »Bezug« innerhalb des Satzes herstelle und etwa sage: »Dieses
ist nicht gleichschenklig.«
Ich nahm unsere stundenlangen Gespräche immer auf Tonband auf (zuerst analog, später mit dem Smartphone) und wir ließen uns zuvor eine gebackene Milzwurst mit einem dunklen Bier schmecken. Anschließend spazierten wir durch den Kurpark, ohne weiter zu philosophieren. Die Ergebnisse des jahrelangen Nachdenkens und Sammelns von Ideen und Aphorismen liegen nun vor. Die Kapitelthemen ergaben sich ›von selbst‹. Nichts fußte auf Planung. Es gibt allein zum Thema Aspektsehen dutzende Textdateien von mir. Insgesamt sind es knapp 300 Word-Dateien. Man schreibt sich mit so einem Buch förmlich seinen Wissensstand vom Leib, weil man das Gefühl hat, dass seine Gedanken nun reif genug sind. Ich nehme an, dass ich weiter philosophieren werde. Aber ich hoffe nicht, dass ich dieses Werk in zehn oder 20 Jahren mit einer ähnlichen kritischen Distanz lesen werde wie heute meine Dissertation oder meine Habilitationsschrift. Die in der Zukunft erkannten Lücken und Fehler – das sind wohl die Gewissheiten der Gegenwart. Aber es würde auch ohne Lücken und Fehler nicht bei der Gewissheit so far bleiben. Ich habe mich in den 30 oder mehr Jahren meines Philosophierens vom Radikalkonstruktivisten zum Nondualisten, vom Nondualisten zu seinem rigiden Kritiker und vom Kritiker des Nondualismus wieder zurück zu einem den Nondualismus partiell anerkennenden und wertschätzenden Denker gewandelt. Warum auch muss ich, so wie Josef Mitterer, einer Position über Jahrzehnte treu bleiben und diese vertreten? 129
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Nur eines ist für mich eine Gewissheit, eine Konstante: Man muss »Das Jenseits der Philosophie« gelesen haben und kein anderes Buch der Philosophiegeschichte. Deshalb besitze ich auch dieses eine Werk zehnmal oder öfter, in allen Auflagen, und die meisten Exemplare sind randvoll mit Unterstreichungen und Notizen. Ein Leben lang arbeite ich mich nun an diesem Buch ab, lese es immer wieder neu, interpretierte es neu (siehe dazu Josef Mitterers hier im Buch ansonsten unerwähnten Text »Über Interpretation«) – und dafür bin ich Josef Mitterer mehr dankbar, als ich es hier ausdrücken kann. Obwohl ich zugeben muss, dass dieser letzte Teilsatz dualistischer ist, als es mir lieb ist. *** Josef Mitterer sagte einmal, dass Maximilian, mein erstes 2007 geborenes Kind, das erste überhaupt sei, das mit einem Elternteil aufwachsen würde, der den Spracherwerb nondualistisch beobachtet, also mit dem Verzicht auf eine sprachverschiedene Welt. – Nun, ich war damals noch nicht so weit. Mein drittes Kind Lisa wurde im Juli 2021 geboren. Erst heute, 2022, kann ich grob erahnen, was es heißt, eine Welt zu sehen, in der einen vieles zum Lachen bringt und in der man derzeit (Stand zwölfeinhalb Monate) mit knapp zehn Wörtern auskommt: von »Gaga« bis »Ha-Tschi!«. – Aber selbst diese Rückprojektion verfällt schon wieder in den Fehler des Dualismus: Ich interpretiere die Zehn-Worte-Welt meiner Tochter auf Basis meiner Sprachwelt. Wir können nicht zurück. Salzburg, 24.08.22
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Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abb. 1: Schema eines bösartigen infiniten Regresses nach Claude Gratton 2010 . . . . . . . . . . . . Abb. 2: Nichtsprachliche Objekte, Objektsprache und Metasprache(n) . . . . . . . . . . . . . . . . Abb. 3: Objekt und Beschreibung in der Nicht-dualisierenden Redeweise . . . . . . . . . . Abb. 4: Sprache und Wirklichkeit im Dualismus, Konstruktivismus und Nondualismus . . . . . . . .
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Weitere kleine Abbildungen wurden ohne Nummerierungen und Überschriften in den Fließtext integriert. Tab. 1: Traditionelles und alternatives Verständnis von Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Tab. 2: Glossar zur Nicht-dualisierenden Redeweise . . . 78
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Literaturverzeichnis Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Blumer, Herbert (19952): »Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus«, in: Roland Burkart/Walter Hömberg (Hg.), Kommunikationstheorien. Ein Textbuch zur Einführung, Wien: Braumüller, 23–39. Glasersfeld, Ernst von (2008): »Can Dichotomies Be Tamed?«, Con structivist Foundations, Special Issue »The Non-dualizing Philoso phy of Josef Mitterer« (Jahrgang 3/Heft 3), 123–126. Goodman, Nelson (19932, Original 1978): Weisen der Welterzeu gung, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Gratton, Claude (2010): Infinite Regress Arguments, Dordrecht u.a.: Springer. Hawking, Stephen/Leonard Mlodinow (2010): Der große Entwurf. Eine neue Erklärung des Universums, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Mitterer, Josef (2011a, Original 1992 [verfasst 1973-78]): Das Jen seits der Philosophie. Wider das dualistische Erkenntnisprinzip, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Mitterer, Josef (2011b, Original 2001): Die Flucht aus der Beliebig keit, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Mitterer, Josef (1989): »Der König von Frankreich lebt oder Die Wirklichkeit auf Reisen«, in: Konkursbuch 21, Reisen, Tübingen: Claudia Gehrke, 95–103. Mitterer, Josef (1983): »Die Hure Wahrheit – auch Duerr ein Zuhälter?«, in: Rolf Gehlen/Bernd Wolf (Hg.), Der gläserne Zaun. Auf sätze zu Hans Peter Duerrs »Traumzeit«, Frankfurt am Main: Syndikat, 265–277. Mitterer, Josef (1978): Sprache und Wirklichkeit. Eine erkenntnisthe oretische Abhandlung, Graz: Dissertation, Universität Graz. Nagel, Thomas (2008, Original 1979): »Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?«, in: ders., Letzte Fragen. Mortal Questions, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 229–249. Popper, Karl R. (200511, Original 1934): Logik der Forschung, Tübingen: Mohr Siebeck. Riegler, Alexander/Stefan Weber (Hg.) (2010): Die Dritte Philoso phie. Kritische Beiträge zu Josef Mitterers Non-Dualismus, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. 133
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Josef Mitterers Non-Dualismus bei Velbrück Wissenschaft Alexander Riegler, Stefan Weber (Hg.) Die Dritte Philosophie Kritische Beiträge zu Josef Mitterers Non-Dualismus 260 Seiten · ISBN 9783938808887 · EUR 29,90 Autorinnen und Autoren aus den Bereichen Philosophie, Psychologie, Päda gogik, Soziologie, Kunstwissenschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaft sowie Politikwissenschaft erproben das Potenzial der Dualismuskritik Mitterers und erörtern offene Fragen, wie etwa jene nach dem Verhältnis des Non-Dualismus zum (Radikalen) Konstruktivismus oder nach der Vereinbarkeit mit der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour.
Josef Mitterer Das Jenseits der Philosophie Wider das dualistische Erkenntnisprinzip 128 Seiten · ISBN 9783942393256 · EUR 14,80 Das dualistische Erkenntnisprinzip in der Philosophie beruht auf der Voraussetzung einer Dichotomie zwischen Sprache und Wirklichkeit, Beschreibung und Objekt, Aussage und Gegenstand, zwischen dem, was wir reden, und dem, worüber wir reden. Josef Mitterer kritisiert das dualistische Erkenntnisprinzip im Rahmen einer non-dualistischen Argumentation, die ein Jenseits des Diskurses als Diskursregulativ weder voraussetzt noch hervorbringt.
Josef Mitterer Die Flucht aus der Beliebigkeit 128 Seiten · ISBN 9783942393263 · EUR 14,80 Die Dualisierende Redeweise ist eine philosophische Argumentationstechnik, mit deren Hilfe in Diskurskonflikten beliebige Eigenauffassungen immunisiert und beliebige Gegenauffassungen kritisiert werden können – so die zentrale These dieses Buches. Josef Mitterer widerspricht damit dem Selbstverständnis der Philosophie: In der Philosophie geht es, wenn überhaupt, darum, ein Publikum von der Wahrheit zu überzeugen. www.velbrueck-wissenschaft.de