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German Pages 261 Year 2013
Michael Auer
Wege zu einer planetarischen Linientreue? Meridiane zwischen Jünger, Schmitt, Heidegger und Celan
Wilhelm Fink
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der FAZIT-Stiftung
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Dank
Die vorliegende Studie ist die grundlegend überarbeitete, teilweise gekürzte und teilweise erweiterte Fassung einer Dissertation im Fach Neuere Deutsche Literaturwissenschaft: Deutsch-Italienische Forschungen, die im Wintersemester 2011/2012 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und der Facoltà di Lettere e Filosofia der Università degli Studi di Firenze angenommen wurde. Im Wesentlichen ist die Arbeit in den Jahren 2008 bis 2011 entstanden. Ein nationale Grenzen überschreitendes Kolleg in einer sich globalisierenden (oder vielleicht besser: einer sich planetarisierenden) Welt bringt den Vorzug komplexer, sich verschiebender institutioneller und personaler Vernetzungen mit sich, von denen ich immens profitiert habe. An erster Stelle bedanke ich mich ganz herzlich bei meiner Bonner Doktormutter Eva Geulen, die inzwischen in Frankfurt am Main lehrt. Ohne ihren ebenso offenen wie unbestechlichen Intellekt wäre die Arbeit in dieser Form nicht möglich geworden. Ebenfalls ganz herzlich bedanke ich mich bei meinem Florentinischen Co-Betreuer Giuseppe Bevilacqua, der meine Studien mit viel Generosität begleitet hat. Das Zweitgutachten wurde dankenswerterweise von Patrizio Collini (Florenz) übernommen. Dankbar verbunden bin ich den Instituten in Bonn und Florenz überhaupt. Mein besonderer Dank gilt Helmut J. Schneider, der nicht müde wurde, Gutachten für mich zu verfassen, sowie Ingo Stöckmann und Jürgen Brokoff, deren Expertise (vor allem zu Jünger) ich immer in Anspruch nehmen durfte. Sehr verbunden fühle ich mich außerdem dem Department of Germanic Studies der Indiana University in Bloomington, wo ich gelernt habe, was es heißt, eine politisch und theoretisch informierte Literatur- und Kulturwissenschaft zu betreiben. Zu bleibendem Dank verpflichtet bin ich Michel Chaouli, bei dem ich die Zusammenhänge von Politik und Ästhetik bei Kant erforschen durfte, und Bill Rasch, der mir das Denken Schmitts nahegebracht hat, ebenso wie Fritz Breithaupt, der mich immer wieder mit seinen Gedanken und Gutachten unterstützt hat, und Ben Robinson, aus dessen Kurs über den Index (im April 2008) die erste Idee zu einer Linien-Studie hervorgegangen ist. Ohne die Zeit an der Indiana University gäbe es die vorliegende Arbeit sicher nicht. Stipendien während der Promotion wurden mir verliehen von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, der FAZIT-Stiftung und dem Zentrum für vergleichende Europäische Studien (ZEUS) der Universität zu Köln. Diesen Institutionen danke ich nachdrücklich. Insbesondere meine Eltern waren geduldige finanzielle Förderer. Ihnen möchte ich an dieser Stelle ganz besonders herzlich danken. Auch für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses gilt der FAZIT-Stiftung mein aufrichtiger Dank.
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DANK
Meinen unermüdlichen Kritikern und Korrekturlesern Claude Haas (Berlin), Gwendolin Engels (Bonn) und allen zuvor Johanna Best (Düsseldorf ) möchte ich meinen besonders tief empfundenen Dank aussprechen, denn ihnen war ohne Zweifel die undankbarste Aufgabe aufgebürdet. Was vom Schliff des Ausdrucks und der Argumente auf sie zurückzuführen ist, lässt sich gar nicht ermessen. München, im April 2013
Inhalt
DANK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. GESCHOSS MIT VERZÖGERUNG: ERNST JÜNGERS PLANETARISCHE UMSCHRIFTEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Von einer Nationalistischen zu einer Planetarischen Perspektive . . . . . . . 1.1 Einleitung: „Kosmische Wirbel“ und „Planetarische Ordnung“ . . . . 1.2 Das Tagebuch im Grabengewirr verlieren: In Stahlgewittern . . . . . . . 1.3 Das Ende der Tagebuchform: Das Wäldchen 125 . . . . . . . . . . . . . . .
29 29 33 39
Exkurs: Das Planetarische bei Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
2. Planetarität und Textprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Über die Linie: Lesen und Schreiben als Präfigurationen . . . . . . . . . 2.2 Die Zeit des Planetarischen: Future Anterior . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Arbeit des Künftigen und die werdende Gestalt eines „neuen Kapitals“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 „Umriß einer werdenden Gestalt“: Das Formprinzip des Arbeiters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49 49 57
3. Der Planetarische Roman: Heliopolis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Eine Wiederbegegnung zwischen den Fronten . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der „Rückblick auf eine Stadt“ und die Zeitlichkeit der Planetarischen Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75 75 80
II. ZUKUNFTS-NAHMEN: CARL SCHMITT ZWISCHEN NOMOS UND NIHILISMUS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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62 68
1. Vom Globalen Liniendenken zum Planetarischen Großraumdenken . . . 87 1.1 Die ersten Globalen Linienziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 1.2 Beyond the Line: Das freie Meer und die Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1.3 Ein Planetarisches Großraumdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1.4 Die Westliche Hemisphäre und der Meridian . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
8
INHALT
2. Vom Einbruch der Zeit in das Spiel zum Einbruch des Spiels in die Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2.1 Hamlet als Allegorie des failing state . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2.2 Der Einbruch des Partisanen in die Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3. Katechontisches gegen Weltrevolutionäres Partisanentum . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Zukunfts-Nahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Grenzen der „ununterbrochenen Fahrt“: Schmitts Großraum-Katechontik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Schmitts Präfigurationen einer kommenden Heliopolitik . . . . . . . .
125 125 130 135
III. DIE LINIE UND KEIN ENDE: HEIDEGGER UND DIE „GRENZGÄNGER DES GRENZENLOSEN“ . . . . . . . . . . . . . . 137 1. Das Kreisen und der Planet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 De linea statt trans lineam: Heideggers Über „die Linie“ . . . . . . . . . . 1.2 Arbeit am Erbe der Metaphysik: Von der Onto-Theologie zur Onto-Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Die Arbeit des Negativen als Teleopoiesis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Sonne und Erde bei Hegel, Jünger und Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Erde in der Kehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vom Sein zur Zeit transzendieren: Sein und Zeit I . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Von der Zeit zum Sein ‚reszendieren‘: Sein und Zeit II . . . . . . . . . . . 2.3 Kants kopernikanische Revolution und Heideggers post-kopernikanische Kehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abschied (von) der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Das Abendland und der Abschied von der Sonne . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Strategien des Abschieds (von) der Präfiguration . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Eine Planetarische Begegnung, die im Kommen bleibt: Aus einem Gespräch von der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139 139 141 146 150 161 161 170 174 183 183 186 192
IV. „... DIE SONNE, UND NICHT NUR SIE, WAR UNTERGEGANGEN ...“: PAUL CELANS MERIDIANE . . . . . . . . . 195 1. Von der Gestalt zum Meridian und zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Gestalt und Begegnung im Zeichen der Paulownia . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Meridian als Planetarisches Gegenwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Einbruchstelle der Gestalt des Anderen: IN DER LUFT. . . . . . . . . . . .
197 197 201 209
INHALT
9
2.1 Die ‚Ergänzung‘ des Meridians und die Schließung des Gedicht(band)s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 2.2 Kommendes und Commodes, oder: Diesseits des Lustprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2.3 Hermetik und Dezentrierung: Die Garben Hoffnung und die Folgen der Niemandsrose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
AUSBLICK: WEGE ZU EINER PLANETARISCHEN LITERATURWISSENSCHAFT? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 1. 2. 3. 4.
Kostas Axelos’ „Planetarisches Denken“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Virilios „Planetarische Globalisierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jean-Luc Nancys „Literarische“ Mondialisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gayatri Spivaks Planetarische Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . .
229 234 238 245
BIBLIOGRAPHIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Einleitung
Nach dem Tod des Autors, dem des Menschen und dem des Subjekts verkündet Gayatri Spivak in Death of a Discipline nun den „Tod“ der Literaturwissenschaft. Dem Vermächtnis der „Disziplin“ bzw. des „Fachs“ will Spivak in einer neuen Literaturwissenschaft treu bleiben, die sich zukünftig an „planetarischen“ Maßstäben orientieren soll.1 Ihre Aufforderung, sich einem planetarischen, im expliziten Gegensatz zum globalen, Nachleben der Literaturwissenschaft zu verschreiben, fand bislang wenig Resonanz. Das mag vor allem daran liegen, dass nicht einsichtig wurde, was planetarisch in diesem Zusammenhang bedeutet. So ist in einer jüngst erschienenen Einführung in die „Literaturen und Kulturen des Globalen“ zu lesen, dass sich das Globale und das Planetarische „kaum in ihrem Bedeutungsspektrum“ unterscheiden.2 In einem 2010 veröffentlichen Sammelband, der „Das Planetarische“ sogar im Titel trägt, wird der Ausdruck ebenfalls weitgehend synonym mit ‚global‘ und ‚Globalisierung‘ verwendet.3 Dabei warnte Kostas Axelos schon 1964 vor einer solchen einfachen Identifikation: „Planetarisch bedeutet zweifellos das, was den Planeten Erde umfasst [...]. Es ist das Globale. Und doch ist diese Konzeption des Planetarischen noch zu wenig entwickelt, sie ist reichlich eindimensional und wenig aufschlussreich“.4 Wenn Spivak diese Warnung fast 40 Jahre später wiederholt und zudem Planetarität ganz entschieden von Globalität abhebt5, dann stellt sie sich – wenngleich unausdrücklich – in die Tradition einer Rede vom „Planetarischen“, die in der Weimarer Republik entstanden und insbesondere mit Namen wie Ernst Jünger, Carl Schmitt und Martin Heidegger verbunden ist. Diesem Narrativ verdankt Spivak (ob nun direkt oder indirekt6) weit mehr als nur das Wort ‚planetarisch‘. Der Gegensatz zum Globalitäts-Modell findet sich schon bei Carl Schmitt, der konstatiert, die internationale politische Ökonomie der Neuzeit, die er als „global“7 charakterisiert, sei mit dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der europäischen Welt-Hegemonie obsolet geworden. Die im 20. Jahrhundert anbre1 Siehe Gayatri Chakravorty Spivak, Death of a Discipline, New York 2003, S. 73. [Übersetzungen: ma.] 2 Ulfried Reichardt, Globalisierung. Literaturen und Kulturen des Globalen, Berlin 2010, S. 13. 3 Vgl. Ulrike Bergermann, Isabell Otto u. Gabriele Schabacher (Hgg.), Das Planetarische. Kultur – Technik – Medien im postglobalen Zeitalter, München 2010. 4 Kostas Axelos, Vers la pensée planétaire. Le devenir-pensée du monde et le devenir-monde de la pensée, Paris 1964, S. 46: „Planétaire signifie, sans aucun doute, ce qui embrasse la planète terre [...]. C’est le global. Cette conception du planétaire reste pourtant trop en extension, est assez plate et manque de compréhension.“ [Übersetzungen: ma.] 5 So schon in Gayatri Chakravorty Spivak, Imperative zur Neu-Erfindung des Planeten. Imperatives to Re-Imagine the Planet, hg. v. Willi Goetschel, Wien 1999, S. 44. 6 Es ist nicht klar, ob Spivak diese Tradition kennt; Schmitt und Heidegger werden aber im Kontext ihres Entwurfs zumindest erwähnt. Siehe Spivak, Death of a Discipline, S. 27, 33 u. 43. 7 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Jus Publicum Europaeum [1950], Berlin 1997, S. 56.
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EINLEITUNG
chende post-globale Ära bezeichnet Schmitt als „planetarisch“.8 Obwohl Spivak das Globale und das Planetarische nicht als historisch aufeinander folgende, sondern als konkurrierende Modelle versteht, lassen sich doch überraschende Parallelen zwischen ihrem „Planet-thought“9 und dem „planetarische[n] Denken“ nachweisen, das sowohl Heidegger als auch Schmitt fordern.10 Die Vermutung, Spivak nenne diese Traditionslinie nicht, weil Jünger, Schmitt und Heidegger allesamt dem konservativen, wenn nicht gar rechtsextremen Lager angehören, ist nicht zutreffend, da Spivak das planetarische Denken jenseits der politischen Kategorien von rechts und links konzipiert.11 Noch mit dieser anti-ideologischen Charakterisierung ihres planetarischen Entwurfs zeigt sie sich der deutschsprachigen Tradition verpflichtet. Die vorliegende Untersuchung rekonstruiert die Genealogie der Rede vom Planetarischen seit ihrer Entstehung in der Weimarer Republik. Das Planetarische profiliert sich als Gegenmodell zum Globalen und der Globalisierung, deren Zirkulationslogik an der Kugelform des Globus orientiert ist. Wo das Globale und die Globalisierung mit operationalisierbaren, vornehmlich wirtschaftlichen Prozessen von Zirkulation und Akkumulation rechnen, steht das Planetarische für grenzüberschreitende Begegnungen mit Anderen und ‚dem Anderen‘, deren Unvorhersehbarkeit das ökonomische Modell sprengt. Schon bei Ernst Jünger, der 1932 mit dem Arbeiter einen maßgeblichen Entwurf planetarischen Denkens und Schreibens vorgelegt hat, treten bestimmte literarische Verfahren ins Zentrum, die solche zukünftigen Begegnungen vorwegnehmen, ohne sie zu operationalisieren. Vielmehr nimmt sich die literarische Vorwegnahme, indem sie sich als Fiktion ausstellt, zugleich immer auch schon zurück – ohne dadurch jedoch schlechthin disqualifiziert zu werden. Es wird in der vorliegenden Untersuchung vor allem um diese literarischen Strategien gehen, mit welchen sich schließlich auch der Bogen von Jünger zu Spivak schlagen lässt. Deren Entwurf einer sich als planetarisch konzipierenden Literaturwissenschaft wird so als Versuch lesbar, die von Jünger entwickelten Lese- und Schreibstrategien in einer literaturwissenschaftlichen Methode zu institutionalisieren. Dadurch verspricht das literaturwissenschaftliche Klassenzimmer – „jener veränderliche Ort“12, an dem sich Gruppen gemeinsam Texte erarbeiten – zum Raum des Widerstands gegen die operationalisierten Zirkulationsprozesse der Globalisierung zu werden. Zunächst sollen einführend die beiden Modelle des Globalen und des Planetarischen sowie ihre theoretischen Implikationen kurz einander gegenübergestellt werden. Als Globalisierung bezeichnet man heute zumeist ein Ensemble zusammenhängender, vor allem wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen, die auf das Ziel 8 So erstmals in Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht (unveränd. Ausg. der 4., erw. Aufl. 1941), Berlin 1991, S. 61. 9 Spivak, Imperative zur Neu-Erfindung des Planeten, S. 46. 10 Martin Heidegger, Wegmarken, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1996, S. 424. So aber auch schon Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung, S. 61. 11 Siehe etwa Spivak, Death of a Discipline, S. 30. 12 Ebd., S. 26: „the classroom [...,] that changeful site“.
EINLEITUNG
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einer globalisierten Welt zustreben. Der Zusammenhang (und der spezifische Charakter) dessen, was als Globalisierung firmiert, ist in der Forschung zwar nicht unumstritten – Ulrich Beck etwa sieht in ‚Globalisierung‘ wenig mehr als ein Schlagwort13 –, aber der leitende Gesichtspunkt des durch einen Artikel über „die Globalisierung der Märkte“ popularisierten Titels14 ist auch heute noch fast durchweg ökonomisch.15 Das Verständnis von Globalisierung zeigt sich einer Zirkulationslogik verpflichtet, die von Prozessen der Mehrwertschöpfung geleitet wird. Wie Derrida und Nancy nachgewiesen haben, ist der Gedanke einer Akkumulation durch Zirkulation an die Doppelfigur von „Kapital“ und „Kapitale“ gebunden16: Um Gewinn zu bringen, muss das die gesamte Erde umlaufende Kapital in einem „Zentrum“ versammelt werden, das aber weder geographisch noch staatlich fixierbar sein muss.17 Dieses Verständnis von ökonomischer Wertschöpfung durch Kreisläufe, die tatsächlich in sich kreisen, entwickelt sich, wie Derrida außerdem zeigen konnte, zeitgleich mit der neuzeitlichen Vorstellung einer Reflexion des Subjekts in sich. Die ökonomischen und subjektphilosophischen Kreisbewegungen verbinden sich schließlich in der Geschichtsphilosophie, die das Zu-Sich-Selbst-Kommen des Menschen und die Vollendung der Geschichte als einheitlichen Prozess versteht, in dem ein wirtschaftlicher und ein humanitärer Fortschritt miteinander einhergehen.18 Mensch und Menschheit kommen, so das Versprechen des Globalen, über die Zirkulation ganz zu sich. Dieser geschichtsphilosophische Fortschrittsglaube, von Hegel maßgeblich formuliert und auf einen „Kreis von Kreisen“ zurückgeführt19, war im 19. Jahrhundert weit verbreitet und bot nicht zuletzt eine theoretische Rechtfertigung des Imperialismus, durch die sich die europäische Weltherrschaft zugleich als Zivilisierung
13 Siehe Ulrich Beck, „Die Eröffnung des Welthorizonts. Zur Soziologie der Globalisierung“, in: Soziale Welt 48 (1997), S. 3-16, hier S. 5. 14 Obwohl Globalisierung sowohl der Sache als auch dem Begriff nach schon früher bekannt war (im Oxford English Dictionary ist das Wort bereits in den 1940er Jahren belegt), ist der Ausdruck populär geworden erst in der Nachfolge von Theodore Levitt, „The globalization of markets“, in: Harvard Business Review 3 (Mai-Juni 1983), S. 92-102. 15 So Caroline Y. Robertson-von Trotha, Die Dialektik der Globalisierung. Kulturelle Nivellierung bei gleichzeitiger Verstärkung kultureller Differenz, Karlsruhe 2009, S. 8. Daher hebt Ulrike Bergermann den eher wissensspezifischen Charakter des „Planetarischen“ von dem vorwiegend ökonomischen der Globalisierung ab; siehe Ulrike Bergermann, „Das Planetarische. Vom Denken und Abbilden des ganzen Globus“, in: dies., Isabell Otto u. Gabriele Schabacher (Hgg.), Das Planetarische. Kultur – Technik – Medien im postglobalen Zeitalter, München 2010, S. 17-42, hier S. 17. 16 Vgl. Jean-Luc Nancy, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, übers. v. Anette Hoffmann, Zürich u. Berlin 2002, S. 49, sowie Jacques Derrida, Das andere Kap, Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, übers. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt a.M. 1992, S. 2930. 17 Derrida, Das andere Kap, S. 31-32. 18 Siehe Jacques Derrida, „Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text“ in: ders., Randgänge der Philosophie, übers. v. Gerhard Ahrens, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, S. 229290. 19 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, 2 Bde., hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1986, Bd. 2, S. 571.
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EINLEITUNG
der nicht-europäischen Welt inszenieren konnte.20 Im Globalitäts-Modell sind also politisch-ökonomische und philosophische Entwicklungen miteinander in einer „geistige[n] Geographie“21 verbunden. Hinzu tritt das, was man als eine geographische Anthropologie bezeichnen könnte, da die Spannung von Zirkulation und Akkumulation auch ein (Selbst-)Verständnis des Menschen als Menschen impliziert, der sich sowohl als Einzelner als auch als Kollektiv durch Zirkulation selbst verwirklichen können soll. Im Modell des Globalen sind philosophische, ökonomische und anthropologische Vorstellungen über die Figur des zurückkehrenden Kreisens ineinander verschränkt. Peter Sloterdijks Versuch einer „philosophischen Theorie der Globalisierung“ bringt die Identität und Zirkulation verbindende Logik des Globalen, die auf diesen verschiedenen Ebenen operiert, auf den Begriff des revenu.22 Ging man in der Forschung der 1980er Jahre noch davon aus, dass es sich bei der Globalisierung um ein erst in jüngster Zeit auftretendes Phänomen handle,23 wird heute der Zeitpunkt, an dem die Globalisierung eingesetzt haben soll, in der Regel viel weiter in die Vergangenheit zurückverlegt.24 Sloterdijk beispielsweise spricht von insgesamt drei Phasen der Globalisierung.25 Die erste Phase umfasst die griechische Antike, in der sich die Kugel (und damit die Sphäre26) als Grundform des Denkens durchgesetzt hat. Die zweite Phase wird durch die faktische Weltumsegelung der frühen Neuzeit eingeläutet und zeichnet sich dadurch aus, dass der (europäische) Mensch den Erdball als Ganzen zugänglich – und sich zunehmend untertan – macht. Gegenwärtig befinden wir uns (laut Sloterdijk) bereits in der dritten Phase. Im Gegensatz zur aggressiven außenpolitischen und überseeischen Politik der zweiten Globalisierungsphase hat sich die Moderne nun in einem „Weltinnenraum“ eingerichtet, in dem die „Außenwelt“ auf eine „verklärte Immanenz“ reduziert wird.27 Zirkulation findet nur noch innerhalb dieses sich selbst unsichtbar machenden Innenraumes statt, in dem Alteritäten von einem nur noch musealen – und, wie Sloterdijk gewohnt pointiert schreibt, „psychedelische[n]“28 – Interesse
20 Spivak wird in Death of a Discipline immer wieder auf Conrads Heart of Darkness verweisen, um die innere Brüchigkeit dieses imperialistischen Fortschrittsglaubens und mithin die Grenzen eines Globalisierungsdenkens zu betonen. Siehe Spivak, Death of a Discipline, S. 31, 66, 76-78, 81. 21 Derrida, Das andere Kap, S. 19. 22 Vgl. Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a.M. 2006, besonders S. 134-137. 23 Auch hierin war wegweisend Levitt, „The globalization of markets“. 24 Den ersten Globalisierungsschub verortet Erhard Schüttpelz sogar schon in der Out of Africa-Bewegung, „Weltliteratur in der Perspektive einer Longue Durée I: Die fünf Zeitschichten der Globalisierung“, in: Ezli Özkan, Dorothee Kimmich u. Annette Werberger (Hgg.), Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld 2009, S. 339-360. 25 Für die Dreiteilung der Globalisierung siehe Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, S. 21. 26 Die Sphäre wird zur Grundform des Denkens erklärt in Peter Sloterdijk, Sphären. Eine Trilogie, Frankfurt a.M. 2004. 27 Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, S. 265-266. 28 Ebd., S. 266.
EINLEITUNG
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sind. In diesem Weltinnenraum wird der Mensch höchstens noch von Langeweile und Unbehagen geplagt.29 Damit wäre die heutige Welt in die Phase eines Posthistoire getreten, dessen Anbruch nach dem „Ende der Geschichte“ etwa schon von Alexandre Kojève und Francis Fukuyama diagnostiziert wurde.30 Die Vorstellung eines Endes der Geschichte geht allerdings, wie auch Derrida im Rahmen seiner Fukuyama-Polemik zeigt, auf Hegel zurück und war schon um 1848 verbreitet.31 Dass Sloterdijk nun ausgerechnet den „Crystal Palace“ der Londoner Weltausstellung von 1851 zum Prototyp des Weltinnenraums macht, zeigt, dass sich auch seine Ansätze zu einer ‚philosophischen‘ Theorie der Globalisierung in erster Linie bei Modellen des 19. Jahrhunderts bedienen.32 Dieser Eindruck bleibt selbst dann bestehen, wenn Sloterdijk die dritte Phase der Globalisierung durch die technischen Innovationen des 20. Jahrhunderts bestimmt sieht. Die heutige, sogenannte „elektronische Globalisierung“33 beginne „spätestens“ mit der „Installierung einer elektronischen Atmosphäre und eines Satellitenenvironments im Erd-Orbit“34 und vollende sich mit dem Internet, für das sich die „Erdkugel“ in ein „Netzwerk aus Schnittpunkten und Linien“ auflöse, „die nichts anderes bedeuten als die Verknüpfungen zwischen beliebig weit auseinanderliegenden Rechnern“.35 In dieser Vernetzung der Erde erreicht der Kristallpalast des 19. Jahrhunderts globale Ausmaße: Das RevenuenModell der Globalisierung steuert auf eine Vollendung der Geschichte in der totalen Vernetzung der Erde zu, die Frieden und Prosperität verbindet.36 Die Rede vom Planetarischen geht seit der Zeit der Weimarer Republik gegen die Vorstellung an, die totale Vernetzung des Planeten könne ein solches Ende der Geschichte herbeiführen. Wenn Ernst Jünger 1950 schreibt, dass dem „Bestand“ des 19. Jahrhunderts eher „ein Hauch des Widersinns“ als der „von Musealität“ anhaftet,37 so geht das auf eine Reflexion aus den späten 1920er Jahren zurück, der zufolge der Komfort des 19. Jahrhunderts durch die Innovationen der Technik zwar gesteigert werde, zugleich aber auch jede technische Neuerung ihr „potentiel de guerre“ in sich berge.38 Eine gesteigerte Vernetzung impliziert so auch eine gesteigerte Kriegsgefahr, wie Jüngers Roman Heliopolis (Erstausgabe 1949) 29 Siehe ebd., S. 270 u. 27. 30 Zur These vom Ende der Geschichte siehe jüngst Hent de Berg, Das Ende der Geschichte und der bürgerliche Rechtsstaat. Hegel – Kojève – Fukuyama, Tübingen u. Basel 2007. 31 Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit, die neue Internationale, übers. v. Susanne Lüdemann, Frankfurt a.M. 2004, S. 60. 32 Siehe Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals, S. 265-276. 33 Ebd., S. 21. 34 Ebd., S. 25. 35 Ebd., S. 27. 36 Vgl. hierzu Hartmut Böhme, „Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion“, in: Jürgen Barkhoff, Hartmut Böhme u. Jeanne Riou (Hgg.), Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, Wien, Köln u. Weimar 2004, S. 17-36. 37 Ernst Jünger, Werke, 10 Bde., Stuttgart 1964, Bd. 7, S. 273. 38 Ebd., S. 70.
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EINLEITUNG
vorführt, in dem ein Internet avant la lettre, das eine satellitengesteuerte Überwachung ermöglicht, den Protagonisten zu Fall bringt.39 Die Vernetzung, die in Satellitentechnik und Internet einen Höhepunkt erfährt, wird damit in einen paramilitärischen Zusammenhang gestellt. Tatsächlich gehen sowohl der Vorläufer des Internet, das Arpanet, sowie das amerikanische Raumfahrtprogramm aus der Advanced Research Project Agency (ARPA)40 des US-Militärs hervor, die als Reaktion auf den erfolgreichen Start des sowjetischen Satelliten Sputnik im Jahre 1957 gegründet wurde. Zur Technologie weltumspannender Kommunikation wird der Satellit demnach gerade, weil er zu den Waffensystemen des Kalten Kriegs zählt. Auch in den Theorien der 1950er Jahre hat die Satellitentechnik Epoche gemacht. Für Hannah Arendt etwa kündigt sich mit Sputnik eine neuartige Phase menschlicher „Erdentfremdung“ an, die ein Pendant zur „Weltentfremdung“ bilde.41 Die „Bedeutung“ künstlicher Erdtrabanten vergleicht sie sogar mit derjenigen „der Atomspaltung“.42 Weltraumtechnologien in militärische Zusammenhänge zu stellen, ist in Zeiten des Kalten Kriegs sicher nichts Ungewöhnliches. Sogar Dichter wie Paul Celan assoziieren den Satelliten mit dem Atomkrieg.43 Dass auch bei Arendt ein Bezug zur Vorstellung einer dezidiert planetarischen Vernetzung besteht, legt nicht zuletzt ihr Doktorvater Karl Jaspers nahe, der in einer 1930 erstmals erschienenen Schrift über Die geistige Situation der Zeit emphatisch feststellt: „Als technische und wirtschaftliche scheinen alle Probleme planetarisch zu werden“.44 Diese Planetarisierung führt Jaspers schon hier – also lange vor Sputnik und dem Internet – auf die Überspannung der Erde mit einem „Netz“ zirkulierender Waren, Informationen und Menschen zurück.45 Da ist es fast schon überraschend, dass der Ausdruck planetarisch in Jaspers’ Die Atombombe und die Zukunft des Menschen von 1958, in dem die atomare Gefahr als Grenzerfahrung der gesamten Menschheit verstanden wird, nicht fällt;46 zumal Paul Virilio das Wettrüsten von USA und UdSSR explizit in den Zusammenhang einer grenzauflösenden „planetarische[n] Mechanik“ stellt.47 39 Siehe ebd., Bd. 10, S. 289-294. 40 Für die Geschichte von Arpanet und Internet siehe Katie Hafner u. Matthew Lyon, ARPA Kadabra. Die Geschichte des Internet, übers. v. Gabriele Herbst, Heidelberg 1997. 41 Hannah Arendt, Vita activa, oder Vom tätigen Leben, München u. Zürich 1981, S. 337. Im englischen Original erschien das Buch 1958. 42 Ebd., S. 7. 43 Vgl. Paul Celan, Gesammelte Werke, 5 Bde., hg. v. Beda Allemann u. Stephan Reichert unter Mitwirkung v. Rolf Bücher, Frankfurt a.M. 1983, Bd. 3, S. 186, wo Celan von „Sternen, die Menschenwerk sind“, spricht. In der Forschung wird dies als Bezugnahme auf Sputnik gelesen, siehe Markus May, Peter Goßens u. Jürgen Lehmann (Hgg.), Celan Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart u. Weimar 2008, S. 239. 44 Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit [1930], Berlin 1999, S. 74. 45 Ebd., S. 22. 46 Hier sind für Jaspers die „Weltordnung“ und die „Menschheit“ an die Stelle des Planetarischen getreten. Vgl. Karl Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München u. Zürich 1958, S. 121. 47 Siehe Paul Virilio, Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie, übers. v. Ronald Voullié, Berlin 1980, S. 59 u. 177-199.
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Die Rede vom Planetarischen wandelt sich aber nicht gänzlich in ein Narrativ des Kalten Kriegs. Vielmehr lässt sich beobachten, dass sie mit der Verschärfung des Ost-West-Konflikts zu Beginn der 1960er Jahre sogar in den Hintergrund tritt, um erst nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wieder in den Fokus zu rücken. Das ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass die paramilitärischen potentiels de guerre, die von einem Jünger oder Schmitt im technischen Fortschritt ausgemacht werden, die Konventionalität zwischenstaatlicher Kriegsführung, welche die europäische Neuzeit (innerhalb Europas zumindest) charakterisiert hat, untergraben. Die Vernetzung begünstigt Phänomene, die man heute als „Neue Kriege“48 oder „Cyberkriege“ bzw. „Netzkriege“49 bezeichnet und in denen die konventionellen Gegensätze von Krieg und Frieden, von Soldat und Zivilist nicht mehr zu greifen scheinen. Schmitt diagnostiziert diese Entwicklungen seit den 1920er Jahren als das Ende des neuzeitlichen Staats, der sein Gewaltmonopol – und damit die öffentliche Sicherheit und Ordnung – nicht mehr garantieren kann. Den Niedergang nationalstaatlicher Formationen wird Schmitt in den 1930er bis 1950er Jahren zusehends mit dem Ende des Eurozentrismus in Zusammenhang bringen und hinter diesen Entwicklungen einen grundstürzenden Umbau der politischen Ökonomie des gesamten Planeten vermuten. Die Entgegensetzung von Eurozentrismus und Nationalstaatlichkeit auf der einen und Planetarisierung der Erde auf der anderen Seite findet sich indes schon 1920 bei Hans Freyer. Freyers programmatisches Buch Der Staat sieht im „planetarischen“ Prozess von Technik und Industrie eine radikale Herausforderung der Ordnung des 19. Jahrhunderts, weil er alle Grenzen zwischen den Menschen überwinde: „Vermenschlichung der Erde und Verirdischung des Menschen – das ist im Großen gesehen der Sinn des [...] planetarischen Prozesses, der die Menschen zur Einheit eines Geschlechts macht“.50 Entscheidend sei, dass diese Vereinigung nicht als Totalität zu denken ist. Vielmehr macht Freyer im planetarischen Prozess, der Mensch und Erde miteinander verbindet, geradezu „die Gegenkraft zu allen Kräften, die auf Totalität zielen“,51 aus. Die Folgen der Planetarisierung von Mensch und Erde sind folglich auch unvorhersehbar. Weil der technisch-industrielle Fortschritt vor allem den Totalisierungsbestrebungen des (National-)Staates entgegensteht, kann sein „Tempo“ – wie Freyer in Anspielung auf den Ersten Weltkrieg schreibt – „im tiefsten Sinne gefährlich“ werden, „wie es jüngst geschah“.52 Daher sei auch der Ingenieur, und nicht etwa das Genie, als der „wahre Anarchist gegen die Totalität des Staates“ anzusehen.53 Freyers Monographie zweifelt jedoch keineswegs daran, dass der als Insel vorgestellte Staat letztlich doch in der Lage sein wird, die planetarisie48 Mary Kaldor, Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, übers. v. Michael Adrian u. Bettina Engels, Frankfurt a.M. 2000. 49 Geprägt wurden die Termini von John Arquilla u. David Ronfeldt, The Advent of Netwar, Santa Monica 1996. 50 Hans Freyer, Der Staat, Leipzig 1920, S. 172. 51 Ebd., S. 174. 52 Ebd., S. 173. 53 Ebd., S. 175.
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renden Tendenzen von Technik und Wirtschaft zu einem „politischen Instrument“ seiner „Macht“ umzuformen, das ihm dann eine „Eindeichung“ bieten würde.54 Freyers Vertrauen in die politische Formation des Staates und die damit zusammenhängende weitere Weltherrschaft Europas55 geht in den 1920er Jahren allerdings weitgehend verloren. Was Freyer 1920 als planetarischen Prozess beschreibt, wird von Jünger ein Jahrzehnt später auf die Formel der „totalen Mobilmachung“ gebracht.56 Obwohl Jünger 1930 noch an eine (deutsch-)nationale Sinngebung der allumfassenden planetarischen Mobilisierung glaubt, beschwört er hier schon das Ende der europäischen Hegemonie herauf: „Europa, dessen Oberfläche nunmehr planetarische Ausdehnung gewann“, sei „sehr dünn geworden“, heißt es, „sehr Politur – seinem räumlichen Gewinn entspricht ein Verlust an Überzeugungskraft“.57 Eine rechtsgeschichtliche Begründung erfährt der Niedergang von Staat und Eurozentrismus in Schmitts eingangs erwähnter Darstellung der vergangenen Ära der Globalität und der heraufziehenden Zeit des Planetarischen in der Völkerrechtlichen Großraumordnung (1939) und dem Nomos der Erde (1950). Eurozentrismus und Nationalstaatlichkeit sind in Schmitts Verständnis von Globalität untrennbar miteinander verbunden. Die klassische Neuzeit von der Entdeckung Amerikas bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zeige sich durch das „globale Liniendenken des occidentalen Rationalismus“58 bestimmt. Zu Beginn der globalen Ära trenne sich Europa mittels „Freundschaftslinien“59 vom Rest der Welt ab, wobei sich der Kontinent als rechtlich und wirtschaftlich privilegierter Raum setze. In der Folge sicherten sich die europäischen Staaten das Gewaltmonopol und etablierten eine öffentliche Ordnung, die die Innenpolitik befriede und den Krieg konventionalisiere. Weil der Staat auf der Externalisierung von Konflikten beruhe, wird ihn Schmitt als „mit großer Macht fortwährend verhinderte[n] Bürgerkrieg“ verstehen.60 Die völkerrechtliche Trennung der europäischen Staaten von dem, was nicht als Europa zugehörig und nicht als Staatsgebiet gelte, ermögliche zugleich eine politische Ökonomie, die über eine globale Zirkulation (des Kapitals) zu sich selbst, d.h. nach Europa (der Kapitale) zurückkehre. Die wirtschaftlichen und staatlichen Institutionen der Neuzeit verdankten sich – und das ist offenbar ausschlaggebend – durchweg den globalen Linien, die Europa vom Rest der Welt schieden. Das Ende der eurozentrisch-globalen Weltordnung kündigt sich deshalb in einer gewandelten Linienziehung an. Haben die globalen Linien qualitativ verschiedene Rechtsräume abgegrenzt, so geht es in den Linienziehungen seit dem 54 Ebd., S. 176-177. 55 Das Buch schließt mit einem Abschnitt über „Europa“: Freyer, Der Staat, S. 208-216. 56 So der Titel eines Essays, der zunächst in einem von Jünger herausgegebenen Sammelband erschien. Ernst Jünger, „Die Totale Mobilmachung“, in: ders. (Hg.), Krieg und Krieger, Berlin 1930, S. 9-30. Jüngers Begriff wird beispielsweise von Axelos, Vers la pensée planétaire, S. 303 und Virilio, Geschwindigkeit und Politik, S. 139 aufgenommen. 57 Jünger, Werke, Bd. 7, S. 147. 58 Schmitt, Nomos der Erde, S. 261. 59 Ebd., S. 60. 60 Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols [1938], hg. v. Günter Maschke, Köln 1982, S. 34.
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Ende des 19. Jahrhunderts um eine technische Vernetzung des Raums. Weil es fortan keinen bevorzugten Ausgangs- und Zielpunkt der Zirkulation gibt, bricht das 20. Jahrhundert mit der neuzeitlichen Revenuen-Logik. Paradigmatisch vollzogen wird der Wandel von globalen zu planetarischen Linien in der Bestimmung eines internationalen Nullmeridians im Jahre 1884. Schmitt will zeigen, dass die damit festgelegte Normierung von Land- und Seekartographie nur scheinbar eine politisch unverfängliche, weil rein technisch-geometrische Entscheidung ist. Indem die Technik hier die bisherige politische Ökonomie destabilisiert, erweist sie sich im Gegenteil als Instrument einer Politik, deren Horizont nicht mehr territorial zu begrenzen ist, sondern den gesamten Planeten zum Gegenstand hat. Da sich der Meridian als Linie zurücknimmt, weil er keine Räume unterteilt, sondern auf eine gemeinsame Nulllinie bezieht, zersetzen sich die Grenzen, so Schmitt, in proliferierende Netzwerke, die den herkömmlichen Begriffen von Recht und Gesetz nicht mehr unterliegen und so zu völlig rechtsfreien Räumen zu werden drohen. Solche Szenarien finden ein Echo in Giorgio Agambens Vorstellungen eines neuen „nómos der Erde“61, der in just dem Moment „dazu tendiert, sich über den ganzen Planeten auszubreiten“62, in dem die „globalen Linien“ 63, die Europa als gesonderten Rechtsraum konstituiert haben, aufgegeben werden. Am konsequentesten werden sie indessen wohl in Paul Virilios Begriff des „kritischen Raums“ weiterentwickelt. Nicht umsonst lässt Virilio das Aufkommen solcher Räume mit dem Platzen einer Globalisierungsblase (was, so ist wohl zu extrapolieren, auch das Platzen eines Sloterdijk’schen Sphärendenkens impliziert64) zusammenfallen: Die Blase der Globalisierung wird platzen, um eine Unzahl von kritischen Räumen freizusetzen, die von den inneren Konflikten des Weltbürgerkriegs heimgesucht werden. Ein solcher Weltbürgerkrieg wird mit den Maßstäben der lokalen Kriege von einst nicht zu messen sein.65
Die Festlegung des Meridians markiert für Schmitt den Moment, an dem die Proliferation solcher kritischen Räume, in die sich die bisherige politische Homogenität Europas und wirtschaftliche Homogenität der Welt auflöse, technisch und politisch möglich wird. Wenn die innere Sicherheit des Staatsterritoriums einem fragmentierten und konfliktträchtigen Raum weicht, dann verschwimmen damit auch die konventionellen Unterschiede von Zivilist und Soldat, Krieg und Frieden. So sieht auch Schmitt wie später Virilio einen planetarischen Bürgerkrieg drohen, in dem überwunden geglaubte Kriegsformen eine apokalyptische Wiederkehr fei61 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt a.M. 2002, S. 49. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 47. 64 Der zweite Band von Sloterdijks Sphären-Werk behandelt die Blase als eine Form der Sphäre. Siehe Peter Sloterdijk, Sphären. Eine Trilogie, Frankfurt a.M. 2004. 65 Paul Virilio, Panische Stadt, übers. v. Michael Probst, hg. v. Peter Engelmann, Wien 2007, S. 92. Siehe hierzu auch Paul Virilio, „Der kritische Raum“, in: Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 7 (1983), S. 16-27.
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ern. Der in einander verschränkte Zusammenbruch geopolitischer Grenzen und Formen (staats-)bürgerlicher Innerlichkeit und Sicherheit besiegelt damit das Ende dessen, was Sloterdijk als Revenuen-Logik bezeichnet. Nach dem Zusammenbruch der europäischen ‚Kapitale‘ kann keine Identität mehr ‚Kapital‘ aus der Zirkulation schlagen. In der Rede vom Planetarischen steht die Vernetzung der Erde also, statt im Zeichen eines globalen Weltmarkts, im Zeichen eines Weltbürgerkriegs, in dem der Ausnahmezustand zusehends zur Normalität wird. Diese gegenwärtige Situation bezeichnet Spivak einmal – in Anlehnung an, aber auch in Abgrenzung zum Kalten Krieg – als „Heißen Frieden“66, eine Situation, der der Mensch ausgesetzt ist, ohne sich aus ihr zurückziehen zu können. Deshalb seien die planetarischen Netzwerke, in denen sich der Mensch bewege, nicht objektivierbar und könnten mithin nicht zu Schaustücken eines Kristallpalasts werden. Auch weil das Globalitäts-Modell auf ebendieser Vorstellung beruht, dass die Erde zum Gegenstand werden könne, wird Spivak auf das Planetarische setzen: Der Globus ist auf unseren Computern. Keiner lebt dort. Er lässt uns glauben, dass wir versuchen können, ihn zu beherrschen. Der Planet ist in der Art einer Alterität, die zu einem anderen System gehört; und doch bewohnen wir ihn, als Leihgabe [on loan].67
Diese Worte lesen sich wie ein Kommentar zu Jüngers Roman Heliopolis, der vorführt, dass sich der Mensch auf der Erde nicht wie in einem Museum ergeht, sondern auf einem Körper ausgesetzt ist, den er nie beherrschen können wird. Die radikale Alterität des Planeten wird weniger dadurch bestimmt, dass er eine äußerste Differenz zum Menschen darstellt, als dadurch, dass er die sich ständig entziehende Grundlage aller Unterschiede bildet, die das menschliche Leben prägen. Dergestalt kann der Planet alle Gegensätze, durch die sich Menschen im Denken und Handeln orientieren, zugleich ermöglichen und in Frage stellen. Spivak sieht die menschliche Existenz von einer „grundlegenden Irre“ heimgesucht, die selbst den scheinbar eindeutigen politischen Kategorien links und rechts vorangeht und sie ständig unterläuft.68 Über Axelos, der von dieser fundamentalen „errance“ als dem Modus einer „pensée planétaire“ spricht,69 weist diese Rede von einer „grounding errancy“ der planetarity auf Heidegger zurück, der den Begriff des „Planetarischen“ (wohl um 1941/42) allererst darum prägt, um damit die Irre des „Irrstern[s]“ zu charakterisieren.70 Mit dem Wort „Irre“ bezeichnet Heidegger schon 1930 das sich ständig blind machende Element, in dem sich die Existenz des Menschen voll66 Gayatri Chakravorty Spivak, A Critique of Postcolonial Reason. Toward a History of the Vanishing Present, Cambridge 1999, S. 373. 67 Spivak, Death of a Discipline, S. 72. 68 Siehe ebd., S. 30. 69 Axelos, Vers la pensée planétaire, S. 32. 70 Martin Heidegger, Das Ereignis [1941/42], hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 2009, S. 85.
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zieht.71 Weil ein Planetarisches, das durch eine solche Irre charakterisiert ist, sich nur in einem ständigen Entzug zeigt, vermag weder das menschliche Denken noch sein Handeln eine Totalperspektive auf den Planeten zu erlangen. Selbst der Satellit muss unentwegt um die Erde kreisen und kann sie doch nie ganz überblicken. Die Situation nach dem Zusammenbruch des Globalitäts-Modells wird in der Rede vom Planetarischen als zutiefst zwiespältig, aber nicht als durchgängig negativ erfahren. Durch den Zusammenbruch aller Grenzen, die Eigenes und Fremdes, Selbst und Anderes getrennt haben, können diese in den wuchernden ‚kritischen Räumen‘ zwar miteinander in unabsehbare Konflikte geraten. Sie haben aber eben dadurch zugleich die Möglichkeit gewonnen, neuartige, nicht mehr durch die Prozesse der eurozentrisch-globalen Weltordnung geprägte Kontakte aufzunehmen. Diese Zwiespältigkeit charakterisiert die Rede vom Planetarischen von den 1920er Jahren bis in die Gegenwart. Die Vorstellung von zukünftigen „planetarischen [...] Begegnungen“72, die an die Stelle des globalen Umlauf-Modells treten sollen, spiegelt diese tiefe Ambiguität wieder: Die Begegnungen können ebenso feindlich wie freundlich imaginiert werden. Während Schmitt und Virilio vor allem die Gefahren planetarischer Begegnungen akzentuieren, betonen Jünger und Spivak – und zwar beide im expliziten Gegensatz zu Schmitt73 – die Chancen solcher Begegnungen. Heidegger, Axelos und Nancy wiederum werden vor allem auf ihre Doppeldeutigkeit hinweisen. Jedoch sind sich alle darin einig, dass diese Begegnungen einerseits von einer durch den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt bedingten radikalen Neuheit sind und sein werden, dass in ihnen andererseits aber überwunden geglaubte Figuren und Formationen in verwandelter Form wiederkehren. Denn das Ende der globalen Neuzeit wird durch die gewandelte Wiederkehr nicht nur von Formen der vor-staatlichen und vor-modernen Kriegsführung wie dem (religiösen bzw. ideologischen) Bürgerkrieg, sondern auch von politischer Theologie, rituellen, kultischen und mythischen Formationen gekennzeichnet – aber immer unter den Voraussetzungen einer post-staatlichen und ‚post-modernen‘ Vernetzung des Planeten. Nicht um Revenuen geht es, sondern um revenants. Der eigentümliche zeitliche Charakter, den die zukünftigen Begegnungen annehmen, erklärt auch die zentrale Rolle, die Literatur und Literaturwissenschaft im Planetaritäts-Narrativ spielen können. Da die strukturelle Offenheit, die den Begegnungen zugesprochen wird, alle Vorhersagen über die Zukunft disqualifiziert, kann über das Planetarische überhaupt nur mithilfe von Strategien nachgedacht 71 Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit [1930], in: ders., Wegmarken, Frankfurt a.M. S. 177202, hier S. 197. 72 Martin Heidegger, Wegmarken, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1996, S. 424. 73 Wenn sich Spivak für eine Derrida’sche „Politik der Freundschaft“ ausspricht, dann stellt sie sich damit gegen Schmitts auf der Freund-Feind-Unterscheidung beruhenden Politikbegriff. Siehe Spivak, Death of a Discipline, S. 30. Derrida entwickelt sein Freundschaftskonzept als Vorbereitung einer Schmitt-Kritik. Vgl. Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, übers. v. Stefan Lorenzer, Frankfurt a.M. 2000.
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und geschrieben werden, die diese Selbst-Einschränkung eigens in Anschlag bringen. Für Spivak sind dies Strategien, die die Literatur überhaupt auszeichnen, die gerade „nicht vorhersagen“, sehr wohl „aber präfigurieren“ könne.74 Dieses präfigurative Potential erlaubt es literarischen Texten, die unvorhersehbaren Gefahren und Möglichkeiten der planetarischen Begegnungen vorwegzunehmen, ohne sie dabei auf eine bestimmte Zukunft festzulegen. Der Begriff der Präfiguration verweist damit auf die vormoderne ‚typologische‘ Bibellektüre, in der bestimmte Figuren (antitypoi), vor allem des Alten Testaments, als Präfigurationen Christi (des typos) gelesen werden.75 Schon Jüngers Arbeiter-Essay von 1932 – der erste Jünger’sche Text, der sich einem dezidiert planetarischen Programm verschreibt – macht sich eine vergleichbare präfigurative Lektüre- und Schreibhaltung zu eigen. Wenn dort von Typus und Typologie gesprochen wird, ist nicht in erster Linie an die in den 20er und 30er Jahren populären Typus-Begriffe zu denken, sondern an den sensus typologicus der Bibelexegese. Eine Anverwandlung dieser Strategie erlaubt es Jünger, Phänomene der Gegenwart und der Vergangenheit als Präfigurationen eines Kommenden, aber noch nicht Absehbaren zu deuten. Dergestalt soll der Jünger’sche revenant der vormodernen Präfiguration der charakteristischen Spannung von Wiederkehr und Novität gerecht werden, durch die sich das Planetaritäts-Paradigma auszeichnet, womit es sich aber auch grundlegend von seinem christlichen Vorbild unterscheidet. In der christlichen Tradition wusste man nämlich um den Sinn der Welt, der sich zwar erst durch die Wiederkunft Christi und die Apokalypse erfüllen würde, aber schon im Text der Johannes-Offenbarung vorherbestimmt war76, während die Präfiguration planetarischer Begegnungen gerade mit dem Modell vorherbestimmbarer Zukünfte brechen will. Deshalb wird Jünger, wenn er die Gestalt des Arbeiters und deren Arbeit kennzeichnet, auch stets versuchen, „eine leere Stelle, ein Fenster offenzulassen, das durch die Sprache nur umrahmt werden kann und das vom Leser durch eine andere Tätigkeit als die des Lesen ausgefüllt werden muss.“77 Die präfigurativen Strategien, die Jünger dafür entwickelt, werden in Spivaks Projekt einer planetarischen Literaturwissenschaft zum Instrumentarium von Literaturanalyse überhaupt verallgemeinert. Die „open-ended structure“78 Jünger’scher Prägung überträgt Spivak dabei auf jeden literarischen Text, der die Lesenden auf eine „open-plan fieldwork“ vorbereiten können soll.79 So präfiguriert die Arbeit am und im Text – nicht umsonst führt Jüngers maßgeblicher planetarischer Essay den Titel Der Arbeiter – eine nicht mehr textliche
74 Spivak, Death of a Discipline, S. 49: „Literature cannot predict, but it may prefigure.“ 75 Siehe hierzu Friedrich Ohly, „Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter“, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 89 (1958/59), S. 1-23, sowie Erich Auerbach, „Figura“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Romanischen Philologie, Bern u. München 1967, S. 55-92. 76 Zur Zeitlichkeit der Apokalypse und ihrem Zusammenhang mit Jünger und Schmitt siehe Jürgen Brokoff, Die Apokalypse in der Weimarer Republik, München 2001. 77 Jünger, Werke, Bd. 6, S. 92 78 Spivak, Death of a Discipline, S. 33. 79 Ebd., S. 35.
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„Arbeit [des] Künftigen“80, indem sie einen Prozess in Gang setzt, der vom gemeinsamen (präfigurativen) Lesen zu einem gemeinsamen Handeln führt. Im Durchgang durch die Lektüre sollen sich dezentrale, antihierarchische Kollektive herausbilden, die in den planetarischen Netzwerken politisch (wenngleich nicht ideologisch) agieren.81 Die Präfigurationen einer planetarischen Literaturpolitik übersetzt sich also in eine kollektive Praxis, deren open-plan fieldwork von Spivak mit einem Begriff charakterisiert wird, den Derrida in Politik der Freundschaft als Vorbereitung seiner Schmitt-Kritik erarbeitet – und der auch auf Jüngers Textarbeit gemünzt werden kann: Eine sogenannte „Teleopoiesis“82 sucht der Zukunft ein vorläufiges Ziel zu geben, indem sie die Unterscheidung von Konstativum und Performativum suspendiert. Jede Vorwegnahme des telos weist sich somit den Lesern gegenüber als fiktive Setzung aus, wobei sie zugleich versucht, die Leser dazu zu bewegen, für das Erreichen dieses Ziels mit verantwortlich zu zeichnen. Die Übertragung der Verantwortung auf den Leser befreit, vorprogrammierte Prozesse durchkreuzend, die Zukunft von der Vorstellung, sie sei eine zukünftige Gegenwart. Aus einem Futur I wird ein Futur II, das die zeitliche Perspektive umkehrt: Anstatt die Zukunft von der Gegenwart und der Vergangenheit aus zu betrachten, werden nunmehr Gegenwart und Vergangenheit unter den Blickwinkel der Zukunft gestellt. In diesem spezifischen „future anterior“ – im Gegensatz zum „future present“ – sieht Spivak sogar das Tempus des Planetarischen überhaupt.83 Teleopoiesis ist folglich keine Prolepse, weil sie nichts andeutet, was später im Text geschieht. Vielmehr macht sie die Strategie der Präfiguration planetarischer Projekte ausdrücklich, die ebenfalls auf ein Zukünftiges verweisen, das gleichsam an der Grenze liegt, an welcher der Text über sich hinausgeht. Da ein Text demnach immer mehr und anderes als er selbst ist, weist er strukturell über sich hinaus, ohne jedoch das Künftige abschließend auf ein Ziel festzulegen. Somit erlaubt es Literatur, die planetarischen Begegnungen, in denen alter nicht auf ego zurückgeführt werden kann, vorwegzunehmen. Das planetarische Denken in Präfigurationen versucht sich so in den Wandel globaler Linien (die politische Grenzen garantieren) in planetarische Linien (die die Vernetzung über politische Grenzen hinweg ermöglichen) einzuschreiben. Dafür rückt die schon in Jüngers frühen Kriegstexten vorgeführte Erfahrung, eine kollabierende Grenze zu überschreiten, ins Zentrum und wird später als die Überschreitung derjenigen Linie konzipiert, die das globale Modell zur Disposition stellt, weil sie, indem sie gezogen wird, ständig auch zurückgenommen wird. Der 80 Jünger, Werke, Bd. 7, S. 106. 81 Diese Netzwerk-Formationen entsprechen so dem, was man heute (nicht ohne Beziehung auf die Rede vom Planetarischen) als Multitude anspricht. Siehe dazu vor allem Michael Hardt u. Antonio Negri, Multitude. War and Democracy in the Age of Empire, New York 2004. Von der Multitude als einem netzwerkartigen und -gesteuerten Kollektiv spricht Eugene Thacker, „Netzwerke – Schwärme – Multitudes“, in: Eva Horn u. Marco Gis (Hgg.), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009, S. 27-68. 82 Derrida, Politik der Freundschaft, S. 60. 83 Spivak, Death of a Discipline, S. 49.
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Essay Über die Linie (1950) thematisiert deshalb nicht nur eine Linie, sondern bereitet nichts Geringeres als das „Überschreiten des Nullmeridians“84 vor. Hier wird jedoch nur ausdrücklich, was zuvor schon Jüngers planetarische Texte auszeichnet: dass sie, wie er es nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Fortsetzung des Arbeiters formalisiert, immer auf dem „Sprung“ sind, in dem performative „Absicht“ in konstative „Ansicht“ und vice versa umschlägt, ohne diesem Sprung allerdings ein endgültiges Ziel vorzugeben.85 Jünger wird, weil er die poetologischen Strategien einer solchen Linienüberschreitung maßgeblich konzipiert, zur zentralen Bezugsfigur der Rede vom Planetarischen. Sowohl Schmitt als auch Heidegger entwickeln ihre eigenen Positionen zu den planetarischen Linien in Auseinandersetzung mit Jünger. In einem 1931 entstandenen Aufsatz „Die Wendung zum totalen Staat“ nimmt Schmitt den Begriff der „totale[n] Mobilmachung“86 auf, mit dem Jünger den planetarischen Prozess der Auflösung der Grenzen gekennzeichnet hat. Acht Jahre später erarbeitet Schmitts Studie über die Völkerrechtliche Großraumordnung ein eigenes planetarisches Modell: „Wir denken heute planetarisch und in Großräumen“87, steht dort zu lesen. Weitere zwei bis drei Jahre später prägt Heidegger in dem erst jüngst publizierten Manuskript Das Ereignis, das aus den Jahren 1941/42 stammen soll, den Begriff „das Planetarische“88. Nach dem Kriegsende entwickelt sich eine öffentliche Diskussion um planetarische Linientreue, an der alle drei beteiligt sind und deren Auftakt Jüngers bereits erwähnter Roman Heliopolis von 1949 bildet. Einig sind sich die drei darüber, dass das 20. Jahrhundert den Beginn eines planetarischen Zeitalters mit ungeahnten Herausforderungen und Möglichkeiten markiert; darüber, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, allerdings nicht. 1950 erscheint Carl Schmitts Nomos der Erde, in dem die Geschichte der globalen Weltordnung als Geschichte globaler Linienziehungen erstmals systematisch verhandelt wird. Darin fordert er, sich selbst einer präfigurativen Strategie bedienend, neue „Freundschaftslinien“, die wie ihre Vorbilder aus der frühen Neuzeit eine Hegung des Weltbürgerkriegs leisten könnten.89 Im selben Jahr erscheint Jüngers Essay Über die Linie in einer Festschrift zu Heideggers 60. Geburtstag.90 Fünf Jahre später antwortet Heidegger mit einem Text, der den fast gleichlautenden Titel Über „die Linie“ trägt und ebenfalls in einer Festschrift erscheint, nunmehr derjenigen zu Jüngers 60. Geburtstag.91 Heidegger bezieht darin die genaue Gegenposition 84 Jünger, Werke, Bd. 5, S. 272-273. 85 Ebd., Bd. 6, S. 588. 86 Carl Schmitt, „Die Wendung zum totalen Staat“ [1931], in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923-1939, Hamburg 1940, S. 146-157, hier S. 152. 87 Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung, S. 61. 88 Heidegger, Das Ereignis, S. 95. Der Text ist eine der sogenannten „ereignisgeschichtlichen Abhandlungen“ Heideggers. Siehe hierzu das „Nachwort des Herausgebers“ (S. 343). 89 So das Schlussplädoyer seiner Nomos-Schrift: Schmitt, Nomos der Erde, S. 299. 90 Ernst Jünger, Über die Linie, in: [Hans-Georg Gadamer (Hg.),] Anteile. Martin Heidegger zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1950, S. 245-283. 91 Martin Heidegger, Über „die Linie“, in: Armin Mohler (Hg.), Freundschaftliche Begegnungen. Festschrift für Ernst Jünger zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1955, S. 9-45.
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zu Schmitt. Wo sich dieser für eine Verfestigung des Meridians zu einer planetarischen Freundschaftslinie ausspricht, die übernationale Großräume einteilen hilft, plädiert Heidegger für eine Auflösung der Linie, weil er die Möglichkeit, eine Leserschaft tatsächlich ‚über‘ einen angeblichen Nullmeridian zu führen, in Abrede stellt. Allerdings kommen auch bei ihm Verfahren zum Zuge, die Begriffsnetzwerke der metaphysischen Tradition – allen voran das Netzwerk von esse, essentia und existentia – auf ihre präfigurativen Potentiale für einen „anderen Anfang“ des Denkens befragen.92 Die Ergebnisse der Untersuchung lassen Celans Meridian-Rede und das letzte Gedicht der Niemandsrose, in dem der Meridian der Preisrede wiederkehrt, als radikale Gegenentwürfe zu Jüngers planetarischer Literaturpolitik lesbar werden. Wenn es Jüngers Texten darum geht, über den Meridian zu führen, dann ist es denjenigen Celans um eine Berührung des Meridians zu tun. Dafür wird die Präfiguration geradezu umgekehrt: in ein „Gedicht“, das sich „unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück[ruft und holt]“.93 Im Anschluss an die Untersuchung der ‚planetarischen Linientreue‘ bei Jünger, Schmitt, Heidegger und Celan soll ein Ausblick kurz die Nachwirkungen skizzieren, die die Rede vom Planetarischen und einer solchen Linientreue in neueren Theoriebildungen gezeitigt haben. Von Kostas Axelos eingeführt, lässt sich die namentlich von Heidegger inspirierte Vorstellung einer planetarischen „errance“94 vor allem seit den 1970er Jahren in Frankreich nachweisen. So findet sich der Ausdruck selbst noch bei Alain Badiou, wenngleich dort der Kontext blind gemacht wurde.95 Obwohl es in diesem Zusammenhang nicht mehr in prominenter Weise um Linienziehungen geht, wird sich zeigen, dass nicht nur Spivaks programmatische Inanspruchnahme des ‚Planeten‘ für eine kommende Literaturwissenschaft, sondern auch Nancys mondialisations-Denken und Virilios Vorstellung einer „planetarischen Globalisierung“96 maßgeblich von der Diskussion um den Meridian beeinflusst sind.
92 Ein anderer Anfang zum ersten Anfang des Denkens bei den Griechen wird zum Programm in Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1994. 93 Paul Celan, Der Meridian. Endfassung – Entwürfe – Materialien (Tübinger Ausgabe, hg. v. Jürgen Wertheimer), hg. v. Bernhard Böschenstein u. Heino Schmull unter Mitarbeit v. Michael Schwarzkopf u. Christiane Wittkopp, Frankfurt a.M. 1999, S. 8. 94 Axelos, Vers la pensée planétaire, S. 46: „Planétaire veut dire ce qui est itinérant et errant, ce qui poursuit une course errante“. 95 In seinem Paulus-Buch vergleicht Badiou die Situation von Paulus und Nietzsche. Beide zeichne die gleiche „universalité de l’adresse, même errance planétaire“ aus. Alain Badiou, Saint Paul. La fondation de l’universalisme, Paris 2002, S. 76. 96 Virilio, Panische Stadt, S. 24.
Teil I Geschoss mit Verzögerung Ernst Jüngers Planetarische Umschriften
1. Von einer Nationalistischen zu einer Planetarischen Perspektive 1.1 Einleitung: „Kosmische Wirbel“ und „Planetarische Ordnung“ „Zum ersten Mal ist die Erde, als Kugel, als Planet gesehen, Schlachtfeld geworden und die Menschengeschichte drängt planetarischer Ordnung zu“1, schreibt Jünger im Essay Der Friede, der ein Fazit der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs ziehen soll. Um eine Ordnung auf der zu einem einzigen Schlachtfeld gewordenen Erde postulieren zu können, müssen Jüngers Texte eine bestimmte Perspektive einnehmen, die sich über den auf ihr herrschenden Konflikten erhoben weiß. Das geschieht aber nicht etwa dadurch, dass der Planet in einen höheren Zusammenhang kosmischer Harmonie eingebunden würde. Im Gegenteil: Jünger sprengt die Erde geradezu aus den Kreisbewegungen, durch die sie sich in das Sonnensystem integriert. „Inzwischen ist uns der Gedanke vertraut geworden, daß wir auf einer Kugel hausen, die mit Geschossesgeschwindigkeit in Raumestiefen fliegt, kosmischen Wirbeln zu“ (W, 2: 12), heißt es im Vorwort von Strahlungen, einer Tagebuch-Sammlung aus den Jahren 1939 bis 1948. Dass die Zirkulation des Weltmarkts in dieser Zeit in einen Weltkrieg mündet, wird also auch als Ausscheren der Erde aus ihrer astrophysikalischen Rotation vorgestellt. Der Planet ist – einem dritten Text, An der Zeimauer von 1959, zufolge – damit vom Sonnentrabanten zum „Mutterschiff“ (W, 6: 651) geworden, das sich auf einer unbekannten Flugbahn durch das Weltall befinde. Diese Vorstellungen der Nachkriegszeit bereiten sich schon um 1930 vor. Die Erstfassung des Abenteuerlichen Herzens (1929) beispielsweise, dessen Abenteuerlust die spätere emphatische Bejahung der planetarischen Irrfahrt vorwegnimmt, deutet den „Schiffbruch jeder“ bisherigen „Ordnung“ (W, 7: 174) zugleich als Beginn einer „ununterbrochene[n] Fahrt“ (W, 7: 140).2 Diese paradoxe Vorstellung eines Schiffbruchs als ununterbrochener Fahrt wird wenige Jahre später in eine dezidiert planetarische Dimension überführt – eine Dimension, die sich im We1 Ernst Jünger, Werke, 10 Bde., Stuttgart 1964, Bd. 5, S. 219. Jüngers Werke werden, soweit nicht anders angegeben, fortan nach dieser Ausgabe zitiert, weil sie den Höhepunkt seiner ‚planetarischen Umschriften‘ bildet. Im Folgenden werden die Zitate im laufenden Text unter Angabe der Sigle W sowie Bandnummer und Seitenzahl nachgewiesen. 2 Der Schiffbruch ist, wie Hans Blumenberg nachgewiesen hat, eine der Grundmetaphern der europäischen Tradition. Um 1900 löst sie sich von der Vorstellung einer Strandung, der „Schiffbau aus dem Schiffbruch“ geschieht fortan auf hoher See. Vgl. Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt a.M. 1997, S. 78-83. Auch Jean-Luc Nancy spricht von einer „Schiffahrt“, wenn er das gemeinsame Projekt nicht nur von Derrida und Deleuze zu benennen sucht: „Letztlich handelt es sich um dieselbe Schiffahrt, auf der auch einerseits Agamben, andererseits Badiou an Bord sind [...]. All dies beweist vor allem, daß wir nur miteinander denken (durch, gegen, trotz, nahe bei, fern von, sich berührend, sich meidend, einander neidend)“, Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, übers. v. Ulrich Müller-Schöll, Berlin 2004, S. 57-58.
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1. VON EINER NATIONALISTISCHEN ZU EINER PLANETARISCHEN PERSPEKTIVE
sentlichen bis in die frühen 1960er Jahre hinein gleich bleibt. Im Folgenden soll die Entstehung dieser planetarischen Perspektive untersucht und dabei vor allem auf ihre poetologischen Voraussetzungen hin befragt werden. Denn die planetarische Irrfahrt kann, so wird sich zeigen, nur in einem bereits im Abenteuerlichen Herzen charakterisierten Schreiben aufgezeichnet werden: „Wir gleichen Seeleuten auf ununterbrochener Fahrt [...] und jedes Buch kann nicht mehr als ein Logbuch sein.“ (W, 7: 140)3 Der Ausdruck „planetarisch[ ]“ (W, 5: 140) fällt bei Jünger erstmals 1930 (also ein Jahr nach der Erstausgabe des Abenteuerlichen Herzens) in einem Essay über Die totale Mobilmachung.4 Darin beschriebt Jünger einen nihilistischen Prozess, der alle Dimensionen menschlichen Handelns, Planens und Denkens in Anspruch nimmt. Im Ersten Weltkrieg hat sich, so Jünger, gezeigt, dass die technischen Neuerungen Europas nicht im Dienste einer handelsorientierten Zirkulation stehen, die mit dem technischen auch den humanitären Fortschritt in die Welt trägt. Die mobilisierten Ressourcen, Arbeitskräfte und Ideen wurden vielmehr in aussichtslose Materialschlachten geworfen, in denen die gewählten Mittel und die beabsichtigen, zumeist nicht erreichten Ziele in keinem ökonomisch sinnvollen Verhältnis mehr standen. In der Immobilität der Grabenkämpfe festgefahren, erleidet die Zirkulation – um Jüngers Metapher aufzunehmen – Schiffbruch. Aber auch dort, wo der wirtschaftliche Austausch auf dem Weltmarkt scheinbar reibungslos verläuft, sieht Jünger keinen Mehrwert schöpfenden Zusammenhang von Zirkulation und Akkumulation. Um Jüngers Metaphorik zu bemühen, weichen die Schiffsrouten, die in den Heimathafen zurückkehren, einer ununterbrochenen Fahrt ohne absehbares Ziel. Dass damit die ökonomische Logik eines Kreislaufs, der nach Europa als Ausgangspunkt zurückkehrt, um sich dort zu kapitalisieren, obsolet geworden ist, geht für Jünger darauf zurück, dass im Ersten Weltkrieg „Europa gegen Europa Krieg führte“ (W, 7: 147). Der Zusammenhang von Kapital und Kapitale, den Derrida später als die Auszeichnung des europäischen ‚Kaps‘ verstehen wird, löst sich auf. Als Kapitale, bzw. als Haupt (caput) der Welt kann sich Europa fortan nicht mehr behaupten, weil die Kapitalströme nicht mehr in diesem Kontinent zusammenlaufen.5 Nicht erst Derrida kodiert dieses Ende des Eurozentrismus als „planétarisation du modèle européen“.6 Weil er den Ersten Weltkrieg als die Zersetzung Europas erfährt, erweist sich für Jünger der Sieg der Entente – immer noch ein europäisches Bündnis – als ein Pyrrhussieg, der eine gleichzeitige Universalisierung und 3 Ebendieses Zitat wird Carl Schmitt seinem ersten planetarischen Text als Motto voranstellen. Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte, Berlin 1991, S. 9. 4 So auch schon in der Erstfassung des Essays: Ernst Jünger, „Die totalen Mobilmachung“, in: ders. (Hg.), Krieg und Krieger, Berlin 1930, S. 9-30, hier S. 30. 5 Vgl. hierzu Jacques Derrida, Das andere Kap, Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, übers. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt a.M. 1992. 6 Jacques Derrida, L’autre cap, suivi de La démocratie ajournée, Paris 1991, S. 39. Die deutsche Fassung gibt diesen Ausdruck nicht als Planetarisierung, sondern als „Ausdehnung des europäischen Modells auf den gesamten Planeten“ wieder, Derrida, Das andere Kap, S. 30.
EINLEITUNG: „KOSMISCHE WIRBEL“ UND „PLANETARISCHE ORDNUNG“
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Auflösung des bisherigen Europamodells zur Folge hat: „Dennoch ist dieses Europa, dessen Oberfläche nunmehr planetarische Ausdehnung gewann, sehr dünn geworden, sehr Politur – seinem räumlichen Gewinn entspricht ein Verlust an Überzeugungskraft.“ (W, 5: 147) Die sich hier abzeichnende Emanzipation der Welt von einem aggressiven und imperalistischen Eurozentrismus, die gerade durch die europäischen Ideen von Demokratie und Fortschritt vorangetrieben wurde, führt aber nicht zum erhofften ewigen Frieden und allgemeinen Wohlstand. Jünger sieht vor allem die Gefahr drohen, dass sich der ganze Planet nach dem Vorbild Europas entzweit und in seiner Gesamtheit zum militärischen theater of operations wird. Der Versuch des Mobilmachungs-Essays, „das eigentliche Ergebnis des Krieges“ im „Gewinn eines tieferen Deutschland“ (W, 5: 146)7 zu sehen und damit dem Untergang der eurozentrischen Weltordnung mit einem forcierten Nationalismus entgegenzuwirken, erweist sich als unhaltbar. Das liegt in erster Linie daran, dass die im Essay benannte und beschriebene Mobilisierungs-Dynamik einer nationalistischen Position radikal den Boden entzieht, weil sie strukturell über die Idee der Nation ebenso wie über die der europäischen Staatenordnung hinweggeht. Der unbeschränkte Austausch von Kapital, Rohstoffen, Arbeitskräften und Informationen, deren in alle Richtungen ausgehende Vektoren nicht mehr in die Figur einer Zirkulation eingebunden sind, schleift so auch die herkömmlichen politischen Hierarchien und Autoritäten und schließlich sogar den Unterschied zwischen Krieg und Frieden: Wirklich hat sich der Verkehr zu einer Art von Moloch entwickelt, der jahraus, jahrein eine Summe von Opfern verschlingt, die nur an denen des Krieges zu messen ist. Diese Opfer fallen in einer moralisch neutralen Zone; die Art, in der sie wahrgenommen werden, ist statistischer Natur. (W, 6: 105)
Diese Zeilen finden sich im 1932 erschienenen Essay Der Arbeiter. In ihnen findet sich schon die planetarische Perspektive, mit der dieser Essay die deutschnationale Position der früheren Mobilmachungs-Schrift überwindet.8 Im Anschluss führt Jünger die Gefahren des weltweiten Verkehrs darauf zurück, dass man allerorten danach strebe, „die Geschwindigkeit von Geschossen zu erreichen“ (W, 6: 105). Was Jünger in solchen Formulierungen vor Augen hat, wird 7 Die Formulierung erinnert an die Parole eines „geheimen Deutschlands“, die im George-Kreis entstand und auch (einer mythischen Stilisierung zufolge) der letzte Satz Stauffenbergs gewesen sein soll, und in der Tat spielt Jünger wohl eine Rolle bei der Schöpfung des Mythos um die letzten Worte Stauffenbergs. Siehe hierzu Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 420-423. Raulff zufolge war Dönhoff die „Borussifizierung“ ohnehin wichtiger als die „Georgianisierung“ der Hitler-Attentäter (S. 423). 8 Dass Jüngers politisches Programm mit einem Nationalismus letztlich nicht zu vereinbaren war, wurde in der Forschung bereits mehrfach betont. Auf den Zusammenhang mit einer planetarischen Perspektive wurde dabei jedoch höchstens en passant eingegangen. Siehe beispielsweise Klaus Vondung, „Metaphysik des apokalyptischen Aktivismus. Ernst Jüngers Geschichtsdenken vor 1933“, in: Études Germaniques (Oktober-Dezember 1996), S. 647-656, hier S. 649 u. 651, sowie Matthias Schöning, Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914-33, Göttingen 2009, S. 135-137.
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1. VON EINER NATIONALISTISCHEN ZU EINER PLANETARISCHEN PERSPEKTIVE
Paul Virilio später begrifflich zugespitzt als die „planetarische Mechanik“9, bezeichnen, die mit der „totalen Mobilmachung“10 des Ersten Weltkriegs eingesetzt haben soll. Der Fluchtpunkt ist schon bei Jünger eine „Planeten-Maschine“11, die von einem „Planeten-Menschen“12 gesteuert wird. Diese Tendenzen sieht Virilio bereits bei Marinetti und dessen „Straßenrenner, dem Boliden, in dem er am Lenkrad sitzt ‚dessen gedachte Achse die auf den Umkreis ihrer Planetenbahn geschleuderte Erde durchbohrt‘“, angelegt.13 Die planetarische Mensch-Maschine wird für Virilio aber erst in Jüngers Arbeiter von einer nur individuellen Haltung zu einer kollektiven Formation.14 Was sich in Jüngers Essay in einem weltumspannenden Maßstab umzusetzen suche, sei eine Kriegsstrategie, deren Ursprünge Virilio im Seekrieg verortet. Die sogenannte „fleet in being“15 zeichne sich dadurch aus, dass sie nirgends präsent ist, aber überall auftauchen kann. Mit dem Ersten Weltkrieg setze sich diese Strategie – etwa durch den Tank, den Virilio „lieber Ohne-Weg- als All-WegPanzer“16 nennt – zunehmend auch im Land- und Luftkrieg durch. Am Ende dieser Entwicklungen werde schließlich sogar die Erde selbst zu einem Projektil.17 Damit benennt Virilio genau die Trajektorie, die Jüngers planetarische Arbeiten nachzeichnen und in die sie sich einzeichnen. Seit den 1930er Jahren zeigt sich Jünger verstärkt an dezentral operierenden Kollektiven wie den Kampfformationen des „Geschwaders“ (W, 5: 184) und des „Rudels“ sowie der „Erscheinung des Partisanen“ (W, 5: 175) interessiert, die er allesamt als zukunftsträchtige Innovationen einschätzt. Der Arbeiter-Essay, dessen Projekt schon Harro Segeberg nicht einem „faschistischen Führerstaat“18, sondern der Entwicklung eines anarchisch-libertären, „sich selber regulierenden technoiden ‚Natur‘-Körpers“19 verpflichtet sieht, stellt sich in den Dienst solcher netzwerkartigen Kollektive. Weil Jünger dafür die militärische Schwarmintelligenz in eine politische Avantgarde20 umkodiert, die am internationalen Anarcho-Syndikalismus orientiert ist, wird er über Virilio hinaus
9 Paul Virilio, Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie, übers. v. Ronald Voullié, Berlin 1980, S. 59. 10 Ebd., S. 139. 11 Ebd., S. 23. 12 Paul Virilio, Rasender Stillstand. Essay, übers. v. Bernd Wilczek, Frankfurt a.M. 1997, S. 173 [Übersetzung verändert, ma]. 13 Virilio, Geschwindigkeit und Politik, S. 61. 14 Ebd., S. 120. 15 Ebd., S. 52. 16 Ebd., S. 72. 17 Siehe ebd., S. 45 u. 177. 18 Harro Segeberg, „Regressive Modernisierung. Kriegserlebnis und Moderne-Kritik in Ernst Jüngers Frühwerk“, in: ders. (Hg.), Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes „Arbeit“ in der deutschen Literatur (1770-1930), Tübingen 1991, S. 337-378, hier S. 376. 19 Ebd., S. 356. 20 Für die Bezüge des Arbeiters zur Avantgarde, vor allem der russischen, siehe Boris Groys, „Ernst Jünger’s technologies of immortality“, in: Jahrbuch für Philosophie des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover 10 (1999), S. 233-242, vor allem S. 237-238.
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auch auf Deleuze/Guattaris Konzept der revolutionären „Kriegsmaschine“21 sowie auf Hardt/Negris (von Deleuze/Guattari inspirierte) „Multitude“ wirken.22 Ausschlaggebend ist hierbei, dass Jünger Textstrategien entwickelt, die solche dezentral und unhierarchisch strukturierten Netzwerkbildungen nicht nur beschreibbar werden lassen, sondern diesen selbst eine Stimme zu verleihen versuchen. Wenn man wie Ingo Stöckmann auf den „rhizomatischen“ Charakter des Arbeiters verweist23, dann nicht um eine ‚Deleuze’sche‘ Lesart Jüngers vorzulegen, sondern um anzudeuten, dass sich die sprachlichen Verfahren, in denen sich spätere Theoriebildungen artikulieren, der von Jünger entwickelten Textstrategien bedienen. Ansätze dieser Strategien finden sich schon in den frühesten Texten Jüngers. Vor allem die Entwicklung seiner Kriegsdiaristik zeigt, wie er sich zunehmend von einem zentralisierten Schreibmodell löst. Da sich diese Ablösung in der eminent europäischen Form des Tagebuchs24 vollzieht, wird die Dezentralisierung der Schreibverfahren auch als Absage an einen zentralisierten Staat und eine eurozentrische Welt lesbar. Vom europäischen Kriegstagebuch geht Jünger dann zum planetarischen Arbeits‚Logbuch‘ über.
1.2 Das Tagebuch im Grabengewirr verlieren: In Stahlgewittern Jüngers Erstlingswerk versteht sich zwar als „Tagebuch“, stellt aber, wie das unlängst publizierte Kriegstagebuch Jüngers zeigt, schon in seiner ersten Fassung (1920) eine tiefgreifende Überarbeitung des ursprünglichen Materials dar.25 In Stahlgewittern beschreibt, wie sich die Frontlinie zwischen Entente und Mittelmächten langsam in ein unübersichtliches Grabengewirr auflöst, das die gegnerischen Kriegparteien ebenso verbindet wie es sie trennt. Den Soldaten, die in den Grabennetzen operieren sollen, kommt dabei jegliche Orientierung abhanden. Sie verlieren sich in einem „Durcheinander, in dem es Begriffe wie links und rechts gar nicht mehr gibt“ (W, 1: 208). Hier ist zwar nur die konkrete körperliche Orientierung gemeint, die Wirrnis droht aber zugleich auf die politischen Unterschiede von
21 Während für Virilio die fleet in being schon per se faschistisch ist, werden Deleuze/Guattari in ihr die Grundform einer nomadischen Kriegsmaschine sehen, die revolutionär bleibe, solange sie sich gegen eine Vereinnahmung durch den Staat behaupten könne. Vgl. Gilles Deleuze u. Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, übers. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié, hg. v. Günther Rösch, Berlin 1992, S. 535. 22 Siehe Michael Hardt u. Antonio Negri, Multitude. War and Democracy in the Age of Empire, New York 2004. Zur primär biologischen Vorstellung des Schwarms und dessen Bezug zu den politischen Multitudes siehe Eugene Thacker, „Netzwerke – Schwärme – Multitudes“, in: Eva Horn u. Marco Gis (Hgg.), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009, S. 27-68. 23 Ingo Stöckmann, „‚...Prosa, die von uns gedeutet und beherrscht werden will.‘ Über Ernst Jüngers politische Essayistik“, in: Germanic Review 75.1 (Winter 2000), S. 3-19, hier S. 5. 24 Hierzu ist immer noch einschlägig Gustav René Hocke, Das Europäische Tagebuch, Wiesbaden 1963. 25 Siehe Ernst Jünger, Kriegstagebuch 1914-1918, hg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart 2010.
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1. VON EINER NATIONALISTISCHEN ZU EINER PLANETARISCHEN PERSPEKTIVE
rechts und links überzugreifen.26 Zunächst entwertet die Orientierungslosigkeit aber ganz basale Formen von Wissen und Technik, so dass sich nicht einmal mehr der Polarstern orten lässt: Nachdem wir einige Male durch Kreuz- und Quergräben gelaufen waren, wußte niemand mehr, wo wir uns befanden und in welcher Richtung die deutsche Stellung lag. Allmählich wurden alle aufgeregt. Die Nadeln der Leuchtkompasse tanzten in den fliegenden Händen, und beim Suchen des Polarsterns ließ uns in der Erregung unsere ganze Schulweisheit im Stich (W, 1: 206).
Die Desorientierung der Soldaten ist symptomatisch für die Situation, die der Erzähler an der Westfront erlebt. Die Kriegsbegriffe des neunzehnten Jahrhunderts, die einem „Kult der Offensive“27 verpflichtet waren, greifen hier nicht mehr. Sieg und Niederlage werden nicht mehr in einer Entscheidungsschlacht ermittelt, nicht zuletzt, weil nicht einmal mehr von Schlachten die Rede sein kann. Damit fällt auch die bis zu Homer zurückreichende Vorstellung, dass sich ein Held durch den Zweikampf mit einem ihm ebenbürtigen Gegner auszeichnen müsse. An der Westfront gibt es weder Schlachten noch Helden: In einem prolongierten gegenseitigen Belagerungszustand fallen namenlose Massen, aus denen sich keiner als ruhmvoller Held herausheben kann. Der Tod des Frontsoldaten steht hier in keinem Verhältnis zu seinem Mut, seiner Taktik oder anderen Fähigkeiten. Dass Jüngers Kriegstexte die Verabschiedung eines noch an der Figur des Ritters und des homerischen Helden orientierten Heroismus verzeichnen, ist mittlerweile communis opinio der Jünger-Forschung.28 Bereits Hannah Arendt hat das in ihrem Totalitarismus-Buch festgestellt. Mit Bezug auf Jünger und die Stahlgewitter heißt es dort: „the worshippers of the war were the first to concede that war in the era of machines could not possibly breed virtues like chivalry, courage, honor, and manliness“.29 Was die Stahlgewitter auszeichnet, ist, dass sie den scheiternden Versuch vorführen, ein individuelles Heldentum für den Schreibenden in Anspruch zu nehmen.30 Als Reaktion auf die um sich greifende Anonymisierung des Soldaten, seines Leidens und Sterbens hält der Erzähler die Bemerkung eines Untergebenen fest, der „Leutnant Jünger“ seinen „Respekt“ zollt. (W, 1: 207) Die Stelle findet sich wenige Zeilen nach dem Passus, in dem der Erzähler und die anderen Soldaten den Polarstern nicht haben ausfindig machen können. Es ist das erste Mal, dass der 26 Dafür spricht auch Jüngers Betonung der metaphorischen Bedeutung der anatomischen Unterschiede von links und rechts in Sprache und Körperbau (siehe W, 8: 54-67). 27 Beatrice Heuser, Den Krieg denken. Die Entwicklung der Strategie seit der Antike, Paderborn, München et al. 2010, S. 181. 28 Vgl. hierzu beispielsweise Renate Martinsen, Der Wille zum Helden. Formen des Heroismus in Texten des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 1990. 29 Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, New York 1951, S. 321. 30 Siehe hierzu den in Kürze erscheinenden Aufsatz von Claude Haas, „Der kollabierte Feind. Zur historischen Poetik des Kriegshelden von Jünger bis Goethe“, in: Nikolas Immer u. Mareen van Marwyck (Hgg.), Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden, Bielefeld 2013 [im Druck]. Darin findet sich auch ein konziser Überblick über die Forschungslage zum Helden bei Jünger.
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Nachname genannt wird – nach ungefähr zwei Dritteln des Textes.31 Der Untergebene will seinen Vorgesetzten anstelle des Polarsterns zum Orientierungspunkt im Grabengewirr machen. Da ‚Leutnant Jünger‘ in dieser impliziten Apotheose aber nicht an ein Firmament von Sternen, sondern an einen von Raketen erleuchteten Nachthimmel versetzt wird, kann seine ruhmvolle Benennung weder einen ritterlichen Zweikampf wiederbeleben noch eine sichere Orientierung erlauben. Die Versuche, beim Leser Vorstellungen eines gleichgestellten und satisfaktionsfähigen Gegners aufzurufen sowie der Nachwelt die Namen gefallener Kameraden zu bewahren, scheitern daran, dass der Erzähler keinen Überblick mehr hat. Der Lokativ des Titels In Stahlgewittern bezeichnet seine Position32: in einem technisch-militärischen Unwetter, in dem sich der Gegner zuallermeist nur als schemenhafte Gestalt zeigt und man sich gegenseitig tötet, „ohne sich zu sehen“ (W, 1: 232). Das wird dem Erzähler schon nach den ersten Gefechten eindringlich klar: „Ich hatte an einer großen Kampfhandlung teilgenommen, ohne einen Gegner zu Gesicht bekommen zu haben.“ (W, 1: 40) Wenn man dem Feind doch einmal von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, ist der Schock umso größer. Ein einziges Mal bietet sich dem Erzähler die Möglichkeit eines Zweikampfs, doch mit einem ritterlichen Turnier oder einem adligen Duell hat das wenig gemein: Da erblickte ich den ersten Feind. Eine Gestalt in brauner Uniform, anscheinend verwundet, kauerte zwanzig Meter voraus in der Mitte der zertrommelten Mulde, die Hände auf dem Boden gestützt. Wir nahmen uns wahr, als ich um eine Ecke bog. Ich sah sie bei meinem Erscheinen zusammenfahren und mich mit weit geöffneten Augen anstarren, während ich, das Gesicht hinter der Pistole verborgen, mich langsam und bösartig näherte. Ein blutiger Auftritt ohne Zeugen bereitete sich vor. Es war eine Erlösung, den Widersacher endlich greifbar zu sehen. Ich setzte die Mündung an die Schläfe des vor Angst Gelähmten, die andere Faust in seinen Uniformrock krallend, der Orden und Rangabzeichen trug. Ein Offizier; er mußte in diesen Gräben kommandiert haben. (W, 1: 252)
Der namenlos bleibende Offizier kann ‚Leutnant Jünger‘ von einem wenig heroischen Kopfschuss abbringen. Allein den Verzicht auf eine solche Hinrichtung wertet dieser aber schon als Heldentat. Nachdem andere Deutsche in den Graben vorgestoßen sind, beginnt er seine Handlungen in der dritten Person wie eine Stimme aus dem Off zu kommentieren; es ist das zweite und letzte Mal, dass sein Nachname fällt: „Ich weiß noch, daß ich noch einige Mal energisch rief: ‚Jetzt zieht Leutnant Jünger seinen Mantel aus‘“. (W, 1: 252) Trotz dieser Benennung der 31 Der Vorname fällt erst nach ungefähr der Hälfte des Textes auf Seite 158 und ein zweites und letztes Mal auf Seite 195. 32 Das souveräne, „nie den Überblick“ verlierende „Subjekt“, durch das sich der Kriegsroman des Ersten Weltkriegs, wie Eva Horn zeigt konnte, für gewöhnlich auszeichnet, findet sich hier also nicht. Eva Horn, „Erlebnis und Trauma. Die narrative Konstruktion des Ereignisses in Psychiatrie und Kriegsroman“, in: Inka Mülder-Bach (Hg.), Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges, Wien 2000, S. 131-162, hier S. 147.
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handelnden Person vom Standpunkt eines imaginären Dritten aus kann der Erzähler, wie sich anschließend just an einem Mantel erweisen wird, keine erhöhte Perspektive über den Ereignissen einnehmen. Die „Nichtigkeit aller Dinge im Kampf“ (W, 1: 282) erstreckt sich auch auf die Uniformen und Frontlinien. In der „große[n] Schlacht“ (W, 1: 241 ff.), dem Höhepunkt der Stahlgewitter findet sich der Erzähler in einem englischen Mantel auf englischer Seite wieder. Der abendlichen Kälte wegen hatte er den fremden Mantel umgelegt und – als er sich von den Kampfhandlungen plötzlich in die vorderste Front getrieben sah – vergessen, dass er ihn noch trug: „ich befand mich also bereits auf der feindlichen Seite, und zwar in feindlicher Tracht!“ (W, 1: 270) Von den hinter ihm stürmenden deutschen Kameraden, die ihn für einen Engländer halten, wird er angeschossen und fällt zu Boden; ein tiefer Fall für den zum Helden verklärten Erzähler. Zwar entgeht er auf schier wunderbare Weise dem nahe geglaubten Tod, doch ist damit die Gefahr nicht vollständig gebannt. Ein zu Hilfe kommender Kamerad reißt ihm mit dem englischen Mantel auch die Kartentasche herunter, in der sich das Tagebuch, aus dem die Stahlgewitter hervorgegangen sind, befindet. Anstatt als Held am Himmel verewigt zu werden, steht ‚Leutnant Jünger‘ nunmehr in Gefahr, dem Vergessen anheimzufallen, weil der Erzähler der Nachwelt kein Zeugnis seiner Taten als Held überliefern kann. Tasche und Buch müssen im Niemandsland erst gesucht werden. Leutnant Jüngers ‚Überlaufen‘ zum Feind ist zwar einem Versehen geschuldet, die Materialschlacht erhebt aber die Ununterscheidbarkeit von Freund und Feind zum Prinzip. Eine nationale ‚Linientreue‘ wird im Grabengewirr zunehmend unmöglich. Wenn die englischen Truppen kurz nach den deutschen Vorstößen zurückschlagen, gerät die Kompanie in friendly fire: „Die Artillerie kannte keine Parteien mehr.“ (W, 1: 293) Unter diesem Artilleriebeschuss fühlt sich der Erzähler wie in „heraufziehenden Stahlgewittern“ (W, 1: 293-4) – es ist das einzige Mal, dass der Ausdruck im Text fällt. Da die Frontlinie, die zuvor Freund und Feind voneinander trennte, kollabiert ist, verschanzen sich die beiden Seiten in einem einzigen unübersichtlichen Grabennetz (siehe W, 1: 287). Wenn es zum Abschluss des Kapitels heißt: „Wir hatten ein Spiegelbild gesehen“ (W, 1: 294), dann sind damit nicht nur die Taktiken gemeint, die sich bei Engländern und Deutschen gleichen. Die Stahlgewitter unterlaufen somit die Position ‚Leutnant Jüngers‘, der sich als neuen Orientierungspunkt der deutschen Truppen aufzustellen sucht. Dass sich der individuelle Held erzählerisch nicht konstituieren kann, wird bei Jünger ein Umdenken bezüglich der Komplizenschaft von Held und Autor einleiten.33 Das gewandelte Verständnis der Beziehung von Heldentum und Autorschaft will einer Situation im Niemandsland gerecht werden, in der die aufeinander verwiesenen Unterscheidungen von Held und Kollektiv und von Freund und Feind unterlaufen
33 Für dieses Umdenken werden die in den Stahlgewittern präsenten von Segeberg sogenannten „Stoßtrupp-Eliten“ wegweisend. Siehe Harro Segeberg, „Regressive Modernisierung“, S. 345. In den Stahlgewittern bleiben solche Formationen indessen noch auf herausragende Individuen angewiesen.
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werden. Dafür entwerfen sich auch Jüngers Texte selbst als gefährliche Räume34 zwischen den Fronten, in denen Begegnungen mit dem Anderen im Eigenen und dem Eigenen im Anderen erzwungen werden sollen. Im Niemandsland dieser Texte sterben, wie die Erzählung Sturm von 1923 vorführt, individueller Held und Autor zugleich. Der Titelheld der Erzählung nimmt sich vor, ein „Dekameron des Unterstandes“35 zu schreiben, kommt allerdings bei einem abschließenden Angriff ums Leben, nicht aber ohne zuvor seine Manuskripte zu verbrennen. So wird die Novellenform gegen sich selbst gewendet, indem die hier erzählte ‚unerhörte sich ereignete Begebenheit‘ – seit Goethe das Kriterium der Novelle – von der Unmöglichkeit, Novellen zu schreiben, zeugt. Der Tod des Helden, der ebenso ein Tod des Autors ist, deutet schon erste Verbindungen von Jüngers Textstrategien zu den postkolonialen Lektürestrategien einer Gayatri Spivak an, wenn es auch übertrieben scheint, die „extreme Alterität“, in der Krieg und Niemandsland bei Jünger gezeichnet werden, zum Ausgangspunkt einer postkolonialen Poetik zu machen.36 Die poetologischen Konsequenzen des Tods von Held und Autor deuten sich schon in einer Episode der Stahlgewitter an, die im Abenteuerlichen Herzen zur zentralen literarischen Erfahrung des (dort anonym bleibenden) Erzählers stilisiert wird. Im unmittelbar an den Bericht von der großen Schlacht anschließenden Kapitel der Stahlgewitter, „Mein letzter Sturm“, schildert der Erzähler die Lektüre des Tristram Shandy, die er für diesen letzten Sturm abrupt unterbrechen muss und erst nach einer erneuten Verwundung im Lazarett zu Ende führen kann (siehe W, 1: 298 u. 308). Wiederum wird ‚Leutnant Jünger‘ unvermittelt in den Kampf gerufen, nun aber nicht äußerlich den feindlichen Engländern gleichend, sondern einen Roman aus Feindesland mit sich führend, welcher auch noch neben seinem Tagebuch in der Kartentasche Platz findet. Diese Episode kehrt in Jüngers Essay Das abenteuerliche Herz wieder, wobei die Lektüre des Romans dort als Initiation in den „Orden der Shandysten“ (W, 7: 32) gedeutet wird, die auf weitere Geheimbünde und sogar auf eine „höchste Sozietät“ (W, 7: 34) hoffen lässt, zu denen der Erzähler aber keinen Zugang erhält.37 Hat der Erzähler der Stahlgewitter sich auf dem Höhepunkt seiner Erzählung auf der feindlichen Seite und zwar in feindlicher
34 So schon Ingo Stöckmann, „Sammlung der Gemeinschaft, Übertritt in die Form. Ernst Jüngers Politische Publizistik und Das abenteuerliche Herz (Erste Fassung)“, in: Uwe Hebekus u. ders. (Hgg.), Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900-1933, München 2008, S. 189-220, hier S. 195. 35 Ernst Jünger, Sturm, Stuttgart 1978, S. 61. Siehe hierzu Volker Mergenthaler, Versuch, ein Dekameron des Unterstandes zu schreiben. Zum Problem narrativer Kriegsbegegnung in den frühen Prosatexten Ernst Jüngers, Heidelberg 2001. 36 So Oliver Lubrich, Das Schwinden der Differenz. Postkoloniale Poetiken, Bielefeld 2009, S. 149. 37 Auch Jean-Luc Nancy bringt Tristram in eine Nähe zum Mönchsorden, hier den Jesuiten, und zwar in eben dem Text, dem Agamben das für den Homo sacer so zentrale Konzept des „abbandono“ verdankt. Zu den „figures [...] de l’être abandonné“ zählt Nancy auch den Proletarier und den Souverän; zu seinen „penseurs“ neben Ignatius von Loyola auch Heidegger. Jean-Luc Nancy, L’Impératif catégorique, Paris 1983, S. 148-149. Für die Weiterentwicklung des „abbandono“ im Ausgang von Nancy siehe Giorgio Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt a.M. 2002, S. 69-70.
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Tracht wiedergefunden, so ist der Erzähler des Abenteuerlichen Herzens mit der Initiation in die Shandysten nun literarisch zu den Engländern übergelaufen.38 Diese Fahnenflucht geht mit einer Verkehrung von Fakt und Fiktion einher. Aufgrund der im Lazarett verabreichten Schmerz und Fieber stillenden Mittel sowie der nahebei sich abspielenden Kampfhandlungen befindet sich der Shandysten-Novize in einem verwirrten Rauschzustand, der ihn aber nicht von der Lektüre des Buches abhalten kann. Dieses steht nämlich, wie ihm scheint, in einer seltsamen „Harmonie zu der äußeren Situation“ und bietet ihm mit dem Geistlichen Yorick und dem Soldaten Toby „die realsten der Gestalten, die sich vorzustellen pflegten“ (W, 7: 32). Yorick und Toby reihen sich damit unter die Figuren ein, die im Abenteuerlichen Herzen als Sternbilder einer neuen Zeit auftreten. Durch seine Jugendlektüre, die vor allem aus phantastischer und Abenteuerliteratur bestand, ist der Erzähler bereit für diese neuen Erscheinungen, so dass nach der ewig unvergesslichen Entdeckung des „Robinson Crusoe“ und der „Tausendundeinen Nacht“, nach den Cooper, Defoe, Sealsfield, Wörrishofer, Dumas und Sue andere Namen aufzutauchen begannen, wie Sternbilder, die groß und schweigend am unbeschriebenen Gewölbe aufziehen, um für immer ihren Platz zu wahren, durch den Rang, Grad und Richtung aller zukünftigen Erscheinungen sich bestimmt. (W, 7: 49)
Diese anderen Gestalten, zu denen namentlich auch Don Quixote zählt, sind ebenso internationaler Herkunft wie die der früheren Texte. Sie sollen offenbar denjenigen Platz am Nachthimmel einnehmen, den der Erzähler der Stahlgewitter vergeblich zu beziehen versuchte. Was sich zwischen den Stahlgewittern und der Erstfassung des Abenteuerlichen Herzens, also zwischen 1920 und 1929 abzeichnet, ist ein textstrategischer Wandel, in dem sich die Komplizenschaft von Autor und Held ändert. Im Abenteuerlichen Herzen formuliert Jünger diese neue Konstellation als Maxime: „Man muß es verstehen, dem Kinde zuzulachen, das man in sich trägt – gleichsam sein Cervantes und Don Quixote in einem zu sein.“ (W, 7: 88) Auf den letzten Seiten charakterisiert Jünger die Forderung – auf das Herz im Titel des Essays anspielend – als den „kategorischen Imperativ des Herzens“ (W, 7: 174). Damit soll sich die Konfiguration von Autor und Held abschließend für den Leser öffnen, der hier sogar als eigentlicher Verfasser und eigentlicher Held des Abenteuerlichen Herzens apostrophiert wird: O du einsamer Leser, der du nach der Gesellschaft von Helden begierig bist! Du wirst auch die Stunden kennen, in denen du das abenteuerlichste Buch der Welt durchblätterst, jenes, das du selbst mit deinem Blute geschrieben hast und dessen Lektüre man die Erinnerung nennt. (W, 7: 174)
38 Virilio wird die Figuren des Kriegers und des Mönchs zu einem „Soldaten-Mönch“ verschmelzen sehen, der die „Kriegsmaschine“ antreibe. Virilio, Geschwindigkeit und Politik, S. 111-112.
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Jüngers Imperativ des abenteuerlichen Herzens überblendet den literarischen Bezug von Autor und Protagonist und den anthropologischen Bezug von Denken und Handeln, indem er die Differenz von Fiktionalität und Wirklichkeit aufhebt. Don Quixote ist hierfür ein Paradebeispiel, weil er, wie Gérard Genette ausführt, Fiktionen nicht als solche zu erkennen vermag.39 Aufgrund eben dieser – für Genette notorischen, letztlich pathologischen – Fiktionalitätsblindheit figuriert Don Quixote im Abenteuerlichen Herzen als idealer Rezipient, der „beim Lesen gleichsam die Luft mit Schwerthieben zerteilt“ (W, 7: 172). Leser, Held, Erzähler, Gegenstand und Autor des Buches werden in einem solchen Textverständnis virtuell eins; selbst – oder gerade – dann, wenn der Leser/Autor den Postulaten dieser Identität nicht genügt. Denn obwohl in dieser Konstruktion neben dem Helden auch der Autor zu einer anonymen Identifikationsfigur wird40, offenbart das ‚abenteuerlichste Buch der Welt‘ seinem Leser gerade die Momente seines Scheiterns: „Und da du dein eigener Autor bist, wird es dich doppelt brennen, daß du dich selbst vor deinem Anspruch auf Wirklichkeit im Stiche lassen konntest, welche allein in der Idee und dem ihr gemäßen Handeln besteht.“ (W, 7: 174) Weil die imaginäre Autorposition nur im Durchgang durch diesen imperativisch geforderten und gesteigerten („doppelt brennen“) Schmerz bezogen werden kann, versucht Jüngers Schreiben diese Grenzerfahrung bei seinen Lesern auszulösen. Der spätere Essay Über den Schmerz (1935) wird deshalb nicht nur vom Schmerz handeln, sondern diesen hervorzurufen versuchen, um damit den Leser in die Komplizenschaft von Held und Autor einzubinden. Jüngers Leser setzen sich der Lektüre – dem Selbstverständnis seiner ‚anarchistischen‘ Texte nach41 – auf eigene Gefahr aus. Jüngers Schreiben verübt, wie Das Wäldchen 125 besonders eindringlich belegt, Anschläge auf die Lebensformen des Bürgertums, indem es die literarische Form, in der sich die Innerlichkeit eines bürgerlichen Erlebens ausdrückt, unterwandert und von innen heraus sprengt.
1.3 Das Ende der Tagebuchform: Das Wäldchen 125 Das Wäldchen 125, ebenfalls ein überarbeitetes Kriegstagebuch, berichtet, wie ein durchweg anonym bleibender (wenn auch klar auf Jüngers eigene Person verweisender) Erzähler ein „Grabengeflecht“ (W, 1: 325) bezieht, das, nachdem sich die Frontlinie aufgelöst hat, zu einem mehrdimensionalen „Kräftespiel“ (W, 1: 318) geworden ist. Der Text geht also von der Situation aus, die sich im Verlauf der Stahlgewitter erst entwickelt hat. Im Mittelpunkt steht der Fall einer unterirdischen Stellung, die sich in dem ebenso namenlosen, nur durch eine dreistellige Zahl identifizierten Wäldchen befindet. Unweit des Wäldchens in Stellung gegangen, be39 Gérard Genette, Fiktion und Diktion, übers. v. Heinz Jatho, München 1992, S. 61. 40 Zum Schriftsteller-Anonymat, das um 1900 aufkommt, vgl. Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900 (zweite, erweiterte u. verbesserte Aufl.), München 1987, S. 348-350. 41 Das abenteuerliche Herz charakterisiert seinen „Leser“ als „preußischen Anarchisten“ (W, 7: 173).
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richtet der Erzähler von den letzten Tagen der deutschen Besatzung, die im dortigen Stollen auf verlorenem Posten ausdauert. Nach wochenlangem schweren Artilleriebeschuss dringen feindliche Truppen schließlich in den im Wäldchen befindlichen Gang ein und töten die dort Ausharrenden, wobei die Offiziere durch „Kopfschuß“ (W, 1: 433) hingerichtet werden. Jüngers Text lässt diesen Zusammenbruch der militärischen Hierarchien, nach welcher die Truppen keiner Führung mehr unterstehen, mit dem Wegfall der Freund-Feind-Unterscheidung koinzidieren. Wenige Seiten später „schließen“ sich auf einem Leichenhaufen „den grauen Gestalten“ der deutschen Soldaten „die lehmfarbigen“ ihrer englischen Gegner „an“. (W, 1: 437) In der Fassung der Werkausgabe von 1964 lautet der allegorisierende Kommentar, „der Tod hat reiche Ernte gehalten“ (W, 1: 436-437). In der Erstfassung ist indessen vom Maschinengewehrschützen die Rede, der die Gestalten erschossen hat: „Er wird wohl keine Zeit gehabt haben, auf Freund und Feind zu achten, als seine Garbe den Graben leerfegte“.42 (In diesem Schützen, der aus Zeitnot nicht souverän über seine Waffe gebietet, feiert der militärische Komplex von Mensch und Maschine, der im Zentrum des Arbeiters stehen wird, einen ersten mörderischen Auftritt.) Nach dem Fall des Stollens gibt es im Grabengeflecht überhaupt keine Unterstände mehr, so dass zum Abschluss des Textes alle Soldaten aus den unterirdischen Stellungen getrieben werden, die sie zu Beginn des Krieges gegraben haben. Da sich die unterirdischen Gänge dem Erzähler zuvor als „lang und gemütlich wie ein Dickenscher Roman“ empfohlen haben (W, 1: 326), nimmt die Zerstörung dieser Netzwerke eine poetologische Dimension an. Das Wäldchen 125 ist ein einziger Anschlag auf die mit allem Komfort ausgestatteten Bauten eines literarischen neunzehnten Jahrhunderts. Das Schreiben des 20. Jahrhunderts, so will dieses „Tagebuch“ offenbar nahelegen, entführt seine Leser aus der geschützten (gleichsam musealen) Abgeschlossenheit endloser Prosa, um sie direkt dem „Element“ der „Gefahr“ (W, 1: 375) auszusetzen, das im verwirrenden Netzwerk der Grabensysteme herrscht. Die Auflösung der Identitäten und Grenzen, die mit dem Eintritt in dieses Element einhergeht, reflektiert Jünger schon im ersten Drittel der Stahlgewitter. An der Westfront des Ersten Weltkrieges finde sich der Soldat in einer übermäßig affektiv geladenen Situation, in der man zwischen „zwei gewaltigen Gefühlen“ schwankt: „der gesteigerten Aufregung des Jägers und der Angst des Wildes“ (W, 1: 80). Die Gefahren, derer man niemals ganz Herr werden könne, werden hier aber sogleich in die Möglichkeit einer Begegnung mit sich selbst umgemünzt. Aus der Zwiespältigkeit der Jagdsituation wird der Schluss gezogen: „Man ist eine Welt für sich“ (W, 1: 80), so dass der Einzelne, mit anderen Worten, Jäger und Wild in sich vereint. Diese Verinnerlichung der Freund-Feind-Beziehung soll dem Soldaten eine Abgeschlossenheit verleihen, die ihm dann Sicherheit im Kampf auf Leben und Tod garantiert, eine Sicherheit, die sich etwa noch im Titel Der Kampf als inneres Erlebnis (1922) ausspricht.43 Am Höhe- und Wendepunkt der Stahlgewitter 42 Ernst Jünger, Das Wäldchen 125. Eine Chronik aus den Grabenkämpfen 1918, Berlin 1925, S. 233. 43 Vgl. dazu Jürgen Brokoff, Die Apokalypse in der Weimarer Republik, München 2001.
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stellt sich indessen bereits heraus, dass der Erzähler keine solche heroische Abgeschlossenheit zu erlangen vermag. Zum Abschluss seiner Aufzeichnungen wird er folglich gerade den Identitätsverlust im kollabierenden Niemandsland als „Einweihung“ verstehen, „die nicht nur die glühenden Kammern des Schreckens öffnete, sondern auch durch sie hindurchführte“ (W, 1: 276). ‚Die große Schlacht‘, in der ‚Leutnant Jünger‘ in englischem Mantel auf englischer Seite auftaucht und von seinen eigenen Kameraden unter Beschuss genommen wird, „bedeutete eine Wendemarke auch in meinem Inneren, und nicht nur deshalb, weil ich von nun an den Verlust des Krieges für möglich hielt“, sondern weil diese „Schicksalsstunde [...] in die Tiefe überpersönlicher Bereiche geführt“ hat. (W, 1: 275) Unter der Hand ist die Innerlichkeit des Individuums hier schon in den Entwurf eines überpersönlichen Kollektivs übergegangen. Rites-de-passage wie die Initiation der Stahlgewitter bestimmen Jüngers Werk fortan formal wie thematisch und gehören zum Grundstock seines um 1930 entstehenden planetarischen Schreibens. Was er 1935 (im Essay Über den Schmerz) als Durchgang durch den Schmerz konzipiert, wird 1950 im Essay Über die Linie als Versuch, nicht nur über die Linie („de linea“) zu sprechen, sondern zugleich über die Linie hinaus („trans lineam“) zu führen, formalisiert.44 Wenn Jünger die Absicht des Essays sogar auf ein „Überqueren des Nullmeridians“ (W, 6: 272-273) hin ausrichtet, dann gelangt das schon weit früher entwickelte planetarische Schreiben zu letzter konzeptueller Klarheit. Dieses Schreiben geht auf die Erfahrung der kollabierenden Grenzen der Westfront und die damit erzwungene Neukonzeption von Heldentum und Autorschaft zurück. Der souveräne Blick auf die gefährlichen Zonen, der wie dem Helden und Autor auch dem Erzähler und Leser vorenthalten bleiben muss, wird in exzentrische, den Planeten umkreisende Positionen ausgelagert. Im Abenteuerlichen Herzen sind es noch Sternbilder, im 1930 (also im selben Jahr wie Die totale Mobilmachung) erschienenen Sizilischen Brief an den Mann im Mond ist es der natürliche Erdtrabant, der die erhobene Perspektive einnimmt, die dem Absender des Briefs versagt bleibt. In Heliopolis von 1949 schließlich wird dieser Blickpunkt von einem ‚Regenten‘ eingenommen, der auf einem nun künstlichen Satelliten um die Erde kreist. In der Bewegung, die von astronomischen Konstellationen zu künstlichen Erdtrabanten, mithin von der Astronomie zur Technik führt, schlägt sich die planetarische Perspektive nieder, die Jünger seit den 1930er Jahren nicht mehr auf einen kosmischen Zusammenhang der Planeten, sondern auf eine Vernetzung der Erde hin ausrichtet.45 Festzuhalten bleibt, dass Jüngers Texte zwar in das Wissen um eine solche Perspektive initiieren wollen, diese Perspektive aber selbst nicht einnehmen. Vielmehr inszenieren sich Jüngers
44 So schon Heidegger in einer eigenen Linien-Schrift, die sich als Antwort auf Jüngers Text versteht. Martin Heidegger, Wegmarken, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1996, S. 386. 45 Man kann dies als Wiederkehr eines Geozentrismus charakterisieren, wobei die Erde aber nicht als Zentrum des Kosmos, sondern als einziger Standpunkt in den Wirbeln des Weltraums figuriert.
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Schriften, als befände sich die planetarische Perspektive an der Grenze, an der sie mit „einer neuen Wirklichkeit“ (W, 7: 113) kommunizieren. Die Passagenriten Jünger’scher Texte bleiben auf die als Jagd-Szene imaginierte gefahrenträchtige Begegnung im ungesicherten Raum verwiesen, nur dass sie keine Schließung in eine Welt für sich in Aussicht stellen, sondern eine Öffnung der Begegnung für das ganz Andere betreiben. Über die zentrale Bedeutung der Begegnung in Jüngers frühen Kriegstexten ist man sich in der Jünger-Forschung weitgehend einig.46 Wenig Beachtung finden dagegen die Wandlungen, die das Begegnungskonzept in Jüngers späteren Texten durchläuft. Ein bedeutsames Moment von Jüngers Schreiben bleibt die Begegnung jedenfalls bis ins Spätwerk hinein, etwa in der Kurzgeschichte Die Eberjagd von 1950, der Sammlung Subtile Jagden von 1967 und selbst noch im sehr späten Krimi Eine gefährliche Begegnung von 1985. Schon im Frühwerk sind die Begegnungen, in denen zwischen Freund und Feind nicht klar zu trennen ist, nicht immer todbringend. Im Abenteuerlichen Herzen nehmen sie sogar einen epiphantischen47 Charakter an der Grenze von Leben und Tod, Selbst und Anderem an: „in einem sehr empfänglichen Augenblick und gleichsam aus dem Nichts heraus […] werden wir durch eine vollkommene Idee des Lebens beglückt“ (W, 7: 127), heißt es dort einmal. Das Wir, das sich hier ausspricht (und erst in der Begegnung konstituiert), ist bereits die initiierte Gemeinschaft, die Jüngers Texte stiften wollen. Da sich diese Pluralität jenseits der Unterscheidung von Selbst und Anderem, Freund und Feind etabliert, kann sie nicht mit Schmitts Konzeption von Politik erfasst werden, die der Entscheidung darüber, wer der Feind ist, eine grundlegende, alle weiteren politischen Entschlüsse motivierende Bedeutung beimisst.48 In der gefährlichen Begegnung von Selbst und Anderem kündet sich vielmehr ein hybrides Kollektiv an, das die Spannungen von alter und ego in sich aufnimmt, ohne sie auf ego zurückzuführen. Diese grenzüberschreitende Hybridität zeichnet sich schon in den Stahlgewittern ab, deren Sturmtruppen nicht nur als sich selbst regulierende Kollektive dargestellt werden, die durch die geteilte Bereitschaft zu Mord und Selbstmord ausgelesen werden,49 sondern als Formationen, die erst in dem Moment möglich und notwendig werden, in dem die konventionelle militärische Ordnung und Strategie zusammenbricht. Die antihierarchischen „face-to-face-groups“50, die sich in der folgenden Desorientierung bilden, basieren auf Begegnungen, die sich über die bisherige Freund-FeindUnterscheidung hinwegsetzen. Die deutschen Soldaten, die nicht in die Formati46 Siehe etwa Segeberg, „Regressive Modernisierung“, S. 356. 47 Von einer „Epiphanie“ spricht z.B. Karin Priester, Mythos Tod. Tod und Todeserleben in der modernen Literatur, Berlin 2001, S. 119. 48 Vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 2002, S. 26. 49 So Claudia Öhlschläger, „‚Der Kampf ist nicht nur eine Vernichtung, sondern auch die männliche Form der Zeugung‘. Ernst Jünger und das ‚radikale Geschlecht‘ des Kriegers“, in: Christian Begemann u. David Wellbery (Hgg.), Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg 2002, S. 325-352. 50 Segeberg, „Regressive Modernisierung“, S. 345.
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onen aufgenommen werden, gelten nicht als Kameraden, während die deutschen Sturmtrupps ihren englischen Pendants wie Spiegelbilder gleichen. Diese anarchisch-libertären in-groups der Stahlgewitter und anderer Kriegstagebücher sind das Modell für Jüngers planetarische Arbeiter-Avantgarde, die sich allerdings nicht mehr durch eine Fronterfahrung, sondern durch die Grenzerfahrung der Lektüre konstituieren soll. Dass die initiierende Grenzerfahrung der Lektüre mit einer neuen Form des Schreibens einhergeht, deutet schon Das Wäldchen 125 an, das die Tagebuchform über eine Grenze führt, an der sie sich grundlegend verwandelt. Obwohl der Text selbst noch als Tagebuch firmiert, setzt er zu einer fundamentalen Kritik an der Form an, in die man zu Beginn des Kriegs so viele Hoffnungen gesetzt haben soll: „Das war die Zeit, in der fast jeder Kriegsfreiwillige ein Heftchen im Tornister trug [...]. Ich habe diese Dinger oft gesehen; in den meisten stand auf der ersten Seite in dicker Schrift das Wort ‚Kriegstagebuch‘“ (W, 1: 355-356). Trotz des Titels werden diese Kladden schnell zu Notizbüchern, in denen „Bemerkungen, Anschriften, Skatrechnungen und anderes mehr“ steht, oder bleiben „nach der ersten Schlacht in irgendeinem Quartiere liegen[ ]“ (ebd.). Schuld sei der auffällige Widerspruch zwischen der „außerordentlichen Landschaft“ und der „wachsenden Langeweile“ (W, 1: 355) der Front. „Beim Ausbruch des Krieges hatte jeder von uns das Gefühl, daß seine Augen Dinge zu kosten bekommen würde, wie man sie bisher nur in Romanen gelesen hatte, die sich mit der Schilderung eines zukünftigen Weltbrandes beschäftigten.“ (W, 1: 355) Die Monotonie des Dienstes jedoch steht in einem starken Kontrast zu den erhofften Erlebnissen, so dass ein Tagebuch es nicht vermag, den Leser in das Element der Gefahr zu stellen und ihm trotzdem die Bedeutung der sich in diesem Element abspielenden Ereignisse zu vermitteln. Die tatsächlichen Entwicklungen sind dem individuellen Erleben unzugänglich und damit auch in der literarischen Form nicht darstellbar, in der sich ein solches Erleben traditionell niederschreibt. Folglich verlangen die Grenzerfahrungen der Frontsoldaten ‚in heraufziehenden Stahlgewittern‘ nach anderen Formen des Schreibens, die der Unfähigkeit der Soldaten Rechnung trägt, eine Perspektive einzunehmen, von der aus den Geschehnissen ein Zusammenhang und ein Sinn zugesprochen werden könnte. In dieser Hinsicht sind die Soldaten einem Kollektiv vergleichbar, das auf hoher See ausgesetzt ist: „Wir gleichen Seeleuten auf ununterbrochener Fahrt [...], und jedes Buch kann nicht mehr als ein Logbuch sein.“ (W, 7: 140) Als solche Logbücher verstehen sich fortan Jüngers Texte, seien sie nun als Tagebücher51, Essays oder Erzählungen bestimmt.52 Vor allem das experimentelle und unsystematische Schreiben des Essays eignet sich, den Leser dabei gleichsam mit 51 Wenn Jüngers Tagebuchsammlung aus dem Zweiten Weltkrieg, Strahlungen, zu Anfang im Rückgriff auf „das Tagebuch der sieben Matrosen“ (W, 2: 11), das eine „neue Literatur“ (W, 2: 13) einleitet, charakterisiert wird, dann steht auch hier der Wandel vom individuellen Tagebuch zum kollektiven Logbuch implizit im Zentrum. 52 So die dreifache Einteilung der Werkausgabe von 1964.
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ins Boot zu holen. Die Experimente der Jünger’schen Essayistik werden nämlich am Leser vorgenommen, der (im Schmerz-Essay) dem Schmerz ausgesetzt oder (im Linien-Essay) über die Linie geführt wird. So wird es auch die ‚Arbeit‘ des ArbeiterEssays sein, seine Leserschaft zu Arbeitern zu machen. Hier wird die Umkehrung von Fiktion und Wirklichkeit, von fictio und factio, die sich in der Lektüre des Tristram Shandy vollzogen hat, zum poetologischen Prinzip: Die Fiktion einer planetarischen Gestalt des Arbeiters soll Fakten schaffen. Die vorgeblich „natürliche Aufgabe“ der Gestalt des Arbeiters ist – wie Jünger in einer bezeichnenden, Technik als Natur ausgebenden Formulierung betont – die „Gestaltung [...] der Erde“ (W, 6: 231). Der Text selbst inszeniert sich als Teil dieser gestaltenden Prozesse im planetarischen Raum.
Exkurs: Das Planetarische bei Benjamin
Im abschließenden Abschnitt der Einbahnstraße (1928), „Das Planetarium“, spricht Walter Benjamin von den planetarischen Tendenzen der Technik und geht dabei genauer auf den Zusammenhang des Planetarischen mit dem Ersten Weltkrieg ein. Benjamin hat sich also die Rede vom Planetarischen schon vier Jahre vor Jüngers Arbeiter angeeignet, wohl auf Hans Freyer zurückgreifend, gegen den Benjamins Einschätzung der planetarisierenden Prozesse jedoch entschieden abgehoben werden muss. Den letzten Abschnitt der Einbahnstraße hat Irving Wohlfarth vor Kurzem zum Schlüsseltext Benjamins erklärt, gerade weil sich Benjamin hier – und zwar bewusst – in einem „komplexen Niemandsland“53 bewege, in dem „der schlimmste Feind nie mehr als einen falschen Schritt entfernt“54 sei. Während Wohlfarth den Zusammenhang mit der Rede vom Planetarischen bei Freyer nicht fokussiert, betont er in seiner eingehenden Lektüre des „Planetariums“, dass ein wichtiger Bezug zu Benjamins Kritik an Ernst Jünger besteht, wie sie im späteren Essay „Theorien des deutschen Faschismus“ von 1930 artikuliert wird.55 In „Das Planetarium“ geht es Benjamin darum, nachzuweisen, dass sich der Bezug des Menschen zum Kosmos allein im „Rausch“56 und in der „Gemeinschaft“57 offenbare. Diese „Erfahrung“58 wird, wie es heißt, je und je von neuem fällig und dann entgehen Völker und Geschlechter ihr so wenig, wie es am letzten Krieg aufs fürchterlichste sich bekundet hat, der ein Versuch zu neuer, nie erhörter Vermählung mit den kosmischen Gewalten war. Menschenmassen, Gase, elektrische Kräfte wurden ins freie Feld geworfen. Hochfrequenzströme durchfuhren die Landschaft, neue Gestirne gingen am Himmel auf, Luftraum und Meerestiefen brausten von Propellern, und allenthalben grub man Opferschächte in die Muttererde. Dies große Werben um den Kosmos vollzog zum ersten Male sich in planetarischem Maßstab, nämlich im Geiste der Technik.59
Diese von Opfer und unio mystica schwärmenden Zeilen können sich dem Rauschzustand, den sie beschreiben wollen, nicht ganz entziehen. Indes dürfen sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass Benjamin ein zutiefst zwiespältiges Verhältnis zum 53 Irving Wohlfarth, „Walter Benjamin and the Idea of a Technological Eros. A tentative reading of Zum Planetarium“, in: Benjamin Studien/Studies 1 (2002), S. 64-109, hier S. 70. 54 Ebd., S. 69: „It [„Zum Planetarium“, ma] charts its way through difficult, exposed terrain where opposing discourses overlap and its worst enemy is never more than one false step away.“ 55 Siehe ebd., S. 72. 56 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, 7 Bde., hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1972-1999, Bd. 4.1, S. 146. 57 Ebd., S. 147. 58 Ebd., S. 146. 59 Ebd., S. 147.
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Ersten Weltkrieg hat.60 Positiv bewertet er ihn, weil sich hier die Möglichkeit gezeigt habe, die gesamte „Menschheit“ als neue „Spezies“61 zu zeugen und ihr einen „neuen Leib“62 zu geben. Allerdings habe sich der Krieg von einem planetarischen „Brautlager“ in ein „Blutmeer“ verwandelt,63 weil die Technik in den Händen der „herrschenden Klasse“64 verblieben und nicht in diejenigen des „Proletariats“65 übergegangen sei. Es geht Benjamin hier unter anderem darum, die schon von Freyer betonten anarchischen, staatsfeindlichen Potentiale des Ingenieurs66 zu entfesseln, die derzeit allerdings noch im Dienste des Kapitalismus stünden. So sieht Benjamin gerade in Ernst Jünger – es handelt sich um den noch deutschnationalen, noch nicht ‚planetarischen‘ Jünger – einen der „Kriegsingenieure der Herrscherklasse“ und ihres „schwer erkrankten“ Staates.67 Benjamins Jünger-Kritik erscheint in einer Rezension des von Jünger herausgegebenen Sammelbandes Krieg und Krieger, in dem unter anderem auch der Aufsatz über „Die totale Mobilmachung“ zum ersten Mal publiziert wurde.68 In dieser Rezension, die unter dem Titel „Theorien des deutschen Faschismus“ (1930) erschien, gesteht Benjamin zu, dass gewisse Formulierungen des Bandes „die Wirklichkeit“ träfen, im Ganzen aber weist er die darin versuchte mystische Ritualisierung und Mythisierung des Krieges als „hirnverbrannt“ zurück.69 Unter den von Benjamin trotz dieser generellen Ablehnung positiv bewerteten Formulierungen nimmt die Jünger’sche Prägung der ‚totalen Mobilmachung‘ eine ausgezeichnete Stellung ein, weil sie nicht nur einen bestimmten Aspekt der ‚Wirklichkeit‘ der Kriegszeit und der Zeit danach wiedergibt, sondern eben diese ‚Wirklichkeit‘ selbst, welche „von Ernst Jünger als total mobilgemachte angesprochen“ werde.70 Benjamins Rezension verdeutlicht auch, was hinter der rauschhaften Erfahrung des Krieges, die zum Abschluss der Einbahnstraße evoziert wurde, „in Wirklichkeit“71 steht, und zwar „nur dies: die eine, fürchterliche, letzte Chance, die Unfähigkeit der Völker zu korrigieren, ihre Verhältnisse untereinander demjenigen ent-
60 In diesem Zwiespalt artikuliert sich die vor allem für Benjamins im engeren (bzw. im weiteren) Sinne literarischen Werke konstitutive Spannung von Eros und Aura. Siehe dazu Eva Axer, Eros und Aura. Denkfiguren zwischen Literatur und Philosophie in Walter Benjamins „Einbahnstraße“ und „Berliner Kindheit“, München 2012. 61 Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 4.1, S. 147. 62 Ebd., S. 148. 63 Ebd., S. 147. 64 Ebd. 65 Ebd., S. 148. 66 Siehe Hans Freyer, Der Staat, Leipzig 1920, S. 175. 67 Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 248. 68 Siehe Ernst Jünger, „Die totalen Mobilmachung“. 69 Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 241. 70 Ebd., S. 246. Benjamin führt hier mit dem emphatischen Begriff von „Wirklichkeit“ eine Größe ein, die für Jüngers Entwurf der „Gestalt des Arbeiters“, vor allem aber für Heideggers Kritik dieses Entwurfs entscheidend werden wird. 71 Ebd., S. 249.
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sprechend zu ordnen, das sie durch ihre Technik zur Natur besitzen.“72 Die im „Planetarium“ festgestellte Wiederkehr des kultischen Opfers bringt Benjamin hier sogar in eine Analogie zur Allegorie des barocken Trauerspiels, die er fünf Jahre zuvor in einer berühmten Prägung als „facies hippocratica“73 definiert hat: „Mit Feuerbändern und Laufgräben hat die Technik die heroischen Züge im Antlitz des deutschen Idealismus nachziehen wollen. Sie hat geirrt. Denn was sie für die heroischen hielt, das waren die hippokratischen, die Züge des Todes.“74 Die Wiederkehr des Barock im Ersten Weltkrieg, die sich in der Selbstinszenierung der Autoren von Krieg und Krieger als Landsknechte, Freibeuter und „Kondottieren“75 niederschlage, desavouiert die Teleologie des deutschen Idealismus, indem sie – vergleichbar der Barock-Allegorie – zeigt, wie „die Geschichte in den Schauplatz sich verzogen“76 hat: „Und zwar prägt, so gestaltet, die Geschichte nicht als Prozeß eines ewigen Lebens, vielmehr als Vorgang unaufhaltsamen Verfalls sich aus.“77 So wird die Landschaft der Westfront, die sich Jünger als unüberschaubares Netz von Gräben präsentiert, für den Blick über den Grabenrand „zum Gelände des deutschen Idealismus selbst“.78 Diesem allegorischen Antlitz hält Benjamin das nüchterne „Gesicht“ des Gaskriegs entgegen, der, wie betont wird, die völkerrechtliche Unterscheidung von Soldat und Zivilist aufhebt und damit auch eine heroische Selbstinszenierung des Soldaten nicht mehr zulässt.79 Wie im Trauerspiel-Buch80 steht Benjamin auch hier in der Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, dessen Überlegungen über den Ersten Weltkrieg ebenfalls auf das Ende kriegskonventioneller Unterscheidungen wie der von Soldat und Zivilist abheben. Aber auch hier zieht Benjamin eine Schlussfolgerung, die derjenigen Schmitt genau entgegensetzt ist: Während sich Schmitt später mühen wird, den überallhin sich ausbreitenden Bürgerkrieg wieder einzudämmen, um geographisch eindeutig verortbare FreundFeind-Beziehungen wiederherzustellen, geht es Benjamin ganz im Gegenteil darum, die „Verwandlung“ des Krieges „in den Bürgerkrieg“ voranzutreiben.81 Allerdings soll damit gleichwohl, so Wohlfarth, eine „klare Linie zwischen Freund und Feind“ etabliert werden, wenn diese auch nicht geographisch-politisch zu ziehen ist, sondern sich durch den Rückgriff auf Marx’ Gesellschaftsanalyse bestimmt.82
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Ebd. Ebd., Bd. 1.1, S. 343. Ebd., Bd. 3, S. 247. Siehe ebd., S. 246 sowie 248-249. Ebd., Bd. 1.1, S. 353. Ebd. Ebd., Bd. 3, S. 247. Ebd., S. 239-240. Vgl. hierzu Samuel Weber, „Taking Exception to Decision. Walter Benjamin and Carl Schmitt“, in: Diacritics 22.3-4 (1992), S. 5-18. 81 Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 250. 82 Wohlfarth, „Walter Benjamin and the Idea of a Technological Eros“, S. 74: „Not merely does the Marxian scheme enable Benjamin to draw a clear line between friend and foe, but it also serves as a shield behind which he can venture out into the no man’s land between the fronts.“
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Und doch bildet „Zum Planetarium“ – zumindest im Hinblick auf die Frage nach einer möglichen ‚planetarischen‘ Linientreue – eine Ausnahme im Werk Benjamins. So führt Die Einbahnstraße denn auch keineswegs auf das Planetarische zu, obwohl der Text mit „Zum Planetarium“ schließt, und die Rede vom Planetarischen tritt bei Benjamin – im Gegensatz zu Jünger, Schmitt und Heidegger, die allererst auf sie aufmerksam werden müssen – alsbald wieder in den Hintergrund.
2. Planetarität und Textprozesse 2.1 Über die Linie: Lesen und Schreiben als Präfigurationen Die Arbeiter-Avantgarde entsteht der Logik des Jünger’schen Arbeiter-Essays zufolge in einem merkwürdigen Zirkel: Indem der 1932 erscheinende Essay über die künftigen Arbeitseliten und deren „Arbeit [des] Künftigen“ (W, 7: 106) spricht, will er sie zugleich hervorbringen, wobei die Arbeit durch den Arbeiter und der Arbeiter durch die Arbeit produziert wird. So ist Der Arbeiter auf eine Leserschaft angewiesen, deren Lektüre die kommenden Begegnungen im planetarischen Raum vorwegnimmt. Das, was hier Arbeit heißt, artikuliert sich im gedoppelten Vollzug von Theorie und Praxis, oder in den Worten des Essays von „organische[m] Begriff“ und „organische[r] Konstruktion“ (W, 6: 324). Für den Übergang von der einen zur anderen – ein Übergang, der im Text des Arbeiters selbst angelegt ist – werden die Leser gleich zu Beginn des Textes, der sich vornimmt, die Form eines „soldatischen Exerzitiums“ anzunehmen, eigens zur „Mitarbeit“ (W, 6: 13) aufgerufen. Sie sollen sich in einer bestimmten Optik einüben, die nicht Selbstzweck bleiben dürfe, sondern in Aktion überführt werden müsse. Der Arbeiter-Essay spricht somit in einer „Befehlssprache“ (W, 6: 178), bei der man allerdings weniger an militärische Befehle als an technische Befehlsfolgen denken muss, mithin an die Einübung bestimmter Abläufe und nicht an die Umsetzung punktueller Kommandos. Dies wird auch daran deutlich, dass neben dem militärischen Exerzieren auch auf die monastische Praxis des Exerzitiums Bezug genommen wird, womit schon der Eingang des Textes an die (nationale Grenzen sprengenden) Orden des Abenteuerlichen Herzens gemahnt und zugleich die später vorgestellten planetarischen Arbeiter-„Orden“ (W, 6: 285) vorwegnimmt. Die Paradoxie Jünger’schen Schreibens, die sich in der gegenseitigen Hervorbringung von Arbeit und Arbeiter andeutet, hat Ingo Stöckmann anhand der Erstfassung des Abenteuerlichen Herzens (1929) untersucht, deren Leser in eine neue Gemeinschaft aufgenommen werden und dafür in eine abstrakt bleibende Form übertreten sollen.83 Das Literaturprogramm, das dieser Kollektivierung der Leserschaft dient, muss zwischen scheinbar objektiven Feststellungen und subjektiven Appellen an den Leser changieren und damit den Unterschied von Konstativum und Performativum unterlaufen. Ihre Einigungseffekte suchen die Texte folglich durch ihre eigene Selbstschließung zu erreichen. Diese clôture macht, wie Stöckmann zeigt, zugleich den totalitären Charakter von Jüngers Texten und ihre Angewiesenheit auf Leser aus. Auch die sich im Text einsetzende deutungsmächtige Stimme spiegelt diese Spannung wider, weil sie sich als die Stimme einer Leserschaft ausgibt, die in der ersten Person Plural spricht. Stöckmanns Ergebnisse las83 Siehe Stöckmann, „Sammlung der Gemeinschaft, Übertritt in die Form“.
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sen sich auch auf andere Texte übertragen, etwa auf den Essay Über den Schmerz (1934), der diese den Unterschied von Konstativum und Performativum unterlaufende Textstrategie in besonderer Ausdrücklichkeit thematisiert: „Was die innere Form dieser Untersuchung betrifft, so beabsichtigen wir die Wirkung eines Geschosses mit Verzögerung, und wir versprechen dem Leser, der uns aufmerksam folgt, daß er nicht geschont werden soll.“ (W, 5: 152) Durch seine Aufmerksamkeit heißt der Leser die Absicht einer Untersuchung gut, die ihn zum Teil des Wir, das hier spricht, machen will, und integriert sich dabei selbst in dieses Wir. In dem im Zitat zur Sprache kommenden Pluralis spricht sich Jüngers Avantgarde aus: Wo Man war, soll Wir sein – das ist die im Abenteuerlichen Herzen eingeforderte „Arbeit [des] Künftigen“ (W, 7: 106). Zu vollziehen ist sie in der gestaltenden Lektüre der „Prosa“ des Lebens, die, wie Der Arbeiter präzisiert, „von uns“ – d.h. von dem Pluralis – „gedeutet und beherrscht werden will.“ (W, 6: 145) Der Schmerz sei hierfür exemplarisch, weil er die Grenze bezeichne, an der alle Werte einschmölzen und ein völlig neuer Bezug zur Welt möglich werde.84 An dieser Überzeugung hält Jünger noch im Linien-Essay von 1950 fest: „Dort sieht er“ – heißt es dort vom „Geist“ – „die Linie, wo alle Werte schmelzen und wo der Schmerz an ihre Stelle tritt.“ (W, 5: 273-274) Solche Grenzerfahrungen stehen hinter den Phänomenen, die Jünger Arbeit und Arbeiter nennt. Dem Arbeiter-Essay kommt bei dieser ‚Arbeit des Künftigen‘ eine nur „vorbereitende Aufgabe“ (W, 6: 93) zu. Denn es geht Jünger eigenem Bekunden nach darum, „überall dort, wo von der Gestalt die Rede ist, eine leere Stelle, ein Fenster offenzulassen, das durch die Sprache nur umrahmt werden kann und das vom Leser durch eine andere Tätigkeit als die des Lesens ausgefüllt werden muß“ (W, 6: 92). Die Autorposition wird in einer vom Text entworfenen Zukunftsdimension besetzbar, die von einem Übergriff vom Binnenraum des Textes auf das ihm notwendig äußerlich Bleibende abhängig ist. Dafür überschreitet der Text ständig die Grenze, an der Denken (qua organische Begrifflichkeit) und Handeln (qua organische Konstruktion) ineinander umschlagen. In den Worten des späteren Essays Über die Linie (1950), der im thematischen Umfeld des Arbeiters entstanden ist, geht es um das „Überqueren des Nullmeridians“ (W, 5: 272-273) zwischen Denken und Handeln. Auf die sich hier abzeichnende Kontinuität in Jüngers Schaffen über den Zweiten Weltkrieg hinaus haben Martin Heidegger und sogar schon Jünger selbst verwiesen: Jünger, wenn er betont, dass der Linien-Essay eine konsequente Weiterführung des Mobilmachungs-Essays von 1930 darstellt;85 Heidegger, wenn er auf die Verbindung von Über die Linie, Arbeiter und Über den Schmerz hinweist.86 Was die Nachkriegstexte von den früheren Schriften unterscheidet, ist 84 In Nancys frühem monde-Denken spielt der Schmerz eine ähnlich entscheidende (hinter der Arbeit sich abzeichnende) Rolle. Schmerz und Leiden bezeichnen die Grenze, an der alter und ego die Möglichkeit einer Begegnung mit der Identität (dem „ipse“) als einer nicht assimilierbaren Alterität haben – und somit mit dem, was für Nancy hier „monde“ heißt. Siehe Jean-Luc Nancy, Le sens du monde, Paris 1993, S. 224-233. 85 So Jünger im Gespräch mit Gisbert Kranz, Gespräche mit Dichtern, Wuppertal 1990, S. 28. 86 Siehe Heidegger, Wegmarken, S. 386.
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allein die Ausdrücklichkeit, mit der sie sich als Überquerung der Linie inszenieren, die Text und Wirklichkeit verbindet und trennt. Denn schon im Abenteuerlichen Herzen zeichnet sich dieses Verfahren ab, im Arbeiter dann gewinnt es zuerst eine planetarische Dimension. So offen Der Arbeiter seine eigene Gestalt konzipiert, indem er die leere Stelle absichtlich unbesetzt lässt, die vom Arbeiter-Kollektiv zu beziehen ist: klar ist doch, dass die „planetarische Wucht“ dieser Gestalt auch „von planetarischer Gültigkeit sein“ soll. (W, 6: 255) Damit ist Jünger einen wesentlichen Schritt über die Erstfassung des Abenteuerlichen Herzens hinaus gelangt, die den idealen Leser noch im „preußischen Anarchisten“ (W, 7: 173)87 identifiziert. Fortan könne nur noch eine transnational-planetarische Herrschaft das höchste, Legitimation gebende Symbol der unbestimmt bleibenden Gestalt des Arbeiters sein. Anstatt diese Gestalt inhaltlich zu füllen, laufen Jüngers Texte von nun an die Linie ab, die Lektüre und Aktion, fictio und factio scheidet und in Beziehung setzt. Diese Linie ist es, die später – im Linien-Essay – als „Nullmeridian[ ]“ bezeichnet wird (W, 5: 273), oder – in einem gleichnamigen Essay – als „Zeitmauer“ (W, 6: 405), an der „Absicht“ und „Ansicht“ (W, 6: 588) ineinander umschlagen. Da sich Jüngers Essayistik dafür, wie es ebenfalls in diesem Zeitmauer-Essay heißt, ständig im „Sprung“ (W, 6: 588) über die Linie befindet, lässt sich ihr „Standort“ auch nicht klar „diesseits oder jenseits“ der Linie verorten. (W, 6: 569) Das Bild der Linie nimmt bei Jünger gleich mehrere Bedeutungsdimensionen an, da in ihr zeitliche, räumliche und textliche Sachverhalte überblendet werden. Zusammenkommen können diese verschiedenen Ebenen in der planetarischen Dimension von Jüngers Schreiben. Wenn Jünger eine Überschreitung des Nullmeridians verspricht, dann setzt er sich in Bezug zu derjenigen Linie, die die Zeit und den Raum des Planeten überhaupt erst vereinheitlicht hat. Carl Schmitt widmet den Anfang seines 1950 (also im selben Jahr wie Jüngers Linien-Essay) erschienenen Buchs Der Nomos der Erde dem Ende der globalen Linien und dem Beginn planetarischer Linienziehungen. Dem Nullmeridian von Greenwich kommt hier eine Schlüsselrolle zu, weil er, im Gegensatz zu den globalen Linien, keine geopolitischen Grenzen mehr gezogen, sondern (zunächst) der Land- und Seekartographie (später auch den Zeitzonen) ein gemeinsames Maß gegeben habe. Diese geographisch-technische Entscheidung umfasst für Schmitt eine politische Dimension, die den für rechtliche Ordnungen konstitutiven Zusammenhang von „Ordnung“ und „Ortung“,88 mithin die für die neuzeitliche Weltordnung fundamentale Ausrichtung an Territorium und Staatlichkeit auflöst. An deren Stelle trete mit der Vereinheitlichung des planetarischen Zeit-Raums eine Ausbreitung des Ausnahmezustands, der potentiell überall und potentiell von einem jeden ausgerufen werden 87 Wohl auch deshalb wird dieser gesamte Abschnitt für die zweite Fassung des Abenteuerlichen Herzens gestrichen. 88 Von einem solchen „Zusammenhang von konkreter Ordnung und Ortung“ spricht Schmitt spätestens 1941. Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht (unveränd. Ausg. der 4., erw. Aufl. 1941), Berlin 1991, S. 81.
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könne und der somit in einen Weltbürgerkrieg zu münden drohe. Diese deterritorialisierende Tendenz des Meridians (welcher für Schmitt daher zur nihilistischen Linie par excellence avanciert) verstärken Jüngers planetarische Texte geradezu, wenn sie die um sich greifende ‚totale‘ Mobilisierung aller Ressourcen nicht als Zeichen eines selbstzerstörerischen Weltbürgerkriegs deuten, sondern als Vorzeichen dafür, dass die Erde eins werden wolle. In der Konzeption der deterritorialisierenden Linie, die eine Überwindung von Territorium und Staatlichkeit impliziert, übt Jüngers Arbeiter einen gewichtigen Einfluss auf Deleuzes und Guattaris Tausend Plateaus aus. Schon im einleitenden Text über das Rhizom tritt Jünger als einer der wenigen Gewährsmänner eines nicht zentralisierten Netzwerkdenkens auf.89 Im späteren sogenannten „nomadologischen Traktat“ über die Kriegsmaschine sodann wird das wichtige Konzept der Fluchtlinie allererst über eine Auseinandersetzung mit Jüngers Begriff des Arbeiters eingeführt. Die Kriegsmaschine der Gegenwart wird als „planetare […] fleet in being“ definiert,90 deren revolutionäre Dynamik in ihrer Opposition gegen den zentralisierenden und den Raum einteilenden Staatsapparat beruht. Der Meridian ist somit eine Linie des glatten und nicht des gekerbten Raumes.91 Die Opposition gegen den Staat soll die Kriegsmaschine, wie Deleuze und Guattari an dieser Stelle präzisieren, vor dem von Virilio erhobenen Faschismusvorwurf in Schutz nehmen: Solange die Kriegsmaschine nicht vom Staatsapparat vereinnahmt werde (eine Gefahr, die gleichwohl durchweg bestehe), sei sie auch nicht faschistisch, und solange der Krieger nicht zum Arbeiter werde, bleibe er ein Revolutionär. Weil die Entgegensetzung von Krieger und Arbeiter aber offenbar doch nicht so eindeutig ist, wie Deleuze und Guattari zunächst behaupten („Alles ist doppeldeutig“92, schreiben sie hier sogar), kommt erneut Jünger ins Spiel: „In Der Waldgang (1951) […] wendet Ernst Jünger sich am deutlichsten gegen den Nationalsozialismus und entwickelt einige Andeutungen, die in Der Arbeiter (1932) enthalten waren“93: Und wir glauben nicht, daß die Erkenntnisse von Jünger durch diese Doppeldeutigkeit abgewertet werden, wenn er ein Porträt des „Waldgängers“ […] entwirft, [der] sowohl den Arbeiter wie den Soldaten auf einer gemeinsamen Fluchtlinie mitreißt, wo man gleichzeitig sagt „Ich brauche eine Waffe“ und „Ich suche ein Werkzeug“: die Linie ziehen, oder, was auf dasselbe hinausläuft, die Linie durchbrechen, die Linie überschreiten, denn eine Linie kann nur gezogen werden, indem man die Trennlinie überschreitet.94
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Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 18. Ebd., S. 535. Siehe ebd., S. 508. Ebd., S. 556. Ebd., S. 557. Ebd., S. 556-557. Anschließend wird Heideggers Konzeption der Linie, die für dessen Auseinandersetzung mit dem Planetarischen maßgebend ist, nachdrücklich kritisiert: „von alle dem bleibt in Heideggers Gedankengängen zum Begriff der Linie nichts übrig“ (S. 557).
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Deleuze und Guattari behaupten also eine prinzipielle Kontinuität von Jüngers Schaffen über den Zweiten Weltkrieg hinaus und machen dies gerade an der im Schreiben versuchten Überschreitung der Linie fest, jenseits derer – auch das ist eine wichtige Parallele zu Jünger – „das zukünftige Volk und die neue Erde“95 stehen sollen. Womöglich würden Deleuze und Guattari Vergleichbares über Jüngers ebenfalls in den 1950er Jahren entstandenen Weltstaat-Essay sagen, dass nämlich auch das Staatsmodell in der Überschreitung der Linie revolutionäre Dynamiken entfesseln könnte, wenn es für die Kriegsmaschine stünde. Jünger selbst zumindest scheint von einem vergleichbar radikalen Wandel der Staatsidee auszugehen, denn mit den gegenwärtigen und früheren Staatsmodellen sei der kommende Weltstaat nicht zu vergleichen: „Wenn wir die planetarischen Ordnung den Weltstaat nennen, so ist das ein Name ohne Inhalt, denn es ist vorauszusehen, daß er mit den historischen Staaten wenig gemein haben wird“. (W, 6: 653) Dass sich Jünger überdeterminierte Worte wie Staat, Demokratie oder Freiheit so frei aneignet, um den zukünftigen politischen Zustand des Planeten zu charakterisieren, schreibt sich von einer bestimmten Strategie semantischer Verschiebung her, die er der mittelalterlichen Bibelexegese entlehnt: der Typologie. Im Mittelalter ist die Heilige Schrift in insgesamt vier Schriftsinnen96 lesbar, zu denen neben dem wörtlichen Sinn der typologische (mitunter auch allegorisch genannte) Sinn97, der tropologische oder moralische Sinn sowie der anagogische Sinn gehören. Ein lateinischer Merkvers hält fest: „Littera gesta docet, quid credes allegoria, / Moralis quid agas, quo tendas anagogia.“98 Der moralische Sinn gibt also Anweisungen für die Lebensführung des Einzelnen, der anagogische Sinn erschließt die eschatologische Bedeutung der Bibel und in der typologischen Lektüre werden Texte vor allem des Alten Testaments als Präfigurationen des Neuen Testaments verstanden.99 Jüngers Arbeiter bedient sich einer Lektüre- und Schreibstrategie, die sich an der letztgenannten Lesart orientiert. Damit wird nicht nur erklärlich, wie Begriffe wie Staat oder Demokratie semantisch verschoben werden, sondern auch, dass der für das Verständnis des Arbeiter-Essays so zentrale Begriff des Typus entscheidend von anderen gängigen Definitionen abweicht.
95 Gilles Deleuze u. Félix Guattari, Was ist Philosophie?, übers. v. Bernd Schwips u. Joseph Vogl, Frankfurt a.M. 2000, S. 127. 96 Zur Frage nach dem vierfachen Schriftsinn ist immer noch einschlägig Friedrich Ohly, „Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter“, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 89 (1958/59), S. 1-23. 97 Ebd., S. 10: „Allegorie meint hier dasselbe wie der moderne Begriff der Typologie“. 98 Ebd., S. 12. 99 Siehe ebd., S. 10, sowie Erich Auerbach, der unterstreicht, dass die Präfiguration (von ihm auch „Figura“ genannt) nicht als allegorische Darstellung eines Abstraktums, das später erfüllt wird, zu verstehen ist, sondern dass Präfiguration und Erfüllung, ihres typologischen Bezugs ungeachtet, eine geschichtliche Wirklichkeit besitzen, die in ihren Bezug zueinander mit eingeht. Erich Auerbach, „Figura“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Romanischen Philologie, Bern u. München 1967, S. 55-92, hier S. 67.
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Der Typus-Begriff erfreut sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts einer besonderen Popularität.100 So unterschiedlich sein Gebrauch im Einzelnen auch sein mag, leistet er zumeist einer begrifflich unscharfen Vermittlung von Einzelheit und Allgemeinheit Vorschub. Da er sogar auf beiden Seiten dieser Vermittlung stehen kann, kennt etwa Dilthey gleich zwei Typus-Begriffe: Einer bezeichnet eine Einzelheit, die in besonders prägnanter Weise eine Allgemeinheit exemplifiziert;101 der andere eine Grundform, die „in dem Spiel der Variationen“ immer wiederkehrt.102 Während der zweite Typus eine vergleichende morphologische Analyse konkreter Phänomene erfordert, schafft der erste eine hermeneutische Situation. Gewiss geht diese spezifische Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem auch in Jüngers Typus-Begriff ein, was besonders dann sinnfällig wird, wenn er gelegentlich mit den Ausdrücken „Schlag“ und „Prägung“ umschrieben wird, die die Doppelung des Typus-Begriffs veranschaulichen. Beide können nämlich sowohl die Aktion des Schlagens und Prägens als auch den empfangenen Schlag und die geprägte Form bezeichnen, ohne zwischen ihnen unterscheiden zu müssen. In einem späteren Text über Typus, Name, Gestalt wird Jünger Vergleichbares über die Münze sagen: „Auch im folgenden braucht nicht jedes Mal betont zu werden, ob unter der Münze das Geldstück oder der Prägestock […] verstanden werden soll.“ (W, 8: 387) Wichtiger sei vielmehr die beabsichtige Veränderung des Lesers, die mit dem Hinweis auf den „Ort seiner Individuation“ (W, 8: 386) einhergehe. Die typologische Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem steht bei Jünger allerdings stets unter dem Vorzeichen einer besonderen Vorstellung von Zeit. In einem noch heute einschlägigen Aufsatz hat Erich Auerbach die Bedeutung der figura nicht nur für die typologische Lektüre, sondern auch für die europäische Literatur bis ins 18. Jahrhundert hinein aufgezeigt. Das typologische Modell des christlichen Geschichtsbewusstseins artikuliert sich Auerbach zufolge in einem „dreistufigen Vollzug“: Zwar werden die Präfigurationen des Alten Testaments in der Geburt und dem Tod Christi erfüllt, diese Geschehnisse sind aber selbst wiederum eine Präfiguration der durch die Figur des Erlösers verheißenen „Ereignisse als endgültige[r] Erfüllung“.103 Damit weist die Präfiguration der figura strukturell eine noch ausstehende, eschatologische Dimension auf. Dass Jünger eine solche Struktur von Präfiguration und Erfüllung tatsächlich auf sein eigenes Schreiben überträgt, beweist er beispielsweise, wenn er sein Werk in ein Altes und Neues Testament einteilt: „Die Bücher über den ersten Weltkrieg, den Arbeiter, die Totale Mobilmachung und zum Teil noch den Aufsatz über den Schmerz möchte ich als
100 Siehe hierzu B. Strenge u. H.-U. Lessing, „Typus, Typologie“, in: Rudolf Eisler (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Basel 1971-2007, Bd. 10, Sp. 1587-1607, hier Sp. 15971607. Für die Bedeutung des Typus-Begriffs in der Biologie siehe Adolf Meyer-Abich, Geistesgeschichtliche Grundlagen der Biologie, Stuttgart 1963, vor allem S. 75-93. 101 Wilhelm Dilthey, Grundgedanken meiner Philosophie, in: ders., Gesammelte Schriften, Stuttgart 1960, Bd. 8, S. 177. 102 Zitiert in Strenge/Lessing, „Typus, Typologie“, Sp. 1598. 103 Auerbach, „Figura“, S. 70.
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mein Altes Testament bezeichnen“.104 Seine weiteren Arbeiten sollen das dort Geschriebene, wie es anschließend heißt, verwandelt aufnehmen und fortsetzen. Allerdings bleibt bei Jünger – im fundamentalen Gegensatz zur christlichen Tradition, die durch die Johannes-Apokalypse von den kommenden Ereignissen der letzten Tage weiß – die Kontur der eschatologischen Dimension unbestimmt.105 Die Einteilung in ein Altes und Neues Testament kann folglich nicht als eine einfache zeitliche Abfolge verstanden werden; vielmehr liest Jünger (und daran hält er zeitlebens fest106) vergangene und gegenwärtige Ereignisse und Entwicklungen als Präfigurationen einer kommenden planetarischen Herrschaft der Arbeiter-Gestalt, deren Verheißung allerdings immer offenbleiben muss. In Auerbachs ‚dreistufigem Vollzug‘ der Präfiguration wäre Jüngers Text somit auf der zweiten Stufe anzusiedeln. In dieser besonderen typologischen Optik reflektiert sich namentlich die Argumentationsstruktur des Arbeiter-Essays, der das, wovon er handelt, auch in gewisser Weise selbst vollziehen muss. Wenn sich nämlich die im Arbeiter entworfene Gestalt legitimieren soll, ist sie darauf angewiesen, dass die Leser die geplante Gestaltung des planetarischen Raums tatsächlich umsetzen. Dabei wird Typologie aus ihrer christlichen Fixierung in der transzendenten Perspektive Gottes gelöst, und an die Stelle einer von Ewigkeit feststehenden Eschatologie tritt eine bestimmte Vorwegnahme der ganz diesseitig verstandenen planetarischen Herrschaft des Arbeiters, die sich nicht zuletzt deshalb auch genau an der Grenze konstituiert (und hält), an der Antike und Mittelalter die physische von der metaphysischen Welt trennten: der Umlaufbahn des Erdsatelliten.107 Narratologisch formuliert lässt sich festhalten, dass sich Der Arbeiter Genette’scher „Fiktionsakte“ bedient, um die (nicht notwendig fingierten) Aussagen, die er tätigt, in eine deklarative und direkte Sprechaktsituation einzubetten. Damit der Text die in ihm entworfene Gestalt annehmen kann, die nicht nur „mehr als die Summe seiner Teile fasst“ (W, 6: 38), sondern auch „fiktiver“ ist „als jeder seiner Teile“108, ist er auf den eingangs ergangenen „Appell an die imaginative Mitarbeit des Lesers“ angewiesen.109 Denn nur in einer Leserschaft, die die Fiktion des Arbeiters Wirklichkeit werden lässt, geht das „patchwork“ des fiktiven Diskurses – von Genette bekanntlich als „ein mehr oder weniger homogenisiertes Amalgam von heterokliten, zumeist der Realität entnommenen Elementen“ definiert – in einen „faktisch-
104 So in einem Brief an Edgar Traugott vom 21.09.1942. Die Passage ist abgedruckt in Heimo Schwilk (Hg.), Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten, Stuttgart 1988, S. 187. 105 Das gilt zumindest seit etwa 1930. Für die eschatologische Dimension früherer Texte siehe Brokoff, Die Apokalypse in der Weimarer Republik, S. 75-125. 106 Selbst noch der Reisebericht Zwei Mal Halley von 1987 wird vornehmlich von der angeblich kommenden Welt des Arbeiters berichten. 107 Der Mond trennte der präkopernikanischen Vorstellung zufolge die sublunare Welt physikalischer Gesetzmäßigkeiten von der metaphysischen Welt astronomischer Abläufe. Die kulturanthropologischen Auswirkungen der verschiedenen Weltbilder untersucht Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a.M. 2007. 108 Genette, Fiktion und Diktion, S. 60. 109 Ebd., S. 50.
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institutionelle[n] Zustand“ über.110 So können Jüngers Werke einem Collage-Prinzip folgen, das es erlaubt, oftmals stereotyp, bedeutungslos oder widersprüchlich wirkende Versatzstücke in eine neue Konfiguration zu bringen, die der Herrschaft der Gestalt untersteht. Diese „Collagen von Sprachmaterial“ bezeichnet Uwe Ketelsen in einer bemerkenswerten, auf Jünger selbst zurückgehenden Formulierung als „wilde Melange“111, die sich – wie „Eisenspäne“ um einen „Magneten“112 – um die Leerform der Gestalt des Arbeiters anordnet. In dieser Neuordnung der ‚Prosa des Lebens‘ inthronisiert sich die Gestalt als virtueller, dem Text immanenter und nach außen greifender Souverän. Indem er die Grenze von Text und Wirklichkeit bestimmt, performiert dieser Souverän eine Art typologische Lektüre der Wirklichkeit als ganzer. All die einer solchen Lektüre innewohnende Arbitrarität113 steht dabei im Zeichen einer Arbeiter-Gestalt, die die Wirklichkeit (und sogar noch sich selbst) stets nur als Präfiguration einer kommenden Autorschaft versteht, so dass selbst der programmatische Arbeiter-Essay lediglich eine präfigurative und somit vorläufige Gestaltung annehmen kann. In diesem Zusammenhang klärt sich auch das poetologische Prinzip, das der in der Jünger-Forschung zentralen Fassungsproblematik114 zugrunde liegt. Gerade mit Blick auf die Stahlgewitter ist festgehalten worden, dass Jünger seine Texte immer wieder überarbeitet.115 Wie das unlängst publizierte Kriegstagebuch Jüngers zeigt, ging schon der Erstausgabe eine tiefgreifende Überarbeitung des ursprünglichen Materials voran.116 Viele von Jüngers frühen Veröffentlichungen entstehen auf diese Weise. Der Kampf als inneres Erlebnis, Feuer und Blut und Das Wäldchen 125 sind nicht nur ebenfalls allesamt Überarbeitungen des Kriegstagebuchs, sondern werden in immer neuen Fassungen aufgelegt. Neun Jahre nach der Erstausgabe liegt In Stahlgewittern schon in drei Fassungen vor (1920, 1922, 1924). Beim Kampf als inneres Erlebnis (Erstausgabe 1922) und Feuer und Blut (Erstausgabe 1925) sind es 1929 immerhin schon jeweils zwei Fassungen; die erste Revision von Feuer und Blut war sogar schon ein Jahr nach der Erstausgabe erschienen. Jünger befindet sich in den 20er Jahren also schon mitten in der „Manie der Bear110 Ebd., S. 53. 111 Uwe-K. Ketelsen, „‚Nun werden nicht nur die historischen Strukturen gesprengt, sondern auch deren mythische und kultische Voraussetzungen‘. Zu Ernst Jüngers Die totale Mobilmachung (1930) und Der Arbeiter (1932)“, in: Hans-Harald Müller u. Harro Segeberg (Hgg.), Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, München 1995, S. 77-95, hier S. 89. 112 Ebd., S. 86. 113 Seit der Aufklärung wird die typologische Lesart weitgehend abgelehnt, weil sie den Text des Alten Testaments willkürlich verfälsche. Siehe „Typus, Typologie“, Sp. 1590. 114 Jüngers Fassungspoetik ist eines der Grundprobleme der Forschung. Siehe hierzu exemplarisch Steffen Martus, „Der Krieg der Poesie. Ernst Jüngers ‚Manie des Bearbeitungen und Fassungen‘ im Kontext der ‚totalen Mobilmachung‘“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 44 (2000), S. 212-234. 115 Im Einzelnen untersucht haben dies Hermann Knebel, „‚Fassungen‘. Zu Überlieferungsgeschichte und Werkgenese von Ernst Jüngers In Stahlgewittern“, in: Harro Segeberg (Hg.): Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstitution des Wertkomplexes „Arbeit“ in der deutschen Literatur (17701930), Tübingen 1991, S. 374-408. 116 Siehe Ernst Jünger, Kriegstagebuch 1914-1918, hg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart 2010.
DIE ZEIT DES PLANETARISCHEN: FUTURE ANTERIOR
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beitungen und Fassungen“, die Steffen Martus zu Jüngers Waffe im „Krieg der Poesie“ erklärt.117 Im Vorwort zur Erstfassung des Wäldchens 125 von 1925 geht Jünger auf die Motivation ein, die ihn zu dieser unabschließbaren Arbeit an den Texten bestimmt. Er schreibt dort, „die geschichtliche Bedeutung“ der Ereignisse werde „erst allmählich offenbar“,118 so dass spätere Betrachtungen „absichtlich zurückdatiert“119 worden seien. Selbstverständlich führt diese retrospektive Arbeit auch „zu grotesken Anachronismen“.120 Allerdings zeigt sie auch, dass es Jünger nicht um die Wiedergabe von Vergangenem geht, sondern um eine bestimmte Auseinandersetzung mit der Zukunft, deren Vorzeichen es in der Vergangenheit aufzusuchen gelte. Überdeutlich wird dies zum Schluss des Wäldchens 125, wenn es heißt, „[e]ine unsichere Zukunft liegt vor“ denen, die die Geschehnisse im Text überlebt haben und nun „einer großen Schlacht“ entgegensehen sollen (W, 1: 452), über die der Text allerdings nichts Konkreteres zu sagen weiß. Auch im Allgemeinen dient Jüngers retrospektive Arbeit an den Texten der Auseinandersetzung mit einer radikal unsicheren Zukunft, die sich nur, wie Das Wäldchen 125 emphatisch schließt, „an den feurigen Rändern jenseits der Grenzen“121 – auch jenseits der Textgrenzen – abzeichnet. Die absichtliche Rückdatierung von Betrachtungen sowie die Bearbeitungswut der Kriegstagebücher überhaupt ist einer spezifischen Zeitlichkeit der Erzählsituation (wie auch der Essayistik) verpflichtet, die sich durch eine komplexe Beziehung zur Zukunft auszeichnet. Diese besondere Beziehung zur Zukunft wird Gayatri Spivak Jahrzehnte später, aber in einem überraschend ähnlichen Zusammenhang, als future anterior bezeichnen. Spivak spricht an dieser Stelle nicht nur von einem präfigurativen Vermögen der Literatur; die Präfiguration wird ihr sogar zur Figur des Planetarischen schlechthin, einer Figur, die nur in einem Futur II zugänglich wird.122
2.2 Die Zeit des Planetarischen: Future Anterior Die Strategie Jünger’scher Texte, nach der die Leser den Null-Meridian in einer Art rite-de-passage überschreiten und dabei in planetarisch operierende Kollektive initiiert werden sollen, wird in Spivaks Death of a Discipline zum Verfahren von Literatur und Literaturwissenschaft überhaupt. Die Lektüre literarischer Texte soll die Lesenden in „Collectivities“ (so der Titel des zweiten Kapitels von Death of a Dis117 118 119 120
Martus, „Der Krieg der Poesie“, S. 213. Jünger, Das Wäldchen 125 (1925), S. X. Ebd., S. XII. Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart 1986, S. 239. 121 Diese Formulierung findet sich in der ersten Fassung des Wäldchens 125 nicht. Dort wird noch nationalistisch „der deutsche Mensch“, der „jedem Schicksal gewachsen ist“, heraufbeschworen. Jünger, Das Wäldchen 125 (1925), S. 253. 122 Vgl. etwa Gayatri Chakravorty Spivak, Death of a Discipline, New York 2005, S. 29 u. 49.
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cipline) initiieren, deren Arbeit sich in der Dimension der „Planetarity“ (dies der Titel des abschließenden dritten Kapitels) entfaltet. Die „open-plan field work“123 dieser planetarischen Kollektive nimmt somit die „open-ended structure“124 der Literatur verwandelt auf und damit auch den spezifischen Bezug zur Zukunft, der diese auszeichnet: „Literature cannot predict, but it may prefigure“125, heißt es hierzu. Den besonderen Charakter einer nicht vorhersehbaren, aber sehr wohl präfigurierbaren Zukunft fasst Spivak als future anterior (Futur II), wobei dessen quasiterminologischer Gebrauch erheblich von der gewohnten Bedeutung des Tempus abweicht. Denn ebenso wie im Lateinischen wird das Tempus im Französischen, Englischen und Deutschen benutzt, um einen Prozess auszudrücken, der zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft ‚abgeschlossen sein wird‘. Wie Spivak im Gegensatz dazu das Tempus verstanden haben will, lässt sich am ehesten in der Umgangssprache zeigen, wo das Futur II zum Ausdruck einer Vermutung wie: ‚das wird der Briefbote gewesen sein‘ benutzt wird. Wie Spivak in Death of a Discipline deutlich macht, theoretisiert Jacques Derrida diese Verwendung des Futur II: To buttress the earlier notion of the future anterior, where one promises no future present but attends upon what will have happened as a result of one’s work, Derrida now adds a new kind of „perhaps“, „the possibilization of [an] impossible possible [that] must remain at one and the same time as undecidable – and therefore as decisive – as the future itself“.126
Die Vorgeschichte eines solchen Verständnisses des future anterior führt allerdings noch hinter Derrida zurück. Schon Jacques Lacan benutzt die Zeitform des Futur II in der Bedeutung, die Spivak im Anschluss an Derrida terminologisch festlegen wird, und zwar, um sowohl den Gegenstand als auch die Strategie seiner Schriften zu charakterisieren. Da sich Lacan zufolge die Geschichte eines Ichs in dieser Zeitform abspielt – „Ce qui se réalise dans mon histoire, n’est pas le passé défini de ce qui fut puisqu’il n’est plus, ni même le parfait de ce qui a été dans ce que je suis, mais le futur antérieur de ce que j’aurai été pour ce que je suis en train de dévenir“127 –, sieht Samuel Weber im Futur II die „Matrix für die Geschichtlichkeit des Subjekts“ in der Lacan’schen Theorie.128 Solchermaßen strukturiert diese Matrix auch Lacans eigenen Diskurs, welcher dadurch selbst ebenso gespalten und unvollständig ist wie die Gegenstände, von denen er handelt. Weber sieht Lacan deshalb im radikalen Gegensatz zu Hegel, dessen Schreiben und Denken von der Selbstpräsenz eines absoluten Wissens ausgeht, das „immer schon an und für sich bei ihm
123 124 125 126 127 128
Ebd., S. 35. Ebd., S. 33. Ebd., S. 49. Ebd., S. 29. Jacques Lacan, Écrits, Paris 1966, S. 300. Samuel Weber, Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. u. Berlin 1978, S. 10.
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gewesen ist“.129 Doch findet sich bei Lacan auch eine Gegentendenz, die ebenfalls im Futur II angelegt ist und die der Offenheit der Zukunft geradezu entgegenwirkt. Anlässlich der Sammlung seiner Écrits beschreibt Lacan (einen pluralis maiestatis gebrauchend) das Zusammenfügung seiner Texte als Umschrift in ein Futur II: „Nous nous trouvons donc replacer ces textes dans un futur antérieur“.130 Diese „Vorzukunft“ steht im Zentrum von Derridas Vortrag „Aus Liebe zu Lacan“, der sich einer anekdotisch verfahrenden Kritik an Lacans retrospektiver Selbstdeutung widmet, und tritt dort in den Titeln gleich zweier Abschnitte auf131. Vor allem, dass Lacan im Nachhinein Derridas Überlegungen zur écriture für sich in Anspruch zu nehmen suchte, erregt hier Derridas Widerspruch. Allerdings ist es nicht die Perspektive des futur antérieur selbst, die Derridas Kritik verfällt. Es geht ihm vielmehr darum, zu zeigen, dass sich eine solche Perspektive der psychoanalytischen Situation, an der Lacan festhalten will, radikal widersetzt.132 Denn die doppelte Logik des Futur II, die Lacans Schriften ebenso sehr wie deren Gegenstand charakterisiert, entziehe einem Diskurs den Boden, der zwischen sich und seinem Gegenstand – hier zwischen Arzt und Patient – unterscheiden will. Umso mehr gilt dies für den Versuch, einen solchen Unterscheid von der Position des angeblichen Arztes aus zu institutionalisieren. Weil das futur antérieur somit eine jede Aussage heimsucht, problematisiert Derrida die Stellung des pluralis maiestatis in Lacans programmatischen (Selbst-)Aussagen. „‚Wir‘“ wird nämlich, wie Derrida zu Beginn seines Vortrags betont, „immer von einem einzelnen gesagt“.133 Die daraus resultierende „Dissymmetrie“ von sprechendem Ich und ausgesagtem Wir sei indessen „noch gewaltsamer, wenn es sich um ein reflektiertes, reziprokes oder spiegelbildliches ‚wir uns‘ (‚nous nous‘) handelt“.134 Eben das ist aber in Lacans Satz „Nous nous trouvons donc replacer ces textes dans un futur antérieur“ gesagt. Die Sammlung der Lacan’schen Écrits, so die implizite These Derridas, setzt sich als Gründung einer Institution in Szene, die für eine postulierte Ärzteschaft und für die angeblich Kranken sprechen können will. Deshalb hält sich Derrida auch so lange bei Lacans Sorgen auf, dass die Sammlung in der einbändigen, über 900 Seiten umfassenden Erstausgabe (von 1966) auseinander fallen wird: „‚Sie werden sehen‘, sagte er zu mir und zeigte es mit den Händen, ‚das wird nicht halten‘“.135 Diese Bedenken, dass der Einband sich auflösen könnte, sind für Derrida symptomatisch für Lacans Festhalten an der Psychoanalyse als einer wissenschaftlich und medizinisch objektiven Disziplin. Demnach geht es ihm weniger darum, Lacan vorzuwerfen, er hätte Ideen von Anderen als seine eigenen ausgegeben, sondern den Anspruch zu kriti129 Ebd., S. 13. 130 Lacan, Écrits, S. 71. 131 Siehe Jacques Derrida, „Aus Liebe zu Lacan“, in: ders., Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!, hg. u. übers. v. Hans-Dieter Gondek, Frankfurt a.M. 1996, S. 15-58, hier S. 15 u. 46. 132 Siehe ebd., S. 54-57. 133 Ebd., S. 20. 134 Ebd., S. 21. 135 Ebd., S. 34.
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sieren, dass ein Einzelner letztgültig für eine Pluralität sprechen könne. Dabei gilt es für Derrida im Grunde gleich, ob es sich (wie bei Hegel) um ein zu sich selbst kommendes absolutes Wissen oder (wie bei Lacan) um einen Analytiker handelt, der über Normalität und Pathologie bestimmt. In beiden Fällen handelt es sich um die Gründung einer (an der Grenze von Text und Wirklichkeit stehenden) Institution, die klare und peremptorische Scheidungen vornimmt. So zeigt sich, wie das Futur II in zwei Richtungen gedeutet werden kann, die beide im spannungsreichen lateinischen Terminus futurum perfectum angelegt sind, das einen futurischen unmittelbar mit einem perfektischen Aspekt verbindet: in Richtung einer Offenheit, aber auch in Richtung einer Vorherbestimmung der Zukunft. Wenige Jahre nach seinem Lacan-Vortrag von 1991 wird Derrida das futur antérieur explizit für die Pluralität eines Wir öffnen, für welche zwar ein Ich sprechen muss, die sich aber auf die Fürsprache dieses Ichs nicht reduzieren lässt. Auf dieser Verbindung einer dezentralen Pluralität und einer zukunftsoffenen Möglichkeitsdimension soll eine neuartige Politik der Freundschaft basieren, die sich explizit und entschieden von Carl Schmitts Begriff des Politischen abhebt. Wiederum geht es Derrida darum, gegen eindeutige Unterscheidungen zu opponieren. War es bei Lacan die Einteilung in Arzt und Patient, so ist es nun die von Schmitt zur maßgeblichen politischen Entscheidung erhobene Unterscheidung von Freund und Feind. Dagegen macht sich Derrida für eine Politik hybrider Kollektive stark, die auf die einfache Opposition von Freundschaft und Feindschaft verzichtet und stattdessen auf plurale Netzwerke setzt, die eine zwar spannungsreiche und sogar konfliktträchtige, aber nicht zerstörerische Auseinandersetzung mit Anderen und ‚dem Anderen‘ pflegen. Da sich hier nicht klar und ein für alle Mal bestimmen lässt, wer und wer nicht zur in-group gehört, haben die (Selbst-)Aussagen solcher Kollektive einen immer nur vorläufigen und mithin, so wird Spivak folgern, präfigurativen Charakter. Überdies wird Spivak schließen, dass eine solche Politik die Unterschiede zwischen dem linken und dem rechten politischen Lager einebnen muss136 und daher ganz neue Kategorien erfordert. Als fundamentalen Begriff dieser kommenden Politik übernimmt Spivak Derridas Konzept der „Teleopoiesis“. Bei dieser Textstrategie, die eine dem Schreibenden und seinem Leser gemeinsame Gruppenzugehörigkeit suggeriert, wird die Unterscheidung von Konstativ und Performativ unterlaufen, da die Setzung eines gemeinsamen Ziels gleichbedeutend wird mit der Setzung der Entfernung von diesem Ziel.137 Die dadurch freigesetzte Zukunft weist eine Futur-II-Struktur auf, denn das „gegenwärtige Wir“, das spricht oder schreibt, muss „sich vor dem zukünftigen Wir verantworten und für es einstehen [...] – und dies, indem ich mich 136 Siehe Spivak, Death of a Discipline, S. 30. 137 „Teleopoiesis“ heißt bei Derrida zugleich ‚Schaffung‘ des ‚Ziels‘ (griech. poiesis: „Schaffung“, „Herstellung“ und griech. telos: „Ende“, „Ziel“) und ‚Schaffung‘ der ‚Entfernung‘ von diesem Ziel (griech. têlos: „fern“, „weit“). Siehe Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, übers. v. Stefan Lorenzer, Frankfurt a.M. 2000, S. 60.
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in der Gegenwart an euch richte und euch auffordere, euch jenem ‚Wir‘ anzuschließen, dem ihr schon und doch noch nicht angehört. Schon, aber noch nicht.“138 Da eine solche Aufforderung zwischen Feststellung und Aufforderung ‚erzittere‘, vergleicht Derrida sie mit einem „Pfeil, von dem man noch nicht weiß, wohin und wie weit es ihn tragen wird. Allein dieses Erzittern des Schriftzuges verspricht und fordert eine Lektüre, eine künftige Vorherrschaft der deutenden Entscheidung“.139 Somit ist die Teleopoiesis auf die Lektüre von anderen angewiesen, steht aber unter der Maßgabe einer (im Satz selbst vorweggenommenen) Entscheidung. Der Pfeil hat sich immer schon überholt und läuft sich zugleich hinterher: „er ist sich selbst in der Gegenrichtung voraus, er holt sich ein, indem er kehrtmacht“.140 Es wurde bereits gezeigt, dass Jünger seine Prosa mit vergleichbaren, der Ballistik entnommenen Wendungen charakterisiert. Jetzt wird auch deutlich, warum er die Wirkung des Schmerz-Essays als die eines „Geschosses mit Verzögerung“ (W, 5: 152) bezeichnet. Diese Verzögerung entspricht nämlich exakt dem Zeitintervall, das der Leser benötigt, um nicht nur zum Ziel genommen zu werden, sondern auch selbst den Abzug drücken zu können. Mit Hilfe seiner zeitverzögerten ballistischen Prosa hofft Jünger sogar der zum Geschoss gewordenen Erde, die „kosmischen Wirbeln“ (W, 2: 12) zufliege, ein neues telos geben zu können. In Reinform verwirklicht sich eine solche Prosa, wenn sie, wie Derrida schreibt, die „absolute Geschwindigkeit“141 erreicht, weil räumliche Abstände gleichgültig werden: So kann auch das Ideal eines Leser/Autors verwirklicht werden, der Schütze und Ziel zugleich ist, weil ein jeder potentiell überall zur gleichen Zeit zu sein vermag. Wenn es in Jüngers Roman Heliopolis heißt, „die Geschwindigkeiten“ seien „absolut geworden“, (W, 10: 36) dann ist das auch als poetologische Aussage lesbar. Denn der Protagonist des Romans heißt nicht nur de Geer, sondern ist auch ein Ger (also ein germanischer Wurfspieß), womit er das Wurfgeschoss des teleopoietischen Satzes personifiziert. Spätestens in diesem Text von 1949 wird die schon 1930 im Sizilischen Brief an den Mann im Mond eingeforderte „neue Topographie“ (W, 7: 14) umgesetzt,142 die durch die ballistische Prosa selbst hervorgebracht werden soll: Der wahre Vergleich, das heißt die Betrachtung der Dinge nach ihrer Lage im notwendigen Raum, ist das wunderbarste Mittel der Schützenkunst. Seine Basis ist der gemeinsame Ausdruck des Wesentlichen und seine Spitze das Wesentliche selbst. Dies ist eine Art der höheren Trigonometrie, die sich mit dem Messen unsichtbarer Fixsterne befaßt. (W, 7: 21)
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Ebd., S. 68-69. Ebd., S. 58. Ebd., S. 59. Ebd. Nach dem Zweiten Weltkrieg wiederholt Jünger die Forderung nach einer neuen Topographie und präzisiert: „Wo die großen Worte fatal werden, entsteht Verwirrung wie auf einem Schiff, dessen Kompaß in Unordnung geriet. Wenn die Nadel zu kreisen und das Schiffsvolk zu hadern beginnt, so besagt das nichts gegen die Himmelsrichtungen. [...] Was nottut, ist eine neue Topographie“. (W, 8: 427)
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Der entscheidende Schritt auf diesem Weg ist die Abkehr von der nationalistischen Perspektive, die Jünger im Arbeiter vollzieht. Diese impliziert keine Entpolitisierung, sondern verschreibt sich einer Neuformulierung des Politischen, die sich – und daran wird sich Schmitts Kritik an Jüngers planetarischem Schreiben entzünden – zunehmend von der klaren Einteilung in Freund und Feind zu lösen sucht. Eine Nähe Jüngers zu späteren Positionen einer Gayatri Spivak zeichnet sich etwa in dem Anspruch des Arbeiters ab, jenseits – oder vielleicht besser: diesseits – der politischen Unterscheidung von rechts und links zu stehen. Die Parallelen zwischen diesen beiden sehr ungleichen Vorreitern der Planetarität führen aber sogar so weit, dass sich auch schon Der Arbeiter als Fürsprecher eines marginalisierten subaltern versteht, dem die bürgerlich-kapitalistische Weltgesellschaft keine eigene Stimme lässt und das sie stattdessen ihren eigenen Deutungen unterwirft. (Vgl. etwa W, 6: 22-23)
2.3 Die Arbeit des Künftigen und die werdende Gestalt eines „neuen Kapitals“ Trotz (oder gerade wegen) des Einflusses von Marx auf ihre Theoriebildungen geben sowohl Spivaks Präfiguration als auch Jüngers Typologie vor, frei von Ideologie zu sein sowie sich gegen die Scheidung in ein rechtes und linkes politisches Lager zu sperren. Der Arbeiter will sich nicht nur „jenseits der Theorien, jenseits der Parteiungen, jenseits der Vorurteile“ (W, 6: 13) halten. Überdies versteht sich sein Entwurf einer Arbeiter-Gestalt als Graswurzelbewegung, dank der sich die von der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung Unterdrückten Gehör verschaffen können. Dabei orientiert sich Jünger vor allem an anarchistischen und syndikalistischen Organisationsformen, die sich ungleich besser als Parteistrukturen dazu eignen sollen, eine „wirkliche Arbeiterbewegung“ (W, 6: 79) zum Ausdruck zu bringen. So zeigt sich bei Jünger, wenn er gewerkschaftliche und anarchistische Formen der Selbstorganisation für eine planetarische Arbeiterpolitik mobilisiert, nicht zuletzt die für die Zwischenkriegszeit bezeichnende Durchlässigkeit der extremen politischen Lager.143 Bekannte Beispiele von Intellektuellen, die die Lager wechselten, sind Georges Sorel und im unmittelbaren Umkreis von Jünger Ernst Niekisch. Während Sorel vom Syndikalismus zum Faschismus überging, zeigt Niekisch die gegenläufige Bewegung vom sogenannten Nationalbolschewismus zum Kommunismus. Dass Niekisch nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer wichtigen Figur in der DDR werden konnte, legt es nahe, eine Durchlässigkeit der Lager auch über 1945 hinaus anzunehmen. Die wohl radikalsten Formulierungen einer solchen Verwechselbarkeit stammen von einem weiteren Theoretiker des Planetarischen. Für Paul Virilio sind die Linke und die Rechte in ihrem Wettlauf um den Planeten nämlich gleichermaßen faschis143 Helmut Lethen hat diese Durchlässigkeit im Rahmen seiner Untersuchung lagerübergreifender Gefühlslehren nicht umsonst vor allem anhand von Jünger nachgewiesen. Siehe Helmut Lethen, Gefühlslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994.
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tisch.144 Bei Jünger weist sich die Unbestimmtheit der Lager durch eine Kritik an Partei und Parteipolitik aus, hinter der weniger die Absage an die Kommunistische Partei als eine generelle Kritik am Parlamentarismus steht. Federführend ist hier Carl Schmitt, der schon um 1930 die Unfähigkeit des Parlaments brandmarkt145, die revolutionäre Partei von einem legalen Putsch abzuhalten, und nach dem Krieg so weit geht, in der „Partei“ – und nicht im „Staat“ – „die eigentliche und im Grunde einzige totalitäre Organisation“ zu sehen.146 Aber auch der radikale Sozialismus einer Chantal Mouffe führt zu einer ähnlich gelagerten Parteienkritik.147 Auf diese Filiationen wird Mouffe explizit verweisen, wenn sie neben Schmitt auch Sorel als einen der problematischen Gewährsmänner ihrer eigenen Theoriebildung benennt.148 Im Gegensatz zu Schmitt wird Jünger das Ende des neuzeitlichen Territorialstaates und der globalen Weltordnung, die auf dieser (inner-europäischen) Staatenordnung beruhte,149 vor allem als Chance begreifen, eine neuartige Politik zu machen, die alle Grenzen sprengt. Wo Schmitt auf eine neue Einteilung des Planeten in ‚Großräume‘150 dringt, sieht Jünger den gesamten Planeten in einen neuen „Zeitgroßraum“ (W, 6: 478) treten, in dem alle irdischen Einteilungen überwunden seien. Diese prinzipielle Überwindung der Grenze ist der Sinn der „planetarischen Wucht“ und „Gültigkeit“ (W, 6: 255), die Jünger der transnationalen und poststaatlichen Arbeiter-Bewegung zuspricht. Der Arbeiter verwandelt sich dafür die ökonomische Orientierung des Syndikalismus an; so, wenn der Arbeiter als „ein Kapital, das noch nicht in Anspruch genommen worden ist“, (W, 6: 81) charakterisiert wird. Diese wirtschaftliche Terminologie, die den gesamten Essay durchzieht, dient einer Umdeutung des Proletariats und des Kapitalismus im Zeichen dieses neuen Kapitals. Für Norbert Bolz, der Jünger mit Rekurs auf Marx und Weber liest, avanciert der Arbeiter damit sogar zum Helden der „entzauberten Welt“.151 Gerade Marx stellt hier eine wichtige Bezugsgröße dar, weil er zentrale metaphysische Bestimmungen der Neuzeit reformuliert, um damit eine revolutionäre Wissenschaft zu begründen, deren Konsequenzen unmittelbar in die Praxis umgesetzt werden sollen. Wie in der berühmten
144 Um nur ein Beispiel zu nennen: „la contre-révolution, c’est la révolution elle-même.“ Paul Virilio, „La guerre pure“, in: Critique 341 (Oktober 1975), S. 1090-1103, hier S. 1090. 145 So etwa in Carl Schmitt, „Die Wendung zum totalen Staat“ [1931], in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923-1939, Hamburg 1940, S. 146-157, hier S. 151. 146 Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen [1963], Berlin 2006, S. 21-22. 147 Vgl. Chantal Mouffe, The Return of the Politcal, London u. New York 1993 (insbesondere das Kapitel zu Schmitt). 148 Siehe Ernesto Laclau u. Chantal Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics, London u. New York 1985, S. 36-46. 149 Siehe hierzu Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 1997. 150 Siehe hierzu Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung. 151 Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989, besonders der Abschnitt „Der Held der entzauberten Welt“, S. 161-169.
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elften Feuerbach-These nachzulesen ist, geht es Marx bekanntlich nicht mehr darum, die Welt nur zu interpretieren, sondern sie zu verändern.152 Seine wissenschaftliche Analyse des Kapitalismus ist demnach kein Selbstzweck; vielmehr dient die Aufklärung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse einer radikalen Veränderung eben dieser Produktionsverhältnisse, die in Zukunft nicht mehr durch den Tauschwert bestimmt sein sollen. Zur zentralen ökonomischen Größe geworden, etabliert sich der Tauschwert als quasi-metaphysische Kategorie: zugleich als „automatisches Subjekt“ und als „sich selbst bewegende Substanz“ (MEW, 23: 169) eines dialektischen Prozesses, der dadurch, dass er Wert ist, Werte schaffen kann. Im Vollzug dieser „Selbstverwertung“ (ebd.), den Marx als „endlos“ (MEW, 23: 166), „maßlos“ (167) und „inhaltslos“ (164) kennzeichnet, entsteht Kapital. So kann der Tauschwert alle inhaltlichen Unterschiede der Waren untereinander (d.h. ihren Gebrauchswert) tilgen, so dass der Markt alles in sich aufnehmen kann und sich schließlich auch noch den Planeten in Form „des monopolisierten Erdballs“ unterwirft (MEW, 25: 824). So koppelt Marx seine Moderne-Erzählung an eine Globalisierungs-Erzählung: Gemeinsam zersetzen der technische Fortschritt und die Entwicklung eines Weltmarktes eine zuvor angeblich „naturwüchsige“ (MEW, 23: 92) Arbeitsteilung, deren Produkte „Funktionen“ eines gesellschaftlich verbundenen „menschlichen Organismus“ (MEW, 23: 86) und deren Abhängigkeitsverhältnisse noch persönlicher Natur gewesen seien. In diesem Ganzen hätten die Menschen allerdings „nur als Organe der gemeinsamen Arbeitskraft“ (MEW, 23: 92) gedient, weshalb Marx die Auflösung der organischen Verbindung auch als Fortschritt wertet, der zunächst jedoch nur zu einer illusorischen Befreiung des Menschen und der Menschheit führe. Der Markt selbst kann über die Entfremdung von Produkt, Scholle und Mitmensch nicht hinausführen, weil er eine anonymisierte und abstrakte Abhängigkeit an die Stelle der personalisierten und konkreten Herrschaftsverhältnisse der vormodernen und vorglobalen Zeit setzt: Die Menschen sind nicht mehr konkret aufeinander bezogen; die gesellschaftlichen Bindungen werden durch die Waren des Marktes vermittelt. Ausdruck findet diese genuin moderne Entfremdung in einem „Kultus des abstrakten Menschen“ (MEW, 23: 93), dessen Freiheit sich darin erschöpfe, Waren auf dem Markt zu vertreiben und sich mit dem Käufer auf ihren Preis zu verständigen. Zugang zum Markt erhält der Einzelne also nur als Eigentümer, nicht als Produzent von Waren, und wer sonst keine Ware besitzt, trägt seine eigene Arbeitskraft als Ware zu Markte. Diese spezielle Ware jedoch, in der die Produktionsfähigkeit selbst Ware wird, ist zugleich der Motor der angeblichen Selbstverwertung des Tauschwerts, weil nur sie den Wert hat, Werte produzieren zu können. Nur indem ‚das Kapital‘ diese „Quelle von Wert“ (MEW, 23: 181) ausbeutet, kann sie sich als Substanz und Subjekt eines monopolisierten Erdballs setzen. Folglich sieht Marx den Kapitalismus in einem unhintergehbaren Pa152 Siehe Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, 43 Bde., Berlin (Ost) 1956-1990, Bd. 3, S. 7. Im Folgenden im laufenden Text zitiert mit der Sigle MEW und Band- und Seitenangaben in runden Klammern.
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radoxon gefangen: „Kapital kann also nicht aus der Zirkulation entspringen, und es kann ebensowenig aus der Zirkulation nicht entspringen. Es muß zugleich in ihr und nicht in ihr entspringen.“ (MEW, 23: 180) Aufgrund ebendieser Paradoxie müsse die wirtschaftlich-technische Globalisierung zwangsläufig von sich aus zu einer Überwindung des Marktes übergehen. In der darauf folgenden ganz neuen „Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses“, die „als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht“, (MEW, 23: 94) werden die Systemstellen von Substanz und Subjekt, die vom Handelswert nur gleichsam usurpiert wurden, von einem Kollektiv konkreter Menschen als ihrem (immer schon) rechtmäßigen Inhaber besetzt. Dieser Grundriss Marx’schen Denkens bleibt im Arbeiter erhalten. Dabei wird erforscht, wie belastbar das bei Marx fallende Wort ‚Gestalt‘153 ist, indem der Ausdruck durch die Gestaltpsychologie überformt und an die für den Essay maßgeblichen Begriffe von Macht und Wirklichkeit gekoppelt wird. Allerdings knüpft Jünger hier an Marx nicht nur an, sondern kann gewisse Marx’sche Einsichten auf die Arbeitsverhältnisse nach dem Siegeszug von Fordismus und Taylorismus154 ausweiten. Dies gilt vor allem für die Analyse der „metaphysische[n] Spitzfindigkeiten und theologische[n] Mucken“ (MEW, 23: 85) der Ware, deren Fetisch-Charakter Marx zufolge die Einsicht in die Produktionsverhältnisse verschleiere. In dem Moment, in dem die Arbeitskräfte die fetischisierten Waren, die sie produzieren, auch selbst konsumieren sollen, sieht Jünger den Tauschwert zu einer Reklame werden. Dieser Wandel sei so umfassend, dass sich kein noch so hochstehendes Kulturgut davor schützen könne: Die Tatsache der Reklame, deren Technizität in ein und derselben Weise für eine Zigarettenmarke wie für die Jahrhundertfeier eines Klassikers in Bewegung gesetzt wird, verrät sehr deutlich das Maß, bis zu dem Qualität und Handelswert identisch geworden sind. Qualität in diesem Sinne ist eine Unterart der Reklame, durch die der individuelle Charakter der Masse als Bedürfnis vorgespiegelt wird. (W, 6: 140-1)
Horkheimer und Adorno werden eine analoge Analyse der Reklame, die nur noch für eine weitere Reklame wirbt, für ihre Kritik der Kulturindustrie fruchtbar machen.155 Obwohl auch Jünger davon ausgeht, dass die Reklame ein nicht zu stillendes Bedürfnis hervorruft, das durch einen infiniten Regress von Werbung um 153 Eine zentrale Bedeutung des Gestalt-Begriffs bei Marx nimmt auch Antonio Labriola an, wenn er Marxens Analyse der Gesellschaft als „morphologisch [morfologica]“ bezeichnet. Antonio Labriola, Saggi sul materialismo storico, hg. v. Valentino Gerratana u. Augusto Guerra, Rom 1964, S. 35. 154 Die Bedeutung des Taylorismus für den Arbeiter wurde untersucht von Ketelsen, „‚Nun werden nicht nur die historischen Strukturen gesprengt…‘“. 155 Vgl. Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 2004, S. 171-173. Bei Jünger taucht der Bezug von künstlichem Genie und Reklame auf (siehe W, 6: 245), den Adorno in seinem berühmten Aufsatz über Musik-Fetischismus ausführt. Siehe dazu Theodor W. Adorno, „Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens“, in: ders., Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, Göttingen 1982, S. 9-45.
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der Werbung willen (gleichsam als ‚total mobilgemachte‘ Reklame) angetrieben wird, ist sein Interesse anders gelagert als dasjenige von Horkheimer und Adorno. Zwar verschärft der Reklamecharakter, den nunmehr alle Dinge angenommen haben, auch für Jünger die Entfremdung von Mensch und Welt, jedoch sieht er darin, dass ein solcher im Leeren laufender Teufelskreis überhaupt funktioniert, die Auswirkung einer ganz neuen Form der „Macht“ bzw. einer unvergleichlich neuen „Wirklichkeit“. (W, 6: 73) Macht- und Wirklichkeitsbegriff des Arbeiters sind unmittelbar aufeinander verwiesen, weil Macht hier als eine Wirklichkeit gefasst wird, die sich allein durch das factum brutum ihrer Existenz legitimiert. Durch ihr einfaches Vorhandensein als solche ausgewiesen, benennt das Wort Macht das gestaltende Prinzip des Arbeiters, das Konstativum und Peformativum, factio und fictio (und schließlich auch Wirklichkeit und Geltung, oder factum und ius) verschränkt. Selbst noch das Funktionieren der Reklame – auch diese dialektische Figur entlehnt Jünger offenbar dem Marx’schen Denken – ist Ausweis dieser machtvollen Wirklichkeit. Allein dadurch, dass es sie gebe, wecke die Ware das allgemeine Bedürfnis sie zu besitzen. Im Bedürfnis, das die Reklame-Ware somit hervorzubringen vermag, spricht sich für Jünger allerdings ein nur mittelbares, strukturell defizitäres Verhältnis zur Macht aus, das den für einen jeden Willen zur Macht konstitutiven Mangel an Macht nicht überwinden könne. (Siehe W, 6: 80) Im Unterscheid zu dem hier zitierten Nietzsche156 sieht Jünger den Grundcharakter der Wirklichkeit also in der Macht selbst und nicht in einem Willen zur Macht fundiert. Diese Ablehnung des Willens ist auch der Grund dafür, dass Jünger eine von der Gesellschaft ausgehende Revolution verwirft: „nicht darauf kommt es an, daß eine neue politische oder soziale Schicht die Macht ergreift“. (W, 6: 73) Nicht einmal der Marxismus bietet für Jünger eine Alternative, weil dessen Vorstellung eines „Verein[s] freier Menschen“ (MEW, 23: 92) ebenfalls am Modell des Gesellschaftsvertrags partizipiert, der auf einem freien Willen und einer freien Willenserklärung basiert. Über das Vertragsdenken bleibt demnach selbst noch die Marx’sche Weltrevolution, so Jüngers Vorwurf, im bürgerlich-liberalistischen Denken und dessen abstraktem Menschenbild befangen, so dass sie den Versuch des Weltproletariats, die Macht zu ergreifen, der Logik der Reklame letztlich ausliefere. Hier zeigt sich die spezifische inhaltliche Paradoxie des Jünger’schen Ansatzes, die parallel zu Marxens Paradox des Kapitalismus formuliert werden kann: Macht kann nicht aus der Totalen Mobilmachung entspringen, und sie kann ebenso wenig aus der Totalen Mobilmachung nicht entspringen. Sie muss also zugleich in ihr und nicht in ihr entspringen. Aufgelöst wird die Paradoxie bei Jünger, sobald hinter dem zunehmend „monopolisierten Erball[ ]“ (MEW 23: 824) die neue Gestalt eines „originale[n] Kapital[s]“ (W, 6: 80) erblickt wird, die sich dadurch ausweist, 156 Für den vielfach untersuchten Einfluss von Nietzsches Willen zur Macht auf Jüngers Arbeiter siehe jüngst David Roberts, „Megamachines Ancient and Modern. Ernst Jünger’s Totalitarian Concept of Work“, in: Birgit Lang, Axel Fliethmann u. Franz-Josef Deiters (Hgg.), Narrative der Arbeit – Narratives of Work, Freiburg 2009, S. 259-271, hier S. 264.
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dass sie die Macht nicht will, sondern immer schon in einem emphatischen Sinne ist. Gegen den Willen (auch den Willen zur Macht) wird demnach die Macht ‚selbst‘ ausgespielt, die als „Ziel aller Ziele“ (W, 6: 79) jeder Zielsetzung vorangehe und mithin nie selbst zum Ziel gemacht werden könne. Die Auflösung der MachtParadoxie verdankt sich somit, dem Arbeiter zufolge, einer Einsicht in die unvergleichliche Wirklichkeit einer Macht, die zugleich die Möglichkeit bedeutet, in eine unmittelbare und ebenso unvergleichliche Beziehung zu dieser Macht zu treten. Gerade diese Andersartigkeit jedoch, dieses eigentümliche Sein des Arbeiters, das wir als seine Gestalt bezeichneten, ist viel bedeutender als jene Form der Macht, die überhaupt nicht gewollt werden darf. Dieses Sein ist Macht in einem ganz anderen Sinne, ist originales Kapital, das in den Staat wie in die Welt einschießt und das sich seine eigenen Organisationen, seine eigenen Begriffe prägt. (W, 6: 80)
Um sich als solche auszuweisen, ist diese Macht jedoch auf Leser angewiesen, die diese „organische[n] Begriff[e]“ (W, 6: 21) mit einer ebenso „organischen Konstruktion“ (W, 6: 133) komplementieren. Der Text zeigt sich auch hier auf einen Passagenritus angewiesen, durch die eine Leserschaft in die Orden des Arbeiters initiiert werden. Wenn sich die machtvolle Wirklichkeit des Arbeiters, durch ihre bloße Existenz legitimiert, als Quelle der Wertschöpfung überhaupt durchsetzen kann, wird sich die Gestalt des Arbeiters – als „originales Kapital“ (W, 6: 80) – auch dem zirkulierenden Kapital des Weltmarktes einprägen: Hier gibt es keine Art der Währung, die auf Treu und Glauben übernommen wird. Die alten Münzen werden verworfen oder mit einem neuen Stempel versehen – wobei dahingestellt sein kann, ob das Metall, aus dem sie geprägt werden, einen absoluten Wert besitzt oder nicht. Die Werte werden gesetzt in bezug auf die unqualitative, aber schöpferische Gestalt. (W, 6: 91)
In Jüngers Bruch mit dem Willen und der Willenserklärung, wie er sich namentlich in seinem Gegenmodell zum Paradigma der Unterschrift und des Eigennamens konkretisiert, schlägt sich demnach alles andere als die Sehnsucht nach einer substanzialistisch ausgerichteten Ökonomie nieder. Weil sich die Gestalt des Arbeiters gegen eine „gültige Signatur“ (W, 6: 206) sperrt, verbleibt sie sowohl auf der Ebene des Kollektivs als auf der der Einzelnen in der Anonymität. An die Stelle der bürgerlichen Unterschrift tritt – ganz dem Modell von Münze und Prägung entsprechend, das im obigen Zitat angedeutet wird – das Siegel, das in Heliopolis sogar noch heraldisch überformt wird. Dort zeigt sich auch überdeutlich, dass auch die Umrisse dieses Siegels mitnichten feststehen, sondern ebenfalls der präfigurativen Logik typologischer Arbeit unterliegen, die die Gestalt Jünger’scher Texte für immer neue Umgestaltungen öffnet.
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2.4 „Umriß einer werdenden Gestalt“: Das Formprinzip des Arbeiters Hinter der Prägung, der Münze und dem Wappen steht bei Jünger die Gestalt, deren Definition als Ganzes, das „mehr als die Summe seiner Teile umfaßt“ (W, 6: 38), – wie schon angedeutet wurde – auf die Gestaltpsychologie des frühen 20. Jahrhunderts verweist.157 Die sogenannte „Übersummativität“ der Gestalt geht auf einen 1889 veröffentlichten Aufsatz Über „Gestaltqualitäten“ von Christian von Ehrenfels zurück. Dieses sogenannte erste Ehrenfels-Kriterium wird am Beispiel der Melodie veranschaulicht, die nicht als Summe von Tönen wahrgenommen werde, sondern als festgeschriebene Abfolge von Intervallen. Wie im zweiten Ehrenfels-Kriterium festgehalten wird, basiert diese Übersummativität nicht einmal auf den sich ablösenden Tönen, da eine Melodie selbst dann ohne weiteres wiederzuerkennen ist, wenn sie zuvor in eine Tonart transponiert wurde, die keinen einzigen Ton mit der Ausgangstonart gemein hat. Eine Gestaltqualität definiert sich folglich als etwas „Neues und bis zu gewissem Grade Selbständiges“158, das zwar auf einen Ton-Vorrat als ‚Grundlage‘ angewiesen ist, ohne sich aber darauf zurückführen zu lassen. Gleichwohl fasst Ehrenfels das Prinzip der Gestaltqualität als etwas objektiv Gegebenes, das daher auch vom Willen unabhängig bleibt: Es sei ein Prinzip, welches nichts will und nichts anstrebt, als Gestalten und immer neue und immer höhere Gestalten hervorzubringen – gleichgültig was sonst noch daraus entstehen oder erfolgen mag, – oder besser noch als ein Prinzip, welches auch diese nicht „will“ (in irgendeiner anthropomorphistischen Deutung des Ausdrucks) – sondern es tut.159
Die sich weiterentwickelnde Gestaltpsychologie wird Ehrenfels’ Ansatz insofern radikalisieren, als sie nicht einmal mehr eine materielle Grundlage annimmt, auf der die Gestalt aufbaue, womit dann auch die Ansetzung einer Qualität der Gestalt zugunsten eines relationalen Gestaltmodells aufgegeben wird. Wegbereitend sind hierbei die Experimente Max Wertheimers, in denen eine Abfolge zweier optischer Reize untersucht wird, die in räumlichem und zeitlichem Abstand voneinander erfolgen.160 Bei einem langen zeitlichen Intervall zwischen den Reizen werden sie 157 So ist das dritte Kapitels des ersten Teils von Der Arbeiter betitelt: „Die Gestalt als ein Ganzes, das mehr als die Summe seiner Teile umfaßt“. (W, 6: 38-53) Auf den Bezug zur Gestaltpsychologie wurde bereits hingewiesen von Heidegger, Wegmarken, S. 394. Für die Bedeutung der Gestaltpsychologie und -theorie vor und in der Weimarer Republik siehe Annette Simonis, Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin. Diskursgeschichte einer deutschen Denkfigur, Köln, Weimar u. Wien 2001, sowie darüber zeitlich hinausgehend Mitchell G. Ash, Gestalt psychology in German culture, 1890-1967. Holism and the quest for objectivity, Cambridge 1995. 158 Christian von Ehrenfels, „Über ‚Gestaltqualitäten‘“, in: ders., Psychologie, Ethik, Erkenntnistheorie. Philosophische Schriften, hg. v. Reinhard Fabian, München u. Wien 1988, Bd. 3, S. 128-167, hier S. 129. 159 Ehrenfels, „Über ‚Gestaltqualitäten‘“, S. 160. 160 Siehe Max Wertheimer, „Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung“, in: Zeitschrift für Psychologie 61 (1912), S. 161-265, hier S. 165.
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alternierend wahrgenommen, bei einem kurzen werden sie gleichzeitig wahrgenommen. In einem messbaren Zwischenbereich indes wird eine (virtuelle) Bewegung von dem einem zum anderen Reiz wahrgenommen. Wertheimer zieht daraus den Schluss, dass die Kontinuität, die Gestalten in die phänomenale Welt bringen, virtuell ist, ohne dass sie damit zu einer schlichten „Täuschung“161 würde. Ganz im Gegenteil ist diese Kontinuität errechenbar und damit sogar einer experimentellen Wissenschaft zugänglich.162 Ausgehend von der Gestaltpsychologie lassen sich also Phänomene denken, die zugleich virtuell und wirklich sind. Zu ihnen zählt die nicht zu wollende Macht, von der im Arbeiter die Rede ist. In ihr manifestiere sich nämlich die virtuelle „neue Wirklichkeit“ (W, 6: 13) einer Gestalt, die eine „unbefangene Sehkraft“ (ebd.) angeblich wahrzunehmen vermöge. Diese Gestalt versteht sich dabei als genaues Gegenteil der in der Erstfassung des Abenteuerlichen Herzens kritisierten „Similisonne“ einer phantasmatischen „Humanität“ (W, 7: 150): Während im Lichte dieser Sonne abstrakte Gespenster erscheinen, denen keine Wirklichkeit zukommt, wird der Arbeiter als eine Wirklichkeit vorgestellt, der keine Essenz entspricht. Folglich sind die Erzeugnisse der Arbeiter-Gestalt auch nicht durch die „Einförmigkeit“ bestimmt, die das „Fabrikat“ der kapitalistischen Gesellschaft maßgeblich auszeichnet. (W, 6: 254) Das hieße, die Erzeugnisse der Arbeiter auf eine sich gleichbleibende, quasi-überzeitliche Form zu beziehen. Ihre „planetarische[ ] Gültigkeit“ verdanken die „typischen Bildungen“ (W, 6: 255) daher auch nur der „Eindeutigkeit“ (W, 6: 254), mit der sie auf die kommende Herrschaft verweisen. Die Optik des Arbeiter-Essays erlaubt also keineswegs die Beschreibung objektiver Formen, sondern setzt die Deutung durch einen zugleich souveränen und durch die Gestalt vorgeprägten Blick durch. Diesem medialen Dispositiv einer Sichtbarmachung der Gestalt entspricht es, dass auch technische Innovationen nicht als neutrale Instrumente verstanden werden, sondern „das wirksamste, das unbestreitbarste Mittel der totalen Revolution“ (W, 6: 178) ausmachen sollen163; und zwar gerade aufgrund ihres dezidiert sprachlichen Charakters. Die alle Grenzen einebnende „Mobilisierung der Welt“ (W, 6: 164) kann die Technik gerade deshalb vorantreiben, weil sie für Jünger – hier wie auch späterhin – als einzige „Weltsprache“ (W, 6: 622) gilt. In ihr kristallisiert sich die unmittelbare Evidenz der sich durch ihre Wirklichkeit legitimierenden Macht: „[I]hre Zeichen und Symbole sind einleuchtend durch ihre bloße Existenz.“ (W, 6: 177) Auch der Unterschied zwischen Bürger und Arbeiter, mithin die Zugehörigkeit zu (und das Ausgeschlossensein von) den Arbeiter-Kollektiven bestimmt sich durch den jeweiligen Bezug zur technischen Befehlssprache. Wenn ein jeder – „sei es freiwillig oder unfreiwillig“ – die „neue Sprache“ der Technik akzeptieren müsse, (W, 6: 179) dann zeichnet sich der Arbeiter durch die Freiwilligkeit seiner Unterwerfung aus. Dagegen ist die Übernahme dieser Sprache durch den Bürger, den 161 Ebd., S. 168. 162 Siehe ebd., S. 233-235. 163 Ähnlich sieht dies Friedrich Georg Jünger, Aufmarsch des Nationalismus, Leipzig 1928.
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Gegenspieler des Arbeiters, nicht nur unfreiwillig, sondern auch noch unbewusst, weil der Bürger davon ausgeht, dass die Technik ein neutrales Instrument darstellt. Die Annahme einer solchen Neutralität der Technik ist es auch, so Der Arbeiter, die den Bürger überhaupt erst für die Vorspiegelungen der Reklame anfällig macht. Dem Arbeiter hingegen, der sich der revolutionären Macht hinter der totalen Mobilmachung weihe, werde sie „zur reinen Fiktion“ (W, 6: 141), die den Gesetzen planetarischer Gestaltung dient. Damit bezeichnet die Technik auch die Linie, an der organische Begrifflichkeit und organische Konstruktion ineinandergreifen. In der „typischen Bildung [...] von planetarischer Gültigkeit“ (W, 6: 255) werden der menschliche Organismus und der technische Apparat über eine Befehlssprache hybridisiert, so dass die neuen Kentauren, von denen im Arbeiter gelegentlich die Rede ist (vgl. z.B. W, 6: 134), eigentlich Cyborgs sind, bei denen zwischen Organ und Instrument nicht mehr unterschieden werden kann. Die neue ‚Unmittelbarkeit‘, in der Subjekt und Objekt auf diese Weise eins werden sollen, lässt sich daher nicht als Rückkehr zu einem vorgesellschaftlichen Naturzustand verstehen.164 Vielmehr wird die Parteinahme für das lediglich „Organische[ ]“ (W, 6: 87) explizit als Quietismus und Romantik abgelehnt. (Vgl. auch W, 6: 176) Gerade bei der Betrachtung des „Planeten“ – als der „größte[n] Bildung[ ]“ – drängt sich für Jünger „die Erkenntnis auf, daß in diesem Raume die alte Unterscheidung zwischen mechanischen und organischen Kräften versagt.“ (W, 6: 106) Erst als Technik kommt die Natur für den Arbeiter zu sich, erst im „Erdkreis“ (W, 6: 95) schließt sich der Kreis: „Das Ziel, in dem sich die Anstrengungen treffen, besteht in der planetarischen Herrschaft als dem höchsten Symbol der neuen Gestalt.“ (W, 6: 321) Jünger propagiert nicht die Rückkehr zu einem vorgesellschaftlichen Naturzustand, sondern ein Mensch-Maschinen-System von planetarischen Ausmaßen, oder in den Worten Virilios: eine „PlanetenMaschine“.165 Die Gestalt des Arbeiters verwirklicht sich in dem Maße, in dem die Erde als größte organische Konstruktion die Gestalt annimmt, die ihr der Arbeiter verleiht. Dabei macht sich seine Gestalt gleichsam als neue Achse des Kreisens fest. Allein in diesem – Technologie und Biologie vereinenden – Sinn kann es dann heißen, die Gestaltung des „wohlbegrenzten Raumes“ der Erde sei die „natürliche Aufgabe“ des Arbeiters. (W, 6: 231-232) Hier nimmt Jüngers „Kosmopolitismus“166 (für Schmitt wird er vor diesem Hintergrund zum „Kosmopartisanen“167, der die
164 Folglich hat man in der Forschung Jüngers „Ja zur Verdinglichung“ betont, so Carl-Göram Heidegren, „Ernst Jünger’s Yes to Reification“, in: Jahrbuch für Philosophie des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover 10 (1999), S. 202-217. 165 Virilio, Geschwindigkeit und Politik, S. 23. 166 Für den Kosmopolitismus bei Jünger siehe Sigrid Thielking, Weltbürgertum. Kosmopolitische Ideen in Literatur und politischer Publizistik seit dem achtzehnten Jahrhundert, München 2000, S. 257263, sowie Ingo Stöckmann, „Der Intellektuelle als Kosmopolit. Ernst Jüngers Weltbürgertum“, in: Matthias Schöning u. Stefan Seidendorf (Hgg.), Reichweiten der Verständigung. Intellektuellendiskurse zwischen Nation und Europa, Heidelberg 2006, S. 134-149. 167 Schmitt, Theorie des Partisanen, S. 83.
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Deterritorialisierung des Planeten mit allen Mitteln forciert) Gestalt an: Er ist weniger universalistisch als planetarisch. Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten kann man auf wichtige Parallelen hinweisen, die zwischen Jüngers Entwurf eines total mobilgemachten Planeten und der „new planetary order“ bestehen, die Michael Hardt und Antonio Negri in Empire beschreiben.168 Die von Jünger in Aussicht gestellten „imperialen Bildungen“ (W, 6: 320) des Arbeiters können mit der sich nach dem Ende der Sowjetunion durchsetzenden imperialen Weltordnung, die Hardt und Negri denunzieren, durchaus verglichen werden. Doch auch hier ist – wie Deleuze und Guattari anlässlich von Jüngers Werken schreiben – alles „doppeldeutig“.169 Da Jüngers Arbeitsstaat ebenso antikapitalistisch ist wie Hardt/Negris Modell einer basisdemokratischen „Multitude“, das sie dem „Empire“ entgegenstellen,170 lässt sich Der Arbeiter keiner der beiden Seiten eindeutig zuordnen. Ein Vergleich mit dem Arbeiter verschärft so die epistemologischen Probleme von Empire. Die darin beschriebene imperiale Ordnung lässt sich nämlich, wie Hardt/Negri einräumen, erst in dem Moment thematisieren, in dem sie eigentlich schon überwunden ist.171 In diesem Zusammenhang drängt sich der zugleich sachliche und strategische Bezug zu Jünger geradezu auf, den Empire allerdings nur in einer Marginalie erwähnt. In dieser Endnote werden die grundlegenden Umwälzungen, die das Ende der eurozentrischen Weltordnung, aber auch den Untergang des Totalitarismus einläuten sollen,172 auf das zurückgeführt, was – wie es dort wörtlich heißt – „von Ernst Jünger bis Carl Schmitt“ als „totale Mobilmachung“ bezeichnet worden sei.173 Die totale Mobilmachung steht somit am Anfang sowohl des Empire als auch der Multitude, die beide „auf derselben Ebene“ angesiedelt sind.174 So sind auch Hardt/ Negri auf dieselben Textstrategien wie Jünger angewiesen, denn die Organisation der Multitude erfordert die gemeinsame Setzung eines kollektiven Ziels, die nur durch eine multiple Begegnung möglich wird: „Since great collective means must be mobilized for this mutation [from Empire to Multitude, ma], the telos must be configured as a collective telos. It has to become real as a site of encounter among subjects and a mechanism of the constitution of the multitude.“175 Vom Empire unterscheidet sich diese „Teleopoiesis“ allein dadurch, dass sie sich nur in einem Futur II konstituieren kann: „[I]t is a resistance that leaps to a future time – a real and proper future past, a kind of future perfect tense.“176 Allein eine solche zeitliche Vorwegnahme erlaube die Kritik und Überwindung des Empire. Michael Hardt u. Antonio Negri, Empire, Cambridge u. London 2000, S. 19. Siehe Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 556. Siehe hierzu auch Hardt/Negri, Multitude. Siehe Hardt/Negri, Empire, S. 20. Siehe ebd., S. 26. Hier findet sich der Verweis auf die Endnote 10, in der Jünger erwähnt wird. Ebd., S. 421: „We are referring here to the thematics of Mobilmachtung [sic] that were developed in the Germanic world primarily in the 1920s and 1930s, more or less from Ernst Jünger to Carl Schmitt.“ 174 Siehe ebd., S. 21. 175 Ebd., S. 405. 176 Ebd., S. 376.
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Die Nähe von Jüngers Entwurf einer planetarischen Arbeiter-Gestalt zur Multitude als einer „biopolitischen Selbstorganisation“177 zeigt sich noch deutlicher in dem 1959 erschienenen Essay An der Zeitmauer, den Jünger als Fortsetzung des Arbeiter-Essays konzipierte. Dort wird die „Weltwende“ (W, 6: 614), die sich in der „Erdgeschichte“ (533) abzeichnen soll, sogar als so einschneidend verstanden, dass sie einzig mit dem ersten Auftreten des Menschen auf dem Planeten vergleichbar sei (W, 6: 557). Dafür wird die Totale Mobilmachung in eine Entwicklung eingetragen, die die Oberfläche und die Atmosphäre des Erdkörpers selbst verändert. Offenbar wird hier aus der Luftperspektive gesprochen: Das Bild unseres Planeten ist bereits sonderbar genug. Er hat eine neue Haut bekommen, eine Aura, die aus Bildern und Gedanken, aus Melodien, Signalen und Botschaften gewoben ist. Das ist, auch abgesehen von den Inhalten, eine Stufe der Erdvergeistigung – ja trotz der Inhalte. Es geht über die Nationen und ihre Sprache, es geht über Wort und Zeichen, über Krieg und Frieden hinweg. (W, 6: 513)
Die allumfassende Veränderung der Biosphäre des Planeten Erde macht selbst vor dem Menschen nicht halt, der sich „in seinem Wesen, als Wesen, zu verändern beginnt. Es tritt etwas Neues und Fremdartiges in ihn ein, und zwar generell, über Nationen, Rassen und Bildungsstufen hinweg, auf planetarische Art.“ (W, 6: 477) Einen Einschnitt bedeutet das Erscheinen einer neuen Spezies vor allem deshalb, weil sie auf die geologischen Sedimentierungsprozesse, aus denen sich die Erdschichten bilden, nun auch selbst Einfluss nehmen kann. Zum ersten Mal sei es möglich, dass ein „schichtbildendes“ (W, 6: 571) Wesen zugleich auch Schichten „durchdringt“ (ebd.): „Das verleiht seiner Erdschicht, vielleicht sogar seinem Planeten, ein besonderes Licht.“ (W, 6: 573) Zwar ist in diesem Text zumeist schlicht vom ‚Menschen‘ die Rede, aber die für die Zukunft imaginierte Manipulation des menschlichen Genoms lässt Jünger von einem Züchtungsplan träumen, der ebenfalls im Interesse einer Umgestaltung des Planeten im Sinne des Arbeiters stehen würde. In diesem Zusammenhang werden ausdrücklich Huxleys Brave New World und Orwells 1984 erwähnt.178 Hinter der in An der Zeitmauer projizierten Spezies von ‚Söhnen der Erde‘ (siehe W, 6: 650) stehen also immer noch die Cyborgs aus dem Arbeiter. Für den Vergleich mit Hardt/Negri – sowie für die Kritik Schmitts an Jüngers Modell einer Planeten-Maschine – ist es wichtig, zu sehen, dass der kommende Arbeiterstaat für Jünger keine Zentralisierung bedeutet. Die Gewissheit, „daß der Umkreis der Zerstörung einen geheimen Mittelpunkt besitzt, von dem aus sich der 177 Ebd., S. 411. Auf die planetarische Dimension seines biopolitischen Paradigmas macht Agamben aufmerksam, wenn er im „Zutagetreten des Ausnahmezustands als permanente Struktur der juridisch-politischen Ent-Ortung und Verschiebung“ die Anzeichen eines „neuen nómos der Erde“ sieht, „der dazu tendiert, sich über den ganzen Planeten auszubreiten.“ Agamben, Homo sacer, S. 49. Der Ausdruck „Nomos der Erde“ sowie die Logik der Ausnahme, die sowohl bei Agamben als auch bei Hardt/Negri eine zentrale Rolle spielt, gehen auf Carl Schmitt zurück. 178 Der Erzähler von Jüngers Gläsernen Bienen ist vermutlich bereits kein homo sapiens sapiens mehr; siehe W, 9: 512-515.
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scheinbar chaotische Vorgang der Unterwerfung der alten Mächte vollzieht“ (W, 6: 178-179), lässt die Gestalt zwar zur Achse des Planeten werden, um die die typischen Bildungen kreisen. Die Gestalt unterwirft diese Bildungen damit aber nicht einer Uniformität oder Beständigkeit; vielmehr lässt deren Eindeutigkeit sie in ein ständiges Spiel der Umformung eingehen, in dem sie sich auflösen, wie die Punkte eines dezentralisierten Netzwerks zu Relais werden.179 Die Form des Relais entspricht im Übrigen genau der quasi-regelungstechnischen Befehlssprache, die nicht nur den Arbeiter-Essay selbst, sondern die Technik überhaupt charakterisieren soll. So partizipiert auch Jüngers Prosa unmittelbar an der „Technik als Mobilmachung der Welt durch die Gestalt des Arbeiters“ (W, 6: 164), indem sie diese den Planeten ergreifenden Prozesse nicht nur thematisiert, sondern auch mitvollzieht. Wenn Jünger anlässlich der ersten Ausgabe seiner Werke die Initiation, die seine Schriften beim Leser erzielen sollen, als „Maladie de relais“ (W, 10: 411) bezeichnet, so kann er das, weil auch seine Schriften zu Relais werden, die nur zwischen Präfiguration und Erfüllung vermitteln und sich damit selbst in den sich ständig verwandelnden Prozess des neuen Kapitals auflösen. Damit ergeht es Jüngers Texten, obwohl sie der Wirklichkeit so peremptorisch ihren Stempel aufzudrücken scheinen, ebenso wie der Reklame des Spätkapitalismus: Sie werben um Leser, die von der unabsehbaren Flucht von Umformungen einer „werdenden Gestalt“ (W, 6: 87) mitgerissen werden sollen. Selbst Jüngers Gründungstext einer planetarischen Arbeiterbewegung kann sich daher nur als „Kursbuch“ (W, 6: 156) verstehen, das nicht mehr als eine Momentaufnahme der dezentralen Netzwerke des Planeten bietet. Diese deterritorialisierende Dezentralisierung wird im Arbeiter vor allem mit dem Film180 in Verbindung gebracht, weil sich dieses Medium von jeder örtlichen Fixierung der Aufführung zu lösen vermag: Das Lichtspiel kennt keine einmaligen Aufführungen und im eigentlichen Sinne auch keine Premiere; ein Film läuft gleichzeitig in allen Vierteln der Stadt und läßt sich beliebig wiederholen mit einer mathematischen Präzision, die sich bis auf die Sekunde und den Millimeter erstreckt. (W, 6: 144)
Obwohl der Film hier wie anderswo zur Veranschaulichung dezentraler Medien herangezogen wird, stellt er trotzdem nicht das Modell von Jüngers planetarischer „Medienpolitik“181 dar. Deutlich wird dies bereits, wenn Jünger die entscheidende Innovation des Films an der „Einführung der künstlichen Stimme“ (W, 6: 144) 179 Für die Auflösung aller Punkte in Relais oder Verbindungsstellen vgl. Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 522. Zum Unterschied zwischen zentralisierten und azentralen Netzwerken siehe Pierre Rosenstiehl u. Jean Petitot, „Automate asocial et systèmes acentrés“, in: Communications 22 (1974), S. 45-62. 180 Auf die Bedeutung des Films für Jünger wurde nachdrücklich hingewiesen von Friedrich Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 195-203. 181 Brigitte Werneburg, „Ernst Jünger, Walter Benjamin und die Photographie. Zur Entwicklung einer Medienästhetik in der Weimarer Republik“, in: Hans-Harald Müller u. Harro Segeberg (Hgg.), Ernst Jünger im 20. Jahrhundert, München 1995, S. 39-57, hier S. 56.
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festmacht, die aus dem Off spricht und kommentiert. Damit setzt der Film für Jünger einfach nur diejenige Strategie um, die er selbst bereits in den Stahlgewittern erprobt hat, als er die eigenen Handlungen in der dritten Person zu kommentieren begann: „‚Jetzt zieht Leutnant Jünger seinen Mantel aus‘“. (W, 1: 252) Eine solche frei schwebende und nicht personalisierbare Stimme will die Jünger’sche Prosa an ihrer Grenze – gleichsam ‚ins‘ Off – einsetzen. Dass es eine episierende Tendenz ist, die den Film für den Arbeiter instrumentalisierbar machen soll, erklärt auch, warum Jünger auf dem Höhepunkt seines planetarischen Schreibens kein Drehbuch, sondern einen Roman verfasst.
3. Der Planetarische Roman: Heliopolis 3.1 Eine Wiederbegegnung zwischen den Fronten Der Roman Heliopolis (Erstausgabe 1949), der zwischen einem Spionagethriller à la James Bond und einer Dokumentation der politisch-gesellschaftlichen Zustände einer Weltmetropole changiert, setzt mit der „Rückkehr“ der männlichen Hauptfigur Lucius de Geer „von den Hesperiden“ ein. (W, 10: 13 ff.) Die Stadt, zu der er zurückkehrt und deren Plan im Schutzumschlag der Erstausgabe abgebildet ist182, basiert zwar in vielerlei Hinsicht auf Neapel183, gleichwohl lässt sich de Geers Rückkehr durch die Säulen des Herakles nicht als eine Rückbesinnung Jüngers auf die alte Welt Europas lesen. Als politische oder geographische Größe spielt Europa im Roman überhaupt keine Rolle, und wenn es darin eine ‚Alte Welt‘ gibt, dann liegt diese im „Burgenland“ (W, 10: 83), der Heimat de Geers, von der er sich zum Abschluss des Buches unwiederbringlich verabschieden wird. Im Vergleich zu diesem adlig geprägten Landstrich, der ebenfalls in der nur schemenhaft angedeuteten Welt jenseits der Hesperiden gelegen ist und die restliche Welt mit Eliten bestückt, stellt Heliopolis bereits so etwas wie eine ‚Neue Welt‘ dar. Dass der Roman jedoch die Eindeutigkeit, mit der von Altem und Neuem – sowie von Alter und Neuer Welt – gesprochen werden kann, herausfordert, zeigt sich schon darin, dass zwar das Stadtbild von Heliopolis durch die halbkreisartige Anlage um einen Obelisken herum zu einer Sonnenuhr idealisiert ist, also eine vormoderne Form der Zeitmessung versinnbildlicht, dass aber die Ereignisse in einer fernen, durch Hochtechnologien geprägten Zukunft spielen, so dass Peter-Uwe Hohendahl nicht zu Unrecht von einem „futuristischen Staatsroman“184 spricht. Diese Spannung von Vergangenem und Zukünftigem spiegelt sich auch in der Erzählhaltung wieder, in der das Geschehen trotz seines zukünftigen Charakters im Präteritum wiedergegeben wird, als wäre es schon vergangen. Erst im letzten Satz wird erklärlich, wozu die Spannung in der Erzählhaltung dient. Dem, was erzählt wird, ist ein langer Machtkampf um die Erdherrschaft vorangegangen, dessen Spuren in der Stadt noch überall präsent sind. Vor allem die „Zeit
182 Vgl. Ernst Jünger, Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt, Tübingen 1949. 183 Überhaupt bedient sich auch dieser Text einem Collage-Prinzip, das frei aus der Weltliteratur, der Weltpolitik und früheren Werken Jüngers zitiert. Deshalb wirkte es auf die Kritik zunächst auch, „als hätte sich der Autor selbst kopiert.“ So Karl Korn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24. Dezember 1949, zitiert in Ralf Hayer, „‚Über dieses Buch hinaus gibt es für Jünger keine Entwicklung mehr...‘ – Ernst Jüngers Heliopolis im Spiegel der Literaturkritik“, in: Natalia Żarska (Hg.), Ernst Jünger – eine Bilanz, Leipzig 2010, S. 498-509, hier S. 501. 184 Peter-Uwe Hohendahl, „Erzwungene Synthese. Ernst Jüngers Roman Heliopolis als poetischtheologisches Projekt“, in: Erhard Schütz u. ders. (Hg.), Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservativismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands, Essen 2009, S. 35-53, hier S. 39.
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3. DER PLANETARISCHE ROMAN: HELIOPOLIS
der Großen Feuerschläge“ (W, 10: 264) und die darin zum Einsatz gekommene „Strahlungstechnik“ (W, 10: 262) – es handelt sich offenbar um Atom- und LaserWaffen – haben auch weite Teile des Planeten verwüstet und verseucht. Den Sieg trug schließlich ein sogenannter „Regent“ (W, 10: 168) davon, der sich allerdings bald davon überzeugen musste, dass es sich nicht einmal lohne, den Menschen zu „züchtigen“ (ebd.). Alsbald hat er sich deshalb ins Weltall zurückgezogen, von wo aus er vorerst – seine Vormachtstellung durch ein Monopol auf die Strahlungswaffen sichernd – das Weltgeschehen beobachtet und überwacht. Ebenso wie den meisten Figuren des Romans bleibt aber auch dem Leser die souveräne Perspektive, die der Regent damit eingenommen hat, prinzipiell verschlossen. Die Vorgänge im All bleiben daher noch nebulöser als die Situation jenseits der Hesperiden, was die Figuren des Romans allerdings gerade dazu einlädt, im All beim Regenten die Erfüllung ihrer ureigenen Wünsche zu suchen. Wie um diese Projektionen zu entwerten, betont der Roman auf seinen letzten Seiten noch einmal: „Man wußte wenig von jener Welt.“ (W, 10: 354) Die Unklarheit über die politische Gesamtlage des Planeten teilt sich auch dem Leben in der Stadt selbst mit, in der paradoxerweise „der Verlust der Einheit zusammenfiel mit ungeheuerer Steigerung und Ausweitung der Macht“ (W, 10: 74). Diese paradoxe Situation verweist auf das Paradox der totalen Mobilmachung der Erde durch die Technik, hinter der sich eine sich selbst ausweisende Macht zeigt, die aber nicht, wie es im Arbeiter heißt, „gewollt werden darf“ (W, 6: 80). In Heliopolis findet sich beides, avancierteste Technik und politischer Stillstand, unmittelbar nebeneinander. Die Stadt befindet sich in einem prekären politischen Gleichgewicht, das als man als kalten Bürgerkrieg oder aber mit Spivak als „heißen Frieden“185 bezeichnen könnte. Als Gegner stehen sich dabei der betont kultivierte und elitäre Prokonsul, in dessen Stab de Geer tätig ist, und der derbe und seine Macht auf das Volk stützende Landvogt gegenüber, dessen Gehilfen de Geer schließlich zu Fall bringen werden. Beide Seiten verfügen über bewaffnete Truppen, wobei es sich in der bürgerkriegsartigen Situation gleich bleibt, ob es nun das Militär ist, das vom Palast des Prokonsuls aus befehligt wird, oder die Polizei, deren Leitung im Zentralamt des Landvogts sitzt. Immer wieder kommt es zu bewaffneten, wenn auch örtlich begrenzten Auseinandersetzungen, die von den Medien der jeweiligen Partei angeheizt und für deren Zwecke instrumentalisiert werden. Es liegt nahe, Heliopolis vor dem Hintergrund der darin dargestellten Konflikte als Schlüsselroman des Kalten Kriegs (oder auch, wie schon geschehen, des Nationalsozialismus186) zu lesen, doch würde die Komplexität des Romans dadurch stark
185 Gayatri Chakravorty Spivak, A Critique of Postcolonial Reason. Toward a History of the Vanishing Present, Cambridge 1999, S. 373. 186 Auf die Versatzstücke, die auf den Nationalsozialismus weisen, hat Craig W. Nickisch, „Aus der Zukunft die Vergangenheit – Ernst Jüngers Heliopolis“, in: Heinrich Mann Jahrbuch 6 (1988), S. 137-146 aufmerksam gemacht, Ralf Hayer geht um einiges weiter, wenn er den Roman als Verarbeitung von Jüngers Aufenthalt in Paris während des Zweiten Weltkriegs liest. Siehe Ralf Hayer, „‚Über dieses Buch hinaus gibt es für Jünger keine Entwicklung mehr...‘“, S. 505 u. 507.
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reduziert. Denn die Lager von Prokonsul und Landvogt sind, so sehr sie auch dem Ost- und Westblock, dem Kommunismus und Liberalismus zu entsprechen scheinen, nicht ohne Rest auf dieses Modell zu übertragen. So ist der Prokonsul zwar ein Aristokrat, seine Institutionen sind aber syndikalistisch organisiert (siehe W, 10: 160), und der Landvogt trägt zwar den roten Stern des Kommunismus, „stützt sich aber auf die Trümmer und Hypothesen der alten Volksparteien“ (W, 10: 155), was in der Adenauer-Ära ebenso an die CDU gemahnt wie an eine KP. Für den Jünger der unmittelbaren Nachkriegszeit sind die Verwerfungen planetarischer Begegnungen, wie es Virilio Jahre später für die „planetarische Globalisierung“ festhalten wird, „inmitten der Metropolen“ angekommen.187 Jüngers Roman geht allerdings noch einen Schritt weiter, wenn er den „negativen Horizont, der unsere politischen Unvollkommenheiten auszuwischen vermöchte“ 188, nicht im internationalen Flughafen der Großstadt sieht, von wo aus man in die gesamte Welt fliegen kann, sondern im Weltraumbahnhof, der den Zugang zur Umlaufbahn um die Erde ebenso verspricht wie vorenthält. So liegt der Raketenhafen des Regenten zwar in der Stadt, markiert aber einen Bereich, zu dem weder Figuren noch Leser eine Zugangsberechtigung haben. Dass sich damit die entscheidenden politischen wie technischen Grenzen quer durch die Stadt ziehen, löst die Metropole aus dem Zusammenhang des Nationalstaats, und man hat es – schon das griechische Wort polis im Titel suggeriert das – mit einem Stadtstaat zu tun, für den die Trennung von Innen- und Außenpolitik, die mit dem Territorialstaat neuzeitlicher Prägung einherging, nicht mehr gilt. Die unklare politische Situation in der Stadt und auf dem Planeten steht in einem auffälligen Kontrast zu den technischen Errungenschaften der Zeit. So sind, wie es heißt, „die Geschwindigkeiten absolut geworden“ (W, 10: 36), ohne dass die daraus resultierende technische „Miniaturisierung“189 des Planeten einen Überblick über ihn ermöglicht hätte. Eher scheint das Gegenteil eingetreten zu sein. Denn wie schon in den Grabenkämpfen der frühen Kriegstagebücher sind es gerade die kollabierenden Grenzen, die keinen Überblick über das Ganze zulassen. Der Roman funktioniert damit gleichsam analog zu dem „Punktamt“ (W, 10: 42), das Daten aus allen Orten der Erde zusammenträgt, sich aber dem Zugriff von Prokonsul und Landvogt gleichermaßen entzieht. Da seine Daten vielmehr von (fast) allen und überall mithilfe einer Art von smartphones abrufbar sind, stellt das Punktamt so etwas wie ein Internet avant la lettre vor. Es handelt sich nämlich um ein globales Netzwerk, das „alle geformten Dinge auf ein Koordinatensystem“ (W, 10: 42) bezieht, dessen „Achsenkreuz“ (W, 10: 43) den Erdball ersetzt hat. Auch das Punktamt verfügt noch über ein „Wappenschild“, und zwar mit dem „blasphemischen Spruch ‚Stat crux dum volvitur orbis‘“. (W, 10: 43) Die „Macht“, die die ständig
187 Paul Virilio, Panische Stadt, übers. v. Maximilian Probst, hg. v. Peter Engelmann, Wien 2007, S. 24. 188 Ebd., S. 24. 189 Ebd., S. 113-114.
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wachsenden „Archive“ des Amts steigern, (ebd.) sind von der Art der Macht, die nicht „gewollt werden darf“ (W, 6: 80). Die Gefahren, die das Punktamt dadurch schafft, dass es „jeden Punkt des Erdballs orten und damit bedrohen“ (W 10: 43) kann, und die bis in die intimste Privatsphäre des Protagonisten eindringen, stehen im Zentrum des Romans. Der einzige, der sich vor dem allmächtigen Blick des Punktamts schützen kann, ist der Regent, und zwar indem er seine Waffensysteme „quer zu den Meridianen stellt“ (W, 10: 45) und somit, wie man sich in Heliopolis erzählt, für Teleskope unsichtbar machen kann. So erweist sich allein der sich entziehende Regent als der genuine Herr über den Nullmeridian und damit auch über den Planeten. Dass sich der Nullmeridian hier zugleich (zu „den Meridianen“) vervielfältigt, entspricht der deterritorialisierenden Funktion der planetarischen Linie, die alles in ein komplexes Netzwerk von sich ständig bewegenden Linien auflöst. Wenn es gleich im zweiten Satz des Romans heißt, in der „Höhe“ des Raums „kreiste ein Lichtspiel von Linien“, (W, 10: 13) so ist damit nicht nur das psychedelische Badeerlebnis de Geers gemeint, sondern der Raum des Romans selbst bezeichnet. Ein ähnliches Lichtspiel in der Höhe kehrt so denn auch im Panoramablick auf die nächtliche Stadt wieder, die als bunte Landschaft von Auto- und Schiffslichtern, erleuchteten Rummelplätzen und explodierendem Feuerwerk beschrieben wird. Eingerahmt werden die Lichteffekte jedoch von den „Raketenbahnen“, die sich in „hohen Sphären“ hinziehen. (W, 10: 103) Der „Raum“ wird so zu „einer dunklen Höhle, in der ein mathematisches Bewußtsein mit bunten Augen lauerte und seine Spiele trieb.“ (Ebd.) Der Anblick dieser alles überwölbenden Höhle ruft bei den Figuren ein Gefühl der Orientierungsund Sinnlosigkeit hervor: „Man hat uns abgefeuert wie ein Geschoß [...]. Was ist der Sinn, wo ist das Ziel der fürchterlichen Bahn?“ (W, 10: 104), fragt sich ein Bekannter de Geers. Die Situation auf diesem planetarischen Geschoss ohne klar erkennbares Ziel bezeichnet auch genau die Position der Leser, die sich mit einem Helden identifizieren sollen, dessen Name auf ein Wurfgeschoss verweist und der schließlich (nicht aber, ohne die Leser in diesem letzten Schritt hinter sich zu lassen) in die Gruppe um den Regenten aufgenommen wird. Die planetarische Flugbahn, die de Geer damit gewinnt, verdankt sich allerdings – und das ist eine zentrale Pointe des Romans – weniger einer unmittelbar aufwärts strebenden Laufbahn als einer unvorhergesehenen Kollision, die ihn von seiner angestammten Bahn abbringt und es ihm nur so erlaubt, seinem Namen in einer ganz neuen Weise gerecht zu werden. Damit personifiziert de Geer in einer prägnanten Weise die präfigurativen und teleopoietischen Tendenzen der Jünger’schen Typologie. Ausschlaggebend ist aber auch in diesem Fall nicht ein feststehendes ego, sondern die Begegnung mit einem alter, das dieses Ich grundsätzlich in Frage stellt. Schon während seiner anfänglichen Rückkehr nach Heliopolis erfährt de Geer, dass wieder „Unruhen in der Stadt“ (W, 10: 66) herrschen. Es handelt sich um ein vom Landvogt instigiertes Pogrom gegen die Parsen, von denen es im Roman heißt, sie hätten, nachdem „sich der Regent der Juden angenommen hatte“, „die Erbschaft der Verfolgung“ angetreten. (W, 10: 69) Das geht so weit, dass die Parsen, denen der Besitz und der Gebrauch der smartphone-ähnlichen Phonophore
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untersagt ist, sogar informationstechnisch marginalisiert werden.190 Als Geheimagent des Prokonsuls ist es de Geer gewohnt, zwischen den ohnehin durchlässigen Fronten zu operieren, und entschließt sich daher kurzerhand, einen eigenmächtigen Streifzug im Unruheherd zu unternehmen. Unterwegs trifft er unverhofft auf Budur Peri, die Nichte seines parsischen Buchbinders Antonio Peri, in die er sich, ohne sich dies zunächst eingestehen zu können, bereits auf den ersten Blick verliebt. Im Rahmen der Verhaftungen, die dem Pogrom folgen, wird Budur von den Truppen des Landvogts interniert. Am Grenzzaun eines Auffanglagers begegnet de Geer ihr wieder und rettet sie – wiederum eigenmächtig – aus der Gefangenschaft, indem er eine Ausnahmegenehmigung im Zentralamt des Landvogts erwirkt. Da sich für sie kein Ausweg aus der Stadt bietet, gibt er der jungen Frau in seiner Dienstwohnung im Palast des Prokonsuls Unterschlupf, was mittlerweile bereits die dritte Eigenmächtigkeit ist, weil es gegen die Vorschriften des Prokonsuls verstößt, Parsen Unterschlupf zu bieten. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlt sich der sonst so abgefeimte Geheimagent angreifbar. Als sich die beiden näher gekommen sind, erklärt Lucius Budur die Funktionsweise des ihr unvertrauten Phonophors. Ist aber ein Kanal geöffnet, dann können die Anwesenden von einem dritten Ort aus lokalisiert und identifiziert werden. Dies geschieht in einem Büro des Zentralamts, von wo aus de Geer seit seiner Rettung der Parsin beschattet wird. Am nächsten Morgen steht es schon in den Schlagzeilen der vom Landvogt kontrollierten Medien. Der Skandal ist perfekt, de Geer muss aus dem Dienst des Prokonsuls scheiden. Durch diesen „Sturz“ (W, 10: 329) sieht er aber nun vollends ein, dass ein „verbrecherischer Zug [...] im Ganzen liegen“ müsse und sich „notwendig den Parteien mit[teile]“ (W, 10: 318), was die eigene Partei miteinschließt. Damit bestätigt sich seine frühere Vermutung, dass es dem Prokonsul ebenso wie dem Landvogt nur um die Herrschaft in der Stadt zu tun ist und dass ihr verschiedenes Auftreten in Wahrheit bloß auf ästhetische Vorlieben zurückzuführen ist. Hat er damals verspürt, dass auch seine Partei nur durch ein defizitäres Verhältnis zur Macht charakterisiert ist, muss er nun zugeben, dass dieser Mangel an Macht in dem Moment zu einem Verbrechen wird, in dem er wie im Fall des Prokonsuls dazu führt, dass eine Religionsgemeinschaft wie die der Parsen nicht beschützt wird. Während eines Besuchs im Arsenal, bei dem er erneut mit den Paradoxien des ‚heißen Friedens‘ konfrontiert wird, beginnt de Geer an seiner eigenen Rolle in diesem Mächtespiel zu zweifeln. Hat er bislang aktiv an den Kämpfen teilgenommen, so wird er in der Folge dieses Besuchs zunehmend eines eigenen inneren „Zwiespalt[s]“ inne, „der ihn wachsend lähmte“ (W, 10: 318). Durch ein im Arsenal befindliches Museum geführt, das Waffen der Menschheitsgeschichte beherbergt, fühlt sich Lucius unwillkürlich an die Lektüre eines Interviews mit einem 190 Die biopolitische Dimension dieses Ausschlusses zeigt sich spätestens bei der Befreiung von Budurs Onkel Antonio, der für Menschenversuche missbraucht wurde und in einem zynischen Kommentar explizit als „Muselmann“ (W, 10: 307) bezeichnet wird. Zu den Versuchspersonen vgl. Agamben, Homo sacer, S. 163-168.
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angeblichen „Heros“ (W, 10: 265) erinnert, der „im Morgengrauen eine Stadt am Gelben Meer pulverisiert“ (ebd.) hatte. Obwohl dieser seinerzeit von der internationalen Gemeinschaft als „Friedensbringer“ (W, 10: 266) gefeiert wurde, verspürte de Geer damals schon „ein dumpfes Ahnen, daß die Rechnung nicht aufging“ (ebd.): Der Sieger nimmt sich zwar, allein durch seinen Sieg legitimiert, das Recht heraus, sich zum Richter über den Besiegten aufzuschwingen, am Lauf der Welt ändert das, wie de Geer feststellen muss, aber rein gar nichts.191 Schuldzuweisungen verbauten sogar den Weg zu den tatsächlichen Problemen: Man war ununterbrochen auf der Suche nach den Schuldigen. Nach jedem Krieg, jedem Bürgerkriege spürte man sie in Massen auf, doch kaum daß man Gericht gehalten hatte, waren die Dinge wie zuvor, fast schlimmer noch. Ein jeder suchte im Feind zu treffen, was in ihm selber war (W, 10: 266).
Den Ausweg aus dieser Verwechselung von Selbst und Anderem, Eigenem und Fremdem findet de Geer in der Begegnung mit Budur, die – indem sie die planetarische Begegnung einer offenbleibenden Zukunft vorwegnimmt – auch die rückblickende Perspektive, die der Roman auf die Stadt einnimmt, überhaupt erst einräumt.192
3.2 Der „Rückblick auf eine Stadt“ und die Zeitlichkeit der Planetarischen Begegunng Gleich bei der ersten, zufälligen Begegnung von Budur und Lucius sprechen die beiden über sein Wappen, auf dem eine „Lanzenspitze“ abgebildet ist, „die erst allmählich die Lilienform gewonnen hat“. (W: 10, 80)193 Der Wahlspruch „de ger trift“ verbindet die Lanzenspitze zudem mit Lucius’ Nachnamen. Allerdings soll das ‚de‘ im Namen, wie Lucius Budur erklärt, nicht ‚von‘, sondern ‚der‘ bedeuten (vgl. W, 10: 80). Dass die Heraldik in Heliopolis eine so zentrale Rolle spielt, verweist nicht zuletzt auf die Typologien von Jüngers früheren Texten wie dem Arbeiter.194 Wo die dort erprobte Form typologischer Präfiguration die aufgerufenen Traditionen und Geschehnisse im Sinne der kommenden Herrschaft des Arbeiters umdeutet, wird hier die Bedeutung von Wappen und Devise sogar verkehrt. Dem herkömmlichen Anspruch der Devise zeigt sich Lucius nämlich nicht gewachsen, vielmehr verfehlt er sein Ziel grundlegend. Das wird spätestens in der Nacht deut-
191 Auch aufgrund solcher Einsichten wird der Roman der Tradition der Anti-Utopie zugeschlagen in Stephan Meyer, Die anti-utopische Tradition. Eine ideen- und problemgeschichtliche Darstellung, Frankfurt a.M. et al. 2001, S. 346-352. 192 Auf die zentrale Bedeutung der Begegnung mit Budur Peri wurde schon aufmerksam gemacht von Hohendahl, „Erzwungene Synthese“, S. 45-46. 193 In der Erstausgabe des Romans findet sich das Wappen jeweils auf der ersten Seite der beiden Teile abgebildet. Siehe Ernst Jünger, Heliopolis (1949), S. 7 u. 255. 194 Vgl. Martinsen, Der Wille zum Helden, S. 73.
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lich, in der sich das Netz des Landvogts zusammenzieht und in der Budur und er eine gemeinsame Drogen- und Sexorgie feiern. Ähnlich ihrer ersten Begegnung wird dieser Wendepunkt der Erzählung, an dem Lucius als ‚der Ger‘ scheitert, mit immenser Bedeutung aufgeladen und als totales Versagen inszeniert. Er, der auf das Drogenexperiment gedrängt hat, unterliegt der Mischung von Hanf und Lorbeer und hat einen Horrortrip. Nur die ihm beistehende Budur Peri bewahrt ihn vor der völligen Vernichtung, von der er sich bedroht glaubt. Just in dem Moment, in dem er „nichts mehr“ fühlte, „was ihn unterschied“, halluzinierte er „die fürchterlichen Worte: / ‚Das bist du!‘“ (W, 10: 326), die ihm aber sein Ich nicht wiedergeben, sondern entziehen.195 Hinzu kommt sein sexuelles Versagen, das über eine ballistische Metapher mit dem Verfehlen der Familiendevise assoziiert wird: „Ein tiefes Stöhnen, als ob der Lebensatem wiche, begleitete die Kugel, die in ihrem Lauf ermattete.“ (W, 10: 327) Der Wurfspieß wird zum Rohrkrepierer, der aus dem Labyrinth des Versagens und der Vernichtung nur durch die Hilfe Budurs hinauszufinden vermag. In der für die Werkausgabe überarbeiteten Fassung heißt es hierzu lakonisch: „Lucius dagegen war völlig abgesunken, er schleppte sich mühsam an ihrer Seite fort.“ (W, 10: 328). Die Erstausgabe macht ungleich deutlicher, dass es die „Begegnung“ mit Budur ist, die – „seltsam“ und „verschieden von allen anderen“196, wie sie ist – wortwörtlich am Verfehlen des Ziels schuld ist. Diese Begegnung „fiel“ nämlich, wie dort zu lesen steht, „mit einem Augenblick zusammen, in dem er sich verloren gab. Die Liebe traf ihn, seines Wappenspruchs spottend, wie ein Geschoß. Zum ersten Mal begriff er, daß er eines Menschen, und zwar eines bestimmten Menschen bedürftig war.“197 Ihre zentrale Bedeutung erweist die Begegnung mit Budur vollends dadurch, dass der Roman erst und nur in diesem Augenblick des Rausches – in dem sich zeigt, dass de Geer nicht ‚der Ger‘, sondern ‚vom Ger getroffen‘ bedeutet – eine Perspektive auf den gesamten Planeten gewinnt. Dabei spielt der Roman vielleicht auch auf die aus dem Abenteuerlichen Herzen stammende Rede vom „Schiffbruch jeder Ordnung“ (W, 7: 174) an, wenn es heißt: „Der Boden begann zu wanken und sich aufzulösen, wie Planken über einem Riff. Lucius stürzte; die Erde war steinern, und der Himmel stand eisern über ihr gewölbt.“ (W, 10: 328-29) In der Erstausgabe folgt hier noch der Satz: „Der Nullpunkt war erreicht“.198 Diese Grenzerfahrung, in der nur noch das Andere besteht, eröffnet dem Ger eine neue Bahn: Er wird in den Dienst des Regenten genommen und darf die „Schwelle“ (W 10: 353) überschreiten, die dessen „Bezirk“ (ebd.) schützt. Der Roman schließt damit, dass de Geer sich bereit macht, in einem Raumschiff die Umlaufbahn um die Erde zu gewinnen.
195 Vgl. hierzu auch der Definition der Shifter-Funktion als eines „fading“ in Lacan, Écrits, S. 800 u. 835. 196 Jünger, Heliopolis, S. 413. 197 Ebd. 198 Ebd., S. 402.
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Auf diesem Flug wird ihn Budur Peri begleiten, die ihm überdies vom Regenten im Rang gleichgestellt wird. Nachdem sich die beiden auch äußerlich von den „Überlieferungen und ihren Ketten“ (W, 10: 337) befreit haben – de Geers Siegelring mit dem Wappen und der früheren Identität werden in seine Heimat zurückgebracht, Peri legt ihre parsische Tracht ab –, treten sie nunmehr in identischen Uniformen auf, die als Abzeichen „ein einziges Weizenkorn“ (W, 10: 353) tragen. Die Gleichstellung der beiden rührt daher, dass Budur die (und sei es die verborgene) Schlüsselfigur des Romans ist, weil nur sie über Nullpunkt und Nulllinie hinauszuführen vermag. Daher vielleicht auch ihr Nachname, in dem das griechische Wort peri (‚um herum‘) anklingt. Die gefahrenträchtige Begegnung mit ihr bedeutet „Sturz“ (W, 10: 329) und „Beförderung“ (W, 10: 354) zugleich. Die komplexe zeitliche Struktur der Begegnung von Lucius und Budur im gefahrenträchtigen Raum, die die im Roman nicht mehr geschilderte Begegnung der beiden im planetarischen Raum vorwegnimmt (und vorenthält), wird zum Abschluss des Buches auch poetologisch fruchtbar gemacht. Wenn sich der Erzähler im letzten Satz: „Uns aber liegen diese Tage fern“ (W, 10: 356) mit der Leserschaft „verbündet“199, zeigt sich, dass der im Untertitel von Heliopolis angekündigte „Rückblick auf eine Stadt“ implizit immer schon nicht im Imperfekt zu lesen ist, sondern in einem (erst zum Schluss der Lektüre deutlich werdenden) Futur II: Ereignisse, die auch für den Erzähler in einer fernen Zukunft liegen, werden von ihm erzählt, als wären sie bereits vergangen, aber nur um abschließend auf noch weiter in der Zukunft liegende Ereignisse hinzudeuten. Denn Peri und de Geer werden, wie es im vorletzten Satz heißt, „im Gefolge des Regenten“ sein, wenn dieser in einem „Vierteljahrhundert“ auf die Erde zurückkehrt. (W, 10: 356) Dem Leser und dem Erzähler ist es aber nicht einmal vergönnt, Budur und Lucius bis „jenseits des Bands“ (W, 10: 353) zu begleiten, das macht der Einbezug des Lesers im allerletzten Satz – der zudem der einzige im gesamten Roman ist – unmissverständlich deutlich. In dieser Hinsicht bildet Heliopolis, obwohl der Roman vielfach weit konventioneller als die avantgardistischen Essays der 20er und 30er Jahre wirkt, den Höhepunkt von Jüngers planetarischem Schreiben. Als Roman, und nicht als Stadt, stellt ‚Heliopolis‘ Jüngers ‚Polis der Sonne‘ dar und entzieht sie zugleich dem Blick. In den Überlegungen „über den Roman“, die im Umfeld von Heliopolis entstanden sind, findet sich daher die Beobachtung: „Das Ziel entfernt sich, indem wir es verfolgen.“ (W, 10: 403) Eine vergleichbare Überlegung über den Schluss von Romanen bietet auch der Essay Über den Schmerz – ein Text, auf den Jünger aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem „feinen Schmerz“ (W, 10: 356) anspielt, den Lucius und Budur bei der Überschreitung der letzten Linie verspüren. In Über den Schmerz werden zwei Arten des Romans unterschieden, die den zwei Weisen des Umgangs mit dem letztlich enttäuschenden Leben entsprechen: „Daß es dem Leben eigentlich an einem befriedigenden Abschluß fehlt, drückt sich im fragmentarischen 199 So Julia Draganović, Figürliche Schrift. Zur darstellerischen Umsetzung von Weltanschauung im erzählerischen Werk Ernst Jüngers, Würzburg 1998, S. 219.
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Charakter der meisten großen Romane aus, die entweder unvollendet sind oder die ein künstlicher Plafond überwölbt.“ (W, 5: 154) Der künstliche Plafond, der Heliopolis überwölbt, löst sich in die „Raketenbahnen“ auf, die in „hohen Sphären“ über der Stadt sichtbar sind, (W, 10: 103) so dass die Wirklichkeits-Fragmente, die in sein patchwork eingegangen sind, sich um einen Fluchtpunkt sammeln, der für den Regenten als den kommenden Souverän freigehalten wird. Während Peri und de Geer mit dem Regenten zu einer zukünftigen Herrschaft über den Planeten vereint werden und der Erzähler sich mit dem Leser solidarisch erklärt, wird die Autorposition invisibilisiert. Anstatt von außen zu kommen, soll die Erzählstimme – sozusagen in Umkehrung der Stimme aus dem Off, die in ‚Leutnant Jüngers‘ Selbstkommentar in den Stahlgewittern erscholl – gleichsam ‚ins Off‘ gestellt werden. Weil damit auch die Autorposition ganz in der Gestaltung des Werks aufgeht, wird sie in dieser letzten Wendung auch unangreifbar. Was bleibt, ist ein Wir, das vom Planeten „nicht abspringen“ kann, denn „man hat uns abgefeuert wie ein Geschoß“. (W, 10: 104) Dieser Kulminationspunkt von Jüngers planetarischem Schreibprojekt räumt der weiblichen Hauptfigur eine für Jüngers Werke ungewöhnlich prominente Rolle ein. Dass sich Jünger in seinem Versuch, dem kategorischen Imperativ des ‚abenteuerlichen Herzens‘ eine planetarische Perspektive zu geben, zuletzt auf eine solche gender-Konstruktion angewiesen sieht, nimmt Spivaks planetarische Imperative vorweg: „imperatives that structure all of us, as giver and taker, female and male, planetary human beings“.200 Um die Tragweite dieser Entscheidung für Heliopolis zu ermessen, lohnt sich ein kurzer Blick auf Jüngers zweiten Roman Eumeswil (Erstausgabe 1977), der mit einer vergleichbaren Szene endet. Schließt sich Lucius de Geer dem in das Weltall zurückgezogenen Regenten an, so folgt Martin Venator, die Hauptfigur von Eumeswil, dem Condor in den Urwald. Schon das irdische, vorkulturell kodierte Ziel des Protagonisten deutet an, dass sich der Jünger der späten 70er Jahre von der planetarischen Perspektive von Heliopolis abgewandt hat. Damit geht auch ein Bedeutungsverlust der weiblichen Figuren einher, von denen in Eumeswil keine eine Budur auch nur annähernd vergleichbare Rolle spielt. So ist die abschließende Grenzerfahrung von Eumeswil (von welcher Venator auch noch in der eigenen Person berichten kann) eine einzige Selbstbespiegelung, womit sie an die Annahme gemahnt, der Frontsoldat sei „eine Welt für sich“ (W, 1: 80), die In Stahlgewittern allerdings ad absurdum geführt wurde. Zwar hat auch Venator das „Bewußtsein, nicht genügt zu haben“, allerdings will er gerade in der letzten Begegnung mit einer Frau – die ihn überraschte, „indem sie zu ersten Mal die Hüllen fallen ließ“ – ihr sexuell „gerecht“ geworden sein.201 Auf diese folgt als allerletzte Begegnung eine narzisstische und autoerotische Selbstbegegnung, während der sich Venator „im Spiegel als übersinnlichen Freier“202 sieht. Die Versenkung in 200 Gayatri Chakravorty Spivak, Imperative zur Neuerfindung des Planeten. Imperatives to Re-Imagine the Planet, hg. v. Willi Goetschel, Wien 1999, S. 88. 201 Ernst Jünger, Eumeswil, Stuttgart 1977, S. 428. 202 Ebd.
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diese „Gestalt“203, vor welcher seine physische Existenz verblasst, erlaubt ihm, sich zu verbrennen, ohne Schmerz zu empfinden. Sein Diener rettet ihn zwar vor dem drohenden Tod, seine Aufzeichnungen brechen aber unmittelbar danach ab und sein Weg verliert sich im Dschungel. Im Gegensatz zu dem ihm ansonsten zutiefst verwandten Venator kann de Geer nicht die hybride, das Ich gleichermaßen bedingende wie in Frage stellende Alterität der Begegnung auf sein Ich reduzieren. Die Begegnung mit Budur, die die Begegnung in der Umlaufbahn um den Planeten präfiguriert, wird daher auch nicht auf das Modell einer ‚Welt für sich‘ zurückgebogen, mit dessen Scheitern Jüngers planetarisches Lesen und Schreiben gerade begann. In Heliopolis kommt Jünger somit der planetarity Spivaks am nächsten, und zwar, indem er die „open-ended structure“204 von Literatur hier konsequent die „open-plan fieldwork“205 hybrider Planetaritäts-Kollektive vorwegnehmen lässt, ohne diese Arbeit in irgendeiner Weise inhaltlich vorherzubestimmen. Offenbar schreckt Jünger aber vor der Radikalität dieser Hybridität zurück – die ihm auch eine beißende Kritik von Carl Schmitt eingehandelt hat206 –, denn er wird die Passagen, die von einer Unvergleichbarkeit der Begegnung mit Budur sprechen, für die Neufassung des Romans, die er für die Werkausgabe vorbereitet, streichen, so als teilte er die Angst Lacans, dass die definitive Sammlung seiner Schriften ansonsten – wie an einer Sollbruchstelle – auseinanderbrechen würde.207 Was ebenfalls dafür spricht, dass Jünger hier zurückschreckt, ist die Einfügung eines Abschnitts, der das Versagen in der sogenannten Lorbeernacht nun doch als eine Selbstbegegnung zu fassen und den Untergang als einen „Abstieg in die eigene Tiefe“ (W, 10: 337) zu deuten sucht; „im letzten Grunde begegnete man sich selbst“, heißt es nun: „Der letzte und stärkste Gegner, den man zu erlegen hatte, blieb das eigene Ich.“ (E, 10: 337) Allerdings liegt es auch noch in der Fassung der Werkausgabe näher, hier eine Selbsttäuschung de Geers zu vermuten. Denn wenn es auch nicht mehr wie in der Erstfassung die Liebe ist, so ist es doch immerhin „der Schmerz“, der „ihn getroffen“ hat „wie ein Geschoß.“ (W, 10: 337)
203 Mit diesem deutschen Ausdruck bezeichnet Lacan bekanntlich die Figur, die im Spiegelstadium erscheint. Siehe Lacan, Écrits, S. 95. 204 Spivak, Death of a Discipline, S. 33. 205 Ebd., S. 35. 206 Für Schmitts – antisemitische – Kritik an Jüngers Roman siehe seine Briefe vom 25.11.1949 und vom 10.01.1950. Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930-1983, hg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart 1999, S. 241-245. 207 Diese Anekdote findet sich zumindest in Derrida, „Aus Liebe zu Lacan“, S. 34.
Teil II Zukunfts-Nahmen Carl Schmitt zwischen Nomos und Nihilismus
1. Vom Globalen Liniendenken zum Planetarischen Großraumdenken 1.1 Die ersten Globalen Linienziehungen Bereits in der für sein späteres Schreiben wegweisenden Studie Der Begriff des Politischen (1932) charakterisiert Carl Schmitt die politische Ordnung des 19. Jahrhunderts im Rückgriff auf das Modell des Globus: „der Begriff des Privateigentums“ bilde, so heißt es dort, „das Zentrum des Globus“, dessen „Pole – Ethik und Ökonomik – nur die gegensätzlichen Ausstrahlungen dieses Mittelpunktes sind.“1 In den folgenden zwei Jahrzehnten wird Schmitt diese Kennzeichnung der Welt vor dem Ersten Weltkrieg in eine Geschichte des internationalen Rechts integrieren, die die Zeit der Globalität für beendet erklärt. In der 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs erscheinenden Völkerrechtlichen Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte etwa steht zu lesen: „Wir denken heute planetarisch“,2 wobei allerdings offenbleibt, ob dies als Feststellung oder als Setzung zu verstehen ist. Dass sich Schmitts Annahme eines planetarischen Denkens an Jüngers Überlegungen zu einer planetarischen Ordnung orientiert, zeigt das der vierten Auflage der Völkerrechtlichen Großraumordnung (von 1941) vorangestellte Motto aus dem Abenteuerlichen Herzen: „Möge es der Leser recht verstehen, wenn ich der Schrift das Motto gebe: ‚Wir gleichen Seeleuten auf ununterbrochener Fahrt und jedes Buch kann nicht mehr als ein Logbuch sein‘.“ (VGr, 9)3 Das caveat lector, das er dem Jünger-Motto mitgibt, legt schon nahe, dass sich Schmitts Vorstellungen einer planetarischen Ordnung und Linientreue anders gestalten als diejenigen Jüngers. So versucht Schmitt auch im Gegensatz zu Jünger nicht die Überschreitung des Nullmeridians im Schreiben vorwegzunehmen, sondern unternimmt eine neuerliche Einteilung des Planeten in klar abgegrenzte Räume. Schmitts seit Beginn der 1940er Jahre angestrengte Untersuchung der inzwischen obsolet gewordenen globalen Linienziehungen dient dem Zweck, die Notwendigkeit einer solchen kommenden planetarischen Raumordnung plausibel zu machen. Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus publicum Europaeum zeichnet die Genese des modernen juristisch-politischen Völkerrechtsuniversalismus aus der eurozentrischen Weltordnung der Neuzeit nach.4 Die Entwicklung eines erdumspannenden Völkerrechts verdankt sich Schmitts Ausführungen zufolge dem „globale[n] 1 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 2002, S. 70. 2 Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, Berlin 1991, S. 61. Völkerrechtliche Großraumordnung wird fortan im laufenden Text unter Angabe der Sigle VGr und der Seitenzahlen zitiert. 3 Bei Jünger findet sich das Zitat in Ernst Jünger, Werke, Stuttgart 1964, Bd. 7, S. 174. 4 Für eine einschlägige Einführung in die Geschichte und Grundlagen des modernen Völkerrechts siehe Michael Herdegen,Völkerrecht, München 2006, vor allem § 2: „Entwicklungslinien des Völkerrechts“, S. 14-27.
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1. VOM GLOBALEN LINIENDENKEN ZUM PLANETARISCHEN GROSSRAUMDENKEN
Liniendenken des occidentalen Rationalismus“5, das mit der Entdeckung Amerikas, der Umsegelung des Erdballs und der damit einsetzenden kartographischen Vermessung und Darstellung des gesamten Planeten beginne und die Einteilung eines so zugänglich werdenden ‚globalen‘ Raums leiste. Als globales Phänomen gilt dieses Liniendenken, weil es einem bestimmten Räumlichkeitssinn verpflichtet ist: „Mit dem Wort global ist sowohl der erdumfassend-planetarische, wie auch der flächenund oberflächenhafte Charakter dieser Denkweise bezeichnet [...]. Hierfür scheint mir die Wortzusammensetzung ‚globales Liniendenken‘ passend und treffend.“ (NdE, 56) Ab dem 15. Jahrhundert bilde sich ein geopolitisches Raumbewusstsein aus, das bestimmte Formen der Ein- und Zuteilung dieses Oberflächenraums vorgebe und damit die Voraussetzungen einer globalen Rechtsordnung schaffe. Im Folgenden soll die Geschichte dieses Liniendenkens, das sich Schmitt zufolge in vier Schritten (von der raya über die amity lines zur Trennung von Land und Meer und schließlich zur Westlichen Hemisphäre) entwickle, kurz skizziert werden. Zu Beginn der Neuzeit wird es möglich, nicht nur wie bisher Binnenmeere wie das Mittelmeer oder das Schwarze Meer zu befahren, sondern auch Reisen über den Atlantik und Pazifik zu unternehmen. Der Verkehr auf den Weltmeeren stellt eine Reihe von politischen Herausforderungen, die man mit Hilfe von großflächigen Grenzziehungen in den Griff zu bekommen versucht, zunächst durch eine Ein- und Zuteilungslinie. Im Vertrag von Tordesillas wird zwei Jahre nach der Entdeckung Amerikas 370 Meilen westlich von Cap Verde eine „linea de la particion del mar“ (NdE, 68) gezogen, die die Missions- und Kolonisationsgebiete Spaniens und Portugals scheidet: Westlich dieser sogenannten raya liegt das Spanien zugeteilte Gebiet, östlich davon das portugiesische. Wie die Sanktionierung durch den Papst zeigt, ist diese Aufteilung der Erde noch von der Anerkennung der mittelalterlichen, von kirchlicher Autorität geleiteten Ordnung getragen. Sie „setzt also voraus, daß christliche Fürsten und Völker das Recht haben, sich vom Papst einen Missionsauftrag geben zu lassen, auf Grund dessen sie nicht-christliche Gebiete missionieren und im weiteren Verlauf der Mission okkupieren.“ (NdE, 59) Obwohl die erste Ausprägung der globalen Linie so noch im Zeichen einer mittelalterlichen Raumordnung steht, läutet die „Landnahme“ der „Neuen Welt“ (NdE, 69), in deren Folge Spanien und Portugal die Welt aufteilen wollen, „eine alle Stufen und Gebiete menschlichen Daseins erfassende Veränderung der Raumbegriffe“6 ein, die zu einer neuzeitlichen – und d.h. für Schmitt: zu einer globalen – Raumordnung führt. Diese globale Raumordnung bezeichnet Schmitt als Nomos der Erde, wobei mit ‚Nomos‘ nicht wie üblich ein besonderes ‚Gesetz‘ gemeint sein soll, sondern etymologisierend eine grundlegende ‚Teilung‘ (von griech. nemein: ‚teilen‘, ‚zuteilen‘): 5 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus publicum Europaeum, Berlin 1997, S. 261. Der Nomos der Erde wird fortan unter Angabe der Sigle NdE und der Seitenzahlen im laufenden Text zitiert. 6 Carl Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Stuttgart 2001, S. 68. Fortan wird Land und Meer im laufenden Text unter Angabe der Sigle LuM sowie der Seitenzahlen zitiert.
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Das griechische Wort für die erste alle folgenden Maßstäbe begründende Messung, für die erste Landnahme als die erste Raum-Teilung und -Einteilung, für die Ur-Teilung und Ur-Verteilung ist: Nomos. Dieses Wort, in seinem ursprünglichen, raumhaften Sinn verstanden, ist am besten geeignet, den grundlegenden, Ortung und Ordnung in sich vereinigenden Vorgang zum Bewußtsein zu bringen. (NdE, 36)
Der fundamentale Zusammenhang von Ordnung und Ortung ist entscheidend für Schmitts Verständnis von Recht: Eine Rechtsordnung bestehe nur innerhalb eines bestimmten, klar definierten Bereichs, wohingegen eine räumlich unbestimmte Ordnung niemals einen rechtlichen Charakter annehme könne. In seinem Aufsatz „Nehmen / Teilen / Weiden“ – einem „Versuch“ von 1953, der sich als Corollarium zum Nomos der Erde versteht – vertieft Schmitt die oben angedeutete dreifache Fächerung der Bedeutung von ‚Nomos‘. Wie der Titel ankündigt, lässt sich ein Nomos als die Einheit einer „Nahme“7 und der damit einhergehenden Teilung und Zuteilung von Recht und Eigentum sowie der Benutzung des Genommenen und Zugeteilten, d.h. Wirtschaft und Produktion verstehen. „Jeder dieser drei Vorgänge – Nehmen, Teilen, Weiden – gehört zum vollständigen Wesen dessen, was bisher in der Geschichte der Menschen als Rechts- und Gesellschaftsordnung erschienen ist“.8 Durch den Primat der Nahme impliziert der Nomos immer auch schon einen Feind, der als derjenige in Erscheinung tritt, der einer (weiteren) Nahme im Wege steht. Es ist wichtig, diese Vorrangigkeit von Nahme und Feindschaft zu sehen, um Schmitts Politikbegriff nicht misszuverstehen, als wäre dieser an die Territorialität eines substanziell gedachten (Territorial-)Staates gebunden.9 Vielmehr konstituieren sich die Zusammenhänge von Raum und Feind allein in den historisch konkreten Formen der Nahme. So kann es für Schmitt auch bis ins Mittelalter hinein keinen Staat im strengen Sinne geben, weil die entscheidende Form der Nahme die „Landnahme nomadischer und agrarisch-feudaler Zeiten“10 bleibt. Fern davon, sich von einem Territorium her zu denken, versteht sich die mittelalterliche Ordnung, die durch die „Landnahmen der Völkerwanderung entstanden“ (NdE, 26) ist, von einer „konkreten Ortung auf Rom“ (ebd.) her: „Die Geschichte des Mittelalters ist infolgedessen die Geschichte des Kampfes um Rom, nicht die eines Kampfes gegen Rom“. (NdE, 28-29) Weder die Konflikte zwischen Papst und Kaiser, den beiden Rivalen um die Statthalterschaft Gottes auf Erden, noch das feudale Widerstandsrecht gegen einen unrechtmäßigen Herrscher oder Tyrannen hätten diese übergreifende 7 Carl Schmitt, „Nehmen / Teilen / Weiden. Ein Versuch, die Grundfragen jeder Sozial- und Wirtschaftsordnung vom Nomos her richtig zu stellen (1953)“ in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 489-504, hier S. 491. 8 Ebd., S. 492. 9 Dieses Problem spiegelt sich auch wider in Werner Köster, „Raum, politischer“, in: Joachim Ritter u. Karlfried Gründe (Hgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Darmstadt 1971-2007, Bd. 9, S. 121-131, hier S. 123. 10 Schmitt, „Nehmen / Teilen / Weiden“, S. 503.
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Ordnung der christlichen Welt in Frage stellen können: „Weder für den Kaiser, der einen Papst in Rom einsetzen oder absetzen ließ, noch für einen Papst in Rom, der die Vasallen eines Kaisers oder Königs vom Treueid entband, war dadurch die Einheit der Respublica Christiana auch nur einen Augenblick in Frage gestellt.“ (NdE, 31) Die Einheit dieser res publica basiert also nicht auf einem Raum, sondern auf dem Ort Rom. Dass trotzdem von einem Bewusstsein ihrer Homogenität die Rede sein kann, zeigt sich namentlich darin, dass ein fundamentaler Unterschied zwischen christlichen und nicht-christlichen Feinden gemacht wird.11 Im Gegensatz zu den Kriegen gegen nichtchristliche Länder, die, „wenn sie vom Papst erklärt werden, sogar heilige Kriege“ (NdE, 27) sein können, sind die Kriege christlicher Länder untereinander „umhegte Kriege“ (NdE, 28), in denen die Mittel und Formen der Kriegsführung einer starken Reglementierung unterworfen sind. Im Gegensatz zur raya, die noch auf dieser Trennung christlicher und nichtchristlicher Länder fußt, zeugt die zweite Ausprägung des globalen Liniendenkens bereits vom Zusammenbruch der Respublica Christiana. Die Reformation, so Schmitts Folgerung, hat nicht nur die geistliche Autorität der Katholische Kirche erschüttert, sondern auch die mittelalterliche Ausrichtung der Politik auf Rom, so dass von einem Kampf um Rom nicht mehr die Rede sein kann. Auch wird unter den veränderten Umständen der Glaubensspaltung und Religionskriege eine neue Form der Linie nötig, die sogenannte amity line, die nicht distributiver, sondern agonaler Natur ist: Die typische Besonderheit dieser Freundschaftslinien besteht darin, daß sie, ganz anders als die Raya, einen Kampfraum zwischen den landnehmenden Vertragspartnern ausgrenzen, eben weil diesen jede andere gemeinsame Voraussetzung und jede gemeinsame Autorität fehlt. (NdE, 62)
Solche Freundschaftslinien treten ab Mitte des sechzehnten Jahrhunderts in Erscheinung – zum ersten Mal in einer Geheimklausel des Vertrags von Cateau-Cambrésis (1559) – und verlaufen im Süden über den Äquator oder den Wendekreis des Krebses und westlich über eine durch die Azoren oder die Kanaren gezogene NordSüd-Achse. Schmitt sieht ihren Sinn darin, den religiösen Bürgerkrieg, in dem es um die restlose Vernichtung der gegnerischen Konfession geht, zu überwinden. Dafür wird ein umkämpfter Bereich ‚jenseits der Linie‘ (beyond the line) eingeräumt, in dem die Aggressionspotentiale Schmitt zufolge erfolgreich abgeleitet worden sind. Die Freundschaftslinien ermöglichen damit auch, so Schmitt, die innereuropäische Säkularisierung des 17. Jahrhunderts, die die mittelalterliche Welt in eine Gruppe sich gegenseitig anerkennender souveräner Staaten verwandelt.12 Hier-
11 Siehe Ruth Schmidt-Wiegand, „Land und Leute“, in: Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann (Hgg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 4 Bde., Berlin 1978, Bd. 2, Sp. 13611363, hier Sp. 1362. 12 Diese für sein Denken so zentrale Säkularisierungsthese vertritt er schon 1922 in Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1996.
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bei tritt amity an die Stelle der religio, der agon an die der missio und Europa an die der Respublica Christiana. Die Säkularisierung der globalen Linien ist die Voraussetzung für die Ausbildung der zwischenstaatlichen Rechtsordnung der europäischen Öffentlichkeit, dem ius publicum Europaeum13, in welchem sich drei zusammenhängende Prinzipien artikulieren: (1) das Souveränitätsprinzip der Staatlichkeit, (2) das Ordnungsprinzip der Rechtlichkeit und (3) das Raumprinzip der Öffentlichkeit. Nur diese historisch spezifische Formation des Politischen bezeichnet Schmitt als Staat (vgl. hierzu NdE, 96-100), weshalb er ihn auch – in einem berühmten Rekurs auf die konfessionellen Auseinandersetzungen der frühen Neuzeit – als den „mit großer Macht fortwährend verhinderte[n] Bürgerkrieg“14 definiert. Als erstes Dokument der neuzeitlichen Staatsordnung wertet Schmitt den Westfälischen Frieden, weil er einen Bürgerkrieg mit einer gesamteuropäischen Konferenz und einem multilateralen Friedenschluss beendet.15 Die „Wendung“16 zum souveränen Staat komme hier zum Abschluss, weil ein zugleich inner- und zwischenstaatliches Recht begründet werde, das es vermöge, den Krieg innerhalb Europas (oder dessen, was als Europa gilt) auf Jahrhunderte hin zu ‚hegen‘. In der Folge wird Krieg zu einem rein zwischenstaatlichen Konflikt rationalisiert und dabei erneut einer starken Reglementierung unterworfen: Waren die religiösen Konflikte der Reformationszeit Bürgerkriege, in denen es um die restlose Vernichtung der gegnerischen Konfession ging und deren Konfliktlinien quer durch die einzelnen Länder und sogar Stände verliefen, wird Krieg im ius publicum Europaeum zusehends als bewaffneter Konflikt zwischen souveränen Territorialstaaten formalisiert, wobei streng zwischen dem Soldaten (als dem öffentlichen Träger eines Staatswillens) und dem Zivilisten (als einer Privatperson, die nicht an Kriegshandlungen teilnimmt) unterschieden wird. Zudem werden die Friedensverträge fortan in gesamteuropäischen Konferenzen nach dem Modell des Westfälischen Friedens ausgehandelt, an denen auch Drittstaaten beteiligt werden, so in Utrecht (1713) oder Wien (1814/15). Namentlich die Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts sollen das an solchen Konferenzen bestimmte Machtgleichgewicht der europäischen Großmächte neu tarieren, um es zwischenzeitlichen Veränderungen anzupassen, und können deshalb – und das ist für Schmitt der springende Punkt – auf eine religiöse, moralische oder ideologische Rechtfertigung kriegerischer Handlungen verzichten. Schmitt deutet somit die realpolitische Entmoralisierung des Kriegs als Errungenschaft, denn nicht nur sei die 13 Zur Geschichte des ius publicum Europaeum und seinem Zusammenhang mit dem entstehenden Völkerrecht siehe Herdegen, Völkerrecht, S. 14-26. 14 Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols [1938], hg. v. Günter Maschke, Köln 1982, S. 34. 15 Deshalb spricht man mitunter auch von einer Westfälischen Ordnung, die allerdings durch die ‚Globalisierung‘ mehr und mehr in Frage gestellt werden müsse. Siehe hierzu jüngst Richard Falk, „Revisiting Westphalia, Discovering Post-Westphalia“, in: The Journal of Ethics 6 (2002), S. 311352. 16 Carl Schmitt, „Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten“ [1942], in: ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, hg. v. Günter Maschke, Berlin 1995, S. 184-221, hier S. 194.
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innereuropäische Hegung des Kriegs als „wirklicher Fortschritt“ (NdE, 112) zu werten, die im 17. und 18. Jahrhundert entstehende comitas europäischer Nationalstaaten stelle nachgerade die höchste Leistung menschlichen Rechts und Rechtsbewusstseins überhaupt dar. Die gegenseitige Anerkennung der europäischen Staaten wertet Schmitt folglich als „höchste Form völkerrechtlicher Anerkennung. In ihr erkennen sich die Anerkennenden im höchsten Grad als gegenseitig sich Anerkennende an.“ (NdE, 163)17 Der homogene Raum des neuzeitlichen Europa, den Schmitt auf die Ziehung von Freundschaftslinien zurückführt, ist nicht mehr wie im Mittelalter durch die Anerkennung einer gemeinsamen geistlichen Autorität, sondern durch die Anerkennung gemeinsamer politischer und wirtschaftlicher Standards bestimmt, die sich im Merkantilismus und Absolutismus artikulieren. Da diese Raumstruktur auf einer geteilten politisch-ökonomischen Ordnung basiert, werden die Grenzen der Territorialstaaten auf einer Landkarte gezogen, die als geographischer Oberflächenraum einen einheitlichen und gleichförmigen Grundriss hat, der auch bei Machtverschiebungen erhalten bleibt. Die politische Geographie Europas institutionalisiert sich für Schmitt in einem europäischen Gemeinrecht, dessen politisch-diplomatischen und rechtlichen Präzedenzen eben auch nur in diesem bestimmten Gleichgewichtssystem bindend sein können. So gewinnt der Kontinent Europa paradoxerweise gerade dadurch Homogenität, dass er unter den Staaten teilbar ist, womit dieser Kontinentalraum (und das, wie sich zeigen wird, nicht zufällig) die Struktur dessen aufweist, was Deleuze und Guattari als einen „gerillten oder gekerbten“18 Raum bezeichnen werden. Da der Raum jenseits der Linie – der fragmentiert ist, weil er nicht ein- und zugeteilt werden kann – dem Gegenbegriff des ‚glatten‘ Raums entspricht19, beruht Schmitts zugleich globales und eurozentrisches Weltmodell auf einer klaren, wenn auch prekären Scheidung dieser beiden Raumformen, einer Scheidung, die in der dritten Ausprägung des globalen Liniendenkens, der Trennung von Land und Meer konsolidiert wird.
17 Der terminologische Rückgriff auf Hegels Anerkennungsdialektik im Herr-Knecht-Kapitel der Phänomenologie des Geistes ist unverkennbar; siehe Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. Hans-Friedrich Wessels u. Heinrich Clairmont, Hamburg 1988, S. 127136. Die Bedeutung von Hegels Anerkennungslogik für Schmitt hat schon Friedrich Balke herausgestellt (der hier einen Gedanken von Jacob Taubes entwickelt); siehe Friedrich Balke, „Zur politischen Anthropologie Carl Schmitts“, in: Hans-Georg Flickinger (Hg.), Die Autonomie des Politischen. Carl Schmitts Kampf um einen beschädigten Begriff, Weinheim 1990, S. 37-65, hier S. 54-62. Für einen (wie sich zeigen wird: zu) starken Einfluss Hegels auf Schmitt überhaupt spricht sich Reinhard Mehring aus; siehe Reinhard Mehring, Pathetisches Denken – Carl Schmitts Denkweg am Leitfaden Hegels. Katholische Grundstellung und antimarxistische Hegelstrategie, Berlin 1989. 18 Gilles Deleuze u. Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, übers. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié, hg. v. Günther Rösch, Berlin 1992, S. 508. 19 Darauf hat schon Friedrich Balke hingewiesen, siehe Friedrich Balke, Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts, München 1996, S. 345.
BEYOND THE LINE: DAS FREIE MEER UND DIE UTOPIE
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1.2 Beyond the Line: Das freie Meer und die Utopie Die erfolgreiche Hegung des Kriegs, die Schmitt in der europäischen Neuzeit verwirklicht sieht, verdankt sich keiner frei schwebenden checks-and-balances-Regulierung, sondern einem in Europa verorteten politischen Gleichgewicht, das sich allein durch den Ausschluss der Gebiete „beyond the line“ (NdE, 62) etablieren kann. Das innereuropäische Staatsrecht stellt somit nur die eine Seite des Nomos der Erde dar, der sich mit der im Frieden von Utrecht 1713 festgelegten Trennung von staatlichem Land (Europas) und freiem Meer durchsetzt. Ermöglicht wird diese geopolitische Trennung von Land und Meer durch eine neue Form der „Nahme“, die nicht mehr terran, sondern maritim orientiert ist. Denn erst die „Seenahme“20 des 16. und 17. Jahrhunderts wertet Schmitt als eine globale Nahme im strengen Sinne (siehe NdE, 19), weil man sich zuvor noch kein „richtiges Bild von der Erde“ (LuM, 77) hatte machen können. Durch die Umsegelung der Erde und ihre kartographische Darstellung im Kugelmodell, so argumentiert Schmitt schon 1941 in der „weltgeschichtlichen Betrachtung“ Land und Meer, hat man nicht nur „den Globus offensichtlich“ (LuM, 35) gemacht, sondern zugleich die Möglichkeit einer ‚Nahme‘ des gesamten Erdballs geschaffen, so dass „die erste eigentliche Raumrevolution im vollen, Erde und Welt umfassenden Sinne des Wortes“ (LuM, 64) einsetzen kann: „Zum ersten Mal in seiner Geschichte bekam der Mensch den wirklichen, ganzen Erdball wie eine Kugel in seine Hand.“ (LuM, 64-65) Wenn Schmitt hier das Modell des Globalen von vornherein an die Möglichkeit der Beherrschbarkeit der Erde bindet, nimmt er damit einen Gedanken Gayatri Spivaks vorweg, für die das Bild des „Globus“ dazu führt, dass „wir [...] uns vor[machen], daß wir diese Form der Globalität beherrschen“ könnten.21 Die von Schmitt dem Meer zugeteilte Rolle zeigt, dass auch er die Vorstellung der völligen Beherrschbarkeit der Vorgänge auf dem Planeten für illusorisch hält. Denn im Frieden von Utrecht wird der rechtliche Status des Meers klar von demjenigen des europäischen Festlandes abgehoben, indem die See zu einer res nullius und damit zum staatsfreien Raum erklärt wird. Folglich wird der Seekrieg im Laufe der Neuzeit nicht in derselben Weise gehegt, wie es zeitgleich auf dem europäischen Festland geschieht, und bleibt weiterhin ein kaum reglementierter Beutekrieg, in dem nicht nur feindliche Streitkräfte, sondern auch die feindliche Wirtschaft angegriffen werden kann. Selbst vor der Wirtschaft neutraler Drittstaaten macht der Seekrieg nicht halt, sofern diese in Handelsbeziehungen mit dem Kriegsgegner stehen. Auch räumlich wird der Krieg zur See nicht eingeschränkt, da es auch fortan möglich bleibt, kriegerische Handlungen zur gleichen Zeit und am gleichen Ort mit friedlicher Meeresnutzung im Handel oder in der Fischerei zu unternehmen. Im Gegensatz zur politischen Geographie Europas zeigt sich Schmitt das Meer, trotz seiner scheinbaren Homogenität, als durchweg heterogener, fragmentierter Raum, in 20 Schmitt, „Nehmen / Teilen / Weiden“, S. 503. 21 Gayatri Chakravorty Spivak, Imperative zur Neu-Erfindung des Planeten. Imperatives to Re-Imagine the Planet, hg. v. Willi Goetschel, Wien 1999, S. 45.
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dem Hobbes’ Naturzustand des bellum omnium contra omnes herrscht; und allein dadurch, dass man diesen ‚Naturzustand‘ aus dem neuzeitlichen Europa auszuschließen vermag, kann sich Schmitt zufolge der Hobbes’sche Leviathan verwirklichen. Der Nomos der Erde besteht also in der Trennung zweier nicht vereinbarer Völkerrechtsordnungen, dem zwischenstaatlichen Völkerrecht Europas und dem Seevölkerrecht der Weltmeere. Es entwickeln sich mit anderen Worten zwei geographisch voneinander getrennte völkerrechtliche Ordnungen – die eine staatlich, die andere wirtschaftlich –, deren Grenze fortan drei Meilen vor der Küste der am Meer liegenden europäischen Staaten verläuft. Diese Trennung von Europa und Nicht-Europa ermöglicht, so Schmitt, die zugleich „globale“ (NdE, 261) und „europazentrische[ ]“ (NdE, 112) politische Ökonomie, die den Kolonialismus des 18. und den Imperialismus des 19. Jahrhunderts maßgeblich bestimmt. Da die Hegung des Kriegs auf dem europäischen Festland und der liberalistische Weltmarkt, der sich zeitgleich auf dem Meer entwickelt, aufeinander angewiesen sind, wird in Schmitts Modell der Trennung von Land und Meer der paradoxe Charakter der Figur des Globalen ausdrücklich. Obwohl die globale Zirkulation um sich selbst kreist, ist sie zugleich auf einen privilegierten Punkt auf ihrer Peripherie bezogen, in dem sie anfängt und endet. Das in Schmitts eurozentrisch-globaler Ordnung operative Paradox der Kapitalisierung formuliert Derrida später als den Zusammenhang von Kapital (le capital) und Hauptstadt (la capitale) und verortet ihn im „Kap“ Europa, das damit zugleich als Haupt (caput) der Welt figuriert.22 Die geopolitischen Wurzeln von Derridas Modell finden sich in Schmitts GlobalitätsKonzept, in dem Zirkulation und Akkumulation an die geographisch-physikalischen Größen Land und Meer delegiert werden. Nicht zuletzt deshalb erweist sich die ‚Enthauptung‘ des Kapitals, die Derrida mit der „Ausdehnung des europäischen Modells auf den gesamten Planeten“23 (bzw. dessen „planétarisation“24) koinzidieren lässt, als Beginn eines neuartigen weltumspannenden Bürgerkriegs.25 Wie entscheidend die innereuropäische Hegung des Kriegs vom Ausschluss des freien Meeres abhängig ist, zeigt sich vor allem in Schmitts Souveränitätsbegriff. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“,26 so lautet der erste und fundamentale Satz von Schmitts Politischer Theologie. In seiner Geschichte des globalen Liniendenkens kodiert Schmitt, wie schon Agamben festgestellt hat, den Ausschluss des Ausnahmezustands als Einräumung eines freien Meeres und ver22 Jacques Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, übers. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt a.M. 1992, S. 21. 23 Derrida, Das andere Kap, S. 30. 24 So heißt es im Originaltext. Jacques Derrida, L’autre cap, suivi de La démocratie ajournée, Paris 1991, S. 39. 25 Vgl. hierzu beispielsweise Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, übers. v. Susanne Lüdemann, Frankfurt a.M. 2004, S. 115. Einen Vergleich von Derrida und Schmitt, vor allem mit Bezug auf ihre Vorstellungen von Politik, liegt vor bei Rupert Simon, Die Begriffe des Politischen bei Carl Schmitt und Jacques Derrida, Frankfurt a.M. et al. 2008. 26 Schmitt, Politische Theologie, S. 11.
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räumlicht so den Bezug von Recht und Ausnahme: Der „Nexus von Ortung und Ordnung“, auf dem der Nomos der Erde beruht, wird durch die „globalen Linien“ umgrenzt, womit, so Agamben, „immer eine aus dem Recht ausgeschlossene Zone impliziert“ ist.27 Schmitt muss so nachdrücklich auf die Staatlichkeit beharren, weil der Nexus von Ortung und Ordnung „in seinem Innern immer schon den eigenen virtuellen Bruch“ enthalte.28 Was sich mit dieser Verlagerung des zeitlich begrenzten Ausnahmezustand in einen ‚Ausnahmeraum‘ jenseits der Linie vollzieht, hat eine Verschiebung der Souveränität von der Ebene des Staatsrechts auf diejenige des Völkerrechts zur Folge. Dies erlaubt es Schmitt, die These seiner dezisionistisch geprägten Frühphase zu qualifizieren: Der zuvor absolute Dezisionismus des Souveräns wird innerhalb der europäischen Binnenordnung eingeschränkt29, die dadurch einen völkerrechtlich ausgezeichneten Raum schafft, der sich vom restlichen Oberflächenraum des Globus prinzipiell unterscheidet und dessen ortsspezifischen Rechte das weltumspannende Seevölkerrecht brechen. Noch bei Kant macht sich dieser Sachverhalt bemerkbar, wenn das „Weltbürgerrecht“ (welches, dem Schmitt’schen Modell zufolge, Teil des Seevölkerrechts ist) zwar eine „Gemeinschaft des Bodens“, aber keine „rechtliche[ ] Gemeinschaft“ seines „Besitzes“ umfasst.30 Die politische Ökonomie der Neuzeit, die Schmitt unter den Begriff des Nomos der Erde fasst, fußt auf einem nicht-moralischen und nicht-ideologischen Staatengleichgewicht, das durch die geographisch eindeutige rechtliche Trennung von Land und Meer ermöglicht wird. Deshalb bedeute die Aufhebung dieser Trennung nicht nur das Ende der historischen Formation des Staates, sondern darüber hinaus auch das Ende eines wirtschaftlich sinnvollen Zusammenhangs von Zirkulation und Akkumulation. Um diese Sprengung der politischen Ökonomie zu charakterisieren, übernimmt Schmitt schon 1931 die Jünger’sche Prägung der „totale[n]
27 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt a.M. 2002, S. 47. 28 Ebd. 29 Auf diese von der Forschung bisher vernachlässigte Wendung im Denken Schmitts hat Sigrid Weigel in ihrem jüngsten Benjamin-Buch aufmerksam gemacht. Siehe Sigrid Weigel, Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder, Frankfurt a.M. 2008, S. 65. Der Begriff des Dezisionismus und sein Zusammenhang mit der Staatlichkeit ist nach wie vor das zentrale Thema der Schmitt-Rezeption und -Forschung; siehe hierzu beispielsweise Rüdiger Voigt, Der Staat des Dezisionismus. Carl Schmitt und die internationale Debatte, Baden-Baden 2007. 30 Immanuel Kant, Werke (Akademie-Textausgabe), Berlin 1968, Bd. 6, S. 350. Derrida wird diese Einschränkung des weltbürgerlichen Rechts auf den Erdboden kritisieren, weil Kant es dadurch auf ein vorübergehendes Besuchsrecht – im Gegensatz zu einem ständigen Gastrecht – reduzieren und von staatlicher Souveränität abhängig machen kann. Siehe Jacques Derrida, Cosmopolites de tous les pays, encore un effort!, Paris 1997, S. 52-57. Auch für Derrida beruht Kants Entwurf auf einem Globus-Modell: „Si Kant prend bien soin de préciser que ce bien ou ce lieu commun s’étend à ‚la surface de la terre‘, c’est sans doute pour n’y soustraire aucun point de monde ou d’un globe sphérique et fini (mondialisation et globalisation), là où une dispersion infinie reste impossible“. (S. 53) Diese Kritik wird auf die Konzeption gegenwärtiger Migrationsbewegungen ausgeweitet in Spivak, Imperative zur Neu-Erfindung des Planeten. Imperatives to Re-Imagine the Planet, S. 36-41.
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Mobilmachung“31, die das Ende der globalen Weltordnung vor allem auf die Verwischung klarer Freund-Feind-Unterscheidungen zurückführt. Vor allem aus späteren Äußerungen geht allerdings hervor, dass Schmitt – im Gegensatz zu Jünger – vor den Konsequenzen der zugleich universalisierenden und nivellierenden Tendenzen warnen möchte, die der Auflösung der globalen Linien geschuldet sind: Mit dem Untergang der staatlichen Ordnung Europas kehrt der ausgeschlossene und ideologisch überhöhte Bürgerkrieg wieder und droht sich überdies über den gesamten Planeten auszubreiten, der nicht mehr unter der Hegemonie Europas steht. Diese kritische Haltung gegenüber den deterritorialisierenden Tendenzen des 20. Jahrhunderts wird bei Agamben noch ausdrücklicher, wenn dieser die Auflösung der globalen Linien mit dem „Zutagetreten des Ausnahmezustandes als permanente Struktur der juridisch-politischen Ent-Ortung und Verschiebung“ in eins setzt und darin bereits die Anzeichen eines „neuen nómos der Erde“ sehen will, „der dazu tendiert, sich über den ganzen Planeten auszubreiten“.32
1.3 Ein Planetarisches Großraumdenken An der Deterritorialisierung der eurozentrisch-globalen Ordnung ist für Schmitt aber bereits die vierte Ausprägung der globalen Linie beteiligt. Als letzte Konsequenz des eurozentrisch-globalen Raumdenkens, das durch die Freundschaftslinien vorbereitet und in der Trennung von Land und Meer etabliert wurde, ist sie zugleich der Vorbote seines Endes. In der Monroe-Doktrin von 1823 fällt zum ersten Mal der Ausdruck ‚westliche Hemisphäre‘, der zunächst den Sinn hat, den amerikanischen Kontinent vor europäischen Aggressionen zu schützen. Damit wird der freie Raum jenseits der Linie jedoch umkodiert: Da sich die westliche Hemisphäre als „eine Art Quarantänelinie“ (NdE, 265) versteht, die ein freies amerikanisches Reich des Friedens vor dem Imperialismus der korrumpierten europäischen Nationalstaaten abgrenzen soll, wandelt sich der ungehegte Krieg aller gegen alle zur bonne sauvagerie Rousseaus. Obwohl diese inhaltliche Umbesetzung der Freiheit jenseits der Linie die Weltordnung der Neuzeit in Frage stellt, sieht Schmitt ihre Herausforderung durchaus noch als Erfüllung der europäischen Aufgabe: „[G]egenüber der Enge und Unfreiheit der nachnapoleonischen Restauration und der Metternichschen Reaktion des 19. Jahrhunderts hatte Amerika große Möglichkeiten, das wahre und echte Europa darzustellen.“ (NdE, 266) George Washington und Simón Bolívar etwa gelten Schmitt als „große Europäer“ (NdE, 266), mit denen sich die „Mitte“ (ebd.) der Welt von Europa nach Amerika verschiebe. In ihrer zunächst defensiven Bedeutung stellt die Monroe-Doktrin, wie Schmitt 1939 in seinem Entwurf einer Völkerrechtlichen Großraumordnung hervorhebt, „das erste und bisher erfolgreichste Beispiel eines völkerrechtlichen Großraumprin31 Carl Schmitt, „Die Wendung zum totalen Staat“ [1931], in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923-1939, Hamburg 1940, S. 146-157, hier S. 152. 32 Agamben, Homo sacer, S. 49.
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zips“ (VGr, 22) dar.33 In ihr komme ein Rechtsbewusstsein zum Ausdruck, das nicht mehr global „denkt“, sondern „in einem modernen Sinn raumhaft planetarisch.“ (VGr, 28) Das im Titel der Großraum-Schrift genannte Interventionsverbot für raumfremde Mächte, das hier angeblich zum ersten Mal formuliert werde, ist folglich auch nicht mehr dem Raumverständnis des europäischen öffentlichen Rechts verpflichtet. Wenn Schmitt den Großraum als einen „eigenen Raum“ definiert, der „seine inneren Maße und Grenzen mit sich bringt und in sich trägt“, (VGr, 76-77) wird deutlich, dass sich eine planetarische Großraumordnung allein schon deshalb von der globalen Ordnung unterscheiden muss, weil sie nicht wie diese auf einem gemeinsamen Rechtsraum verweist, der sich durch geteilte wirtschaftliche, politische und kulturelle Standards auszeichnet. Pluralität ist demnach schon am Vorabend des Zweiten Weltkriegs – und nicht erst in den 1950er Jahren – Schmitts entscheidendes Kriterium einer planetarischen Ordnung, die zu Recht als ‚Ordnung‘ gelten könnte.34 Allein eine solche Ordnung, die in einem Großraum geortet ist und sich auf diesen Großraum beschränkt, so Schmitts These, könne ein neues, und das heißt nunmehr ein planetarisches Völkerrecht hervorbringen und sichern. Eigens reflektiert werde der spezifische Raumcharakter, der allen Raumformationen von der prä-globalen Landnahme zur post-globalen Großraum-Nahme zugrunde liegen soll, freilich erst – diesen Schluss drängt Schmitt seinen Lesern auf – in seiner eigenen Theorie. Dagegen macht er die mangelnde theoretische Reflexion in der Rechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts dafür verantwortlich, dass die Festlegung der westlichen Hemisphäre nicht zu einer völkerrechtlichen Großraumordnung führen konnte. So habe Amerika die Chance verspielt, den in der Monroe-Doktrin eingeforderten Großraum mit der Institutionalisierung eines amerika-zentrischen Völkerrechts umzusetzen, und folglich den globalen Nomos der Erde verabschiedet, ohne dass er durch einen neuen, planetarischen Nomos ersetzt worden sei. Dieses Versäumnis macht Schmitt an einer Bedeutungsverschiebung des Ausdrucks westliche Hemisphäre fest, durch die dieser im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend auch die Interventionen eines kapitalistischen
33 In den 1920er und 1930er Jahren war der Begriff „Großraum“ vor allem in deutschnationalen Kreisen beliebt und wurde als theoretische Rechtfertigung der aggressiven Expansionspolitik des nationalsozialistischen Staates benutzt. In diesem ideologischen Zusammenhang ist auch Schmitts Begriff des Großraums zu sehen. Dafür ist immer noch einschlägig Lothar Gruchmann, Nationalsozialistische Großraumordnung. Die Konstruktion einer „deutschen Monroe-Doktrin“, Stuttgart 1962. 34 Pete-Uwe Hohendahl hat darauf hingewiesen, dass die Gedanken des Nomos der Erde noch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs stammen und sich damit im Kern nicht von den Ideen unterscheiden, die in der 1939 erschienenen Großraum-Schrift vorgestellt werden; siehe Peter-Uwe Hohendahl, „Carl Schmitts Großraumkonzeption und die globale Politik unter dem Vorzeichen der Monroe-Doktrin“, in: Erhard Schütz u. ders. (Hgg.), Solitäre und Netzwerker. Akteure des kulturpolitischen Konservativismus nach 1945 in den Westzonen Deutschlands, Essen 2009, S. 209228, hier S. 209-210.
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Imperialismus gerechtfertigt habe.35 Zutiefst zwiespältig werde die Monroe-Doktrin dadurch, dass sie fortan „sowohl für eine Politik strengster Isolierung und Neutralität der Vereinigten Staaten wie auch für eine in alles sich einmischende Weltund Weltkriegspolitik“ (VGr, 27) in Anspruch genommen werden könne.36 Dieses Schwanken zwischen „Selbstisolation und Pan-Interventionismus“ wertet Schmitt als „unheilvollen Zwang“, der die Vereinigten Staaten – aber auch das Großraumdenken überhaupt – heimsucht.37 Sinnfällig werde der Umschlag von einer re-zentralisierenden Isolation zur deterritorialisierenden Intervention in der Erklärung von Panama (1939), die nicht mehr geographisch, sondern geodätisch argumentiert. In der gemeinsamen Erklärung der Regierungen Nord- und Südamerikas wird eine befriedete Sicherheitszone, die sich 300 Seemeilen östlich und westlich des Doppelkontinents erstreckt, als Schutz vor dem in Europa und Asien ausbrechenden Krieg in Anspruch genommen. Nicht nur führe diese Erklärung die in der Trennung von Land und Meer festgelegte Dreimeilenzone „in der großzügigsten Weise ad absurdum“ (NdE, 258), darüber hinaus verdränge sie den geographisch-politischen Raum durch einen geometrisch-politischen Raum: Solange man bei dem Wort westliche Hemisphäre nur an einen kontinentalen Landraum dachte, war damit nicht nur eine mathematisch-geographische Grenzlinie, sondern auch eine konkrete geographisch-physikalische und geschichtliche Gestalt verbunden. Die nunmehr eintretende Erweiterung und Verlagerung auf das Meer macht den Begriff der westlichen Hemisphäre noch mehr abstrakt im Sinn eines leeren, überwiegend mathematisch-geographisch bestimmten Flächenraumes. In der Weite und Ebenheit des Meeres tritt, wie Friedrich Ratzel sich ausdrückt, der Raum an sich reiner hervor. (NdE, 258)
Hier wird die letzte Konsequenz des neuzeitlich-europäischen Liniendenkens gezogen, die auf einer Seenahme des globalen Oberflächenraums beruhte. Der Ordnungskomplex, der sich in seiner Geschichte ausgebildet hat, wird, mit anderen Worten, von seinen eigenen (in die Freiheit der Weltmeere ausgelagerten) Voraussetzungen eingeholt. Im Gegensatz zum Geopolitiker Ratzel38 jedoch – aber auch
35 Vgl. Karl Bruckschwaiger, „Carl Schmitt am Rande des Großraums – Die kurze Geschichte des Begriffs“, in: Wolfgang Pircher (Hg.), Gegen den Ausnahmezustand. Zur Kritik an Carl Schmitt, Wien u. New York 1999, S. 201-217. 36 Zu Schmitts Amerika-Bild siehe Albrecht Kiel, Gottesstaat und Pax Americana. Zur Politischen Theologie von Carl Schmitt und Eric Voegelin, Cuxhaven u. Dartford 1998, besonders S. 45-71. 37 Carl Schmitt, „Die letzte globale Linie“, in: ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916 – 1969, hg. v. Günter Maschke, Berlin 1995, S. 441-452, hier S. 445-446. Für die Folgen für die amerikanische Außenpolitik bis heute siehe beispielsweise William Rasch, „Menschenrechte als Geopolitik. Carl Schmitt und die völkerrechtliche Form der amerikanischen Hegemonie“, in: Dirk Baecker, Peter Krieg u. Fritz B. Simon (Hgg.), Terror im System. Der 11. September und die Folgen, Heidelberg 2002, S. 130-158. 38 Zu Schmitt und der Geopolitik siehe Niels Werber, Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung, München 2007, vor allem S. 103-133.
EIN PLANETARISCHES GROSSRAUMDENKEN
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zu späteren Globalisierungstheoretikern wie Theodore Levitt39 – vertraut Schmitt nicht darauf, dass der sich hier durchsetzende mathematische Raum der friedlichen Zirkulation des Weltmarkts dient, sondern befürchtet, dass sich mit der Desintegration der politisch-ökonomischen Einheit Europas jede Homogenität aufzulösen drohe. Im „Zusammenhang mit dem Problem der westlichen Hemisphäre und der inneren Dialektik von Isolation und Intervention“ versetze die Auflösung der Linien „seit der Jahrhundertwende“ somit auch „in steigendem Maße die ganze Erde in Bewegung“; (NdE, 273) und zwar auf ein unbekanntes Ziel zu. Hinter dieser Mobilisierung der Erde steht Schmitt zufolge ein grundlegender Wandel, der den gesamten Komplex des Staats- und Völkerrechts erfasst. Dieser werde von einer zunehmend positivistisch ausgerichteten Rechtswissenschaft von seiner räumlichen Orientierung an der Trennung von Land und Meer abstrahiert und universalisiert, d.h. auf den gesamten Planeten ausgeweitet. Weil damit auch der Zusammenhang von Ordnung und Ortung gelöst wird, auf dem ein jedes Recht basieren soll, stellt sich das, was gemeinhin als rechtlicher Fortschritt gilt, für Schmitt ganz im Gegenteil als Untergang des europäischen Gemeinrechts dar. Aus ihrer Raumordnung herausgelöst, seien die im Nomos der Erde entstandenen Gesetze nämlich eine bloße Anhäufung zweifelhafter Präzedenzfälle, die die Akteure zur Wahrung ihrer Interessen je nach der Situation so oder auch anders auslegen könnten. Das nunmehr frei flottierende Gleichgewicht der Großmächte gemahnt Schmitt sogar an „das Witzwort von den ‚Selbstbindungen eines Entfesselungskünstlers‘“ (NdE, 120). Werde das Ende der globalen Weltordnung in der totalen Mobilmachung des Ersten Weltkriegs besiegelt,40 so stelle bereits der Zweite Weltkrieg einen „Raumordnungskrieg planetarischen Ausmaßes“41 dar. Wichtiger als das Ausmaß der involvierten Räume ist indes ihre fragmentierte Struktur, denn mit dem Untergang des Globalitätsmodells kollabieren auch alle nicht-geographischen Grenzen, die vom neuzeitlichen Staat auf und zwischen den Staatsterritorien eingerichtet und garantiert würden, allen voran die Unterschiede von Innen- und Außenpolitik, von Privatsphäre und Öffentlichkeit, von Militär und Zivilbevölkerung.42 Die gesamte Oberfläche des Planeten, Land und Meer gleichermaßen, zer39 Theodore Levitt, dessen Aufsatz über die „Globalisierung der Märkte“ maßgeblich zur Popularisierung des Begriffs beigetragen hat, spricht sogar davon, dass die Erde, für die Wirtschaft zumindest, eine Scheibe sei; siehe Theodore Levitt, „The globalization of markets“, in: Harvard Business Review 83.3 (Mai-Juni 1983), S. 92-102, hier S. 100. Peter Sloterdijk wird im Anschluss daran Schmitts Definition des Souveräns umformulieren: „Souverän ist, wer über die Verflachung entscheidet“, Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a.M. 2006, S. 161. 40 Vgl. dazu Carl Schmitt, „Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat“, in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923-1939, Hamburg 1940, S. 235-239, sowie Schmitts Brief an Jünger vom 19. Juli 1937, abgedruckt in Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930-1983, hg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart 1999, S. 66. 41 Carl Schmitt, „Beschleuniger wider Willen, oder: Problematik der westlichen Hemisphäre“, in: ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, hg. v. Günter Maschke, Berlin 1995, S. 431-440, hier S. 433. 42 Zum von Schmitt angenommenen Zusammenhang siehe den Aufsatz mit dem sprechenden Titel Carl Schmitt, „Über die zwei großen ‚Dualismen‘ des heutigen Rechtssystems. Wie verhält sich
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setzt sich – um eine spätere, auch durch Schmitt inspirierte Prägung Virilios aufzugreifen – in „kritische Räume“43, in denen Recht und Maßnahme, Norm und Ausnahme, Krieg und Frieden nicht mehr streng zu unterscheiden sind. Bis heute haben Schmitts Thesen über das Planetarische nichts von ihrer Anziehungskraft gerade auf radikale Denker eingebüßt. Neben Agamben und Virilio werden auch Hardt/Negri die räumlich unbestimmte Ausweitung des Ausnahmezustands zum Ausgangspunkt ihrer Theorien über die gegenwärtige politische Situation des Planeten machen. Ihnen zufolge habe sich seit dem Ersten Weltkrieg ein post-staatliches und trans-nationales „Empire“ durchsetzen können, das – wie gleich zu Beginn des gleichnamigen Werks, und zwar unter explizitem Rückgriff auf Schmitt, betont wird – in seiner Gesamtheit als „Krisengebiet“44 anzusprechen ist. Was bei Hardt/Negri allerdings eine untergeordnete Rolle spielt, ist die Frage nach dem Grenzcharakter, den Linien in diesen Krisengebieten annehmen oder abstreifen können. Schmitt geht es dagegen ganz entschieden darum, gerade auf den gewandelten politischen Status der Linienziehung im planetarischen Raum aufmerksam zu machen. Paradigmatisch dafür steht der Meridian von Greenwich.
1.4 Die Westliche Hemisphäre und der Meridian Das neuartige Raumbewusstsein des planetarischen Zeitalters macht Schmitt an der Praxis der Linienziehung fest, die es überhaupt erst erlaubt, die westliche Hemisphäre geodätisch genau durch den Atlantik zu ziehen und zu überwachen. Den Prototyp dieser Linie, den Nullmeridian von Greenwich, erwähnt Schmitt gleich zu Beginn seiner kurzen Geschichte des globalen Liniendenkens, doch scheint der Meridian zunächst eine nur beiläufige Rolle zu spielen. Denn während die oben erörterten vier Linienarten der raya, der amity line, der Trennung von Land und Meer sowie der westlichen Hemisphäre eindeutig machtpolitischen Zwecken dienten, hat der Nullmeridian, der auf einer internationalen Konferenz 1884 in Washington gezogen wurde, den scheinbar nur technischen Zweck, das Koordinatennetz der internationalen Land- und Seekartographie zu normieren. Schmitts (scheinbare) Vernachlässigung des Nullmeridians rührt aber keineswegs daher, dass es sich bei der Linienziehung von Washington um eine unverfängliche, weil rein kartographische Entscheidung handelt. Vielmehr betont Schmitt, die Unterscheidung von Völkerrecht und staatlichem Recht zu der innerstaatlichen Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht? (1939)“, in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923-1939, Hamburg 1940, S. 261-271. 43 Siehe hierzu Paul Virilio, „Der kritische Raum“, in: Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 7 (1983), S. 16-27. 44 Michael Hardt u. Antonio Negri, Empire, Cambridge 2000, S. 16: „The reason for the relative (but effective) coincidence of the new functioning of domestic law and supranational law derives first of all from the fact that they operate on the same terrain, namely, the terrain of crisis. As Carl Schmitt has taught us, however, crisis on the terrain of the application of law should focus our attention on the ‚exception‘ operative in the moment of its production. Domestic and supranational law are both defined by their exceptionality.“
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daß sogar arithmetische und geometrische Selbstverständlichkeiten problematisch werden, wenn sie in den Bereich des Politischen, d.h. der akuten Freund-Feind-Unterscheidung geraten. Die Tatsache z.B., daß der Anfangsmeridian des heute meist noch üblichen kartographischen Gradnetzes der Erdkugel über Greenwich geht, ist weder etwas rein Objektiv-Neutrales noch etwas rein Zufälliges, sondern das Ergebnis einer Konkurrenz verschiedener Anfangsmeridiane. (NdE, 56)
Ein dezidiert politisches Ereignis ist die Festlegung des Meridians allerdings weniger, weil Großbritannien darin, wie im Zitat angedeutet wird, einen Sieg über Frankreich feiert. Ungleich wichtiger ist, dass die Festlegung des Meridians den geopolitischen Unterschied von Land und Meer tilgt, „auf der sich die bisherige Verbindung von See- und Weltherrschaft errichten ließ. Es entfällt die Grundlage der britischen Seenahme und damit der bisherige Nomos der Erde.“ (LuM, 106) Die Entscheidung über den Nullmeridian fällt sechs Jahre vor dem Zeitraum, in dem Schmitt die endgültige Auflösung des Nomos der Erde ansiedelt, für welche er – vor allem wohl in polemischer Absicht – die ab 1890 einsetzende positivistische Rechtswissenschaft verantwortlich macht. Der eigentliche Wendepunkt ist historisch aber wohl schon auf 1884 zu datieren, das Jahr, in dem die Meridiankonferenz in Washington tagte. Denn der Nullmeridian – und nicht die westliche Hemisphäre – ist das Paradigma der deterritorialisierenden Linie: Er grenzt keinen Raum mit spezifischer Raumordnung ein, indem er einen anderen davon ausschließt, sondern nivelliert die historisch und kulturell verbürgten Raumunterschiede und ersetzt sie durch eine arbiträre Koordinatenachse, die nur noch den Oberflächenraum ‚an sich‘ einteilen hilft. Damit ist der Meridian die eigentliche Kulmination der Geschichte des globalen Liniendenkens, d.h. zugleich ihre Vollendung und ihr Ende. Weil der Nullmeridian weder ein- noch ausgrenzt, wird der im Nomos der Erde räumlich gewendete Grundbegriff des Politischen (die FreundFeind-Unterscheidung) gleichzeitig verwischt und universalisiert. Die Entscheidung von Washington ist somit nicht nur exemplarisch für den von Schmitt kritisierten Mangel an ‚Raumsinn‘, an dem er die europäische Ordnung untergehen sieht, sie zeigt sich überdies einer neuartigen Politik verpflichtet, die mithilfe technischer Innovationen zunehmend den gesamten Planeten zum möglichen Brandherd von Freund-Feind-Begegnungen werden lässt. Solche technischen Innovationen sind für Schmitt so wenig neutrale Entwicklungen, dass sie im Gegenteil Neutralität angesichts der planetarischen Konflikte geradezu unmöglich machen: Die Technik ist immer nur Instrument und Waffe, und eben weil sie jedem dient, ist sie nicht neutral. [...] Jede Art von Kultur, jedes Volk und jede Religion, jeder Krieg und jeder Friede kann sich der Technik als Waffe bedienen. Daß die Instrumente und Waffen immer brauchbarer werden, macht die Wahrscheinlichkeit eines wirklichen Gebrauchs nur um so größer.45
45 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 90.
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Sobald die Normierung der Kartographie es erlaubt, einen jeden Punkt auf der Erdoberfläche genau anzupeilen und zum Ziel zu machen, kann prinzipiell jeder Raum zum Gegenstand weltpolitischer Aggressionen werden. Virilios Beschreibung des kritischen Raums, der als Folge der gegenwärtigen „planetarischen Globalisierung“46 zu gelten habe, weist ebendiese Tendenz auf, wenn auch in einer späteren Entwicklungsphase: Der [...] kritische Raum, von dem die Rede war, beruht mindestens ebensosehr auf der Rasanz der Massenkommunikationsmittel wie auf der der Träger der massiven Vernichtung. W.J. Perry, ein früherer Unterstaatssekretär im amerikanischen Verteidigungsministerium, hat kürzlich diesen Sachverhalt treffend beschrieben: „Wenn ich die aktuelle Diskussion über Langstreckenraketen und Ortungssysteme in einem Satz zusammenfassen sollte, so würde ich sagen: sobald Sie das Ziel sehen können, haben Sie auch die Möglichkeit, es zu zerstören.“47
Die Rolle, die hier ferngesteuerte Langstreckenraketen einnehmen, spielen beim Schmitt der 30er Jahre „Flugzeug und Radio“ (VGr, 60). Hinter der durch den Komplex von Fern-Medium und Waffensystem vorangetriebenen „moderne[n] technische[n] Überwindung des Raums“ (ebd.) sieht Schmitt eine Auflösung der politischen Ökonomie überhaupt am Werk, den er als Nihilismus „in einem geschichtlich-spezifischen Sinne“ (NdE, 36) brandmarkt. Vorangetrieben sieht er diese nihilistischen Tendenzen vor allem seit der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts, dessen Rechtsstruktur bereits durch eine neuartige, wenn auch kurzlebige Nahme, die „Industrienahme“ bestimmt gewesen sein soll.48 Der medien- und waffentechnische Fortschritt geht jedoch, so Schmitt, alsbald auch über diese noch an der Herrschaft über wirtschaftliche Zentren orientierte Nahme hinweg und verwandelt sich erneut, sobald die geodätischen Voraussetzungen erfüllt sind; nunmehr zu einer „Luft- und Raum-Nahme“49, die für Schmitt mit dem Luftkrieg des Ersten Weltkriegs einsetzt und deren Entwicklung man bis zur Satellitentechnik, zum Internet und zum GPS weiterziehen könnte. Für Schmitt zumindest wird sich in Folge dieser Umwälzungen auch die Bedeutung des gesamten Planeten wandeln. Indem sich die globalen Grenz-Linien in Meridiane verflüchtigen, wird die Erde schließlich zu einer „Kombination von Rohstofflager und Flugzeugträger“ (NdE, 20) zusammenschrumpfen. Diese letzte Wandlung der Nahme lässt sich, wie Schmitt auf den letzten Seiten des Nomos der Erde betont, mit dem globalen Modell eines zweidimensionalen Oberflächenraums nicht mehr begreifen. Der Luftraum sei eben „nicht ein über dem Land oder dem Meer aufgestülptes Volumen“, „das man sich wie eine hohle Säule oder einen leeren Kasten auf der Basis des festen Landes oder des freien 46 Paul Virilio, Panische Stadt, übers. v. Maximilian Probst, hg. v. Peter Engelmann, Wien 2007, S. 24. 47 Paul Virilio, Der kritische Raum, S. 22. 48 Schmitt, „Nehmen / Teilen / Weiden“, S. 503. 49 Ebd.
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Meeres errichtet“ denken könne. (NdE, 296) So verändern die Möglichkeiten einer vertikalen Kriegsführung den Krieg auf grundstürzende Weise: „Der selbständige Luftkrieg spielt sich, von Luftschlachten abgesehen, nicht mehr wie Landkrieg und Seekrieg in einem horizontalen Gegenüber ab, in welchem die beiden Kriegsführenden auf gleicher Ebene gegeneinander stehen.“ (NdE, 296) Schmitt denkt hier an Flächen-Bombardements, in denen jegliche Beziehung von Kriegsagent und Kriegsopfer gekappt ist und damit der Unterschied von Soldat und Zivilist nicht aufrechterhalten werden kann. Derart werde der Luftkrieg – anders als der Okkupationskrieg zu Lande und der Handelskrieg zur See, dessen hybride Form er dennoch ist – ein „reiner Vernichtungskrieg“ (NdE, 294). Um diese Verwandlung des Kriegsbegriffs zu kennzeichnen, greift Schmitt auf den Ausdruck Wirbel zurück, den Jünger bereits benutzt hat, um das Ziel der planetarischen Irrfahrt zu bezeichnen,50 „denn die Verschiedenheit von Seekrieg und Landkrieg gerät ja selbst in den Wirbel des technischen Fortschritts.“ (ThP, 79) Vor diesem Hintergrund zeichnet sich bereits die Stoßrichtung von Schmitts Kritik an Jüngers Vorstellung planetarischer Begegnungen ab, denn die Aufweichung der Freund-Feind-Unterscheidung kann für Schmitt nur zum Versuch allseitiger Vernichtung führen. Das deutet sich bereits im Hobbes-Buch von 1938 an, wo Schmitt Bedenken äußert, ob der Leviathan auch „zum Symbol eines neuen, rein und offen nichts als technischen Zeitalters werden könnte, vielleicht im Sinne der Totalität, die Ernst Jünger der Technik und der durch sie bewirkten planetarischen Veränderungen zuschreibt“.51 Eine dringliche Frage ist dies für Schmitt, weil er im Leviathan mehr als nur eine beliebige Veranschaulichung des souveränen Staats sieht. Horst Bredekamp hat gezeigt, dass „Hobbes den modernen Staat nicht denken kann, ohne daß er sich von ihm ein Bild macht“.52 Schmitt geht sogar einen Schritt weiter, wenn er im Leviathan deshalb „das stärkste und mächtigste Bild“ des politischen Denkens überhaupt sieht, weil es „den Rahmen jeder nur gedanklichen Theorie oder Konstruktion [sprengt]“.53 Nur weil er von dieser Sprengkraft überzeugt ist, kann Schmitt den notwendigen Untergang des modernen Staats auf die Wahl des Meerungeheuers Leviathan (anstatt des Landungeheuers Behemoth) zurückführen. Von der fatalen Wahl dieses faschen Bildes rührt Schmitt zufolge auch die immer wieder betonte Sterblichkeit des souveränen Staates her, die es „nötig“ macht, „ihm staatstheoretisch beizuspringen und eine politische Lehre zu entwickeln, deren Beachtung und Verbreitung den Tod des Leviathan, wenn schon nicht verlässlich ausschließen, so doch zumindest hinauszögern kann“.54 Mit der Frage, ob der Leviathan zum Symbol eines rein technischen Zeitalters werden kann, bezieht sich Schmitt wahrscheinlich auf den Arbeiter, in dem gleich im Vorwort vom Leviathan die Rede ist. Dort wird die für Jüngers planetarisches 50 Jünger, Werke, Bd. 2, S. 12. 51 Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes [1938], S. 124. 52 Horst Bredekamp, Thomas Hobbes. Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder 1651-2001, Berlin 2003, S. 9. 53 Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 9. 54 Friedrich Balke, Figuren der Souveränität, München 2009, S. 48.
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Schreiben grundlegende Forderung, dass sich ganze Leserkollektive an der theoretischen Sichtbarmachung und praktischen Verwirklichung der Gestalt des Arbeiters beteiligen sollen, dadurch motiviert, dass der Arbeiter-Essay „nur eine Flosse des Leviathans sichtbar“55 machen könne. Jünger geht also offenbar ganz entschieden davon aus, dass der Leviathan nicht als zentrales politisches Zeichen obsolet geworden ist, sondern einer radikalen Umdeutung fähig bleibt; einer Umdeutung, die vom Text selbst allerdings nur präfiguriert werden kann. Wieder in ein Seemonster zurückverwandelt, könne der Leviathan eine post-staatliche und post-globale politische Formation charakterisieren, an dessen Umsetzung Der Arbeiter nur vorbereitend Teil habe. Damit entspricht die Inanspruchnahme des Leviathan-Symbols der Anverwandlung des Staatsbegriffs, der in der Jünger’schen Vorstellung eines Weltstaats mit den herkömmlichen Staaten nichts als den Namen gemein haben soll.56 Gerade in der sich so abzeichnenden präfigurativen Dezentralisierung des Leviathans, der sich nur einem anonymisierten, selbst unfassbar werdenden Kollektiv von Lesern/Handelnden zeigt und von diesem (und als dieses) Kollektiv verwirklicht wird, zeigt sich die Gefahr, die Schmitt im machtvollen Leviathan-Modell von vornherein angelegt sieht. In Jüngers Umdeutung wird der Staat zu einer „fleet in being“57, die – einem U-Bootgeschwader oder einem Satellitennetzwerk gleich – auf dem ganzen Planeten operiert, ohne geortet werden zu können. Politische Macht tritt von nun an, wie vor allem das Jünger-Zitat, das Schmitt in diesem Zusammenhang anführt, verdeutlicht, in mobilen Einheiten auf, als „‚schwimmende Vorposten der großen Herrschaft, gepanzerte Zellen, in denen sich der Machtanspruch auf engstem Raum verdichtet‘.“58 Interessanterweise ist schon hier nur von einer ‚großen‘ (anstelle von einer souveränen oder staatlichen) Herrschaft die Rede. Zwar denkt Schmitt hier vielleicht noch nicht an seinen späteren Raumbegriff, der eine besondere Form der Größe impliziert. Indessen scheint sich hier schon anzudeuten, dass es ihm um eine Begrenzung politischer Macht zu tun ist. Die Differenzen, die zwischen Schmitts Entwurf eines planetarischen Denkens und Jüngers planetarischem Schreiben bestehen, bleiben lange Zeit unausgesprochen, um dann aber umso deutlicher zutage zu treten. So wird sich Jünger in seinem Linien-Essay von 1950 entschieden gegen „Großraumabgrenzungen“59 auf dem Planeten aussprechen und in An der Zeitmauer (1959) sogar noch harschere Töne anschlagen, wenn er die völlige „Hilflosigkeit der Juristen“60 angesichts der Radikalität der bevorstehenden Umwälzungen konstatiert. Und hier stellt Jünger dem Schmitt’schen Großraum die Vorstellung eines „Zeitgroßraum[s]“61 entgegen. 55 Jünger, Werke, Bd. 6, S. 13. 56 Siehe hierzu ebd., S. 322. 57 Paul Virilio, Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie, übers. v. Ronald Voullié, Berlin 2008, S. 52. 58 Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 77-78. 59 Jünger, Werke, Bd. 5, S. 271. 60 Ebd., Bd. 6, S. 615. 61 Ebd., S. 478.
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Zudem verortet Jünger diese kommende Ordnung ganz bewusst jenseits des Meridians, vor dessen Überschreitung Schmitt dagegen nachdrücklich warnt. Um der mit der Überschreitung der Nulllinie einhergehenden Entortung von Ordnung zu entgehen, setzt sich Schmitt ganz im Gegensatz zu Jünger für neue „Freundschaftslinien“ (NdE, 20) ein, die es ermöglichen sollen, ein neues Völkerrecht innerhalb fest umgrenzter Räume zu schaffen. Dafür müssten es aber, so Schmitts „Hoffnung“ (NdE, 20), „die Friedfertigen sein […], die das Erdreich besitzen“ (ebd.), und nicht diejenigen, die wie Jünger den Friedensbegriff (der wie ein jeder rechtlicher Begriff eben nur in einem klar umrissenen Rahmen Gültigkeit haben könne) aufweichten. Auch wenn sich diese Spannungen zwischen Jünger und Schmitt erst nach dem Zweiten Weltkrieg entladen: das caveat lector zumindest, das Schmitt dem eingangs zitierten Jünger-Motto seiner Völkerrechtlichen Großraumordnung voranstellt, sowie die verstreuten Hinweise auf Jünger lassen vermuten, dass sie ihm spätestens zu Beginn der 40er Jahre deutlich waren. Dass sich Schmitt in seiner Großraum-Schrift ebenso wie auch anderswo auf bloße Andeutungen beschränkt, macht Aussagen darüber, was er wann wusste, extrem schwierig. Diese Schreibstrategie, mit der der Autor nur zwischen den Zeilen kommuniziert, hat aber wohl weniger mit persönlichen Vorlieben Schmitts zu tun als mit seiner Überzeugung, dass mit der Zeit der europäischen Nationalstaaten auch die Zeit eines staatstragenden juristischen Schreibens vorbei sei. So wendet sich auch der Rechtswissenschaftler Schmitt Schreibstrategien zu, die denjenigen, die Jünger benutzt, um parastaatliche Kollektive hervorzubringen, nicht zufällig ähnlich sehen. Die Träger politischer Entscheidungen von „planetarischer Gültigkeit“ und „planetarische[r] Wucht“62 sind bei Schmitt ebenso wie bei Jünger als para-staatliche und para-militärische Netzwerke gedacht, an deren Konstitution die Schriften der beiden einen maßgeblichen Anteil haben wollen. Denn auch Schmitts Großräume sind auf planetarische Avantgarden angewiesen, die sie hervorbringen. In Theorie des Partisanen (1963) wird Schmitt eine Autorschaft, die solche politischen Auswirkungen zu zeitigen versucht, auf die Figur des Partisanen bringen, der mit Texten ebenso agiert wie „mit Maschinenpistolen, Plastikbomben und bald auch mit taktischen Atomwaffen.“63 Entscheidend für die Verwandlung des ursprünglich auf dem Land angesiedelten Partisanen in einen „Kosmopiraten“ (ThP, 93) oder einen „Kosmopartisanen“ (ebd.) ist weniger, dass er „motorisiert und an ein Nachrichtennetz angeschlossen“ (ThP, 79) wird, sondern, dass er zum Gegenstand einer Theoriebildung wird, die ihn in den Dienst einer nicht mehr an Hegung interessierten Weltpolitik stellt. Die letzte Konsequenz einer solchen Entortung der Partisanenfigur sieht Schmitt in Form der „Luft- und Raumnahme“,
62 Ebd., S. 255. 63 Carl Schmitt, Theorie des Partisanen: Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 2006, S. 79. Die Theorie des Partisanen wird fortan unter Angabe der Sigle ThP und der Seitenzahlen im laufenden Text zitiert.
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die Jüngers Roman Heliopolis64 vollzieht. Um wie dort den grenzüberschreitenden Kosmopolitismus des 19. Jahrhunderts und die Raumfahrtechnik des 20. Jahrhunderts im Zeichen eines kommenden planetarischen Gemeinwesens zu verbinden, muss man eine erdenthobene Position einnehmen, die dem Planeten mit der völligen Vernichtung droht. Schmitts Abhebung von Jüngers ‚Kosmopartisanentum‘ kann man indes nicht durch die Schreibstrategien erklären. Es ist eher die Selbstinszenierung, mit der sich Schmitt seit der zweiten Hälfte der 30er Jahre von Jünger abzusetzen versucht. Dabei bringt Schmitt allerdings genau die „Dimension der Tiefe“ (ThP, 72) ins Spiel, die seinem späteren Text über die Theorie des Partisanen zufolge die Taktik des Partisanen auszeichnet. In einem Brief vom 06.11.1938 stellt er sich Jünger gegenüber als „Erdbodenkriecher“ dar, der „durch die Flugzeuge um eine Dimension herabgedrückt“ worden sei.65 Deshalb könne er auch nie den Überblick in Aussicht stellen, den Jünger schließlich in Heliopolis zumindest für die Helden, die zum Regenten gelangen, in Anspruch nimmt. Ausdrücklich nimmt darauf ein Brief von 29.07.1950 Bezug, in dem Schmitt betont, dass er „ein Chaopolit und kein Heliopolit“66 sei. Inwiefern sich eine solche ‚Chao-Politik‘ von einer Jünger’schen ‚Helio-Politik‘ unterscheidet, lässt sich (was nur auf den ersten Blick überraschend ist) ausgehend von Schmitts Hamlet-Lektüre verdeutlichen. Der in Schmitts Hamlet oder Hekuba diagnostizierte „Einbruch der Zeit in das Spiel“ 67, durch den die Zeit ein gehegtes Spiel auf der politischen Bühne unmöglich macht, steht nämlich in einer direkten, wenn auch spannungsreichen Entsprechung zu Jüngers Faszination mit dem „Einbruch des Spiels in die Zeit“68, durch den die Zeit für kommende Sinnsetzungen frei wird.
64 Für Schmitts beißende Kritik an Jüngers Roman, für die vor allem die „Figur der Parsin“ Budur Peri und ihre Beziehung zu Lucius „zum spitzesten Stein des Anstoßes wurde“, siehe Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930-1983, S. 241 u. 244, das Zitat findet sich auf S. 244. 65 Ebd., S. 79. 66 Ebd., S. 241. 67 Carl Schmitt, Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel [1956], Stuttgart 2008, S. 21. Fortan wird Hamlet oder Hekuba unter Angabe der Sigle HoH und der Seitenzahlen im laufenden Text zitiert. 68 So in einem Brief, in dem sich Jünger zu Schmitts Hamlet-Deutung äußert, Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930-1983, S. 309.
2. Vom Einbruch der Zeit in das Spiel zum Einbruch des Spiels in die Zeit 2.1 Hamlet als Allegorie des failing state In einem Brief vom 01.08.1956 schickt Schmitt Jünger die Zeichnung einer „Hamlet-Kurve“, in der er „Die Hieroglyphe der Westlichen Welt“ dargestellt haben will.69 Ihr ist zu entnehmen, dass 1958 die westliche Welt Hamlet sein werde, nachdem zuvor 1848 Deutschland und 1918 Europa Hamlet gewesen seien. Der Kurvencharakter wird durch mehrere eingezeichnete Pfeile veranschaulicht, die offenbar kreis- und spiralförmige Vektoren darstellen und darauf hinweisen sollen, dass die sich aufschaukelnde Dynamik dieser „Schicksalskurve“70 den Westen in einen Wirbel zieht, aus dem es kein Entrinnen gibt. So interpretiert Schmitt die Zukunft der Welt mit Blick auf Entwicklungen, die mit der Revolution von 1848 eingesetzt haben. Gerade in der damals scheiternden Staatsgründung Deutschlands zeigt sich für Schmitt, dass der „europäische Bürgerkrieg“71, der 70 Jahre später zum Untergang der staatlichen Ordnung der Neuzeit geführt habe und weitere 40 Jahre später den gesamten Westen erfasst haben werde, schon im vollen Gange gewesen sei. Dabei ist Schmitts Vorliebe für runde geschichtliche Abschnitte weniger interessant als sein Versuch, das Drama und die Figur Hamlets als Allegorie dessen zu lesen, was man aktuell als „failing state“72 bezeichnen würde. Somit übernimmt Hamlet die Schlüsselrolle, die Schmitt zuvor Hobbes’ Leviathan zugesprochen hat. Ebenfalls aufschlussreich ist es, dass Schmitt die Hamlet-Kurve gerade an Jünger schickt, den er schon im Hobbes-Buch an entscheidender Stelle als Vorreiter einer post-staatlichen Auffassung des Leviathan anführt und der ebenfalls an prominenter Stelle konstatiert hat, dass sich die Erde auf „Wirbel[ ] zu“ bewege.73 Schmitts wirbelnde Hamlet-Kurve weist aber nicht nur auf die Hobbes-Deutung der 30er Jahre zurück, sondern auch auf die Studie über die Theorie des Partisanen von 1963 voraus. Diese Querverbindungen zwischen den Texten, die auch bei Schmitt selbst fast durchweg implizit bleiben, lassen sich ziehen, weil seine Texte spätestens seit der Großraum-Schrift von 1939 um die Entscheidung zwischen einem entgrenzenden Universalismus und einem begrenzten Pluralismus kreisen. Dabei tritt die bereits in der Hobbes-Studie prominent werdende Vorstellung eines ‚Einbruchs‘ nichtstaatlicher Mächte in das staatliche Gleichgewicht der europäischen Festlandordnung immer mehr ins Zentrum der Überlegungen. DieAbgebildet ist die „Hamlet-Kurve“ in Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930-1983, S. 310. So nennt Jünger die Zeichnung in einem Antwortbrief vom 05.08.1956. Siehe ebd. Carl Schmitt, Donoso Cortés in gesamteuropäischer Interpretation. Vier Aufsätze, Köln 1950, S. 7. Siehe hierzu sowie zur Frage nach der notwendigen Fiktivität des Staates Thomas Frank, Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann u. Ethel Matala de Mazza, Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a.M. 2007, S. 383-384. 73 Jünger, Werke, Bd. 2, S. 12.
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ser Einbruch „stört“ – so heißt es schließlich vom Einbruch des Partisanen, der „nicht auf einem offenen Schlachtfeld“ kämpfe – „das konventionelle, reguläre Spiel auf der offenen Bühne.“ (ThP, 73) Da der Partisane damit gleich „das ganze Gebäude der politischen und sozialen Ordnung in Frage“ stellt, (ThP, 57) verweist sein Einbruch auf Schmitts Hobbes-Buch zurück, in der der „Einbruchstelle des modernen Liberalismus“ 74 gleichfalls das Potential zugesprochen wurde, die gesamte staatliche (und durch den Staat garantierte) Ordnung untergraben zu können. In der zeitlich zwischen der Schrift über Hobbes’ Leviathan und dem Partisanen-Essay stehenden Studie Hamlet oder Hekuba wird die Rede vom Einbruch sogar in den Untertitel aufgenommen, der von einem Einbruch der Zeit in das Spiel auf der Bühne spricht. Zugleich macht die Hamlet-Schrift deutlich, dass Schmitts Vorstellung eines Einbruchs in die Ordnung auf der Überblendung gleich mehrerer Bedeutungen des Wortes „Theater“ basiert: Theaterbühne, theatrum Europaeum und theater of operations stehen bei Schmitt in einem metonymischen Verhältnis, das die Politik der frühen Neuzeit (und d.h. auch die entstehende eurozentrisch-globale Weltordnung) grundlegend bestimmt. Schon im Nomos der Erde wird das neuzeitliche Staatsmodell vom „theatrum belli, [dem] umhegte[n] Raum“ abgeleitet, „in welchem staatlich autorisierte und militärisch organisierte Mächte unter den Augen aller europäischen Souveräne ihre Kräfte miteinander messen.“ (NdE, 114) Diese Ableitung fußt auf einer juristischen Fiktion, die den Staat als „repräsentative souveräne Staatspersönlichkeit“ (NdE, 117) konzipiert: Für die Begriffsbildung des neuen zwischenstaatlichen Völkerrechts ist die Personifikation wichtig, weil erst dadurch die römisch-rechtlich gebildeten Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts einen Ansatzpunkt für ihre Konstruktionen finden. Das hat eine große Bedeutung. Denn erst dadurch wird der Krieg zu einer Beziehung zwischen Personen, die sich gegenseitig einen Rang zuerkennen. (NdE, 116)
Die Beziehungen dieser fiktiven Personen untereinander werden analog zu denjenigen kodifiziert, die römische cives zueinander unterhielten. Demnach baut das neue ius inter gentes, das das öffentliche Leben auf dem europäischen Festland regelt, auf dem römischen ius civile und nicht auf seinem ius gentium auf. Das theatrum Europaeum, in vielerlei Hinsicht als Weiterentwicklung des forum Romanum angelegt, ist aber „nicht nur wegen des öffentlichen Charakters jener souveränen Personen, sondern vor allem auch als echte Raumordnung ‚öffentlich‘, publici iuris.“ (NdE, 117) Sinnfällig wird die maßgebliche Bedeutung der Allegorie für das Staatsdenken in Hobbes’ Leviathan. Aber auch das Drama Shakespeares zeichnet sich, „soweit es politisch ist“, (NdE, 116) wie Schmitt im Nomos der Erde hervorhebt, durch eine „allegorisierende Tendenz“ (ebd.) aus. In seiner (wenige Jahre später erscheinenden) Studie über den Hamlet wird Schmitt den Zusammenhang von Bühne, Krieg und Politik noch ausdrücklicher machen und zugleich zum Weltmo74 Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 86.
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dell ausweiten. Zu Beginn der Neuzeit („um 1600“) „wurde die ganze Welt zur Bühne, zum Theatrum Mundi, Theatrum Naturae, Theatrum Europaeum, Theatrum Belli, Theatrum Fori. [...] Handeln in der Öffentlichkeit war Handeln auf der Bühne und dadurch Schauspiel.“ (HoH, 42)75 Damit verdeutlicht sich eine These, die Schmitt, wie sein Aufsatz über die „Formung des französischen Geistes durch die Legisten“ (1942) belegt, schon mindestens seit den frühen 40er Jahren vertritt. In diesem kurzen Aufsatz streift Schmitt den Absolutismus und die tragédie classique in Frankreich, die ebenfalls im 17. Jahrhundert entstehen. Für beide verantwortlich hält Schmitt den Legisten, der hier nicht nur als „der erste moderne Jurist überhaupt“ gilt, sondern sogar zum „Helden und Träger[...] des ‚occidentalen Rationalismus‘“ erhoben wird.76 Da sich auch das „globale Liniendenken“, wie Der Nomos der Erde festhält, im Rahmen dieses „occidentalen Rationalismus“ ausgebildet haben soll, (NdE, 261) deutet sich zumindest an, dass die legistische Praxis auch eine geopolitische Bedeutung haben könnte. Indes geht es Schmitt im Kontext des Aufsatzes darum, aufzuzeigen, dass die Legisten die Sprache und Beredsamkeit des modernen Französisch sowie das ihrer Klassiker Corneille, Boileau, Racine und Molière nachhaltig geprägt haben. Tatsächlich geht Schmitt sogar so weit, zu behaupten, Corneille, der von 1627 bis 1640 als Advokat des Königs tätig war, habe „die drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung aus dem Juristischen ins Dramatische“77 übertragen. So funktioniere die tragédie classique in strenger Analogie zum Staat, weil der auf dem Theater auftretende Souverän ebenso wie sein Pendant auf der Staats-Bühne sich als Herr des Ausnahmezustands erweise und damit allerdings auch die Tragik von der Bühne ausschließen müsse.78 Diese These wird im Hamlet-Buch wieder aufgenommen, wenn es dort heißt, Staat und Drama seien Systeme, „die Einbrüche des tragischen Geschehens ausschließen und nur noch als Störung empfinden, soweit sie sie überhaupt noch bemerken.“ (HoH, 71) Der neuzeitliche Staat und das neuzeitliche Theater zeigen sich für Schmitt als ebenso geregelte und gehegte Bühnenspiele wie
75 Auch Benjamin sieht in der Allegorie das entscheidende Kennzeichen Hamlets. Anders als Benjamin wird Schmitt in ihrer facies hippocratica nicht das sinnlose Sterben der Kreatur sehen, sondern die (tragische) Unmöglichkeit der Staatsgründung. Hamlet wird so für Schmitt zum Drama der scheiternden Öffentlichkeit schlechthin. Damit ist Schmitts Darstellung der allegorischen Staatspersönlichkeit einem anderen Allegoriebegriff als Benjamins Trauerspiel-Buch verpflichtet. Benjamin reserviert die Allegorie für das Trauerspiel, das eine „Allegorie der Tragödie“ darstellt. Vgl. hierzu Eva Geulen, Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt a.M. 2002, S. 99. 76 Carl Schmitt, „Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten“ [1942], S. 189-190. 77 Ebd., S. 197. 78 So sind die Dramen der französischen Klassik für Schmitt, der hier einen Begriff Walter Benjamins aufnimmt, als „Trauerspiele“ zu charakterisieren. Schmitt setzt sich in einem langen Exkurs seiner Hamlet-Studie mit Benjamins Trauerspiel-Buch auseinander und kritisiert dabei vor allem Benjamins Interpretation des Hamlet; siehe HoH 62-67. Vgl. hierzu aber auch Helmut J. Schneider, „Playing Tragedy. Detaching Tragedy from Itself in Classical Drama from Lessing to Büchner“, in: Gerhard Fischer u. Bernhard Greiner (Hgg.), The Play within the Play. The Performance of Meta-Theatre and Self-Reflection, Amsterdam u. New York 2007, S. 237-247.
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der reglementierte Krieg, auf dem sie beruhen. Bei beiden „entsteht ein eigener Spiel-Raum und eine eigene Spiel-Zeit“ (HoH, 39). Nun soll Hamlet oder Hekuba aber vorführen, dass es in England weder in der Politik noch auf dem Theater zu einer solchen Schließung und Abschließung gekommen sei.79 Um dies nachzuweisen, bezieht Schmitt den Unterschied zwischen einem Corneille und einem Shakespeare ausdrücklich auf die geopolitische Trennung von Land und Meer, in der sich die eurozentrisch-globale Weltordnung artikuliert. Was sich auf der Shakespeare’schen Bühne zeigen soll, ist nämlich, dass sich England nicht wie die kontinentaleuropäischen Länder für das Modell des Territorialstaates, sondern für das freie Meer entschieden hat. Von einem solchen Übergang zu einer „maritimen Existenz“ (LuM, 46), der mit der Zerstörung der spanischen Armada 1588 begonnen habe und mit der Vertreibung des letzten Stuartkönigs 1688 beendet worden sei, spricht Schmitt schon in Land und Meer. Nunmehr werden die Folgen dieser Wahl am Hamlet exemplarisch vorgeführt, denn dort, wo „das Spiel sich bricht“ (HoH, 47), sieht Schmitt „die Brandung“ (ebd.) nicht nur des Meeres, sondern auch der sich dort weiterentwickelnden Konflikte aufschäumen. Die Bedeutung, die das Meer im Stück hat, erweist sich allein schon dadurch, dass die „Seeschäumer“ (LuM, 40), die in Land und Meer als wichtige Vorreiter der frühneuzeitlichen Seenahme gelten, entscheidend in die Handlung des Hamlet eingreifen. Im vierten Akt wird Hamlet von Claudius nach England geschickt; offiziell in diplomatischer Mission, tatsächlich aber soll er ermordet werden. Nach weniger als zwei Tagen auf See gelingt Hamlet jedoch die Flucht, indem er sich mit einer Gruppe von Piraten verbündet, die das dänische Schiff angreifen. Allein mit ihrer Hilfe kann er nach Elsinore zurückkehren.80 Die dramaturgische Bedeutung dieses Bündnisses im Stück hat auch eine politische Tragweite, die für Schmitt weit über Fragen der Intrige hinausreicht. Die Figur Hamlets liest er nämlich – im Anschluss an Lilian Winstanley81 – als „das durchsichtige Incognito“ von James I., dem ersten Stuart auf dem englischen Thron. (HoH, 39)82 Diese verhüllte Präsenz des Stuartkönigs bedeute nicht nur, dass die „Problematik dieses Hamlet, sein Räsonieren und Philosophieren, die Zer-
79 Zum Versuch, Schmitts Thesen in der Hamlet-Forschung zu etablieren, siehe Victoria Kahn, „Hamlet or Hecuba. Carl Schmitt’s Decision“, in: Representations 83 (2003), S. 67-96. 80 Dies berichtet Hamlet in einem Brief, der Horatio von einem der Piraten übergeben wird. Siehe William Shakespeare, The Tragedy of Hamlet, Prince of Denmark, in: ders., The Complete Works (The Oxford Shakespeare), hg. v. Stanley Wells u. Gary Taylor, Oxford 1988, S. 653-690, hier 4. Akt, 6. Auftritt, Verse 12-28. Schon Goethes Wilhelm Meister macht auf den Zusammenhang des Meeres, der Piraterie und der Form des Hamlet aufmerksam, wenn er Serlo daran erinnert, dass Shakespeare „für Insulaner geschrieben habe, für Engländer, die selbst im Hintergrund nur Schiffe und Seereisen, die Küste von Frankreich und Kaper zu sehen gewohnt sind“, Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, hg. v. Wilhelm Voßkamp u. Herbert Jaumann (= Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, 1. Abt., Bd. 9), Frankfurt a.M. 1992, S. 666. 81 Lilian Winstanley, Hamlet. Sohn der Maria Stuart, übers. v. Anima Schmitt, Pfullingen 1952. 82 Eine radikal gegen diese These gerichtete Lektüre des Hamlet liegt vor von Anselm Haverkamp, Hamlet. Hypothek der Macht, Berlin 2004.
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redung seiner Situation und der Aufgabe, der Hemmungen und Schwächungen des Handelns“ auf eine „geschichtliche Wirklichkeit“ zurückgehe.83 Sie wird überdies als Grund dafür angegeben, dass das Spiel auf der Bühne „nicht restlos“ in sich „aufgeht“, (HoH 46) und markiert somit genau die von Schmitt postulierte Einbruchstelle der Zeit. Die Auswirkungen, die dieser Einbruch zeitigt, lassen sich daher sowohl auf der Figuren- als auch auf der Dramenebene nachweisen. Denn die „innere Umbiegung“ (HoH, 24), von der Schmitt in Bezug auf Hamlets Charakter als Rächer spricht, teilt sich auch dem Stück selbst mit, das zwar als typisches Rachedrama beginnt, den tragischen Konflikt aber ganz eigenwillig löst. Die Ausgangssituation ist aus anderen Stücken geläufig: Der Vater wurde ermordet, die Mutter hat den Mörder geheiratet. Traditionell bieten sich hier zwei Lösungen an. Entweder rächt der Held den Tod des Vaters, indem er (wie Orest) den neuen Ehemann mitsamt der Mutter umbringt, oder, indem er sich (wie der Amleth der nordischen Sage) mit seiner Mutter verbündet, um den Mörder zur Strecke zu bringen. Dass Shakespeare im Kontrast dazu den Geist des Vaters mehrfach betonen lässt, Hamlet solle seine Mutter gänzlich aus dem Spiel lassen, verbaut Hamlet diese beiden Alternativen. Somit führt Schmitt die „Hamletisierung des Rächers“ (HoH, 24) auf ein „Tabu der Königin“ (HoH, 13) zurück, das die These, Shakespeares Stück verweise auf die dynastischen und konfessionellen Verwicklungen um 1600, untermauern soll. Denn auch James’ I. Mutter Mary Stuart, die katholische Königin von Schottland hat wenige Wochen, nachdem ihr Ehemann ermordet wurde, den Mann geheiratet, der ihn umgebracht haben soll. Indem Hamlet auf diese Verwicklungen um Mary und James anspielt, stellt das Bühnengeschehen, so Schmitt, den „ganze[n] Zwiespalt seines Zeitalters“ dar, „das ein Jahrhundert der Glaubensspaltung und des konfessionellen Bürgerkrieges war.“ (HoH, 28) Die Stuarts stünden im Brennpunkt dieser Konflikte, weil sie – und hier macht Schmitt die geopolitische Signifikanz des Hamlet deutlich – unentschieden zwischen Land und Meer schwankten: Die Stuarts haben weder den souveränen Staat des Kontinents noch den Übergang zur maritimen Existenz begriffen, den die Insel England während ihrer Regierung vollzog. So sind sie von der weltgeschichtlichen Bühne verschwunden, als die große Seenahme entschieden war und eine neue globale Ordnung von Land und Meer im Frieden von Utrecht (1713) ihre dokumentarische Anerkennung gefunden hatte. (HoH, 67)
Derart von der Bühne verschwinden werden die Stuarts, so Schmitt weiter, weil sie im Gegensatz zu den Souveränen des europäischen Festlands ihr Recht nicht gegen Adel und Klerus durchzusetzen vermögen. James’ Sohn Charles I., der versucht, den Absolutismus in England zu etablieren, löst damit einen Bürgerkrieg aus und wird von der siegreichen Gegenpartei des Hochverrats am König schuldig
83 So Schmitt in dem vom ihm verfassten „Vorwort“ zur deutschen (von seiner Tochter übersetzten) Ausgabe von Lilian Winstanley, Hamlet. Sohn der Maria Stuart, S. 7-25, hier S. 15.
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gesprochen und hingerichtet.84 James’ Enkel James II. wird schließlich infolge der Glorious Revolution abgesetzt, womit die Dynastie die Herrschaft in der männlichen Linie endgültig verliert. Diese geschichtlichen Entwicklungen liest Schmitt in den Hamlet zurück, wo das Königshaus ebenfalls ausstirbt – hier, weil Hamlet religiöse Bedenken hat, seinen Stiefvater zu töten. Damit zeige sich der Protagonist der eigentlichen Problematik nicht gewachsen, die im Stück verhandelt werde und die auf die Entpersonalisierung der allegorischen Staatspersönlichkeit vorausweise. Shakespeares Vorstellung einer souveränen Staatspersönlichkeit hebt sich ganz entschieden von derjenigen der staatstragenden tragédie classique ab. So bleibt in Hamlet die Frage, wer Souverän ist, bis über den Schluss hinaus in der Schwebe. Das zeigt sich allein schon darin, dass Shakespeares Sprachgebrauch, die Herrscher eines Landes mit dem Namen des Landes selbst anzusprechen,85 hier zum Anlass unzähliger Wortspiele und Doppeldeutigkeiten wird: vom Geist des „begrabenen Dänemark“86, den Horatio gesehen haben will, bis hin zu Claudius’ Versprechen, dass alle Toasts, „die Dänemark heute trinkt“87, von Kanonendonner begleitet würden. Solche Wortspiele sind Ausdruck einer Situation, in der unklar ist und bleibt, wer der rechtmäßige Herrscher und wer der Usurpator ist. So spricht Horatio gleich im zweiten Auftritt das Gespenst als Usurpator der Nacht und der Gestalt des toten Herrschers an: thou that usurp’st this time of night, Together with that fair and warlike form In which the majesty of buried Denmark Did sometimes march […].88
Wie Stephen Greenblatt gezeigt hat, impliziert eine Entscheidung darüber, ob der Geist lügnerisch oder aufrichtig, mithin ein usurpatorischer oder rechtmäßiger Herrscher sei, für das Elisabethanische Zeitalter zugleich auch eine konfessionelle Entscheidung. Denn der Protestantismus der Zeit stellt den katholischen Glauben
84 Zu dieser Paradoxie siehe Ernst Kantorowicz’ Untersuchung der zwei Körper des Königs, die er als einen (letztendlich scheiternden und in Absurditäten führenden) Versuch der Tudor-Juristen sieht, die Position des Herrschers dem Parlament gegenüber zu stärken. Die Trennung von politischem und natürlichem Körper des Königs führe nämlich nicht, wie beabsichtigt, zu einer Begründung absoluter Macht, sondern zur Abwertung des faktischen Königs. Diese Abwertung wird für Kantorowicz in Shakespeares Richard II augenfällig, wenn Richard als König abdankt und sich danach selbst, d.h. als natürlicher Körper, des Hochverrats (am politischen Körper des Königs) beschuldigt. Diese Selbstbeschuldigung bringt Kantorowicz sogleich in einen Bezug zum Ende Karls I.: „It is as though Richard’s self-indictment of treason anticipated the charge of 1649, the charge of high treason committed by the king against the King“. Ernst Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology, Princeton 1957, S. 39. 85 So heißt der jeweilige König von Norwegen gemeinhin einfach „Norway“. Shakespeare, The Tragedy of Hamlet, 1. Akt, 1. Auftritt, Vers 60. 86 Ebd., 1. Akt, 1. Auftritt, Vers 46. 87 Ebd., 1. Akt, 2. Auftritt, Vers 125-126: „No jocund health that Denmark drinks today / But the great cannon to the clouds shall tell“. 88 Ebd., 1. Akt, 1. Auftritt, Vers 44-47.
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an ein Purgatorium in Abrede, so dass es auch aus protestantischer Sicht nur dämonische Geister geben kann, während für Katholiken die Möglichkeit besteht, dass der Geist tatsächlich der tote Vater ist.89 Von dieser Verquickung von Religion und Politik rührt für Schmitt das ‚Tabu der Königin‘ her, das es nicht nur unmöglich macht, die Frage nach der Schuld der Mutter zu beantworten, sondern auch, den rechtmäßigen Herrscher zu bestimmen. Anders würde sich das Stück, nach Schmitts Argumentation, öffentlich zu der einen oder der anderen Konfession bekennen müssen (siehe HoH, 30). Es geht aber auch nicht darum – dahingehend versteht Schmitt die Aussage des Stücks –, diese theologischen Fragen zu beantworten. Anstatt seine Zeit mit „theologischen Disputationen“ zu verbringen, in denen James (einem Hamlet gleich) versucht, sein „göttliche[s] Recht[ ]“ auf den Thron zu beweisen, solle der König seine Souveränität „auf dem Felde der geschichtlichen Tat“ durchsetzen.90 Nicht zuletzt, weil sie sich nicht von ihren mittelalterlichen Vorstellungen zu lösen vermögen, sieht Schmitt die Stuarts in ihren Versuch scheitern, das feudal und kirchlich verbürgte Widerstandsrecht des Adels gegen einen Tyrannen zu brechen. Dieses Versagen habe zur Folge, dass das Land nicht zu einem Staat im strikten Sinn des Wortes werden könne. Denn erst eine Überwindung der ständischen Selbstbestimmung schaffe den neuen „Boden rechtlichen und staatstheoretischen Denkens“91, auf dem der souveräne Staat wie auf einer gefestigten Bühne beruhe: Widerstandsrecht und Ständeordung finden auf diesem Boden einfach keinen ‚Stand‘ mehr, so dass sie, wie schon im Hobbes-Buch zu lesen ist, „ohne Ansatzpunkt, ohne Standort und Standpunkt, im eigentlichen Sinne des Wortes ‚utopisch‘“92 sind, oder – der späteren geopolitischen Trennung von Land und Meer entsprechend – in den nichtstaatlichen Raum jenseits der Linie (und, wie sich nun zeigt, abseits der Bühne) abgedrängt werden. Hamlet dagegen verweise, indem es das Scheitern James’ I. auf die Bühne bringe, auf eine Einbruchstelle, an der dieser nicht-staatliche Raum jenseits der Linie in den gehegten Raum eindringen könne. Die Aufgabe, an der James I. und die Stuarts gescheitert sein sollen, lässt sich mit einer etwas rätselhaften Formulierung Schmitts als diejenige des ‚Katechon‘ bezeichnen, um diese Aufgabe von der Vorstellung einer autochthonen Verteidigung des Landes abzuheben. (James ist kein Engländer, sondern ein Schotte.) Am 19. Dezember 1947 notiert Schmitt hierzu: „Es gibt zeitweise, vorübergehende, splitterhaft fragmentarische Inhaber dieser Aufgabe“93, was nahelegt, dass der Katechon eine ebenso verletzbare Figur wie der Hobbes’sche Leviathan ist. Den Ausdruck entlehnt Schmitt dem Zweiten Brief an die Thessalonicher, wo Paulus in einer doppelten Formulierung zuerst vom katechon (im Neutrum) und einen Vers später von dem katechôn (im Maskulinum) spricht. Paulus’ Katechon hält den Antichristen 89 90 91 92 93
Siehe hierzu Stephen Greenblatt, Hamlet in Purgatory, Princeton u. Oxford 2001. Schmitt, „Vorwort“, S. 17. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 69. Ebd., S. 71. Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, hg. v. Eberhard Freiherr von Medem, Berlin 1991, 16.12.1947.
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auf, zögert damit allerdings auch das erneute Kommen Christi und somit auch den Triumph des Guten über das Böse sowie das Ende der Welt hinaus.94 Den Ausdruck hat sich Schmitt spätestens Anfang der 1940er Jahre angeeignet.95 Zwar fällt er weder in der Nomos-Studie noch im Hamlet-Buch, aber er eignet sich, um die theatrale Struktur der säkularisierten europäischen Öffentlichkeit zu erläutern: Das theatrum Europaeum ist ein katechon (im Neutrum), das dank seiner Akteure, der katechontes (im Maskulinum) die Zerstörungen des religiösen Bürgerkriegs ‚aufhalten‘ und ausschließen kann. Die Säkularisierung des Glaubenskonflikts, der durch die Katechontik dieses (Heidegger hätte wohl gesagt: onto-theologischen) Staatsmodells garantiert wird, suspendiert auch die Entscheidung über Gut und Böse, indem sie die Eschatologie aus dem politischen Raum ausschließt. Silete theologi in munere alieno.96 Als (Einbrüche ausschließende) Bühne, auf der (Einbrüche ausschließende) Staatspersönlichkeiten agieren, weist die staatliche Öffentlichkeit also die doppelte, gleichsam onto-theologische Struktur der Katechontik auf, so dass Hamlet auch den Zusammenbruch des Katechon in diesem doppelten Sinn darstellt: weder die Figuren auf der Bühne noch die Bühne selbst können den Einbruch der Zeit in das Spiel aufhalten. So deutet sich bereits an, dass der Einbruch der Zeit in das Spiel, den Schmitt im Ausgang von Shakespeares Drama nachweisen will, eine verwandelte Wiederkehr des religiösen Bürgerkriegs darstellen muss, der in der eurozentrisch-globalen Ordnung der Neuzeit auf das Meer ausgelagert wird. Dort kann er sich, so Schmitt in Land und Meer, mit dem frühneuzeitlichen „Beutekapitalismus“ (LuM, 46) der „Seeschäumer“ (LuM, 40), insbesondere der para-staatlichen „corsairs capitalists“ (LuM, 46) verbünden, die sich nicht an Territorien und deren Okkupation orientieren, sondern an freien Seewegen und Absatzmärkten interessiert sind. In Verbindung mit dem Kapitalismus werde der Glaube, der einzig heilbringenden Konfession anzugehören, nun auch in wirtschaftliche Konkurrenzverhältnisse übersetzbar. Hierfür eignet sich für Schmitt – der auf Max Webers Geist des Kapitalismus zurückgreift – vor allem der Prädestinationsglaube des Calvinismus.97 Es ist aber wichtig, zu sehen, dass Schmitt „die Gewissheit, gerettet zu sein“ (LuM, 83), nicht als protestantische Haltung markiert, sondern dass sie auch von der katholischen „Elite“ (ebd.) geteilt wird.98 Diese säkularisierten Eschatologien drohen, wie Schmitt im 94 Siehe Die Bibel, 2 Thess. 2.3-8. Grossheutschi hat die Wirkungsgeschichte des Katechon in seinem Buch über Schmitts Gebrauch des Ausdrucks zusammengefasst; siehe Felix Grossheutschi, Carl Schmitt und die Lehre vom Katechon, Berlin 1996, S. 11-56. 95 Siehe hierzu Grossheutschi, Carl Schmitt und die Lehre vom Katechon, S. 57-58. 96 Schon Agamben sieht, dass Schmitt den Katechon benutzt, um die Eschatologie aus dem Politischen auszuschließen. Er führt diese Lesart des Katechon, die er für eine verfälschende Lektüre der Paulus-Stelle hält, auf Tertullian zurück. Erst bei Tertullian sei der Katechon positiv besetzt worden; siehe Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, übers. v. Davide Giuriato, Frankfurt a.M. 2006, S. 123-124. 97 Siehe Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Religion und Gesellschaft. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Frankfurt a.M. o.J., S. 11-290. 98 Daher macht Friedrich Balke, der in Schmitts Meer m.E. zu Recht eine Präfiguration des glatten Raumes von Deleuze und Guattari sieht, darauf aufmerksam, dass es Schmitt letztlich nicht um
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Ausgang von Hamlet gezeigt haben will, von Anbeginn an in die binneneuropäische Ordnung einzubrechen. Allerdings gibt Schmitt nicht einfach England die historische Schuld an diesen Entwicklungen, sondern sieht die Insel dadurch ausgezeichnet, dass sie genau den „virtuellen Bruch“99 des Nomos der Erde markiert. Zwar sei England, seit es sich für die maritime Existenz entschieden habe, „of Europa“, aber „not in Europe“ (NdE, 233), schafft jedoch genau dadurch die Voraussetzungen einer zugleich globalen und eurozentrischen Ordnung. Dass sich diese europäische Macht von einem Europa wegwendet, in dem sie nur noch ein „bloßes Hinterland“ (LuM, 94) sieht, um fortan in „Stützpunkten und Verkehrslinien“ (ebd.) zu denken, stellt Schmitt zufolge solange kein Problem dar, wie die Trennung von Land und Meer, die die Seenahme Englands durchgesetzt und überwacht habe, aufrechterhalten wird. Noch die Festlegung des Meridians von Greenwich (1884) zeigt, dass Großbritannien auch Ende des 19. Jahrhunderts als Wächterin der zentralen Linie des Nomos der Erde gilt, was diese Macht nur vermag, weil sie über das Land ins Meer hinausgreift. Diese Entwicklung von Europa weg und zum Meer hin schlägt sich auch in der politischen Philosophie Englands nieder, die sich nach Hobbes endgültig vom Staatsgedanken verabschiedet und sich stattdessen mit Fragen der civil society und ihrer Begrenzung des civil government beschäftigt.100 In der Vorstellung, dass die Staatsgewalt durch die bürgerliche Gesellschaft begrenzt werden könnte, öffnet sich zwar das, was Schmitt 1938 als „Einbruchstelle des modernen Liberalismus“101 bezeichnet hat; zum tatsächlichen Einbruch kommt es allerdings erst mit den Französischen Revolutionskriegen, in denen der Partisan als kriegsentscheidende Figur auftritt. Damit dieser Einbruch auch noch „die Möglichkeit einer ungeheuerlichen Aufhebung aller Ortungen, auf denen der alte Nomos der Erde beruhte“, (NdE, 149) verwirklicht, bedarf es dann noch der Theoretisierung der Figur des Partisanen, wie sie um 1800 in Preußen einsetzt. Am Niedergang des Nomos der Erde sind demnach neben England auch Frankreich und Preußen beteiligt. Die Erscheinung und Theoretisierung des Partisanen erklären, warum Schmitt einen „unterirdischen Zusammenhang zwischen dem religiösen Bürgerkrieg und der französischen Revolution“102 behauptet. Die Revolutionskriege stellen nämlich, wie Schmitt gleich zu Beginn seiner Theorie des Partisanen einräumen muss, eine bislang von ihm nicht zureichend gewürdigte Unterbrechung des Nomos der Erde dar. Mit Frankreich und England stehen sich der Vorreiter der staatlichen
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die Kräfte der Reformation, sondern um die Potentiale des Meeres geht; siehe Balke, Der Staat nach seinem Ende, S. 345. Balke hält deshalb Land und Meer „für ein durchaus singuläres Buch“, das den Nomos der Erde „überragt“, weil es die Raumrevolution nicht auf eine politische Theologie und eine internationale Ordnung zurückbiege (S. 344). Agamben, Homo sacer, S. 47. Siehe hierzu etwa John Locke, Two Treatises on Government [1698], hg. v. Peter Laslett, Cambridge 1960, vor allem die zweite Abhandlung über Civil Government, sowie John Ferguson, An Essay on the History of Civil Society [1767], hg. v. Fania Oz-Salzberger, Cambridge 1995. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 86. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 120.
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Ordnung Europas und derjenige der wirtschaftlichen Ordnung des Globus gegenüber. Was diesen spezifischen Konflikt zwischen ‚Land‘ und ‚Meer‘ auszeichnet, ist, dass beide Kriegsparteien die Unterschiede zwischen Land- und Seekrieg untergraben und damit die Trennung von Land und Meer in einem „Wirbel“ (ThP, 79) untergehen lassen. So greift Napoleon, weil sich eine Invasion und Okkupation Englands als unmöglich erweist, mit der Kontinentalsperre auf eine Blockadestrategie zurück, die dem ökonomisch orientierten Krieg zur See zuzuordnen wäre. Im Gegenzug bedient sich England der Schmugglerwege, die diese Kontinentalsperre zu umgehen suchen, unter anderem, um die spanische Guerilla gegen Napoleon mit Waffen zu versorgen. So stören beide Seiten gleichermaßen „das konventionelle, reguläre Spiel auf der offenen Bühne“ (ThP, 73). Die Umwälzungen des Kriegsbegriffs, die Schmitt sich hier abzeichnen sieht und die er bis zum totalen Vernichtungskrieg des 20. Jahrhunderts weiterverfolgt, geben Anlass zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der um 1800 zwischen den Fronten auftauchenden Figur des Partisanen, dessen Position im Niemandsland eben „nicht nur eine Linie“ (ThP, 57), sondern von dort her auch „das ganze Gebäude der politischen und sozialen Ordnung in Frage“ (ebd.) stelle.
2.2 Der Einbruch des Partisanen in die Ordnung Dass der unterirdische Zusammenhang von religiösem Bürgerkrieg und Französischer Revolution auch eine Wandlung beinhaltet, kann ein Vergleich der Hochverratsprozesse gegen Karl I. von England und Ludwig XVI. von Frankreich verdeutlichen. Während Karl noch in vollem königlichen Ornat zum Schafott ging, wird Ludwig als einfacher citoyen namens Louis Capet guillotiniert. So wird in der Enthauptung Ludwigs XVI. das Ende der in einer Person verkörperten Allegorie des Staates sinnfällig; eine Vorstellung, die bei Karls Hinrichtung völlig intakt war. Dieser wird folglich noch (wenn auch paradoxerweise) im Namen des Königs verurteilt,103 während die Anklage gegen Ludwig im Namen des Volkes ergeht. Dieser Wandel der theatral-repräsentativen Dimension, in der ein Kollektiv an die Stelle des personalen Herrschers tritt, schlägt sich noch vor der Hinrichtung des französischen Königs in der Ikonographie des Leviathan nieder: In Hobbes’ Hauptwerk von 1651 wird der Leviathan unter anderem als „magnus homo“104 dargestellt, dessen Körper zwar eine Unzahl von Menschen fasst, die jedoch das Haupt für den Souverän freilassen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wird diese Auszeichnung des Kopfes, wie Horst Bredekamp gezeigt hat, zum „Stein des Anstoßes“, so dass man sich entschließt, „dem Riesen“ symbolisch „den Kopf zu nehmen“.105 Diese bild103 Siehe Kantorowicz, The King’s Two Bodies, S. 39. 104 Thomas Hobbes, Leviathan or the Matter, Forme and Power of Commonwealth ecclesiasticall and civil [1651], hg. v. Michael Oakeshott, Oxford 1946, S. 112. Vgl. hierzu auch Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, S. 29. 105 Bredekamp, Thomas Hobbes, S. 148.
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liche Enthauptung nimmt die physische Enthauptung Ludwigs vorweg, der gerade nicht mehr als Souverän, sondern als Bürger guillotiniert wird. Die Kehrseite dieser tatsächlichen wie symbolischen Enthauptung wird wenige Jahre später ikonographisch fassbar: Vor allem seit den ersten Napoleon-Karikaturen (des Kaisers der Franzosen, und nicht etwa Frankreichs) wählen die meisten Leviathan-Darstellungen „nicht die Köpfung, sondern die Einnahme des caput, um ihm entweder die Züge eines Monstrums zu geben oder um ihn zu usurpieren“.106 Diese Entwicklung lässt Bredekamp in einer Darstellung Lenins kulminieren, in der sich sein Gesicht aus einer Vielzahl von Menschengesichtern zusammensetzt.107 Die von Bredekamp nachgezeichnete Geschichte der Leviathan-Ikonographie kann zur Versinnbildlichung der politischen Entwicklungen des Leviathans, wie Schmitt sie vorstellt, herangezogen werden, zumal der Leviathan für Schmitt, wie sich gezeigt hat, weit mehr als ein beliebiges Bild darstellt. Die Flutung des Kopfes bedeutet für Schmitt nicht nur das Ende des monarchischen Herrschaftsprinzips, an dessen Stelle – nach einem Wort Gottfried Kellers – nun ein „vielköpfige[r] Souverain“108 tritt. Auch die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die Schmitt auf die eindeutige Scheidung von Soldat und Privatbürger zurückführt, wird damit aufgeweicht. Die sich im Kollektiv abhebenden Konturen – sei es nun das Antlitz Napoleons oder Lenins – entbergen die Figur des Partisanen, indem sie sie verbergen. Die Aufhebung der Trennung von Bürger und Soldat bereitet sich Schmitts Darstellung zufolge mit der Französischen Revolution vor, die er deshalb auch als Rückschritt in eine präsouveräne Politik versteht. Am Anfang der Revolution steht auch tatsächlich die Wiedereinberufung der Generalstände, ein feudales Gremium, das der Absolutismus kaltgestellt hatte. Daraufhin deutet – so zumindest muss es sich Schmitt darstellen – der dritte Stand des Bürgertums, wenn er sich zur ganzen Nation erklärt, das präsouveräne Widerstandsrecht der Stände gegen eine tyrannische Herrschaft neu.109 Damit ist das Ende der Monarchie im Grunde schon besiegelt. Als weitere Konsequenz dieser Entwicklungen ist auch die levée en masse (1793) zu werten, die erste allgemeine Wehrpflicht in Frankreich. Nunmehr steht ein jeder Bürger potentiell in Waffen und ist damit auch ein potentieller Soldat. Das Wiederaufleben einer vor- oder zumindest frühmodernen Politik bricht sich im Laufe der revolutionären und napoleonischen Kriege, die nunmehr als Volkskriege zu bezeichnen seien, auch in anderen Ländern Europas Bahn; so in Spanien, wo sich, nachdem Napoleon seinem Bruder Joseph 1809 durch einen unblutigen coup d’état zum Thron verhalf, eine aus nicht-regulären Kämpfern zusammengesetzte Guerilla gegen die unrechtmäßige Fremdherrschaft erhebt. Ähnliches geschieht im bayrisch besetzten Tirol und später im mit Frankreich verbündeten Preußen. 106 107 108 109
Ebd. Ebd. S. 152. Gottfried Keller, Die Leute von Seldwyla, hg. v. Thomas Böning, Frankfurt a.M. 2006, S. 174. Siehe hierzu Emmanuel Joseph Sieyès, Was ist der dritte Stand?, hg. v. Otto Dann, Essen 1988, vor allem das erste Kapitel „Der Dritte Stand ist eine vollständige Nation“ (S. 30-34).
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Obwohl die spanischen Partisanen sich noch eindeutig präsouveräner Mittel bedienen, stellt Schmitt die Guerilla von 1809 an den Anfang einer Entwicklung, die in letzter Konsequenz zur Figur des (leninistischen) Weltrevolutionärs führt. Den „Ernst des Krieges“ (ThP, 91), den der Partisan im Vergleich mit den staatlichen Kriegen des ius publicum wiederherstellt, bereite nämlich Lenins Position vor, für den „der nach anerkannten Regeln verlaufende, gehegte Krieg des klassischen europäischen Völkerrechts […] als bloßes Spiel erscheinen“ (ThP, 56) musste. Trotz dieser Folgen sowie der irregulären und feudalen Strategien, derer sie sich bedienen, sieht Schmitt die Spanier allerdings noch klar „auf der Defensivseite der alten europäischen Kontinental-Staaten“ (ThP, 91). Damit unterscheiden sich ihre Ziele dann doch eindeutig von Lenins Inanspruchnahme des Partisanentums für „die kommunistische Revolution in allen Ländern der Welt“ (ThP, 54), die sich gerade auch und vor allem gegen eine staatliche Ordnung auflehnt. Weil Lenin den Partisanenkrieg überallhin tragen will, „kennt“ er auch „keine Hegung“ mehr und bewirkt „nicht weniger als die Sprengung der ganzen europa-zentrischen Welt.“ (ThP, 56-57) Den entscheidenden Schritt, der von der totalen Defensive des nichtstaatlichen Partisanen zur totalen Aggression des antistaatlichen Weltrevolutionärs führt, macht Schmitt in der Entwicklung einer „Theorie“ des Partisanen fest.110 Die ersten Versuche, eine solche Theorie zu formulieren und zu formalisieren, gehen auf die Gruppe der preußischen Reformer um Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz zurück. Der Ernstfall des Kriegs, den die spanische Guerilla wiederhergestellt habe, inspiriert in den Berliner Eliten ein Bündnis der Philosophie mit dem Partisanen. Mit der Philosophie im Bunde könne der Partisane „zum erstenmal in einer neuen, entscheidenden Rolle, als eine neue, bisher nicht anerkannte Figur des Weltgeistes“ (ThP, 51) auftreten. Auslöser dieser geschichtsphilosophischen Anerkennung des Partisanen sei auch in Preußen das feudale Widerstandsrecht, das exemplarisch Ludwig Yorck von Wartenburg für sich in Anspruch nimmt. General einer preußischen Division, die an der Seite der Franzosen am Russlandfeldzug teilnimmt, geht Yorck im Dezember 1812 zum Feind über. Anfang 1813 versucht er seinen eigenmächtigen Schritt in einem Brief an König Friedrich-Wilhelm III. zu rechtfertigen. Diesen Brief wertet Schmitt als erstes Dokument eines neuen Feindbegriffs, der die Feinderklärung des Souveräns grundsätzlich in Frage stellt. Zwar sei das Russische Reich – so schreibt der General seinem König – der „reguläre Feind“ (ThP, 89), der „wirkliche Feind“ (ebd.) aber sei der Kaiser der Franzosen. Obgleich er bereit ist, für seine Untreue mit dem Leben zu bezahlen – dass er sich die Entscheidung darüber „vorbehält, wer der ‚wirkliche Feind‘ ist, das gibt seinem Schreiben den eigentlichen, tragischen und rebellischen Sinn.“ (ThP, 90) Dieser neue Feindbegriff ebnet nicht nur den Unterschied von Soldat und Zivilist ein, sondern auch denjenigen von Souverän und 110 Für eine systematische Interpretation von Schmitts Theorie des Partisanen siehe auch Marcus Llanque, „Ein Träger des Politischen nach dem Ende der Staatlichkeit. Der Partisan in Carl Schmitts politischer Theorie“, in: Herfried Münkler (Hg.), Der Partisan. Theorie, Strategie, Gestalt, Opladen 1990, S. 61-80.
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Untertan. Als eine seiner wichtigsten Folgen erweist sich somit das Landsturmedikt vom folgenden April. Wenn Friedrich-Wilhelm III. darin seine Untertanen zur totalen Verteidigung des Lands aufruft, unterwirft sich nämlich der Souverän der Vorstellung eines nicht mehr konventionellen, sondern wirklichen Feindes. Für noch wichtiger als das kurzlebige Landsturmedikt erachtet Schmitt daher die damit verbriefte Legitimierung des Partisanentums von höchster Seite her, dank welcher der Partisan, wenngleich nur vorübergehend, zum „preußische[n] Ideal“ (ThP, 45) avancieren konnte. Im Hintergrund dieser Legitimierung stehen für Schmitt allerdings – und hier beginnt sich die Theoretisierung des Partisanen bereits vom spanischen Vorbild abzulösen – nicht mehr „der Widerstandswille eines tapferen, kriegerischen Volkes“ (ThP, 51), sondern die Bemühungen der Berliner „Bildung und Intelligenz“ (ebd.), die es ermöglicht hat, dass der Partisanenkrieg vom Souverän höchstpersönlich abgesegnet wurde, und den Partisanen dann auch, „wenn ich so sagen darf, philosophisch akkreditiert und hoffähig gemacht“ (ThP, 51) hat. Eine solche „Legitimierung auf philosophischer Basis“ (ThP, 51) formuliert zu haben, unterstellt Schmitt in erster Linie der Geschichtsphilosophie des späteren preußischen Staatsphilosophen Hegel. Die Hegel’sche Philosophie liefere nämlich, obgleich sie sich um eine Apotheose des Staates mühe, „der weitertreibenden Revolution eine gefährliche ideologische Waffe“ (ThP, 52). Schmitt denkt hier wohl zunächst an die Revolutionsdialektik der Phänomenologie des Geistes, welche die „Welt des sichentfremdeten Geistes“111 zugleich unendlich radikalisieren und überwinden soll.112 Damit konzipiert Hegel die Französische Revolution als entscheidenden historischen Umschlagspunkt, an dem sich Bildung, Aufklärung und Säkularisierung gegen das Ancien Régime wenden, aus dem sie hervorgegangen sind. Diese Entfremdung von der eigenen historischen Herkunft erweist sich allerdings nicht als glatter Bruch, sondern als Stadium eines notwendigen Bildungsprozesses, den Hegel letztlich als Leistung und Fortschritt des Menschen und der Menschheit begrüßt. (So können Entfremdung und Bildung sogar zu Synonymen werden.) Zunächst jedoch führt die absolute Freiheit des Menschen, die sich in dem Machtvakuum nach dem Zusammenbruch des alten Regimes entfaltet, zu einem tödlichen Machtkampf von sich selbst absolut setzenden Faktionen. In diesem Machtkampf desintegrieren sich Staat und Gesellschaft, weil die restlose Vernichtung der gegnerischen Faktionen, so Hegel weiter, durch eine Kriminalisierung legitimiert wird, deren Radikalität eine Amnestie undenkbar macht. In dieser Parteien-Logik gegenseitiger Kriminalisierung sieht Schmitt – übrigens in überraschender Parallele zu Hannah Arendt113 – einen Vorboten des Totalitarismus. In der Theorie des Partisanen heißt es dazu: „In der umfangreichen Diskussion über den sogenannten totalen Staat ist noch nicht recht zum Bewußtsein gekommen, daß heute nicht der Staat
111 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 323. 112 Siehe ebd., S. 385-394. 113 Diese Kritik an der (vor allem revolutionären) Partei und deren Unterschied zum Rat wird formuliert in Hannah Arendt, On Revolution, New York u. London 2006, S. 263.
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als solcher, sondern die revolutionäre Partei als solche die eigentliche und im Grunde einzige totalitäre Organisation darstellt“. (ThP, 21-22) Im Hintergrund der Hegel’schen Kritik an der revolutionären Faktion steht die Terrorherrschaft der Jahre 1793-1794, die zunächst von Robespierre angeführt wurde und der er schließlich selbst zum Opfer fiel. Dass sich damit das Sprichwort von einer Revolution, die ihre Kinder frisst, bewahrheitet, führt Hegel auf die Bedeutungslosigkeit des Einzeltodes zurück. Selbst die Enthauptung der Eliten sei „ohne mehr Bedeutung, als das Durchhauen eines Kohlhaupts“.114 Indem die Schreckensherrschaft damit auch das personale Herrschaftsprinzip überwindet, erweist sie sich schließlich als notwendiger Schritt hin zu einem anonymen Kollektiv, das die Entfremdung des Menschen, so Hegels Überzeugung, überwunden haben wird. Deshalb könne die moralische Weltanschauung, durch die sich diese nach-revolutionäre Gemeinschaft auszeichne, „das Böse“115 verzeihen, das nötig wurde, damit sie sich bilden konnte. Der Zweck, ein kommendes Kollektiv zu schaffen, heiligt also auch die schrecklichen Mittel, derer sich der Weltgeist dafür bedienen muss. Diese Geste, die die Kriminalisierung des Feindes durch das utopische Ziel einer gesamtgesellschaftlichen Versöhnung rechtfertigt, ist das, was Schmitt als die „gefährliche ideologische Waffe“ (ThP, 52) der Hegel’schen Dialektik bezeichnet. Anders als Hegel sieht Schmitt die Französische Revolution nämlich nicht als einen Schritt zu einer „neuen revolutionär aufgeladenen [ ] Regularität“ (ThP, 91) des Kriegs, die die Staatenordnung Alteuropas hätte wiederherstellen und auf Dauer garantieren können. Vielmehr habe die Revolution von 1789 den unterirdischen „europäische[n] Bürgerkrieg“116 eingeläutet, der im Laufe des 19. Jahrhunderts immer wieder aus der Latenz trete. Schon 1919 kritisiert Schmitt im Rahmen seiner Abrechnung mit der Politischen Romantik dieses angeblich „revolutionäre Ferment“117 der Hegel’schen Philosophie. Was dort über „die grenzenlose Gemeinschaft“ bzw. „Gesellschaft“ gesagt wird, dass sie nämlich „alle sozialen und politischen Schranken beseitigt“,118 weitet die Schrift Land und Meer von der nur europäischen auf die (eurozentrisch-)globale Perspektive aus. Der 1942 veröffentlichte Text will erklärtermaßen den 247. Paragraphen der Hegel’schen Rechtsphilosophie „in ähnlicher Weise zur Entfaltung“ (LuM, 108) bringen, wie es Marx mit den vorhergehenden Paragraphen 243-246 getan habe.119 Der zu entfaltende Abschnitt findet sich an einer systematischen 114 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 390. 115 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 394-442 (den Abschnitt „Die Moralität“); besonders S. 415-442 (das Kapitel „Das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung“). 116 Schmitt, Donoso Cortés in gesamteuropäischer Interpretation, S. 7. 117 Carl Schmitt, Politische Romantik [1919], Berlin 1998, S. 74. 118 Ebd., S. 71. Schmitt hält sich hier also nicht an die von Tönnies eingeführte und von Plessner aufgenommene Entgegensetzung von Gesellschaft und Gemeinschaft. Siehe hierzu Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1988, sowie Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a.M. 2002. 119 Auch Axelos wird in einer neuerlichen Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum planetarischen Denken sehen. Siehe Kostas Axelos, Vers la pensée planétaire. Le devenir-pensée du monde et le devenir-monde de la pensée, Paris 1964, S. 288.
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Nahtstelle von Hegels Untersuchung der „bürgerlichen Gesellschaft“, die den Übergang zum abschließenden Teil über den „Staat“ vorbereiten soll. In dieser Wendung von Gesellschaft zu Staat soll sich aber nicht nur eine Textbewegung artikulieren, sondern auch eine zugleich geschichtliche und systematische Bewegung widerspiegeln, die die Gesellschaft im Staat aufhebt. Vorbereitet wird diese Aufhebung der Gesellschaft im Staat allerdings durch einen entgegengesetzten Übergang von der Polizei, d.h. der öffentlichen Ordnung, zur Korporation, d.h. der privatwirtschaftlichen Körperschaft. An genau dieser Stelle führt Hegel das Meer als das „belebende natürliche Element“ der „Industrie“ und als „das größte Bildungsmittel“ ein, das dem „Festwerden an der Erdscholle“ entgegenwirken solle.120 Indem er damit allerdings – und das ist Schmitts Kritikpunkt – auch die Scholle auflöst, entzieht er sich zugleich den „Boden“, auf dem sich der zukünftige Staat allein erheben könnte, wenn er denn ein Staat sein soll.121 Was sich so geschichtsphilosophisch abzeichnet, ist Schmitt zufolge nicht nur die Auflösung des staatlichen Bodens, sondern zugleich auch das Ende einer von Europa beherrschten Welt. Die Folge dieses Zusammenbruchs von Europa als einem Ordnung gebenden Kap sei ein totaler (Parteien-)Krieg, der in nicht einzudämmenden kritischen Räumen ausgefochten werde.122 Schon die ständisch-korporative und somit letztlich feudalistische Ordnung des Hegel’schen Staats kann ihren ‚Stand‘ nicht im neuzeitlichen theatrum publici iuris nehmen, vielmehr verlegt sie sich auf eine Strategie, die gegenwärtige Maßnahmen durch zukünftige – utopische – Ziele rechtfertigt. In dieser Strategie schlägt sich für Schmitt eine Verzeitlichung der Utopie nieder123, die das aus der europäischen Binnenpolitik ausgeschlossene präsouveräne Widerstandsrecht als ein anti- und postsouveränes Standnehmen in der Zukunft wiederkehren lässt. Damit wird die „Möglichkeit einer ungeheuerlichen Aufhebung aller Ortungen, auf denen der alte Nomos der Erde beruhte“ (NdE, 149), verwirklicht, die Schmitt bezeichnenderweise gerade mit der Prägung des „Kunstwort[s] Utopia“ (ebd.) im vormodernen England in Zusammenhang bringt. Aber erst die Verbindung mit der Geschichtsphilosophie lässt die Utopie nicht nur wie bei Thomas Moore als kritisches Gegenmodell zur bestehenden Ordnung figurieren, sondern als notwendige Zukunft erscheinen, der die Gegenwart – das konkrete „Hier und Jetzt“ 124, von dem schon in der Politischen Romantik die Rede ist – geopfert werden müsse. Für Schmitt leistet die Verlegung der Utopie aus einer fernen Gegenwelt in eine ersehnte Zukunft einer entscheidenden Wandlung der Politik Vorschub, die nun in ein „rein und offen 120 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970, § 247. 121 Ebd., § 250. 122 Vgl. hierzu Virilio, „Der kritische Raum“. 123 Siehe hierzu auch Reinhart Koselleck, „Die Verzeitlichung der Utopie“, in: Wilhelm Voßkamp (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1985, Bd. 3, S. 1-14. 124 Schmitt, Politische Romantik, S. 81.
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nichts als technische[s] Zeitalter[ ]“125 tritt. Wichtiger noch als die industrielle Revolution sei dabei, dass auch die Politik selbst nur noch als Instrument fungiere, das fortan allen Zwecken dienen könne. Gleich der Technik überhaupt, deren neutralen Charakter Schmitt in Abrede stellt, zerstört die Politik fortan jede Möglichkeit von Neutralität.126 In der Folge wird gerade das Partisanentum zu einem besonders effektiven Instrument, dessen „man sich ohne Dogmatismus oder vorgefaßte Prinzipien ebenso bedient, wie man sich anderer, legaler oder illegaler, friedlicher oder gewaltsamer, regulärer oder irregulärer Mittel und Methoden je nach Lage der Sache bedienen muß.“ (ThP, 54) Zu einer gleichgültigen Waffe geworden, könne der Partisan von allen politischen Lagern in Anspruch genommen werden, so dass die Herausforderungen der Zukunft für Schmitt auch nicht eine Wahl zwischen der politischen Linken oder Rechten impliziert. Auf Schmitts Vorstellung, dass die von den USA beherrschte und vom Liberalismus geprägte westliche Hemisphäre in einem Konflikt von Isolation und Intervention befangen sei, wurde schon hingewiesen. Die PartisanenSchrift zeigt nun, dass er diesen Konflikt auch in der östlichen, kommunistisch geprägten Hemisphäre feststellt, die zwischen einem weltrevolutionären Anspruch und dem Modell des Sozialismus in einem Land schwankt. Nur dies kann erklären, warum hier Mao Tse-Tung zu einem der Gewährsmänner der „pluralistische[n] Vorstellung eines neuen Nomos der Erde“ (ThP, 62) werden kann. Anders als Lenin verschreibe sich Mao – wie Schmitt anhand eines Mao-Gedichts belegen will – nämlich nicht der Vorstellung „einer One World, einer politischen Einheit der Erde und ihrer Menschheit.“ (ThP, 62) Als Teil „der chinesisch-asiatischen Defensive gegen den kapitalistischen Kolonialismus“ kämpfe auch er vielmehr für eine „Mehrzahl von Großräumen, die in sich selbst und untereinander vernünftig ausbalanciert sind.“ (ThP, 62) Schmitt lehnt also nicht den Kommunismus selbst ab, sondern Forderungen nach einer Weltgesellschaft (bzw. einem Weltstaat). Vorstellungen von einem Staat, der den gesamten Planeten umspannt, sind für Schmitt gleichbedeutend mit der Aufhebung des Staatsmodells, das sich immer von seinen vor allem territorialen Grenzen her definiert habe. Damit werde auch der von Hegel behauptete Gegensatz von Staat und Gesellschaft obsolet, was sich bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts angekündigt habe, als der Staat zunehmend als bloße Form der „Selbstorganisation der Gesellschaft“127 begriffen wurde. Man könnte also sagen, dass das 19. Jahrhundert dem Dialektiker Hegel zum Sieg über den Staatsphilosophen Hegel geführt habe. Die Verabschiedung der Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft wertet Schmitt als den entscheidenden Schritt auf dem Weg zum totalen Staat (der eigentlich eine totale Partei sei), weil so „alle sozialen und wirtschaftlichen Probleme unmittelbar staatliche Probleme“128 werden, womit ein Eingreifen des Staates in alle Bereiche der Gesellschaft erforder125 126 127 128
Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes [1938], S. 124. Vgl. hierzu Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 90. Schmitt, „Die Wendung zum totalen Staat“, S. 151. Ebd.
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lich wird. Diese Totalisierung der Politik löst im Gegenzug den Staat auf, weil die sozialen Konflikte ungefiltert in die Politik eindringen, und zwar bis in die Grundlagen des staatlichen Lebens hinein, so dass selbst der „Boden der Verfassung in ein unsicheres, von mehreren Seiten umkämpftes Terrain verwandelt“129 wird. Damit wird das Wort ‚Staat‘ zu einer Kategorie, die von allen Parteien usurpiert werden kann, etwa wenn Jünger sich den Ausdruck aneignet, um damit die zukünftige Ordnung des Planeten zu charakterisieren: „Wenn wir die planetarische Ordnung den Weltstaat nennen, so ist das ein Name ohne Inhalt, denn es ist vorauszusehen, daß er mit den historischen Staaten wenig gemeinsam haben wird.“130 Dass der Staat zum Instrument einer sich selbst organisierenden Gesellschaft wird, bedeutet für Schmitt sodann auch eine „Zertrümmerung sozialer Strukturen“ (ThP, 75),131 was sich sogar im Parlament zeigen soll, das die revolutionären gesellschaftlichen Spannungen nur scheinbar domestiziere. Das Parlament verwandele sich dabei nur in einen weiteren, wenn auch privilegierten ‚kritischen Raum‘, in dem die Auseinandersetzungen im Zeichen eines sich erneut verwandelnden Feindbegriffs stünden. Was Schmitt am Gesetzgebungsstaat des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kritisiert, ist die durch ihn gebotene Möglichkeit, dass sich eine Partei mit legalen Mitteln an die Macht putschen und alle anderen Parteien für illegal erklären kann.132 Da der Partisan für Schmitt (wie zuvor für Clausewitz) nicht nur etymologisch, sondern auch in der Sache als ‚Parteigänger‘ gilt, kann man eine Brücke von dieser Kritik am Parlamentarismus, die Schmitt vor allem in den 1920er Jahren formuliert, zu seiner Auseinandersetzung mit dem Totalitären in den 1930er Jahren und späteren Ansätzen zu einem planetarischen Denken schlagen. Während der Pluralismus der Großraumordnung, für den sich Schmitt stark macht, bei dem „Sinn und Begriff des wirklichen Feindes“ (ThP, 90) verharrt, gegen den man sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zur Wehr setzen müsse, erklärt der Universalismus einer planetarischen Einheit seine Gegnerschaft zum „absoluten Feind“ (ebd.), den es überall anzugreifen und zu vernichten gelte. Die Lösung der auch parlamentarischen Problematik einer sich selbst absolut setzenden Partei, die alle anderen Parteien für illegal erklärt, sucht Schmitt nicht im Minderheitenschutz, sondern in einer Externalisierung des politischen Pluralismus in Großräumen. Hinter Schmitts Bekenntnis zu einem Pluralismus, der vom innenpolitischen auf das internationale Parkett verschoben wurde, steht seine Überzeugung, dass der historisch entstandene „Pluralismus von Legalitätsbegriffen“133 eine gesamt-planetarische Ordnung unmöglich macht, sondern im Gegenteil den Machtkampf um 129 Ebd., S. 156-157. 130 Jünger, Werke, Bd. 6, S. 653. 131 Vgl. zu dieser „desinkorporierten Gesellschaft“ auch Susanne Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, München 2004, S. 203. Den Versuch einer rein immanenten Neu-Inkorporation, wie er in Schmitts Großraumdenken vorliegt, wertet Lüdemann als „à la limite totalitär“ (S. 202). 132 Schmitt, „Die Wendung zum totalen Staat“, S. 156-157. 133 Ebd.
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den Planeten in die Machtzentren der Politik einwandern lässt. Auch der Parlamentarismus ist somit für Schmitt an der Entfesselung eines Leviathan beteiligt, dessen Dezisionismus – sobald sich alle Faktionen zum Kopf erheben können – keine Schranken mehr kennt. In dieser hybriden Figur eines vielköpfigen und unfasslichen Meeresungeheuers, in dem sich der Dezisionismus des souveränen Staats mit dem Erwählungsbewusstsein wirtschaftlich-gesellschaftlicher Eliten verbindet, amalgamieren die Säkularisate von Land und Meer. War es zuvor sowohl auf dem Land als auch auf dem Meer gleichgültig, welcher Konfession die Bürger (eines Staates) bzw. die Eliten (des Weltmarktes) angehörten, so ist es fortan gleichgültig, welchen politisch-ökonomischen Zielen sich die weltpolitisch und -ökonomisch agierenden Eliten verschreiben.134 Dies ist der Einbruch, um den es Schmitt in seinen Texten zum Leviathan, zum Hamlet sowie zur Theorie des Partisanen geht. Die total mobilisierten Eliten setzen – ganz gleich welcher politischen Couleur sie auch seien – eine Umbesetzung der oben genannten drei Prinzipien ins Werk, die die territorialstaatliche Souveränität der europäischen Festlandordnung begründet hatten. Wo diese durch die miteinander zusammenhängenden Prinzipien einer staatlichen Souveränität, eines öffentlichen Raums und einer rechtsstaatlichen Ordnung charakterisiert wurde, wird die Erde fortan vom entfesselten Dezisionismus von Eliten bestimmt, die von ortsungebundenen Zentralen aus operieren und deren Setzungen sich auf einen „utopischen Plan-Charakter“ (NdE, 37) beschränken. Weil hier der politische Kurs der gesamten Erde auf dem Spiel steht, hat sich der Leviathan bereits in das gewandelt, was Virilio als „Planeten-Maschine“135 bezeichnen wird, auf der die Mächte um die totale Herrschaft ringen. Gegen diese deterritorialisierende Umbesetzung, die auf den ‚Einbruch‘ einer utopischen ‚Zeit‘ zurückgeht und deshalb dem geschuldet ist, was man ‚ZukunftsNahme‘ nennen könnte, wird Schmitt eine reterritorialisierende Umbesetzung ins Spiel bringen, die den (katechontischen, aber nicht konservativen) Feindbegriff eines Yorck und Mao gegen die universalistischen Tendenzen der Feindschaft im 19. und 20. Jahrhundert mobilisiert.
134 Vgl. hierzu Schmitt, „Nehmen / Teilen / Weiden“, S. 495-496. 135 Virilio, Geschwindigkeit und Politik, S. 23.
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3. Katechontisches gegen Weltrevolutionäres Partisanentum 3.1 Die Zukunfts-Nahme Schon in Politische Romantik (1919) konstatiert Schmitt, dass die Zeit um 1800 einen Wendepunkt des politischen Denkens darstellt, weil „die Zeit als Geschichte eine schöpferische Macht“ gewinnt.136 Ihre politische Sprengkraft entfaltet diese geschichtliche Zeit vor allem im Fortschrittsglauben der progressiven Kräfte, was nicht zuletzt auf Hegels geschichtsphilosophische Überhöhung des Vertrauens in zukunftsträchtige Zielsetzungen zurückzuführen ist, welche sich – dank der sich in Rechts- und Linkshegelianer spaltenden Hegel-Schule – den politischen Bewegungen des Marxismus und des Liberalismus gleichermaßen mitteilen konnte. Für Schmitt ist es aber ausschlaggebend, dass das im 19. Jahrhundert entstehende konservative Denken ebenfalls auf derselben Ebene wie die fortschrittlichen Kräfte argumentierte137, anstatt der Zeit als Geschichte eine andere, ähnlich machtvolle Konzeption entgegenzusetzen. Der einzige Unterschied sei dabei, dass der Konservatismus die entscheidende historische Entstehungsphase der Gesellschaft in die Vergangenheit verlegt, um damit den politisch-gesellschaftlichen status quo zu legitimieren,138 während die Revolutionäre der gestalteten Vergangenheit der Gesellschaft deren noch zu gestaltende Zukunft gegenüberstellen. Das Grundproblem ist für Schmitt also letztlich die Einführung einer zeitlichen Dimension in die Politik, die zuvor vor allem räumlich ausgerichtet war. Mit der Geschichte, zumal der geschichtsphilosophisch unterfütterten, gerät ein ganz neu strukturierter Bereich in den Blick der Nahme. Fortan geht es nämlich nicht mehr nur darum, bestimmte Gebiete für sich in Anspruch zu nehmen oder zu okkupieren, sondern darum, einen Anspruch auf die Deutung der Vergangenheit und die Vorwegnahme der Zukunft zu erheben. Dabei steht die Deutung der Vergangenheit durchweg unter dem Blickwinkel der vorweggenommenen Zukunft, für die die Vergangenheit zur Requisitenkammer wird, aus der man, wie Marx’ BrumaireSchrift eindrucksvoll vorführt, Masken und Kostüme strategisch auswählen kann.139 Damit bricht aber auch genau das spielerische Element in die Zeit ein, das Jünger einem Brief an Schmitt zufolge „fesselt“140, so dass der Einbruch der Zeit geschichtsphilosophischer Utopien in das Spiel auf der europäischen Politbühne einen Einbruch des Spiels in die Zeit impliziert. Inzwischen kann Schmitts Kritik am u-topischen Charakter von Jüngers Modellen planetarischer (Um-)Gestaltung deutlicher konturiert werden: Auch Jüngers ArbeiterSchmitt, Politische Romantik, S. 73. Siehe ebd., S. 71-72. Siehe ebd., S. 67. Siehe Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, hg. v. Hauke Brunkhorst, Frankfurt a.M. 2007, S. 9-10. 140 Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930-1983, S. 309. 136 137 138 139
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Kollektive können keine neuerliche Ortung der Ordnung leisten, weil sie keinen Stand im Hier und Jetzt nehmen, sondern auf eine „Neue Welt mit einem Neuen Menschen“ (ThP, 80) vorausweisen.141 Die Gefahr, die einer solchen Perspektive innewohnt, ist, dass alle diejenigen, die nicht für diese kommende Welt eines kommenden Menschen kämpfen, zum absoluten Feind erklärt werden, den es moralisch wie physisch im Interesse der Zukunft zu vernichten gilt. Bei Jünger verabsolutieren und ‚planetarisieren‘ sich somit „die Beseitigung jedes Widerstandsrechts und das ,große Recht‘ auf unbedingten Gehorsam“142, die zuvor vom personalen Souverän des 17. und 18. Jahrhunderts auf den kollektiven Souverän des 19. Jahrhunderts (die Volksvertretung) übergegangen sind.
Jüngers planetarisches Schreiben verfällt daher für Schmitt – obwohl es sich entschieden „jenseits der Theorien, jenseits der Parteiungen, jenseits der Vorurteile“ halten will143 – der Dynamik einer sich durch künftigen Erfolg ausweisenden Faktion. Dazu passt, dass Jünger in seinem Schreiben gewissermaßen den Weg von Yorck und Clausewitz zu Lenin zurückgelegt hat, den Schmitt in der Theorie des Partisanen nachzeichnet: Er beginnt als Soldat eines Nationalstaats, der im Zusammenbruch der Frontlinien, die Freund und Feind trennen, versucht, feudale Prinzipien im modernen Kriegsgeschehen wiederzubeleben.144 Weil sich eine neuerliche Hegung der um sich greifenden Konflikte in einer nationalistischen Ordnung allerdings als unmöglich erweist, zeigt sich Jünger spätestens mit dem Arbeiter (1932) als Fürsprecher einer international operierenden Arbeiter-Avantgarde, für die er eine gesamt-planetarische Herrschaft beansprucht. Die hybride Übergangsfigur von Nationalismus zu Internationalismus bildet – gleichsam als missing link der Schmitt’schen Geschichte der Partisanen-Theorie zwischen Berlin und Petrograd – der „preußische[ ] Anarchist“145 aus der Erstfassung des Abenteuerlichen Herzens. Jüngers Nachkriegsroman Heliopolis schließlich gewinnt mit der Einsetzung eines Regenten im Erdorbit sogar eine über den Planeten erhobene Perspektive, die die gesamte Planeten-Maschine zu überwachen und zu steuern vorgibt, zugleich aber sich selbst unsichtbar macht, indem sie ihre Position in eine Zukunft verlegt, die der Text zwar präfiguriert, aber nicht einholt. Was Jünger auf diese Weise textlich umsetzt, kann man – in Anlehnung an Schmitts Vorstellung einer jeder politischen Ordnung vorgängigen Nahme – als Zukunfts-Nahme bezeichnen. Gerechtfertigt ist diese Bezeichnung im Sinne von Schmitts Argumentation, weil die „Industrienahme des industriell-technischen
141 Nach Deleuze/Guattari gehört es zu jeder Philosophie dazu, „das zukünftige Volk und die neue Erde“ zu entwerfen. Dies mache „das konstitutive Verhältnis der Philosophie zur Nicht-Philosophie“ aus. Gilles Deleuze u. Félix Guattari, Was ist Philosophie?, übers. v. Bernd Schwips u. Joseph Vogl, Frankfurt a.M. 2000, S. 127. 142 Schmitt, „Legalität und Legitimität“, S. 270. 143 Jünger, Werke, Bd. 6, S. 13. 144 Von einem solchen partisanenhaften Charakter von Jüngers Schreiben spricht auch Alexander Burkhardt, „Die Innenseite der Macht. Zum Partisanischen bei Ernst Jünger“, in: Herfried Münkler (Hg.), Der Partisan. Theorie, Strategie, Gestalt, Opladen 1990, S. 247-259. 145 Jünger, Werke, Bd. 7, S. 173.
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Zeitalters“146 und die folgende „Luft- und Raumnahme“147 nicht nur darin übereinkommen, dass sie den Raumsinn des Nomos der Erde zerstören, sondern vor allem auch darin, dass sie ihr Recht durch eine geschichtsphilosophische Konstruktion künftiger Ziele zu legitimieren suchen. Dabei wird, wie Schmitt betont, der Nahme-Charakter allerdings gerade verschleiert, weil die Vorwegnahme des telos „demjenigen, der auf der Seite der kommenden Dinge liegt, das große geschichtliche Recht“ zuspricht, das „zu nehmen, was er im Grunde schon hat“148: Hier ist der Punkt, an dem sich der Sozialismus mit der klassischen Nationalökonomie und ihrem Liberalismus trifft. Denn auch der gesellschaftswissenschaftliche und geschichtsphilosophische Kern des Liberalismus betrifft die Reihenfolge von Produzieren und Verteilen. Fortschritt und wirtschaftliche Freiheit bestehen darin, daß die Produktionskräfte frei werden und daß dadurch von selbst eine solche Steigerung der Produktion und der Masse der Konsumgüter eintritt, daß das Nehmen aufhört und sogar das Teilen kein selbständiges Problem mehr bedeutet.149
Einer solchen Strategie der Zukunfts-Nahme verschreibt sich auch Jüngers Arbeiter, wobei sein emphatisches Changieren zwischen Deskription und Aufforderung die Paradoxie einer Nahme dessen, was man im Grunde immer schon habe, geradezu ausstellt. Für Schmitt reiht sich Jüngers Arbeiter somit aber auch – neben dem leninistischen Weltrevolutionär und dem liberalen Kapitalisten – unter die säkularen Erben der Eliten des konfessionellen Bürgerkriegs ein, bei denen sich das religiöse Erwählungsbewusstsein in ein geschichtsphilosophisches Sendungsbewusstsein übersetzt hat. Diese neuen „Eliten konstruieren sich selbst und die von ihnen gelenkten Massen mit Hilfe geschichtsphilosophischer Sinngebungen“;150 die dafür aufgebotene „Massenpropaganda sucht ihre Evidenz in dem Nachweis, daß sie auf der Seite der kommenden Dinge liegt“.151 Die für Schmitt wichtigste Konsequenz dieser vorwegnehmenden Sinngebungen ist die Notwendigkeit, den Feind vor seiner tatsächlichen Vernichtung schon moralisch vernichtet zu haben. Für den sich damit legitimierenden „Welt- und Menschheitsimperialismus“ (VGr, 41) erweist sich der Gegner nicht nur als Feind der Zukunft, sondern sogar als Feind der Menschheit schlechthin. Wie sich ebenfalls exemplarisch in Jüngers Arbeiter-Essay zeigt, vermag eine solche absolute Feindschaft keine Rechtsordnung im Sinne Schmitts zu etablieren. Weil die Gestalt des Arbeiters kein Außen mehr zulässt, sondern immer nur (gleich dem Jünger’schen Nullmeridian, dessen Überquerung in eine unbekannte Zukunft führen soll) die Grenze zu einem solchen Außen beschreibt, perpetuiert Der Arbei146 147 148 149 150
Schmitt, „Nehmen / Teilen / Weiden“, S. 503. Ebd. Ebd., S. 499. Ebd., S. 495-6. Carl Schmitt, „Drei Möglichkeiten eines christlichen Geschichtsbildes“, in: Hans Blumenberg – Carl Schmitt. Briefwechsel 1971-1978, hg. v. Alexander Schmitz u. Marcel Lepper, Frankfurt a.M. 2007, S. 161-166, hier S. 161. 151 Ebd.
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ter, anstatt Recht zu setzen, den Ausnahmezustand als Grenzfall des Rechts. Modellen wie diesem wird Schmitt – in einer gleichfalls planetarischen Geste – entgegenhalten, dass die „Menschheit als solche […] keinen Feind“ hat, „wenigstens nicht auf diesem Planeten.“152 Daran könne auch der Versuch von Heliopolis, eine dem Planeten enthobene Satellitenposition zu erschreiben, nichts ändern. Vielmehr müsse Jünger, der die tatsächliche „Gestalt des Arbeiters“ bewusst für immer neue Fassungen offenlässt, daher auch die Gestalt des ihm entgegenstehenden Feinds durchweg im Unbestimmten belassen. Im Ausgriff in den Weltraum sieht Schmitt eine nur folgerichtige Wandlung vom „Industrie-Partisanen“ (ThP, 81) zum „Kosmopartisanen“ (ThP, 83). Die Unbestimmtheit des Feindbilds, das sich nicht ein für alle Mal formulieren lässt, hat eine nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich unbestimmte Ausweitung des Ausnahmezustands zur Folge, so dass darin die totalitäre Tendenz des Arbeiters zur Geltung kommt – zumindest, wenn man Hannah Arendts Begriff totaler Herrschaft anwendet. Totale Herrschaft setzt sich Arendt zufolge durch, indem sie ein komplexes, dezentrales Netz von Institutionen schafft, das es erlaubt, den Führerbefehl okkasionell umzusetzen.153 Seiner eigenen Intention nach ist dieses Netzwerk immer schon weltumspannend, vor allem aber lässt es kein gültiges Recht entstehen, sondern suspendiert im Gegenteil sogar das fundamentale Menschenrecht: das Recht auf die Zugehörigkeit zu einer Rechtsordnung.154 Zwar konstituiert sich die Führerfigur bei Jünger, wie gezeigt wurde, in einer Multitude, die Autor und Leser verschränkt, aber dieses Kollektiv soll gerade den dezentralen und weltumspannenden Charakter sich ständig neu formierender Netzwerke einrichten und in immer neuen Fassungen umsetzen. Ebendieser okkasionalistische Zug des Arbeiters ist es denn auch, der Gegenstand von Schmitts Kritik wird. Vom „Occasionalismus“, den der frühe Schmitt an der politischen Romantik kritisiert155, unterscheidet sich die „open-ended structure“156 eines Textes, die in sich in eine „open-plan fieldwork“157 übergeht, dabei lediglich durch die Ausklammerung des personalisierten Subjekts, nicht aber
152 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 54. 153 Siehe hierzu vor allem den Abschnitt über „The Decline of the Nation-State and the End of the Rights of Man“ in Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, New York 1951, S. 266-298, sowie die Aussagen über die „planned shapelessness“ (S. 385) des „[s]o-called totalitarian state“ (S. 378). Eine vergleichbare Definition einer total herrschenden ideologischen Orthodoxie, hier des ‚Diamat‘, findet sich bei Axelos, Vers la pensée planétaire, S. 181: „[O]n cultive cette ‚philosophie‘ en se référant toujours à une orthodoxie qui ne peut et ne doit jamais être définie et qui, pareille au juge de Kafka, pèse par son absence.“ 154 Arendt, The Origins of Totalitarianism, S. 439: „The concept of human rights can again be meaningful only if they are redefined as a right to the human condition itself“; dieses fundamentale Menschenrecht wird eingangs als „a new law of the earth whose validity must this time comprehend the whole of humanity“ bezeichnet (S. ix). 155 Schmitt, Politische Romantik, S. 18. 156 Gayatri Chakravorty Spivak, Death of a Discipline, New York 2003, S. 33. 157 Ebd., S. 35.
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durch die „allgemeine Ästhetisierung“158 der Politik. Jüngers Faszination am „Einbruch des Spieles in die Zeit“159 wie auch am Modell einer nicht auflösbaren Typologie von Präfigurationen schreibt sich sogar ganz entschieden von einer solchen Ästhetisierung her, in der, Schmitt zufolge, „die Hierarchie der geistigen Sphäre sich auflöst“.160 In der „Bewegung“ ohne „Zentrum“, die sich damit Bahn breche, versuchten die politischen Akteure aus der „Unklarheit ein Prinzip zu machen“.161 Auch Jünger – das ist wohl Schmitts schärfste Spitze gegen den ‚Freund‘ – bezieht durch seine Politik der ständigen Neufassung und präfigurativen Verschiebung eine solche sich selbst verschleiernde Position „ohne eigenen Entschluß, eigene Verantwortung und eigene Gefahr“.162 Wenn Schmitt diese Ästhetisierung der Politik – zunächst in der Politischen Romantik von 1919 und dann in seiner Heliopolis-Kritik von 1950163 – als eine Privatisierung kritisiert, dann ist Privatisierung als Gegenbegriff zu dem genuin Schmitt’schen Begriff von Politik zu verstehen. Das ‚Private‘ bedeutet für Schmitt hier nämlich so wenig eine Rückzugsmöglichkeit vor dem Totalitarismus, dass es vielleicht sogar als eine verschärfte Form des Totalitären zu gelten habe. Dass man den Jünger von Heliopolis – so ist kurz nach der Veröffentlichung des Romans in einer Rezension zu lesen, aus der Schmitt in einem Brief 10.01.1950 zitiert – als „längst privat geworden“164 bezeichnet, kann sich Schmitt nur auf eine Weise erklären: weil sich Jünger nicht zu klaren Entscheidungen über Freundschaft und Feindschaft bekennt und somit der Suspension von Recht und Rechtsraum, die den ideologischen Weltbürgerkrieg befeuere, Vorschub leistet. Folglich besiegele Jüngers Faszination am Einbruch des Spiels in die Zeit die deterritorialisierende Umbesetzung staatlicher Souveränität, die sich zuvor auf der öffentlichen, aber nicht ästhetischen Bühne des ius publicum artikuliert habe. Dagegen bietet Schmitt eine Alternative auf, die der Zerstörung des Hier und Jetzt mit einer erneuten räumlichen Fixierung entgegenwirken will.
Schmitt, Politische Romantik, S. 17. Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930-1983, S. 309. Schmitt, Politische Romantik, S. 17. Ebd., S. 10. Vor diesem Hintergrund klärt sich womöglich auch Agambens Derrida-Kritik. Wenn Agamben der Dekonstruktion vorwirft, die „Geltung ohne Bedeutung“ des Gesetzes zu bestätigen, so wiederholt er Schmitts Einwand gegen Jünger, er suspendiere das Recht zugunsten einer immer nur aufgeschobenen Figur, die es jeweils neu zu fassen gelte. Vgl. hierzu Agamben, Homo sacer, S. 64-65. 162 Schmitt, Politische Romantik, S. 165. 163 Siehe Jünger – Schmitt. Briefwechsel, S. 244. 164 Ebd., S. 245. 158 159 160 161
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3.2 Grenzen der „ununterbrochenen Fahrt“: Schmitts Großraum-Katechontik Gegen die Dezentralisierung und Deterritorialisierung der Netzwerke, die nun sogar die Macht über die Planeten-Maschine beanspruchen, stellt Schmitt schon 1939 eine Reterritorialisierung in Großräumen, die, wie bereits angedeutet wurde, allerdings auch eine Exterritorialisierung des bei Jünger immanenten Pluralismus bedeuten würde. Anders als Jünger (aber ähnlich wie Virilio) sieht Schmitt die Begegnungen in den kritischen Räumen eines alle Grenzen sprengenden Planeten unter ausschließlich negativen Vorzeichen. Aber auch er als Autor sieht sich einer Situation ausgesetzt, in der keine staatstragenden global players mehr möglich sind, sondern nur noch planetarische non-state actors. Wenn er also in den gefahrenträchtigen Räumen des planetarischen Denkens und Handelns intervenieren will, muss der Jurist (oder besser: der Legist), der nicht mehr für den Staat, sondern für den Großraum kämpft, sich gleichfalls Partisanentaktiken bedienen, nur dass diese nicht im Dienst des totalen Angriffs stehen, sondern sich einer totalen Verteidigung der Erde verschreiben. Obwohl sich Schmitt hierbei von der spanischen Guerilla und den maoistischen Antikolonialkriegen inspirieren lässt, ist der Partisan, der gegen den Weltrevolutionär opponiert, weniger eine autochthone als eine katechontische Figur, weil sie sich in erster Linie gegen die verwandelte Wiederkehr des religiösen Bürgerkriegs in den ideologischen Konflikten der post-globalen Ära wendet. Die Eschatologien einer von einem angeblich absoluten Feind befreiten Menschheit will Schmitt auf vergleichbare Weise aus dem politischen Raum ausgeschlossen wissen, wie die Theologie zu Beginn der Neuzeit aus der Politik ausgeschlossen wurde: silete eschatologi in munere planetario. Dafür propagiert Schmitt schon 1939 einen neuen „Zusammenhang von konkreter Ortung und Ordnung“ (VGr, 81), dessen Auflösung zum okkasionellen Dezisionismus mobiler Eliten führt. Im Laufe der 40er Jahre wird ihm immer deutlicher, dass die zwei Alternativen in einem katechontischen Isolationismus und einem weltrevolutionären Interventionismus bestehen. Der Umbesetzung der drei Strukturprinzipien in der utopischen Politik der Weltrevolution stellt er mit der „Verbindung von politisch erwachtem Volk, politischer Idee und politisch von dieser Idee beherrschtem, fremde Interventionen ausschließendem Großraum“ (VGr, 30) ein Gegenmodell entgegen, in dem sich (1) das politisierte Volk (und nicht die Elite) an die Stelle des Souveräns stellt, (2) der Großraum (und nicht die ortlose Zentrale) die Territorialität des Staates ablöst, und (3) die gesetzliche Ordnung sich – in einer platonischen Geste – in die politische Idee verwandelt (und nicht in ein Ensemble von Maßnahmen). Dass dieses Paradigma wie Jüngers Zukunfts-Nahmen auf einer Auseinandersetzung mit der Gestalttheorie fußt, zeigt sich insbesondere in Schmitts Überarbeitung der Großraum-Schrift für die vierte Auflage, die schon 1941 erscheint. Zu dieser Überarbeitung kaum zwei Jahre nach der Erstausgabe sieht sich Schmitt genötigt, weil die zentralen Begriffe des Textes zu einer Reihe von „Mißverständnissen und Mißdeutungen“ (VGr, 9) führten. Diese Missverständnisse betreffen aller-
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dings weniger Schmitts Versuch, die aggressive osteuropäische Politik des Deutschen Reichs, die direkt in den Zweiten Weltkrieg führt, völkerrechtlich zu legitimieren, als die Art, in der er dies versucht. So stoßen sich andere führende Juristen der NS-Zeit daran, dass Schmitt den Großraum völkerrechtlich – und nicht ‚völkisch‘165 – legitimiert. Reinhard Höhn und Werner Best etwa ist der GroßraumBegriff zu „unverbindlich und neutral“, weil er die „‚rassische Substanz und Dynamik‘“ vermissen lasse.166 Die von Schmitt gewählte Formulierung von einem „politisch erwachte[n] Volk“ (ThP, 30) trifft schließlich ebenso auf das französische Volk zur Zeit der Französischen Revolution zu. Potentiellen Missdeutungen setzt Schmitt sich aber schon mit der Wahl des Terminus Großraum selbst aus, der in der Diskussion um die Erweiterung Deutschlands nach Osten seit den 1920er Jahren eine zentrale, jedoch zutiefst doppeldeutige Rolle spielt, da er sowohl für isolationistische als auch für interventionistische Bestrebungen in Anspruch genommen wurde.167 Missverständlich bleibt außerdem der mit dem Großraum verbundene Reichs-Begriff, dessen historische Abwandlungen im antiken und mittelalterlichen Römischen Reich, im Britischen Empire und im nationalsozialistischen Deutschland sich gegen Schmitts Versuche einer Vereinheitlichung sperrten. Um seine Großraum-Idee zu verdeutlichen, fügt er seiner Schrift 1941 ein Kapitel über den „Raumbegriff in der Rechtswissenschaft“ an. Denn: „Ein neuer völkerrechtlicher Gedanke von weltpolitischer Tragweite ist immer der doppelten Gefahr ausgesetzt, auf der einen Seite zu einem hohlen Schlagwort aufgedröhnt, auf der anderen in absprecherischem Gemäkel zerredet zu werden.“ (VGr, 9)168 Das angefügte Kapitel beginnt mit einer Kritik am bisherigen abstrakten Raummodell der Rechtswissenschaft, führt jedoch nicht zum Modell eines ‚Lebensraums‘, sondern zu dem, was der Biologe und Arzt Viktor von Weizsäcker als „Leistungsraum“ bezeichnet hat. Da Weizsäcker die „Leistungen“ des biologischen Organismus unter dem Titel des „Gestaltkreises“ zusammenfasst, steht Schmitts politische Anverwandlung des Leistungsraums, wenn auch unausdrücklich, im Zeichen eines bestimmten Gestaltmodells. Zwar übernimmt Weizsäcker die zentralen Ansätze der Gestaltpsychologie, die die Unterschiede von Wirklichkeit und Täuschung hinterfragt, weil die sinnliche Wahrnehmung aktiv an der Schaffung der Gegenstände, die sie wahrnimmt, beteiligt sein soll; was den Gestaltkreis jedoch entschieden von der Gestalt der Gestaltpsychologie unterscheidet, ist seine 165 Im Jahre 1963 kritisiert Schmitt im neu geschriebenen Vorwort zu einer Neuauflage des Begriffs des Politischen die Parteien, die einer Rasse oder einer Klasse zur Macht verhelfen wollen. Siehe Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 12. Ausdrücklicher als in dieser Ablehnung der RassenIdeologie wird Schmitts Kritik am Nationalsozialismus allerdings nicht. 166 Die Kritik von Höhn und Best an Schmitt ist zusammengefasst in Bruckschwaiger, „Carl Schmitt am Rande des Großraums“, S. 213-215, die Zitate finden sich auf S. 214. 167 Vgl. dazu ebd., passim. 168 Wenn man Rüdiger Voigt Glauben schenkt, dann hat dieses Kapitel offenbar bis zum heutigen Tage nicht viel geholfen. Zumindest in den letzten Jahren gehört ‚Großraum‘, wie er bemängelt, zu den Schmitt’schen „Schlagwörtern“. Rüdiger Voigt, „Denken in Großräumen. Imperien, Großräume und Kernstaaten in der Weltordnung des 21. Jahrhunderts“, in: ders. (Hg.), Großraum-Denken. Carl Schmitts Kategorie der Großraumordnung, Stuttgart 2008, S. 27-55, hier S. 33.
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Bindung an einen bestimmbaren Ort: „[D]ie Leistung bestimmt zuerst ein gleichsam punktförmiges Hier, von diesem aus die Befindlichkeiten der Dinge um es herum“.169 Von dieser Besonderheit der Leistung – dass sie den Leistungsraum, den sie schafft, auf einen bestimmten Punkt bezieht – ausgehend, entfaltet Schmitt einen neuen politisch-rechtlichen Raumbegriff. Das bislang gültige Raumbild einer abstrakten Dreidimensionalität erscheint nämlich aus Weizsäckers Perspektive als ein letztes Derivat des sich konstituierenden Leistungsraums: „Der mathematische Raum, in dem etwas ist, wäre das Letzte, der Ort Hier das Erste in der durch Bewegung gestalteten Genese.“ (G, 150) Wenn Schmitt betont, dass es erst diese Einsicht in die Herkunft von Räumen ist, die das naturwissenschaftliche Raumbild verabschiedet, dann bedeutet das auch eine Absage an die Geopolitik. Wo diese nur davon ausgeht, dass das Leben Räume bewältigen müsse,170 versucht Weizsäcker nämlich nachzuweisen, dass der Raum (wie im Übrigen auch die Zeit) durch die Bewegungen von Lebewesen überhaupt erst hervorgebracht wird. Von dieser Vorstellung verspricht sich Schmitt die Möglichkeit, „raumzeitliche Ordnungen“ (VGr, 80) in Bezug zu setzen zu „einer aktuellen Situation, einem Ereignis“ (ebd.), womit sich der „Zusammenhang von konkreter Ortung und Ordnung“ (VGr, 81) erneuern würde. Die Implikationen eines solchen neugestifteten Nexus von Ortung und Ordnung sind weitreichend. Hier ist vor allem von Interesse, dass damit die Möglichkeit einer Position, die dem Gestaltkreis enthoben wäre und ihn von außen beobachten könnte, radikal ausgeschlossen ist. Wenn Weizsäcker behauptet, eine jede Beobachtung wie eine jede Handlung bringe einen Leistungsraum ausgehend von einem punktförmigen Hier hervor, so geht er entschieden weiter als Ehrenfels oder Wertheimer. Anstatt nur generell anzunehmen, dass der Wahrnehmende an der Konstitution von Wahrnehmungen produktiv beteiligt ist, untergräbt diese These für Weizsäcker jede Möglichkeit von Objektivität. Nicht einmal der Wissenschaftler vermöge es, eine objektive Distanz zu den von ihm untersuchten Phänomenen einzunehmen. Das geht so weit, dass Weizsäcker die Gegensätze des Organismus und der Umwelt und die von Subjekt und Objekt radikal in Frage stellt. Diese Gegensätze sind, so Weizsäckers Schlussfolgerung, nicht gegeben, sondern müssen erst – und zwar in jeder konkreten Situation erneut – durch eine Entscheidung hervorgebracht werden: „Die Trennungslinie von Ich und Es (= Gegenstand) ist also jedenfalls nicht präformiert, und ihre Entscheidung ist selbst ein neuer biologischer Akt“. (G, 121) Schließlich wird der gesamte „Lebensvorgang“ (G, 146) zu einer „Entscheidung“ (ebd.), in der sich eine stets nur „relativistisch geordnete 169 Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, Stuttgart 1947, S. 150. Zitate aus Der Gestaltkreis werden fortan im laufenden Text unter Angabe der Sigle G sowie der Seitenzahlen nachgewiesen. 170 Den Gedanken der geopolitischen „Raumbewältigung“ übernimmt Schmitt von Friedrich Ratzel, den er in diesem Zusammenhang auch zitiert (VGr, 79); siehe Friedrich Ratzel, Der Lebensraum. Eine biogeographische Studie, Tübingen 1901, S. 12. Vergleichbares findet sich bei Karl Haushofer, Raumüberwindende Mächte, Leipzig 1934.
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Formbeziehung zwischen einem Organismus und seiner Umgebung“ (G, 134) gestaltet. Eine solche „paritätische Begegnung von Ich und Gegenstand“ (G, 121) zeichnet noch die Erfahrung des Theoretikers aus, der keinen „erhöhten Ort“ (G, 187) gewinnen kann, der es gestatten würde, „aus der Vogelperspektive die Komposition aller Akte zu überschauen“ (ebd.). So erlaubt die Gestaltkreis-Theorie Schmitt zu bestreiten, dass eine Gestalt die Satellitenperspektive von Heliopolis in Aussicht stellen könnte, geschweige denn diese selbst einzunehmen vermöchte. Die Möglichkeit einer „Vogelperspektive“ (G, 187) ist bei Weizsäcker so nachdrücklich ausgeschlossen, dass jede „Prolepsis“ (G, 145), inklusive der wissenschaftlichen, sich mit „eine[r] noch unentschiedene[n] Zukunft“ (ebd.) konfrontiert sieht, was auch eine Teleopoiesis, die „eine künftige Vorherrschaft der deutenden Entscheidung“171 vorwegnimmt, unmöglich macht. Schmitt benutzt also Weizsäckers Gestaltkreis-Theorie, um die Gestalt, die bei Jünger ins All ausgreift, entschieden auf die Erde zurückzuholen, wo die „Erdbodenkriecher“172 wohnen. Denn die erste unhintergehbare Leistung der „Erdenbewohner“ (G, 148) ist für Weizsäcker die „Einordnung in das Kraftfeld der Erde“ (ebd.), die es erlaube, auf der sich bewegenden Erde das Gleichgewicht zu halten. Das irreduzible „Hier“ (G, 150), das den „Ort der Begegnung von Organismus und Umwelt“ (G, 146) darstellt, bestimmt sich demnach aus dem „Grundverhältnis“ (G, 194) der Entscheidung – sei dies eine Wahrnehmung, eine Bewegung oder eine (wissenschaftliche) Aussage – für die Erde als einen „unobjektivierbaren Grund“ (ebd.). Die Vorstellung einer radikalen Alterität des Planeten, die auf Spivaks Überlegungen zum Planetarischen als der sich strukturell entziehenden Grundlage des Lebens173 vorausweist, plausibilisiert Weizsäcker gleich zu Beginn des Buchs, indem er den Bezug der Lebewesen zur Erde – in einer offenbar für Schmitt wegweisenden Form – auf den Bezug von Schiffern zum Schiff verschiebt: „Aristoteles unterscheidet die dem Schiffer vom Schiff mitgeteilte Bewegung von seiner, des Schiffers, Selbstbewegung.“ (G, 1) Dieses pars pro toto kehrt im caveat lector wieder, das Schmitt dem Jünger-Motto der vierten Auflage seiner Großraum-Schrift voranstellt. In seinen Nachkriegs-Befürchtungen, die Erde könnte als Ganze zu einem „Flugzeugträger“ (NdE, 20) werden, wächst es sich dann zum totum der PlanetenMaschine selbst aus. Die neuzeitliche Fahrt auf dem offenen Weltmeer, die für Schmitt zur Urszene der Vorstellung eines leeren (Welt-)Raums wird (vgl. LuM, 64-65, 72), weitet sich mit dem Eintritt in die planetarische Ära zu einer irrenden Fahrt der – einem Jünger-Wort zufolge – zum „Mutterschiff“174 gewordenen Erde durch den unermesslichen Weltraum aus. Dass die gesamte Menschheit derart ‚in einem Boot sitzt‘, bedeutet allerdings weder für Weizsäcker noch für Schmitt, dass 171 Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, übers. v. Stefan Lorenzer, Frankfurt a.M. 2000, S. 58. 172 So in einem Brief vom 6.11.1938, abgedruckt in Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930-1983, S. 79. 173 Spivak, Death of a Discipline, S. 72. 174 Jünger, Werke, Bd. 6, S. 651.
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sie sich auch politisch vereinigen müsste. Vielmehr soll das Aristoteles-Beispiel den Unterschied zwischen der Bewegung des Schiffes und derjenigen der Schiffer betonen. So mögen zwar Schmitt und Jünger im selben (planetarischen) Boot sitzen, können aber trotzdem ganz unterschiedliche Schiffer sein. Der Weizsäcker’sche Leistungsraum erlaubt es Schmitt nämlich selbst dann, wenn die Erde durch den „planetarischen Prozess[ ]“175 von Technik und Industrie tatsächlich nurmehr ein ausdehnungsloser Punkt ist, an diesem Punkt als dem „punktförmige[n] Hier“ (G, 150) festzuhalten, der einer jeden menschlichen Leistung den nötigen räumlichen und zeitlichen Anhalt bietet. Wo Jüngers Arbeiter-Eliten den Planeten (von außen her) mit der ständigen Zerstörung drohen, sollen Schmitts Legisten-Kollektive offenbar (von innen heraus) Räume der Neutralität schaffen. Vor dem Hintergrund der Gestaltkreis-Theorie wird auch deutlich, warum Schmitt 1963 gegen den Begriff des absoluten Feinds daran festhalten wird, dass der Feind auch für die Gewinnung der eigenen Gestalt notwendig sei: Feind ist nicht etwas, was aus irgendeinem Grunde beseitigt und wegen seines Unwertes vernichtet werden muß. Der Feind steht auf meiner eigenen Ebene. Aus diesem Grunde muß ich mich mit ihm kämpfend auseinandersetzen, um das eigene Maß, die eigene Grenze, die eigene Gestalt zu gewinnen. (ThP, 87-88)
Das Bewusstsein, sich auf derselben Ebene wie der Feind zu halten, sowie die Einsicht, dass diese Gleichheit zu einer klaren Grenzziehung auf dieser ‚Ebene‘ führen müsse, sucht Schmitt bei seinen Lesern durch die politische Deutung des Gestaltkreises hervorzubringen. Schon Weizsäcker sieht die ständig drohende Gefahr, dass „die Selbsteinheit des Subjektes [sich] mit sich selbst entzweit […] wie mit dem Bösesten der Feinde“ (G, 180), nur dadurch gebannt, dass „ein umfriedetes Gebiet“ umzirkt wird, „das dem allem entzogen bliebe“ (ebd.). Erst eine solche Einfriedung könne auch die „Begegnung in der Politik […] bestimmten bekannten Spielregeln“ (G, 154) unterwerfen. Ansonsten drohe die „Gegensätzlichkeit“ (G, 180) auch das Ich zu zerstören, das das Andere zu vernichten sucht: „Der Parteiische kann dann“ nicht nur „das Selbst des Gegners nicht wahrnehmen“ (G, 180), sondern auch sein eigenes bliebe ihm notwendig verschlossen. Bei Weizsäcker muss allerdings – da er die Zukunftsgewissheit von Prolepsen in Abrede stellt – offenbleiben, ob, wann und wo es eine solche Hegung in Zukunft geben wird. In diesem Punkt unterscheidet sich Schmitt von ihm, weil er sich dann doch einer präfigurativen Schreibstrategie bedient, die Jüngers Zukunfts-Nahme vergleichbar ist.
175 Hans Freyer, Der Staat, Leipzig 1920, S. 172.
SCHMITTS PRÄFIGURATIONEN EINER KOMMENDEN HELIOPOLITIK
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3.3 Schmitts Präfigurationen einer kommenden Heliopolitik Schmitt stellt gleich mehrere, aufeinander nicht reduzierbare Präfigurationen einer kommenden planetarischen Ordnung vor. So sieht er die „préfiguration“ (VGr, 74) der neuen Großraumabgrenzungen in den „Freundschaftslinien“ (VGr, 71) des 16. Jahrhunderts. Mit dieser frühneuzeitlichen Präfiguration konfligiert die weniger explizite Präfiguration der kommenden Großraum-‚Reiche‘ im mittelalterlichen Römischen Reich, dessen Raumordnung durch die Ortung auf die Stadt Rom geleistet wurde. Ebenso wie die Konflikte im Reich damals als Kämpfe um Rom und nicht als Kämpfe gegen Rom zu verstehen sind, sollen die Auseinandersetzungen auf einem Planeten, der selbst zu einem verschwindend kleinen Punkt zusammengeschrumpft ist, Schmitts Vorstellungen nach nicht als Kämpfe gegen diesen Planeten, sondern als Kämpfe um einen sinnvoll geordneten Planeten konzipiert werden. Der Nomadismus des mittelalterlichen Reichs würde dann im Nomadismus (katechontischer und nicht autochthoner) Partisanen und partisanenhafter Autoren wiedererstehen, die die Erde vor dem Einbruch der Eschatologie, sei sie nun religiös oder ideologisch kodiert, schützen würden. Wenn Schmitts Präfigurationen auch – schon das ist eine Parallele zu Jünger – nie ganz deckungsgleich sind, so haben sie – und das ist eine noch wichtigere Parallele zu Jünger – einen Fluchtpunkt, den Schmitt an der Grenze seines Textes einsetzt. Nur wird dieser Fluchtpunkt nicht von einem Satelliten eingenommen, der eine Totale auf den Planeten erlaubt, sondern von einer Sonne. Diese „Sonne des Reichsbegriffs“ soll, indem sie aufgeht, „ein abgrenzbares Nebeneinander auf einer sinnvoll eingeteilten Erde“ überhaupt erst „denkbar“ machen. (VGr, 49) Wenn Schmitt eine Hoffnung mit dem von Jünger entwickelten und an den NullMeridian gebundenen planetarischen Schreiben verbindet, dann weil die Längenkreise der Erdumdrehung folgen, in welcher „Osten und Westen ineinander übergehen und nur das ‚entgegengesetzt Fließende von einem Weniger an Nacht und Licht‘ sind“ (NdE, 260-261). In dieser Passage, die aus dem rechtsphilosophischen und -geschichtlichen Rahmen des Nomos der Erde auf merkwürdige Weise herausfällt, formuliert Schmitt seine eigene planetarische Präfiguration: Der Meridian würde dann den Aufgang einer neuen Sonne vorwegnehmen, die auch den menschlichen Versuch, sich mit Satelliten über die Erde zu erheben, wieder in die Bewegung um eine völkerrechtliche Zentralsonne zwingen würde. Solche Passagen sind weniger deshalb interessant, weil sie von wissenschaftlichen Verfahren auf literarische umschalten, als wegen ihres präfigurativen Charakters. Dass sich auch Schmitt der Rede von der sich drehenden Erde oder einer kommenden Sonne bedient (aber auch, dass er gewagte etymologische Thesen aufstellt, etwa diejenige, dass Rom und Raum dasselbe Wort seien176), erklärt, warum Schmitt, obwohl er die Struktur der Zukunfts-Nahme eindeutig bestimmt, die 176 So in Carl Schmitt, „Raum und Rom. Zur Phonetik des Wortes Raum (1951)“, in: ders., Staat, Großraum, Nomos: Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, hg. v. Günter Maschke, Berlin 1995, S. 491-495.
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3. KATECHONTISCHES GEGEN WELTREVOLUTIONÄRES PARTISANENTUM
Zeitlichkeit dieser Usurpation dessen, was noch aussteht, systematisch in räumliche Konfigurationen rückübersetzt, denn nur so kann er sein eigenes Schreiben gegenüber dem deterritorialisierenden Schreiben eines Jünger profilieren. Dass auch sein Projekt eines katechontischen Partisanentums sich einer Zukunfts-Nahme bedient, wird nicht nur deutlich, wenn er gegen Ende der Völkerrechtlichen Großraumordnung eine „Sonne des Reichsbegriffs“ (VGr, 49) heraufbeschwört, die offenkundig einer (wenn auch nicht Jünger’schen) Helio-Politik dient; es wird vor allem dann deutlich, wenn er auf der letzten Seite des Nomos der Erde – und das heißt nach all seiner Kritik an der Geschichtsphilosophie – ausgerechnet Hegel zum Gewährsmann für die ‚Fälligkeit‘ neuer Freundschaftslinien macht: „Wir erinnern uns eines Hegelischen Ausspruchs: die Menschheit bedurfte damals, beim Übergang vom Feudalismus zum Absolutismus, des Schießpulvers und alsobald war es da. [...] Daraus folgt, daß neue Freundschaftslinien geschichtlich fällig sind.“ (NdE, 299) Anstatt wie Jünger und Schmitt – wenngleich in entgegengesetzter Absicht – an der Möglichkeit einer kommenden Helio-Politik zu arbeiten, werden Heidegger und nach ihm – wenngleich ebenfalls in entgegengesetzter Absicht – Celan noch weiter in die ‚Chaopolis‘ der planetarischen Irrfahrt führen.
Teil III Die Linie und kein Ende Heidegger und die „Grenzgänger des Grenzenlosen“
1. Das Kreisen und der Planet 1.1 De linea statt trans lineam: Heideggers Über „die Linie“ Heideggers erstmals 1955 publik werdender Kritik an Jünger geht eine langjährige, bis zur Lektüre des Arbeiters in den frühen 30er Jahren zurückreichende Auseinandersetzung voran, zu deren Resultaten unter anderem die Prägung des Begriffs „das Planetarische“1 gehört. Dieses Planetarische spielt bei Heidegger eine doppeldeutige Rolle. Wie einem erst vor wenigen Jahren erschienenen Manuskript über Das Ereignis (entstanden 1941/42) zu entnehmen ist, vollendet sich darin zwar die Herrschaft des „Europäischen“ (E, 95) über die Erde, zugleich weist es aber wesentlich über diese Herrschaft hinaus. Die erdumspannende Hegemonie des Europäischen verfestigt sich, indem sie den eurozentrischen „Imperialismus“ (E, 95) des 19. Jahrhunderts abstreift und sich stattdessen in Form von Weltanschauungen wie dem Liberalismus2 und Kommunismus sowie der „Weltsprache“ der „Technik“3 verwirklicht. Da dieser Komplex von Welt-Anschauung und Welt-Sprache – der, wie sich zeigen wird, in der Satellitenperspektive eines Romans wie Heliopolis kulminiert – für Heidegger aus der europäischen Philosophie hervorgeht, bedarf es einer neuerlichen Auseinandersetzung mit dieser Tradition, um zu einem angemessenen Verständnis des Planetarischen zu gelangen. Eine solche Genealogie soll dem planetarischen Denken, wie es Heidegger Jünger gegenüber einklagt, vor allem auch erlauben, die Schreibstrategien, in denen es sich zu artikulieren versucht, „ursprünglicher und sorgsamer zu prüfen“.4 Mit anderen Worten dient die Auseinandersetzung mit der metaphysischen Tradition keinem bloß historischen Interesse, sondern steht vor vornherein unter der Fragestellung, wie man die zukünftigen „planetarischen […] Begegnungen […], denen die Begegnenden heute auf keiner Seite gewachsen sind“ (WM, 424), überhaupt zur Sprache bringen kann.
1 Einen begrifflichen Status hat das Planetarische spätestens erlangt mit Martin Heidegger, Das Ereignis [1941/42], hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 2009, S. 95. Das Ereignis wird fortan unter Angabe der Sigle E und der Seitenzahlen im laufenden Text zitiert. 2 Der „Ursprungsort der Weltverdüsterung“ ist für Heidegger folglich nicht, wie Heinz Dieter Kittsteiner argumentiert, im Kontinent oder Staat „Amerika“ lokalisiert. Die Weltverdüsterung kommt vielmehr aus Europa. Kittsteiner schließt hier an Pöggelers Kritik am „kruden Antiamerikanismus“ Heideggers an. Siehe Heinz Dieter Kittsteiner, „Heideggers Amerika als Ursprungsort der Weltverdüsterung“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45.4 (1997), S. 599-617, hier S. 615, sowie Otto Pöggeler, „Heidegger und die politische Philosophie“, in: Dietrich Papenfuß u. ders. (Hgg.), Zur philosophischen Aktualität Heideggers. Symposium der Alexander von Humboldt-Stiftung vom 24. - 28. April 1989 in Bonn-Bad Godesberg, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1991, Bd. 1, S. 328-350, hier S. 345. 3 Ernst Jünger, Werke, 10 Bd., Stuttgart 1964, Bd. 6, S. 622. 4 Martin Heidegger, Wegmarken, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1996, S. 424. Die Wegmarken werden fortan im laufenden Text unter Angabe der Sigle WM und der Seitenzahlen zitiert.
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Diese Worte, in denen der für Jünger zentrale Begegnungsbegriff aufgenommen und ausdrücklich planetarisch gewendet wird, fallen in Heideggers Antwort auf den Essay Über die Linie. Jüngers Text erschien erstmals 1950 in einer Festschrift anlässlich von Heideggers 60. Geburtstag.5 Heideggers Antworttext, der seinerseits in einer Festschrift zum 60. Geburtstag von Jünger (1955) erscheint, übernimmt Jüngers Titel fast wörtlich, setzt die Linie aber in Anführungszeichen. Aus Über die Linie wird Über „die Linie“ 6, weil Jüngers Versuch einer Überschreitung der Linie (d.h. des Nullmeridians) eine Erörterung der Linie selbst zur Seite gestellt werden soll. Anstatt über die Linie hinaus („trans lineam“, WM, 386) zu führen, will Heidegger nur über die Linie („de linea“, WM, 386) handeln.7 Schon Heidegger bemerkt also, dass es Jünger nicht nur darum geht, die Linie sichtbar zu machen, sondern im Akt der Sichtbarmachung zugleich zu überschreiten: „Das Sehen selber ist ein Überqueren der Linie.“8 Da Über die Linie an diesen Zusammenhang von Denken und Handeln, Optik und Intervention festhält, schließt der Essay unmittelbar an Jüngers frühere Texte an; am deutlichsten an Über den Schmerz, aber auch an den Arbeiter, dessen „organische Begriff[e]“9 in „eine organische Konstruktion“10 überleiten wollen. Weil zudem gerade im Arbeiter sowohl die „planetarische[ ] Gültigkeit“11 als auch die „planetarische Wucht“12, in denen sich Theorie und Praxis bei Jünger verschränken, deutlich werden, bleibt dieser Essay der Referenztext für Heideggers Vorstellung, dass sich im Planetarischen Weltanschauung und Weltsprache performativ derart verkoppeln, dass sie – nach Marx’ Worten – nicht mehr nur die Welt interpretieren, sondern zu verändern suchen. Wenn Heidegger zur elften Feuerbach-These behauptet, dass die Marx’sche Forderung sich immer schon einer Interpretation der Welt verdanke, dann will er den performativen Aspekt der Philosophie nicht etwa unterschlagen, sondern im Gegenteil stark machen.13
5 Ernst Jünger, Über die Linie, in: [Hans-Georg Gadamer (Hg.),] Anteile. Martin Heidegger zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1950, S. 245-283. 6 Martin Heidegger, Über „die Linie“, in: Armin Mohler (Hg.), Freundschaftliche Begegnungen. Festschrift für Ernst Jünger zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1955, S. 9-45. 7 Für den Bezug zwischen Jüngers Topographie und Heideggers Topologie siehe Friedrich-Wilhelm von Herrmann, „Topologie und Topographie des Nihilismus aus dem Gespräch zwischen Ernst Jünger und Martin Heidegger“, in: Heidegger Studies 24 (2008), S. 21-37. 8 Martin Heidegger – Ernst Jünger. Briefe 1949-1975, u. Mitarb. v. Simone Maier hg. v. Günter Figal, Stuttgart u. Frankfurt a.M. 2008, S. 17. 9 Jünger, Werke, Bd. 6, S. 324. 10 Ebd., S. 133. 11 Ebd., S. 255. 12 Ebd. 13 So in einer bei 3sat ausgestrahlten Sendung über Heidegger, zugänglich unter der Internetadresse http://www.youtube.com/watch?v=jQsQOqa0UVc (Stand vom 09.04.2013). In seinem Buch über „das planetarische Denken“ wird Kostas Axelos sogar alle Feuerbach-Thesen vor dem Hintergrund von Heideggers Aussagen zur Technik reformulieren. Die elfte seiner „Thèses sur Marx“ lautet: „Les techniciens ne font que transformer le monde de différentes manières dans l’indifférence universalisée ; il s’agit maintenant de le penser et d’interpréter les transformations en profondeur, en saisissant et en expérimentant la différence que unit l’être au néant.“ Kostas Axelos,
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Die Einsicht in die weltmodellierende und -umgestaltende Kraft des Denkens steht schon hinter Heideggers Vorstellung des hermeneutischen Zirkels, der in Sein und Zeit eine nicht nur epistemologische, sondern auch ontologische Funktion annimmt. Verschärft wird sie, wenn der spätere Heidegger sich von der Vorstellung verabschiedet, dass sich dieser Kreis je schließen lassen könnte. Da Heidegger deshalb den einen Zirkel in ein vielfältiges „Gewinde“ (E, 141) auflöst, muss er sich auch gegen Jüngers Annahme einer Nulllinie wenden. Dafür stellt seine Erörterung der Linie heraus, dass es gar keine Linie gibt. (Siehe WM, 412) In das, was er im Ereignis als den „Kranz“ (E, 141) des Ereignisses bezeichnet, geht eine unüberschaubare Vielzahl von Linien ein. Dass sich der Kreis in ein polymorphes Gewinde verwandelt, soll eine „Verwindung“ (E, 141) der Metaphysik ermöglichen, die nur in ihrer „Einwindung in das Gewinde (den Kranz)“ (ebd.) zu leisten sei. Damit will Heidegger ein Alternativmodell zur Einteilung der Erde in einen vereinheitlichenden „Zirkel (Kreis)“14 von überwachbaren „‚Sektoren‘“15 formulieren, die den Planeten der Weltanschauung und der Weltsprache des – sei es liberalen oder kommunistischen – Arbeiters unterwirft. Heideggers planetarische Linientreue besteht also in der Treue zu einer sich selbst auflösenden und dabei pluralisierenden Linie. Damit stellt er sich nicht nur gegen Jüngers Poetik einer Linienüberschreitung, sondern auch gegen Schmitts Drängen auf neue Freundschaftslinien, die eine klare Einteilung des planetarischen Raums leisten. Heideggers Treue zur Linie tilgt das Bild der Linie, ohne dasjenige, was es zu denken gibt, einfach zu disqualifizieren. Die Spannung zwischen hermeneutischem Zirkel und planetarischem Sektoren-Zirkel wirft auch ein neues Licht auf das, was in der Heidegger-Forschung als „Kehre“16 von Sein und Zeit zu dem späteren Denken des Ereignisses gilt. So bestimmt Heideggers Auseinandersetzung mit dem Planetarischen – vor allem in der Prägung, die ihm Jünger verlieh – maßgeblich die Neuakzentuierung seines Denkens und des Bezugs dieses Denkens zur metaphysischen Tradition.
1.2 Arbeit am Erbe der Metaphysik: Von der Onto-Theologie zur Onto-Typologie Heideggers entschiedene Ablehnung der europäischen „Aspiration auf das Planetarische“ (E, 333) in Das Ereignis ist ein Echo seiner wichtigen Jünger-Rezeption, die in den frühen 1930er Jahren einsetzt. Namentlich seit der sogenannten ‚Kehre‘, Vers la pensée planétaire. Le devenir-pensée du monde et le devenir-monde de la pensée, Paris 1964, S. 177. 14 Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 2000, S. 92. 15 Ebd. 16 Für die vielschichtige Bedeutung der ‚Kehre‘ bei Heidegger, die von einer Neuausrichtung des Denkens bis hin zu einer Kehre im Sein selbst reicht, ist immer noch einschlägig Jean Grondin, Le tournant dans la pensée de Martin Heidegger, Paris 1987.
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aber noch bis in die 1950er Jahre hinein ist der 1932 erschienene Essay Der Arbeiter für Heidegger ein Schlüsseltext, dem er entscheidende Impulse für die Nietzsche-Vorlesungen seit dem Wintersemester 1936/3717 und dem Technikdenken der Nachkriegszeit verdankt.18 Dieter Thomä konnte – vor allem anhand von Heideggers Arbeitsbegriff der frühen 30er Jahre – nachweisen, dass Jünger von Heidegger zunächst positiv aufgenommen wurde.19 Die sich seit 1935 ausbildende kritische Haltung gegenüber Jünger liest Thomä sogar als „Abkehr vom Nationalsozialismus“20, in den Heidegger bekanntlich durch Parteibeitritt und Rektorat (1933/34) anfänglich verstrickt war.21 Die Distanz, auf die Heidegger in der Folge zu Jünger geht, lässt sich an seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Gestaltmodell ermessen, die auch noch den Festschriftbeitrag Über „die Linie“ bestimmt. Darin versucht Heidegger die Gestalt des Arbeiters aus der Tradition der Gestaltpsychologie zu lösen und als letzte Konsequenz (und Verkehrung) der Platonischen Idee zu lesen. Der Arbeiter markiere sogar das Ende der Philosophie, weil das in der Tradition schlechthin transzendente Sein darin auf eine konkrete Gestalt des Menschen umgebogen werde. Diese sogenannte „Reszendenz“ (WM, 398) bestimmt sich als Umkehrung der herkömmlichen Vorstellung einer Transzendenz, weil sich der Typus des Arbeiters an die Systemstelle setzt, die zuvor, Heideggers Vorstellung einer Onto-Theologie entsprechend, Götter-Figuren vorbehalten war. So führt Jüngers Arbeiter die europäische Philosophie zu Ende, indem er zugleich ihren immer schon vorhandenen nihilistischen Zug aus der Latenz hebt. Wenn Heidegger die Gestalt des Arbeiters auf Platons Ideenwelt zurückführt, dann will er Jünger also nicht (wie Hans Blumenberg) eines Krypto-Platonismus überführen,22 sondern die genuin philosophische Tragweite der von Jünger anvisierten Problematik aufzeigen. Denn die Möglichkeit einer solchen metaphysischen Machtergreifung der ‚Gestalt‘ eines ‚Menschen‘-Typus liegt für Heidegger schon im griechischen Verständnis der Transzendenz selbst beschlossen, die als Überstieg über das Seiende konzipiert wurde und daher an keinem Seienden Halt finden kann. Erstmals vorgestellt wird dieser Begriff von Metaphysik, dem zufolge der Mensch in einem „Hinausge17 Die Vorlesungen werden nach dem Krieg überarbeitet und veröffentlicht in Martin Heidegger, Nietzsche, 2 Bd., Stuttgart 1961. 18 Siehe hierzu Martin Heidegger, Zu Ernst Jünger, hg. v. Peter Trawny, Frankfurt a.M. 2004. 19 Dieter Thomä, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910-1976, Frankfurt a.M. 1990, S. 598-602. 20 Thomä, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, S. 600. Eine solche Kritik am Nationalsozialismus behauptet auch Silvio Vietta, Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik, Tübingen 1989. 21 Für Heideggers Kritik am Totalitarismus siehe auch François Fédier, Totalitarismo e nichilismo. Tre seminari e una conferenza, hg. v. Maurizio Borghi, Como u. Pavia 2003, sowie Peter Trawny, „Das ,übergängliche Denken‘ und die ,Macht‘. Heideggers Interpretation der ,Machenschaft‘ als Kritik der ,totalen Herrschaft‘“, in: Ingeborg Schüßler u. Emmanuel Mejía (Hgg.), Heideggers Beiträge zur Philosophie. Internationales Kolloquium vom 20.-22. Mai 2004 an der Universität Lausanne (Schweiz), Frankfurt a.M. 2009, S. 203-217. 22 Siehe hierzu Hans Blumenberg, Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger, hg. v. Alexander Schmitz u. Marcel Lepper, Frankfurt a.M. 2007.
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hen über das Seiende als solches im Ganzen“ (WM, 118-119, Transzendenz von transcendere, ‚hinausgehen über‘) befangen ist, in der Freiburger Antrittsvorlesung von 1929, Was ist Metaphysik?. Sich auf das ‚Nichts‘, das sich jenseits des Seienden eröffnet habe, hin zu entwerfen, habe der Metaphysik erlaubt, das Seiende als solches auszumachen und einzurichten. Allerdings musste der Ort dieses Nichts dabei, so Heidegger, von einem höchsten Seienden eingenommen werden, das den Möglichkeitsbereich (das ‚Wie‘ und das ‚Was‘) des Seienden absicherte, indem es dessen Möglichkeiten in einem prägnanten und exemplarischen Sinne figurierte. Dass die Ontologie (also die Untersuchung des Seins des Seienden) auf diese Weise durch eine Theologie (im Sinne einer Untersuchung des höchsten Seienden) abgestützt (aber nicht ersetzt) wurde, macht das aus, was Heidegger später als den onto-theologischen Charakter der Metaphysik bezeichnen wird. In seiner Linien-Schrift, die mit einer knappen, aber programmatischen Interpretation von Was ist Metaphysik? schließt, hält Heidegger deshalb fest, dass das Wort Transzendenz in der Tradition dreierlei bedeutet: den Bezug des Seienden zum Sein (d.h. zum Nichts des Seienden), den Bezug des Seienden zu einem höchsten, als ruhend vorgestellten Seienden sowie dieses höchste Seiende selbst (vgl. WM, 397). Die metaphysische Garantie, das onto-theologische Paradigma der europäischen Philosophie bereitstellen zu können, ging also wesentlich über eine Absicherung der jeweiligen Wirklichkeit des Seienden hinaus, weil sie auch und gerade seine essentia oder realitas garantierte. Die Tragweite dieser metaphysischen Absicherung des Seienden – als solches im Ganzen – ist einer der Gründe, warum Heidegger in seinem Beitrag zu Jüngers Festschrift auf die Antrittsvorlesung zu sprechen kommt. In dem Moment nämlich, in dem sich das onto-theologische Paradigma in eine Reszendenz verkehrt, verändert sich die Konfiguration des metaphysischen Entwurfs grundlegend – oder vielmehr grundstürzend. Sinnfällig wird dies insbesondere im „Aufstand der Wirklichkeit gegen die Realität“23, den Jünger in der Erstfassung des Abenteuerlichen Herzens (1929) diagnostiziert und dem er sich spätestens mit dem Arbeiter aktiv verschreibt. Jüngers im Ersten Weltkrieg gemachte Erfahrung, dass sich Grenze und Frontlinie in ein komplexes Netzwerk mit ständig sich verändernden Konturen aufgelöst haben, wird im Arbeiter-Essay als Begegnung mit einer ausgezeichneten „Wirklichkeit“24 gefasst, die dadurch zum Kapital wird, dass sie aus sich selbst heraus neue Identitäten und Werte zu schöpfen vermag.25 Oben ist gezeigt worden, dass diese Umbesetzung der Systemstelle des Kapitals eine proliferierte 23 Jünger, Werke, Bd. 7, S. 128. 24 Ebd., Bd. 6, S. 147. 25 Ein ähnliches Modell wird in den 1950er Jahren vorgestellt in Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955. Der Wegfall der Mitte der Kreisläufe führe dazu, so heißt es darin, dass sie von überall beeinflusst werden können (siehe S. 113-115). Der Planet werde dadurch in ein einheitliches „Spannungsfeld[ ]“ gezwungen (S. 77), das keine friedliche und demokratisierende Öffnung des Marktes erhoffen lasse (siehe S. 252). Im Gegensatz zu Jünger lehnt Freyer „produktive Nullpunkte als Garantie der Positivität“ (S. 128) entschieden als chiliastische Phantasien ab.
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Zirkulation zur Folge hat, die sich nicht mehr einem globalen Kreislauf einfügt, der in Europa beginnt und endet. Was von Jünger und Schmitt kriegs- und wirtschaftsgeschichtlich formuliert wurde, bettet Heidegger in einen philosophiehistorischen Zusammenhang ein: Dass sich das Europäische von Europa ablöst, erweist sich so als Konsequenz einer kollabierenden Onto-Theologie, die die bisherigen metaphysischen Garantien nicht mehr aufrechterhalten kann. Vielmehr begehre die ephemere, ständig wandelbare Wirklichkeit (actualitas im Sinne von existentia) gegen die bleibende, wesenhafte Realität (realitas im Sinne von essentia) auf, so dass – dieser Lesart des Planetarischen zufolge – das Ende der globalen politischen Ökonomie auf einen metaphysischen Schwund der Transzendenz zurückgehe. Philosophiegeschichtlich lässt sich das etwa daran belegen, dass die Begriffe von Wirklichkeit und Realität um 1800 synonym werden. Während Kant die beiden Termini noch klar voneinander scheidet,26 werden sie in Hegels Begriff dialektischer Realisierung geradezu gleichgesetzt, weil sich das Wesen-Werden der Wirklichkeit und das Wirklich-Werden des Wesens darin gegenseitig bedingen.27 Auch der extensive Gebrauch, den Der Arbeiter vom Adjektiv und Adverb ‚wirklich‘ macht, kann als Folge dieser Entwicklung gelten. Wenn dort von den „wirklichen Kräften der Zeit“28 die Rede ist, oder davon, dass „der Arbeiter heute wirklich eine entscheidende Position einnimmt“29, weil er der „Träger der wirklichen Kraft“30 sei, dann handelt es sich wohl nicht um bloße Emphase. Denn es sei „längst eine neue Wirklichkeit vorhanden“31 im „von jeder wirklichen Herrschaft leergefegten Raume“.32 Solche Formulierungen verweisen natürlich auf Jüngers Vorstellung einer Totalen Mobilmachung, die alle herkömmlichen Hierarchien untergräbt und sicheren Grenzziehungen auflöst, aber auch auf die Gestalt des Arbeiters, die er in dieser zugleich beschleunigenden und entleerenden Dynamik – die „weit weniger vollzogen“ wird, „als sie sich selbst vollzieht“ –33 sich abzeichnen sieht. An die Stelle der Onto-Theologie tritt mit einer solchen Gestalt das, was man als eine „Onto-Typologie“34 bezeichnen könnte: Statt dass, wie bisher, das Seiende als solches im Ganzen von einem in der Transzendenz eingesetzten höchsten Seienden abgesichert wird, prägt ein Typus (von griech. tuptein, ‚schlagen‘) die total mobil26 Deshalb ist auch Sein (d.h. Dasein, Existenz) für Kant kein „reales Prädikat“. Siehe Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Jens Timmermann, Hamburg 1998, B 626-627. 27 Die Wissenschaft der Logik definiert die „Wirklichkeit“ als „Einheit des Wesen und der Existenz; in ihr hat das gestaltlose Wesen und die haltlose Erscheinung […] ihre Wahrheit“. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1986, Bd.1, S. 186. 28 Jünger, Werke, Bd. 6, S. 68. 29 Ebd., S. 79. 30 Ebd., S. 68 31 Ebd., S. 73. 32 Ebd., S. 85. 33 Ebd., Bd. 5, S. 132. 34 Mit diesem Ausdruck charakterisiert Anja Lemke den „Diskurs Heideggers“ 1933, der dann wie sonst zu keiner Zeit „durch das Jüngersche Vokabular des Gestaltbegriffs markiert“ sei. Anja Lemke, Konstellation ohne Sterne. Zur poetischen und geschichtlichen Zäsur bei Martin Heidegger und Paul Celan, München 2002, S. 183-184.
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gemachte Wirklichkeit zur Präfiguration seiner kommenden Herrschaft. Warum sich diese kommende Herrschaft in einem ewigen Kreislauf von Umgestaltungen ständig selbst bestätigen muss, konnte oben anhand der Strategie Jünger’scher Texte nachgewiesen werden, die disparates Material collagenartig um einen leer bleibenden Fluchtpunkt anordnen, welcher immer neue Fassungen früherer Texte geradezu einfordert. Dieses ständige Kreisen um ein leeres, sich in die Zukunft entziehendes Zentrum führt Heidegger noch ausdrücklicher als Schmitt auf die Wahl des Gestaltmodells zurück, das – und das stimmt völlig mit Jüngers Absicht überein, der Gestalt eine rein quantitative Dimension zuzusprechen35 – sich nicht wie ein Wesen über die Wirklichkeit erheben könne. Weil sich damit der Umbruch von Transzendenz zu Reszendenz vollendet, der entscheidend durch Hegels Begriff des Wirklichen vorbereitet wurde, fügt Heidegger, wenn er Über „die Linie“ unter dem veränderten Titel Zur Seinsfrage in die 1967 erscheinenden Wegmarken aufnimmt, in den Text einen zentralen Abschnitt zu Hegel ein. Noch diese eingefügte Passage behält den Duktus des Briefes bei, als den sich der Festschriftbeitrag inszenierte. Heidegger schreibt dort: Eine angemessene Analyse der „metaphysischen Position Ihres Werkes ‚Der Arbeiter‘“ (WM, 404), und d.h. insbesondere der Bedeutung, die „Arbeit und Schmerz“ (ebd.) darin annehmen, würde eine eingehende Auseinandersetzung mit Hegels „Negation der Negation“ (ebd.) erfordern. Dass Heidegger Jünger so von Hegel – und nicht etwa von Nietzsche – her lesen will,36 erklärt sich daraus, dass er Nietzsches Denken zeitlebens nur als eine „zweite Vollendung“ (E, 149) der Metaphysik begreift, der die „erste Vollendung“ (ebd.) in Hegels System zeitlich, aber auch strukturell vorangeht. Es steht sogar zu vermuten, dass Heidegger einen Zugang zu Nietzsche nur über den von Hegel her gelesenen Jünger bekommt. Zumindest für die Vorstellung der Onto-Typologie scheint Jünger ungleich wichtiger zu sein als Nietzsche. Sichtbar wird dies etwa, wenn Heidegger in seinem Nietzsche-Buch über den Typus spricht: Der Typus vereinigt in sich gewandelt das Einzigartige, das vormals vom Individuum beansprucht wurde, und das Gleichartige und Allgemeine, das die Gemeinschaft fordert. Aber das Einzigartige des „Typus“ besteht in einer klaren Durchgängigkeit derselben Prägung, die gleichwohl keine öde Gleichmacherei duldet, sondern einer eigentümlichen Rangordnung bedarf. In Nietzsches Gedanken des Übermenschen ist nicht ein besonderer „Typus“ Mensch, sondern erstmals der Mensch in Wesensgestalt des „Typus“ vorausgedacht. Vorbilder sind dabei das preußische Soldatentum und der Jesuitenorden, die auf eine eigentümliche Koppelung ihres Wesens zugerichtet sind, in welcher Koppelung das Inhaltliche ihrer erstmaligen geschichtlichen Entstehung sich weitgehend abstoßen läßt.37
35 Siehe Jünger, Werke, Bd. 6, S. 91. 36 Auf Hegels Bedeutung für Heidegger haben jüngst noch einmal hingewiesen Andreas Großmann, Heidegger-Lektüren. Über Kunst, Religion und Politik, Würzburg 2005, S. 59-68, und Anton Friedrich Koch, „Hegel und Heidegger“, in: Bärbel Frischmann (Hg.), Sprache – Dichtung – Philosophie. Heidegger und der Deutsche Idealismus, Freiburg u. München 2010, S. 137-154. 37 Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, S. 128.
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Nicht nur die Erwähnung Preußens und der Jesuiten – von beiden hielt Nietzsche bekanntlich wenig – und deren ‚Koppelung‘, die an die „preußischen Anarchisten“38 gemahnt, die Das abenteuerliche Herzen zu einem Geheimorden vereinen will, zeigt die Spuren der Jünger-Lektüre. Schon das zuvor als ‚das Einzigartige‘ des Typus Festgehaltene weist die Jünger’sche Logik der Vereindeutigung nach, durch die Allgemeinheit und Einzelheit unter den Stempel von organischer Begrifflichkeit und organischer Konstruktion geraten. So zeigt sich, dass Heidegger mit Schmitt darin überstimmt, dass auch er den totalen Arbeitscharakter, den Jüngers Texte der Wirklichkeit aufprägen wollen, als Aneignung der Hegel’schen Geschichtsphilosophie liest. Allerdings interessiert sich Heidegger im Gegensatz zu Schmitt weniger für die geographischen und geopolitischen als für die epistemologischen und ontologischen Implikationen, die diese Aneignung hat. Wo Schmitt die eurozentrisch-globale Weltordnung der Neuzeit mit der Aufhebung der Trennung von Land und Meer enden sieht, wertet Heidegger ganz im Gegenteil die „Ausbreitung […] in das Planetarische“ (E, 96) geradezu als Charakteristikum einer „zu sich selbst gekommenen Neuzeitlichkeit“ (ebd.), für die er den „Einsturz der von der Metaphysik geprägten Welt“39 verantwortlich macht. Beide problematisieren die Vorwegnahme der Zukunft, die sich in Jüngers Überschreitung der Linie artikuliert, mit dem Unterschied, dass Heidegger deren ‚Zukunfts-Nahme‘ nicht auf ein räumliches Erdmodell reduziert. Vielmehr verlegt sich seine Auseinandersetzung mit Jünger und Hegel auf die genuin zeitliche Dimension des Planetarischen, die sich in einem (und sei es latent bleibenden) futur antérieur ausspricht.40 Was nämlich Jünger von Hegel übernimmt, ist die „Arbeit des Negativen“41, die jedoch nicht mehr ein absolutes Wissen (in einem wissenschaftlichen Kollektivgeist) realisieren, sondern die planetarische Herrschaft (eines kommenden Arbeiterkollektivs) verwirklichen will.
1.3 Die Arbeit des Negativen als Teleopoiesis Ein Vorläufer Jüngers ist Hegel hierbei insofern, als sich die dingliche Erscheinung bereits in der Phänomenologie des Geistes als Täuschung erweist, hinter der sich ein Kräftespiel verbirgt, dessen Wahrheit im Selbstbewusstsein – der Gewissheit, die
38 Jünger, Werke, Bd. 7, S. 173. 39 Heidegger, Vorträge und Aufsätze, S. 70. 40 Diese besondere zeitliche Perspektive der Hegel’schen Negativität weist Emmanuel Mejía in einer von Heidegger kommenden Hegel-Lektüre nach, die nebenher auch auf den Zusammenhang mit Heideggers Jünger-Kritik anspielt. Siehe Emmanuel Mejía, „La négativité chez Hegel et la chance du tournant. À propos de la lecture destinale de Heidegger“, in: Ingeborg Schüssler u. ders. (Hgg.), Heideggers Beiträge zur Philosophie. Internationales Kolloquium vom 20.-22. Mai 2004 an der Universität Lausanne (Schweiz), Frankfurt a.M. 2009, S. 227-240, hier S. 233-235. 41 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. Hans-Friedrich Wessels u. Heinrich Clairmont, Hamburg 1988, S. 15.
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das Ich von sich hat – zu suchen ist.42 Objektivität gibt sich das absolute Subjekt folglich erst, indem es sich zum Gegenstand seines Selbstbewusstseins macht. Der Text vollzieht damit – so Heidegger in einem interpretierenden Kommentar von Hegels „Einleitung“ zur Phänomenologie des Geistes, die unter dem Titel Hegels Begriff der Erfahrung in die Holzwege aufgenommen wurde43 – allein den „Wille[n] des Absoluten, das an und für sich schon bei uns sein will.“ (HW, 135) Dieser Wille bestimmt, wie betont wird, die Phänomenologie so ausschließlich, dass der Text nichts als die „Darstellung“ (HW, 136) dieses Willens ist. Der Ausdruck Darstellung fällt auch schon bei Hegel selbst, und ist bei ihm wie überhaupt um 1800 zweideutig, weil er die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, Beobachtung und Handlung bewusst suspendiert.44 Markant zeigt sich dieser spannungsvolle Charakter der Phänomenologie des Geistes in den dialektischen Formulierungen des Werks, das einerseits davon ausgeht, dass die in ihm thematisierte Arbeit des Negativen nur die „Selbstbewegung der Form“45 sei, andererseits aber zugesteht, dass diese Arbeit erst durch „unsere Zutat“46 ein Ziel bekomme. In dem Wir, das hier wie auch an anderen wichtigen Schnittstellen der Argumentation zur Sprache kommt, sammelt sich das wissenschaftliche Kollektiv derer, die die Erfahrung der Phänomenologie bereits vollzogen haben. Weil sich dieses Wir allerdings gleich auf den ersten Seiten des Textes einführt, steht dieser unter dem zeitlichen Zeichen einer Teleopoiesis47: Der gesamte folgende Verlauf der Schrift stellt sich also unter die Maßgabe eines vorweggenommenen Wissens, das hier sogar absoluten Charakter angenommen haben soll. Die Phänomenologie des Geistes muss auf eine solche Strategie rekurrieren, um die „Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins“ tatsächlich zu leisten, die in ihrem Untertitel angekündigt wird. Denn dafür ist es nötig, dass Hegel die Erfahrung des absoluten Wissens, von der er spricht, auch bei seinen Lesern hervorruft und damit dieses Wissen in ihnen hervorbringt. Heidegger betont nicht nur den spezifischen Vollzugscharakter der Phänomenologie des Geistes, mit dem sie das, wovon sie handelt, in ihrer Leserschaft – gleichsam als Träger „des daseienden Geistes“ (HW, 202) – hervorruft. Ihn interessiert vor
42 Siehe zu diesem Zusammenhang Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 79-120. Es handelt sich um die Abschnitte von „Das Ding und die Täuschung“ bis zu „Die Gewißheit der Wahrheit seiner selbst“. 43 Der Text soll 1942/43 entstanden sein und wurde 1950 in die Sammlung Holzwege aufgenommen. Siehe Martin Heidegger, Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1994, S. 375. Die Holzwege werden fortan im laufenden Text unter Angabe der Sigle HW und der Seitenzahlen zitiert. 44 Zum Begriff der Darstellung, der Ende des 18. Jahrhunderts zu dem zentralen Paradigma einer Konvergenz von Konstativum und Performativum wird, siehe Winfried Menninghaus, „Darstellung. Zur Emergenz eines neuen Paradigmas bei Friedrich Gottlieb Klopstock“, in: Christiaan L. Hart-Nibbrig (Hg.), Was heißt „Darstellen“?, Frankfurt a.M. 1984, S. 205-226. 45 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 15. 46 Ebd., S. 67. 47 Für den Begriff der Teleopoiesis siehe Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, übers. v. Stefan Lorenzer, Frankfurt a.M. 2000, S. 60.
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allem die „Stätte“ (HW, 202), die der Text so „erlangt“ (ebd.), d.h. durch seinen Gang hervorbringt: Das absolute Wissen ist aber die Darstellung des Erscheinens des daseienden Geistes. Es vollbringt „die Organisation“ der Seinsverfassung des Geisterreiches. Der Gang [...] versammelt sich in die Stätte, die es auf seinem Gang erst ergeht (erlangt), um, sie durchgehend, in ihr sich einzurichten und, so angelangt, in ihr anzuwesen. Der anlangende Gang [...] ist der Weg der Verzweiflung, auf dem das Bewußtsein jeweils sein Noch-nicht-Wahres verliert und dem Erscheinen der Wahrheit aufopfert. (HW, 202)
Diese Passage spiegelt die ganze Doppeldeutigkeit wider, in der die Teleopoiesis und die ihr eigene Zeit des Futur II schillert. Heideggers Interesse gilt hier aber, wie gesagt, in erster Linie der ‚Stätte‘, in der sich das in Aussicht gestellte wissenschaftliche Kollektiv versammeln kann. Denn ohne die Bereitung eines solchen Ortes hätte der höchste Standpunkt der Metaphysik, der in einem absoluten Wissen erreicht würde, keine Grundlage, auf der sie Stand zu nehmen und den logos (von griech. legein, ‚sammeln‘) selbst absolut zu begründen vermöchte. Allerdings meint Heidegger, wenn er von einer zu erlangenden Stätte spricht, keine bloß räumliche Konfiguration (die zudem am Ende der Phänomenologie stünde), sondern den gesamten Zeit-Raum, in der sich Hegels Arbeit des Negativen entfaltet. Aus dem „Weg des Zweifels“48, der Descartes’ Neuansatz der Philosophie ermöglicht hat, wird in der Phänomenologie des Geistes ein „Weg der Verzweiflung“49, auf dem der Zweifel auch und gerade gegen das zweifelnde Bewusstsein selbst gerichtet wird. Der Gang auf diesem Weg bestimmt sich – Jüngers Vorstellung eines Durchgangs durch den Schmerz gleichsam vorwegnehmend – als „Arbeit des Negativen“, deren „Ernst“, „Schmerz“ und „Geduld“50 allein den „Standpunkt“ erreichen lassen, auf dem der Begriff nicht nur zur „Form des Absoluten“ wird, sondern auch „die Realität, die in ihm verschwunden ist, in und aus sich bildet“.51 Nur so kann die Phänomenologie des Geistes die Dimension des onto-theologischen Überstiegs (wieder-) gewinnen, in der eine Selbstbegründung des ‚Logos‘ – als ‚Stätte‘ der ‚Versammlung‘ – möglich wird. Obwohl dieser Standpunkt die gesamte Textbewegung der Phänomenologie bestimmt, wird er erst an derjenigen Grenze erreicht, an der der Text mit dem anderen Teil des Systems, der Wissenschaft der Logik kommuniziert. An Hegels sich mit der Zeit wandelndem Systementwurf plausibilisiert Heidegger so denn auch die eigenartige zeitliche Struktur seines ersten Teils: Die in der Phänomenologie dargestellte „Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins“ sei zwar als Vorbereitung der folgenden Wissenschaft der Logik gedacht und geht so dem späteren Teil voran. Was vorbereitet wird, ist jedoch eine Rückwendung vor alle Zeit, so dass die Phänome48 49 50 51
Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 61. Ebd. Ebd., S. 14-15. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 2, S. 263.
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nologie in gewisser Weise auch erst auf die Logik folgt. Diese zeitliche Paradoxie macht Heidegger an dem „dialektisch-spekulativen Karfreitag“ (HW, 202) fest, den die Phänomenologie erwirken will. Die Stätte, die sie bereitet, ist, wie es bei Hegel abschließend in Anspielung auf Golgota heißt, eine „Schädelstätte“52. Bevor das wissenschaftliche Wir eine Neuschöpfung der Realität im Ausgang von der Logik leisten kann, muss es nicht nur durch den Schmerz und die Geduld der Arbeit des Negativen hindurchgeführt werden, sondern sogar die allerletzte Grenzerfahrung des Todes durchmachen und überwinden: „Hier stirbt das Absolute. Gott ist tot“, (HW, 202-203) wie Heidegger kommentiert. Das Nietzsche-Zitat vom Tode Gottes ist ganz bewusst hierher gesetzt und soll anzeigen, dass die maßgeblichen metaphysischen Entscheidungen, die schließlich zu Nietzsches Positionen führen werden, hier bereits getroffen sind.53 Weil Hegel, so Heideggers These, eine „Theologie der Absolutheit des Absoluten vor der Schöpfung“ (HW, 203) erst nach dem Tod dieses Absoluten schreiben kann, ist er auf die Schädelstätte angewiesen, aber nur um über sie hinaus zu führen. Der Gang der Phänomenologie und die gesamte Geschichte der Natur, Gesellschaft, Philosophie und Religion, die in diesen Gang integriert wird, erweist sich als eine einzige Präfiguration der Hegel’schen Philosophie im strengen Sinn, die sich in der Wissenschaft der Logik vollendet. Dass sich die Präfiguration damit aber auch schon von der vertikalen Verbindung mit einer überzeitlich-göttlichen Ordnung gelöst hat, durch die sich die christliche Präfiguration des Mittelalters auszeichnete,54 erweist sich, wenn Hegel seinen Systementwurf nach der Niederschrift der Wissenschaft der Logik neu ausrichtet und dabei die Rollen der beide Teile des Systems geradezu invertiert. Zunächst – so zumindest Heidegger zufolge – ist die Phänomenologie als Ontologie, d.h. als Wissenschaft vom Seienden als solchen konzipiert, während die Logik als theologisches Pendant, d.h. als Wissenschaft vom höchsten Seienden fungieren soll. Nach der Niederschrift der Logik verkehren sich aber – immer noch Heideggers Lesart folgend – die Positionen, so dass diese sich fortan als Ontologie versteht, die den Begriff als das Wesen der Wirklichkeit setzt, während die Phänomenologie zur Theologie wird, die den wirklichen Träger eines Wissens um dieses Wesen konzipiert. Damit hat sich für Heidegger die Umkehrung der Theologie in eine Typologie allerdings auch schon vollzogen: Die Stelle des höchsten Seienden wird von einem absolut wissenden Wir eingenommen, das die wissenschaftliche Erklärung der Totalität des Seienden, mithin die „absolute Organisation der Absolutheit des Absoluten“ (HW, 199) garantieren kann – und muss. Vor diesem Hintergrund werden für Heidegger die metaphysischen Wurzeln von Jüngers (man muss schon fast sagen: angeblich) planetarischem Denken und 52 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 531. 53 So lässt Heidegger einen 1943 entstandenen Aufsatz, in dem er eine Lektüre von „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘“ gibt, unmittelbar auf den Kommentar zur Einleitung der Phänomenologie des Geistes folgen (siehe HW, 209). 54 Zu dieser vertikalen Verbindung der Präfiguration mit der überzeitlich-göttlichen Ordnung siehe Erich Auerbach, „Figura“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern u. München 1967, S. 55-92, hier S. 71.
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Schreiben sichtbar. Denn nicht nur lässt sich die teleopoietische Strategie der Präfiguration, die für Jünger so zentral ist, schon bei Hegel nachweisen. Ein Vergleich mit Hegel verdeutlicht überdies die metaphysischen Entscheidungen, die Jüngers, aber auch Schmitts Vorstellungen von der Erde, wenngleich weitgehend unausdrücklich, bestimmen, und die sich immer noch einem Sonnendenken – und eben keinem Planetendenken – verschreiben. Erhärtet kann diese These werden, wenn man die Schädelstätte der Phänomenologie des Geistes nicht nur in Bezug zur besonderen zeitlichen Struktur des Hegel’schen Systementwurfs setzt, sondern auch zur spezifischen Bedeutung, die dem Planeten Erde in diesem Systementwurf zugesprochen wird.
1.4 Sonne und Erde bei Hegel, Jünger und Schmitt In ihrer ganzen Widersprüchlichkeit bezeichnet Hegels Philosophie für Heidegger die Kulmination eines onto-theologischen Denkens, das bis zu Platons Definition des Guten zurückreichen soll.55 Im Sonnengleichnis der Politeia wird das Gute erstmals und für die gesamte folgende Tradition grundlegend als „höchste und erste Ursache“ (WM, 235) definiert, was das ontologisch-theologische Paradigma der Metaphysik institutionalisiert: „Theologie bedeutet hier die Auslegung der ‚Ursache‘ des Seienden als Gott und die Verlegung des Seins in diese Ursache, die das Sein in sich enthält und aus sich entläßt, weil sie das Seiendste des Seienden ist.“ (HW, 236) Hegel versucht diese Theologie mit einer solchen Radikalität zu begründen, dass er zunächst alles Seiende auflöst, um es daraufhin in seiner Gesamtheit aus dem höchsten Seienden, in dem es virtuell ‚enthalten‘ ist, zu ‚entlassen‘. Dafür muss das Absolute aber zuerst im Wir der Phänomenologie zu sich kommen, mithin zum Heiligen Geist einer Gemeinde von absolut Wissenden werden.56 Denn erst wenn „das Gute“57 die Substanz aus dem Subjekt hervorgehen lässt, kann es seine „absolute Macht“58 beweisen. Von einer Sonne, die im Fluchtpunkt des Systems eingesetzt würde, ist bei Hegel zwar keine Rede mehr, das bedeutet aber nicht, dass sie auf ewig untergegangen ist. Vielmehr lässt Hegel, der in seinen frühen Jenaer Entwürfen zur Logik bekanntlich noch ein „System der Sonne“59 plant, die Sonne auf einem bestimmten Kontinent des Planeten Erde wiederaufgehen. In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, demjenigen Text also, der die Wissenschaften in ihrer Totalität zu einem Kreis schließt, wird die „Gestalt“60 55 Siehe Platon, Politeia, in: ders., Opera, 5 Bde., hg. v. E.A. Duke, Oxford 1995, Bd. 4, 506 b-d. 56 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 498 u. 526. 57 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Religion, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1969, Bd. 2, S. 56. 58 Ebd. 59 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jenenser Logik, Metaphysik und Naturphilosophie, hg. v. Georg Lasson, Leipzig 1923, S. 195-239. 60 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970, Bd. 2, S. 340.
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der Erde herausgehoben, weil sich nur auf ihr Leben entwickelt habe. Indem sie damit ein „Bild des Lebens“ biete, zeige sie sich nicht nur den anderen Planeten und Gestirnen, sondern sogar der Sonne überlegen. Allerdings beschränkt sich dieser Ausnahmecharakter der Erde darauf, „Grund und Boden des Lebens“61 zu sein, weshalb sie denn auch nicht mehr darstellt als einen „Leichnam“62 und ein „Knochengerüst“63. Durch diese Doppeldeutigkeit – zwar ein Bild des Lebens, aber eben auch nur ein Bild des Lebens darzustellen – nimmt der Planet nun genau die Stelle der „Schädelstätte“64 der Phänomenologie des Geistes ein, die ebenfalls eine zwar unabdingbare, aber auch notwendig zu überwindende Voraussetzung des idealen Lebens jenseits aller Endlichkeiten bildet. Dass auch die Erde durch eine solch zwiespältige Bedeutung ausgezeichnet ist, macht Hegel deutlich, wenn er den spezifischen Modus ihres Daseins definiert: „So vom Leben als sein Boden gesetzt ist die Erde gesetzt als nicht gesetzt, denn das Setzen wird durch die Unmittelbarkeit verdeckt. Das Andere ist denn, daß diese Voraussetzung sich selbst auflöst.“65 Diese Auflösung besorgt allerdings weniger die Erde selbst als der „absolute Idealismus“.66 Insofern, als der absolute Idealismus „das fortdauernde Tun des Lebens“67 ausmacht, hat er zwar „immer ein Anderes an ihm“68, hebt dieses Andere aber zugleich auch auf: „Wäre das Leben Realist, so hätte es Respekt vorm Äußeren; aber es hemmt immer die Realität des Anderen und verwandelt sie in sich selbst“.69 Die Aneignung der ‚toten‘ Erde durch das Leben zeigt sich so Spivaks Modell eines Globalen verpflichtet, das suggeriert, „daß wir diese Form der Globalität beherrschen“70 könnten. Hegels Paradoxie einer Unmittelbarkeit der Gestalt der Erde, die gesetzt und doch nicht gesetzt ist, könnte als Ausgangspunkt einer präfigurativen Lektüre dienen, die – gleichsam mit Hegel gegen Hegel – die Unaufhebbarkeit des Bezugs zur Erde als einem Anderen betonen würde: „Der Planet hingegen besteht im Zeichen der Alterität, er gehört einem anderen System an; und doch bewohnen wir den Planeten“.71 Tatsächlich kann Hegel hier, wie anderswo, die Anverwandlung des angeblich äußerlich bleibenden Anderen nur über den Tod begründen. Denn dass die „Glieder der Erde“ auch über den Wechsel der Generationen hinweg „beharren“,72 wird gerade nicht als Privileg gewertet: „[D]as Leben-
61 62 63 64 65 66 67 68 69 70
Ebd. Ebd., S. 349. Ebd., S. 340. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 531. Hegel, Enzyklopädie, Bd. 2, S. 343. Ebd., S. 338. Ebd. Ebd. Ebd. Gayatri Chakravorty Spivak, Imperative zur Neu-Erfindung des Planeten. Imperatives to Re-Imagine the Planet, hg. v. Willi Goetschel, Wien 1999, S. 45. 71 Ebd. 72 Hegel, Enzyklopädie, Bd. 2, S. 344.
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dige hat dagegen den Vorzug, zu entstehen und zu vergehen“.73 So hat das Leben des absoluten Geistes die tote Erde prinzipiell immer schon hinter sich gelassen, wenngleich es sich nur auf dieser Erde realisieren kann. Damit ist zugleich der Tatbestand erfüllt, den Heidegger als „Einbruch der von der Metaphysik geprägten Welt“74 und der ihr entsprechenden „Verwüstung der Erde“75 charakterisiert. Hegels System muss nun nur noch umgekehrt (oder in Marx’ berühmter Wendung: vom Kopf auf die Füße gestellt werden), damit man von einem vom Weltmarkt „monopolisierten Erdball“76 sprechen kann. Denn trotz seiner Umkehrung des dialektischen Idealismus in einen dialektischen Materialismus bleibt die Erde für Marx toter Boden, auf dem sich Arbeit vollzieht: „Wert ist Arbeit. Mehrwert kann daher nicht Erde sein.“77 So hält auch er am postulierten Vorrang der „Arbeit des Negativen“ fest, die die „Selbstbewegung der Form“78 – hier der „historischen Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses“79 – nur dadurch bestimmen kann, dass sie alle Substanz auflöst. Die onto-theologische bzw. nunmehr onto-typologische Figur einer unbedingten Selbst-Produktion des Arbeiters durch seine Arbeit und seiner Arbeit durch den Arbeiter entfaltet sich zwar auf der Erde, lässt sie aber nur als Substratum zum Tragen kommen, das ihr immer äußerlich bleibt. Darin drückt sich der Versuch einer zumindest imaginierten Überwindung des irdischen Standpunkts aus, die in der verborgenen Heliozentrik der Hegel’schen Enzyklopädie kulminiert. Hegel bewertet die „Glieder der Erde“80 nicht gleich. Während sich im angeblich „verdumpft[en]“ Afrika „das Lunarische“ an der Erde niederschlage, werde das angeblich „wild[e]“ Asien durch eine „kometarische Ausschweifung“ charakterisiert, die ebenfalls einen Aspekt der Erde ausmachen soll.81 Weil es zwischen diesen beiden Extremen des Lunarischen und Kometarischen stehe, bündele sich in Europa (und vor allem „dessen Mitte Deutschland“82) ihr „solarisches […] Leben“.83 Dadurch spielt Europa natürlich eine besondere Rolle, so dass sich Hegels Eurozentrismus durch einen gleichsam auf die Erde hinuntergeholten Heliozentrismus begründet. Damit kann Europa zur Pfeilspitze des philosophischen Fortschritts werden und wird sogar in eine ballistische Figur eingespannt, die die teleopoietische Strategie eines Jünger auf der Erde einzeichnet. Wenn Hegel die Form der Alten Welt mit „einem gespannten Bogen“84 vergleicht, der auf die 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84
Ebd. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, S. 70. Ebd. Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, 43 Bde., Berlin (Ost) 1956-1990, Bd. 25, S. 824. Ebd., S. 823. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 15. Marx/Engels, Werke, Bd. 25, S. 824. Zur Bedeutung der Morphologie bei Marx siehe Antonio Labriola, Saggi sul materialismo storico, hg. v. Valentino Gerrantana u. Augusto Guerra, Rom 1964, S. 35. Hegel, Enzyklopädie, S. 344. Ebd., S. 351. Ebd. Ebd., S. 343. Ebd., S. 350.
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Neue Welt gerichtet ist, dann lässt er keinen Zweifel daran, dass der Pfeil nur von Europa ausgehen kann. Deshalb sei auch die Neue Welt „nur eine Beute Europas“85 geworden. Zu Beginn seines Phänomenologie-Kommentars geht Heidegger auf diese Vorstellung ein, dass die Neue Welt von der neuzeitlich-europäischen Philosophie und der aus ihr hervorgehenden Technik und Industrie kolonialisiert wird. Dass er in ihr offenbar weitaus mehr als eine beliebige Veranschaulichung sieht, zeigt sich, wenn er die Landnahme der Neuen Welt in Phasen unterteilt: „Das Land wird nur schrittweise erobert und vollständig vermessen. In den vollständigen Besitz gelangt es dann, wenn das fundamentum absolutum als das Absolute selbst gedacht ist“ (HW, 129) – also mit der Philosophie Hegels. Nur auf den ersten Blick scheint sich Heidegger hier Schmitts Kritik an Hegels Landnahme einer Neuen Welt anzuschließen. Denn während Schmitt die Auflösung der konkreten Wirklichkeit des Hier und Jetzt zugunsten einer „Neue[n] Welt mit einem Neuen Menschen“86 moniert, wendet sich Heidegger gegen die Annahme, dass sich ein solcher Neuer Mensch und dessen Neue Welt überhaupt verwirklichen ließen. Wenn Heidegger also Hegels präfigurative Vorwegnahmen der Zukunft ablehnt, dann nicht, weil sie einer zügellosen Entortung der Ordnung geschuldet sind, sondern weil sich ihnen die alte Herrschaft des Europäischen über die restliche Welt perpetuiert. Anders als Schmitt macht Heidegger diese europäische Hegemonie nicht an der geopolitischen Unterscheidung von Land und Meer fest, sondern am Bezug der Erde zur (platonischen) Sonne. Die Sonne stellt dabei ebenso wenig die Veranschaulichung eines abstrakten Begriffs dar wie der Leviathan für Schmitt ein beliebiges Bild war. Wie nach ihm Derrida sieht Heidegger in der Sonne vielmehr die zentrale Gedankenfigur der Metaphysik verkörpert, die es sogar vermocht habe, die Wahrheit unter ihr „Joch“ (WM, 230) zu bringen. Dass er damit eine radikale Gegenposition zu Schmitt beziehen muss, der versucht, die „Sonne des Reichsbegriffs“87 am Himmel einer in Großräume eingeteilten Erde aufgehen zu lassen, dürfte auf der Hand liegen. Für Heideggers Kritik an einem planetarischen Denken, das an der Sonne orientiert bleibt, ist es dabei gleichgültig, ob das implizite Weltmodell geozentrisch oder heliozentrisch konzipiert ist. Ausschlaggebend ist allein die (scheinbare) Bahn der Sonne, die im Osten auf- und im Westen untergeht. Diese Bahn bindet Heidegger an die Entwicklung der Metaphysik, die damit beginnt, dass Platon die Sonne zum höchsten Seienden erhob, und mit Hegels Reszendenz der Sonne in einem Europa, das die Neue Welt kolonialisiert hat, ganz zu sich kommt. Diesen „[m]etaphorische[n] Parcours des Platonischen eidos bis hin zur Hegelschen Idee“88 wird Derrida als einen „Kreis des 85 Ebd. 86 Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen [1963], Berlin 2006, S. 80. 87 Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht [1939], Berlin 1991, S. 49. 88 Jacques Derrida, „Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text“, in: ders. Randgänge der Philosophie, übers. v. Günther R. Sigl, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, S. 205258, hier S. 244.
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Heliotrops“89 bezeichnen, der gerade dann seine Macht bestätigt, wenn die Metapher sich (scheinbar) verflüchtigt oder überwunden wurde. Weder die kopernikanische Wende noch das scheinbare Ende des metaphysischen Denkens könne diese Kreisfigur überwinden, sondern nur in einer ‚weißen Mythologie‘ invisibilisieren. Da Hegel am Ende dieses ‚metaphorischen Parcours‘ steht, implementiert er die Kreisfigur in einer gleich doppelten Weise. Das „Bild“90 des absoluten Wissens ist der Kreis, die sich erreicht habende Linie, die geschlossen und ganz gegenwärtig ist, ohne Anfangspunkt und Ende. Die wahrhafte Unendlichkeit so überhaupt als Dasein, das als affirmativ gegen die abstrakte Negation gesetzt ist, ist die Realität im höheren Sinn als die früher einfach bestimmte; sie hat hier einen konkreten Inhalt erhalten. Das Endliche ist nicht das Reale, sondern das Unendliche. So wird die Realität weiter als das Wesen, der Begriff, die Idee usf. bestimmt.91
In der Schließung des Kreises überwindet die Arbeit des Negativen die Negativität, die sie zuvor gegen sich selber gewendet hat. So steht dieser Kreis in einem widerspruchsvollen Verhältnis zur Erdkugel, in deren „abgerundete[r] Totalität“ bereits „der Anfang […] dasselbe“ war, „was das Ende ist“.92 Da sich diese zwei Schließungen aber gegenseitig äußerlich bleiben, sieht Heidegger das bei Hegel erreichte Ende der Philosophie in zwei zusammenhängende, aber nicht aufeinander reduzible Formen des Endes gespalten: Das „Zeitalter der Vollendung der Metaphysik“ (E, 86) impliziert auch eine „Loslassung der Metaphysik in ihre Verendung“ (ebd.). Aufgrund seines zutiefst dialektischen Denkens, das das Unendliche nur im Endlichen fassen kann, dieses Endliche aber auch prinzipiell negieren muss, kann Hegels System als ‚Vollendung‘ des Endlichen im Unendlichen, aber ebenso auch ‚Verendung‘ des Unendlichen im Endlichen gelten: „Die Verendung hat dabei die Gestalt der Ausbreitung dieser zu sich selbst gekommenen Neuzeitlichkeit in das Planetarische.“ (E, 96) Dass er hierbei in erster Linie an Hegel denkt, wird deutlich, wenn Heidegger den „reine[n] und unbedingte[n] ‚Geist‘“ (E, 80) schon als völlig selbstbezüglichen und narzisstischen „Willen zum Willen“ (ebd.) fasst, welcher sich erst durch „das irrsternliche Zusammenschießen aller Mächte zum Willen zum Willen“ (E, 96) zu konstituieren vermöge. Indem also Hegel seinen „Kreis von Kreisen“93 auf der Erde einzeichnet, führt er diese in die Dimension des Planetarischen. So stimmt Heideggers Diagnose, dass das Planetarische auf Hegel zurückgeht, zwar generell mit derjenigen Schmitts überein, seine Begründung ist aber eine gänzlich andere. Noch in den Kreisfiguren eines angeblich post-metaphysischen und post-kopernikanischen Denkens will Heidegger Schwundstufen der plato89 90 91 92 93
Ebd., S. 254. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 1, S. 164. Ebd., S. 164-165. Hegel, Enzyklopädie, Bd. 2, S. 339-340. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 2, S. 571.
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nischen Sonne nachweisen; ein Versuch, der vor allem bei Jünger erfolgversprechend ist. Dessen planetarisches Schreiben auf einer Erde, die „kosmischen Wirbel zu“94 fliegt, nimmt für sich in Anspruch, über die „kopernikanische[ ] Welt“95 hinauszuführen, kulminiert aber ausgerechnet in einem Roman über einen Sonnenstaat. Dass Heliopolis tatsächlich weit weniger irrsternlich denn solar ausgerichtet ist, zeigt sich insbesondere zum Schluss, wenn der Held des Romans (als wäre er eine prä-kopernikanische Sonne96) die Umlaufbahn um eine im Zentrum stehende Erde erreicht. So kann man Heideggers Kritik, dass man bei der Lektüre von Jüngers Marmorklippen „den hinreichend weiten, d.h. planetarischen Horizont“ (WM, 390) nicht in den Blick bekomme, sogar auf Jüngers planetarisches Schreiben überhaupt ausweiten. Der Horizont von Jüngers Schriften zieht sich zu einem Kreis zusammen, der durchweg von der Sonne bestimmt wird; und das obwohl Jünger letztlich eine geozentrische, auf den Planeten zentrierte, Perspektive einnimmt. So fällt auch die Wahl der Grenzlinie, an der seine Texte mit der planetarischen Wirklichkeit kommunizieren sollen, nicht zufällig auf den Meridian. Diese Wahl zeigt auch, wie Jünger über Hegel hinausgeht. Hat Hegel den sonnenhaften Aspekt der Erde noch im konkreten Kontinent Europa verortet, vollzieht Jünger den Schritt zum abstrakt ‚Europäischen‘, indem er den Meridian, die ‚Mittagslinie‘ (von lat. meridies, ‚Mittag‘) zum Index der Sonne macht. Dies kappt jedoch nur, wie Heidegger nicht müde wird zu betonen, den Bezug zum politischen Eurozentrismus, nicht aber zur europäischen Metaphysik. Obwohl also die personalen und nationalstaatlichen „Imperatoren“ (E, 95) verabschiedet sind, bleibt die imperialistische Haltung – Jüngers planetarische Gestalt des Arbeiters, die zwischen Empire und Multitude changiert, macht dies eindrucksvoll deutlich97 – in abstrahierter Form auch weiterhin bestehen. Gegenstand der „planetarischen Herrschaft“ (E, 95) ist eine Erde, die fortan „ohne Bezugnahme auf historisch nachweisbare Abwandlungen bei Völkern und Kontinenten gedacht werden“98 wolle. Sie wird von einem um sie kreisenden anonymisierten, kosmopolitischen und kosmonautischen Kollektiv unterjocht, wie zuvor die Wahrheit von der Sonne unterjocht wurde. Im Unterschied zur platonischen Sonne kann der Satellit des Jünger’schen Regenten allerdings, weil er nur ein reszendentes Surrogat der Sonne bieten kann, bezeichnenderweise auch nie die prä-kopernikanische Grenze überwinden, die die physisch-sublunare von der metaphysisch-astronomischen Welt trennt.99
94 Jünger, Werke, Bd. 2, S. 12. 95 Ebd. 96 Von einer Sonnenbahn des Helden spricht auch Julia Draganović, Figürliche Schrift. Zur darstellerischen Umsetzung von Weltanschauung im erzählerischen Werk Ernst Jüngers, Würzburg 1998, S. 216-219. 97 Die Ausdrücke „Empire“ und „Multitude“ stammen von Hardt/Negri; siehe Michael Hardt u. Antonio Negri, Empire, Cambridge 2000 und Multitude. War and Democracy in the Age of Empire, New York 2004. 98 Heidegger, Vorträge und Aufsätze, S. 79. 99 Für die kulturanthropologischen Implikationen dieser Grenze siehe Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt a.M. 1981, S. 11-46.
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Von Heidegger sind keine prominenten Aussagen zum satellitenhaften Autorschaftsprinzip von Heliopolis erhalten, in dem Jüngers planetarisches Schreiben kulminiert. Seine Kritik an Jüngers Festhalten an derselben Sprache diesseits und jenseits des Meridians steht aber in einem unmittelbaren thematischen Zusammenhang mit den im Ereignis verstreuten Hinweisen, dass der Mensch heute zu einem um die Erde kreisenden „Trabant[en] der Verwüstung“ (E, 82) geworden sei, der sich nun zusehends selbst die „Atmosphäre des Planeten“ (E, 92) untertan mache. Ausdrücklich wird dieser Zusammenhang zwischen Sprache und Satellit in Heideggers späteren Erläuterungen zur metaphysischen Komplizenschaft, in der die Satellitentechnik und die Suche nach einem Metacode stehen sollen: Das klingt wie Metaphysik, klingt nicht nur so, ist auch so; denn die Metalinguistik ist die Metaphysik der durchgängigen Technifizierung aller Sprachen zum allein funktionierenden interplanetarischen Informationsinstrument. Metasprache und Sputnik, Metalinguistik und Raketentechnik sind dasselbe. (UzS, 160)
Hand in Hand gehen die Erarbeitung einer technischen Metasprache und die Einrichtung eines Satellitenorbits, weil beide versuchen „eine letzte Position der totalen Kontrolle der Erde außerhalb derselben in Besitz“ (UzS, 212-213) zu nehmen, in der sich die „vollständige Herausforderung der Erde in die Sicherung der Herrschaft über sie“ (UzS, 212) vollendet. Jüngers planetarisches Schreiben ist, sofern es sich als eine Befehlssprache formuliert und einen Souverän in den Erdorbit einsetzt, zutiefst an dieser metaphysischen Komplizenschaft von Sprache und Raketentechnik beteiligt, in der sich die Welt-Anschauung und die Welt-Sprache der Technik implementieren. Vor dem Hintergrund dieser Komplizenschaft wird auch deutlich, was es für Heidegger bedeutet, dass Jüngers Satelliten nur ‚Trabanten der Verwüstungen‘ sind, die einerseits einen vor-neuzeitlichen Geozentrismus wiederbeleben, andererseits den Zugang zur super-lunaren Welt prinzipiell verbauen. Denn wenn sich der Satellit und die Metasprache als vorgeblich objektive Außenperspektive in Szene setzen, lassen sie damit auch keinerlei Außenperspektive auf sich zu. Dazu heißt es prinzipiell bereits im Ereignis: Selbst wenn einer die Bewußtheit soweit ausdehnen könnte (es gelten jetzt nur „Ausmaße“), daß er all das zu übersehen vermöchte, was auf dem Planeten vor sich geht, selbst dann, ja dann sogar erst völlig, wäre dieser Weitblickende außerstande, über der so gedehnten Kenntnis des Wirklichen die einzige Wirklichkeit zu sehen. (E, 100)
Diese Ausblendung der „Wirklichkeit“, in der sich das „Wirkliche“ zeigt (WM, 390) – das wird Heidegger in Über „die Linie“ wiederholen – ist ein Effekt des „Willens zur Macht“ (ebd.), und das heißt, wie Heidegger ebenfalls dort Jünger gegenüber präzisiert, eines völlig selbstbezüglichen „Willens zum Willen“ (WM, 413), der im Hegel’schen „Willen des Geistes und dessen totaler Selbstbewegung“ (WM, 414) vorbereitet worden sei. Zum Kreis des sich selbst wollenden Willens geschlossen, verwandle sich diese totale Selbstbewegung in einem „totalen Ar-
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beitscharakter“, durch den „der Mensch meinen kann, er begegne nur noch sich selbst.“ (WM, 407) Indem Jüngers Texte ihre Kreise um den Planeten ziehen, unterwerfen sie den gesamten Planeten einer Kreislogik, die Hegels ‚Kreis von Kreisen‘ zu einem technischen, quasi-kybernetischen „Befehlskreis“100 schließt. In einer Textsammlung zum Thema Überwindung der Metaphysik, die Heidegger ein Jahr vor seiner Linien-Schrift (1954) veröffentlicht, die jedoch bereits zu Beginn der 40er Jahre entstanden sein soll, charakterisiert er die planetarische Organisation deshalb auch als „Zirkel (Kreis)“ von „‚Sektoren‘“, die die „Ordnung und Sicherheit jeglicher Planung in jedem Bezirk“ des Seienden garantieren sollen.101 Vorausgesetzt ist ein zumindest imaginärer Überblick über den Planeten: „Ordnen heißt hier planende Einteilung in Abschnitte (Sectoren), innerhalb deren selbst alles übersehbar sein muß für eine Einrichtung, die alles sich zurichtet für jede beliebige Verwendung im Dienste des Willens zum Willen“. (E, 109) So verbindet sich in der Annahme einer erdenthobenen Position des Menschen, dessen Kreisziehungen die Erde einteilen und sichern helfen, Heideggers Kritik an der Weltanschauung, den neuen Medien und der Kybernetik.102 Mit ‚Weltanschauung‘ meint Heidegger bekanntlich weniger eine Ideologie als das Zum-Bild-Machen von Welt und Erde und das daraus abgeleitete Verfügen über sie. An diesen Thesen, die in Die Zeit des Weltbildes von 1938 erstmals formuliert werden, hält Heidegger bis zuletzt fest. In einem späten Vortrag weitet er diese Kritik explizit auf die Kybernetik aus: „So lesen wir bei Norbert Wiener, einem der Begründer der Kybernetik, d.h. der am weitesten ausgreifenden Disziplin der modernen Technik: ‚Die ganze Welt sehen und der ganzen Welt Befehle erteilen, ist fast das gleiche wie überall zu sein.‘“103 Das ist genau die Befehlssprache, von der Jünger im Arbeiter spricht. Sie steht zwar in einem engen Zusammenhang mit den militärischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, wo „Leibniz bei der Geschoßbahn-Analyse“ durch „Maschinen auf der Basis rekursiver Funktionen“ ersetzt wurde104, ist aber weniger als militärische denn als technische Befehlsfolge zu verstehen. Jüngers planetarisches Schreiben verbindet diese Befehlssprache mit der Satellitenperspektive, wenn es die Grenze, an der die Herrscherfiguren Denken und Wirklichkeit miteinander kommunizieren lassen, im Orbit um die Erde verortet. Da die planetarische Gestalt des Arbeiters für Heidegger eine letzte, völlig verkehrte Form der metaphysischen Transzendenz-Figuren darstellt, entgeht Jünger damit zugleich auch das, was für Heidegger die eigentliche Pointe eines planeta100 Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, S. 38. 101 Heidegger, Vorträge und Aufsätze, S. 92. 102 Eine solche Kritik am Begriff der Weltanschauung und ihrer Implementierung in Medien und Kybernetik steht auch hinter Virilios Entwurf einer „planetarischen Globalisierung“. Siehe Paul Virilio, Panische Stadt, übers. v. Maximilian Probst, hg. v. Peter Engelmann, Wien 2007, S. 24 u. passim. 103 Martin Heidegger, Überlieferte Sprache und technische Sprache, hg. v. Hermann Heidegger, St. Gallen 1989, S. 25-26. 104 Friedrich Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 375.
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1. DAS KREISEN UND DER PLANET
rischen Denkens sein müsste: der Untergang der platonischen Sonne und der damit einhergehende „Einsturz der von der Metaphysik geprägten Welt“105. Um in einer solchen Situation der „aus der Metaphysik stammende[n] Verwüstung der Erde“106 entgegenzuwirken, müsse diesem Untergang der platonischen Sonne in einer ganz anderen Weise entsprochen werden. So spricht Heidegger seit der Mitte 30er Jahre von einer „Nacht der Metaphysik“ (BzP, 293), die in genau dem Moment über der Erde heraufziehe, in dem sie zum „Irrstern“ (E, 85) werde. Der Ausdruck Irrstern ist eine etymologisierende Übersetzung des Wortes Planet, das vom griechischen planasthai, umherirren, verschlagen sein abgeleitet ist107 und in der Astronomie zunächst diejenigen Himmelskörper bezeichnet hat, die (wie der Mars oder die Venus) von der Erde aus betrachtet keiner Kreisbahn zu folgen schienen. Nimmt Heidegger diesen Ausdruck nun für die Erde in Anspruch, so will er damit die Macht des Kreises und der Sonnenbahn brechen, ohne jedoch hinter die kopernikanische Welt in einen neuerlichen Ptolemäismus zurückzufallen. Vielmehr schreibt sich Heideggers Geozentrik von der exzentrischen, post-kopernikanischen Bahn einer Erde her, die nicht mehr in ein System eingebettet ist, das sich um ein Zentrum dreht – sei dieses Zentrum wie im ptolemäischen Weltbild von der Erde oder wie im kopernikanischem Modell von der Sonne besetzt. Was sich so als Heideggers Ansatz zu einem planetarischen Denken konturiert, wird in Kostas Axelos’ Vers la pensée planétaire weitergeführt, wenn dort eine Konzeption des Menschen eingefordert wird, die diesen „nicht mehr als Sonne, sondern als Planeten interpretiert“.108 Dass die ‚Geozentrik‘ von Heideggers späterem Denken ebenfalls nicht als Rückkehr zu vormodernen Weltmodellen zu verstehen ist, zeigt sich etwa darin, dass Heidegger Carl-Friedrich von Weizsäcker gegenüber – und für diesen recht befremdlich – darauf besteht, dass man abends nicht sagen dürfe, „die Sonne gehe unter“, sondern „der Horizont hebe sich.“109 Diese Umkehrung des lebensweltlichen Scheins bindet die Endlichkeit des menschlichen Blicks auf die Welt an die Abwendung der Erde von der Sonne. Die sich drehende Erde wird damit tatsächlich zu einer Kugel, die – wie es bei Jünger zwar heißt, aber vielleicht nicht konsequent gedacht wird – „mit Geschossesgeschwindigkeit in Raumestiefen fliegt“.110 Um dieser Provokation gerecht zu werden, sieht sich Heidegger gezwungen, mit einem Systemdenken zu brechen, das einen Mittelpunkt annimmt, um den sich
105 Heidegger, Vorträge und Aufsätze, S. 70. 106 Ebd. 107 So heißt es zu Beginn der Odyssee, dass Odysseus „sehr viel umhergeirrt“ sei: „mala polla / planchthê“; Homer, Odyssee, in ders., Opera, hg. v. David B. Monro u. Thomas Allen, Oxford 1920, Bd. 3 u. 4, Gesang 1, Vers 1-2. 108 Kostas Axelos, Vers la pensée planétaire. Le devenir-pensée du monde et le devenir-monde de la pensée, Paris 1964, S. 18: „quand l’homme ne s’interprète plus comme un soleil mais comme une planète.“ 109 Zitiert in Carl-Friedrich von Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, München u. Wien 1977, S. 407. 110 Jünger, Werke, Bd. 2, S. 12.
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alles dreht, und stattdessen eine Erde zu konzipieren, die auf einer exzentrischen Bahn durch ein All fliegt, das kein Zentrum mehr aufweist. Dass Heidegger dieser exzentrischen Position gleichwohl einen epistemologisch ausgezeichneten Status zusprechen kann, liegt an der besonderen zeitlichen Situation zwischen Vollendung und Verendung der Metaphysik. Da die sich von der Sonne wegdrehende Erde auf dem Weg in das „Nachtland“ (E, 97) ist, kann Heidegger (zunächst eher missverständlich) von einem „Abend-land“ (E, 98) sprechen, in dem diese Kehre in die Nacht der Erde erfahrbar ist. Schon ist diese Kehre erfahrbar, weil die Metaphysik sich bereits vollendet hat; sie ist noch erfahrbar, weil die Verendung der Metaphysik erst beginnt. Zwar ist das Abendland durchaus auch als Gegenmodell zu dem vom europäischen Kontinent losgelösten, frei flottierenden Europäischen gedacht; es sucht aber – trotz der scheinbaren Orientierung an den Begriffen des Okzidents und des Landes – keine Reterritorialisierung auf das frühere Europa oder auf ein anderes Territorium. Es handelt sich vielmehr um die Form von Welt, mit der Heidegger – im Gegensatz zu der Neuen Welt, die Hegels und Jüngers Texte an ihrer Grenze entwerfen – seine späteren Texten kommunizieren lassen will. Da der Zeit-Raum, der sich in seiner Rede von einem Land des Abends artikuliert, in einem komplexen zeitlichen Bezug zur kommenden „Nacht der Metaphysik“ (BzP, 293) steht, bringt Heidegger damit auch eine neue Konfiguration des futur antérieur ins Spiel. Heideggers Auseinandersetzung mit der Zeit des Planetarischen erklärt sich so nicht zuletzt auch als die Überwindung – oder, wie der spätere Heidegger schreiben würde: eine „Verwindung“ (E, 141) – seiner eigenen Frühphilosophie, deren zentrale Figur des hermeneutischen Zirkels ebenfalls eine verborgene Anleihe bei der Heliotropik der Metaphysik macht. Diese Anleihe ist es auch, die die in Sein und Zeit versuchte Kehre vom Sein zur Zeit scheitern lässt.
2. Die Erde in der Kehre 2.1 Vom Sein zur Zeit transzendieren: Sein und Zeit I Wenn das Ende der Metaphysik für Heidegger eine Chance darstellt, dann nicht, weil es eine Überwindung der Metaphysik und ihrer Verstrickungen verspricht, sondern weil im Spannungsfeld von Vollendung und Verendung die gesamte Geschichte der Metaphysik (und zwar in einer bestimmten Zeitlichkeit) zugänglich geworden ist. Diese spezifische Situation am Ende der Metaphysik ist Heidegger in gewisser Weise schon in Sein und Zeit klar; der dort unternommene Schritt über die Metaphysik hinaus verfängt sich aber in einer Fortschreibung der metaphysischen Tradition. Da Sein und Zeit zumindest in diesem Anspruch Jüngers Vorstellung, über eine letzte Linie treten zu können, verwandt ist, lässt sich Heideggers spätere Konzeption eines Willens zum Willen auch in den Zusammenhang einer Kritik stellen, die dem 1927 (fragmentarisch) erschienenen Werk gilt. Vor diesem Hintergrund wird sich Sein und Zeit, das bis heute gemeinhin als Heideggers Hauptwerk angesehen wird, noch in einer Komplizenschaft mit dem „irrsternliche[n] Zusammenschießen aller Kräfte“ (E, 96) zu diesem Willen zeigen. Obwohl es sicher übertreiben wäre, von einer ‚Kehre‘ Heideggers ins Planetarische bzw. in das Land des Abends zu sprechen, so weist doch, wie schon Massimo Cacciari betont hat, seine Auseinandersetzung mit Jünger, die sich in Heideggers Linien-Schrift niederschlägt, ins Zentrum der Kehre-Problematik.111 Stein des Anstoßes ist für Heidegger die präfigurative Psychodynamik Jünger’scher Texte, deren typologische Lektüre höchste hermeneutische Autorität für sich beansprucht und damit zugleich immer neue Positionsbestimmungen rechtfertigt, die die früheren entwerten. Gegen diese Konstitution einer Werkeinheit und einer von ihr behaupteten Wirklichkeit um einen souveränen Fluchtpunkt herum setzt Heidegger seit der Mitte der 30er Jahre verstärkt auf ein Verständnis des Werks als eines möglichen, aber nicht unbedingt privilegierten Wegs unter anderen. Deutlich wird die Distanz zu Jünger spätestens, wenn Heidegger sich und seinen Lesern die Frage vorlegt, ob „das Stürzen und Steigen“ (BzP, 84), in dem sich ein Buch wie die Beiträge zur Philosophie verliert, überhaupt noch einen Weg bahnt. Wo Jünger einen Fluchtpunkt setzt, sieht Heidegger mehr und mehr eine sich ständig entziehende Horizontlinie, was auch der Grund sein wird, warum er zum Abschluss seiner Linien-Schrift dafür plädiert, die Linie gänzlich aufzulösen. Dahinter steht vor allem Heideggers Kritik an der medialen Herstellung und Beherrschung des Wirklichen, die in den kybernetischen Phantasien, eine virtuelle Omnipräsenz durch einen alles sehenden Blick und eine alles beherrschende Sprache zu erreichen, einen Höhepunkt erreicht. So sieht Heidegger wie auch später Virilio das ständige Sich-Entziehen der Horizontlinie durch die medi111 Massimo Cacciari, „Dialogo sul Termine. Jünger e Heidegger“, in: Studi Germanici 21-22 (198384), S. 291-302, hier S. 298.
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alen Dispositive des „real-time“112 in Gefahr, auf ein bedeutungsloses Nichts reduziert zu werden. Um diesen Tendenzen entgegenzuwirken, versucht er die Kreisbewegungen der Erde und auf der Erde, die von Jünger kybernetisch überformt werden, als polymorphe und polyvalente Kehre-Dynamiken zu reformulieren. Diese Neuakzentuierung seines Denkens öffnet den im Zentrum von Sein und Zeit stehenden hermeneutischen Zirkel für das, was Heidegger später etwa als „das Gewinde (den Kranz) des Ereignisses“ (E, 141)113 bezeichnet. Um die Auswirkungen zu ermessen, die diese Neuausrichtung vor allem auf die Vorstellung von Autorschaft in einem möglichen (planetarischen) Denken zeitigt, ist ein kontrastiver Blick auf Heideggers Frühphilosophie notwendig. Dass ein solcher Zusammenhang von Früh- und Spätdenken besteht, legt Über „die Linie“ schon allein deshalb nahe, weil Heidegger darin auf den Text seiner Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? von 1929 eingeht. Dieser textliche Hinweis steht metonymisch für eine ganze Reihe von thematischen Querverbindungen, die weit über die Antrittsvorlesung hinausreichen. So führt ein früher Aufsatz über Das Wesen der Wahrheit den Begriff der „Irre“ (WM, 197) ein, der deswegen unmittelbar in die spätere Konzeption des Irrsterns übergehen kann, weil er auch dort schon im Dienst einer nachdrücklichen Verunsicherung und Verkehrung der Frage nach dem steht, was Wahrheit sei. Wie der Titel ankündigt, stellt der Aufsatz die Wahrheitsfrage zunächst in der traditionell philosophischen Weise als Frage nach dem Wesen der Wahrheit – aber nur, um sie im Verlauf des Textes zur „Frage nach der Wahrheit des Wesens“ (WM, 201) verkehren zu können, weil – wie sich herausstellen wird – jene Frage aus dieser überhaupt erst „entspringt“ (ebd.). In dieser Umkehrung hofft Heidegger den Wahrheitsstatus all dessen, was die Metaphysik als wesentlich postulierte, fragwürdig werden zu lassen. Heidegger versucht hier wie auch in Was ist Metaphysik? – mit einer durchaus neuzeitlichen Geste – grundlegende philosophische Gewissheiten hyperbolisch in Zweifel zu ziehen. Diese zwei Texte, die sich in radikalen Verunsicherungen gefallen, stehen beide im thematischen Umkreis des nicht weniger grundstürzenden Sein und Zeit. Dort werden die in Das Wesen der Wahrheit vorgestellte „Irre“ (WM, 197) und das in Was ist Metaphysik? problematisierte „Hinaussein über das Seiende“ (WM, 115) in einem Begriff des menschlichen Daseins in der Welt zusammengeführt. Dieses soll sich dadurch auszeichnen, dass es strukturell in einen Horizont transzendiert, der (in unauflöslicher Weise) zugleich wahr und nicht wahr ist: „Der volle existenzialontologische Sinn des Satzes: ‚Dasein ist in der Wahrheit‘ sagt gleichursprünglich
112 Die letzte Folge der Auflösung des Planeten sei dabei die Gleichsetzung der Horizontlinie mit dem Bildschirm, der den totalen Überblick und die totale Verfügungsgewalt über den Planeten sicherstellt. Siehe hierzu Paul Virilio, Die Verblendung der Kunst, übers. v. Maximilian Probst, hg. v. Peter Engelmann, Wien 2007, S. 32. 113 Im Kranz sieht Derrida den „‚Sonderfall‘ einer Knotenstruktur von Verwicklungen und Verschlingungen“, der eine „Entgrenzung“ des Kreises bewirkt, Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, übers. v. Andreas Knop u. Michael Wetzel, München 1993, S. 19.
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mit: ‚Dasein ist in der Unwahrheit‘.“114 Wo sich die planetarische Dimension dieses unhintergehbaren Horizonts andeutet, steht sie allerdings unter der Maßgabe der gegen Ende des publizierten Teils von Sein und Zeit eingeführten „Weltzeit“ (SuZ, 414), die sich am Lauf der Sonne bemisst. Dass, wie dort zu lesen steht, jede Verabredung, die sich am Stand der Sonne orientiert, implizit auch auf die „Polhöhe des ‚Ortes‘“ (SuZ, 416) verweist (für Standpunkte auf verschiedener Polhöhe bezeichnet der scheinbar gleiche Stand der Sonne eine andere Stunde), ist eine Setzung, die theoretisch nie eingeholt wird und folglich auch nicht in die Definition der Weltzeit eingehen kann. Indem Sein und Zeit so den „Horizont“ (SuZ, 411) von den Positionen auf der Erde in den „Himmel“ (SuZ, 413) verlegt, partizipiert der Text noch an der Heliotropik der Metaphysik. Der Gefahr, die neuzeitliche Geste einer letztgültigen Überhöhung und Aufhebung der Welt- und Philosophiegeschichte nur zu wiederholen, der die Schrift dadurch ausgesetzt ist, scheint Heidegger nach der Niederschrift des Abschnitts über die Weltzeit bewusst geworden zu sein. Nicht nur bricht der Text wenige Seiten danach ab, darüber hinaus widmen sich die letzten Paragraphen einer emphatischen Abhebung seiner Zeitanalysen gegen Hegels Begriff der Zeit als dem Element, in welchem sich der (zuletzt in Hegels eigener Philosophie zu sich kommende) absolute Geist realisiert. Motiviert werden diese Passagen, wie Heidegger zugeben muss, weil „die vorstehende Interpretation der Zeitlichkeit des Daseins und der Zugehörigkeit der Weltzeit zu ihr mit Hegel übereinzukommen“ (SuZ, 405) scheint. Nun will Heidegger noch einmal verdeutlichen, dass dieser Vorwurf nur das „Resultat“ der Zeitanalyse trifft, nicht aber ihren „Ansatz“, der vielmehr „gerade gegensätzlich zu ihm [Hegel, ma] orientiert ist“. (SuZ, 405) Und doch schlägt diese Vergleichbarkeit der Resultate auch auf den Ansatz des Werkes zurück, wie vor allem der wissenschaftliche Anspruch zeigt, mit dem Sein und Zeit auftritt und der sich schließlich ein letztes Mal mit der Heliotropik verbündet, um eine endgültige philosophische Neugründung von Wissenschaft in der empirischen Weltzeit des Erdendaseins zu leisten. Was Sein und Zeit damit droht, ist – nach dem späteren Heidegger-Wort – eine Reszendenz. Damit ist aber nur eine von zwei Grundtendenzen von Sein und Zeit benannt, die sich gegenseitig blockieren und so die im Text versuchte Kehre von Sein und Zeit zu „Zeit und Sein“115 vereiteln. Wenn man die gegenläufige Grundtendenz betrachtet, wie es hier zunächst getan werden soll, stellt sich heraus, dass man Heideggers Versuch, sich von Hegel abzuheben, nicht schlicht als unlauter kritisieren kann. Denn Sein und Zeit ist seinem Selbstverständnis nach gerade nicht am Jünger’schen (und Hegel’schen) „Aufstand der Wirklichkeit gegen die Realität“116 beteiligt, sondern will einen Aufstand der Möglichkeit gegen die Wirklichkeit ent114 Martin Heidegger, Sein und Zeit [1927], Tübingen 2001, S 222. Sein und Zeit wird fortan unter Angabe der Sigle SuZ sowie der entsprechenden Seitenzahlen im laufenden Text zitiert. 115 So hieß der Abschnitt von Sein und Zeit, der unmittelbar auf den 1927 publizierten Text folgen sollte. Zum Aufriss der Abhandlung siehe SuZ, 39-40. 116 Jünger, Werke, Bd. 7, S. 128.
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fachen. Dass dieser Versuch scheitert, dass Sein und Zeit also, wie Heidegger in einer späteren Marginalie in Unterwegs zur Sprache festhält, ‚nicht durchgekommen‘117 sei, rührt nicht zuletzt von dem ‚Resultat‘ her, das Heidegger vom ‚Ansatz‘ abhebt. Im strengen Sinn kann nämlich von einem Übergang (Transzendenz von trans-scendere) in die Kehre, wie ihn Heidegger in den 1920er Jahren noch erwirken will, keine Rede sein. Wenn die sprachliche Formulierung (und nicht bloß die begriffliche Fixierung) von Gedanken einen wesentlichen Anteil am Gelingen der Kehre hat, dann stellt diese Vorstellung eines Übergangs sogar eine unüberwindliche Hürde dar. Im Laufe des folgenden Jahrzehnts wird Heidegger immer klarer, dass eine Sprache, die sich von der Metaphysik und namentlich von deren neuzeitlicher Form lösen will, sich auch von der Sprache der Metaphysik absetzen muss. Diese Überzeugung steht auch hinter Heideggers Kritik, dass Jünger „im Raum diesseits und jenseits der Linie“ (WM, 394) dieselbe – metaphysische – „Sprache“ (ebd.) spreche. Welche Implikationen Heideggers Entscheidung, die Suche nach einer ‚Metasprache‘ aufzugeben, auch für eine mögliche planetarische Perspektive des Denkens haben könnte, zeigt sich – vielleicht nicht zufällig – just in dem Aufsatz, in dem Heidegger die Marginalie über das „Nichtdurchkommen“ von Sein und Zeit zu „Zeit und Sein“ notiert.118 Wie oben schon bemerkt, setzt der Aufsatz Vom Wesen der Sprache, der wiederum eine fundamentale Verunsicherung der metaphysischen Wesensfrage erprobt, die Versuche, eine transzendentale „Metasprache“ (UzS, 160) zu erarbeiten, mit den Versuchen der „Raketentechnik“ (ebd.) gleich, eine transzendente Position im Erdorbit einzunehmen. Dies sind aber nicht Heideggers erste Schritte in Richtung eines planetarischen Denkens. Solche lassen sich schon weit früher, und zwar bereits zu Beginn der 30er Jahre nachweisen. In seinem gleichermaßen berühmten wie umstrittenen Aufsatz über den Ursprung des Kunstwerkes führt Heidegger – damit schon über die ‚Planeten-Vergessenheit‘ von Sein und Zeit hinausweisend – die Erde als Gegenbegriff zur Welt ein. Obwohl er dort spezifiziert, dass der Begriff der Erde weder auf die „Vorstellung einer abgelagerten Stoffmasse“ (HW, 28) reduziert werden dürfe noch auf die „nur astronomische eines Planeten“ (ebd.), bedeutet das nicht, dass diese Aspekte einfach abgedrängt würden. Vielmehr geht es Heidegger in den folgenden Jahren zusehends darum, die Frage nach dem Horizont von Welt und Sprache in den konkreten irdischen Standpunkt des Menschen einzubetten. Die Einführung eines irdischen Horizonts verschärft die wichtige anti-teleologische, mithin auch anti-Hegelianische Grundtendenz von Sein und Zeit, auf welche Rainer Schürmann nachdrücklich hingewiesen hat.119 Gleich auf der ersten Seite von Sein und Zeit hat Heidegger einem solchen „Fortschritt[s]“-Denken (SuZ, 2) entgegengehalten, dass die nachgriechische Philosophie keinen Fortschritt be117 Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache (Gesamtausgabe, Bd. 12), hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1985, S. 151. 118 Ebd. 119 Siehe hierzu Reiner Schürmann, Le principe d’anarchie. Heidegger et la question de l’agir, Paris 1982, S. 27-28.
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deuten kann, weil die bei Platon und Aristoteles grundsätzliche Problematik von Sein und Nichts vergessen worden sei. Um diese und andere „Vorurteile“ (SuZ, 2) – von denen es (als würde Heidegger hier den späteren Sprachgebrauch Schmitts vorwegnehmen) heißt, sie würden „die Bedürfnislosigkeit“ eines Fragens nach dem Sein „hegen“ (ebd.) – zu überwinden, nimmt sich Heidegger vor, die bei Platon gekämpfte Gigantomachie um das Sein (vgl. ebd.) bei seinen Lesern neu zu entfachen. Um sie dem Niemandsland, in dem diese Schlacht geschlagen wird, auszusetzen, entwirft der Text die Leser als ein Seiendes, dem es „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“ (SuZ, 12). Was auf den ersten Blick eine anthropologische Aussage über die Selbstbezüglichkeit des Daseins zu sein scheint (eine Interpretation, die im Übrigen schon Heidegger selbst als Missdeutung gebrandmarkt hat), erweist sich im Zusammenhang mit Platons Riesen-Schlacht als Anverwandlung von Jüngers Schreiben über die Schützengräben des Ersten Weltkriegs: Dass der Mensch erst in komplexen Netzwerken zu sich kommt, die den Unterschieden von Freund und Feind, Mensch und Technik, Organ und Prothese vorangehen, wird in Sein und Zeit zur „Geworfenheit in den Tod“ (SuZ, 308) überhöht. Erst diese soll es dem Menschen erlauben, sich auf etwas hin zu entwerfen und dabei entweder zu sich zu kommen oder aber sich zu verfehlen. Allerdings verschreibt sich Heidegger hier, wie gesagt, trotz missverständlicher Formulierungen keinem „Aufstand der Wirklichkeit gegen die Realität“.120 Denn wenn es in Sein und Zeit heißt, das „‚Wesen‘ des Daseins liegt in seiner Existenz“ (SuZ, 42), dann ist damit gemeint, dass das (immer nur menschliche) Dasein sich, weil es immer schon in den Tod geworfen ist, auf eine Zukunft hin entwerfen muss. Es geht Heidegger also weniger darum, das Diesseits gegen Vorstellungen eines Jenseits zu mobilisieren, als die Möglichkeiten, auf die hin sich das Dasein entwirft, vom Begriff der Wirklichkeit zu befreien. Die nachgriechische Philosophie habe, so Heidegger, die Frage nach dem Sein nicht stellen können, weil sie insgesamt einem solchen Primat der Wirklichkeit – und zwar zumeist in der massiven Form der Vorhandenheit – verschrieben gewesen sei. Wie umfassend dieser Aufstand gegen die Wirklichkeit geplant ist, zeigt sich darin, dass Sein und Zeit gleich das gesamte „All des Seienden“ (SuZ, 9) erschüttern will. Vorbild dieser Unterminierung traditionellen Wissens ist – neben der ebenfalls erwähnten Grundlagenkrise in der Mathematik121 – insbesondere die Erschütterung der Newton’schen Physik durch die Relativitätstheorie (siehe SuZ, 9-10).122 Mit Einsteins Thesen verbindet Heideggers Projekt die Polyperspektivik von Be120 Jünger, Werke, Bd. 7, S. 128. 121 Vgl. hierzu Kittler, der in diesem Zusammenhang auch auf die Nähe des frühen Heidegger zu Nietzsche und Jünger verweist; Friedrich Kittler, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2000, S. 226-227. 122 Heidegger wird zeitlebens die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Physik suchen. Gesprächspartner sind hierbei vor allem Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker; siehe hierzu Hans-Peter Hempel, Natur und Geschichte. Der Jahrhundertdialog zwischen Heidegger und Heisenberg, Frankfurt a.M. 1990, sowie Christina Vagt, „Komplementäre Korrespondenz. Heidegger und Heisenberg zur Frage der Technik,“ in: MTN. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 19.4 (2011), S. 391-406.
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2. DIE ERDE IN DER KEHRE
trachterfiguren, die, weil sie in eine Raumzeit eingebettet sind, keine souveräne Position außerhalb von Zeit und Raum einnehmen können. So stellt Sein und Zeit den Anspruch, die angesetzte (auf Wirklichkeit irreduzible) Möglichkeit auszuweisen, indem der Text seine Leser eine solche Möglichkeit vollziehen lässt. Damit suspendiert er auf ganz eigene Weise den Unterschied von Konstativum und Performativum: Wirklichkeit und Notwendigkeit (sowie die Aussagen über Wirklichkeit und Notwendigkeit) sind hier nur im Rückgang auf eine jeweils eigene Möglichkeit des Lesers sinnvoll, die auch nur dann intellektuell erfahrbar ist, wenn sie existentiell durchgemacht wird. Da in dieser sonderbaren Verschlingung von Verstehen und Stimmung das besteht, was in Sein und Zeit als hermeneutischer Zirkel firmiert, gilt es textstrategisch – und zwar für Autor und Leser gleichermaßen –, „ursprünglich und ganz in diesen ‚Zirkel‘ zu springen, um sich schon im Ansatz der Daseinsanalyse den vollen Blick auf das zirkelhafte Sein des Daseins zu sichern“ (SuZ, 315). Mit anderen Worten setzt das Buch (in einer der Jünger’schen Psychodynamik durchaus vergleichbaren Weise) auf Leser, die einen Sprung mitmachen. Ebenfalls analog zu Jüngers Textstrategien wird Sein und Zeit seine Leserschaft dafür bis an eine Grenze führen, ohne diese jedoch selbst zu überschreiten.123 Im Gegensatz zu Jünger jedoch fasst Heidegger das kollektive Denken und Handeln des Daseins nicht als Gestalt, sondern als „Mitsein“ (SuZ, 120), und nicht als Arbeit, sondern als „Entwurf“ (SuZ, 145). Weil Heidegger damit die Prozessualität der Textdynamik, die alle Produkte, Aussagen und Setzungen in sich auflöst, noch einmal verschärft, kann man selbst hier schon – zumindest im Prinzip – nicht von einem ‚Jenseits‘ der Linie sprechen: An die Stelle eines Jünger’schen rite-de-passage, der einen Neuen Menschen schafft und in eine Neue Welt führt, tritt bei Heidegger das Sein zu einem Tod, der zwar die „eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit“ (SuZ, 250) des jeweiligen Menschen bezeichnet, aber nirgendwo verortet werden kann. Die „nächste Nähe“ (SuZ, 262) des Todes will Heidegger vielmehr dem „Wirklichen so fern als möglich“ (ebd.) denken, weil sie den Menschen unausgesetzt „aus der Ferne in die Ferne“ (SuZ, 271) verweist. Dank dieses ständig präsenten, wenngleich nie lokalisierbaren Bezugs auf eine Ferne, die folglich überall und jederzeit in die scheinbar ‚gehegte‘ Nähe des Lebens einbrechen kann, „zerbricht“ (SuZ, 264) Sein und Zeit mit der „Versteifung auf die je erreichte Existenz“ (ebd.) auch jede Teleologie124; und das obwohl gerade Heideggers Sein zum Tode die Struktur bereithalten soll, die die Intentionalität menschlichen Verhaltens (und das bedeutet dann auch jede Teleologie) überhaupt erst ermöglicht. Die ständig mit dem Leben 123 Diese Figur der infinitesimalen Annäherung an eine nicht zu überschreitende Grenze (sowie an eine dem Anderen überlassene, gleichwohl ihm als dringlich anempfohlene Entscheidung) wird als Struktur eines „endlichen Denkens“ überhaupt formalisiert in Jean-Luc Nancy, Une pensée finie, Paris 1990, S. 115-118. 124 Vgl. hierzu wiederum Schürmann, Le principe d’anarchie, S. 27-28. In einer Vorlesung von 1927, die die Kehre von Sein und Zeit zu Zeit und Sein kurz skizziert, schreibt Heidegger, die Teleologie sei ein unzulässiger „Einbruch des gesunden Menschenverstandes in die philosophische Problematik“. Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1997, S. 419.
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des Menschen gegebene Möglichkeit des Todes schließt die Versuche etwa der Phänomenologie des Geistes, den Tod in einen „dialektisch-spekulativen Karfreitag“ (HW, 202) umzudeuten, radikal aus, weil sie die präfigurative Vorwegnahme einer Wiederauferstehung in einem neuen, ganz anderen Leben ausschließt.125 Anders gesagt, ist der Tod immer nur als Möglichkeit präsent, nie als Wirklichkeit. Die Zeitlichkeit des menschlichen Lebens und Todes, die ein Denken teleologischer Präfigurationalität zugleich ermöglicht und verunmöglicht, wird Heidegger gegen die metaphysische Vorstellung der Zeit als eines verlaufenden Kontinuums ausspielen.126 Statt wie die Philosophen von Aristoteles bis Hegel anzunehmen, dass die Zeit ein Fluss ist, der von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft verläuft, konzipiert Heidegger die Zeit des Daseins als Dauerkonflikt einer Vergangenheits- und einer Zukunftsdimension, die sich gegenseitig den Primat streitig machen: Die Unhintergehbarkeit einer (der Vergangenheit zugeordneten) Geworfenheit steht in einer unauflösbaren Spannung mit einem (der Zukunft zugeordneten) Entwurf. Allein in diesem sich stets verschlingenden Zirkel, so unterstreicht Heidegger wieder und wieder, kann sich so etwas wie Gegenwart und Präsenz von Dingen und Menschen sowie der Bezug zu diesen konstituieren. Was Heideggers Zeitkonzeption von derjenigen eines Aristoteles oder Hegel unterscheidet (die beide ebenfalls davon ausgehen, dass sich die Zeit letztlich zu einem Kreis rundet), ist demnach, dass sie weder wie bei Aristoteles an die meta-physischen Kreisbahnen der Gestirne gebunden wird, noch wie bei Hegel ein transzendentes Leben nach dem Tod annehmen muss. Dass Heidegger mit der Neufassung der zeitlichen Struktur des Daseins jeden Anhalt an der Wirklichkeit – und sei sie auch eine im All beobachtbare oder im Jenseits postulierte – aufgekündigt haben will, schlägt sich insbesondere in seinem Begriff der Welt nieder, die „als Welt“ (SuZ, 74) nur dann zugänglich wird, wenn sie sich zugleich auch „verabschiedet“ (ebd.). Die Totalität der netzwerkartigen Bezüge, in denen der Mensch zu sich kommt, stellt sich folglich als eine Virtualität dar; erfahrbar wird sie nur in Stimmungen wie der Angst, welche Heidegger bekanntlich streng von der Furcht unterscheidet. Während diese sich auf ein „in der Nähe sich näherndes, abträgliches Seiendes“ (SuZ, 185) bezieht, entziehe sich in der Angst dagegen alles Seiende. In ihr wird der Mensch in einer solchen Weise auf sich selbst zurückgeworfen, dass er gerade nicht in der Selbstbezüglichkeit (eines 125 Zur Bedeutung des Todes von Hegel bis Heidegger siehe Sean Ireton, An Ontological Study of Death. From Hegel to Heidegger, Pittsburgh 2007. 126 Derrida kritisiert diese Neukonzeption der Zeit als selbst letztlich metaphysisch; siehe Jacques Derrida, „Ousia und Gramme. Notiz über eine Fußnote in Sein und Zeit“, in: ders., Randgänge der Philosophie, hg. v. Peter Engelmann, S. 57-92. – Womöglich beruht Derridas Lektüre aber auf einem Missverständnis des Heidegger’schen Zeitbegriffs. Siehe hierzu etwa Derridas Charakterisierung von Heideggers Zeit-Begriff als „Gegenwart“, die „aus der Zukunft kommt, um auf die Vergangenheit zuzugehen“. Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, übers. v. Susanne Lüdemann, Frankfurt a.M. 2004, S 42-43. Zu Heideggers Anaximander-Aufsatz, der Derridas Kritik zugrunde liegt, liegt seit kurzem eine akribische Studie vor von Sergiusz Kazmierski, Die Anaximanderauslegung Heideggers und der Anfang des abendländischen Denkens, Nordhausen 2011.
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Seienden, dem es in seinem Sein um dieses Sein geht) aufgehen kann. Vielmehr breche im sich ängstigenden Dasein die innere Gespaltenheit auf, die ein jedes Selbstverhältnis heimsuche. Weil solche Heimsuchungen die Unheimlichkeit und das Unheimischsein des Menschen beweisen sollen, kursiviert Heidegger den programmatischen Satz: „Das Un-zuhause muß existenzial-ontologisch als das ursprünglichere Phänomen begriffen werden“ (SuZ, 189) als das Zuhause. In der Angst beginnt sich eine andere Topologie abzuzeichnen, in der die messbaren Abstände in Raum und Zeit durch eine Dimension ersetzt werden, die Nähe und Ferne kollabieren lässt. Vollends durchsetzen soll sich diese neue Topologie, die die räumliche und zeitliche Orientierung des In-der-Welt-Seins radikal verunsichert, in der „Bereitschaft zur Angst“ (SuZ, 296), durch die sich das sogenannte ‚Sein zum Tode‘ auszeichne. Damit ist der dem Fremden und Fernen offene Kreis umrissen, in den Sein und Zeit seine Leser ausdrücklich versetzen will. Der Sprung in diesen Kreis soll es ihnen erlauben, sich von technisch und sozial bestimmten Programmen – in Sein und Zeit als „das Man“ (SuZ, 126) bezeichnet – zu emanzipieren und selbstverantwortlich zu denken und zu handeln. Deshalb lässt Heidegger den „Ruf“ (SuZ, 273) des Gewissens, das den jeweiligen Menschen vor sein „eigenste[s] Seinkönnen“ (ebd.), d.h. den Tod bringt, gerade und nur in solchen Erfahrungen der Haltlosigkeit am und im Seienden hörbar werden. Diese Tendenz von Sein und Zeit, seine Leser in einen ‚Weltkreis‘ hermeneutisch nie restlos einlösbarer Möglichkeiten zu versetzen, der den verfestigten Umkreis des Wirklichen und scheinbar Notwendigen aufsprengt, wird Heideggers späteres Denken sogar noch verstärken. Dabei tritt an die Stelle der Angst, die von der Ferne in die Ferne verweist, als neue „Grundstimmung“ der „Schmerz“, (E, 222) der unmittelbar ergreift und somit das Denken aus den fernen Welten wieder auf die Erde zurückholt. Denn erst in den schmerzbestimmten Topologien des späteren Heidegger wird vollends deutlich, dass es weniger darum geht, dass die Nähe in eine Ferne hinausweist, als darum, dass die Ferne bis in die unmittelbarste Nähe hineinreicht: „Die seynshafte Nähe des Fernsten ereignet sich im Schmerz der Erfahrung des Ereignisses.“ (E, 236) Indem er den Menschen damit sozusagen wieder verortet, verdeutlicht dieser Wandel der Grundstimmung auch die Erdgebundenheit des Daseins. Der Horizont, der durch den Schmerz umzirkt wird, entzieht sich zwar stets der Vergegenständlichung, er zeichnet sich zugleich aber auf der Erde und in den Leib des Menschen ein. In der Passage zu Hegel, die Heidegger für die Neuauflage von Über „die Linie“ einfügt, wird er sogar so weit gehen, den Schmerz als letzte Form des Logos anzusprechen. Dafür stellt Heidegger das griechische Wort für Schmerz, algos, in einen tentativen etymologischen Zusammenhang mit legein: „Vermutlich ist algos mit alegô verwandt, das als Intensivum zu legô das innige Versammeln bedeutet. Dann wäre Schmerz das ins Innigste Versammelnde.“ (WM, 404) Den Schmerz interpretiert Heidegger so als letzte und intensivste Möglichkeit der Kreisformationen, die geschichtlich im legein des griechischen Logos ihren Ausgang nehmen. Gerade dadurch, dass er hier eine Position strikt ausschließt, die außerhalb des Umkreises läge, der durch den Schmerz bestimmt ist, wendet sich Heideg-
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ger gegen Hegel und Jünger zugleich. Denn der Schmerz räume, indem er den Umkreis des Sichtbaren bestimme, nicht die Möglichkeit einer Außenperspektive ein; vielmehr soll er selbst jede Nähe dem begreifenden und umgestaltenden Zugriff entziehen. Damit entwirft Heidegger eine ganz andere Schmerzkonzeption als Hegel oder Jünger. Hegel geht davon aus, dass der Schmerz zwar strukturell zum „Weg der Verzweiflung“127 gehört, den seine Leser zurückzulegen haben, aber in dem Moment überwunden wird, in dem sie in das Wir der Wissenschaft Aufnahme finden. In dieser Weise versucht Hegels Philosophie die im 18. Jahrhundert aufkommende Transzendentalisierung des Schmerzes aufzuheben, für die nicht mehr Descartes’ ‚ich denke, also bin ich‘, sondern der Satz: ‚ich habe Schmerzen, also bin ich‘, leitend ist.128 Jüngers Texte, allen voran natürlich der Essay Über den Schmerz, inszenieren eine vergleichbare Überwindung des Schmerzes, wenn auch dort der Schmerz als „Prüfstein“129 aufgestellt wird für eine Leserschaft, die den neuzeitlichen „Zweifel“130 hinter sich lassen soll, um eine Stellung „außerhalb der Zone des Schmerzes“131 zu gewinnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird Jünger solche textlichen Gänge durch den Schmerz hindurch und über den Schmerz hinaus als „Initiationswehe[n]“132 derjenigen ritualisieren, die den Null-Meridian überschreiten, jenseits dessen „eine neue Zuwendung des Seins“133 statthaben soll. Wegen seines paradigmenbildenden Charakters hält Heidegger den SchmerzEssay für den am weitesten „vorspringende[n]“ (WM, 391) Text Jüngers. Wenn man so will, springt der Essay sogar zu weit vor, weil er eine schmerzenthobene Stellung postuliert. Vor allem, wenn Jünger diese Stellung als souveräne „Kommandohöhe“134 charakterisiert, die Leib und Leben als „Vorposten“135 einer kommenden Herrschaft instrumentalisiert, drängt sich die Distanz zu Heidegger auf. Im Gegensatz zu Hegel und Jünger betont dieser nämlich die Unabschließbarkeit der „Hermeneutik des Schmerzes“136, die eine Aufhebung oder Überwindung verhindert. Indem Heidegger also von der Angst auf den Schmerz umstellt, kann er die ständige Verkehrung von Nähe und Ferne, die Eigenes und Fremdes, Freundliches und Feindliches verschränkt, nicht mehr nur als drohende Entleerung aller Sinnbezüge fassen, sondern als aufdringliche und unhintergehbare Anwesenheit einer Absenz. Ein Denken, das sich von einem solcherart konzipierten Schmerz heimsuchen lässt, kann keine abschließende hermeneutische Autorität über sich 127 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 61. 128 Siehe Roland Borgards, Poetik des Schmerzes. Physiologie und Literatur von Brockes bis Büchner, München 2007, S. 427-429. 129 Jünger, Werke, Bd. 5, S. 152. 130 Ebd., Bd. 6, S. 155. 131 Ebd., Bd. 5, S. 187. 132 Ebd., Bd. 6, S. 656. 133 Ebd., S. 675. 134 Ebd., S. 164 135 Ebd. 136 So wird die im 18. Jahrhundert entstehende „Poetik des Schmerzes“ bezeichnet in Borgards, Poetik des Schmerzes, S. 286.
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selbst beanspruchen, so dass es ganz folgerichtig ist, wenn Heidegger mit Jüngers Nullmeridian auch das Wort Sein, das Grundwort seines eigenen Denkens, durchstreicht (siehe WM, 410-411). Um den spezifischen Kreis, zu dem sich Schmerz und Denken hier schließen, stärker zu konturieren, muss die Rolle untersucht werden, die die zum Irrstern gewordene Erde dabei spielt. Zuvor soll aber noch die Gegentendenz vorgestellt werden, die in Sein und Zeit mit dieser Öffnung des hermeneutischen Zirkels konkurriert und die dem Bann dessen verfällt, was Heidegger später als Reszendenz bezeichnen wird.
2.2 Von der Zeit zum Sein ‚reszendieren‘: Sein und Zeit II Der ‚Weltkreis‘, (in) den Sein und Zeit einzuführen versucht, nimmt die Form eines hermeneutischen Zirkels an, der sich für die haltlose Ferne der Angst öffnet. Allerdings wird dieser Kreis durchweg von einem anderen, sich zwischen Aristoteles und Hegel zur wissenschaftlichen Figur schlechthin erhebenden „Kreis von Kreisen“137 heimgesucht, so dass die Öffnung des Zirkels sich ständig wieder zu schließen droht. Denn selbst Sein und Zeit bietet sich noch für eine Lesart an, die den Text zur Grundlegung einer wissenschaftlichen Ausarbeitung der Fundamentalontologie in Regionalontologien macht (vgl. SuZ, 11). Dass eine solche wissenschaftliche Schulbildung – mit dem von der Ferne in die Ferne gezogenen Weltkreis – auch die Neufassung der Zeitlichkeit zu entschärfen droht, lässt sich insbesondere daran illustrieren, wie Heidegger hier die Begegnung mit dem Anderen sucht. Programmatisch wird die Möglichkeit einer solchen Begegnung in der Rezeption der Griechen konzipiert. Es wird sich zeigen, dass sich dieser Versuch einer denkerischen Begegnung mit den Griechen – ebenso wie Jüngers Begegnungen mit der Gestalt des Arbeiters – in einer Teleopoiesis verfängt. Die Möglichkeit, die griechische Seinsfrage zu wiederholen, der das Hauptaugenmerk von Sein und Zeit gilt, führt Heidegger unmittelbar auf die Eigenart der menschlichen Zeitlichkeit zurück. Der Ausdruck „Wiederholung“ (SuZ, 2) hat in diesem Zusammenhang also einen ganz spezifischen, an die existenziale Zeitlichkeit des Daseins rückzubindenden Sinn: Sein und Zeit will sich dasjenige Sein zum Tode in einer gewandelten Weise wiederaneignen (also: sich ‚wieder holen‘), das die griechische Philosophie bestimmt hat. „Destruktion“ (SuZ, 39) nennt sich dieser Zugang, weil er, um zu dieser ergriffenen Möglichkeit vordringen zu können, die (scheinbaren) Wirklichkeiten und die Wirkungsgeschichte des griechischen Denkens abbauen müsse. Gelingen kann eine solche Freilegung Heideggers performativem Ansatz zufolge aber nur, sofern der Freilegende und Wiederholende auch selber seine eigenste Möglichkeit ergreift. Der Nachweis einer Verschränkung der vergangenen und der wiederholenden Möglichkeiten ist demnach die methodische Crux von Sein und Zeit: Aus der eigenen (zukünftigen) Möglichkeit kommend, 137 Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 2, S. 571.
VON DER ZEIT ZUM SEIN ‚RESZENDIEREN‘: SEIN UND ZEIT II
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sollen seine Leser auf die entworfene (zukünftige) Möglichkeit der griechischen Vergangenheit zurückkommen können. Notwendig wird dieses Vorgehen, weil die Möglichkeit der Griechen (im Sinne einer auf Wirklichkeit irreduziblen Möglichkeit) niemals verwirklicht worden sei und so nur durch einen erneuten Entwurf zugänglich werde. Das griechische Denken wird so allerdings zu nichts als einer Präfiguration des Denkens von Sein und Zeit, das es in der Wiederholung zugleich auch der Erfüllung entgegentragen soll. Die Notwendigkeit einer solchen Erfüllung rührt daher, dass die Griechen zwar ‚in eigentlicher Weise‘ philosophiert, aber die Frage nach dem Horizont ihres eigenen Denkens nie ausdrücklich gestellt hätten. Hier zeichnet sich eine entscheidende Neuerung Heideggers gegenüber Husserl ab, die auch verdeutlicht, warum er eine hermeneutische Ausrichtung der Phänomenologie (siehe SuZ, 37-38) fordert. Es geht weder darum, die Intentionen eines Schreibenden (Dilthey) noch diejenige eines Textes (Gadamer) aufzudecken, sondern um die (Wieder-)Erlangung eines Möglichkeitshorizonts. Dadurch wird aber der Autor selbst zu einer ebenso wiederholenden Figur wie seine Leserschaft und setzt sich überdies der Relektüre durch spätere Leser aus. Damit kann das Dasein, das immer nur im gemeinsamen Vollzug einer präfigurativen Lektüre entsteht, niemals eine souveräne Position einnehmen. Die „Souveränität“138 der Autorfigur wird wie Nancy in Bezug auf Sein und Zeit nachdrücklich betont hat, auf ein „Nichts“139 reduziert, weil sie die Erlangung des Möglichkeitshorizonts zwar in Aussicht stellt, den „Einsprung ins Da-sein“ (SuZ, 443) aber den Lesern überlassen muss. Doch erweist sich gerade in dieser Geste die Nähe Heideggers zu Jüngers teleopoietischer Denkfigur, die an die Grenze führt, an welcher der Text mit einem Außen kommuniziert, das es im Sinne des Textes zu gestalten gilt. Diese Ausrichtung begründet den wissenschaftlichen Anspruch von Sein und Zeit, der in einer unaufgelösten Spannung zur gegenläufigen Tendenz der Befreiung des Lesers vom sogenannten ‚Man‘ steht. Wie bei Jünger kann man auch hier davon sprechen, dass dort, wo Man war, Wir werden soll – mit all der Ambiguität, die einer solchen kollektiven ‚Nahme‘ innewohnt. Insofern Sein und Zeit einem wissenschaftlichen Wir die fundamentalontologische Basis zu verschaffen sucht, kann Heideggers spätere Kritik an Hegels ständiger Vorwegnahme einer absoluten Position, die man durch den lesenden Nachvollzug der Phänomenologie des Geistes beziehen soll, auch gegen seinen eigenen Text gewendet werden, der somit das Ansinnen, metaphysische Gewissheiten radikal zu hinterfragen, immer schon verraten zu haben droht. Was damit schon den Ansatz von Sein und Zeit heimsuchen musste, wird in dem Abschnitt überdeutlich, der der Hegel-Kritik, die den publizierten Teil des Buchs beschließt, unmittelbar vorangeht. In diesem Abschnitt führt Heidegger ein eigenes „System der Sonne“ (SuZ, 432) ein, obwohl er zuvor am jungen Hegel auszusetzen hatte, dass er an einem solchen System festhalte. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Hegel-Kritik von Sein und Zeit, die sich vor allem an dessen Zeitbegriff abarbei138 Nancy, Une pensée finie, S. 115. 139 Ebd.
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tet, auch sachlich aus dem ihr vorangehenden Abschnitt erklären: Heidegger sieht sich offenbar zu dieser Kritik gezwungen, weil er die Zeit, die er zuvor von allem Bezug auf Wirkliches gelöst hat, wieder an die Sonne rückbindet. So fällt Heidegger, wie schon Friedrich Kittler betont hat, in einen „Positivismus“140 zurück, den er eigentlich schon überwunden zu haben glaubte. Mit der Einführung der Weltzeit bettet Heidegger die metaphorisch-metaphysische Rede von der Sonne sogar in die lebensweltliche Situation des Daseins im Wechsel von Tag und Nacht ein: Das alltägliche umsichtige In-der-Welt-Sein bedarf der Sichtmöglichkeit, das heißt der Helle, um mit dem Zuhandenen innerhalb des Vorhandenen besorgend umgehen zu können. Mit der faktischen Erschlossenheit seiner Welt ist für das Dasein die Natur entdeckt. In seiner Geworfenheit ist es dem Wechsel von Tag und Nacht ausgeliefert. Jener gibt mit seiner Helle die mögliche Sicht, diese nimmt sie. (SuZ, 412)
In diesem Zusammenhang kommt das erste Mal der Planet als solcher zum Tragen. Denn schon die ursprünglichste Form der Uhr, die „Bauernuhr“ (SuZ, 416), die den eigenen Schatten nach der Fußlänge misst, setzt die „Gleichheit der Polhöhe des ‚Ortes‘, an dem das Abschreiten des Schatten sich vollzieht“, (ebd.) voraus. Insofern, als sich wiederholende Vorkommnisse als geteilter Standard des Zeitmessung festgelegt werden, entsteht dank dieser ersten Zeitmessung zugleich die „Umweltnatur und die öffentliche Umwelt“ (SuZ, 413). Zwar kann man der „fortschreitenden Naturentdeckung“ auch die „Anweisung für neue Möglichkeiten der Zeitmessung“ entnehmen, „die relativ unabhängig sind vom Tag und der jeweilig ausdrücklichen Himmelsbeobachtung“, allerdings verweisen auch diese stets zurück auf das Prinzip „der natürlichen Uhr“. (SuZ, 415) Wenn Heidegger später den Begriff der Erde prägt, so schließt er offenbar an diese Überzeugung an, dass sich die Öffentlichkeit einer geteilten Umwelt erst dadurch konstituiert, dass die Abläufe, die sich in dieser Umwelt zeigen, ausgelegt und interpretiert werden. Dieser Horizont einer Welt, die sich um das Dasein herum entfaltet und dieses erst für sich und für Anderes zugänglich macht, wird in Sein und Zeit allerdings noch ausschließlich vom Sonnenlauf bestimmt. Weil die Sonne durch den Wechsel von Tag und Nacht die Welt des Menschen auf der Erde strukturiert, wird sie in den Fluchtpunkt an der Grenze des Textes gesetzt, wo die Möglichkeiten und die Faktizität des Daseins aufeinandertreffen und wo deshalb die Erfahrung des jeweiligen Lesers anzusiedeln ist. Dies ist kein Zufall, soll doch der Leser von Sein und Zeit dadurch ausgezeichnet sein, dass sich Sein und Seiendes in ihm auf besondere Weise verschränken. Der Vorrang des Inder-Welt-Seins ist, wie Sein und Zeit zu Beginn festhält, ein doppelter, sowohl ontisch als auch ontologisch charakterisierter. Dennoch soll dieser Primat des Menschen – und die Einführung einer nicht anthropomorph überformten Sonne, die den Möglichkeitsbereich menschlichen Lebens garantiert, unterstreicht dies noch einmal – keine Anthropozentrik begründen. Vielmehr versucht Heideggers Onto140 Kittler, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, S. 235.
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Theologie der Lebenswelt eine Begründung des „An-sich-Sein[s]“ (SuZ, 73) des Seienden zu leisten, die die neuzeitliche Orientierung am Subjekt verabschiedet. Der erste Schritt dahin war, das Subjekt von einem teleologischen Modell zu befreien. Wo dessen Erfüllung darin bestand, alles Andere und Äußere in sich aufzulösen, macht Sein und Zeit im Gegenteil auf die Ferne aufmerksam, die einer solchen Auflösung entgleitet. Der letzte Schritt, den Heidegger hier geht, ist, diese Ferne und Fremde im Möglichkeitshorizont eines menschlichen Lebens zu konkretisieren, das dem Wechsel von Tag und Nacht ausgesetzt ist. Dass sich das irdische An-Sich nur zeigt, sofern es durch die „Helle“141 des Tages erleuchtet wird, soll nämlich – wie es in einer Vorlesung vom Sommersemester 1927 heißt, die den abgebrochenen Weg von Sein und Zeit skizzenhaft weiterführt – auf eine noch fundamentalere „Temporalität“142 verweisen: „[I]hre Zeitigung durchherrscht das Dasein noch elementarer als die Tageshelle“,143 liegt jedoch nicht im Menschen als einem Subjekt beschlossen. Somit hat Heidegger mit der Sonne den Indifferenzpunkt erreicht, an dem er Ontik und Ontologie ineinanderfließen sieht. Der reszendente Charakter dieser Onto-Theologie wird insofern deutlich, als Heidegger hier nicht zuletzt auch nachweisen will, dass die platonische Sonne aus der spezifischen Situation des Menschen inmitten eines irdischen „An-sich-Sein[s]“ (SuZ, 73) abzuleiten sei. Wenn er so die platonische Argumentation, die mit der Sonne einen „Abkömmling“144 des Guten darzustellen versprach, umkehrt, droht die Neufundierung der Ontologie auf der Potentialität wieder durch das Vorhandensein der konkreten Sonne abgesichert zu werden. Der Rekurs auf die durch die Sonne strukturierte Weltzeit wäre dann der vielleicht radikalste Fall einer Heidegger’schen Reliteralisierung metaphysischer Metaphern und käme einer theologischen Sicherung der Ontologie in einem positivistischen höchsten Seienden gleich. Die Gegentendenz zur Entgegenständlichung des hermeneutischen Zirkels wäre demnach die Einführung einer temporalen Zyklik, die Hegels Kreis von Kreisen noch zu überbieten trachtete, indem sie die vorgeblich „formal-ontologische [...] Abstraktion“ (SuZ, 435) Hegel’scher Begrifflichkeiten auf die „‚Konkretion‘ der faktisch geworfenen Existenz“ (ebd.) zurückführt. Mit anderen Worten wäre Sein und Zeit dadurch, dass es den platonischen Ansatz umkehrt, an der Reszendenz der Transzendenz beteiligt: Wo Platon mit dem Sonnengleichnis auf eine Idee des Guten, die als Inbegriff des Möglichen gefasst wird, hinweisen will, verfällt Heideggers Versuch einer Einbettung von Sonne und Metaphysik in lebensweltliche Zusammenhänge – wohl zwangsläufig – der entgegengesetzten Tendenz einer Verdinglichung des Seins. Damit wird ein Vorrang der Wirklichkeit zementiert, der selbst noch die zu Beginn von Sein und Zeit heraufbeschworenen Grundlagenkrisen von Mathematik und Physik zu entschärfen vermöchte. Auf den letzten Seiten des abgebrochenen Projekts stellt sich der Wahrheits- (und Unwahr141 142 143 144
Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, S. 437. Ebd. Ebd. Platon, Politeia, 506e.
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heits-)Begriff von Sein und Zeit noch einmal unter das „Joch“ (WM, 230) der Sonne und zeigt sich damit zugleich dem platonischen Wahrheitsbegriff und der neuzeitlichen Philosophie verpflichtet. Die Folge des scheiternden Versuchs von Sein und Zeit wird eine gänzliche Neuinterpretation des Bezugs von Erde und Sonne sein, die weniger eine Entscheidung zwischen Geozentrik und Heliozentrik sucht als ein Denken der Erde, das sich völlig von der Sonne löst. Ein solches planetarisches Denken, das zwar post-kopernikanisch ist, aber nicht neo-ptolemäisch, bereitet sich in Heideggers Auseinandersetzung mit Kant vor.
2.3 Kants kopernikanische Revolution und Heideggers post-kopernikanische Kehre Die Erfahrung, die Sein und Zeit seinen Lesern vermitteln will, ist die einer Existenz, die zwischen Wahrheit und Unwahrheit, Tag und Nacht, Sein und Seiendem gespalten ist. Da dieses ‚An-Sich‘ in nichts anderem als dieser eminent erfahrbaren, wenn auch nicht begrifflich einlösbaren, Spaltung des Daseins besteht, wendet sich Heidegger entschieden gegen Kants Annahme, dass eine solche Erfahrung unmöglich sei, weil ihr kein Gegenstand entspreche. Heidegger kann sich nur deshalb in dieser Weise von Kant abheben, weil er die metaphysische Unterscheidung von Sinnlichkeit und Rationalität auf die ontologische Differenz von Sein und Seiendem verschoben hat. Dem Ding an sich kommt, wie in der Kritik der reinen Vernunft gezeigt wird, keine sinnliche Anschauung in Raum und Zeit zu, so dass es auch kein möglicher Gegenstand der Erfahrung ist. Weil sich die höchsten Ideen der Metaphysik als solche Dinge an sich, also als „Noumena“ und nicht als „Phaenomena“ erweisen, kann man bei Kant von einer Virtualisierung der Onto-Theologie sprechen: Gott, Welt und Seele, die drei Themen der metaphysica specialis145, sperren sich allesamt gegen eine Vergegenständlichung in Zeit und Raum. Was fortan als zulässiges Objekt der Erkenntnis gilt, bestimmt sich nicht mehr nach dem Rang des Seienden, sondern nach den Bedingungen seiner Denkbarkeit. Diese Wendung vom Gegenstand zum Denken ist als Kants kopernikanische Revolution in die Geschichte der Philosophie eingegangen. Die Grenze des Erfahrbaren und einem sicheren Wissen Zugänglichen wird in der Kritik der reinen Vernunft durch den Begriff der Möglichkeit im Sinne der „Möglichkeit eines Gegenstandes“146 gezogen. Die Privilegierung der Möglichkeit führt dazu, dass diese Modalität nach der Schematisierung der Kategorien zum ersten der „Postulate des empirischen Denkens überhaupt“147 wird, die den Bezug von Denken und Sein, Noumena und Phaenomena regulieren und die Erkenntnis von allem ausschließen, was nicht Phänomen werden kann. Nicht erst die Phänomenologie des 20. 145 Im Ausgang von einer Kritik der metaphysica specialis entwickelt sich auch die Metaphysik-Kritik von Axelos, Vers la pensée planétaire, S. 39-40 u. 111-133. 146 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 267. 147 Zur Unterscheidung von Phaenomena und Noumena siehe ebd., B 294-315.
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Jahrhunderts, sondern schon diejenige des Deutschen Idealismus macht gegen diese Unzugänglichkeit des rein Intellektuellen Front. Wo es aber einem Hegel darum geht, das Wissen um Gott, Welt und Seele in einem absoluten (Sich-Selbst-)Wissen zu verwirklichen – mithin die Vorhandenheit eines Dings an sich, das dem Menschen unzugänglich wäre, zu bestreiten –, will Heidegger auf den Horizontcharakter des Möglichkeitsbegriffs abheben – also das An-Sich von der Vorstellung befreien, dass es in irgendeiner Weise wie ein Ding vorhanden sein könnte. Nicht zuletzt deshalb, weil Kant die begriffliche Uneinholbarkeit des An-Sich behauptet, wird Heidegger seinen Begriff von Möglichkeit und Zeit gegen Hegel aufbieten.
Sein und Zeit unterstreicht, dass sich bei Kant „ein radikaleres Verständnis der Zeit“ (SuZ, 427) abzeichnet als bei Hegel, weil Kant die Möglichkeit als Grenzbegriff charakterisiert. Denn nicht nur fasst Kant die Schematisierung der Kategorien zu transzendentalen Grundbegriffen als deren Verzeitlichung, sondern setzt überdies den „Zeitinbegriff “148 in die Postulate des empirischen Denkens. Damit ist die vierte Abteilung der Grundsätze den anderen dreien (die jeweils „die Zeitreihe, den Zeitinhalt, die Zeitordnung“149 strukturieren) „dem Rang nach vorgeordnet“150, wie es in einer Heidegger’schen Vorlesung aus den späten 1930er Jahren heißt. Allerdings wird dieser Zeitinbegriff selbst nicht näher untersucht, so dass der Möglichkeitsbegriff zwar eine Grenze bildet, aber sein Zusammenhang mit der Zeitlichkeit nicht thematisch werden kann. Dass die darauf basierende „Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Noumena und Phaenomena“ somit das „Äußerste“ ist, was Kant „erreicht“, wird für den Heidegger der 30er Jahre zum Stein des Anstoßes. (E, 113) So ist nämlich ihre „Unterscheidung selbst nicht gegründet“, „weil ihr Grund grund-los“ ist. (E, 113) Noch im Ereignis wirkt sich also der Ansatz von Sein und Zeit aus, dem es darum ging, den Zusammenhang von Möglichkeit und Zeit als Horizont des Seins zu denken. Dass dieser Ansatz in den dazwischenliegenden gut zehn Jahren noch verschärft wird, zeichnet sich schon mit der Niederschrift der ersten sogenannten ereignisgeschichtlichen Abhandlung ab, mit den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis), die das Modalitätenproblem Kants als das Problem der „Zerklüftung“ (BzP, 278) neu formulieren. In Heideggers Konzeption einer Geschichte des Ereignisses weicht die Annahme eines einheitlich gespannten Horizonts einer komplexen Verwerfung, die nicht nur den „Weg“ (BzP, 84) des Denkens, „wenn das Stürzen und Steigen so heißen kann“ (ebd.), fragmentiert, sondern auch das „Land“ (BzP, 86) dieses Denkens, das „an jeder Wegstelle unbekannt und nicht zu errechnen“ (ebd.) sei, mit Rissen durchzieht. Diese Rede von einem ,Land‘ des Denkens deutet an, wie der Grenzcharakter der Möglichkeit, die bei Kant noch eine äußerliche Grenze bezeichnete, sich bei Heidegger in das strukturgebende Prinzip einer neuartigen Topologie der Erde verwandelt. Heidegger meint hier nämlich offenbar weder das „Land“ (HW, 129), das Hegels Phäno148 Ebd., B 185. 149 Ebd. 150 Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen, hg. v. Petra Jaeger, Frankfurt a.M. 1984, S. 243.
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menologie des Geistes denkerisch in „vollständigen Besitz“ (ebd.) genommen habe, noch „das Land der Wahrheit“151 aus der Kritik der reinen Vernunft. Letzteres stellt für Kant eine „Insel“ der sicheren Erkenntnis dar, die „von einem weiten und stürmischen Ozeane“ umgeben ist,152 dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflicht, von denen er niemals ablassen kann, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann.153
Heidegger folgt Kant insofern, als er Hegels Versuch eines absoluten Denkens und Schreibens sowie Jüngers Versuch eines planetarischen Denkens und Schreibens als phantasmatische Landnahmen solcher ‚neuen Länder‘ charakterisieren würde. Wo er sich indes von Kant – und zwar schon in Sein und Zeit – absetzt, ist im Wahrheitsbegriff, der eine klare Scheidung von der Unwahrheit nicht zulässt und somit die Vorstellung einer umzirkten Insel der Erkenntnis ausschließen muss. Wenn er später die Fragmentierung dieses Lands der (Un-)Wahrheit behauptet, wird sich Heidegger aber – und darin unterscheidet er sich entschieden von Schmitt – weniger am Bild von Insel und Ozean denn an einer gewandelten Vorstellung der Sonne orientieren, wie sie sich etwa in der kritischen Deutung des Platonischen Höhlengleichnisses von 1931/32 abzeichnet. Heideggers Aufsatz über Platons Lehre von der Wahrheit dient dem Nachweis, dass Platon für eine grundlegende Umdeutung des Wahrheitsbegriffs verantwortlich ist, deren Möglichkeiten mit dem neuzeitlichen Kopernikanismus voll ausgeschöpft werden. Deshalb stellt Heidegger den „Wandel des Wesens der Wahrheit“ (HW, 237), der sich bei Platon vollzieht, abschließend in einen unmittelbaren Bezug zu dem, was er später das Planetarische nennen wird: „Jener Wandel des Wesens der Wahrheit ist gegenwärtig als die längst gefestigte und daher noch unverrückte, alles durchherrschende Grundwirklichkeit der in ihre neueste Neuzeit anrollenden Weltgeschichte des Erdballs.“ (WM, 237) Die sich so auswirkende Umdeutung des Wahrheitsbegriffs rühre daher, dass die Wahrheit unter das „Joch“ (WM, 230) einer Sonne gerate, die gerade in der Neuzeit für eine Deutung offenstehe, die das menschliche Auge, von Platon bekanntlich als „sonnenhaft“154 charakterisiert, selbst zur Sonne werden lasse. Die kopernikanische Welt fußt nachgerade – wie Hans Blumenberg in seiner monumentalen Geschichte ihrer Entstehung (und ihres Niedergangs) zeigen konnte – auf einer Konstellation, in der sich Heliozentrismus und Anthropozentrismus gegenseitig bedingen und stützen: Der Mensch versetzt sich imaginativ in das Zentrum des Sonnensystems, um der Ex-
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Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 294-5. Ebd. Ebd. Platon, Politeia, 509a.
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zentrik der irdischen Umlaufbahn zu entkommen.155 In der kopernikanischen Welt nimmt Kant (und es wird sich zeigen, dass dies auch für Heidegger ausschlaggebend ist) eine Sonderstellung ein, weil seine berühmte kopernikanische Wendung eben „keine Transposition der Optik“156 impliziert. Kants kopernikanische Perspektive zeichnet sich im Gegenteil dadurch aus, dass sie den Menschen mit der Erde in Bewegung setzt. Blumenbergs Lektüre der Kritik der reinen Vernunft stellt heraus, dass sich die Passagen, in denen Kant über Kopernikus und die neuzeitliche Astrophysik schreibt, allesamt auf die Tagesrotation der Erde um sich selbst und nicht auf ihre Jahresrotation um die Sonne beziehen. Die Position des Menschen als eines „irdischen vernünftigen Wesens“ („von einem vernünftigen, nicht-irdischen Wesen haben wir keine Kenntnis“)157 zeichnet sich also weniger dadurch aus, dass sie um ein Zentrum kreist, in das der Mensch sich versetzen könnte, als dass sie in einer exzentrischen Bahn um sich selbst kreist. Diese Marginalisierung des menschlichen Blickpunkts auf das Weltall zeigt sich etwa in einem Gedankenexperiment Kants158, das Heidegger zum Abschluss seiner Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie (der Vorlesung also, die versucht, die in Sein und Zeit gescheiterte Kehre zu Zeit und Sein weiterzuführen) in extenso zitiert. Die Passage stammt aus Kants Aufsatz Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, in dem platonische „Mystagogen“ und „Klubbist[en]“ kritisiert werden,159 die behaupten: „‚Alle Philosophie der Menschen kann nur die Morgenröthe zeichnen; die Sonne muß geahnt werden.‘“160 Dagegen wendet Kant ein: „Aber niemand kann doch eine Sonne ahnen, wenn er nicht schon eine gesehen hat“.161 Die Annahme einer „Vorempfindung (praevisio sensitiva)“ des „Übersinnlichen“ bedeutet folglich für Kant nicht nur keinen „Fortschritt des Verstandes“,162 sondern führt direkt zur Schwärmerei, mithin auf den Ozean des transzendentalen Scheins. Was hier in der Kritik steht, sind philosophische Schulen und Geheimgesellschaften, die vorgeben, ein esoterisches Wissen über die Zukunft vermitteln zu können. Eine solche Vorempfindung des Übersinnlichen lässt Kant nur „in praktischer Absicht“163 zu, nicht aber in theoretischer Hinsicht. Die in der Kritik der reinen Vernunft betriebene Dezentrierung eines Denkens, das sich nur um sich selbst dreht, räumt so eine praktische Freiheit ein, die sich fremden normativen Setzungen entwunden hat. Folglich betont Blumenberg auch nachdrücklich, dass Kants Ablehnung des Anthropozentrismus nicht in „die Reihe der neuzeitlichen Demütigungen“164 des Menschen und der Vernunft 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164
Siehe hierzu vor allem Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, S. 629-656. Ebd., S. 703. Immanuel Kant, Werke (Akademie Textausgabe), Berlin 1968, Bd. 7, S. 321. Mit einem ganz ähnlichen Gedankenexperiment eröffnet Blumenberg seine Studie der kopernikanischen Welt. Siehe Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, S. 11-15. Kant, Werke, Bd. 8, S. 398. Ebd., S. 398-399. Ebd., S. 399. Ebd., S. 397. Ebd., S. 399. Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, S. 710.
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zu stellen sei, weil sie den Menschen zugleich von jeder „Art von ‚Physikalismus‘“165 befreie. Allerdings müsse Kant dafür die „Kühnheit einer transponierten Optik eines im Zentralkörper des Systems lokalisierten Betrachters“166 wieder einführen, so dass der „leer gelassene Platz“167 in der Systemmitte zum Ort werde, von dem aus kategorische Imperative postuliert werden könnten. Kants paradoxe Befreiung des Menschen, den er einer immerzu bewegten, exzentrischen Erde exponiert sieht, nimmt Heidegger bereits in Sein und Zeit auf, wenn er die menschliche Freiheit an die exzentrische Ausgesetztheit des Menschen an den Wechsel von Tag und Nacht bindet. Über Kant hinaus geht Heidegger insofern, als die in die Systemmitte versetzte Sonne nur die Zeiten vorgibt, denen Werk und Ruhe vorbestimmt sind, aber keine Imperative formulieren lässt, wie zu handeln sei. Wenn Sein und Zeit Freiheit als Befreiung zum jeweils eigenen Selbst versteht, wird damit also nicht nur (wie bei Kant) der Verstandesgebrauch168, sondern auch der Vernunftgebrauch gleichsam demokratisiert. So ist schon – prinzipiell zumindest – die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs, und erst recht eines „kategorische[n] Imperativ[s] des Herzens“169, ausgeschlossen. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit tritt die Verbindung von Exzentrizität und Menschsein bei Heidegger spätestens, wenn er einen Begriffs der Erde einführt, die weder als „Stoffmasse“ (HW, 28) noch als „Planet[ ]“ (ebd.) zureichend bestimmt werden kann. In diesem Zusammenhang wird sich auch das Verhältnis von Werk und Ruhe ganz neu konturieren. Weil der wandernde Erdkörper die Stätte von Freiheit, Wahrheit und Möglichkeit bietet, ist die Erde nicht nur – wie die klassische Materie der Metaphysik – unendlich teilbar, ohne dadurch je „ein Inneres und Geöffnetes“ (HW, 33) zu offenbaren, sondern auch durch dieselben Attribute charakterisiert, mit denen der Aufsatz Das Wesen der Wahrheit zuvor die Irre auszeichnete: Auch das Sich-Verschließen der Erde erweist sich als ein „ständiges Verbergen in der Doppelgestalt des Versagens und Verstellens“ (HW, 41). Als sich solchermaßen doppelt entziehende Faktizität bietet die Erde – und in diese Vorstellung geht sowohl ihr materieller als auch ihr astronomischer Charakter ein – den Horizont menschlichen Entwerfens. Was bei Heidegger Welt heißt, ist fortan nur auf der Erde sinnvoll denkbar, so dass die Verabschiedung, in der sich die Welt Sein und Zeit zufolge zeigt, auf die Komplexität eines genuin irdischen Entzugs verweist. Indem die Horizontlinie somit eigens auf der Erde eingezeichnet wird, wandelt sie sich – in den Worten der späteren Beiträge zur Philosophie – in eine „Zerklüftung“ (BzP, 278), die sich nicht nur am äußersten Rand des Horizonts abzeichnet, sondern den gesamten Raum, den dieser Horizont umfasst, strukturiert. Diese Fragmentierung der Erde teilt sich so auch allen „Gestalt[en]“ (HW, 28) mit, die sich auf ihr erheben. 165 166 167 168
Ebd., S. 711. Ebd., S. 703. Ebd., S. 701. Kants berühmter ‚Wahlspruch‘ ist bekanntlich: „Habe den Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Kant, Werke, Bd. 8, S. 35. 169 Jünger, Werke, Bd. 7, S. 174.
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Den Ausdruck Gestalt wählt Heidegger im Kunstwerk-Aufsatz, um die Bildung eines „geschichtlichen Volkes“ (HW, 28) zu bezeichnen. Gerade weil diese Wortwahl auf Jüngers Gestaltbegriff Bezug zu nehmen scheint, lässt sich an ihr der spezifisch Heidegger’sche Gestaltbegriff profilieren und damit von dem Gestaltmodell Jüngers, aber auch von dem Gestaltkreismodell Schmitts abheben. Auf den ersten Blick entspricht Heideggers Darstellung der zeitlichen „Bahnen und Bezüge“ (HW, 28), in denen sich geschichtliche Kollektive bilden und fortbilden, scheinbar dem Jünger’schen Geschichtsmodell. Die „offenen Bezüge“ (HW, 28), in denen solche Kollektive zu sich kommen sollen, setzen diese nämlich einer unbekannten Zukunft aus. Die Entscheidungen über „Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall“ (HW 28) bleiben hier sogar notwendig immer suspendiert. Aus dieser Offenheit der Zukunft zieht Heidegger allerdings eine Konsequenz, die dem Schluss Schmitts geradezu entgegengesetzt ist. Während Schmitt Jünger zu einer klaren Ausgrenzung und Auslagerung des Streits aus der Gestalt drängt, versucht Heidegger ganz im Gegenteil den Streit zum Prinzip der Gestalt selbst zu erheben. Dieser innere Zwiespalt der Gestalt, der auch das sogenannte ‚geschichtliche Volk‘ nie ganz mit sich eins werden lässt, wird namentlich in zweien der Beispiele deutlich, an denen der Kunstwerk-Aufsatz seine Thesen veranschaulicht. Den griechischen Tempel etwa sieht Heidegger nicht zufällig „inmitten“ eines „zerklüfteten Felsentales“, (HW, 27) weil der Tempel mit den Farben und Formen, die er zum Vorschein bringe, auch die Zerklüftung dieses Tals überhaupt erst als solche hervorbringen soll. Dies ist möglich, weil der Tempel nichts als die Setzung eines „Streits“ (HW, 36) von Welt und Erde darstellt, womit er das bewirkt, was die Beiträge eine „Erklüftung“ (HW, 311) nennen werden. Schon der Kunstwerk-Aufsatz definiert den Tempel – und mit ihm auch das Kunstwerk überhaupt – als den sich ständig anfachenden Streit: „Die Bestreitung des Streites ist die ständig sich übertreibende Sammlung der Bewegtheit des Werkes. In der Innigkeit des Streites hat daher die Ruhe des in sich ruhenden Werkes ihr Wesen.“ (HW, 36) Band Sein und Zeit die Trennung von Werk und Ruhe an den Wechsel von Tag und Nacht, so werden sie hier in der Vorstellung einer Bewegtheit zusammengeführt, die den Unterschied von Fertigstellung und Fortführung, Abgeschlossenheit und Offenheit bewusst unterläuft. Weil der Konflikt, der den „kritischen Raum“170 bestimmt, so unmittelbar in die sich darin ausbildenden Gestalten aufgenommen wird, geht Heidegger hier entscheidend über Jünger hinaus, der letztlich doch immer nur die „Eindeutigkeit“171 der „typischen Bildungen“172 vorwegnehmen will. Ein zweites Beispiel macht noch deutlicher, dass Heidegger einer solchen Zukunfts-Nahme (wenn auch aus ganz anderen Gründen als Schmitt) den Boden entzieht. Indem Heidegger die Tragödie als exemplarisch ausgetragenen „Kampf der neuen Götter gegen die alten“ (HW, 170 Für diesen Begriff siehe Paul Virilio, „Der kritische Raum“, in: Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 7 (1983), S. 16-27. 171 Jünger, Werke, Bd. 6, S. 254. 172 Ebd.
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2. DIE ERDE IN DER KEHRE
29) setzt, stellt er sie als unlösbaren Konflikt von Vergangenheit und Zukunft dar. Jüngers Präfigurationen einer kommenden Eindeutigkeit werden vor dem Hintergrund solcher die typischen Bildungen selbst zuinnerst heimsuchenden Spannungen verunmöglicht. Will Schmitt also Jünger dazu bewegen, Linien zu ziehen, die die Gestalten von Selbst und Anderem, Freund und Feind wieder strikt trennen, so plädiert Heidegger gegenüber Jünger für eine radikalisierte Hereinnahme von Selbst und Anderem, Freund und Feind in die Gestalten, die sich auf einem zerklüfteten Planeten erheben. So bezeichnet das Planetarische bei Heidegger einen abgründigen Zeit-Raum, zu dem sich jede (auch wissenschaftliche) „Gründung“ (BzP, 385) – oder, wie Heidegger präzisiert, jede „Ab-gründung“ (ebd.) – wie eine mise en abîme verhält. Daher greift die Fragmentierung des planetarischen Raums auch auf das planetarische Denken über, das, anstatt eine Präfiguration kommender Gestalten zu erwirken, sich im „Erwinken“ (BzP, 385) des Abgrunds erschöpft, in dem sich Welt und Grund verabschieden. Um dem fragmentierten Raum und seinen fragmentierten Gestalten zu entsprechen, die selbst noch die Vorwegnahme einer souveränen Perspektive unmöglich machen, müssen sich auch die Gesten eines planetarischen Schreibens vervielfältigen und unüberschaubar werden. Ansonsten würde es, das ist offenbar Heideggers Überzeugung, nur einen weiteren satellitenhaften „Trabant[en] der Verwüstung“ (E, 82) an der Grenze postulieren, an der der Text mit seinem Außen kommuniziert. Eine solche planetarische Perspektive, die nicht einmal mehr den Zugang zu einer Totalität in Aussicht stellt, setzt sich bei Heidegger im Laufe der 30er Jahre durch. Was in der Entwicklung dieser spezifischen planetarischen Linientreue (die der Linie treu bleiben will, indem sie sie auflöst) Hand in Hand geht, ist eine Neuausrichtung der Konzeption des Irrsterns und der textlichen Psychodynamik. Dass sich diese Neufassung der Textstrategie und des Weltentwurfs nicht zufällig zur gleichen Zeit und gleichsam miteinander verwandeln, bezeugt vor allem die zu Beginn der 40er Jahre entstandene Schrift Das Ereignis. Spätestens hier löst sich Heidegger von den Tendenzen zu einer Onto-Typologie der Lebenswelt, die eine Sonne im Fluchtpunkt des Textes einsetzt, und geht zur Konzeption einer irrenden Erde über. Ihr wollen seine Texte dadurch entsprechen, dass sie die Grenzen, die sie mit dem Irrstern kommunizieren lassen, überall in sich verstreuen, ohne sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Diese Kehre von der Sonne zur Erde führt aber nicht aus der kopernikanischen Welt zurück in ein ptolemäisches Weltbild. Vielmehr gibt es in Heideggers postkopernikanischem Entwurf des Irrsterns schlicht keine Systemmitte mehr. Mit Blumenberg (nunmehr nicht demjenigen der Kopernikanischen Welt, sondern der Höhlenausgänge) gesprochen, steht Heidegger kein Weg aus der „optischen Höhle“173 der Erde frei, weil sich mit den Anbruch der metaphysischen Nacht „der Bereich des Höhlengleichnisses“ (E, 107) auf die ganze „Welt“ (ebd.) ausgebreitet habe. Dieser Situation ausgeliefert, könne eine „Besinnung auf den Überstieg des Seins über das Seiende“ (WM, 417) nicht mehr davon ausgehen, den transzen173 Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1996, S. 418.
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denten (oder transzendentalen) Bereich zu gewinnen, in dem sich platonische (oder kantische oder hegel’sche) Ideen zeigen. Vielmehr bleibe einer solchen Besinnung, die nicht einmal mehr einen kategorischen Imperativ des Herzens formulieren kann, nichts übrig, als „sich selbst ins Herz [zu] stoßen“ (WM, 417), wenn sie „verwandelt lebe[n]“ (ebd.) soll. Wie Heidegger ein solches verwandeltes Denken konzipiert, zeigt sich in den Strategien seiner späten Texte, die die Metaphysik nicht mehr in einer übertrumpfenden Geste überwinden, sondern sich von ihr in einer loslassenden Geste verabschieden wollen.
3. Abschied (von) der Metaphysik 3.1 Das Abendland und der Abschied von der Sonne Heidegger ruft in seiner Linien-Schrift nach einem „planetarischen Denken“ (WM, 252), um dem abgründigen Zeit-Raum, in dem die Erde ziellos umherirrt, gerecht zu werden. Die Textstrategie, der sich hierfür das „schreibende[ ] Sagen“ (WM, 424) bedient, beruht nicht auf einer „Befehlssprache“.174 Vielmehr zeigt schon Heideggers Wahl des „Briefgespräch[s]“ (WM, 394), in dem er seine Antwort an Jünger richtet,175 dass es ihm um die Form des Grußes geht. So setzt nicht nur sein Festschriftbeitrag, sondern auch die für die Wegmarken überarbeitete Fassung mit den Worten ein: „Lieber Herr Jünger! / Mein Gruß zu Ihrem sechzigsten Geburtstag übernimmt mit einer geringen Veränderung den Titel der Abhandlung, die Sie bei gleicher Gelegenheit mir widmeten.“ (WM, 386) Tatsächlich vollzogen wird die Geste des Grüßens jedoch erst im allerletzten Satz. Unmittelbar zuvor relativiert Heidegger den Inhalt seines Schreibens: „Was der Brief darzulegen versucht, mag sich allzubald als unzulänglich erweisen.“ (WM, 425) Heidegger klammert das, was sich im Brief zu lesen gibt, offenbar deshalb ein, weil es nicht um die Aussagen des Textes geht; ausschlaggebend sei vielmehr: „[w]ie er Besinnung und Erörterung pflegen möchte“. (WM, 425) Dieses Wie wird in den abschließenden Worten sodann auch performativ vollzogen: „Ich grüße Sie herzlich.“ (WM, 426) Dass Heidegger seinen Brief mit dem Wort ‚herzlich‘ beendet, könnte auf Jüngers kategorischen Imperativ des Herzens verweisen; oder aber auf seine eigene Seinsfrage, die „sich selbst ins Herz stoßen“ (WM, 417) müsse. Die Dramaturgie von Heideggers Brief jedenfalls, dessen Gruß sich erst ganz zuletzt als Abschied erweist, kann als Anspielung auf Heliopolis gelesen werden, dessen letzter Satz „Uns aber liegen diese Tage fern“176 die spezifische zeitliche Struktur des Rückblicks auf eine Stadt verdeutlicht, der im Untertitel, mithin paratextlich und auf der ersten Seite, angekündigt wurde. Zuletzt – und doch nicht abschließend – zeigt Jüngers Roman, dass sein Rückblick aus einer Perspektive erzählt wurde, die den erzählten Ereignissen zeitlich vorangeht; und Heideggers Brief steht, wie sich auf der letzten Seite erweist, immer schon implizit im Zeichen seines Abschieds. Heidegger spielt also auch hier noch genauso wie Jünger mit der Spannung von Vergangenheit und Zukunft, die in der Teleopoiesis und der Zeit des Planetarischen artikuliert wird. Allerdings visiert er darin keinen kommenden Sonnenstaat mehr an, sondern ein „Nachtland“ (E, 97). Die besondere Situation zwischen ‚Vollendung‘ und ‚Verendung‘ der Metaphysik, in der sich Heideggers Texte situieren wollen, wird mit Hilfe einer bestimmten 174 Jünger, Werke, Bd. 6, S. 178. 175 Jüngers Beitrag zur Festschrift Heideggers ist dagegen nicht in Briefform verfasst. Siehe Ernst Jünger, Über die Linie. 176 Jünger, Werke, Bd. 10, S. 356.
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3. ABSCHIED (VON) DER METAPHYSIK
Futur-II-Konstruktion konturiert. Wenn Heidegger schreibt: „Das Abendland entspringt dem Nachtland“ (E, 97), dann kehrt er nicht nur die zeitliche Abfolge von Abend und Nacht um, sondern eignet sich den Ausdruck Abendland in einer radikalen Umdeutung an. Dieses von einer kommenden Nacht her verstandene „Abend-land“ (E, 98) ist so wenig mit Europa, dem Okzident oder der westlichen Welt gleichzusetzen, dass es sogar die Macht eines ins Planetarische aufgreifenden Europäischen brechen soll. Diesem setzt Heidegger mit ‚Abendland‘ und ‚Nachtland‘ ein anderes Verständnis des Planetarischen entgegen, das um das Ende der Metaphysik und die heraufziehende metaphysische Nacht weiß. Diese Situation stelle ganz neue Herausforderungen, für die das gegenwärtige – und gerade das europäische – Denken nicht vorbereitet sei: Die Gefahr, in die das bisherige Europa immer deutlicher gedrängt wird, besteht vermutlich darin, daß allem zuvor sein Denken – einst seine Größe – hinter dem Wesensgang des anbrechenden Weltgeschickes zurückfällt, das gleichwohl in den Grundzügen seiner Wesensherkunft europäisch bestimmt bleibt. (WM, 341)177
Heidegger versucht mit der Alternative des Abendlands ein Denken und Schreiben zu profilieren, das sich zwar der philosophischen Tradition Europas verpflichtet zeigt, deren Erbe aber nur insofern antreten will, als es damit nicht der neuen Form eines kybernetisch überformten „Imperialismus“ (E, 95) des „Europäischen“ (ebd.) verfalle. Heideggers Rede von einem Abendland ist zunächst freilich höchst missverständlich, weil sie auf den seit Spenglers einflussreichem Untergang des Abendlandes (vor allem kultur-)konservativ ausgerichteten Abendland-Diskurs zu rekurrieren scheint. In den unmittelbar auf den Zweiten Weltkrieg folgenden Jahren erfreut sich dieser Diskurs in christlich und humanistisch geprägten Kreisen gerade deshalb einer großen Popularität, weil er die BRD in einen westeuropäischen Kontext einzubetten erlaubt.178 Von diesem Diskurs grenzt Heidegger seinen Gebrauch des Ausdrucks jedoch strikt ab: „Was sonst, z.B. von Spengler, unter ‚Abendland‘ verstanden wird, ist die Verendung der westlichen Zivilisation als ‚Kultur‘. Die Verendung hat dabei die Gestalt der Ausbreitung dieser zu sich selbst gekommenen Neuzeitlichkeit in das Planetarische.“ (E, 96) Ebenfalls zurückgewiesen wird eine an den Himmelsrichtungen orientierte Definition, die das Abendland geographisch als Land im „Westen“ (E, 97) fasst oder gar, mythisch überhöht, „vom gewesenen ‚Morgenland‘ her“ (E, 98) denkt. Dass die Versuche Heideggers, das Abendland ex negativo zu definieren, einen Bruch mit der früheren Position von Sein und Zeit 177 Ähnlich äußert sich Heidegger dem japanischen Philosophen Kojima Takehiko gegenüber. Siehe hierzu Hartmut Buchner (Hg.), Japan und Heidegger. Gedenkschrift der Stadt Meßkirch zum hundertsten Geburtstag Martin Heideggers, Sigmaringen 1989, S. 223. 178 Vgl. hierzu Heinz Hürten, „Der Topos vom christlichen Abendland in Literatur und Publizistik nach den beiden Weltkriegen“, in: Albrecht Langer (Hg.), Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800, Paderborn 1985, S. 131-154, sowie Dieter Felbick, Schlagwörter der Nachkriegszeit 1945-1949, Berlin 2003, S. 104-107.
DAS ABENDLAND UND DER ABSCHIED VON DER SONNE
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und auch noch der Beiträge zur Philosophie implizieren, wird spätestens dann deutlich, wenn Heidegger das Land des Abends auch noch von Hölderlins „Frucht von Hesperien“ (E, 98) abhebt. Ein Vergleich mit dem ansonsten von Heidegger hoch geschätzten Hölderlin wird auch verdeutlichen, wie sich der spezifische Bezug, den Heideggers späteres Denken zur Zeit einnimmt, von der in Sein und Zeit versuchten ‚Wiederholung‘ der Seinsfrage unterscheidet. Die Beiträge zur Philosophie bleiben der aus Sein und Zeit bekannten Privilegierung der griechischen Philosophie treu, die deshalb zur Präfiguration eines „einzig andere[n]“ (BzP, 5) Anfangs werden kann, weil sie auch weiterhin als „einzig eine[r] und erste[r] Anfang“ (ebd.) des Denkens gilt. In dem Maße jedoch, wie der spätere Heidegger einsehen muss, dass sich der Anfang nicht zeit-räumlich eingrenzen lässt, dass vielmehr „alles […] Anfang“ (E, 97) ist, kann sich der andere Anfang eines – nunmehr explizit vor-läufigen und planetarischen – Denkens von der Privilegierung der Griechen lösen. Damit muss auch der Bezug von Selbst und Anderem, wie er sich im Denken zeigt, völlig neu konzipiert werden. Diese Neukonzeption entwickelt Heidegger insbesondere über den kontrastierenden Vergleich mit der Dichtung, mit dem Das Ereignis schließt: Während Dichtung ein „Heimischwerden aus dem Unheimischen“ bedeutet, bleibt dem Denken nur ein „Heimischwerden im Unheimischen“. (E, 330) Was diese abgrenzende Definition des Denkens für die präfigurativen Potentiale von Heideggers Texten – im Gegensatz zu denjenigen der Dichtung – bedeutet, zeigt sich in seinen Hölderlin-Lektüren, in denen er den Präfigurationen von Dichtung nachgeht. Zeitgleich mit der Abfassung von Das Ereignis hält Heidegger zwei Vorlesungen zu Hölderlins Hymnen „Andenken“ und „Der Ister“,179 in denen er Hölderlins Dichtung als Versuch einer „Rückkehr zur Heimat“180 definiert. Seine These, dass Hölderlins Gedichte somit unter dem „Gesetz des Unheimischseins als [dem] Gesetz des Heimischwerdens“181 stehen, belegt Heidegger anhand der Struktur der Hymne „Der Ister“, deren Verlauf sich ebenso wie der Lauf des in ihr gedichteten Stroms – es handelt sich um die Donau, die in westöstlicher Richtung fließt – umkehrt: Vieles wäre zu sagen davon. Der scheinet aber fast Rükwärts zu gehen und Ich mein, er müsse kommen Von Osten.182 179 Das Ereignis soll, wie gesagt, 1941/42 entstanden sein. Im Wintersemester 1941/42 hält Heidegger eine Vorlesung zu „Andenken“, im darauffolgenden Sommersemester eine zu „Der Ister“. Siehe Martin Heidegger, Hölderlins Hymne „Andenken“, hg. v. Curd Ochwadt, Frankfurt a.M. 1982, und Martin Heidegger, Hölderlins Hymne „Der Ister“, hg. v. Walter Biemel, Frankfurt a.M. 1984. 180 Heidegger, Hölderlins Hymne „Der Ister“, S. 166. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Heidegger, Hölderlins Hymne „Andenken“, S. 188-194. 181 Heidegger, Hölderlins Hymne „Der Ister“, S. 168. 182 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge, 12 Bde., hg. v. D.E. Sattler, München 2004, Bd. 10, S. 66.
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3. ABSCHIED (VON) DER METAPHYSIK
Heidegger liest diese sowohl sprachliche als auch geographische Wendung als Zeichen dafür, dass der Ister dem Gesetz des Heimischwerdens „genügt“183: „Der Ister verweilt an der Quelle und verläßt schwer den Ort, weil er nahe dem Ursprung wohnt. Und er wohnet nahe dem Ursprung, weil er in die Ortschaft heimgekehrt ist aus der Wanderschaft in die Fremde.“184 Weil sich der Weg in die Fremde bei Hölderlin deshalb im Vorhinein von der Heimkehr bestimmt zeige, sei dieses Fremde ein bestimmtes, dem Eigenen zugeordnetes Fremdes und dadurch „das Fremde des Eigenen“.185 In dieses Fremde des Eigenen gehen, wie aus Hölderlins berühmtem Brief an Böhlendorf hervorgeht, poetologische wie geschichtsphilosophische Überlegungen ein. Wenn Hölderlin Böhlendorf gegenüber von einem Widerspiel spricht, in dem die „abendländische Junonische Nüchternheit“ mit dem „heiligen Pathos“ Griechenlands stehen soll,186 wird das Fremde der Hölderlin’schen Dichtung in der griechischen Antike verortet, und der Bezug zum Anderen wird – so zumindest Heidegger – nur zum Mittel der Aneignung des Eigenen. Im Kontrast dazu entwirft Das Ereignis ein ganz anderes, fast gegenteiliges Verhältnis zum Anderen, das von diesem nicht zu einem Eigenen zurückführen kann, sondern das Eigene unter der Perspektive dieses kommenden Anderen (des ungeheuren Nachtlands, von dem Heidegger weiter nichts sagen kann, obwohl auch davon ‚vieles zu sagen wäre‘) verfremdet. Erst mit dieser Entkopplung des Fremden von Ursprung und Heimat wird Heidegger dem eigenen Anspruch gerecht, das Planetarische „ohne Bezugnahme auf historisch nachweisbare Abwandlungen bei Völkern und Kontinenten“187 zu denken.188 Seinen Niederschlag findet dieses gewandelte Verhältnis zum Anderen im Versuch von Heideggers späterer Philosophie, die Strategie der Präfiguration des Eigenen im Anderen, der sie selbst zuvor noch verpflichtet war, von innen heraus auszuhöhlen.
3.2 Strategien des Abschieds (von) der Präfiguration Wenn Heidegger die „planetarischen […] Begegnungen“ (WM, 424), zu denen sein „Briefgespräch“ (WM, 394) mit Jünger einlädt, zugleich immer schon als Abschied inszeniert, will er damit dem Befund einer Welt entsprechen, die sich, wie schon Sein und Zeit feststellte, nur zeigen kann, wenn sie sich zugleich „verabschiedet“ (SuZ, 74). Dafür muss vor allem die Komplizenschaft von Autor und Absolutem aufgekündigt werden, die sich schon bei Platon andeutet und spätestens bei Hegel zur vollen Geltung kommt. Dass sich Heideggers eigene Autorschaft schließ183 184 185 186 187 188
Heidegger, Hölderlins Hymne „Der Ister“, S. 202. Ebd. Ebd., S. 61. Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 183. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, S. 79. Wie schwierig es für ihn gleichwohl war, sich vom Primat des griechischen Denkens zu verabschieden, zeigt eine wichtige Europa-Studie von Rodolphe Gasché, Europe, or the Infinite Task. A Study of a Philosophical Concept, Stanford 2009, S. 95-207.
STRATEGIEN DES ABSCHIEDS (VON) DER PRÄFIGURATION
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lich von der Gründung auf das „Ent-stiften“ (E, 327) zurückzieht, wirkt sich auch unmittelbar auf die Konzeption des Heidegger’schen Œuvres sowie der Gesamtausgabe dieses Werks aus, die als Ausgabe letzter Hand angelegt ist. Einem Heidegger, dem das Denken bekanntlich als „Handwerk“ (HW, 3) galt, kann die Assoziation eines Abschieds, die in der Wendung ‚letzte Hand‘ mitschwingt, schwerlich entgangen sein. Zwar kann er die Gestalt, die sein Gesamtwerk annehmen soll, letztwillentlich verfügen und gleichsam verfugen, gibt es damit aber in ebendieser Geste zugleich für andere Hände frei. Damit steht Heideggers Werkpolitik in einem starken Kontrast zu derjenigen Jüngers, welcher schon zu Lebzeiten gleich zwei Werkausgaben abschließt und seine Texte für diese Publikationen erneut überarbeitet, um einen einheitlichen „Duktus“189 seines Gesamtwerks sicherzustellen. Dagegen richtet Heidegger zwar das Archiv seiner Schriften ein, bemüht sich aber nicht (oder zumindest nicht systematisch und allumfassend) um eine Vereinheitlichung und Bereinigung des Corpus.190 Schon durch ihren schieren Umfang von mehr als 100 Bänden sperrt sich Heideggers Gesamtausgabe gegen einen solchen souveränen Zugriff und verdeutlicht im Kontrast die Bündigkeit von Jüngers Gesamtausgaben, die nur 12 bzw. 22 Bände umfassen. Auch durch die Anlage der Texte unterscheiden sich die beiden Ausgaben wesentlich: Während Jünger seine erste Werkausgabe mit (einer überarbeiteten Fassung von) Heliopolis definitiv abzuschließen sucht, lässt Heidegger seine Gesamtausgabe mit Vigiliae, Winken und Vorläufigem – so die Titel der letzten drei Bände 100, 101 und 102191 – enden, oder vielmehr auslaufen. So schlägt sich der Abschied, den Heideggers Brief an Jünger performiert, auch auf der Werkebene nieder. Die Vorwegnahme eines Rückblicks weicht einer Vorläufigkeit, die zwar ‚vorweg laufen‘ kann – das Wortspiel ist von Heidegger durchaus intendiert – aber nur in eine Nacht hinein, in der Heideggers allerletzte Texte ‚wachen‘ (lat. vigilare) und ‚winken‘ sollen. Was hier auf die Konzeption des Gesamtwerks übertragen wird, lässt sich in den Einzelschriften spätestens seit den Beiträgen zur Philosophie nachweisen und erklärt die Kritik, die vor allem gegen die sogenannten ‚ereignisgeschichtlichen Abhandlungen‘ (die für Heidegger als Hauptwerke, oder besser vielleicht: als ‚Hauptwege‘ seines Denkens galten) erhoben wurde. An den Beiträgen etwa bemängelt Dieter Thomä, ein großer Kenner der Heidegger’schen Werkgeschichte: „Der Text strotzt von Wiederholungen, schlicht Unausgeführtem [...], spitzt nicht zu, sondern brei-
189 So in dem Begleittext zur ersten Werkausgabe von 1964, „Auf eigenen Spuren“. Jünger, Werke, Bd. 10, S. 415. 190 Dass Heidegger Texte unbearbeitet neu auflegt, wurde im Fall von Einführung in die Metaphysik, wo die positiven Hinweise auf den Nationalsozialismus auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht getilgt wurden, heftig kritisiert von Jürgen Habermas, „Zur Veröffentlichung von Vorlesungen aus dem Jahre 1935“, in: ders., Philosophisch-Politische Profile, Frankfurt a.M. 1981, S. 65-72. Eine markante Ausnahme zu dieser generellen Vorgehensweise der unbearbeiteten Wiederveröffentlichung bildet Der Ursprung des Kunstwerkes, dessen Urform erst kürzlich erschienen ist. Siehe Martin Heidegger, „Vom Ursprung des Kunstwerks. Erste Ausarbeitung“, in: Heidegger Studies 5 (1989), S. 5-22. 191 Für die Überschriften der letzten drei Bände siehe den „Plan der Gesamtausgabe“, E, 362.
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3. ABSCHIED (VON) DER METAPHYSIK
tet aus“.192 Diese Tendenzen zur Ausbreitung treten in den späteren Abhandlungen immer stärker hervor, so dass Das Ereignis schließlich – derjenige Text also, der den Titel trägt, den die Beiträge für das „‚Werk‘“ (BzP, 77) reserviert haben, welches „hier nur vorbereitet werden kann“ (ebd.) – auf einen zielgerichteten Aufbau völlig verzichtet. Der Abhandlung sind zudem gleich sechs „Vorworte“ vorangestellt, von denen das letzte wiederum in sechs Abschnitte unterteilt ist, womit die Ausbreitung auch auf die Paratexte ausgreift und diese wuchern lässt. Die Übersicht über den Bogen, den der Text spannt, wird aber insbesondere dadurch erschwert, dass sich die Kapitelüberschriften häufig wiederholen: die Abschnitte 195, 199, 200 und 201 beispielsweise heißen alle „Das Ereignis und der Mensch“, und auch die Abschnitte 196 und 198 haben fast gleichlautende Überschriften. Diese Vervielfältigung der Rahmen soll es offenbar unmöglich machen, den Text von außen zu beurteilen, sondern ihn nur von innen durch die Lektüre hindurch erfahrbar machen. Aber selbst was im Text zu lesen steht, stellt sich als ungefüge, unüberschaubare Textur voller Redundanzen und Ellipsen dar, deren Netzwerkcharakter sich in den skizzenhaften „Aufrissen“ und Querverweisen niederschlägt. Angesichts dieses Textdickichts wäre es tatsächlich angemessener, von einem Netzwerk möglicher (Lektüre-)Wege zu sprechen als von einem Hauptwerk in einem prägnanten Sinn. Weil den Lesern keine Übersicht gegeben wird, findet ihre jeweilige Auseinandersetzung mit den Themen, Fragen und Aussichten, die sich in der konkreten Lektüre ergeben, keinen Leitfaden. In dieser Form sucht Das Ereignis „die schwere Langsamkeit des Ganges“ (BzP, 19) auch für die Leser zu verschärfen, die schon in den Beiträgen als unumgängliches Merkmal des Denkens galt. Was damit geleistet werden soll, geht aus dem Einwand hervor, der gleich zu Beginn des Ereignisses gegen die Beiträge erhoben wird. Der frühere Text wird hier als „stellenweise zu lehrhaft“ (E, 4) kritisiert, weil es Heidegger darum geht, seine Texte von der normativen Herrschaft eines ‚Man‘ zu befreien, auch wenn sich dieses ‚Man‘ in ein ‚Wir‘ gewandelt zu haben scheint. Dies führt dazu, dass Heidegger dort, wo Jünger disparates Material um einen souveränen Fluchtpunkt bündelt, die Einheit des Denkens in nicht miteinander kommunizierende Gedankengänge auflöst. Das Prinzip, das hinter dieser ungefügen Faktur steht, wird im Ereignis selbst – und zwar ebenfalls in den „Vorworten“ – ausdrücklich gemacht, wenn sich der Text selbst als „Gang auf einem Holzweg“ (E, 3) charakterisiert. Solche Gänge auf miteinander „unverbunden[en]“ (E, 259) Holzwegen, von denen, wie es später im Text heißt, „der eine den anderen nicht kennt“ (ebd.), werden fortan zur Vollzugsform von Heideggers Denken und Schreiben. Damit bezieht er eine radikale Gegenposition zu Descartes, einer der Gründerfiguren des neuzeitlichen Denkens. Zu Beginn des Discours de la Méthode vergleicht Descartes die Ausgangslage einer selbstbestimmten Philosophie nämlich mit dem Verirrtsein im Wald und schlägt vor, „so gerade [le plus droit] wie möglich in eine Richtung“193 – gleichgültig, welche – zu gehen, weil man auf diese Weise „schließlich [à la fin] irgendwo ankommen wird, 192 Thomä, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, S. 762. 193 René Descartes, Discours de la Méthode, hg. v. Lüder Gäbe, Hamburg 1960, S. 40.
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wo [man] wohl besser dran ist als mitten im Wald“.194 Von einem solchen Vertrauen in die rechte (droit) Orientierung an einem beliebigen Ziel (fin) wollen Heideggers Holzwege abbringen. Vielmehr erweisen sie sich als „ungeheuer“, weil sie „plötzlich im Walddunkel enden“ können, weshalb auf ihnen auch „kein Fortschritt“ zu erwarten sei. (E, 258) Wenn Heidegger seine Schriften dergestalt als Holzwege charakterisiert, stellt er sich aber auch in die Tradition der Silvae, die auf die römische Antike zurückgehen, wo sie Sammlungen spielerischer Gelegenheitsgedichte vermischten Inhaltes bezeichnen. Herder nennt seine essayistischen Texte – auf die Tradition dieser ‚poetischen‘ Wälder Bezug nehmend – „kritische Wälder“, um das vorgeblich Ungeordnete, Skizzenhafte und Vorläufige seiner Ausführungen zu unterstreichen.195 Heideggers Wiederaufnahme der Tradition – nun in Form von ‚philosophischen‘ Wäldern – verbindet die drei Hauptmomente der Silvae: ihren (1) Entwurfs- und (2) Gelegenheitscharakter sowie die (3) Rohfassung ihrer Stoffe, allerdings werden sie in Heideggers Sinn umgedeutet. Die (2) jeweilige Situation auf dem Gang des Denkens durch den (3) fragmentierten Raum der Erde bestimmt den (1) spezifischen, nur hier gültigen Entwurf einer Welt. Entscheidend ist dabei, dass die Spontaneität, die sowohl in den poetischen als auch in den kritischen Wäldern zur Autorfunktion gehörte, der Verfügungsgewalt des Schreibenden entzogen wird. Zwar leiht dieser dem Denken seine Hand, aber eben nur seine ‚letzte‘ Hand. Daher die Definition: „Denken ist Abschied in das Unheimische“. (E, 330) Heideggers auf mehreren Ebenen wirksame Strategie des Abschieds kann als Löslosung von der Onto-Theologie verstanden werden, weil (das Kollektiv) der Denker hier nicht wie bei Hegel als höchstes Seiendes figuriert, das den Vollzug des Denkens und den Bestand des Seins sichert, sondern – ebenso, wie sich die Welt in Sein und Zeit als Welt nur zeigen konnte, indem sie sich zugleich verabschiedete – nur dann zum Denker wird, wenn und insofern er sich verabschiedet. Deshalb haben auch schon die Beiträge zur Philosophie den „Sprung“ an einen „einstmals“ kommenden, „besser gerüstete[n] Denker“ delegiert (BzP, 278) – und damit ein Umdenken über die Funktion des Autors und des Lehrers eingeleitet. Über Autorschaft heißt es im Vorwort zu einer Nachkriegssammlung von Vorträgen und Aufsätzen: „Ein Autor auf Denkwegen kann, wenn es hochkommt, nur weisen, ohne selbst ein Weiser“ zu sein.196 Über die Aufgabe des Lehrers spricht Heidegger zu Beginn eines Vortrags (in dem nicht zuletzt eine Kritik der Kybernetik vorgestellt wird): „Der rechte Lehrer ist den Schülern einzig darin voraus, daß er noch weit mehr zu lernen hat als sie, nämlich das Lernenlassen.“197 Was hinter dieser Neufassung der Autorund Lehrerfunktion steht, macht Heidegger in der Linien-Schrift klar, wenn er betont, dass sein „schreibende[s] Sagen“ (WM, 424) weder als „dunkles Raunen“ 194 Ebd. 195 Zur Tradition der Wälder von Statius bis Herder siehe Wolfgang Adam, Poetische und Kritische Wälder. Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens „bei Gelegenheit“, Heidelberg 1988. 196 Heidegger, Vorträge und Aufsätze, S. 1. 197 Heidegger, Überlieferte und technische Sprache, S. 5.
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(WM, 423) noch als „herrisches Verkünden“ (ebd.) gemeint sei. Noch vor seinem Leser – und seinen Lesern (da er in einer publizierten Festschrift erscheint, ist Heideggers brieflicher Gruß an Jünger schließlich öffentlichen und nicht privaten Charakters) – zählt der Absender sich selbst zu den „immerfort Lernende[n]“ (WM, 423), die er dazu bestimmen will, „nicht von der Bemühung abzulassen, auf einer Strecke Weges, und sei sie noch so kurz bemessen, das planetarische Denken einzuüben“ (WM, 424). In solchen Formulierungen spiegelt sich auch die Distanz wieder, auf die Heidegger zu den Figurationen eines schicksalhaft vereinten Wir gegangen ist. Im Ereignis wird das Wir, das für Jüngers planetarisches Schreiben so wichtig ist, sogar – unter dem Deckmantel des ‚Ich‘ – zu einer rein selbstbezüglichen Gestalt des Man (also des narzisstischen Willens zum Willen): „Das ‚Wir‘ ist die Aufspreizung des Ich in die ‚Restlosigkeit‘ der unbedingten Anmaßung aller in einem Willen, der niemanden zum ‚Subjekt‘ hat, da er von sich selbst, d.h. dem bloßen Willen gewollt wird“. (E, 154) Das Wir, dem Heidegger dagegen die Stimme leihen will, kann, da es fortan „keinen Auftrag“ kenne und „dessen“ auch „nicht bedarf“, (E, 155) gegenüber dem pluralis maiestatis einer (quasi-)revolutionären Wissenschaft und einer (quasi-)wissenschaftlichen Revolution wohl nur als eine Art pluralis modestiae verstanden werden, in dem die Pluralität der Denkwege gewahrt bleibt und nicht auf ein gemeinsames Ziel eingeschworen wird. Wer dieses Wir ist, bleibt daher auch bis zuletzt notwendig unentschieden, (siehe etwa E 157-158) so dass sich ein Wir der antizipierenden Rückschau, wie es Hegels Weg der Verzweiflung ebenso prägt wie Jüngers Überquerung des Nullmeridians, im Ereignis letztlich an keiner Stelle konstituieren kann. Bei Heidegger projiziert das planetarische Futur II – dessen Doppeldeutigkeit, wie sich gezeigt hat, sowohl in Richtung einer Öffnung als auch einer Schließung der Zukunft kippen kann – das Zukünftige und die „Zukünftigen“ (BzP, 395) auf die Zerklüftung unvorhersehbarer Möglichkeiten. Heideggers Brief, der „‚von‘ der Linie“ (WM, 386) handelt, will Jünger dazu einladen, das „planetarische Denken“ (WM, 424) – und das heißt bei Heidegger das „vorläufige[ ] Denken“ (WM, 388) – „ursprünglicher und sorgsamer zu prüfen“ (WM, 423). Dazu erinnert er an ein Gespräch, das er Ende der 40er Jahre mit Jünger geführt habe: „Damals ermunterte ich Sie, den ‚Arbeiter‘ wieder, und zwar unverändert, erscheinen zu lassen.“ (WM, 391-392) Dass diese Worte nicht nur beim „Gang auf einem Waldweg“ (WM, 391) fielen, sondern sogar, wie Heidegger betont, „an einer Stelle […], wo ein Holzweg abzweigt“, (ebd.) wird kaum ein Zufall gewesen sein. Was Heidegger Jünger im Gespräch und wiederum im Briefgespräch zumutet, ist nicht nur ein einmaliger Bruch mit dessen Fassungspoetik (den die unveränderte Wiederauflage des Arbeiters bedeuten würde), sondern die Übernahme einer Holzwege-Poetik. So drängt Heidegger schon in einem Brief vom 18.12.1950, in dem er sich für Jüngers Beitrag zu seiner Festschrift bedankt, nicht nur zu einer Neuauflage des Textes, sondern überdies zu einer „nach Stil und Dimension neuen Fassung des ‚Arbeiters‘.“198 Diese beiden Forderungen korre198 Ernst Jünger – Martin Heidegger. Briefe 1949-1975, S. 18.
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spondieren streng miteinander: Dem Holzweg des Arbeiters soll ein weiterer zur Seite gestellt werden, der zwar tiefer in das Planetarische führen mag, jenen anderen Holzweg damit aber nicht überflüssig machen kann. So könnte, das ist offenbar Heideggers Hoffnung, Jüngers Gestaltmodell von innen heraus aufgebrochen und pluralisiert werden. Jünger geht schließlich auf beide Vorschläge ein, wenn auch nicht, wie es Heidegger gewünscht hätte. In der ersten Werkausgabe wird der „unberührte Text“199 des Arbeiters wiederaufgelegt; ihm folgen eine Sammlung von Adnoten zum Arbeiter sowie eine Fortsetzung, die den Eintritt in die planetarische Dimension als Sprung Über die Zeitmauer fasst. Allerdings wird Jünger auch hier nicht nur am performativen Charakter seiner Schriften von Über den Schmerz bis Über die Linie festhalten, sondern sich auch noch ganz entschieden zur „Konzeption der Gestalt“200 bekennen, in der er nach wie vor den „unveränderlichen Kern des Buches“201 über den Arbeiter sieht. Das Gespräch und die Begegnung mit Jünger schlagen so, zumindest von Heideggers Warte aus betrachtet, fehl. Dass sich Heidegger und Jünger – wie es in einem Brief Heideggers vom 20.11.1953 heißt – nach ihrer „letzten Begegnung in München […] zuletzt in der Ödnis des Verkehrs von verschiedenen Seiten noch grüßten“202, nimmt auf diese Weise einen geradezu symbolischen Charakter an. Hier ist für Heidegger nämlich nicht nur „ein günstiger Augenblick“203 für ein Gespräch vorübergegangen. Es erweist sich, dass „Gespräche […], in denen Name und Leistung und Person der Sprechenden verschwinden und das Ungesprochene für sie spricht […], vielleicht nur ein Traum“204 sind. Fast gleichzeitig – Heidegger gibt als Zeit der Niederschrift „1953/54“ (UzS, 296) an – entsteht ein Text, der die notwendigen Schlüsse aus dieser Einsicht in den traumartigen Charakter des Gesprächs zieht. Erst in seinem immer mehr einem Traum ähnelnden Abschluss eröffnet Aus einem Gespräch von der Sprache, das erstmals in Heideggers Sammlung Unterwegs zur Sprache (1959) erscheint, die in Über „die Linie“ in Aussicht gestellte Möglichkeit einer „Zwiesprache“ der „ostasiatische[n]“ und der „europäische[n] Sprache“. (WM, 424) Solcherart zum Traum werden muss eine solche Begegnung nicht zuletzt deshalb, weil ihr „die Begegnenden heute auf keiner Seite gewachsen sind“ (WM, 424): „Keine von beiden vermag von sich aus diesen Bereich zu öffnen oder zu stiften.“ (WM, 424)
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Jünger, Werke, Bd. 5, S. 12. Ebd., S. 13. Ebd., S. 12-13. Ernst Jünger – Martin Heidegger. Briefe 1949-1975, S. 25. Ebd. Ebd.
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3.3 Eine Planetarische Begegnung, die im Kommen bleibt: Aus einem Gespräch von der Sprache Auch Heideggers eigene Versuche, „planetarische […] Begegnungen“ (WM, 424) herbeizuführen, bleiben weitgehend im Ansatz stecken. Zeugnisse dafür beschränken sich zum größten Teil auf eine Auseinandersetzung mit dem ostasiatischen Denken, die sich zudem oft nur in Form von Anekdoten und spärlichen Hinweisen erhalten hat. Die einzige prominente Ausnahme bildet dabei das Gespräch von der Sprache, das auf einen Besuch des japanischen Germanisten Tezuka Tomio bei Heidegger zurückgeht. Heidegger maß dem Besuch offenbar eine besondere Bedeutung bei, die er zumindest für seinen Besucher nicht hatte.205 Allerdings ist das in Unterwegs zur Sprache erschienene ‚Gespräch‘ auch keineswegs als treues Protokoll des tatsächlichen Treffens zu lesen; vielmehr gibt es eine sehr freie Verarbeitung dieser Begegnung wieder. Obwohl die wirkliche Begegnung wohl weit weniger spektakulär war, als sie sich in Heideggers Text darstellt, hat man dem Text mitunter eine besondere Radikalität bescheinigt. Hans Ulrich Gumbrecht liest ihn als Heideggers am weitesten vordringender Versuch, sich von der neuzeitlichen, am Begriff des Subjekts orientierten Philosophie zu befreien;206 und Jean-Luc Nancy sieht in Heideggers Gespräch die (Ver-)Teilung der Stimmen, die er als Form seines eigenen Denkens in Anspruch nehmen wird, auf exemplarische Weise thematisch vor- und performativ dargestellt.207 Betont Gumbrecht die Abkehr von einem Ich, das das Andere in seine Selbstbezüglichkeit aufnimmt, so verweist Nancy darauf, dass das „Gespräch“208 die Selbstbestätigung des hermeneutischen Zirkels in ein polydimensionales und polymorphes „Ge-flecht“209 auflöse. Diese Öffnung des hermeneutischen Zirkels durchkreuzt jedoch weniger, wie bei Derrida, die Selbstpräsenz der Stimme, sondern vor allem die Möglichkeit, dass die im Gespräch Involvierten die Zukunft auf ihre Vorwegnahmen einschwören könnten. Vielmehr löst Heidegger die immer schon „antizipierende [anticipatrice]“210 Ausrichtung der Sprache von jeder konkreten Vorwegnahme, indem er auch sich selbst dem „irrenden Gang [cours errant]“211 des Gesprächs überlasse. 205 Für eine ganz andere Version dieses Treffens siehe die Darstellung von Tomio Tezuka, „Eine Stunde mit Heidegger“, in: Hartmut Buchner (Hg.), Japan und Heidegger. Gedenkschrift der Stadt Meßkirch zum hundertsten Geburtstag Martin Heideggers, Sigmaringen 1989, S. 173-180. 206 Siehe Hans Ulrich Gumbrecht, „Martin Heidegger and His Japanese Interlocutors. About a Limit of Western Metaphysics“, in: Diacritics 30.4 (Winter 2000), S. 83-101, hier S. 84-86. 207 Jean-Luc Nancy, Le partage des voix, Paris 1982, S. 46. 208 Nancy, Le partage des voix, S. 86. 209 Ebd. 210 Ebd., S. 82. 211 Ebd., S. 47. Nancy spielt hier wohl nicht zufällig auf Heideggers Rede von der (planetarischen) Irre an, wird er selbst doch ausgehend vom partage des voix ein Denken des (im)monde und der (im)mondialisation entwickeln; siehe hierzu Jean-Luc Nancy, Le sens du monde, Paris 1993, und ders., Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, übers. v. Anette Hoffmann, Zürich u. Berlin 2002.
EINE PLANETARISCHE BEGEGNUNG, DIE IM KOMMEN BLEIBT
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Dadurch, dass es einen solchen planetarischen Kurs einschlägt, löst das Gespräch von der Sprache eine Forderung ein, die ein Jahr später in Über „die Linie“ formuliert wird. Eine Begegnung zwischen den Sprachen Europas und Asiens müsse in einem „Bereich“ (WM, 424) stattfinden, den keiner von sich aus „zu öffnen und zu stiften“ (ebd.) vermöge. Daher gehen die Gesprächspartner – ein „Japaner“ und ein „Fragender“ – in ihrem Versuch, eine diesen beiden Sprachen gemeinsame „Quelle“ (UzS, 94) auszumachen, trotzdem von ihrer grundlegenden Verschiedenheit aus. Diese Suche erlaubt es dem „Fragenden“, einem durchsichtigen Inkognito Heideggers, trotz seiner eindeutigen Überlegenheit in Fragen der europäischen Philosophie nicht, eine durchweg souveräne Rolle zu spielen. Denn auch wenn sie das Gespräch auf Deutsch führen und somit „alles“ (UzS, 89) von vornherein „in das Europäische“ (ebd.) verlagert haben, steht der Fragende mehr noch als der Japaner in Gefahr, auf Abwege zu geraten, weil ihm bisher, wie er zugeben muss, „der japanische Sprachgeist verschlossen“ (UzS, 89) geblieben ist.212 Die „diskursive Asymmetrie“213, die Gumbrecht zwischen den Gesprächspartnern nachweist, kippt daher im Laufe des Gespräches, so dass dem Japaner (der sich, wie sein reales Vorbild, gerade als Übersetzer deutscher Klassiker ins Japanische hervorgetan hat) schließlich sogar die leitende Rolle zufällt. Schon vor ihrem Gespräch schien es ihm, wie er dem Fragenden anvertraut, beim Übersetzen bisweilen, als bewegte er sich „zwischen verschiedenen Sprachwesen hin und her“ (UzS, 115). Das Gespräch mit dem Fragenden nun drängt ihm – und nicht seinem Gesprächspartner – die Vermutung auf, „der Wesensquell der grundverschiedenen Sprachen sei derselbe“ (UzS, 115). Weil der Japaner demnach als primus inter pares fungiert, ist auch er es, der das Gespräch bis an seine Grenzen zu führen vermag. Auf die vom Fragenden – vielleicht die spätere Geste einer Auflösung der Linie vorwegnehmend – vorgeschlagene Charakterisierung des Menschen als eines „Grenzgänger[s] des Grenzenlosen“ (UzS, 137) erwidert der Japaner, dass der solchermaßen verstandene Mensch gerade „das Geheimnis der Grenze“ (ebd.) suchen müsse. Dass er von einem Geheimnis der Grenze spricht, markiert den Punkt, an dem sich ein, wenngleich tentatives, Wir konstituiert, das die beiden einschließt. Die nächsten Worte des Japaners sind: „Was wir jetzt sagen – verzeihen Sie dieses ‚wir‘ – lässt sich am Leitfaden der metaphysischen Sprachauffassung nicht mehr erörtern.“ (UzS, 137) Es geht hier indessen, wie sich anschließend zeigt, weniger darum, was die beiden sagen, als darum, wie sie ins Gespräch kommen. Schon der Titel des Gesprächs von der Sprache deutet nämlich an, dass alles daran liegt, dass die beiden tatsächlich „von der Sprache“ und nicht mehr „über die Sprache“ sprechen. (UzS, 149) Indem die Unterhaltung der beiden zu einem solchen Gespräch wird, was allerdings erst nach den eben zitierten Worten des Japaners geschieht, ‚performieren‘ sie einen neuen Textbegriff, der die Unterscheidung von Sprechen und
212 Die Rede vom „Sprachgeist“ spielt auf Wilhelm von Humboldt an, auf dessen Sprachphilosophie im letzten Text von Unterwegs zur Sprache eingegangen wird (siehe UzS, 246-250 u. 267-268). 213 Gumbrecht, „Martin Heidegger and His Japanese Interlocutors“, S. 87.
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Schreiben suspendiert214 und der dann wenig später in Über „die Linie“ als „schreibende[s] Sagen“ (WM, 424) firmiert. Erneut liegt die Initiative beim Japaner. Kurz zuvor drohte der Dialog nämlich gänzlich abzubrechen, als sich die beiden einem Vortrag über „Die Sprache“ zugewendet haben, den der Fragende nicht publizieren will. In gedruckter Form, so befürchtet er, würde der Text nämlich nur als „Sprechen über die Sprache“ (UzS, 147) aufgefasst werden. Auf die Frage des Japaners, was der Vortrag denn sonst sei, bleibt der Fragende um eine Antwort verlegen: „[I]ch kann nicht antworten. Der Grund dafür ist derselbe, der mich bisher davor zurückgehalten hat, den Vortrag als Schrift erscheinen zu lassen.“ (UzS, 148) Der Japaner droht also das Gespräch bis an eine Grenze zu führen, die sogar den Abbruch des Gesprächs zur Folge hätte. Dies verhindert er jedoch in einer doppeldeutigen Geste. Auf den ersten Blick gibt er vor, die Aura des Geheimnisvollen, in die sich die Worte des Fragenden solchermaßen kleiden, zu respektieren und äußert sogar sein „Verständnis“ für diese „Art der Zurückhaltung“. (UzS, 148) Wenn er dieses Verständnis dann anschließend begründet, verschiebt er allerdings unter der Hand die Bedeutung des Geheimnisvollen und des Geheimnisses in einer folgenschweren Weise: „Ein Geheimnis ist erst dann ein Geheimnis, wenn nicht einmal dies zum Vorschein kommt, daß ein Geheimnis waltet.“ (UzS, 148) Diese Worte des Japaners sind es schließlich, die den Fragenden überzeugen, den Vortrag nun doch auch im Druck erscheinen zu lassen. (Der Vortrag, den es tatsächlich gibt, erscheint daraufhin als erster Text von Unterwegs zur Sprache.) In der Vorstellung eines Geheimnisses, dass sich als Geheimnis verbirgt, vollendet sich der Abschied der Welt und des Autors. Deshalb überzeugt es den Fragenden auch unmittelbar, dass es nicht nur für „die oberflächlich Eiligen“, sondern selbst noch „für die sinnend Bedächtigen“ so scheinen müsse, „als gäbe es nirgends ein Geheimnis.“ (UzS, 148) Zur gemeinsamen ‚Quelle‘ der ostasiatischen und europäischen Sprachen können die beiden demnach auch nur vordringen, wenn sich diese Quelle verabschiedet und sie sich diesen Abschied gegenseitig zuwinken – ähnlich und doch ganz anders als sich Heidegger und Jünger „in der Ödnis des Verkehrs von verschiedenen Seiten noch grüßten“.215 Im gegenseitigen Gruß wird der „Abschied von allem ‚Es ist‘“ (UzS, 154) bezeugt, in dem sich eine unvorhersehbare „Ankunft des Gewesen“ (ebd.) vorbereitet. Das „eigentliche Gespräch, mag es geschrieben und gesprochen sein oder nicht“ (UzS, 152), zeichnet sich folglich dadurch aus, dass es dieser Unvorhersehbarkeit entspricht, indem es selbst „fortwährend im Kommen bleibt“ (ebd.).
214 Darauf weisen auch David Espinet in seinem Vorwort und Diana Aurenque in ihrem Beitrag zu einem Band hin, der den Bezügen nachgeht, die zwischen Heideggers Denken und der Schrift bestehen. Siehe David Espinet, „Vorwort. Die ereignisoffene Beständigkeit der Schrift“, in: ders. (Hg.), Schreiben Dichten Denken. Zu Heideggers Sprachbegriff, Frankfurt a.M. 2011, S. 9-12, sowie Diana Aurenque, „Literatur, Öffentlichkeit und Geheimnis. Die heideggersche Unterscheidung von geschrieben-augesprochenem Wort und schweigend-hörendem Wort“, in: David Espinet (Hg.), Schreiben Dichten Denken. Zu Heideggers Sprachbegriff, Frankfurt a.M. 2011, S. 13-28. 215 Ernst Jünger – Martin Heidegger. Briefe 1949-1975, S. 25.
Teil IV „ ... die Sonne, und nicht nur sie, war untergegangen ...“ Paul Celans Meridiane
1. Von der Gestalt zum Meridian und zurück 1.1 Gestalt und Begegnung im Zeichen der Paulownia Im November 1960 schickt Paul Celan seine eben gedruckte Büchnerpreisrede an Klaus Demus. Dieser antwortet in einem begeisterten Brief vom 22.11.1960, in dem es heißt Der Meridian sei deshalb eine „große Rede“, weil sie sich „allem Gerede vom Über-die-Linie-gegangen-Sein“1 entgegenstelle. Demus sieht Celans Rede also offenbar im Zusammenhang der Diskussion um planetarische Linien, die in den 1950er Jahren durch Schmitts Nomos der Erde und die Linien-Studien von Jünger und Heidegger öffentlich wurde.2 Vor dem Hintergrund dieser Debatte wird Celans Büchnerpreisrede vor allem als Gegenentwurf zum „Überqueren des Nullmeridians“3 lesbar, das Jüngers Schreiben leisten will. Während Celans ebenso aufmerksame wie gebrochene Rezeption Heideggers in der Forschung mittlerweile intensiv erforscht ist,4 scheint seine – sicher mindestens ebenso gebrochene – Beziehung zu Jünger nach wie vor als anstößig zu gelten. Die Zurückhaltung der Celan-Forschung ist gerade aus politischen Motiven verständlich. Im Folgenden soll gleichwohl ausgehend von Celan eine vierte Weise konturiert werden, sich zur planetarischen Linie zu verhalten, eine vierte Weise, die sich von den Positionen Jüngers, Schmitts und Heideggers abgrenzen lässt. Insbesondere dem umstrittenen Brief, den Celan am 11.07.1951 an Jünger schrieb5 und in dem er ihn um Unterstützung bei der Suche nach einem Verleger für Der Sand aus den Urnen bat, lässt sich entnehmen, dass Celan mit Jüngers Werk schon in den frühen 50er Jahren vertraut war, der Zeit also, in der mit Heliopolis und Über die Linie zentrale planetarische Texte Jüngers eben erschienen waren. Wie auch immer die Existenz dieses Briefs politisch und biographisch zu bewerten ist – jedenfalls finden sich in ihm zwei Worte, die in den poetologischen Überlegungen von 1 Paul Celan – Klaus und Nani Demus. Briefwechsel, hg. v. Joachim Seng, Frankfurt a.M. 2009, S. 360-361. 2 Auch Guiseppe Bevilacquas Übersetzung der Büchnerpreisrede scheint in diese Richtung zu weisen. Bevilacqua übersetzt das Wort „terrestrisch“ als „planetario“. Paul Celan, La verità della poesia. „Il meridiano“ e altre prose, übers. u. hg. v. Guiseppe Bevilacqua, Turin 2008, S. 21. 3 Ernst Jünger, Werke, 10 Bde., Stuttgart 1964, Bd. 5, S. 272-273. 4 Siehe hierzu jüngst etwa Hadrien France-Lanord, Paul Celan und Martin Heidegger. Vom Sinn eines Gesprächs, übers. v. Jürgen Gedinat, Freiburg i.Br. 2007, und Anja Lemke, Konstellation ohne Sterne. Zur poetischen und geschichtlichen Zäsur bei Martin Heidegger und Paul Celan, München 2002. 5 Der Brief wurde von Tobias Wimbauer im Nachlass Jüngers gefunden und am 8. Januar 2005 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht. Wiederabgedruckt ist der Brief in Kiesels Jünger-Biographie. Siehe Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007, S. 592. Ein Brief von Demus an Jünger ging dem Brief Celans voran. Die Publikation löste kurzzeitig eine erhitzte Debatte um die Bedeutung des Briefs für Celans Verhältnis zu Jünger aus. Wimbauer behauptete eine Nähe zu und sogar eine Verehrung für Jünger, was von Jean Bollack entschieden zurückgewiesen wurde. Zusammengefasst ist die Debatte in Theo Buck, Celan schreibt an Jünger. Zu einem Brief und den Reaktionen, die er auslöste, Aachen 2005.
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1. VON DER GESTALT ZUM MERIDIAN UND ZURÜCK
Celan und Jünger gleichermaßen – wenn auch in durchaus verschiedenen Ausprägungen – eine entscheidende Rolle spielen: die Worte „begegnen“ und „Gestalt“.6 Celans Brief versteht sich selbst sogar als Gelegenheit einer (wie prekär auch immer gedachten) Begegnung und nimmt damit spätere Celan’sche Formulierungen vorweg, die davon sprechen, dass ein Gedicht „immer seinem Wesen nach dialogisch“7 oder wie ein „Händedruck“8 sei. Im Brief an Jünger heißt es, Celan habe ihm in dessen Werken „zu begegnen versucht“ und nun seine eigene „Gestalt“ unter ein „Zeichen“ gestellt, das ein „Entgegenkommen“ auch von Jüngers Seite auslösen solle.9 Wenn dieser Versuch, eine reziproke Situation gegenseitigen Entgegenkommens herzustellen, als schwerlich erfolgversprechende imaginiert wird, liegt das vielleicht weniger an den verschiedenen Positionen der beiden Autoren auf literarischem und politischem Gebiet als an ihren unterschiedlichen Begriffen von Gestalt und Begegnung. Das Zeichen, unter das Celan schließlich, wenn auch nach inszeniertem Zögern, die Begegnung der beiden ‚Gestalten‘ stellt, ist die Paulownia, ein Baum, den Jünger in seinem Pariser Tagebuch aus dem Zweiten Weltkrieg mehrfach erwähnt. Schon die Wahl eines Baums deutet auf das geteilte Interesse an der Botanik, die Wahl eben dieses – bei Jünger selbst immens bedeutungsschweren – Baums soll aber zugleich Jünger zu einer Entscheidung bewegen. In den Strahlungen, der überarbeiteten Fassung von Jüngers Tagebuch aus dem Zweiten Weltkrieg, spielt die Paulownia eine zwar nur vorübergehende Rolle, diese allerdings während eines gewichtigen Zeitraums: der Karwoche von 1943. Erstmals erwähnt wird sie am Dienstag nach Palmsonntag, der 1943 auf den 20. April fällt. Bezeichnend ist dieses Datum weniger, weil Hitler an einem 20. April geboren wurde, als weil sein Geburtstag in diesem Jahr nicht nur in der Karwoche liegt, sondern überdies mit dem Beginn des jüdischen Pessachfestes zusammenfällt. Der Erzähler verbringt an diesem Tag „ein Mauretanierstündchen“10 bei seiner Geliebten „Banine“11, in deren Garten eine zwar noch blattlose, aber schon in voller Blüte stehende Paulownia steht. Wie von ungefähr unterhalten sich die beiden über jüdische und islamische Gotteshäuser, in denen „die Gegenwart des Gesetzes offenbar“12 sei. Die dadurch scheinbar zufällig hergestellte Verbindung von Paulownia und Judentum wird kurz darauf wieder aufgegriffen. Am folgenden Tag schon wird der Erzähler in einem „schauerlich[en]“ Bericht von „einer Erschießung von Juden“ erfahren, die ihn so bestürzt, dass es ihn nun nicht mehr überraschen würde, „wenn der Erdball in Stücke flöge.“13 Den Bericht nimmt er zum Anlass einer Kritik, die wohl dem nationalsozialistischen Regime gilt: „In der Tat habe ich das 6 Kiesel, Ernst Jünger, S. 592. 7 Paul Celan, Gesammelte Werke, 5 Bde., hg. v. Beda Allemann u. Stefan Reichert, Frankfurt a.M. 1983, Bd. 3, S. 186. 8 Ebd., S. 177. 9 Kiesel, Ernst Jünger, S. 592. 10 Jünger, Werke, Bd. 3, S. 49. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 50-51.
GESTALT UND BEGEGNUNG IM ZEICHEN DER PAULOWNIA
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Gefühl, daß diese Menschen den Erdball anbohren, und daß sie die Juden dabei als kapitales Opfer wählen, kann kein Zufall sein.“14 Wen Jünger mit ‚diesen Menschen‘ meint, ist jedoch ebenso wenig mit eindeutiger Sicherheit zu sagen wie seine eigene Position zum ‚kapitalen Opfer‘ der Juden festzustellen ist. Die politischen Gespräche, die der Erzähler am Vortag nach seinem Besuch bei Banine führt, könnten zumindest auf eine Abstandnahme von früheren Positionen – als er, wie zu lesen ist, noch „im Dotter des Leviathans“15 gelebt haben will – schließen lassen. Der Bogen zur Paulownia zurück wird am Ende des Eintrags vom Mittwoch, den 21. April gezogen. Nachdem er den Übergang von Massenerschießungen von Juden zur „Vergasung der Opfer“16 als Gerücht kolportiert, wendet sich der Erzähler abrupt zu einer Aufzählung seiner Pariser Lieblingsbäume. Zu einem Feigenbaum und einer Akazie kommt vielleicht „als dritter die Paulownia in Banines Garten hinzu.“17 Am folgenden Ostersonntag, dem 25. April 1943, wird die Paulownia, nunmehr als „Kaiserbaum“18 apostrophiert, sogar zum Baum der Stadt Paris schlechthin: „Was für Rio die Flamboyant, das ist für Paris die Paulownia“.19 Anschließend verknüpft der Eintrag den Baum erneut mit dem Judentum: „Durch die Tuilerien zurück; dort wieder die Paulownia und auch die Judenbäume, deren Blüten gleich Korallentrauben leuchten.“20 Wenn Celan also die Paulownia als Zeichen seiner Gestalt ins Spiel bringt, dann steht dahinter vielleicht der Versuch, die Tuilerien – diese seit der Zerstörung der früheren königlichen Residenz offene Stätte – als Raum einer möglichen Begegnung mit Jünger zu konturieren. Damit könnte der Tuilerien-Park auch prädestiniert sein für eine Begegnung zwischen einem Autor, dessen (auch literarischer) Ruhm auf die Zeit als Soldat in kaiserlichen Diensten zurückgeht (‚Kaiserbaum‘), und einem Dichter, dessen jüdische Eltern im Zweiten Weltkrieg umgekommen sind (‚Judenbaum‘). Dass die Paulownia nicht nur an diesem historischen Ort, sondern auch just im überdeterminierten April 1943 zu Jüngers Lieblingsbaum avanciert, deutet womöglich – das stünde dann wohl hinter Celans Wahl – eine Kritik an Nationalsozialismus und Holocaust an. Allerdings tritt die Paulownia in den Strahlungen nach dem Ostersonntag wieder in den Hintergrund und wird nur noch zweimal erwähnt, einmal bei einem späteren Besuch bei Banine,21 das andere Mal, als Jünger Georges Braque aufsucht, in dessen Garten er ebenfalls eine Paulownia sieht.22 Weil die Paulownia bei Jünger also eine nur ephemere Bedeutung hat, die offenbar nicht einmal über die frühe Blüte des Baums hinaus Beständigkeit hat, zögert Celan „selbst noch in der Stunde, die mich Blatt und Blüte der 14 15 16 17 18 19 20 21 22
Ebd. Ebd., S. 50. Ebd., S. 51. Ebd. Ebd., S. 55. Ebd. Ebd. Siehe ebd., S. 248. Siehe ebd., S. 172.
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1. VON DER GESTALT ZUM MERIDIAN UND ZURÜCK
Paulownia wählen ließ.“23 Die Betonung des Blattes ist ausschlaggebend, denn es bleibt die Frage, ob Jüngers Werk über die kurzzeitige Blüte der Paulownia, die sich ihm im April 1943 ins Gedächtnis gebracht hat, hinaus auch ein Bekenntnis zur Beständigkeit eines möglichen Begegnungsraum zu entnehmen ist, selbst wenn nicht mehr die Blüten, sondern nur noch die Blätter von Kaiser- und Judenbäumen den offenen Platz der Tuilerien beschatten, den die Revolution geschaffen hat. Zwar könnte eine frühere Aufzeichnung in den Strahlungen, in der es heißt, dass die ephemeren „Blütenwunder Sinnbilder eines Leben, das nie verwelkt“24, seien, solche Erwartungen bestätigen. Wenn Celan allerdings – in einem Gedicht der Niemandsrose – „Paulownien“25 erwähnt, unter denen „Messer stehen“26, scheint er die Möglichkeit einer Begegnung, die im Zeichen dieses Baums hätte stattfinden können, als zerschlagen anzusehen. Biographisch lässt sich hierzu bemerken, dass sich Jünger nicht für Celans Gedichtband stark gemacht hat. Die poetologischen Implikationen des Briefs sind aber ungleich interessanter, denn wenn man Celans Wahl der Paulownia als Gestalt, die eine Begegnung mit dem Anderen ermöglichen könnte, in den Kontext des Jünger’schen Werks zurückstellt, zeigt sich ein Zusammenhang mit Jüngers Rede vom Planetarischen. Gegen die Weise, in der die Strahlungen von den Juden als „kapitale[m] Opfer“27 sprechen (und die vielleicht auch auf die im Arbeiter vorgestellte Logik eines völlig deterritorialisierten Kapitals zu beziehen ist), hätte Carl Schmitt gewiss Einspruch erhoben, der nicht nur Jüngers Entgrenzung des planetarischen Raums kritisiert hat, sondern auch in den Juden Träger der Deterritorialisierung sah, eine antisemitische These, die er Jünger gegenüber vor allem anlässlich der Heliopolis-Figur Budur Peri deutlich zu machen versuchte.28 Ob Celan bereits 1951 an einen planetarischen Maßstab von Gestalt und Begegnung gedacht hat, geht aus seinem Brief an Jünger nicht hervor. Seine 1960 gehaltene und im selben Jahr unter dem Titel Der Meridian veröffentlichte Büchnerpreisrede jedoch wird die Verbindung zur planetarischen Linie ausdrücklich ziehen, und das unter programmatischer Inanspruchnahme der Worte Gestalt und Begegnung. Der Zusammenhang beider wird dort als „Gestalt [des] Anderen“29 gefasst, die sich im „Geheimnis der Begegnung“ (M, 9) allererst formen kann. Die Dimension, in der
23 So im Brief an Jünger, abgedruckt in Kiesel, Ernst Jünger, S. 592. 24 Jünger, Werke, Bd. 3, S. 44. 25 Paul Celan, Die Niemandsrose. Vorstufen – Textgenese – Endfassung (Tübinger Ausgabe, hg. v. Jürgen Wertheimer), bearb. v. Heino Schmull unter Mitarbeit v. Michael Schwarzkopf, Frankfurt a.M. 1996, S. 131. In diesem Gedicht wird auch die Revolutionsthematik verarbeitet. 26 Ebd. 27 Jünger, Werke, Bd. 3, S. 51. 28 Siehe hierzu Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930-1983, hg. v. Helmuth Kiesel, Stuttgart 1999, S. 241-245. 29 Paul Celan, Der Meridian. Endfassung – Entwürfe – Materialien (Tübinger Ausgabe, hg. v. Jürgen Wertheimer), hg. v. Bernhard Böschenstein u. Heino Schmull unter Mitarbeit v. Michael Schwarzkopf u. Christiane Wittkopp, Frankfurt a.M. 1999, S. 9. Der Meridian wird fortan im laufenden Text unter Angabe der Sigle M und der Seitenzahlen zitiert.
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eine solche Begegnung möglich sein soll, wird erst durch den Meridian – also der planetarischen Linie schlechthin – vermessen und bestimmt. So finden sich in der Meridian-Rede Ansätze zu einem Gegenmodell zu Jüngers planetarischem Schreiben, die anschließend auch poetisch fruchtbar gemacht werden, vor allem im letzten Gedicht der Niemandsrose, in dem der Meridian in einer mobilisierten und pluralisierten Form wiederkehrt. Ausgehend von diesen beiden Texten lässt sich vielleicht ein planetarisches „Gegenwort“ (M, 3) Celans zu Jüngers Inanspruchnahme des Meridians für eine kommende Gestaltung des Planeten formulieren. Celans Versuch, der planetarischen Linie die Treue zu halten, schließt dabei in gewisser Weise an die Position Heideggers an, der die geheime Heliozentrik und die halb eingestandene ‚Helio-Politik‘ des Jünger’schen Modells kritisiert: Hat Heidegger seine Gesamtausgabe mit einem Band von „Vigiliae“30 abgeschlossen, so charakterisiert Celan seine Dichtung in einer Notiz aus dem Umkreis der Büchnerpreisrede sogar als „eine endlose Vigilie“ (M, 91). Im deutlichen Gegensatz zu Heidegger allerdings steht Celans verschärfte Kritik an der Heliozentrik31 einer planetarischen Linientreue nicht im Zeichen einer aufgelösten Linie, sondern einer Berührung des Meridians, die er schon in und mit der Büchnerpreisrede geleistet zu haben glaubt.
1.2 Der Meridian als Planetarisches Gegenwort Celans Büchnerpreisrede von 1960, die eine äußerst unkonventionelle Büchner-Interpretation vorschlägt, scheint mit dem Planetarischen zunächst freilich nichts zu tun zu haben. Der Meridian, der zum Abschluss der Rede evoziert wird, kommt recht unvermittelt ins Spiel und steht dem ersten Ansehen nach in einem nur lockeren Bezug zum Vorangehenden. Der Schein trügt jedoch. Hinter der Auseinandersetzung mit Büchner steht nämlich Celans Überzeugung, dass sich das Gedicht nach den Weltkriegen und dem Holocaust „am Rande seiner selbst“ (M, 8) behaupten und sich dafür ständig „aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch“ (ebd.) zurückrufen müsse. Indem es sich an dieser (ebenso zeitlich wie räumlich kodierten) Grenze hält, soll das Gedicht zwei Tendenzen entgegenwirken: der Tendenz, die Anderen und das ‚Andere‘ auszuschließen, sowie der ihr zunächst entgegengesetzt scheinenden Tendenz, sich die Anderen und das ‚Andere‘ anzueignen. Um diesen beiden Gefahren zu entgehen, müsse das Gedicht zwischen einem Naturalismus, der Alteritäten einzufangen sucht, und einem Ästhetizismus, der ein Anderes gar nicht erst zulässt, die Waage halten. Hier (wo sich schließlich der Meridian als die Grenzund Maßlinie erweisen wird, an der sich das Gedicht ausrichtet) setzt Celans Büch30 So lautet der Titel der (noch unveröffentlichten) Texte, mit denen die Gesamtausgabe schließen wird. Siehe hierzu die Aufstellung der Gesamtausgabe in Martin Heidegger, Das Ereignis, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 2009, S. 362. 31 Zu Celans Kritik an der Sonne siehe Winfried Menninghaus, Paul Celan. Magie der Form, Frankfurt a.M. 1980, S. 119.
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ner-Lektüre an. Dafür muss er die gängige Forschungsmeinung, die in Büchner gerade als Autor des Lenz einen Vorläufer des Naturalismus sieht, verkomplizieren. Zwar kann man Lenz’ Rede von den beiden Mädchen, die man am liebsten versteinern möchte,32 als Präfiguration des Naturalismus deuten, allerdings gibt Büchners Lenz hier, so Celan, nicht seine eigene Meinung wieder: „Man möchte heißt es hier freilich, nicht: ich möchte.“ (M, 5) Dieselbe implizite Kritik am Bestreben, „das Natürliche als das Natürliche mittels der Kunst zu erfassen“ (M, 5), weist Celan in der Vorführung von Leonce und Lena am Ende von Büchners gleichnamigem Drama nach. Allein durch die Inszenierung werden die beiden, obgleich sie nur als sie selbst auftreten sollen, zu Automaten. Zu den Besonderheiten der Celan’schen Büchnerpreisrede gehört, dass das entgegensetzte Extrem einer selbstbezüglichen l’art pour l’art demselben Bann verfällt. Wo die Kunst, die das Natürliche als das Natürliche zu fassen sucht, „den Weg zu Medusenhaupt und Automat“ (M, 6) weist, nehmen der „‚Idealismus‘ und dessen ‚Holzpuppen‘“ (M, 4), gegen die sich Büchners Lenz im Kunstgespräch ausspricht, den Ästhetizismus vorweg, so dass sich die Holzpuppen zu den Versteinerungen und den Automaten gesellen. Daher hieße für Celan „Mallarmé konsequent zu Ende denken“ (M, 5)33 auch paradoxerweise genau dasselbe wie den Naturalismus zu Ende zu denken. Der angeführte Imperativ Merciers, „Élargissez l’art“ (M, 10), der auf den Sturm und Drang und Büchner gewirkt hat, gewinnt so in Celans Text eine doppeldeutige Rolle, da er entweder einer Vereinnahmung oder einer Ausschließung des und der Anderen Vorschub leistet – je nachdem, wie man ihn interpretiert. Weil die ‚Ausweitung‘ der Kunst hier auf Naturalismus und Ästhetizismus gleichermaßen zutrifft, kann sich das Gedicht am Rand seiner selbst nur behaupten, indem es die Mitte zwischen diesen beiden Extremen hält. Einen ‚Schritt‘ dem Anderen entgegen ermöglicht das Gedicht, indem es einen ‚Schnitt‘ macht, der vor dem „Eigenste[n]“ (M, 10) dieses Anderen halt macht. So lässt sich das Sich-Zurückrufen des Gedichts aus seinem Nicht-mehr in sein Immer-noch auch als Geste der Bescheidung und des Verzichts auf Totalität verstehen.34 Sich absolut setzen kann und will das Celan’sche Gedicht nicht, obwohl (oder vielleicht gerade weil) es mit jedem Gedicht „diesen unerhörten Anspruch“ (M, 10) 32 Georg Büchner, Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente, hg. v. Henri Poschmann, Frankfurt a.M. 1992, Bd. 1, S. 234: „Man möchte am liebsten ein Medusenhaupt sein, um so eine Gruppe in Stein verwandeln zu können“. 33 Celans Beziehung zu Mallarmé ist in der Forschung umstritten. Jean Bollack zufolge ist Celans Dichtung „durch das Land Mallarmés ‚hindurchgegangen‘“; Otto Pöggeler hingegen bestreitet nachdrücklich die Zulässigkeit einer solchen „Mallarmésche[n] Perspektive“; siehe Jean Bollack, „Paul Celan sur sa langue“, in: Amy D. Colin (Hg.), Argumentum e Silentio. International Paul Celan Symposium, Berlin 1987, S. 113-153, hier S. 146, sowie Otto Pöggeler, Der Stein hinterm Auge. Studien zu Celans Gedichten, München 2000, S. 109. Die Debatte um etwaige Bezüge zwischen Celan und Mallarmé aufgearbeitet hat Ute Harbusch, Gegenübersetzungen. Paul Celans Übertragungen französischer Symbolisten, Göttingen 2005. 34 Diese Geste der Bescheidung hat schon Heideggers Aufmerksamkeit auf sich gezogen. In einem Brief an Gerhart Baumann schreibt Heidegger über Celan: „Er steht am weitesten vorne und hält sich am meisten zurück“, und begründet damit seinen lange gehegten Wunsch, Celan kennen zu lernen. Der Brief ist abgedruckt in Gerhart Baumann, Erinnerungen an Paul Celan, Frankfurt a.M. 1986, S. 59-60.
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gibt: „Das absolute Gedicht – nein, das gibt es gewiß nicht, das kann es nicht geben!“ (M, 10) Daher setzt Celan Mercier einen anderen Imperativ entgegen: „Nein. Sondern geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.“ (M, 11) Wie insbesondere Celans Reformulierung der Heidegger’schen Termini Dasein und Um-willen zeigt, soll dieser Gang in das Eigenste jedoch nicht vereinzeln. Sein und Zeit begründet den ontologischen Vorrang des (menschlichen) Daseins bekanntlich damit, dass es dem Dasein „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht.“35 Dieses „Um-willen“36 organisiert vorgängig die Gesamtheit der Verweisungsbezüge, in denen sich innerweltliches Handeln und Denken bewegt. Celans Überlegung, dass Gedichte „vielleicht“ auch als „Daseinsentwürfe“ zu verstehen seien, (M, 11) verschiebt das Um-willen vom Dasein auf die (vom Gedicht zu leistende) Begegnung mit dem Anderen und schärft damit den Aspekt des Mitseins.37 Als Daseinsentwurf kann Dichtung für Celan allein gelten, wenn sie „um einer Begegnung willen“ (M, 7) existiert. So eröffnet das Gedicht die Möglichkeit einer Begegnung, die schon nicht mehr das Gedicht ist, da sich dieses auf sein Immer-noch zurückzieht. Gerade indem das Gedicht allein „in seiner eigenen, allereigensten Sache“ (M, 8) spricht, soll es dann auch, so die Überzeugung Celans, paradoxerweise zum Fürsprecher „in eines ganz Anderen Sache“ (ebd.) werden können. In diesem Zusammenhang nimmt Celan den zentralen Begriff des Jünger’schen Schreibprogramms für sich in Anspruch. Einem Gedicht werde nämlich alles, was ihm begegne, zu einer „Gestalt dieses Anderen“ (M, 9). Den Gestaltbegriff führt Celan an dieser Stelle ein, um die Dialogizität des Gedichts – und das heißt den Bezug eines lyrischen Ichs auf ein ihm gegenüberstehendes ‚lyrisches‘ Du38 – in Richtung auf ein ganz Anderes hin zu öffnen, das neben Menschen explizit auch Dinge (siehe M, 9) mit einschließt. Diese Gestalten des Anderen spielen in der Büchnerpreisrede eine prominente Rolle: Der Ausdruck fällt ganze acht Mal (siehe M, 2, 3, 6 [hier drei Mal], 7, 9 und 11), und einmal spricht Celan von „gestaltgewordene[r] Sprache“ (M, 9), um die sprachliche Faktur von Dichtung zu charakterisieren, die sich erst im Kontakt mit dem Anderen zu einer Gestalt fügt. Diese Gedankenfigur einer gestalthaften Begegnung erinnert nicht umsonst an die Vermittlung einer „open-ended structure“39 planetarischer Texte und einer „open-plan fieldwork“40 planetarischer Kollektive, die im planetarischen Schreiben 35 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 2001, S. 12. 36 Ebd., S. 84. 37 Auch Jean-Luc Nancy versucht, das Mitsein in Heideggers Dasein aufzuwerten. Siehe hierzu v.a. Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, übers. v. Ulrich Müller-Scholl, Berlin u. Zürich 2004. 38 Zum Du bei Celan, vor allem zu seiner Auseinandersetzung mit Buber und dessen Du-Begriff liegt umfangreiche Literatur vor. Für das Folgende ist vor allem ein Aufsatz von Stéphane Mosès über Celans Gespräch im Gebirge von Interesse, weil er zum Schluss auf die Bedeutung des „Grenz-Objekt[s]“ Stern als „Du“ für die Konstitution des „Wir“ hinweist. Siehe Stéphane Mosès, „‚Wege, auf denen Sprache stimmhaft wird‘. Paul Celans ‚Gespräch im Gebirg‘“, in: Amy D. Colin (Hg.), Argumentum e Silentio. International Paul Celan Symposium, Berlin u. New York 1987, S. 43-57, hier S. 56-57. 39 Gayatri Chakravorty Spivak, Death of a Discipline, New York 2005, S. 33. 40 Ebd., S. 35.
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seit Jünger immer wieder neu konturiert wird. Bei Celan ist diese Vermittlung durch die Umformulierung des Heidegger’schen Um-willens bestimmt, das nunmehr um willen der Begegnung mit dem Anderen besteht. Allerdings – und das ist ein entscheidender Unterschied zu Heidegger – löst Celan die Gestalt nicht in eine Geste auf, in der sich die metaphysisch überhöhte Autorfigur verabschiedet. Da Heideggers Texte nach diesem Abschied keinen souverän ordnenden und ortenden Überblick zulassen, schließen sie eine Außenperspektive auf sich aus. Weil sein Denken damit aber auch in der völligen Selbstbezüglichkeit aufzugehen droht, wird Heidegger tendenziell vom Ästhetizismus-Vorwurf der Büchnerpreisrede getroffen. Für diese Ausschließung des Anderen steht indes vor allem Schmitts Suche nach klaren Grenzen, während Jünger ins andere Extrem einer Vereinnahmung des Anderen neigt, wenn er eine letzte Grenzerfahrung forciert. In Gegenstellung zu diesen beiden Tendenzen sucht Celan gerade durch eine Beschränkung seines Textes mit einem Außen zu kommunizieren, ohne auf es überzugreifen. Auch deshalb wird er – entgegen der Forderung Heideggers, die Linie gänzlich aufzulösen – auf den Meridian deuten, ihn zu „berühren“ (M, 12) versuchen. Das würde dann aber auch bedeuten, dass Celans Gedichten eine exzentrische Perspektive auf die Erde eingeschrieben wäre, vergleichbar derjenigen, die Jüngers Roman Heliopolis mit dem Satelliten des Regenten einnimmt. Tatsächlich legt eine Passage aus Celans Bremer Rede von 1958 nahe, anzunehmen, dass Celan ein Bewusstsein dafür hatte, welchen Einfluss die Satellitentechnik nicht nur auf ihn selbst, sondern auf die „Lyriker der jüngeren Generation“41 überhaupt ausübt. Von den Bemühungen solcher junger Dichter heißt es: „Es sind die Bemühungen dessen, der, überflogen von Sternen, die Menschenwerk sind, der, zeltlos auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das unheimlichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht“.42 Diese auf den Sputnikstart anspielenden Worte bergen sicher auch eine Technik-Kritik.43 Allerdings deutet sich hier vielleicht auch eine poetologische Reflexion auf die Position einer Dichtung am Rande ihrer selbst an, die in späteren verstreuten Gedichten wiederaufgenommen wird; etwa, wenn ein spätes Gedicht davon spricht, dass ein unidentifizierter Flugkörper „MIT TRAUMANTRIEB auf der Kreisbahn“44 um den Planeten fliegt. Schon Der Meridian macht deutlich, inwiefern sich eine solche ‚Exzentrik‘ von Jüngers planetarischem Schreiben unterscheiden würde, denn die erdenthobene Position könnte bei Celan nicht (wie in Heliopolis) für sich in Anspruch nehmen, eine neue Sonne einzusetzen oder zumindest in Aussicht zu stellen. Der planetarische Kreis, in den Celan die
41 Celan, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 186. 42 Ebd. 43 In der Forschung wird diese Formulierung als kritische Bezugnahme auf Sputnik und die (Satelliten-)Technik gelesen. Siehe Celan Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Markus May, Peter Goßens u. Jürgen Lehmann, Stuttgart u. Weimar 2008, S. 239. 44 Paul Celan, Lichtzwang. Vorstufen – Textgenese – Endfassung (Tübinger Ausgabe, hg. v. Jürgen Wertheimer), bearb. v. Heino Schmull unter Mitarbeit v. Markus Heilmann u. Christiane Wittkopp, Frankfurt a.M. 2001, S. 135.
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Kreisfigur des Um-willens zum Abschluss der Büchnerpreisrede überführt,45 zeichnet sich vielmehr gerade dadurch aus, dass er quer zum Sonnenlauf steht. Obwohl von Jacques Derrida eine große Untersuchung über die „Heliotropie“46 des philosophischen Denkens von Platon bis Hegel vorliegt, übersieht seine CelanDeutung, wenn sie unter der Hand den Längengrad in einen Breitengrad verwandelt, offenbar genau diese Pointe der Meridian-Rede. Bei Celan heißt es über den Meridian, er sei etwas „Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich Zurückkehrendes und dabei – heitererweise – sogar die Tropen Durchkreuzendes.“ (M, 12) Die Überwindung der figurativen Gestalt des Gedichts wird somit an einen Kreis gebunden, der die Erde in nordsüdlicher Richtung schneidet. Dagegen verkehrt Derrida Celans These in ihr Gegenteil: „Der Tropus erfüllt aber, den Meridian durchkreuzend, seine Funktion“.47 Derrida wird zu dieser Umkehrung der These verleitet, weil er zuvor den Meridian als Zeiger einer Sonnenuhr interpretiert und seine gesamte Lektüre der Celan’schen Datumslogik kommentarlos auf dem Sonnenkalender basieren ließ.48 Im Tropus will Derrida dann ein unüberwindbares metaphysisches Residuum nachweisen, das sich selbst noch (und gerade) an den Grenzziehungen zeigt, die Celans Lyrik performiert. So deutet er zum Beispiel die Aposiopese, mit der das Niemandsrose-Gedicht EINEM, DER VOR DER TÜR STAND nach der ersten Silbe des Wortes Rabbiner abbricht, als Anruf des ägyptischem Sonnengottes Ra.49 Gerade in seiner Gebrochenheit soll dieser Anruf auf die metaphysisch-religiöse Heliotropik verweisen. Obwohl Derrida die These vom Durchkreuzen der Tropen verkehrt, sind seine Ausführungen zur Logik des Datums bei Celan höchst aufschlussreich. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ihn die Zukunftsdimension, die durch Celans Prinzip, seiner „Daten eingedenk zu bleiben“ (M, 8), eröffnet wird, dazu nötigt, die Strategien von Teleopoiesis und Futur II (die er erst in einem später entstandenen Text explizit machen wird) selbst anzuwenden. Derridas Celan-Lektüre geht von der These aus, dass Daten gleichermaßen auf ihre Einzigartigkeit und ihre Allgemeinheit angewiesen sind. Daten müssen zugleich auf ihrer Singularität beharren und diese auslöschen, wenn sie als die Daten, die sie sind, an andere übermittelbar sein sollen.50 Dagegen hätte eine reine Singularität keinen Bezug zum Anderen, und eine völlige Auslöschung der Singularität würde auch die Konkretion des Da45 Siehe France-Lanord, Paul Celan und Martin Heidegger, S. 194. 46 Jacques Derrida, „Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text“, in: ders. Randgänge der Philosophie, übers. v. Günther R. Sigl, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, S. 205258. 47 Jacques Derrida, Schibboleth. Für Paul Celan, übers. v. Wolfgang Sebastian Baur, hg. v. Peter Engelmann, Wien 2002, S. 117. 48 Ebd., S. 97. 49 Die letzte Zeile verstummt mitten im erwarteten Wort Rabbi. Zwei Zeilen zuvor hieß es: „Wirf auch die Abendtür zu, Rabbi“ und nun nur noch: „Reiß die Morgentür auf, Ra- –“. Für Derridas Interpretation siehe Derrida, Schibboleth, S. 124. 50 Zu dieser Logik siehe auch Hent de Vries’ Interpretation von Schibboleth. Hent de Vries, „Das Schibboleth der Ethik. Derrida und Celan“, in: Michael Wetzel u. Jean-Michel Rabaté (Hgg.), Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida, Berlin 1993, S. 57-80.
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tums tilgen. Dass sich Daten demnach einem spannungsvollen Verhältnis von Selbst und Anderen verdanken, übersetzt Derrida in eine spezifische Zeitlichkeit des Datums. Diese müssen sich nämlich für eine uneinholbare „Zukunft“ öffnen, in der sich so etwas wie ein „Gedächtnis“ ausbilden kann, das der Vergangenheit in Form des „Jahrestages“ gedenkt.51 Zu etwas Einzigartigem wird das Datum erst durch eine Wiederholung, die das Einzigartige schafft, indem sie es zerstört. Um diese paradoxe zeitliche Logik zu formulieren, greift Derrida nun selbst zum futur antérieur: Und jedes Mal wird am gleichen Datum das Andenken an das Datum dessen, was nicht wiederkehren kann, wachgerufen. Dieses Datum wird das Einmalige, das Unwiederholbare, bezeichnet und besiegelt haben; aber um das zu leisten, wird es sich in einer hinreichend kodierten, lesbaren, entzifferbaren Form lesen lassen haben, damit in der Analogie der ringförmigen Wiederkehr des Jahrestages (der 13. Februar 1962 ist analog zum 13. Februar 1936) das Unentzifferbare zutage trete, und sei es auch nur als Unentzifferbares.52
Eine solche Bezeichnung und Besiegelung des Unwiederholbaren, die das Datum ‚geleistet haben wird‘, soll einer dialektischen Aufhebung radikal unzugänglich bleiben, so dass Derrida betont: „Keine Dialektik der fühlbaren Gewißheit kann uns der Obhut eines Archivs versichern.“53 So richtig diese Abgrenzung Celans vom geschichtsphilosophischen Modell eines Hegel ist, sie darf auch nicht (in einer quasi-Heidegger’schen Geste) zur Annahme führen, es gebe kein „Text-Äußeres“.54 Dieses Außen ist es gerade, dem sich Celans Dichtung annähern will und auf das der Meridian an der Grenze des Textes verweisen soll. Wenn Celan gegen Ende der Büchnerpreisrede sagt, der Meridian sei „das Verbindende und das Gedicht wie zur Begegnung Führende“ (M, 12), unterstellt er das Gedicht einer weniger textlichen als sozialen Begegnung, die auch das Datum der „am 22. Oktober, 1963“55 gehaltenen Rede bestimmt. Zu einem „Kreis“ (M, 11) runden kann sich der „Weg“ (ebd.), den Celan „in Ihrer [d.h. des Publikums, ma] Gegenwart“ (ebd.) gegangen ist,56 nämlich erst durch das Auffinden des Meridians, von dem Celan deshalb auch sagt: „Mit Ihnen und Georg Büchner und dem Lande Hessen habe ich ihn soeben wieder zu berühren geglaubt.“ (M, 12) Diese Worte sind weniger als captatio benevolentiae denn als Aufforderung an Celans Gegenüber zu lesen, auf solche „Umwege von dir zu dir“ (M, 11) zu gehen, um so in „deine allereigenste Enge“ (ebd.) zu gelangen. Die Nachdrücklichkeit, mit der Celan in der gesamten Rede auf der zweiten Person Singular beharrt, zeigt, dass die versprochene Begegnung der MenDerrida, Schibboleth, S. 57. Ebd., S. 43. Ebd., S. 87. Jacques Derrida, Grammatologie, übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler, Frankfurt a.M. 1983, S. 274. 55 Das Datum steht auf dem Titelblatt der Erstausgabe des Meridians (siehe M, 1). 56 Die Wendung „in Ihrer Gegenwart“ ist Celan offenbar so wichtig, dass er sie wenig später verbatim wiederholt (vgl. M, 12).
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schen, die sie in einem „Land“ (M, 12) vereinen könnte, keine Überwindung der vorgeblich modernen Entfremdung der Menschen von ihren Ländern und untereinander impliziert. Die Aufmerksamkeit auf die ‚Umwege von dir zu dir‘, in denen das sich selbst sichere Ich ganz im Gegenteil aufgelöst wird, überführt die Entfremdung vielmehr in eine Befremdung: „freizusetzen“ (M, 7) vermag sich der Mensch hier immer nur „als ein – befremdetes – Ich“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund zeichnet sich die spezifische Bedeutung ab, die Teleopoiesis und Futur II – für Spivak bekanntlich die Figur und die Zeit des Planetarischen schlechthin57 – bei Celan annehmen werden. „Eine Art Heimkehr“ stellen Celans lyrischen „Daseinsentwürfe“ nur insofern dar, als sie sich auf „ein Sichvorausschicken zu sich selbst“ beschränken. (M, 11) Wie das berühmte „Gegenwort“ Luciles, „‚Es lebe der König!‘“ (M, 3), das Celan nicht als reaktionäre Geste missverstanden wissen will, steht Celans gesamte Büchnerdeutung im Zeichen einer Zukunft, die nicht mehr in Schmitts Sinn der Nahme ‚genommen‘ werden kann. Weil die aufgeworfene Frage nach dem „Woher und Wohin“ (M, 10) der Dinge somit „ins Offene und Leere und Freie“ (ebd.) weist, erlegt sich Celan die Vorsicht auf, „das ‚Commode‘“ (M, 12), das am Ende von Leonce und Lena gebraucht wird, nicht „als ein ‚Kommendes‘ zu lesen“ (ebd.). Denn das hieße der Zukunft ein Ziel unterzuschieben, das dem Deutenden angenehm (‚commod‘) wäre. Gegen ein solches Verharren im Eigenen setzt das Gedicht, dessen Sprache dadurch erst Gestalt annimmt, auf das dem Anderen „Eigenste, dessen Zeit“ (M, 10). Die raumzeitliche Konfiguration des Gedichts, sein „Hier und Jetzt“ (M, 9), wird so durch die paradoxe Suche nach den Orten bestimmt, an denen sich die Zeit der und des Anderen abzeichnet, von denen es aber weiß, dass es sie nicht gibt: „Keiner dieser Orte ist zu finden, es gibt sie nicht, aber ich weiß, wo es sie, zumal jetzt, geben müßte.“ (M, 12) Dieses Jetzt bezeichnet für Celan zugleich auch den Zeitpunkt, zu dem er die Büchnerpreisrede hält, womit also die Rede nicht nur davon spricht, dass Dichtung eine Kartographie von Orten ist, die es nicht gibt, sondern eigens vorführt, wie diese kartographische Geste über sich hinausweist. Gegen Ende der Rede heißt es deshalb: „Von hier aus, also vom ‚Commoden‘ her, aber auch im Lichte der Utopie, unternehme ich – jetzt – Toposforschung.“ (M, 12) Was folgt, ist eine performative Geste, die den Meridian tatsächlich auf dem Planeten zieht und damit die Tropen in einem gleich doppelten Sinn durchkreuzt: die Tropen im Sinne der sprachlichen Wendungen werden hier dadurch getilgt, dass die Tropen im Sinne der Wendekreise (des Krebses, etc.) im rechten Winkel durchzogen werden. Indem in ihm die planetarische Linienziehung bis an eine Grenze der Reliteralisierung der Sprache vordringt, führt Der Meridian vor, wie die Toposforschung im Lichte der Utopie an eine Grenze gelangen kann, an der sie sich selbst überwindet. Weil der kartographierte Raum so auch – nach einen Ausdruck Schmitts – für einen „Einbruch“58 der Zeit und der Gestalt des Anderen 57 Siehe Spivak, Death of a Discipline, S. 29 u. 49. 58 Siehe Carl Schmitt, Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Stuttgart 2008, wo Schmitt den Einbruch der Zeit als die Zerstörung einer ästhetischen Illusion vorstellt.
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geöffnet wird, erweist sich der Meridian als Maß und Grenze von Celans kartographischer Dichtung. Wie die paradigmatisch planetarische Linie diesen doppelten Charakter von Maß und Grenze in sich vereinen kann, veranschaulicht das Abschlussgedicht der Niemandsrose IN DER LUFT, in dem der Meridian nicht nur pluralisiert wird und zu kreisen beginnt, sondern sich auch erst über die ihm gegenüberliegende Datumsgrenze zu einem vollen Kreis schließen lässt.
2. Die Einbruchstelle der Gestalt des Anderen: IN DER LUFT 2.1 Die ‚Ergänzung‘ des Meridians und die Schließung des Gedicht(band)s Eine Crux der Niemandsrose-Forschung ist, wie man die häufig konstatierte, aber bis heute nicht zureichend interpretierte Zyklik des Textes59 mit der Öffnung für das Andere und die Anderen in Einklang bringen soll, die Beda Allemann in seiner Rezension des Gedichtbands zu einer „Öffnung ins Kosmische“60 überhöht hat. Die wiederkehrenden Motive, deren Wiederholung dem Band seine Struktur und Kohärenz geben, scheinen vielmehr einen lyrischen Binnenraum einzurichten, in dem die Echos selbstgenügsam – wenn auch noch nicht so hermetisch wie in Celans spätester Lyrik – in einem textlichen „Großbinnenreim“61 resonieren. Die Frage, wie ein solch artifizielles textliches Spiel nicht in der Selbstbezüglichkeit seiner Referenzen (selbst wenn diese auf andere Texte verweisen) erschöpfen soll, drängt sich hier förmlich auf, so dass man vielleicht versucht sein könnte, statt von einer Öffnung ins Kosmische von einem Einschluss des Kosmischen in den Binnenraum des Textes zu sprechen. Wenn jedoch die „U-topie des herrschaftsfreien Textes“62, die Bernd Witte als Folge der zyklischen Anlage des Gedichtbands behauptet, nicht dazu führen soll, dass der Text oder der vom „Dichterheros“63 befreite Leser zum Herrscher werden, darf sich der Kreis, den der Gedichtband zeichnet, tatsächlich nicht schließen, sondern muss sich im Gegenteil öffnen. Diese zentrale Paradoxie eines Kreises, der sich in der Schließung öffnet, bedarf der Klärung, wenn Wittes Thesen und Resultate für eine weitergehende Forschung fruchtbar gemacht werden sollen.64 59 Auf dieses Desiderat hat erneut Axel Gellhaus hingewiesen. Er will den zyklischen Charakter vor allem im Rückgriff auf die komplexen Textprozesse aufklären, aus denen der Band hervorgegangen ist. Siehe Axel Gellhaus, „Wortlandschaften. Konzeption und Textprozesse bei Celan“, in: ders. u. Karin Herrmann (Hgg.), Qualitativer Wechsel. Textgenese bei Paul Celan, Würzburg 2010, S. 11-68. 60 Beda Allemann, „Paul Celan / Die Niemandsrose“ in: Neue Rundschau 1964, S. 146-151, hier S. 147. 61 Celan, Die Niemandsrose, S. 141. Mit diesem Ausdruck bezeichnet Celan das Gedicht als „der Reiche / weitestes“. 62 Bernd Witte, „Der zyklische Charakter der Niemandsrose von Paul Celan“, in: Amy D. Colin (Hg.), Argumentum e Silentio. International Paul Celan Symposium, Berlin u. New York 1987, S. 72-86, hier S. 84. 63 Witte, „Der zyklische Charakter der Niemandsrose von Paul Celan“, S. 86. 64 Da Sengs systematische Untersuchung der zyklischen Struktur Celan’scher Dichtung Die Niemandsrose nicht berücksichtigt, ist Christine Ivanovićs Feststellung von 1998, dass der zyklische Charakter der Niemandsrose nicht zureichend geklärt sei, nach wie vor gültig. Siehe Joachim Seng, Auf den Kreis-Wegen der Dichtung. Zyklische Komposition bei Paul Celan am Beispiel der Gedichtbände bis „Sprachgitter“, Heidelberg 1998, sowie Christine Ivanović, Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung. Dichtung und Poetik Celans im Kontext seiner russischen Lektüre, Tübingen 1996, S. 78-79.
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Ein weiterer Schritt zur Auflösung zumindest der Paradoxie von Schließung und Öffnung bietet die planetarische Dimension des Meridians an, wie sie sich am Ende der Büchnerpreisrede andeutet. Die spezifische Form dieses (Halb-)Kreises – streng genommen verläuft der Meridian nur von einem Pol zum anderen – wird im allerletzten Gedicht des Bands zum Strukturprinzip eines Schreibens, das Selbstschließung und Öffnung für das Andere und den Anderen zusammenzubringen versucht. Weil sich der Kreis der zyklischen Dichtung somit erst über einen Meridian schließt, der auf dem Planeten verläuft, liegt der Schluss nahe, dass der Weg zu einem herrschaftsfreien Text hier nur über den Umweg eines herrschaftsfreien Planeten zu beschreiten wäre. Diese Möglichkeit, dass sich Dichtung auf den Planeten hin öffnen könnte, hat sich für Celan, der Die Niemandsrose später einmal als bloßes „Intermezzo“65 bezeichnet, wahrscheinlich nur vorübergehend angedeutet. Trotzdem stellt der Gedichtband eine – und vielleicht sogar die einzige – strikte Umsetzung der Poetik der Büchnerpreisrede dar. Die ‚Öffnung ins Kosmische‘, die Allemann konstatiert, zeichnet sich im vierten, dem letzten Teil des Gedichtbands ab, in dem Sterne und Sternbilder immer mehr in den Fokus rücken.66 Dass gerade die Sterne – und nicht etwa die Sonne67 – zum Motiv des Kosmischen werden, kann als Vorbereitung für das letzte Gedicht gelesen werden, in dem das Modell der Sonnenzeit vom Paradigma der Sternzeit abgelöst wird. Mit der zunehmend wichtiger werdenden Präsenz nächtlicher Konstellationen tritt die titelgebende Rose, die in einem Gedicht des ersten Teils noch als „Niemandsrose“68 firmiert, mehr und mehr in den Hintergrund. Zuletzt wird aus der Blume ein sich selbst auflösender Kompass, der von der Orientierung an Himmelsrichtungen befreit: frei, entdeckerisch, blühte die Windrose ab, blätterte ab, ein Weltmeer blühte zuhauf und zutag69
Es ist das letzte Mal, dass das Wort Rose im Band vorkommt. Was auf das Verdorren des Kompasses folgt, ist aber nicht Orientierungslosigkeit, sondern die singuläre Blüte eines Elements, in dem eine botanische Rose eingehen würde. So nimmt der Text schon bevor er endet von seinem Titel Abschied – aber nicht, um diesen einfach abzutun, sondern um das dichterische Bild genau an der Grenze hinter sich zu lassen, an die es führen sollte. Wenn der letzte Binnenzyklus also, wie Witte betont, eine Rekapitulation aller „Motive in einer ‚Engführung‘“70 darstellt, dann 65 So zitiert in Seng, Auf den Kreis-Wegen der Dichtung, S. 290. 66 Siehe hierzu Klaus Bruckinger, „‚bis auf den Sänger und den Sternenraum‘. Überlegungen zum zyklischen Zusammenhang der ‚Niemandsrose‘“, in: Celan Jahrbuch 9 (2003-2005), S. 143-162. 67 Für die Kritik an der Sonne vgl. Menninghaus, Paul Celan, S. 119. 68 Celan, Die Niemandsrose, S. 35. 69 Ebd., S. 125. 70 Witte, „Der zyklische Charakter der Niemandsrose von Paul Celan“, S. 80.
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versetzt diese Engführung zugleich alle Motive in ein neues Element, in dem sie sich von Grund auf wandeln – ähnlich, wie der Meridian der Büchnerpreisrede die Tropen an die Grenzen einer Reliteralisierung führt, die das Gedicht notwendig überschreitet. Es bleibt aber nicht bei dieser anarchischen „Seenahme“71 am Rande der Lyrik, die durch die abblätternde (Wind-)Rose ermöglicht wird. Der Band schließt mit dem, was man als eine „Luft- und Weltall-Nahme“72 durch ein hybrides Kollektiv von „Furtenwesen“ bezeichnen könnte.73 Schon im Incipit des letzten Gedichts wird dieser Bezug zur Luft erkennbar, die Dimension des Weltalls wird spätestens in seinem letzten Vers überdeutlich: IN DER LUFT, da bleibt deine Wurzel, da, in der Luft. Wo sich das Irdische ballt, erdig, Atem und Lehm. Groß geht der Verbannte dort oben, der Verbrannte: ein Pommer, zuhause im Maikäferlied, das mütterlich blieb, sommerlich, hellblütig am Rand aller schroffen, winterhart-kalten Silben. Mit ihm wandern die Meridiane: angesogen von seinem sonnengesteuerten Schmerz, der die Länder verbrüdert nach dem Mittagsspruch einer liebenden Ferne. Allerorten ist Hier und ist Heute, ist, von Verzweiflungen her, der Glanz, in den die Entzweiten treten mit ihren geblendeten Mündern: der Kuß, nächtlich, brennt einer Sprache den Sinn ein, zu dem sie erwachen, sie –:
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71 Carl Schmitt, „Nehmen / Teilen / Weiden. Ein Versuch, die Grundfragen jeder Sozial- und Wirtschaftsordnung vom Nomos her richtig zu stellen (1953)“ in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, S. 489-504, hier S. 503. 72 Ebd. 73 Celan, Die Niemandsrose, S. 147.
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heimgekehrt in den unheimlichen Bannstrahl, der die Verstreuten versammelt, die durch die Sternwüste Seele Geführten, die Zeltmacher droben im Raum ihrer Blicke und Schiffe, die winzigen Garben Hoffnung, darin es von Erzengelsfittichen rauscht, von Verhängnis, die Brüder, die Schwestern, die zu leicht, die zu schwer, die zu leicht Befundenen mit der Weltenwaage im blutschändrischen, im fruchtbaren Schoß, die lebenslang Fremden, spermatisch bekränzt von Gestirnen, schwer in den Untiefen lagernd, die Leiber zu Schwellen getürmt, zu Dämmen, – die Furtenwesen, darüber der Klumpfuß der Götter herübergestolpert kommt – um wessen Sternzeit zu spät?74
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Obwohl IN DER LUFT den Meridian der Büchnerpreisrede aufnimmt und in sich einzeichnet, wird das Gedicht in der Forschung weitgehend vernachlässigt.75 Man beschäftigt sich stattdessen mit den scheinbar (vor allem poetologisch) ergiebigeren sogenannten Langgedichten, die vorangehen; mit dem vorletzten Gedicht der Sammlung UND MIT DEM BUCH AUS TARUSSA etwa, das sogar zum Schlüsseltext der Niemandsrose ausgerufen wurde.76 Dabei zieht IN DER LUFT die letzte Konsequenz aus den vorangehenden Langgedichten und weist dabei in eine ganz neue Dimension. Das Gedicht spricht von einer paradoxen Heimkehr derer, die lebenslang fremd bleiben werden. Die Deterritorialisierung, die in dem im Plural wiederkehrenden Meridian anschaulich wird, weitet sich dabei auf den Planeten als Ganzen aus. Die politische Dimension dieser Ausweitung wird deutlich, wenn das Gedicht von einer Verbrüderung der Länder spricht. Wie Marx, auf dessen Aufruf an die ,Proletarier aller Länder‘, sich über die Staatsgrenzen hinweg zu vereinigen, hier wohl angespielt wird, greift Celan damit auf eine vorstaatliche Form des Gemeinwesens zurück. Die Paarformel Land und Leute (liute unde lant) ist seit dem 12. Jahrhundert verbürgt; aufgrund des für die germanische Rechtssprache typischen Stabreims 74 Ebd., S. 145-147. 75 Eine der wenigen Ausnahmen bildet nach wie vor Amy D. Colin, Paul Celan. Holograms of Darkness, Bloomington 1991. 76 So Jürgen Lehmann, „‚Dichten heißt immer unterwegs sein‘. Literarische Grenzüberschreitungen am Beispiel Paul Celans“, in: Arcadia 28.2 (1993), S. 113-130.
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geht man allerdings von einer weit älteren Herkunft aus. Zunächst bezeichnet der Ausdruck die „im Lande verkörperte[ ] Gemeinschaft“77, ohne Bezug auf den Raum dieses Landes zu nehmen, so wie man heute noch davon spricht, ‚Land und Leute‘ kennenzulernen. Erst mit der Entstehung der „Landeshoheit“78 moderner souveräner Staatlichkeit, die weitgehend mit dem Westfälischen Frieden abgeschlossen ist, wird ‚Land‘ gleichbedeutend mit ‚Territorium‘. Dass sich Celan mit Formen des politisch-rechtlichen Zusammenlebens an der Schwelle von Mittelalter und Neuzeit auseinandergesetzt hat, belegt etwa auch die Erwähnung der Feme des 14. und 15. Jahrhunderts wenige Gedichte zuvor.79 Als eine vor allem im niederdeutschen Raum herrschende Form des Landfriedens verliert die Feme erst durch die territoriale Ordnung der Gerichtsbarkeit an Bedeutung.80 Pommern, das einzige Land, auf das im abschließenden Gedicht angespielt wird, steht im Brennpunkt dieser Entwicklungen. Das Land, dessen Name vom Slawischen po more stammt und so viel bedeutet wie ‚Land am Meer‘81, war von Einwanderern aus dem niederdeutschen Raum besetzt worden und stand folglich zunächst unter Femegerichtsbarkeit. Mit dem Westfälischen Frieden und der sich durchsetzenden territorialstaatlichen Souveränität verliert Pommern seine Unabhängigkeit82: Bis zum Wiener Kongress ist das Land zwischen Schweden und Brandenburg-Preußen geteilt, um danach ganz an Preußen zu fallen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird es erneut zwischen der DDR und Polen geteilt. Indem IN DER LUFT nun gerade einen Pommer als Garanten einer Verbrüderung der Länder auftreten lässt, verweist die hier anvisierte Utopie auf die „Toposforschung [...] im Lichte der U-topie“ (M, 10), in der sich Der Meridian übte. Wenn Celan dort den Meridian fand, als er Orte, die es nicht gibt, auf einer „Kinder-Landkarte“ (M, 12) suchte, bindet er hier die Verbrüderung der Länder an ein Land, das es nicht (mehr) gibt. Diese Strategie, mit der die Kartographie des Gedichts auf eine Grenze der Undarstellbarkeit verweist, zeichnet den Nicht-Ort (die ‚U-topie‘), für den der Me77 Ruth Schmidt-Wiegand, „Land und Leute“, in: Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann (Hgg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 4 Bde., Berlin 1978, Bd. 2, Sp. 1361-1363, hier Sp. 1362. 78 W. Sellert, „Landeshoheit“, in: Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann (Hgg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 4 Bde., Berlin 1978, Bd. 2, Sp. 1388-1394, hier Sp. 1389. 79 Er spricht dort von „Feme-Poeten“. Celan, Die Niemandsrose, S. 117. 80 Siehe R. Gimbel, „Feme (Veme)“, in: Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann (Hgg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 4. Bde., Berlin 1978, Bd. 1, Sp. 1099, sowie ders., „Femgerichte“, in: Adalbert Erler u. Ekkehard Kaufmann (Hgg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 4. Bde., Berlin 1978, Bd. 1, Sp. 1100-1103. 81 Daher der Titel einer Festschrift Land am Meer. Pommern im Spiegel seiner Geschichte. Roderich Schmidt zum 70. Geburtstag, hg. v. Werner Buchholz u. Günter Mangelsdorf, Köln, Weimar u. Wien 1995. Wie überhaupt im ostdeutschen Raum, so waren auch in Pommern die Landstände, die feudalen Vertreter des Landes, besonders einflussreich. Siehe hierzu den Beitrag von Werner Buchholz, „Die pommerschen Landstände unter brandenburgischer und schwedischer Landesherrschaft 1648-1815. Ein landesgeschichtlicher Vergleich“, in: ders. u. Günter Mangelsdorf (Hgg.), Land am Meer. Pommern im Spiegel seiner Geschichte. Roderich Schmidt zum 70. Geburtstag, Köln, Weimar u. Wien 1995, S. 427-455. 82 Auf die Bezüge Pommerns zum Dreißigjährigen Krieg sowie zum Maikäferlied wird bereits aufmerksam gemacht von Colin, Holograms of Darkness, S. 136.
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ridian steht, in die politische Utopie von IN DER LUFT ein. Der Anspruch des Gedichts, alle Grenzen auf dem Planeten sprengen zu wollen, soll offenbar keine einfache Vereinheitlichung des Planeten zur Folge haben. Dafür steht der nicht nur verbrannte, sondern auch verbannte Pommer, der – im Gegensatz zu den gleichermaßen abenteuerlichen und heroischen Sternbildern des frühen Jünger83 – als Anti-Held an das Firmament versetzt wird. Die U-topie der Utopie nimmt im Gedicht auch eine zeitliche Dimension an. Auf einem Planeten, der sich um die eigene Achse dreht, ist die utopische Ausweitung der Gegenwart, von der das Gedicht spricht („Aller- / orten ist Hier und ist Heute“, V. 20-21), unmöglich. Das Gedicht zeigt aber, dass es um diese Unmöglichkeit weiß, seine „Gegenwart“ (M, 9) schreibt diese Unmöglichkeit sogar eigens in sich ein, wenn es die Rotation des Planeten um sich selbst darstellt. Auf der sich um die eigene Achse drehenden Erde ist nämlich immer irgendwo Tag, während zeitgleich woanders Nacht ist, und immer irgendwo schon morgen, während es zugleich anderswo für diejenigen, die dort sind, noch heute ist. Um also, wie es das Gedicht will, die Zeit des gesamten Planeten gegenwärtig zu haben, müssen gleich zwei Tage präsent gemacht werden, die sich dann zu einander verhalten wie Gestern und Morgen. Ein Fragment aus dem Umkreis der Niemandsrose, das die Herausgeber der Tübinger Ausgabe mit IN DER LUFT in Verbindung bringen, bezeugt, dass Celan sich dieser Problematik bewusst ist: Meridiane, halbe kreise – du mußt
sie ergänzen84
Der Nullmeridian von Greenwich beschreibt, darin ist das Fragment genauer als die Meridian-Rede, nur einen Halbkreis, der sich erst durch die ihm gegenüberliegende Datumsgrenze zu einem vollen Kreis schließt. Die Notwendigkeit, eine solche Datumsgrenze zu ziehen, zeigte sich bereits, als Magellan von der ersten Umrundung der Erde zurückkehrte. Denn als seine Schiffe wieder in Europa einliefen, waren die Logbücher gegenüber den dortigen Kalendern um einen Tag im Rückstand. So zeigte sich, dass man bei Reisen rund um die Welt eine Grenze festlegen müsse, an der das Datum – je nachdem, ob man den Planeten wie Magellan in westlicher Richtung oder aber wie Felias Fogg in östlicher Richtung umkreist – um einen Tag vor- oder zurückgestellt wird. Diese Linie wurde durch den Pazifik gezogen und, als der Nullmeridian von Greenwich bestimmt wurde, auf den 180. Längengrad festgelegt. Seither kehrt der Meridian, geodätisch gesehen, über die Datumsgrenze zu sich selbst zurück. Auch IN DER LUFT, das mit seinen 48 Versen genau die Stundenzahl zweier Tage umfasst, verzeichnet die durch die Tagesdrehung der Erdkugel bedingte Unmöglichkeit einer Ausweitung des Heute auf den ganzen Planeten. Nicht zuletzt deshalb liegt genau in der Mitte des Gedichts eine 83 Siehe hierzu Jünger, Werke, Bd. 7, S. 49. 84 Celan, Die Niemandsrose, S. 144.
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Zäsur, auf der den „Mündern“ ein mitternächtlicher „Kuß“ gewährt wird. (V. 2425) Die liebevolle Begegnung der Münder geschieht also auf einem Planeten, der selbst ‚in der Luft‘ schwebt, weil er durch eine Spannung von Vergangenheit und Zukunft bestimmt ist, die sich nicht in eine sich selbst genügende Präsenz zusammenfassen lassen. Das Gedicht stellt abschließend eine Konzeption vor, die dieser zeitlichen Dimension der Utopie zugrunde liegt und die sich nicht wie die Sonnenzeit an der scheinbaren Bewegung der Sonne, sondern an der scheinbaren Bewegung des Fixsternhimmels bemisst. Mit dem „Sterntag“ in der allerletzten Zeile der Niemandsrose wird die Auseinandersetzung mit der Astronomie zu Ende geführt, die den Gedichtband seit Beginn des vierten Binnenzyklus prägt. Bereits der im ersten Gedicht dieses abschließenden Teils erwähnte „Mit-Stern“85 verweist auf eine Verdopplung und Teilung der Sterne, die Die Niemandsrose in der Folge systematisch vollzieht, um damit aus den sonnenartigen Fixsternen, die eine eindeutige Orientierung erlauben, gleichsam planetarische Irrsterne zu machen, die eine solche Orientierung nachgerade unmöglich machen. Klaus Bruckinger konnte nachweisen, dass alle Fixsterne, die in der Niemandsrose erwähnt werden, Doppelsterne sind und nur mit bloßem Auge als Einheit wahrgenommen werden.86 Diese nur augenscheinliche Einheit verweist vielleicht nicht zufällig auf Max Wertheimers Wahrnehmungsexperimente, die für Jüngers Gestaltbegriff so ausschlaggebend waren.87 Jedenfalls tritt die konsequente Verdopplung der Sterne im vorletzten Gedicht UND MIT DEM BUCH AUS TARUSSA in den Brennpunkt der thematischen Aufmerksamkeit. Dort wird eingangs (der Doppelstern) Sirius im „Sternbild des Hundes“88 erwähnt, wobei im unmittelbaren Anschluss präzisiert wird, dass „vom / Hellstern darin und der Zwerg-/ leuchte, die mitwebt“,89 die Rede ist. Die Verdopplung des eindeutigen Fixpunkts, die den „Zusammenhang von konkreter Ortung und Ordnung“90 in einem „punktförmige[n] Hier“91 verunmöglicht, lässt sich sogar bis in die Zeichensetzung der letzten Gedichte hinein verfolgen. So wird die Zäsur in der Mitte von IN DER LUFT mit einem Doppelpunkt veranschaulicht, das im Gegensatz zum Punkt, der einen Satz beschließt, die Syntax über die Satzgrenzen hinaus öffnet. Das lateinische Wort für Doppelpunkt, colon, das zugleich auch das durch den Doppelpunkt geöffnete Satzglied bezeichnet, ist auch der Titel des Gedichts, das dem letzten Teil der Niemandsrose unmittelbar vorangeht und die ersten
85 Celan, Die Niemandsrose, S. 105. 86 Bruckinger, „‚bis auf den Sänger und den Sternenraum‘“, S. 155. 87 Siehe Max Wertheimer, „Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung“, in: Zeitschrift für Psychologie 61 (1912), S. 161-265. 88 Celan, Die Niemandsrose, S. 139. 89 Ebd. 90 Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, Berlin 1991, S. 81. 91 Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, Stuttgart 1947, S. 150.
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drei Teile gleichsam auf die im vierten Teil vollzogene Öffnung in ein Kosmisches bezieht, dessen Zentrum sich zersetzt. Mit der in diesem vierten Teil vollzogenen Verdopplung der Fixsterne wird zugleich die Sonne als oberster Orientierungspunkt verabschiedet. Spricht IN DER LUFT vom „sonnengesteuerten Schmerz“ (V. 17) des exilierten Pommers, so nimmt es die Kritik früherer Gedichte auf, die (nach der Aposiopese, mit der das von Derrida interpretierte EINEM, DER VOR DER TÜR STAND: „Reiß die Morgentür auf, Ra- –“92 abbricht) in KOLON den Glauben an ein Ende der „Wort- / Vigilie“93 aufgibt und dann in HINAUSGEKRÖNT „soviel / auf Morgenwegen gestorbene[ ] Tode[ ]“94 betrauert. Mit dieser Absage an einen kommenden Morgen, an dem eine (neue) Sonne aufgeht, wird die Wendung zur Sternzeit maßgeblich vorbereitet, mit der das allerletzte Gedicht des Bandes auch noch die (Sonnen-)Götter zu verabschieden vermag. Da ein Sterntag knapp vier Minuten kürzer ist als ein Sonnentag, kann der Band sogar mit der offenbleibenden Frage nach dem genauen Intervall zwischen den beiden Zeitrechnungen schließen und diese Frage an diejenige nach der Identität derer koppeln, die von der „Ferne“ (V. 19) der Sonne zwar heimgesucht werden, aber durch die Verzögerung, mit der die Götter hinterher ‚stolpern‘ (vgl. V. 48), diesen immer um einen Schritt voraus sind. Da der time lag des Sonnentags hinter dem Sterntag überdies auf ein Jahr hochgerechnet genau 24 Stunden ausmacht, verweist er außerdem auf die Datumsgrenze, an der man einen Kalendertag vor- oder zurückschaltet. IN DER LUFT assoziiert die Sonne mit dem Schmerz, deutet diese Verbindung aber anders als Jünger und Heidegger.95 Es konnte gezeigt werden, dass Heideggers spätere Texte in einem Schmerz ausharren wollen, während Jüngers Texte im Gegenteil über den Schmerz hinaus zu führen versuchen. Celan nun sucht eine Distanz zum Schmerz einzunehmen, die diesen aber gerade nicht überwinden kann. Dabei ist es vielleicht kein Zufall, dass auch er zum Bild des Sogs greift, das schon Jünger und Heidegger benutzt haben, um den Schmerz und die Vernichtung zu charakterisieren. In Über die Linie, dem Text, der – analog zum früheren Essay Über den Schmerz – ‚über die Linie hinaus‘ (trans lineam) führen soll, sieht Jünger „das Anliegen unserer Literatur“96 in der Frage, „wie der Mensch angesichts der Vernichtung im nihilistischen Sog bestehen kann“.97 Den Ausdruck Sog nimmt Heidegger in seiner fast gleichnamigen Erwiderung Über „die Linie“ auf, die allerdings nur ‚von der Linie‘ (de linea) handeln will und so versucht, sogar noch im alles vernichtenden Sog eine Weise auszumachen, in der sich das Sein (das Heidegger dann anschließend auch folgerichtig durchstreichen wird) dem Menschen zuwendet: Celan, Die Niemandsrose, S. 65. Ebd., S. 101. Ebd., S. 111. Colin wertet sogar das gesamte Gedicht als „poem with and against Heidegger“. Colin, Holograms of Darkness, S. 139. 96 Jünger, Werke, Bd. 5, S. 261. 97 Ebd.
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Vermutlich ist die Zuwendung selber, aber noch verhüllterweise, Jenes, was wir verlegen genug und unbestimmt „das Sein“ nennen. Allein geschieht solche Zuwendung nicht auch noch und in einer seltsamen Weise unter der Herrschaft des Nihilismus, nämlich in der Weise, daß „das Sein“ sich abwendet und sich in die Absenz entzieht? Abwendung und Entzug sind jedoch nicht nichts. Sie walten fast bedrängnisvoller für den Menschen, so daß sie ihn fortziehen, sein Trachten und Tun ansaugen und es schließlich so in den sich entziehenden Sog aufsaugen, daß der Mensch meinen kann, er begegne nur noch sich selbst.98
Celans Sog ist eine ähnliche in die Latenz tretende, damit aber umso aufdringlichere Macht. In dieser paradoxen Figur einer in der Abwendung sich zuwendenden Präsenz werden bei Celan Sonne und Schmerz ausdrücklich zueinander in Beziehung gesetzt. Die Gegenwart des Schmerzes wird von einer sich zurückziehenden Sonne eingeräumt. Diese Fernsteuerung des Menschen verweist auf weitere Fragmente aus dem Umkreis der Meridian-Rede, in denen Celan die Automaten und Marionetten Büchners schon kybernetisch bestimmt sieht (vgl. M, 124), ebenso wie Merciers Elargissez l’art (M, 63). Eine weitere (offenbar sarkastisch gemeinte) Notiz macht die planetarische Dimension dieser kybernetischen Fernsteuerung ausdrücklich: „[E]s ist der Mensch diesseits und jenseits seiner selbst: der aus dem Schoß der Technik geborene Weltraumschiffer, dem Sprache einen Rückfall in eine Vorexistenz bedeutet“. (M, 124) Wenn IN DER LUFT auf diese kybernetische Inanspruchnahme des Menschen durch einen „sonnengesteuerten Schmerz“ (V. 16) hinweist, dann soll damit auch die verhaltene Möglichkeit eines Vorsprungs, der durch die Ferne eingeräumt wird, angedeutet werden: ein Vorsprung, der allerdings nie zu einem Commoden umgedeutet werden dürfe.
2.2 Kommendes und Commodes, oder: Diesseits des Lustprinzips Hinter Celans Kritik an Sonne und Göttern steht vor allem eine Absage an das „Gesetz des Vaters“99, was sich schon darin zeigt, dass die allumfassende ,Verbrüderung‘ der Länder, die IN DER LUFT in Aussicht stellt, nicht unter Ausschluss der Frauen stattfinden kann. Jacques Derrida ist in seiner Schmitt-Studie Politik der Freundschaft den Zusammenhängen nachgegangen, in denen die traditionellen Begriffe von Politik und Freundschaft mit einer die „Schwester“100 ausschließenden „fraternalistischen und also androzentrischen“101 Logik stehen. Dieser Text spielt in Gayatri Spivaks Skizze einer planetarischen Literaturwissenschaft eine zentrale Rolle, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Derrida darin den Begriff der „Teleopoiesis“102 prägt. Für Derrida, der schon früh auf die onto-theologische Komplizenschaft der 98 Martin Heidegger, Wegmarken, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M.1996, S. 407. 99 Siehe hierzu etwa Jacques Lacan, Écrits, Paris 1966, S. 824. 100 Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, übers. v. Stefan Lorenzer, Frankfurt a.M. 2000, S. 10. 101 Ebd. 102 Siehe Spivak, Death of a Discipline, S. 27-31.
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Idee des Guten – und das bedeutet gerade auch der metaphysisch gedeuteten Sonne – mit dem Vater verweist103, erklärt sich die Logofratrozentrik durch die Mechanismen einer Begierdestruktur, die Freud psychologisch als Ödipus-Komplex begreift und in Totem und Tabu auch als anthropologische Konstante zu verstehen sucht. Der für Derrida so wichtige Freud spielt also auch in Politik der Freundschaft eine zentrale, wenngleich implizit bleibende, Rolle. Derrida will dort nämlich – ebenso wie der Celan der Niemandsrose – mit dem politischen Regime des Bruders brechen, das Freud zufolge seit der Urzeit des Menschen gilt. Totem und Tabu setzt einen Vatermord an den Anfang der menschlichen Gesellschaft, Sittlichkeit, Religion und Kunst: Ein „gewalttätiger, eifersüchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält“,104 werde von seinen „heranwachsenden Söhnen“105 getötet, weil auch sie Geschlechtsverkehr haben wollen, was ihnen der Vater aber verbietet. Da dieses Urverbrechen jedoch unmittelbar von „Reue“106 begleitet werde und zudem zu einem „Kampfe aller gegen alle“107 führe, fänden sich die Brüder zu einer Gemeinschaft zusammen, deren zwei fundamentale Gesetze den Brudermord und den Inzest verbieten. Freud imaginiert die Vereinigung dieser vergleichsweise schwachen Brüder als einen „Vertrag“108 mit dem post mortem übermächtig gewordenen Vater: „Der Tote wurde nun stärker, als der Lebende gewesen war“.109 Somit steht die erste kulturelle Errungenschaft des Menschen im Zeichen einer Schwäche, die auf höheren Kulturstufen pathologisch wiederkehrt. Denn die phylogenetische Entwicklung von Totem und Tabu müsse seither auch in der Ontogenese wiederholt werden. Freud weitet damit den Ödipus-Komplex, der womöglich erst in der bürgerlichen Kleinfamilie entstehen konnte, in einer folgenschweren Weise auf das psychische Leben des Menschen überhaupt aus. Die zuvor geläufige Vorstellung einer anthropologischen Fundierung des Inzestverbots wirkt in Freuds Deutung bis in den Strukturalismus eines Lacan und Lévi-Strauss hinein. IN DER LUFT lässt sich als Bruch mit dem Kultur-Modell von Totem und Tabu lesen. Dadurch, dass die Verbrüderung der Länder zu einer die Geschlechter übergreifenden ‚Verschwisterung‘ wird, entgehen „die Brüder, die Schwestern“ (V. 35) des Schlussgedichts der Pathologie des Ödipus, unter der einzig die zu spät kommenden Götter leiden. Deren „Klumpfuß“ (V. 45) weist, neben der Anspielung auf den Teufel, auf den Namen Ödipus, der Schwell- oder Klumpfuß bedeutet. Anders als Freuds Verbrüderung gegen den Vater zieht die Verschwisterung der Menschen kein Inzestverbot nach sich, so dass sich hier gerade der „blut- / schändrische[ ] Schoß“ als „fruchtbar[ ]“ (V. 38-40) erweist. Da das Wort ‚Blutschande‘ von den Nationalsozialisten auch auf die Fortpflan103 Siehe hier Jacques Derrida, Dissemination, übers. v. Hans-Dieter Gondek, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1995, S. 85. 104 Sigmund Freud, Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, 17 Bde., hg. v. Anna Freud et al., London 1948, Bd. 9, S. 171. 105 Ebd. 106 Ebd., S. 173. 107 Ebd., S. 174. 108 Ebd. 109 Ebd., S. 173.
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zung über angebliche ,Rassengrenzen‘ hinweg übertragen wurde, überwinden „die Brüder, die Schwestern“ (V. 35) neben den Geschlechterdifferenzen auch den Rassismus. Eine weitere Pointe des Gedichts besteht darin, die Geschlechtsorgane und Keimzellen nicht einfach ihren Trägern Mann und Frau zuzuordnen (sondern diese gleichsam zu deterritorialisieren) und somit die traditionell gewordene Identifikation der Frau mit der Materie und des Mannes mit dem logos zu unterlaufen. Dass auf diese Weise nicht nur die Spermien frei flottieren, sondern auch der Schoß zwischen den Geschlechtern zum Liegen kommt, wird durch das Gedicht PSALM vorbereitet. Dort wird die Hybridität der einhäusigen „Niemandsrose“110 betont, die männliche und weibliche Geschlechtsteile in einer Blüte versammelt: Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden wir bleiben, blühend: die Nichts-, die Niemandsrose. Mit dem Griffel seelenhell, dem Staubfaden himmelswüst [...]111
Da der Griffel, der über das lateinische Wort stilus auch auf das Schreibgerät, den Stil und den Stiel verweist, zu den weiblichen Geschlechtsorganen der Rose zählt, unterläuft das Gedicht sogar die naheliegende Assoziation von Stift und Phallus, Dichtung und Männlichkeit. Die von IN DER LUFT versuchte Überwindung des Ödipus-Modells erstreckt sich auch auf den Umgang mit den abwesenden Eltern. In einer berühmten Passage zu Beginn der Studie Jenseits des Lustprinzips, in der Freud einen Todestrieb in die Ökonomie der menschlichen Psyche einführt, geht er auf ein Kinderspiel ein, das er beobachtet haben will. Darin lässt das Kind eine Spule mittels eines Fadens von sich weg und auf sich zu bewegen. Während die Spule wegrollt, stößt es ein lang gezogenes o-o-o-o aus, was so viel bedeuten soll wie ‚fort‘. Wenn sich die Spule wieder nähert, sagt das Kind ,da‘. Mit diesem Fort-Da-Spiel will, so Freuds Vermutung, das Kind die nicht beeinflussbare Abwesenheit der Mutter als ein Ereignis inszenieren, das in seiner eigenen Macht steht. Damit vermöge es, seine passive Ohnmacht in eine aktive und willentliche Leistung umzudeuten. In dieser Bemächtigungsgeste, die Freud zwar auch als Ausdruck einer „großen kulturellen Leistung“112 wertet, will er gleichwohl einen „unterdrückten Racheimpuls[ ]“113 des Kindes ausmachen. Bestätigt sieht er seine Vermutung, wenn er das Kind ein Jahr später dabei beobachtet, wie es ein Spielzeug, über das es sich ärgert, auf den 110 111 112 113
Celan, Die Niemandsrose, S. 35. Ebd. Freud, Gesammelte Werke, Bd. 13, S. 14. Ebd.
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Boden wirft und dabei sagt: „‚geh in K(r)ieg!‘“114 Dieses Verhalten führt Freud darauf zurück, dass sich der Vater zu diesem Zeitpunkt tatsächlich im Krieg befindet und sich das Kind über die Abwesenheit des Rivalen freut, mit dem es um die Gunst der Mutter streitet. Solchen frühkindlichen (All-)Machtspielen setzt IN DER LUFT ein altes Kinderlied entgegen, das den Verlust der Eltern nicht als Leistung umdeutet. Dass die Stelle, an der es heißt, der Pommer sei im Maikäferlied zuhause, im Zusammenhang mit Freud zu lesen ist, belegt ein Gedicht aus den Fadensonnen. Darin heißt es, hinter „Freuds Stirn“115 öffne sich ein „Maikäfertraum“116. Die Rede vom Pommer im Gedicht der früheren Niemandsrose spielt auf eine Variante zu der Fassung des Maikäferlieds an, die in Des Knaben Wunderhorn aufgenommen wurde. Maikäfer flieg Der Vater ist im Krieg Die Mutter ist in Pommerland Und Pommerland ist abgebrannt
Maikäfer flieg
Im Wunderhorn ist bekanntlich abweichend von einem „Pulverland“117 die Rede. Das Lied vom Maikäfer verarbeitet die Abwesenheit, vielleicht den Tod, beider Elternteile, inszeniert sie aber nicht so, als läge es in der Macht des Käfers, die Eltern oder irgendwelche Dinge herbei- oder (wie Freuds Kleinkind) in den Krieg zu wünschen. Ihm bleibt, wie die Wiederholung des anfänglichen Imperativs „flieg“ am Ende andeutet, nur ein zielloser Flug im Kreis des Liedes übrig. Ebenso ergeht es dem Pommer und dem Planeten, die sich beide im Kreislauf von Verlust und Abwesenheit – und damit, um erneut das Incipit aufzugreifen, ‚in der Luft‘ – drehen. Damit die wandernden Meridiane zu sich selbst zurückkehren können, müssen sie in Datumsgrenzen übergehen, das Maß also unmittelbar an die Grenze binden und, weil ‚Meridian‘ vom lateinischen Wort meridies (‚Mittag‘) stammt, den Mittag in der Mitternacht suchen. So entzieht sich der mitternächtliche Kuss über den mittleren Zeilenbruch hinweg ebenso sehr, wie er sich ankündigt. Die Unwahrscheinlichkeit der vom Kuss abhängenden Utopie wird durch die Paradoxie und Katachresis der Münder unterstrichen, die zueinanderfinden müssen, obwohl sie durch eine nächtliche Dunkelheit geblendet sind. 114 Ebd. 115 Paul Celan, Fadensonnen. Vorstufen – Textgenese – Endfassung (Tübinger Ausgabe, hg. v. Jürgen Wertheimer), bearb. v. Heino Schmull, Markus Heilmann u. Christiane Wittkopp, Frankfurt a.M. 2000, S. 7. Hier fällt auch das bekannte Wort vom Kehlkopfverschlusslaut, der „singt“. Eine Interpretation dieses Gedichts, die von einer weit positiveren Beziehung Celans zu Freud und der Psychoanalyse ausgeht, liegt vor in Rainer Nägele, „Paul Celan. Konfigurationen Freuds“, in: Amy D. Colin (Hg.), Argumentum e Silentio. International Paul Celan Symposium, Berlin u. New York 1987, S. 237-265. 116 Celan, Fadensonnen, S. 7. 117 Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Jürgen Behrens, Wolfgang Frühwald u. Detlev Lüders, Stuttgart et al. 1977, Bd. 6, S. 221.
KOMMENDES UND COMMODES, ODER: DIESSEITS DES LUSTPRINZIPS
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So unwahrscheinlich diese planetarische Begegnung bleibt: das Prinzip einer Trennung, die paradoxerweise einer hybriden Wiedervereinigung gleichkommt, ist dem Gedicht bis ins Schriftbild hinein eingeschrieben. Der Doppelpunkt, der die Mitte des Gedichts markiert, trennt zwei fast gleichlautende Silben („-dern“ und „der“) und deutet damit so etwas wie einen latenten Reim im Innern des reimlosen Gedichts an. Diese Beobachtung wird durch den Verweis auf den „Rand“ (V. 9) der „Silben“ (V. 12) erhärtet, die im Zusammenhang mit dem Kinderlied gemacht wird. Wenn die Rede von einer „Weltenwaage“ (V. 37), die die Brüder und Schwestern im Schoß tragen, dann auch noch auf ihren poetologischen Gehalt hin gelesen wird, zeigt sich, dass das Gedicht nicht nur von dieser Waage spricht, sondern selbst die Form einer ‚Silbenwaage‘ darstellt. So wird die Auf-und-Ab-Bewegung der zur Balance findenden Waagschalen anapästisch nachgeahmt: „[die] zu leicht, die zu schwer, die zu leicht“ (V. 36). Überdies nimmt dieser Vers 36, der in der Mitte der zweiten Hälfte des Gedichts steht, wie auf einer Waagschale den „Silben“ (V. 12) gegenüber die Stellung ein, die die entsprechende Position im mittleren Vers der ersten Hälfte des Gedichts markiert. Es ist daher auch ganz gleichgültig, ob der zwölfte und der 36. Vers den Mittag oder die Mitternacht der beiden Tage anzeigen, die das Gedicht darstellt. Die Verse bezeichnen nämlich denselben Meridian, der von einem Tag zum nächsten gewandert ist und damit die Datumsgrenze in sich aufgenommen hat. IN DER LUFT inszeniert sich somit als eine im mittleren Doppelpunkt festgemachte Balkenwaage, die den in zwei Tage gedoppelten Planeten – oder in den Eingangsworten eines früheren Gedichts: LES GLOBES118 – wiegt. Zugleich mit dem Planeten werden auch die Menschen, die auf diesem Planeten leben, gewogen. Allerdings stehen dabei die „Brüder“ nicht den „Schwestern“ (V. 34) gegenüber wie eine Waagschale der anderen. Vielmehr sind die „Entzweiten [...] mit ihren geblendeten Mündern“ (V. 23-24) ebenfalls bis auf die Ebene der Silben hinab gespalten, und das gilt für Die Niemandsrose überhaupt. Das Kinderlied vom Maikäfer verweist zurück auf ein Gedicht des zweiten Teils der Sammlung, das eine solche Entzweiung und deren Überwindung schon an das Singen eines Kinderlieds bindet: Wir werden das Kinderlied singen, das, hörst du, das,
mit dem Men, mit dem Schen, mit dem Menschen [...].119
Die Pluralität der Menschen, so wird hier nahe gelegt, sperrt sich gegen eine einfache Bestimmung dessen, was die Menschen und den Menschen ausmacht. Neben dem Gestern des Morgen und dem Morgen des Gestern stehen sich auf der Waage von IN DER LUFT so „Men“ und „Schen“ (und nicht Mann und Frau) irreduzibel gegenüber. Dass die Entzweiten deshalb auch nie ganz mit sich übereinstimmen 118 Celan, Die Niemandsrose, S. 115. 119 Ebd., S. 55.
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2. DIE EINBRUCHSTELLE DER GESTALT DES ANDEREN: IN DER LUFT
können, wird in der langen Beschreibung ihrer ‚Heimkehr‘ (siehe V. 26-43) deutlich, die sich zu einer Häufung überdeterminierter und in sich widersprüchlicher Attribute auswächst. Stärker noch als zuvor in der katachrestischen Paradoxie des Kusses dringt das Gedicht hier bis an die Grenze vor, wo seine sprachlichen Wendungen in der Tat, wie im Meridian gefordert, „ad absurdum geführt werden“ (M, 10). Die sprachliche Wucherung soll auf eine nicht eindeutig zu bestimmende Singularität verweisen, indem sie die „Zeit“ (M, 10) dieser Singularität als deren „Eigenstes“ (ebd.) mitsprechen lässt. In der polymorph perversen Gestalt der MenSchen, die sich an dieser Grenze abzeichnet, wird die dialogische Ausrichtung des Gedichts auf ein Gegenüber zugleich in einer radikalen Weise auf eine Gestalt des Anderen hin geöffnet. Damit verschärft IN DER LUFT noch einmal die Tendenz, die Christine Ivanović im vorletzten Gedicht der Niemandsrose ausgemacht hat. Von der bisherigen Dialogik des Gedichtbands Abschied nehmend, endet schon dieses Gedicht mit einer „Zerstreuung“, die „damit nur zu eindringlich das Schlußthema der Niemandsrose, Wanderschaft und Exil“ realisiert.120 Das allerletzte Gedicht des Zyklus zeigt schließlich, dass sich die Verstreuten immer nur in der Dimension einer grundlegenden und grundstürzenden planetarischen Irre versammeln können. Dafür legt es dem Wort Bannstrahl eine dem geläufigen Sprachgebrauch genau entgegensetzte Bedeutung bei: Eigentlich trifft ein Bannstrahl denjenigen, der aus einer (religiösen oder rechtlichen) Gemeinschaft ausgeschlossen werden soll. Das Wort Bann, auf das Bannstrahl zurückgeht, ist aber doppeldeutig, weil es neben dem Ausschluss aus der Gemeinschaft auch einen rechtlichen Geltungsbereich benennen kann und sogar die unwiderstehliche Kraft, die jemand auf einen anderen ausübt. So steht jemand ,im Bann‘ eines anderen.121 In diesem Sinn kann der Bann-Strahl, wie es in IN DER LUFT geschieht, entgegen seiner herkömmlichen Bedeutung geradezu als versammelnder Strahl gedeutet werden. Dafür trennt Celan das Kompositum Bannstrahl wie zuvor das Wort Menschen an der Silbengrenze, um die Bestandteile in verwandelter Bedeutung wieder zusammenzusetzen. Und trotzdem: Obwohl die „Verstreuten“ (V. 29) von diesem Bannstrahl „versammelt“ (ebd.) werden, wird ihre Diaspora dadurch nicht aufgehoben, vielmehr werden die „Zeltmacher“ (V. 31) auch weiterhin ein nomadisches Dasein führen. Die Zäsur in IN DER LUFT wird so zur Möglichkeit, einen nicht heliotropisch verstandenen Meridian und eine Waage, die in einem sich zersetzenden Punkt befestigt ist, zusammenzubringen. Da die „Entzweiten“ (V. 22) als diejenige, die gewogen werden, auch diejenigen sind, die wiegen, personifizieren sie die Suche nach einem Maß, das sie sich selbst geben müssen. Nur über dieses Wiegen, das in sich zugleich auch den Planeten wiegt, ist den Men-Schen eine niemals ganz gelingende Rückkehr zu sich gegeben. Dabei verwehrt ihnen gerade der Meridian, der die 120 Ivanović, Das Gedicht im Geheimnis der Begegnung, S. 105. 121 Diese Doppeldeutigkeit des Wortes liegt Agambens Überlegungen zum abbandono zugrunde. Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt a.M. 2002, S. 28 u. 199.
HERMETIK UND DEZENTRIERUNG
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Datumsgrenze und die Grenze bezeichnet, an der sich die Zeit und die Gestalt des befremdeten Ich und die Zeit und die Gestalt des ganz Anderen begegnen können, dass sie je zu sich, zu einander und zu ihrem Planeten in eine nicht mehr entfremdete Beziehung treten können. Um auf diese Weise die gedankenlos reproduzierende (und somit gleichsam ferngesteuerte) Entfremdung in eine Aufmerksamkeit verbürgende Befremdung zu überführen, wendet sich Die Niemandsrose abschließend von der privilegierten Intimität des dialogischen Prinzips ab und dissoziiert sich in ein Netzwerk von pluralen Verweisungen. Dabei dankt auch das lyrische Ich, das in den früheren Gedichten des Bands eine so zentrale Rolle gespielt hat, zugunsten einer anonym bleibenden lyrischen Stimme ab, von der IN DER LUFT nur noch den unmöglichen Standpunkt eines „Hier und [ ] Heute“ (V. 20) artikuliert. Da dieser Standpunkt durch die Datumsgrenze gespalten wird, löst sich selbst noch das „Hier und Jetzt des Gedichts“ (M, 9) auf, an dem die Büchnerpreisrede so nachdrücklich festhielt. Mit dem an den Himmel versetzten Pommer kann die entortete lyrische Stimme von IN DER LUFT zwar einen „Stern[ ]“ schaffen, „der Menschenwerk“ ist,122 aber diese Apotheose vermag keinerlei Totalisierung zu schaffen, der Blick hinauf zum Orientierungspunkt der Sternzeit verweist immer auf Zäsur und Verbannung.
2.3 Hermetik und Dezentrierung: Die Garben Hoffnung und die Folgen der Niemandsrose Spätesten hier wird überdeutlich, dass die „gestaltgewordene Sprache“ (M, 9) von IN DER LUFT eine radikale Gegenposition zu Jüngers Modell planetarischer Umschriften bezieht. Die shifters der ersten Person Singular und Plural sowie der zweiten Person Singular werden hier – im Gegensatz zu Jünger, dessen spätes Mantra „Das bis Du“123 noch im Dienste eines planetarischen Wir steht – geflissentlich vermieden. Anstatt dergestalt zu einer, wiewohl stark gebrochenen, Identifikation einzuladen, setzt der Abschluss der Niemandsrose auf Differenz und Dissoziation, in denen sich die „Eindeutigkeit“124 der Jünger’schen Gestalt des Arbeiters in einer sowohl sprachlich als auch praktisch nicht beherrschbaren Polymorphie verliert. Vor diesem Hintergrund lassen sich vielleicht Schlüsse bezüglich der zunehmenden Hermetik von Celans Lyrik ziehen. Zumindest scheint sich im Bannstrahl ein Prinzip anzudeuten, das sich gegen jegliche Bestrebung nach interpretatorischer Eindeutigkeit sperrt. Die scheinbare Schließung des Textes ist dann – und das entspricht genau den Vorgaben der Büchnerpreisrede – die Voraussetzung einer „Öffnung ins Kosmische“125, vor allem aber für eine Öffnung des Kosmischen für die 122 Celan, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 186. 123 Jünger, Werke, Bd. 8, S. 390. 124 „Eindeutigkeit“ der „typischen Bildungen“ ist in Jüngers Arbeiter das Kriterium der Gestalt des Arbeiters. Jünger, Werke, Bd. 6, S. 254-255. 125 Allemann, „Paul Celan / Die Niemandsrose“, S. 147.
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2. DIE EINBRUCHSTELLE DER GESTALT DES ANDEREN: IN DER LUFT
planetarische Irrfahrt. Einen herrschaftsfreien Planeten könnte der herrschaftsfreie Text nur durch eine Geste ermöglichen, in der sich die Dichtung nicht selbst ermächtigt, sondern sich am Rand ihrer selbst bescheidet. Was bleibt, nachdem die Dichtung sich bis an diese Datumsgrenze gebracht hat, sind so die ebenfalls zwiespältigen „Garben Hoffnung“ (V. 32), in denen die Entzweiten ebenso miteinander zusammengebunden als in sich vervielfältigt werden. Wenn diese „winzigen Garben“ (V. 32) zugleich „von Erzengelfittichen“ (V. 33) und „von Verhängnis“ (ebd.) rauschen, wird hier womöglich auf den höchsten Erzengel Luzifer angespielt, der in die Hölle verstoßen wurde, weil er selbst Gott zu werden trachtete. Vielleicht kann man hier sogar an eine Garbe von Projektilen denken; so heißt es etwa in Jüngers Wäldchen 125 von einem Maschinengewehrschützen im Grabenkampf: „Er wird wohl keine Zeit gehabt haben, auf Freund und Feind zu achten, als seine Garbe den Graben leerfegte“.126 Celan wird Jüngers Wäldchen 125 kaum gekannt haben, und schon gar nicht in der Erstfassung von 1925. Jedoch weist die Bedeutungsbreite des Wortes Garbe, das Konnotationen der Sammlung, der Zerstreuung und des Zielnehmens verbindet, auf die Frage nach der Heliotropik der Metaphysik, die Derrida bekanntlich als „weiße Mythologie“ bezeichnet hat. Gegen Ende des gleichnamigen Aufsatzes ist von einem „semantische[n] oder thematische[n] Bündel“, das die „Vielfältigkeit der Metaphern […] in Hinblick auf ‚ein einziges und selbes Bild‘“ ordnet, dessen Streuung nichts als ein „Projektionssystem“ sei.127 Anders als dieses Bündel verweisen Celans „Garben Hoffnung“ (V. 32), die versammelt und abgeschossen werden, nicht auf die „Herrschaft“ einer „Sonne“.128 Vielmehr ist hier an ein Mandelstam-Zitat zu erinnern, das Lehmann für seine Interpretation des vorletzten Gedichts der Niemandsrose hinzuzieht: „Jedes beliebige Wort ist ein Bündel und der Sinn starrt aus ihm hervor in verschiedene Richtungen, strebt aber keinem offiziellen Punkt zu“.129 Solche Wortbündel, aus denen Hoffnung und Verhängnis, Sammlung und Verstreuung gleichermaßen ‚hervorstarren‘, nimmt Celan offenbar auch im abschließenden Gedicht der Niemandsrose auf. Wie zwiespältig die Hoffnung ist, von der IN DER LUFT zeugt, verdeutlicht die offenbleibende Frage, mit der das Gedicht und damit auch der Band endet. Zwar wird hier die Identität der überdeterminierten Furtenwesen noch einmal ganz entschieden in Frage gestellt („wessen“?, V. 47), zugleich aber in ambivalenter Weise an das Zu-Spät-Kommen der Götter gebunden. Zu spät (griech. opse) ist nämlich die Zeit, in der sich bei Sophokles die Tragik eines Geschehens zeigt, so dass der Ausdruck zu spät eine Art Refrain seiner Tragödien darstellt.130 Die Tragik der Men-Schen liegt allerdings nicht darin begründet, dass sie selbst unter dem Ödipus-Komplex leiden, sondern darin, dass sie von Göttern heimgesucht werden, die 126 127 128 129 130
Ernst Jünger, Das Wäldchen 125. Eine Chronik aus den Grabenkämpfen 1918, Berlin 1925, S. 233. Derrida, „Die weiße Mythologie“, S. 253. Ebd., S. 254. Lehmann, „‚Dichten heißt immer unterwegs sein‘“, S. 130. Siehe hierzu Bernhard Zimmermann, „Sophokles’ Leben und Werk“, in: Sophokles, Dramen, hg. v. Wilhelm Willige u. Karl Bayer, Zürich 1995, S. 760-781, hier S. 765-767.
HERMETIK UND DEZENTRIERUNG
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ödipal sind. Diese Vorstellung ödipaler Götter gemahnt so auch an Freuds Ausführungen über den widersprüchlichen Genuss des Publikums an den „schmerzlichsten“131 Eindrücken einer Tragödie; Ausführungen, die sich unmittelbar an die Interpretation des oben erwähnten Fort-Da-Spiels anschließen. Zum Abschluss seines Aufsatzes – dort also, wo Freud einräumt, dass das Lustprinzip „geradezu im Dienste der Todestriebe zu stehen“132 scheint – lässt sich sogar der psychoanalytische Forscher selbst mit einem Klumpfuß ausstatten: Nur solche Gläubige, die von Wissenschaft einen Ersatz für den aufgegebenen Katechismus fordern, werden dem Forscher die Fortbildung oder selbst die Umbildung seiner Ansichten verübeln. Im übrigen mag uns ein Dichter (Rückert in den Makamen des Hariri) über die langsamen Fortschritte unserer wissenschaftlichen Erkenntnis trösten: „Was man nicht erfliegen kann, muß man erhinken. ................................................................................ Die Schrift sagt, es ist keine Sünde zu hinken.“133
Der Klumpfuß, der zum Abschluss der Niemandsrose evoziert wird, lässt von einem solchen Vertrauen in den allmählichen Fortschritt einer hinkenden Wissenschaft nichts erahnen. Die Hoffnung, die am Ende bleibt, beruht einzig auf dem Vorsprung, den die Entzweiten in der Differenz zwischen Sterntag und Sonnentag durch den Verzug der Götter (auch der ,Götter in Weiß‘) gewinnen. Die Götter, von denen sich die Brüder und Schwestern offenbar nichts als weitere Schmerzen erhoffen können, werden die Zukunft nie einholen. Dafür sind sie aber auch ganz auf sich selbst gestellt, haben keine Orientierung und keinen Schutz. Der Ton, auf dem Die Niemandsrose so endet, steht dem der vorangehenden Sprachgitter näher als dem des folgenden Bands Atemwende. Während Atemwende mit dem Ein-WortSatz „Rettung.“134 schließt, endet Sprachgitter mit dem eingeklammerten Partizip „auseinandergeschrieben“135. Nach der Niemandsrose tritt das Planetarische bei Celan zunächst in den Hintergrund, so dass man scheinbar auch in dieser Hinsicht davon sprechen muss, dass der Gedichtband nur ein „Intermezzo“136 auf dem Weg vom Früh- zum Spätwerk darstellt. Gerade der allerletzte Celan jedoch, derjenige von Fadensonnen (1968) und Lichtzwang (1970) wird auf die planetarische Thematik zurückkommen, wobei er zunächst vor allem die Chancen und Gefahren dessen thematisiert, was SpiFreud, Gesammelte Werke, Bd. 13, S. 16. Ebd., S. 69. Ebd. Paul Celan, Atemwende. Vorstufen – Textgenese – Endfassung (Tübinger Ausgabe, hg. v. Jürgen Wertheimer), bearb. v. Heino Schmull u. Christiane Wittkopp, Frankfurt a.M. 2000, S. 187. 135 Paul Celan, Sprachgitter. Vorstufen – Textgenese – Endfassung (Tübinger Ausgabe, hg. v. Jürgen Wertheimer), bearb. v. Heino Schmull unter Mitarbeit v. Michael Schwarzkopf, Frankfurt a.M. 1996, S. 99. 136 Dies eine Selbstaussage Celans zur Niemandsrose, zitiert in Seng, Auf den Kreis-Wegen der Dichtung, S. 290. 131 132 133 134
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2. DIE EINBRUCHSTELLE DER GESTALT DES ANDEREN: IN DER LUFT
vaks „Planet-thought“137 als Teleopoiesis bezeichnen wird. Trotz seines auf den ersten Blick gegenläufigen Titels markiert der letzte noch zu Lebzeiten Celans veröffentliche Gedichtband Fadensonnen keine Rückkehr zur Sonne. Wie der Meridian, der ebenfalls nur in einer wandernden Pluralisierung wiedergekehrt ist, wird hier die Sonne nicht nur pluralisiert, sondern auch noch in Linien aufgelöst. Dass es Celan in Fadensonnen sogar ganz nachdrücklich um das „Stück / bewohnbarer Erde“138 geht, das abschließend evoziert wird, zeigt sich etwa daran, dass er das Wort „Freistatt“139 (die in einem Gedicht als „irdisch-unsichtbar[ ]“140 charakterisiert wird) sogar als Titel der Sammlung in Erwägung gezogen hat.141 Ins Zentrum eines der ersten Gedichte rückt die Frage nach dem Ziel der planetarischen Irre von Mensch und Dichtung. Dabei wird der Schmerz, dem schon IN DER LUFT eine Sonnenferne zugesprochen hat, mitsamt dem teleopoietischen Pfeil in den Bogen eingespannt: die Eine
Sehne spannt ihren Schmerz unter euch, das verschollene Ziel
strahlt. Bogen.142
Die lyrische Stimme, die in diesem Gedicht gleichsam aus dem Off spricht, adressiert hier ein Ihr und kein einzelnes Du, das in die Spannung des teleopoietischen Satzes, der Derrida zufolge zwischen dem Ziel (telos) und Entfernung von diesem Ziel (têlos) erzittere143, ausdrücklich eingespannt wird. Die Textbewegung unterstreicht diese Spannung sogar, wenn das Gedicht den Bogen erst nach dem Ziel erwähnt und damit im letzten (Ein-Wort-)Satz nochmal auf Abstand zum Ziel geht. Der Pfeil, der somit im Gedicht wie in einen gespannten Bogen liegt, wird in einem späteren Gedicht abgeschossen: Jeden Pfeil, den du losschickst, begleitet das mitgeschossene Ziel ins unbeirrbar-geheime Gewühl144
137 Gayatri Chakravorty Spivak, Imperative zur Neu-Erfindung des Planeten. Imperatives to Re-Imagine the Planet, hg. v. Willi Goetschel, Wien 1999, S. 46. 138 Celan, Fadensonnen, S. 221. 139 Ebd., S. 71. 140 Ebd. 141 Siehe ebd., S. 1. 142 Ebd., S. 39. 143 So in Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, übers. v. Stefan Lorenzer, Frankfurt a.M. 2000, S. 58. 144 Celan, Fadensonnen, S. 101.
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Auch wenn die kosmische Dimension abgeblendet ist, erinnern diese Zeilen an die Einleitungsworte zu den Strahlungen: „Inzwischen ist uns der Gedanke vertraut geworden, daß wir auf einer Kugel hausen, die mit Geschossesgeschwindigkeit in Raumestiefen fliegt, kosmischen Wirbeln zu.“145 Ebenso wenig wie Jüngers Wir verfügt das Du, das hier auftritt, über das Ziel. Vielmehr macht das Gewühl ein Zielnehmen unmöglich, so dass sich die Bahn des Pfeils erst im Schuss ausrichtet und selbst dann noch im Unbestimmten verliert. Entscheidender noch als Fadensonnen verschreibt sich der darauffolgende Band Lichtzwang, den Celan noch für die Publikation vorbereitet, dem Planeten als einem „Weltstein, sonnenfern“.146 So handeln zwei aufeinanderfolgende Gedichte jeweils vom Start und von der Landung nicht identifizierter Flugkörper,147 und ein späteres dichtet offenbar den Wiedereintritt in die Atmosphäre eines geheimnisvoll gewordenen Planeten.148 Die Sonnenferne, in die der Planet auch hier gestellt wird, geht erneut einher mit einer Betonung der durch den Sonnenlauf bedingten Verzögerungen der Zeit gegenüber der Zeit des Anderen. In den Vorarbeiten zum zweiten Gedicht des Bandes ist die Jahreszahl „2776“149 vermerkt, in der Celan offenbar das Datum der „Einführung des Sonnenkalenders“150 sieht; und eines der letzten Gedichte des Bandes spricht von einer „Kalenderlücke“, in der „das neugeborene Nichts“ den Schmerz „wiegt“.151 (Dass hier neben der Wiege auch an die Waage zu denken ist, wird durch die Wiederholung des Worts ‚wiegen‘ nahe gelegt.) In dieser Kalenderlücke finden, wie in einem noch späteren Gedicht zu lesen ist, nicht nur „Schalt- / sekunden“, „Schalt- / tode“ und „Schalt- / geburten“, sondern ganze „SCHALTJAHRHUNDERTE“ Platz.152 Hier öffnet sich also „ein neuer Zeitgroßraum“153, zu dem Celan allerdings im Gegensatz zu Jünger nicht hinüberführen will, sondern den er an der sich auflösenden Linie, die dadurch zum Intervall und zum Intermezzo wird, selbst ansiedelt.
145 146 147 148 149 150 151 152 153
Jünger, Werke, Bd. 2, S. 12. Celan, Lichtzwang, S. 33. Siehe ebd., S. 27 u. 29. Siehe ebd., S. 135. Ebd., S. 10. Ebd. Ebd., S. 165. Ebd., S. 171. Jünger, Werke, Bd. 6, S. 478.
Ausblick: Wege zu einer Planetarischen Literaturwissenschaft?
Jüngers planetarisches Schreiben entwickelte sich im Zeichen des Heraklit-Wortes vom Krieg als dem „Vater und König aller Dinge“.1 Kostas Axelos, dessen Buch Vers la pensée planétaire die Rede vom Planetarischen in den französischsprachigen Raum und den (post-)strukturalistischen Kontext einführt, hätte seinem Denken ein anderes Fragment von Heraklit voranstellen können: „Die Zeit ist ein spielendes Kind: das Königtum gehört einem Kind.“2 In dieser Wendung vom Krieg zum Spiel sind die Entwicklungen des Planetarischen bis zu Spivaks dekonstruktivem Postkolonialismus vorgeprägt. Zugleich nimmt Axelos Hauptaspekte der Debatte um eine planetarische Linientreue auf, mit der er vermutlich während seiner Studienzeit in Deutschland bekannt wurde. Während dieser Zeit stand er, wie er selbst immer wieder betont, in engem Kontakt zu Heidegger.3 Weil Axelos die entscheidende Schnittstelle für den Übergang vom deutschsprachigen zum poststrukturalistischen und postkolonialen Diskurs darstellt, wird abschließend – und ausblickend – zunächst seine Fassung des planetarischen Spiels der Zeit untersucht. Sodann sollen die Spuren der Debatte um planetarische Linien bei Paul Virilio, Jean-Luc Nancy und Gayatri Spivak nachgezeichnet werden.
1. Kostas Axelos’ „Planetarisches Denken“ Dass sich Kostas Axelos in Vers la pensée planétaire auf Heraklit bezieht, ist kein Zufall, bildet der Text doch Teil eines „Triptychons“ (PP, 9), zu dem neben der Dissertation über Marx als einem „Denker der Technik“4 eine Studie über „Heraklit und die Philosophie“5 gehört. Heraklit gilt Axelos als erster Denker dessen, was er – offenbar in Rückgriff auf Heideggers Rede von „Irre“6 und „Irrtum“7 – als „irrende Zeit“ (PP, 23) bezeichnet. Diese zeitigt sich, so wird formelhaft festgehal1 Hermann Diehls u. Walther Kranz (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, Zürich u. Berlin 1965, Herakleitos, B 53, S. 162. [Übersetzungen: ma.] 2 Diehls/Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Herakleitos, B 52, S. 162. 3 Die Begegnung mit Heidegger wird festgehalten in Kostas Axelos, Vers la pensée planétaire. Le devenir-pensée du monde et le devenir-monde de la pensée, Paris 1964, S. 217-226. Fortan wird Vers la pensée planétaire unter Angabe der Sigle PP und der Seitenzahlen im laufenden Text zitiert. [Übersetzungen: ma.] 4 Kostas Axelos, Marx, penseur de la technique. De l’aliénation de l’homme à la conquête du monde, Paris 1961. 5 Kostas Axelos, Héraclite et la philosophie. La première saisie de l’être en devenir de la totalité, Paris 1962. 6 Martin Heidegger, Wegmarken, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1996, S. 197. 7 Ebd.
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AUSBLICK: WEGE ZU EINER PLANETARISCHEN LITERATURWISSENSCHAFT?
ten, als „das Sein im Werden der fragmentarischen und fragmentierten Totalität der mehrdimensionalen und offenen Welt“. (PP, 23) Das von Axelos eingeforderte planetarische Denken soll versuchen, der nie abzuschließenden Offenheit dieser irrenden Bewegung von Sein und Zeit gerecht zu werden, indem es sich eigens auf die Dimension einlässt, in der diese Irre spielt. So muss das Denken auch selbst einen fragmentarischen Charakter annehmen und wird zu einem „fragmentarischen Denken der offenen Totalität“ (PP, 181). Dass das ‚Denken‘ hierbei, wie im Untertitel angekündigt, ‚Welt‘ und die ‚Welt‘ im Gegenzug ‚Denken‘ wird, will Axelos aber auch nicht als eine Dialektik missverstanden wissen. Alle solche Versuche, die Welt vom Denken oder das Denken von der Welt her zu verstehen, „missglücken [ratent]“ (PP, 33) vielmehr zwangsläufig. Da das französische rater auch ‚ein Schuss geht nicht los‘ bedeutet, kann das ‚Verfehlen‘ (auch das eine mögliche Übersetzung von rater) des Ziels mit der ballistischen Teleopoiesis eines Jünger assoziiert werden, vor allem der paradoxen Form, die sie in Lucius de Geers Scheitern annimmt. Weil kein Ziel dialektisch vorgegeben werden kann, sieht Axelos die „europäische Moderne“ (PP, 27) in einem „planetarischen Schritt und Sprung“ (ebd.) begriffen, dessen „Flugbahn [trajectoire]“ (PP, 46) unvorhersehbar ist. Deshalb bleibt das planetarische Denken, sofern es diesen Sprung eigens mitvollziehen muss, auch nur im Modus der Möglichkeit fassbar: „Wir sind vielleicht auf dem Weg zu einem planetarischen Denken, einem Denken, das von der entfesselten [déclenchée] planetarischen Erfahrung untrennbar ist.“ (PP, 45) Da das französische Wort trajectoire auch ‚Umlaufbahn‘ heißen kann, deutet sich bereits an, dass es Axelos hier um ein Ausscheren der Erde aus ihrem berechenbaren Kreislauf um die Sonne geht. Erhärtet wird dies, wenn Axelos betont, dass der Mensch erst dann wirklich zum Problem werde, wenn er „sich nicht mehr als eine Sonne [un soleil], sondern als einen Planeten [une planète] versteht“ (PP, 18). Auf den irrenden Bahnen der Erde und ihrer Bewohner kann folglich zwischen „dem eigenen Sein und dem Sein des Anderen“ (PP, 292) ebenso wenig unterschieden werden wie zwischen „Nähe und Ferne“ (PP, 275) oder „Zentrifugal- und Zentripetalkräften“ (PP, 279). Wiederum entsprechen die irrenden Bewegungen auf der Erde der irrenden Bahn der Erde selbst. Bei Axelos zeigt sich sogar noch die Sonne dieser Irre unterworfen, weil nicht bestimmt werden kann, welcher Stern überhaupt noch als Fixstern anzusprechen sein könnte (siehe PP, 44). Diese grundsätzliche Unentscheidbarkeit, welchen Status die Sterne haben, nimmt Axelos zum Anlass eines Wortspiels, in dem die Möglichkeit eines zukünftigen Denkens unmittelbar mit ihrer völlig überraschenden Neuheit verbunden wird. Das Wir, dem Axelos in seiner Schrift eine Stimme verleihen will – und das sich „vielleicht auf dem Weg zu einem planetarischen Denken“ (PP, 45) befindet –, versteht sich in seiner Pluralität nicht nur als „siderisch [sidéraux]“ (ebd.), sondern zugleich als „sidérés“ (ebd.): als ‚verblüfft‘. Obwohl die Rede davon ist, dass sich die europäische Moderne auf dem Sprung ins Planetarische befindet, wird das verblüffte Sternen-Kollektiv eines für möglich gehaltenen planetarischen Denkens nicht eurozentrisch gefasst, weil es sich erst in
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dem Moment zu konstituieren vermag, in dem sich der planetarische Sprung vollzieht, der Europa hinter sich lässt. Die Auflösung dieser geographisch-politischen Auszeichnung des europäischen Kontinents entspricht dem egalitären Charakter des planetarischen Kollektivs, das jenseits der „überwundenen“ Trennung von „Massen“ und „Eliten“ angesiedelt sein soll. (PP, 25) Hier findet sich mehr als nur ein Echo von Jünger und Schmitt, was Axelos auch selbst deutlich macht, wenn er den Begriff der „totalen Mobilmachung“ (PP, 303) aufgreift, der bei den beiden schon das Ende des Eurozentrismus und die Einebnung politischer Hierarchien zugleich betrieb. Allerdings nimmt Axelos insbesondere die tayloristischen und fordistischen Aspekte der Jünger’schen Totalen Mobilmachung auf, unter weitgehendem Ausschluss ihrer destruktiven und kriegerischen Potentiale, die zur Vorstellung des Spiels der Welt auch wenig zu passen scheinen. Damit wird der selbstzerstörerische Aspekt, der für die frühere Debatte um planetarische Linien so zentral war, abgedrängt und kommt allenfalls dann zum Vorschein, wenn Axelos vom Planeten als dem „enjeu“ (PP, 135) des jeu, dem ‚Einsatz‘ des Spiels spricht. Was dafür – ungleich stärker noch als selbst bei Heidegger – in den Fokus tritt, ist der kybernetische Aspekt der Totalen Mobilmachung des Planeten. „Der Kreislauf“ (PP, 303), von dem es heißt, er „verbindet Produktion und Verbrauch miteinander und umschließt wie ein Ring die gesamte Peripherie des in diese rotierende Bewegung gestürzten [précipitée] Planeten“ (PP, 303-304), beruhe nämlich, wie Axelos eingangs ausdrücklich betont, auf einer „totalen kybernetischen Herrschaft“ (PP, 43) über die Erde. Heideggers Kritik an der „Befehlssprache“8 des Arbeiters, dass sie nämlich eine solche kybernetische Herrschaft über die Erde als letzte Folge des Cogito festige, verschärft Axelos noch einmal, wenn er in der „Agitation“ (PP, 311) den letzten Ableger der „cogitatio“ (ebd.) sieht (cogitare kommt von con + agitare). In dieser finalen Form hat sich, so die These, die Subjektivität endgültig als Achse („axée sur la subjectivité“, PP, 289) einer Rotation gefestigt, die den gesamten Planeten umtreibt. Diesen Siegeszug habe die cogitatio allerdings nur feiern können, weil „ihre Rundheit [rondeur] noch nie Probleme verursacht“ (PP, 26) hätte. Anstatt wie Jünger die Notwendigkeit eines planetarischen Denkens und Handelns über einen kategorischen Imperativ einzufordern, beschränkt sich Axelos darauf, seinen Lesern die Möglichkeit eines solchen Denkens über den Planeten – und eines Denkens, das sich als Planet konzipiert – nahezubringen. Daher rührt nicht nur die oben schon sich abzeichnende Bedeutung des Wortes Vielleicht, das wahrscheinlich als Schlüsselwort des Textes gelten muss, sondern auch die zentrale Rolle, die der Fragesatz bei Axelos spielt. Dass ganze Absätze des Textes aus Fragekatalogen bestehen, erklärt sich dadurch, dass die Form der Frage dem planetarischen Denken, das als „Wiederholung [reprise] der Vergangenheit“ (PP, 45) und damit zugleich als „Vorbereitung der Zukunft [avenir]“ (ebd.) verstanden wird, auf eine ausgezeichnete Weise zu entsprechen vermöge. Denn: „Jede Frage ist retro-aktiv,
8 Ernst Jünger, Werke, 10 Bde., Stuttgart 1964, Bd. 6, S. 178.
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abenteuerlich und öffnet die Zukunft [l’avenir]“ (PP, 47).9 Wie zuvor bei Heidegger und daraufhin bei Derrida wird somit aus der Zukunft (französisch auch: futur) das „à-venir“ (PP, 36): das ‚Zu-Kommende‘. Was bei Axelos indes vielleicht noch stärker betont wird als bei den anderen beiden, ist, dass die Vergangenheit damit ausdrücklich unter den Blickwinkel einer sich entziehenden Zukunft gestellt und neu gedeutet wird. Das Futur II der planetarischen Teleopoiesis soll damit vor der Schließung der Zukunftsdimension, die ihr, wie gezeigt wurde, ständig droht, radikal in Schutz genommen werden und sich einem unabsehbaren Spiel öffnen: „[D]as Spiel entgleitet uns.“ (PP, 207) Den Eintritt in diese Dimension des Spiels verspricht sich Axelos nicht zuletzt von einem neuen Selbstverständnis des Menschen, das die herkömmlichen genderRollen geradezu invertiert. Die Forderung, dass sich der Mensch nicht mehr als Sonne, sondern als Planet verstehen solle, impliziert im Französischen auch die Abwendung von einem am Mann orientierten Verständnis des Menschen. Neben ‚Mensch‘ bedeutet das französische homme auch ‚Mann‘, was durch das grammatische Geschlecht der Sonne unterstützt wird, das im Französischen (im Gegensatz zum Deutschen) männlich ist: le soleil. Zum Problem werde der Mensch (und der ‚Mann‘) in dem Moment, in dem er sich als Planet – und das heißt auf Französisch weiblich: als une planète – versteht. Damit werde dann auch „das Geschlecht der Welt, wenn man das so sagen kann, weiblich“. (PP, 291) So weist das Planetarische bei Axelos auf Celans Ablehnung von Totem und Tabu zurück sowie auf Spivaks Politik der Freundschaft voraus, die die Frau als integralen Teil kommender Kollektive vorsieht. Im Dienste dieser Abwendung von Totem und Tabu steht auch Axelos’ Versuch, nachzuweisen, dass die Psychoanalyse sich nicht von der Metaphysik losmachen kann, die sich nunmehr zur kybernetischen Beherrschung des Planeten aufgeschwungen habe. Freud wird ihm sogar zum Melancholiker, (vgl. PP, 251 u. 265) dessen „metaphysisch antimetaphysischen [métaphysiquement antimétaphysiques] Überzeugungen“ (PP, 263) es ihm nicht erlaubt hätten, sein Denken von der Fixierung auf ein männlich kodiertes Ich zu befreien. Als „analyste de l’homme“ (PP, 243) ist Freud für Axelos in erster Linie ein Analytiker des ‚Mannes‘ und nicht des ‚Menschen‘. Axelos schlägt fast die entgegengesetzte Richtung von Freud ein, der forderte, dass, ‚wo Es war, Ich werden‘ solle. Das Ich versteht Axelos von einer Begegnung her, in der sich die Identitäten in ein Spiel auflösen, das „jenseits der Unterscheidung von Figur und Maske“ (PP, 130) führt. Die Notwendigkeit einer Verabschiedung des Ich macht Axelos insbesondere in seiner Rimbaud-Lektüre deutlich, die um das Zitat „car JE est un autre“ (PP, 164) kreist. Mit der so plausibilisierten Dezentrierung des Ich soll auch die Vorstellung verabschiedet werden, es lasse sich die „menschliche Natur fixieren“ (PP, 132), mithin das natürliche Wesen von ‚Mann‘ und ‚Frau‘ eindeutig bestimmen. Da „die Begegnung mit einem anderen Seienden bzw. Sein [être]“ (PP, 281) an die Stelle 9 Eine ähnliche zukunftsöffnende Funktion der Frage behauptet Werner Hamacher, „Für – die Philologie“, in: Jürgen Paul Schwindt (Hg.), Was ist eine philologische Frage? Beiträge zur Erkundung einer theoretischen Einstellung, Frankfurt a.M. 2009, S. 21-60, hier S. 21-29.
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solcher (sich als absolut ausgebenden) Fixierungen trete, würden ganz „andere Spiele“ (PP, 289) möglich. Axelos verdeutlicht dies hier vor allem anhand dessen, was er als „errance érotique“ (PP, 273) bezeichnet. Diese erotische Irre basiert auf der These, dass „weder der Mann [l’homme] noch die Frau den Phallus hat“ (PP, 291)10; womit sich auch ein „neuer Stil der Liebe“ (PP, 291) ankündige, der alter und ego in eine unablässige Umgestaltung eingehen lässt. Da deren Spiele nur aufgrund der radikalen Gleichberechtigung von Mann und Frau möglich sind, definiert Axelos ihre „polygame Monogamie“ (PP, 278) zugleich auch als „polyandrische Monoandrie“ (PP, 279).11 Vor dem Hintergrund eines solchen ständigen Wandels fordert Axelos auch eine neue Konzeption der Bisexualität und der Homosexualität, der Androgynie und des Hermaphrodismus. (Siehe PP, 292) Von besonderem Interesse ist, dass der neue Stil der Liebe, und hier nimmt Axelos einen wichtigen Gedanken des späten Foucault vorweg,12 vor allem gegen eine „pseudolibération erotique“(PP, 289) gerichtet ist, die das Totem gerade dadurch bestätigt, dass sie das Tabu in Frage stellt. Die Fassung der Erotik als eine sich ständig wandelnde Begegnung der Liebespartner wird von Axelos zum Modell einer jeden „Spannung auf etwas hin [tension vers...]“ (PP, 280) und der damit verbundenen „Ausrichtung [vection] der Aufmerksamkeit“ (ebd.) erhoben. Damit wird diese spezifische ‚Irre‘ zum Paradigma eines Schreibens, das sich auf ein planetarisches Denken hin (vers la pensée planétaire) ausrichtet. Wenn hier die präfigurative Typologie des planetarischen Schreibens wiederkehrt, die sich schon bei Jünger von der Anbindung an eine überzeitliche Dimension freigemacht hatte und damit immer nur vorläufige Vorwegnahmen erlaubte, wird erneut betont, dass sich die Logik der Präfiguration ebenso von der „Eschatologie“ (PP, 45) wie von der Sehnsucht nach „verlorenen Paradiesen“ (ebd.) befreit habe. Anders als bei Jünger werden die „Präfigurationen“ (PP, 20) hier aber nicht einer ständig umgestaltenden „Arbeit [des] Künftigen“13 unterworfen, sondern gleichsam einem Eros des Künftigen ausgeliefert. Allerdings gelangt auch dieser nie zu seinem Ziel, weil sich die „nicht figurativen Figuren“ (PP, 47), die sich seiner Aufmerksamkeit darbieten, nie restlos theoretisch einholen oder auflösen lassen. Somit führt die Zuwendung zu solchen Gestalten wie schon in Jüngers Über die Linie und Heideggers Über „die Linie“ auf das „Problem von Grenzen“ (PP, 47) der Auslegbarkeit; ein Problem, das allerdings, so Axelos, „gleichfalls offenbleiben
10 Vgl. hierzu auch Jacques Lacan, „La signification du phallus“, in: ders., Écrits, Paris 1966, S. 685695. 11 Hier wie an anderen Stellen erinnern Formulierungen Axelos’ an spätere Wendungen von Deleuze. So spricht Axelos bereits von Fluchtlinien („lignes de fuite“, PP, 14). Deleuze kannte Vers la pensée planétaire, das er 1970 rezensierte. Dabei stellt er auch spätere Texte Axelos’ in Zusammenhang mit dem planetarischen Denken. Siehe Gilles Deleuze, „Spalte und örtliche Feuer“, in: ders., Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, übers. v. Eva Moldenhauer, hg. v. David Lapoujade, Frankfurt a.M. 2003, S. 226-235. 12 Siehe Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1977, S. 148-153. 13 Jünger, Werke, Bd. 7, S. 106.
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[rester en suspens] muss“ (ebd.). Auch seine planetarischen Figuren führen also an eine Linie, an der er seinen Lesern zumutet, ein Sprung zu machen. Um der Unauflösbarkeit der nicht-figurativen Präfigurationen auch textstrategisch Rechnung zu tragen, endet Axelos’ Buch mit einem „Zwischenspiel [Interlude]“ (PP, 321) von betont „nicht abschließenden Bemerkungen [remarques non finales]“ (PP, 319). Diese Strategie zeigt sich schon am Ende der „Introduction à la Pensée Planétaire“ (PP, 11) – die sicher auch die performative Einführung des Lesers in das Spiel leisten will, in dem Denken Welt und Welt Denken wird. Zum Abschluss dieses Abschnitts fragt sich das Wir des Textes (Rilke in einer französischen Übersetzung zitierend)14: „[P]ourquoi, errants que nous sommes, avonsnous, quoi que nous fassions, cette allure de celui qui s’en va?“ (PP, 49) Diese letzten Worte der intro-duction sind in gleich zweifacher Hinsicht doppeldeutig; wenngleich auch nur in der Übersetzung, die damit selbst offenbar präfigurativ über das Original hinauszuweisen strebt. Das französische allure, mit dem Axelos Rilkes Wort ‚Haltung‘ wiedergibt, bedeutet ‚Aussehen‘ und ‚Gang(art)‘, und s’en aller heißt ‚weggehen‘, aber auch ‚sterben‘. Folglich fragt sich das Wir, das Axelos hier sprechen lässt: „Warum haben wir – Irrende, die wir sind –, was auch immer wir tun, das Aussehen/die Gangart desjenigen, der sich auf den Weg macht/stirbt?“ Der Ausdruck allure setzt mit anderen Worten die Bewegung und die Figur des Kollektivs in eins. Welche Grenzen solche Kollektive überschreiten, ob nun in die Zukunft oder in den Tod, bleibt in der Schwebe. Für eine ähnlich programmatische Inanspruchnahme des Planeten muss man nach Vers la pensée planétaire mehrere Dekaden warten. Allerdings findet die Rede vom Planetarischen auch in der Zwischenzeit in der französischsprachigen Theorie einen nicht unbedeutenden Niederschlag. Vor allem Paul Virilio und Jean-Luc Nancy, deren Positionen in den folgenden zwei Abschnitten skizziert werden sollen, sind hierbei von Interesse.
2. Paul Virilios „Planetarische Globalisierung“ Die gegenwärtige Phase des Globalisierungsprozesses, der für Virilio spätestens mit dem Eintritt der Weltmeere in das politische Leben beginnt, charakterisiert er in einer 2003 erschienenen Schrift als „planetarische Globalisierung“.15 Trotz dieser Formulierung, die den bei Schmitt etablierten Unterschied des globalen und planetarischen Modells aufzuheben scheint, steht Virilios Denken entschieden unter dem Eindruck der Rede vom Planetarischen, wie sie sich zwischen 1920 und 1960 14 Die betreffende Stelle lautet bei Rilke: „Wer hat uns also umgedreht, daß wir, / was wir auch tun, in jener Haltung sind / von einem, welcher fortgeht? Wie er auf / dem kleinen Hügel, der ihm ganz sein Tal / noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt – , / so leben wir und nehmen immer Abschied.“ Rainer Maria Rilke, Werke in vier Bänden, hg. v. Manfred Engel et al., Frankfurt a.M. 1996, Bd. 2, S. 126. 15 Die deutsche Übersetzung erschien 2007, Paul Virilio, Panische Stadt, übers. v. Maximilian Probst, hg. v. Peter Engelmann, Wien 2007, S. 24.
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in Deutschland entwickelt hat. Dieser Befund, der sich schon in den Kapiteln zu Jünger und Schmitt angedeutet hat, soll nun kurz erläutert werden. Zunächst ist interessant, dass Virilio Jünger vielfach, und zwar zumeist in kritischer Absicht, anführt, Schmitt hingegen kaum erwähnt. Dabei ist sein Verständnis des „kritischen Raums“16, dessen grenzüberschreitende Austauschprozesse den klassischen Rechtsraum aufheben und damit alle sozialen und familiären Geflechte auflösen, den Überlegungen Schmitts zur Schrumpfung des Raums und dem damit einhergehenden Ende des Rechts durchaus vergleichbar. So vertritt Virilio nicht nur die Meinung, dass Recht immer nur in einem bestimmten Raum, und zwar in der Stadt gelte,17 sondern fragt sich sogar, ob „es überhaupt eine mögliche Form“ gibt, „wenn man den Ort verliert“.18 Sein ausdrückliches Bekenntnis zu „Gesetz“ und „Verfassung“ erklärt Virilio allerdings damit, dass er ein überzeugter „Demokrat“ sei,19 was man von Schmitt gewiss nicht behaupten kann. Der Gegenbegriff zur Demokratie ist bei Virilio die „Dromokratie“20: eine Herrschaft der Beschleunigung, deren immer größere Geschwindigkeiten im Dienst einer letztlich totalitären Politik stehen sollen. Es handelt sich bei der Dromokratie also um ein Modell, gegen das auch Schmitt zu Felde zieht. Im Fluchtpunkt dieser Entwicklungen sieht Virilio eine „Planeten-Maschine“21 drohen, in der Mensch und Maschine, Medium und Waffentechnik verschmelzen und sich an die Stelle der Erde setzen. Bereits ein 1977 erscheinender Essay zur Dromologie wendet sich dieser „planetarischen Mechanik“22 zu, als deren maßgeblicher Vordenker Jünger denunziert wird. Diese Mechanik äußere sich in einer zunehmenden Auflösung konkreter Räume in Netze von sich ständig verschiebenden Vektoren, auf denen sich Menschenmassen wie Geschosse bewegen, um schließlich die gesamte Erde in ein einziges solches Vektorengeflecht aufgehen zu lassen. In der Phase der planetarischen Globalisierung werde diese Desintegration des Erdkörpers in eine Vielzahl von kritischen Räumen noch einmal radikalisiert. Was das bedeutet, versucht Virilio – auch noch nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes unter dem Eindruck eines möglichen Atomkriegs stehend – im Vergleich mit der Radioaktivität zu plausibilisieren: Die Radioaktivität ist ein konstituierendes Element der Materie, die sie aber auch zerstören kann, indem sie sie spaltet. Die Interaktivität ist von derselben Natur. Sie
16 Paul Virilio, „Der kritische Raum“, in: Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 7 (1983), S. 1627, hier S. 20-21. 17 Siehe Paul Virilio u. Philippe Petit, Cyberwelt. Die wissentlich schlimmste Politik, übers. v. Elisa Barth u. Alexandre Plank, Berlin 2001, S. 46-47. 18 Ebd., S. 49. 19 Ebd., S. 19. 20 Es handelt sich hierbei um den zentralen Begriff der frühen Studie Paul Virilio, Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie, übers. v. Ronald Voullié, Berlin 1980, S. 59 u. 177-199. 21 Ebd., S. 23. 22 Ebd., S. 59.
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kann eine Einheit der Gesellschaft herbeiführen, aber sie hält potentiell die Möglichkeit offen, sie aufzulösen und sie zu zerstören, und das im weltweiten Maßstab.23
Das Beispiel veranschaulicht eindrucksvoll Virilios Überzeugung, dass die erdumspannende Vernetzung etwa durch die Satellitentechnik und das Internet die Unterschiede zwischen Krieg und Frieden aufweicht. Seine Ausführungen dazu, die die Kultur- und Technikhistorie zunächst Europas und dann der ganzen Welt als eine Geschichte von Kriegsstrategien und Waffensystemen interpretieren, lesen sich als Fortschreibung von Schmitts Geschichte des Kriegs- und Staatenrechts. Selbst noch die Absicht, eine ‚Dromologie‘, also eine politische Ökonomie der Geschwindigkeit zu entwickeln, findet sich bei Schmitt vorgeprägt. Schließlich hat dieser das, was Virilio (für Deleuze/Guattari wegweisend) als „fleet in being“24 bezeichnet, schon in Jüngers Arbeiterkollektiven nachzuweisen versucht, in denen sich der Leviathan vom Staat in ein – zu Lande wie zu Wasser operierendes – dezentrales Netzwerk verwandelt, das den Dezisionismus (para-)staatlicher Politik mit der Deterritorialisierung wirtschaftlicher Prozesse verbindet. Diese Anleihe bei Schmitt wird von Virilio aber, vielleicht sogar bewusst, verschleiert. So führt er etwa Georg Lukács’, und nicht Schmitts, Kritik an Jünger an. Virilio zitiert hier aus Die Zerstörung der Vernunft: So bestimmt die Gestalt des Arbeiters (die, wie bei Spengler und Hitler, nicht nur den Soldaten, sondern auch den Unternehmer mit begreift) den Mythos der heutigen Welt. Diese Welt ist eine „Werkstattlandschaft“ und, soweit es sich um die Welt des Bürgers handelt, „Museum“. Zur vollendeten Werklandschaft wird sie erst mit dem Sieg der Gestalt des Arbeiters, und damit verwandelt sie sich zur „Planlandschaft“, zum „imperialen Raum“. Der Mythos des Arbeiters ist bei Jünger der Mythos des kriegerisch aggressiven Imperialismus.25
Obwohl Virilio den letzten Satz, in dem Jünger angeführt wird, streicht, teilt er Lukács’ Verdikt, dass Jünger „präfaschistisch“26 sei. Weitaus wichtiger als Virilios verfälschende Zitierweise ist allerdings, dass er auch den „deutschen Sozialismus“ im Übergang von der „Werkstättenlandschaft“ zur „Planlandschaft“ – diese beiden Ausdrücke gehen unmittelbar auf den Arbeiter zurück – begriffen sieht.27 Denn das, was Virilio Dromokratie nennt, ist in beiden extremen politischen Lagern gleichermaßen präsent. Später wird Virilio betonen, dass Jüngers Arbeiter den sich damit durchsetzenden wirtschaftlich-militärischen Komplex – und zwar für das rechte wie das linke Lager wegweisend – formuliert habe: Dieses neue Amalgam wurde von Ernst Jünger teilweise in seinem 1932 erschienenen Essay „Der Arbeiter“ (eine Arbeitergestalt, die den Militär und den Industriellen mit 23 24 25 26 27
Virilio/Petit, Cyberwelt, S. 100-101. Virilio, Geschwindigkeit und Politik, S. 61. Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin (Ost) 1953, S. 424. Virilio, Geschwindigkeit und Politik, S. 67. Ebd.
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einschließt) beschrieben, ein Werk, das eine riesige Leserschaft bekommen sollte und für die Deutschen schnell zu einem wahrhaften politischen Programm wurde ... .28
Ausschlaggebend ist für Virilio aber auch hier weniger das politische Programm selbst als das unbedingte Bestreben, immer größere Geschwindigkeiten und zuletzt die absolute Geschwindigkeit zu erreichen, von der auch Jüngers Roman Heliopolis spricht. Geschwindigkeit versteht Virilio als ein Milieu, das Entfernungen nicht nur verbindet, sondern hervorrufen, aber auch nivellieren könne: „Sie ist nicht einfach ein Zeitproblem zwischen zwei Punkten, sie ist ein Milieu, das erst durch das Fahrzeug hervorgerufen wird“.29 Das späte Interview, in dem diese Formulierung fällt, ist aufschlussreich, weil Virilio darin auch seine Abhängigkeit von der Gestalttheorie bekundet.30 Es ist denkbar, dass das pauschale Zugeständnis einer solchen Abhängigkeit spezifiziert werden muss, da sich vor allem Viktor von Weizsäcker mit der Geschwindigkeit als Milieu, das Räume hervorbringt, auseinandergesetzt hat. Formen der Bewegung sind bei Weizsäcker zugleich auch Formen der Wahrnehmung, weil nicht entschieden werden kann, ob man das Ziel schneller erreicht, weil man sich selbst auf das Ziel zu bewegt, oder weil das Ziel sich auf einen zu bewegt. Oben ist gezeigt worden, wie Schmitt seine Kritik an Jünger ausgehend von Weizsäckers Verständnis des Leistungsraums und des Gestaltkreises formuliert hat. Bei Virilio wird diese Kritik unter dem Eindruck der fortschreitenden Technik aktualisiert, die die Ununterscheidbarkeit von Bewegung und Wahrnehmung noch verschärft. Die absolute Geschwindigkeit sieht Virilio im Internet realisiert, das den Bezug des Menschen zu seinem Heimatplaneten auf eine ‚Cyberwelt‘ reduziert. Das von Norbert Wiener formulierte und von Heidegger zitierte Ideal der Kybernetik, die „ganze Welt [zu] sehen und der ganzen Welt Befehle [zu] erteilen“31, ohne überall zugleich sein zu müssen, wandelt sich hier in die Realität, dass man „die Möglichkeit“ habe, alles „zu zerstören“, sobald man „das Ziel sehen“ könne.32 Die Vision einer medial gestützten Omnipräsenz und Allmacht lässt den Menschen überall auf dem Planeten zugleich zugegen sein und den Planeten in seiner Ausdehnung verschwinden. Während bei Schmitt die moralische Vernichtung des Feindes seine tatsächliche Vernichtung legitimieren sollte, rechtfertigt bei Virilio die virtuelle Auflösung des Planeten in ein Netzwerk seine verwirklichte Zerstörung. Die Technikphantasie eines „Planeten ohne Planeten“33, die auch Heidegger und Spivak kritisieren, findet sich in Heliopolis konsequent umgesetzt, wo alle Dinge in einem überall abrufbaren Archiv gespeichert werden, das den tatsächlichen Erdkreis ersetzt, und damit, wie Schmitt Jünger entgegengehalten hat, alle tatsächlichen Ortungen – 28 29 30 31
Ebd., S. 120. Virilio/Petit, Cyberwelt, S. 16. Siehe ebd., S. 25. Martin Heidegger, Überlieferte Sprache und technische Sprache, hg. v. Hermann Heidegger, St. Gallen 1989, S. 25-26. 32 Paul Virilio, „Der kritische Raum“, S. 22. 33 Virilio/Petit, Cyberwelt, S. 92.
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und damit auch jegliche Rechtsordnung – aufhebt. So wäre der Höhepunkt von Jüngers planetarischem Schreiben auch für Virilio eine völlig folgerichtige Weiterführung des Arbeiters. Gegen diese Entortungstendenzen wird Virilios Mediologie des Kriegs – und damit werden auch die Parallelen zu Weizsäckers biologischem sowie Schmitts politischem ‚Leistungsraum‘ überdeutlich – das Hier und Jetzt einer Ortung der Ordnung privilegieren. Gegen das Problem, nur noch „im Kopf eine reduzierte Erde zu haben“34, bietet Virilio „Landschaften“35 auf, in denen „man das Gefühl hat, dass man auf einem Planeten ist, wo der territoriale Körper des Planeten Erde im Kleinen wahrnehmbar ist“.36 Mit ‚Territorium‘ ist hier nicht etwa an ein Staatsgebiet zu denken, sondern an eine „Ereignislandschaft“37, d.h. einen Raum, der es – vergleichbar einem Leistungsraum – erlaubt, konkrete Ereignisse räumlich zu verorten. Diese Ereignislandschaft sieht Virilio durch eine spezifische „Dramaturgie“ bestimmt, in der die Menschen „nicht einfach Zuschauer[ ]“ bleiben können, sondern zu „Handelnden“ werden müssen.38 Aufgrund dieser Betonung räumlicher Konkretion ist es denn auch keine Überraschung, dass Virilio Schmitts Unterscheidung von interventionistisch-weltrevolutionären und isolationistisch-katechontischen Partisanen wiederauferstehen lässt. Gegen „die Partisanen des technischen Fundamentalismus“39 stellt sich hier ein selbst ernannter „Intellektueller der Verteidigung“.40 Diese Haltung eint den Denker der planetarischen Großraumordnung und den einer Dromologie.
3. Jean-Luc Nancys „Literarische“ Mondialisation 2002 legt Nancy eine Studie vor, die die mondialisation, die „Erschaffung der Welt“41 als Gegenmodell zur Globalisierung ins Spiel bringt. Zwar fällt der Ausdruck planetarisch bei Nancy nicht, doch steht seine Vorstellung von ‚Mondialisierung‘ unter dem Eindruck des planetarischen Denkens. Dies lässt sich schon dem längeren Marx-Zitat entnehmen, das Nancy zu Beginn seiner Schrift anführt und das „erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber all seinen Aussagen erfordert“ (EW, 17). Dieses Zitat, um das Nancys gesamtes Buch wie um einen Mittelpunkt kreisen wird, stammt aus der Deutschen Ideologie und lautet im Original: 34 35 36 37 38 39 40 41
Ebd., S. 49. Ebd., S. 124. Ebd. Ebd., S. 122. Ebd. Ebd,. S. 93. Ebd., S. 109. Jean-Luc Nancy, La création du monde, ou la mondialisation, Paris 2002. Im selben Jahr erschien eine deutsche Übersetzung mit dem etwas irreführenden Titel Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, übers. v. Anette Hoffmann, Zürich u. Berlin 2002. Fortan werden Zitate aus Die Erschaffung der Welt unter Angabe der Sigle EW sowie der Seitenzahlen im laufenden Text nachgewiesen.
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In der bisherigen Geschichte ist es allerdings ebensosehr eine empirische Tatsache, daß die einzelnen Individuen mit der Ausdehnung der Tätigkeit zur Weltgeschichtlichen immer mehr unter einer ihnen fremden Macht geknechtet worden sind (welchen Druck sie denn auch als Schikane des sogenannten Weltgeistes etc. vorstellten), einer Macht, die immer massenhafter geworden ist und sich in letzter Instanz als Weltmarkt ausweist. Aber ebenso empirisch begründet ist es, daß durch den Umsturz des bestehenden gesellschaftlichen Zustandes durch die kommunistische Revolution […] und die damit identische Aufhebung des Privateigentums diese den deutschen Theoretikern so mysteriöse Macht aufgelöst wird und alsdann die Befreiung jedes einzelnen Individuums in demselben Maße durchgesetzt wird, in dem die Geschichte sich vollständig in Weltgeschichte verwandelt. Daß der wirkliche geistige Reichtum des Individuums ganz von dem Reichtum seiner wirklichen Beziehungen abhängt, ist nach dem Obigen klar. Die einzelnen Individuen werden erst hierdurch von den verschiedenen nationalen und lokalen Schranken befreit, mit der Produktion (auch mit der geistigen) der ganzen Welt in praktische Beziehung gesetzt und in den Stand gesetzt, sich die Genußfähigkeit für diese allseitige Produktion der ganzen Erde (Schöpfungen der Menschen) zu erwerben.42
Auch für Nancy verspricht die hier angesprochene praktisch-produktive Beziehung zur ganzen Welt als Genuss der ganzen Erde eine Überwindung der kapitalistischen Monopolisierung des Erdballs.43 Dabei folgt er einer typisch Marx’schen Logik: Zwar stelle der globalisierte Weltmarkt eine notwendige Vorstufe der Welt-Erschaffung dar, weil er von der historischen Borniertheit lokaler Identitäten und Kulturen befreie, sei aber zu überwinden, weil er nur an die Schwelle dessen führe, was in einem prägnanten Sinn als Weltgeschichte gelten könne. Gegen diese ‚Welt‘ bestimmt sich die sogenannte ‚Welt‘ des Marktes – wie Nancy in einem französischen Neologismus (der womöglich von Axelos’ Rede von einem „monde immonde“ (PP, 159) bestimmt ist) formuliert – als ein „immonde“, d.h. als eine „Widerwelt“. (EW, 45) In Beziehung zu einem genuinen monde kann der Mensch Nancy zufolge erst dann treten, wenn die rein ökonomische „Wertproduktion“ (EW, 45) von einer „Sinnschöpfung“ (ebd.) abgelöst werde, die der Form desjenigen „Kommunismus“44 gehorche, den Nancy früher schon als einen „literarischen“ (UG, 59) bezeichnet hat. Dass sich diese Definition allerdings nicht als eine Entscheidung für die politische Linke versteht, zeigt sich, wenn Nancy dem „kommunistischen Kapitalismus“ (UG, 158) des Ostens den „kapitalistischen Kommunismus“ (ebd.) des Westens entgegensetzt. Auch die für den Übergang von Wert zu Sinn, von Wider- oder Unwelt zu Welt entscheidende Verschränkung von Sinn und Welt stellt Nancys Konzept der Mondialisierung in den Kontext früherer Arbeiten, vor allem der Monographie über den „Sinn der Welt“.45 Le sens du monde sowie Die undarstellbare Gemeinschaft 42 Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, 43 Bde., Berlin (Ost) 1973, Bd. 3, S. 37. 43 Zum monopolisierten Erdball siehe ebd., Bd. 25, S. 824. 44 Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, übers. v. Gisela Febel u. Jutta Legueil, Stuttgart 1988, S. 59. Fortan werden Zitate aus Die undarstellbare Gemeinschaft im laufenden Text mit der Sigle UG sowie den Seitenzahlen nachgewiesen. 45 Siehe Jean-Luc Nancy, Le sens du monde, Paris 1993. [Übersetzungen: ma.]
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(darin führt Nancy seinen ‚literarischen Kommunismus‘ ein) wiederum verweisen in ihrem Sprachgebrauch auf eine noch frühere Schrift über den Partage des voix zurück, den Text also, in dem Heideggers Gespräch von der Sprache eine Schlüsselrolle spielt.46 So wird der neuartige Begriff der Literatur, der in Die undarstellbare Gemeinschaft eingeführt wird, im ausdrücklichen Rückgang auf den partage des voix definiert: „Diese Verknüpfung der Rede, der Dialog also, oder vielmehr die Teilung der Stimmen [...] ist ‚die Literatur‘, in dem Sinn wie ich es hier mitzuteilen versuche“. (UG, 161) Man kann vielleicht sogar so weit gehen, festzuhalten, dass Nancys Texte immer wieder die Linie, an der sich dieser partage (was Teilung, ZerTeilung und Mit-Teilung zugleich bedeuten soll) vollzieht, nicht nur zu thematisieren, sondern auch noch selbst zu vollziehen suchen, um – wie es im Abschnitt über den „literarischen Kommunismus“ programmatisch formuliert wird – eine „Erfahrung“ (UG, 59) dieser Grenzlinie beim Leser hervorzurufen. Was nämlich einer Gemeinschaft des literarischen Kommunismus „gemeinsam“ (UG, 156) ist, kann „einzig die Grenze“ (ebd.) sein; „und die Grenze ist kein Ort, sondern die MitTeilung der Orte, ihre Streuung im Raum“. (Ebd.) Damit werden die Linien, die zugleich trennen und vereinen, zu einem komplexen Netz verflochten: „was sie sind, sind sie in dem Maße, in dem sie miteinander verknüpft sind, als ihre Verteilung und Mit-Teilung entlang von Kraftlinien, Spaltungs-, Krümmungs- und Zufallslinien, etc. erfolgt, deren Netz ihr Gemeinsam-Sein ausmacht.“ (UG, 159) In dem späteren Text Le sens du monde fasst Nancy dieses Netzwerk von sich im Raum verteilenden und aufteilenden Orten unter dem Begriff einer Welt, deren ‚Sinn‘ und ‚Richtung‘ (sens bedeutet beides) radikal offen bleiben und so auch nicht totalisierbar sind. Einer solchen Totalisierung entgleite der sens du monde dadurch, dass sich alle, die an den Prozessen der Sinn- und Welt-Erschaffung beteiligt sind, gegenseitig ausgeliefert seien. Dadurch sehe sich der Mensch einer uneinholbaren Transzendenz exponiert, die ein Ganzes nur in einem unabschließbaren Netzwerk reziproker Beziehungen erlaube. Auch diese Vorstellung findet sich bereits in Die undarstellbare Gemeinschaft: „[D]ieses Ganze ist wesentlich die Öffnung der Singularitäten in ihren Verknüpfungen, die Bahnung und das Pulsieren ihrer Grenzen.“ (UG, 160) Nancys Transzendenz-Modell verweist auf Heideggers Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik?, in der es um das ‚Nichts‘ geht, in das der Mensch nur deshalb zu transzendieren vermag, weil sein Dasein immer schon durch eine „Hineingehaltenheit ins Nichts“ ausgezeichnet sei.47 Diese Vorlesung spielt auch in Heideggers Jünger-Kritik, wie sie in Über „die Linie“ vorgestellt wird, eine ausschlaggebende Rolle. Weil die Vorstellung der Transzendenz für Nancy bis zum Konzept der Welt-Erschaffung entscheidend bleibt, ist er auch hier, wie Robert
46 Vgl. hierzu vor allem Jean-Luc Nancy, Le partage des voix, Paris 1982, S. 46. 47 Martin Heidegger, Wegmarken, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1996, S. 118.
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Bernasconi im Allgemeinen festhält, derjenige französische Gegenwarts-Denker, der Heidegger am nächsten steht.48 Nancy geht indes noch weiter als Heidegger, wenn er die Erfahrung der Welt nicht bloß als Er-fahrung eines offenen Netzwerks von sinntragenden Bezügen fasst, die „aus der Ferne in die Ferne“49 weisen, sondern überdies auf den Netzwerkcharakter der Erfahrung und des Erfahrenden selbst abhebt. Dies überrascht bei Nancy nicht, dem es bekanntlich vor allem darum zu tun ist, das „Mitsein“50 des Daseins, das in Sein und Zeit marginalisiert werde, aufzuwerten. Die Dimension des inter-existenziellen Seins schlägt sich auch in Nancys Vorstellung der Welt nieder, die die für das planetarische Denken typische Struktur einer dezentralen Vernetzung aufweist. Der Sinn der Welt ist Nancy zufolge als Bezug gekennzeichnet, der alter und ego vorangeht. Das ‚in‘ von Heideggers „In-Sein ‚in der Welt‘“51 wird hier zu einem „à“52 (einem ‚zu‘), das den großen Anderen (A) der Lacan’schen „Intersubjektivität“53 in einen Bezug auflöst, der keinen Herren zulässt. Auf Lacan kommt Nancy in diesem Zusammenhang ausdrücklich – und zwar affirmativ – zu sprechen: „Das bedeutet nichts anderes als das, was Lacan sagt: ‚ein Subjekt zu sein ist etwas anderes als ein Blick vor einem anderen Blick zu sein […], es bedeutet seinen Platz im großen A zu haben, am Ort des Wortes‘“.54 (Damit radikalisiert Nancy die bei Lacan nachweisbare Verschiebung vom großen Anderen zum Objekt klein a.) In seiner Schrift über Globalisierung und Mondialisierung überträgt Nancy dieses Denken des Netzwerks und als Netzwerk auf den Erdball selbst. Ausgangspunkt seiner Globalisierungskritik ist nämlich die Feststellung, dass sie nicht zu einer homogenen Akkumulation, sondern zu einer „Agglomeration“ (EW, 14) geführt habe, die den früheren Globus-Charakter des Planeten zu einem Knäuel (lat. glomus) entstelle: Dieses Netz, das über den Planeten – und auch schon um diesen herum, im Orbit der Gemenge von Satelliten und ihrer Überreste – geworfen ist, verformt sowohl den orbis als auch die urbs. Die Agglomeration reibt und nagt an dem, was einmal als Globus gedacht wurde und nun nur noch seine Doublette ist, ein Glomus. (EW, 14)
48 Robert Bernasconi, „Heidegger und die Dekonstruktion. Strategien im Umgang mit der Metaphysik: Nancy, Lacoue-Labarthe und Irigaray“, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2003, S. 440-450, hier S. 445. 49 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 2001, S. 271. 50 Siehe hierzu etwa Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, übers. v. Ulrich Müller-Scholl, Berlin u. Zürich 2004. 51 Heidegger, Sein und Zeit, S. 53. 52 Nancy, Le sens du monde, S. 233. 53 Lacan betont nachdrücklich die „intersubjectivité“ menschlicher Kommunikation (und daher auch der psychoanalytischen Praxis), aufgrund derer überhaupt erst so etwas wie eine Zeitlichkeit des „futur antérieur“ möglich werde. Siehe hierzu Lacan, Écrits, S. 299-300. 54 Nancy, Le sens du monde, S. 179: „[C]ela ne dit rien que ce que dit Lacan: ‚être sujet, c’est autre chose que d’être un regard devant un autre regard […] c’est avoir sa place dans grand A, au lieu de la parole‘“. Nancy zitiert hier aus Jacques Lacan, Le seminaire 8, Le transfer, Paris 1991, S. 299.
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Statt einer Akkumulation gleichartiger Teile sieht Nancy ein satellitengestütztes Netzwerk ineinander verwirrter, heterogener Linien, die die Homogenität des Erdballs auflösen. Gerade weil sie zu einem solchen Knäuel wird, spricht Nancy die Erde nicht als Welt, sondern, wie gesagt, als einen immonde an. Mondialisation ist daher auch keine französischsprachige Übersetzung von Globalisierung. Als unabschließbarer Prozess einer Sinn-Schöpfung, die mit der Schöpfung der Welt zusammenfällt, handelt es sich vielmehr um ein veritables Gegenmodell zur globalen Marktökonomie. Vor allem im Hinblick auf die Auflösung der Stadt (lat. urbs), mit der sie einsetzt, (vgl. EW, 13) steht Nancys Studie offenbar unter dem Eindruck von Virilios Überlegungen zur „planetarischen Globalisierung“55, auch wenn der Name weder hier noch im restlichen Text fällt. Was indes immer wieder bemüht wird, ist Carl Schmitts Begriff des Ausnahmezustands. Die Bedeutung Schmitts beruht für Nancy offenbar darin, dass er am eindringlichsten auf die Auflösung der (national-)staatlichen Ordnung, die sich durch den Ausschluss des Ausnahmezustands definiert, hingewiesen hat, in deren Folge sich ein Herrschaftsvakuum entfaltet, in dem sich zwischen allgemein gültigem Recht und spezifischer Maßnahme nicht unterscheiden lässt. Wie zuvor bei Schmitt (aber auch bei Jünger), werden diese Auflösungserscheinungen erneut auf eine Entortung der Ordnung zurückgeführt, nur dass es sich nicht mehr um ein deterritorialisiertes Europa handelt, „dessen Oberfläche nunmehr planetarische Ausdehnung gewann“56, sondern um ein „Abendland“, das „sich über die ganze Welt verbreitet“ hat. (EW, 15) Gegen diese Auflösungserscheinungen hält Nancy am Begriff des Gesetzes fest, wobei Schmitt hier sicher den nur abstrakten und nicht räumlich konkretisierbaren Charakter dieses Gesetzes kritisiert hätte. Denn auch sein „höchstes Gesetz“ (EW, 147) definiert Nancy, indem er auf den grundlegenden partage zurückgreift. Das höchste Gesetz der Welt sowie der Welt-Erschaffung „liegt in ihr als die mannigfaltige und bewegliche Linienführung [le tracé] der Aufteilung, die sie ist.“ (EW, 147)57 In einer (auch von Benjamin und Agamben her vertrauten) paradoxen Denkfigur58 soll sich in diesem sich selbst setzenden Gesetz die Ausnahmesituation, die „dazu tendiert, sich über den ganzen Planeten auszubreiten“,59 grundlegend verwandeln. Entscheidend dafür ist bei Nancy im Gegensatz zu Agamben die Einsicht, dass sich die Selbstbegründung der Souveränität einer jeden personellen – sei es individuellen oder kollektiven – Verkörperung strukturell entzieht (vgl. EW, 148). Nancy vermutet deshalb sogar, dass die gegenwärtige Biopolitik weniger daher stammt, dass das Leben zum Gegenstand der Politik geworden sei. Vielmehr sei Virilio, Panische Stadt, S. 24. Jünger, Werke, Bd. 5, S. 147. Übersetzung leicht verändert, ma. Benjamin und Agamben unterscheiden zwischen einem virtuellen und einem wirklichen Ausnahmezustand, letzteren gelte es herbeizuführen. Siehe hierzu Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1972-1999, Bd. 1.2, S. 697, und Giorgio Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt a.M. 2002, S. 66. 59 Agamben, Homo sacer, S. 49.
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es das Postulat einer „Schicksalsfigur“ (EW, 118) wie dem Jünger’schen Arbeiter (aber wohl auch Agambens homo sacer), dessen normierende Kraft zu den BioTechniken hinzukommen müsse, um dem politischen Handeln Ziele vorzugeben. Gegen solche Figuren einer – mit Heidegger gesprochen – onto-typologischen „Reszendenz“60 opponiert Nancy, indem er auf eine „Fluchtlinie oder unendliche[ ] Perspektive“ (EW, 141) hinweist, die dem Versuch, Souveränität zu lokalisieren oder zu ‚hegen‘, entgleitet. Wenn Nancy betont, dass sein Gesetz „die Konturen der Souveränität um einen Hohlraum zeichnet“ (EW, 141), versucht er offenbar – wie vor ihm Heidegger, der den „Streit“61 zum Prinzip der Gestalt erhebt – das Modell der (Prä-)Figuration von innen heraus zu sprengen. Diese Parallele zu Heidegger ist kein Zufall, verweist Nancy doch in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf den Heidegger’schen Begriff des Daseins, in dem sich die „ontologische[ ] Differenz“ (EW, 135) von Sein und Seiendem in einer solchen Weise aufhebt, dass keine seiende Gestalt sich das Sein zu eigen machen könne: „Aber diese Differenz annulliert sich, indem sie sich unendlich zuspitzt.“ (EW, 135) Weder eine politische noch eine philosophische oder künstlerische Avantgarde vermöge diese Spitze einzunehmen. Dem Verdikt der Vereinnahmung einer sich entziehenden inner-weltlichen und irdischen (und somit gleichsam planetarischen) Transzendenz verfällt eine jede „neue Gestalt (ganz gleich, ob ungestaltet, anonym oder identitätsberaubt)“ (EW, 121). ‚Mondialisation‘ bedeutet das Planetarisch-Werden des Sinns der Welt. Denn die „Fluchtlinie“ (EW, 168) reduziert alle Figuren auf eine „Linienführung [un tracé]“ (ebd.)62 des Sinns bzw. der Richtung. Interessanterweise spielt Jünger, der ansonsten bei Nancy nicht gerade prominent ist, just in der Monographie, die sich dem ‚Sinn‘ und der ‚Richtung‘ der Welt zuwendet, eine entscheidende, wenn auch nur halb eingestandene, Rolle. Gleich im ersten Abschnitt von Le sens du monde wird Jünger in einer Fußnote exemplarisch erwähnt, um an ihm zu veranschaulichen, dass der Sinn der Welt (als irrender Sinn) neu zu bestimmen bleibt.63 Was diese Inanspruchnahme Jüngers motiviert, zeigt sich im Kapitel über Arbeit, wo nicht nur Der Arbeiter als eine „eine neue Welt ankündigende Figur“64 erwähnt wird, sondern hinter der Arbeit unmittelbar der Schmerz („la peine“65) auftritt. Da aber angeblich weder Jünger noch Heidegger den Schmerz als solchen (und nicht als Mittel zu einem Zweck) in den Blick bekommen haben, fordert Nancy an dieser Stelle sogar – in unmissverständlich Heidegger’scher Terminologie – eine „Existenzialanalytik des Schmerzes“66, die ihn 60 Martin Heidegger, Wegmarken, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1996, S. 398. 61 Martin Heidegger, Holzwege, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1994, S. 36. 62 Übersetzung verändert, ma. 63 Nancy, Le sens du monde, S. 13. 64 Ebd., S. 155. 65 Ebd. 66 Ebd., S. 156.
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weder einer redemptorischen noch einer tragischen Dialektik einverleibt. Bevor er allerdings den Schmerz als „Archi-Transzendental“67 einsetzen kann, muss Nancy erneut Jünger bemühen, der dann doch als Gewährsmann eines nicht-dialektischen Schmerz-Begriffs auftritt.68 Mit Jüngers Vorstellung von Arbeit und Schmerz bricht Nancy also offenbar erst an der Linie selbst, wo er, statt ihr eine Figur zu geben (sei es eine Jünger’sche Gestalt, ein Schmitt’scher Feind oder ein Agamben’ scher homo sacer), alle Figuren in Linien aufzulösen sucht. So kann das, was Nancy einmal in Bezug auf Batailles Souveränitätsbegriff schreibt, auch für sein eigenes Projekt Geltung beanspruchen: „Es ging einzig darum, eine Grenze abzuschreiten, die unsere eigene ist, seine, meine, die unserer Zeit und unserer Gemeinschaft.“ (UG, 58) Der Unterschied zu Jünger wird aber vor allem an der Poetologie von Nancys Texten deutlich, die Jüngers Strategien gleichsam umkehrt: Wo dieser die performative Macht von Aussagen entbinden will, sieht Nancy im Gegenteil, dass er immer nur „Wörter aufbieten“ (UG, 58) kann, „um die Grenzen unseres Denkens immer wieder aufzubrechen“, (ebd.) wie es im unmittelbaren Anschluss an seine soeben zitierte Charakterisierung von Batailles Denken heißt. Während also Jünger Konstativa in einen performativen Zusammenhang einfügt, bettet Nancy Performativa in einen nur konstativen Zusammenhang. Über diesen Charakter seines Schreibens spricht sich Nancy am deutlichsten in einer Schrift aus, die den kategorischen Imperativ nicht nur thematisiert, sondern gleich einen neuen Begriff des kategorischen Imperativs profilieren soll: „[E]r ist kein Präskriptiv, sondern ein Konstativ, würde der Linguist sagen. Gleichwohl würde sich das Konstativ hier als Präskriptiv zu verstehen geben.“69 Schon in der 1992 erschienenen Schrift will Nancy einer „Forderung der Welt“70 genügen, wenn er ihr in einem Imperativ Gehör verschafft, der sich dem Einzelnen und dem Kollektiv ebenso entzieht wie später die Linien und Figuren. Damit lässt sich Nancys impératif catégorique du monde als Umkehrung von Jüngers kategorischem Imperativ des abenteuerlichen Herzens verstehen. Denn auch wenn es Nancy um ein „Überschreiten des Theoretischen“, das „uns zu einer anderen Praxis des Diskurses und der Gemeinschaft verpflichten würde“, (UG, 58) zu tun ist, sind seine Texte (zumindest ihrem Selbstverständnis nach) ihren Lesern radikal ausgeliefert, womit sie immer nur auf die „gefährdete Grenze einer Ellipse oder die Suspendierung eines Du“71 weisen können. Die Forderung der ‚Welt‘ und der ‚Welt-Erschaffung‘ äußert sich in einem
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Ebd., S. 226. Vgl. ebd., S. 219. Nancy, L’Impératif catégorique, Paris 1992, S. 151. [Übersetzungen: ma.] Ebd., S. 7: „,L’impératif catégorique‘: y aurait-il là quelque chose à quoi nous ne pourrions plus nous soustraire? Y aurait-il là [....] une obligation pour notre pensée? Une obligation indissociable de ce qui nous oblige le plus instamment à penser, et qui [serait], disons-le si possible avec sobriété, une exigence du monde?“ 71 Ebd., S. 151.
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immer schon toten und verlassenen „Text“, dem Nancy sein Epitaph gleich miteinschreibt: „Hier ruht sein verlassener Buchstabe“.72
4. Gayatri Spivaks Planetarische Literaturwissenschaft Ebenfalls „von Imperativen leiten lassen“73 will sich Gayatri Spivak; und nunmehr sollen es wieder planetarische Imperative sein, „die uns alle strukturieren, als Geber und Nehmer, weiblich und männlich, als planetarische Menschen“.74 Ihr sich an solchen Imperativen ausrichtendes „Planetendenken“75, das sich – wie Schmitts planetarisches Denken zuvor gegen das Globale – gegen die Globalisierung wendet, stellt Spivak erstmals in einem Vortrag von 1997 vor. 2003, ein Jahr nach Erscheinen von Nancys Mondialisations-Studie und inzwischen fast 40 Jahre nach Kostas Axelos’ allure de s’en aller, entfaltet sie ihre Vorstellungen in einer ausführlicheren Studie, die nun sogar die Neu-Gründung der Literaturwissenschaft unter der Maßgabe der zuvor formulierten planetarischen Imperative propagiert. Hier werden auch die für die vorliegende Arbeit so zentralen Formalisierungen der Zeit des Planetarischen als eines Futur II und der Strategie eines diesem Planetarischen gemäßen Lesens und Schreibens als Teleopoiesis erstmals vorgestellt. Was von Jünger bis Axelos Kennzeichen eines bestimmten Denkens bleibt, wird dabei allerdings zum Signum von Literatur überhaupt. Aufgrund ihrer präfigurativen Potentiale stellt Literatur für Spivak das Paradigma der „irreduziblen Figur“76 dar, weil sie dadurch „Bedeutung“ (ebd.) hat, dass sie „das leere offene Ende dessen, was immer im Kommen [to come] bleibt“ (DoD, 48), in sich trägt. Diese nie völlig entschlüsselbare Bedeutung wird dabei explizit für immer neue Lektüren freigegeben, so dass Schriftsteller und Leser (wie auch Lehrer und Schüler) zu gleichberechtigten Partnern werden, die bei der „multiplen“ Konstitution der „nicht nachweisbaren Wahrheit des Textes“ (DoD, 42) mitwirken. Spivaks Vorstellung einer ‚im Kommen‘ bleibenden, immer nur präfigurativen Bedeutung literarischer Texte verweist über Axelos’ à-venir auf Jüngers typologische Lektüre zurück, die sich von der mittelalterlichen Fixierung auf eine transzendente Perspektive gelöst hatte.77 Ähnlich wie Jünger hat Spivak einen starken Figurenund Figurationsbegriff, so dass es der von ihr vorgeschlagenen Lektürepraxis nachgerade um „die Emergenz der Figuration einer unentscheidbaren planetarischen 72 Ebd., S. 152. 73 Gayatri Chakravorty Spivak, Imperative zur Neuerfindung des Planeten. Imperatives to Re-Imagine the Planet, hg. v. Willi Goetschel, Wien 1999, S. 89. 74 Ebd. 75 Ebd., S. 47. 76 Gayatri Chakravorty Spivak, Death of a Discipline, New York 2002, S. 49. Death of a Discipline wird fortan unter Angabe der Sigle DoD und der Seitenzahlen im laufenden Text zitiert. [Übersetzungen: ma.] 77 Auf den Bezug Spivaks zu Jünger wurde bereits kurz hingewiesen in Emily Apter, The Translation Zone. A New Comparative Literature, Princeton 2006, S. 92.
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Alterität“ (DoD, 81) geht. Den Emergenz-Begriff, der hier vorgestellt wird, führt Spivak zwar auf Raymond Williams zurück;78 dass sie ihn jedoch mit der Figuration zusammenbringt, weicht entschieden von Williams ab, der Typus und Typologie als Interpretationskategorien gerade ablehnt.79 Aber nur die typologische Lektüre erlaubt es Spivak, davon auszugehen, dass die „open-ended structure“ (DoD, 33) von Literatur von sich aus in das übergehen könnte, was hier „open-plan fieldwork“ (DoD, 35) heißt. Insbesondere darin, dass diese Arbeit ihre Ziele selbst hervorbringen und immer revidieren muss, entspricht Spivaks Sprung von der Lektüre zur Aktion der ebenso vorläufig wie rein formal definierten „Arbeit [des] Künftigen“80, der sich Jünger weihen wollte. Anders als Jünger jedoch bringt Spivak nun den literaturwissenschaftlichen Unterricht selbst an der vordersten Front in Stellung, an der planetarische „collectivities“ (DoD, 72) gegen die vereinheitlichenden Tendenzen der Globalisierung kämpfen. Gerade im Klassenzimmer sollen Möglichkeiten einer Grenzerfahrung bestehen, die die Offenheit von Bedeutung und Deutung für eine gänzlich andersartige Politik fruchtbar werden lassen: „Ich plädiere nicht für eine Politisierung des Fachs. Ich plädiere für eine Entpolitisierung der Politik der Feindschaft im Hinblick auf eine kommende [to come] Politik der Freundschaft“, (DoD, 13) wie Spivak, Derridas Begriff von Politik81 aufnehmend, betont. Eingeübt werden könne eine solche Politik insbesondere in den Literaturwissenschaften, in denen Spivak „interpreter[s]“ (DoD, 38) ausbilden will, die sich dann an den Brandherden internationaler Konflikte ansiedeln, um vor Ort in das „geheimnisvolle Dickicht von Sprachen, Dialekten und Idiomen einzutreten“ (DoD, 39). Diese interpreters (das englische Wort heißt sowohl ‚Dolmetscher‘ als auch ‚Interpret‘) sollen das Andere und die Anderen vor den nivellierenden Generalisierungstendenzen der Globalisierung schützen und ihnen eine Stimme verleihen. Formativ seien hierfür die Grenzerfahrungen eines Unterrichts, der ihnen zeigt, wie sich Sprachen stets „aktiv spalten“ (DoD, 20). Diese (inner-)sprachliche Differenz wird in der Folge zum Modell soziokultureller, anthropologischer und gender-Differenzen erhoben, die der „notwendige Marsch der Generalisierung“ (DoD, 52), den die Globalisierung vorantreibe, nicht wahrnehmen könne. So gelte es, diesen Marsch im Moment seiner „Grenzüberschreitung [crossing of borders]“ (DoD, 52) an- und aufzuhalten. Obwohl Spivak den Meridian selbst nicht ausdrücklich thematisiert, steht ihr Beharren auf den Schrankencharakter von Grenzlinien unter dem Eindruck dieser quintessentiell nihilistischen Linie, die alle Grenzen aufhebt. Denn auch Spivak kritisiert die Auflösung politisch bedeutsamer Einteilungen in ein technisches Netzwerk, das 78 Für diesen Emergenz-Begriff siehe Raymond Williams, Marxism and Literature, Oxford 1977, S. 124-127. 79 Siehe ebd., S. 102-103. 80 Jünger, Werke, Bd. 7, S. 106. 81 Die Gegenüberstellung von Freundschaft und Feindschaft verweist auf Derridas Kritik an Carl Schmitt, für den der Grundbegriff des Politischen in der Entscheidung darüber, wer Feind ist, besteht. Dagegen macht sich schon Derrida für eine Politik der Freundschaft stark. Siehe hierzu Jacques Derrida, Politik der Freundschaft, übers. v. Stefan Lorenzer, Frankfurt a.M. 2000.
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sich im Computer und im Internet realisiere: „Im Raster [gridwork] des elektronischen Kapitals erreichen wir den abstrakten Ball, der von Längen- und Breitengraden bedeckt, von virtuellen Linien geschnitten wird“. (DoD, 72) Gegen dieses ‚gridwork‘ soll ein ‚open-plan fieldwork‘ ausgespielt werden. In den Dienst dieser Arbeit stellt selbst Spivak noch die Tradition Europas, und zwar, weil die europäische Literatur für eine Erfahrung der innersprachlichen Grenze, die Sprache auf ihr Anderes hin öffne, prädestiniert sei: „‚europäische‘ Texte“ zeichneten sich nämlich durch „eine innere Unentscheidbarkeit“ aus, die die Differenzen „zwischen Europa und seinem Anderen, zwischen den Geschlechtern und zwischen dem Menschen und seinem Anderen“ suspendiere. (DoD, 26) So wird Spivak ihre Vorstellung des Planetarischen vornehmlich im Ausgang von kolonialistisch geprägten Texten wie Conrads Heart of Darkness entwickeln, allerdings folgt sie dabei der Strategie eines „copy and paste“ (DoD, 33), die es erlaubt, bestimmte Figurationen, die sich innerhalb der Texte zeigen, in andere Kontexte zu überführen. Diese Strategie wendet Spivak im Übrigen auch auf ihre eigenen Texte an, um auch ihnen immer neue Bedeutungen abzugewinnen. Damit Spivaks Lektüren gleichwohl nicht den ‚Imperialismus‘ der von ihr gelesenen Texte perpetuieren, muss die darin vorbereitete und daraus hervorgehende Arbeit des Kollektivs nicht nur unabsehbar und unabgeschlossen bleiben, sondern darf notwendig auch niemals „erfolgreich“ (DoD, 52) sein. Dies sieht Spivak dadurch gewährleistet, dass sich die planetarischen Kollektive von der „logofratrozentrischen Vorstellung der Kollektivität“ (DoD, 47) freimachen können, die – auch diesen Gedanken übernimmt sie von Derridas Politik der Freundschaft – die bisherige Politik bestimmt habe. Um dem planetarischen Anspruch treu zu bleiben, müssten die interpreterKollektive die Logofratrozentrik immer und immer wieder überwinden, denn nur so käme die radikale „Alterität“ (DoD, 72) nicht nur der Frauen, sondern auch des Planeten zum Tragen. Die Teleopoiesis, die, wie oben gezeigt worden ist, die Debatte um eine planetarische Linientreue von Anfang an bestimmt hat, will Spivak nun auch institutionell verankern und verwandelt dafür Derridas „Philosophem in eine disziplinäre Allegorie“ (DoD, 31). Gegen die heutige (vor allem amerikanische) Komparatistik (comparative literature), die laut Spivak nur noch „Weltliteratur in Übersetzung“ (DoD, 73) liest, mobilisiert Spivak die Vielsprachigkeit, durch die sich die Gründungsgeneration der amerikanischen Komparatistik auszeichnete. Nur diesen Aspekt nimmt sie sich – gleichsam in einer ‚copy and paste‘-Geste – heraus, denn zugleich wendet sie sich gegen die eurozentrische Ausrichtung der Gründerväter der comparative literature. Historisch sind sowohl die Polyglossie als auch die fast exklusiv europäische Ausrichtung der amerikanischen Komparatistik darauf zurückzuführen, dass sie von europäischen emigrés wie René Wellek und Henry Remak gegründet wurde. Um deren Polyglossie auch auf nichteuropäische Sprachen und Regionen auszuweiten (siehe DoD, 10-11), macht sich Spivak für eine Verbindung der Literaturwissenschaft mit den Regionalwissenschaften (area studies) stark. Dieser Entwurf steht insofern deutlich in der Tradition der Rede vom Planetarischen, als auch er sich nicht nur gegen eurozentrische Vorstellungen, sondern
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zugleich gegen eine Orientierung am Modell des (National-)Staates wendet. Denn die Dialektik mit den Regionalwissenschaften soll diese im Gegenzug von ihrer bisherigen Orientierung an staatlichen Interessen befreien. Die Gründung der area studies-Institute geht nämlich auf eine Initiative der US-Regierung zurück, die die Erforschung der Regionen der Erde in interdisziplinären Instituten bündeln wollte, um damit im Konfliktfall auf ein vielschichtig vernetztes Expertenwissen zurückgreifen zu können. (Siehe hierzu DoD, 1-23) Im hybriden Verbund mit den interund sogar transnationalen Literaturwissenschaften könnten, so Spivaks Überzeugung, multidisziplinäre Kollektive geschaffen werden, die mit dem Staat und dem Eurozentrismus schließlich – und das entspricht den Vorstellungen eines Carl Schmitt – auch die Konzeption der Erde als eines Globus überwinden würden. Am (vorläufigen) Ende der Geschichte des Planetarischen steht somit der Versuch, das planetarische Denken, Lesen und Schreiben in einem neuen Forschungsund Aktionsprogramm zu institutionalisieren. Ob sich der Planet diesem Entwurf fügen wird, steht allerdings ganz wörtlich in den (Irr-)Sternen. Denn auch Spivak betont, dass der Planet „weder wohnen noch begraben werden“ (DoD, 80) könne. Seine Irrfahrt wird also wohl weitergehen.
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