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German Pages 294 [298] Year 2018
Die USPD zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus 1917–1922 Neue Wege zu Frieden, Demokratie und Sozialismus?
Herausgegeben von Andreas Braune, Mario Hesselbarth und Stefan Müller Weimarer Schriften zur republik
Franz Steiner Verlag
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Die USPD zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus 1917–1922 Herausgegeben von Andreas Braune, Mario Hesselbarth und Stefan Müller
weimarer schriften zur republik Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune
Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ursula Büttner Prof. Dr. Alexander Gallus Prof. Dr. Kathrin Groh Prof. Dr. Christoph Gusy Prof. Dr. Marcus Llanque Prof. Dr. Walter Mühlhausen
Band 3
Die USPD zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus 1917–1922 Neue Wege zu Frieden, Demokratie und Sozialismus?
Herausgegeben von Andreas Braune, Mario Hesselbarth und Stefan Müller
Franz Steiner Verlag
Der Druck wurde unterstützt aus Mitteln der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Umschlagabbildung: Frauendemonstration für die USPD und Luise Zietz, Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung 1919 Friedrich-Ebert-Stiftung, Archiv der sozialen Demokratie, Bild Nr. 6/FOTB011628
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-515-12142-2 (Print) ISBN 978-3-515-12148-4 (E-Book)
INHALT Vorwort & Danksagung ......................................................................................... IX Stefan Müller, Andreas Braune, Mario Hesselbarth Die USPD – Eine Herausforderung .................................................................... XIII DIE USPD: STOLPERSTEIN DER DEUTSCHEN DEMOKRATIEGESCHICHTE? Hartfrid Krause Die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung und die Gründung der USPD 1917 .......................................................................... 3 Wolfgang Kruse Integration versus Opposition. Fünf Thesen zur Spaltung der deutschen Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg ........................................... 25 DIE SPALTUNG DER SOZIALDEMOKRATIE IM SPANNUNGSFELD VON KRIEG UND FRIEDEN Thilo Scholle Das Gebot der Stunde. Die USPD und der Frieden ............................................... 45 Walter Mühlhausen Die Erosion des Burgfriedens. Die Spaltung der Sozialdemokratie und der Versuch eines parlamentarischen Verständigungsfriedens ......................................................................................... 63 Max Bloch Die Burgfriedenspolitik der SPD. Wegmarke der parlamentarischen Demokratie? .................................................... 81 Marcel Bois Zwischen Burgfrieden, Repression und Massenstreik. Zum Einfluss der Spartakusgruppe auf die Friedensbewegung während des Ersten Weltkrieges................................. 91
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Inhalt
Stefan Bollinger Staatstragend, revolutionär oder ein dritter Weg? Deutsche Linke im Ersten Weltkrieg zwischen Anpassung und konsequenter Kriegsgegnerschaft ................................................................. 107
REVOLUTION ODER REFORM? DIE USPD ZWISCHEN PARLAMENTARISMUS UND RÄTEMODELL Bernd Braun „Der Geburtstag der deutschen Demokratie“. Die Regierung Max von Baden als Ausgangs- oder Endpunkt sozialdemokratischer Systemziele? ..................... 119 Mike Schmeitzner Auf demokratischem Weg? Karl Kautsky und die Diktatur des Proletariats ...... 135 Axel Weipert Die USPD-Linke 1919/20. Reines Rätesystem und Generalstreik in der ‚zweiten Revolution‘ .................... 157 Mario Hesselbarth Zur Geschichte der USPD in Thüringen .............................................................. 173 Reiner Tosstorff Zwischen parlamentarischer Demokratie und bolschewistischer Revolution. Das Ende der USPD als Massenpartei ................................................................. 193 Autoren ................................................................................................................ 211
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DER USPD Quelle 1 Protestschreiben oppositioneller Sozialdemokraten an den Vorstand der SPD und den Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gegen die Burgfriedenspolitik, Juni 1915 ............................. 213 Quelle 2 Das Gebot der Stunde, Juni 1915......................................................................... 216
Inhalt
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Quelle 3 Erklärung der Ablehnung der Kriegskredite durch 20 Abgeordnete der SPD (durch Friedrich Geyer im Reichstag, 21. Dezember 1915) ................................ 219 Quelle 4 Anti-Kriegs-Rede Hugo Haases im Reichstag, 24. März 1916 ........................... 221 Quelle 5 Friedensmanifest, verfaßt von Karl Kautsky, angenommen auf der Reichskonferenz der Opposition, Januar 1917 ................. 227 Quelle 6 Die von Genossen Borchardt im Auftrag der Gruppe Internationale Sozialisten Deutschlands eingebrachte Resolution auf der Reichskonferenz der Opposition, Januar 1917 (gegen 7 Stimmen abgelehnt) ................................ 229 Quelle 7 Einladungsschreiben zur Oppositionskonferenz in Gotha, März 1917 ............... 230 Quelle 8 Auszüge aus dem „Gothaer Manifest“ vom April 1917 ...................................... 231 Quelle 9 Aufruf der USPD-Parteileitung „An das werktätige Volk Deutschlands“ vom 5. Oktober 1918 .......................... 234 Quelle 10 Programmatische Kundgebung der USPD. Beschlossen vom Parteitag der USPD Anfang März 1919.................................. 237 Quelle 11 Richtlinien der USPD für den Aufbau des Rätesystems, vorgelegt auf dem 2. Reichsrätekongreß vom 8. bis 14. April 1919 in Berlin .................... 239 Quelle 12 Aktionsprogramm der USPD. Beschlossen vom Parteitag der USPD Dezember 1919....................................... 240 Quelle 13 Aufruf des Zentralkomitees der USPD vom 14. März 1920 an das arbeitende Volk für die Fortsetzung des Generalstreiks zur Niederringung der Militärdiktatur ................................................................. 243
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Inhalt
Quelle 14 Erklärung des Zentralkomitees der USPD vom 24. März 1920 zu den Aufgaben einer Arbeiterregierung ........................................................... 244 Quelle 15 Leitsätze über die Bedingungen der Aufnahme in die Kommunistische Internationale [vom 6. August 1920] ....................................... 245 Quelle 16 Aufruf an die Mitglieder der USPD [Aufruf der USPD-Linken vom Oktober 1920] ................................................... 251 Quelle 17 Manifest der Unabhängigen Sozialdemokratie an das deutsche Proletariat [Manifest der USPD-Rechten vom Oktober 1920].............................................. 253 Quelle 18 Manifest des Parteitages der USPD vom 8. bis 12. Januar 1922 in Leipzig an das deutsche Proletariat ..................... 257
VORWORT & DANKSAGUNG Mit diesem Band legen wir die Beiträge eines wissenschaftlichen Kolloquiums vor, das am 6. April 2017 in Gotha anlässlich des 100. Jahrestages der Gründung der USPD stattgefunden hat. Auf Initiative des Weimarer Republik e.V. luden das Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung und das Landesbüro Thüringen der Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam mit der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena nach Gotha ein, um über die Umstände der folgenreichen Spaltung der deutschen Sozialdemokratie im Weltkrieg und ihre Folgen für die Novemberrevolution und die junge Weimarer Republik zu diskutieren. Neben einer Bestandsaufnahme der wissenschaftlichen Forschung zur USPD und ihrer Verortung im linken Parteienspektrum während der deutschen Revolutionsepoche 1916–23 verfolgte das Kolloquium auch das Ziel, auszuloten, in welchem Zustand sich die Deutungskämpfe um die damit verbundenen Ereignisse, Personen und Politiken nach einhundert Jahren befinden. Schließlich waren sie nahezu das gesamte 20. Jahrhundert konstitutiv für gegensätzliche Geschichtsbilder und Gesellschaftskonzeptionen und wurden in teils unerbittlicher Härte geführt. Die Spaltung der Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg bildete den Ausgangspunkt für die Gegnerschaft, ja Feindschaft zwischen SPD und KPD, deren zentrale Topoi auch die divergierenden Geschichtsbilder während des Kalten Krieges prägten. Eine genauere Betrachtung der USPD als eigenständiger Organisation kam dabei allzu leicht zu kurz. Hier eröffnen sich fast 30 Jahre nach dem Ende der Systemkonfrontation neue Möglichkeiten, unbefangener und befreit von teleologischen Narrativen auf das Zeitfenster zwischen dem dritten Kriegsjahr und der relativen Konsolidierung der Weimarer Republik zu schauen. Es ist bezeichnend, dass die USPD exakt während jener Zeit des Umbruches als relevante Partei existierte. Nach ihrer Gründung 1917 bestimmte sie die politische Entwicklung Deutschlands bis 1922 entscheidend mit, verlor aber in dem Moment ihre politische Funktion, als ihre beiden programmatischen Daseinsberechtigungen ihre Relevanz verloren hatten. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges war zunächst der zentrale Anlass, der zur Gründung der USPD geführt hatte, hinfällig geworden. Während der Novemberrevolution wurde die USPD aber sofort mit ihrer sozialdemokratischen Schwesterpartei in den Strudel der revolutionären Ereignisse gezogen, in deren weiteren Verlauf sie im Unterschied zur MSPD die Rolle einnahm, die Revolution im Sinne des Rätegedankens und rascher Sozialisierungen voranzutreiben. Infolge der Einhegung und Konstitutionalisierung der Revolution durch die MSPD und später durch die Weimarer Koalition waren die Wege, die sich die USPD für Staat und Gesellschaft vorgestellt hatte, mehr und mehr verbaut, weshalb sich die Partei in unterschiedlichem Maße radikalisierte. Unterdessen hatte sich 1918/19 die KPD gegründet, die sich nun als radikale und konsequente System-
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opposition anbot. Es waren dann die Kommunistische Internationale und insbesondere Lenin, die mit ihrer Politik eines tertium non datur und den hieraus resultierenden Aufnahmebedingungen in die Komintern die neuerliche Spaltung der USPD erzwangen, deren beide Flügel sich dann der KPD und SPD anschlossen. Diese standen sich nun als feindliche Geschwister gegenüber und ließen keinen Raum für alternative Bewegungen ‚zwischen den Stühlen‘, selbst wenn es diesen Raum zwischen einer auf institutionelle Stabilität zielenden SPD und einer zunehmend stalinistischen KPD durchaus gegeben hätte. Trotzdem oder gerade deshalb ist der Blick auf die USPD gerade in dieser kurzen, aber umso ereignisreicheren Phase von Gewinn. Denn er schützt vor teleologischen, binären oder simplifizierenden Sichtweisen und illustriert, wie offen der Zukunftshorizont für die Akteure in jedem Moment dieser turbulenten Jahre war. Dabei wird auch deutlich, dass gerade in Revolutionen – wie bei allem politischen Handeln – die Ergebnisse keineswegs determiniert, sondern das Resultat politischer Kämpfe und Entscheidungen sind, und dass dies- und jenseits des tatsächlich eingeschlagenen Weges verschüttete, ausgeschlagene, abgebrochene Alternativen liegen. Die früher heftigen politischen Auseinandersetzungen und historiografischen Kämpfe über die Geschichte der Arbeiterbewegung finden wir heute nicht mehr vor. Auch auf dem Kolloquium spielten die alten Deutungskämpfe keine zentrale Rolle. Die Gründe hierfür sind vielfältig und wären eine eigene Veranstaltung wert. Zu nennen sind sicherlich das Ende des Blockkonfliktes 1989/91 und die damit einhergegangenen Veränderungen der linken und progressiven Parteien (eine Entwicklung, die schon in den 1970er-Jahren einsetzte, wenn man die Umweltbewegung und den Eurokommunismus hinzurechnet). Eine mindestens genauso große, wenn nicht gar gewichtigere Rolle spielt die Tatsache, dass die ‚alte‘ Arbeiterbewegung, aber auch die ‚alte‘ Arbeiterklasse von ihrer politischen, ökonomischen und soziostrukturellen Zusammensetzung her nicht mehr existiert. Politische Zäsuren – und hierzu zählen sowohl der Nationalsozialismus mit seiner Zerschlagung der politischen Organisationen, als auch die beiden deutschen Staaten mit ihren jeweils spezifischen Wirkungen –, ökonomische Strukturveränderungen und kultureller Wandel haben die Sozialstruktur der Gesellschaft und die politischen Bewegungen und Parteien zu stark verändert. Es wäre aber auch zu viel behauptet, würde man sagen, dass die Deutungskämpfe überwunden sind oder gar in einem Konsens aufgelöst wären. Das wird der Leserin und dem Leser mit Blick auf die Beiträge dieses Bandes schnell klar werden. Deutlich wurde aber auch, dass die Gesprächsbereitschaft und Akzeptanz der Ansichten und Positionen des Anderen vorhanden sind, wodurch sich in der Gesamtschau ein perspektivenreiches Bild des multiplen Spaltungsprozesses der Sozialdemokratie zwischen 1916 und 1923 ergibt. Unterstützt wurde diese sehr konstruktive Atmosphäre vielleicht auch vom genius loci: Das ‚Volkshaus zum Mohren‘, in dem sich die Gründer der USPD 1917 versammelt hatten, existiert heute in Gotha nicht mehr. Die Veranstalter wählten daher das Gothaer Tivoli als Tagungsort, das bekanntlich stärker für die Einheit der Sozialdemokratie steht. Unser erster Dank geht daher an Jörg Bischoff und das Team des Fördervereins Gothaer Tivoli e. V., die uns in den historischen Räumlichkeiten
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der Vereinigung von 1875 willkommen geheißen haben. Ferner geht ein Dank an den Oberbürgermeister Gothas, Knut Kreuch, dessen kaum ausschlagbarem Auftrag zur Dokumentation des Kolloquiums wir mit der Vorlage dieses Bandes nachkommen. Gedankt sei dem Weimarer Republik e.V. unter Vorsitz von Prof. Dr. Michael Dreyer für die Organisation und Durchführung des Kolloquiums und die perfekte Unterstützung durch Stephan Zänker und Markus Hünniger, genauso wie der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Landesbüro Thüringen der Rosa-LuxemburgStiftung für ihre Unterstützung und ihre Beiträge zur inhaltlichen Konzeption. Ermöglicht wurden das Kolloquium und dieser Band dank Mitteln beider Stiftungen, des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz, des Thüringer Ministeriums für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft und der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung, wofür allen Unterstützern unser ausdrücklicher Dank gilt. Bei der Erstellung des Bandes, allen voran des Quellenteils, haben Jonathan Overmeyer und Max Gert Streckhardt wichtige Zuarbeiten geleistet, wofür wir ebenfalls sehr herzlich danken. Schließlich muss natürlich auch allen Teilnehmern und Autoren dafür gedankt werden, dass sie ihre Expertisen und Sichtweisen zu dem Kolloquium und dem Band beigesteuert haben. Nur dank ihrer Beiträge und der Bereitschaft zur raschen Verschriftlichung können wir uns freuen, die Erträge der gemeinsamen Diskussion kurz nach dem 101. Jahrestag des bedachten Ereignisses in Druck geben zu können.
Die Herausgeber
Jena und Bonn im April 2018
DIE USPD Eine Herausforderung Stefan Müller, Andreas Braune, Mario Hesselbarth1 Im April 1917 gründete sich in Gotha die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). Nach knapp drei Jahren wachsender innerparteilicher Opposition gegen die Burgfriedenspolitik der Mehrheit der Sozialdemokratie waren kurz zuvor die öffentlich opponierenden Angehörigen des Reichstags aus der Partei ausgeschlossen worden. Ein Jahr zuvor schon hatte sich die Reichstagsfraktion von den Mitgliedern getrennt, die den Kurs der Fraktionsmehrheit nicht weiter mittrugen und im Parlament gegen die Kriegsetats gestimmt hatten. Die USPD war Bestandteil und treibende Kraft der Antikriegsproteste, der Massenstreiks gegen den Krieg und schließlich auch der Revolution vom November 1918. Innerhalb weniger Monate des Jahres 1919 wurde die USPD mit rund 750.000 Mitgliedern „zur zweiten Massenpartei der Arbeiterklasse und des Sozialismus in Deutschland“.2 Sie ragte mittlerweile an Mitgliedern und in den Wahlergebnissen an die Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) heran. Bei den Reichstagswahlen im Juni 1920 trennten beide lediglich eine Million Stimmen (SPD 21,9 Prozent, USPD 17,6 Prozent). Wenige Monate später spalteten sich jedoch die Unabhängigen. Eine relative Mehrheit schloss sich der entstehenden kommunistischen Weltbewegung an und fusionierte im Dezember 1920 mit der jungen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), die bis dahin ein Schattendasein geführt hatte. Der verbliebene Teil – aber auch dieser nicht in Gänze – kehrte zwei Jahre später zur MSPD zurück. Die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung in einen sozialdemokratischen und einen kommunistischen Flügel in separate Organisationen war nun vollzogen. Die USPD stellte ohne Zweifel einen Meilenstein dieses Weges zur Spaltung dar. Zur Diskussion gestellt werden soll jedoch, ob es sich bei der USPD nur um eine Fußnote dieser Geschichte handelte oder ob eine solche Beurteilung nicht allzu sehr vom Ende eines gleichermaßen schon teleologisch gedachten Entwicklungspfades ausgeht. Eine solche Entwicklungserzählung geht von in der frühen Arbeiterbewegung angelegten Antagonismen aus (Reform versus Revolution), die mit dem Krieg lediglich den äußeren Anlass erhielten (Burgfrieden), um ihren weiteren politisch-organisatorischen Lauf zu nehmen (KPD-Gründung). Zur Ausleuchtung dieser Erzählung gehören die Diskussion um den Burgfriedensschluss, die 1 2
Andreas Braune und Mario Hesselbarth danken ihrem Mitherausgeber Stefan Müller für die Erarbeitung des Erstentwurfs dieser Einleitung. Walter (2016): Nicht nur eine Arbeiterbewegung, S. 8.
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Verortung der USPD in der politischen Landschaft selbst und schließlich die Charakterisierung der Novemberrevolution. Handelte es sich um eine Revolution, die nicht nur den Weltkrieg beendete, sondern auch die 22 Fürstenkronen zu Fall brachte? Oder handelte es sich eigentlich nur um den Zusammenbruch einer überkommenen Ordnung, der durch den Weltkrieg der letzte Stoß versetzt wurde? Waren also nicht der „Elan und das Zielbewußtsein der ‚Revolutionäre‘, sondern die absolute Kraft- und Widerstandslosigkeit der alten Gewalten […] das kennzeichnende Merkmal“ (wie Paul Löbe zum zehnten Jahrestag der Novemberrevolution formulierte und es lange Zeit von der Führung der Sozialdemokratie so gesehen wurde)?3 Standen 1918/19 als historische Alternativen lediglich die Errichtung einer parlamentarischen Demokratie unter Zuhilfenahme ihrer Feinde, der kaiserlichpreußischen Bürokratie und des Offizierskorps, und die bolschewistische Diktatur zur Wahl? Und schließlich wirft die USPD die Frage auf, welche soziokulturellen Langzeitwirkungen der Spaltung zugrunde lagen. Waren die zu Beginn der 1920erJahre entstehenden neuen Organisationen nicht einfach Ausdruck der Milieuvielfalt in der Arbeiterschaft? Brachten die junge KPD und die wie ein bunter Frühlingsstrauß wirkende Vielfalt an linkskommunistischen, syndikalistischen und unionistischen Organisationen nicht lediglich die Widersprüche zwischen „dem Assoziations-, Wissens- und Strebsamkeitssozialismus“4 der Sozialdemokratie und den jugendlichen, in Krieg und Revolution sozialisierten an- und ungelernten Arbeitermilieus zum Ausdruck?5 Angesichts ihrer kurzen Lebensdauer als Massenorganisation von gerade einmal fünfeinhalb Jahren wird die USPD in der Geschichtsschreibung zumeist als Zwischenstadium betrachtet, als Provisorium. So ist es wenig erstaunlich, dass der Forschungsstand seit der Hochphase der Sozialgeschichts- und Arbeiterbewegungsgeschichtsschreibung wenig vorangeschritten ist. Nach wie vor beansprucht die Monografie von Hartfrid Krause (1975) Gültigkeit, und sogar Eugen Pragers Darstellung aus dem Jahr 1921 kann noch mit Gewinn herangezogen werden.6 Hinzugekommen sind in den vergangenen Jahren allerdings regionale Untersuchungen, die den Blick auf die USPD schärfen helfen.7 Fortschritte gemacht haben ferner biografische Arbeiten über Sozialdemokraten, sowohl derjenigen auf Seiten der Antikriegsopposition und der USPD als auch deren innerparteilicher Kontrahenten.8 Auch liegen neuere Arbeiten über den Spartakusbund vor, der bis zur KPD 3 4 5 6 7 8
Löbe (1928): Zehn Jahre Republik. Walter (2016): Nicht nur eine Arbeiterbewegung, S. 9. Vgl. die immer noch lesenswerte Studie von Bock (1969): Syndikalismus und Linkskommunismus. Krause (1975): USPD; Prager (1921): Geschichte der USPD. Hinzu kommen Wheeler (1975): USPD und Internationale, Morgan (1975): The Socialist Left. Anton (2015): Spaltung der bayerischen Sozialdemokratie; Grau (2007): „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD): 1917–1922“; Hesselbarth (2017): USPD Thüringen. Bloch (2009): Albert Südekum; Bloch (2017): Albert Südekum – Briefe; Seils (2016): Hugo Haase; Scholle / Schöler (2018): Weltkrieg; Scholle (2017): Paul Levi; Czitrich-Stahl (2012):
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Gründung zur Jahreswende 1918/19 Teil der USPD war.9 Daneben muss natürlich jede Geschichtsschreibung oder Erzählung über die Novemberrevolution eine Charakterisierung der USPD vornehmen. An allen diesen Debatten der vergangenen Jahre waren die Beiträger dieses Sammelbandes mit ihren Detailstudien beteiligt.10 Befragt man die Geschichte der USPD auf die oben genannten drei Stränge – Rolle der Parteiflügel vor 1914 und Ursachen für den Burgfriedensschluss, Charakter der USPD und die Verortung der Novemberrevolution – so stößt man auf die intensive Verflechtung von (geschichts-)wissenschaftlicher Analyse und (gesellschafts-)politischem Zeitgeist, die, so kann man konstatieren, beide in gleichen Maßen die Wertung der USPD beeinflussten. Wolfgang Niess jedenfalls kommt zu dem Befund, dass veränderte Wertungen der Revolution zumeist nicht neuen Forschungen, sondern „in aller Regel auf veränderte politische Ausgangslagen und neue gesellschaftliche Problemstellungen“ zurückzuführen waren.11 Das scheint für den speziellen Fall der USPD und ihrer Rolle im Weltkrieg und der Revolution gleichermaßen zuzutreffen – sowohl für die historischen Konjunkturen ihrer Bewertung wie die gegenwärtige Möglichkeit, die USPD außerhalb der tiefen Deutungsgräben des ‚Zeitalters der Extreme‘ neu zu betrachten und zu bewerten. 1. URSACHEN DER PARTEISPALTUNG Ausgangspunkt jeder Bewertung und Analyse der Parteispaltung ist die Frage nach den Ursachen der sozialdemokratischen Burgfriedenspolitik und deren Bewertung. Noch vor der Parteispaltung betrachtete die radikale Linke um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten als Verrat an den Grundsätzen der internationalen Sozialdemokratie und am Ziel des Sozialismus. Diese in heftigen Parteikonflikten geborene, auf ihrer Stellung in der Partei basierende Kritik wurde später – im Kontext des Marxismus-Leninismus – in eine vermeintlich wissenschaftliche Analyse transformiert. In der DDR wurde dieses Interpretament Bestandteil staatlicher Selbstvergewisserung und in der wissenschaftlichen Literatur untermauert; der sozialdemokratische „Verrat“ bildete die Grundlage der Partei- und Revolutionstheorie und die USPD wurde gar als Versuch gewertet, die Radikalisierung oppositioneller Massen zu verhindern.12 Dem stand schon früh und prominent die durch Arthur Rosenberg vertretene Einschätzung entgegen, bei der Zustimmung zum Burgfrieden habe es sich um sozialdemokratische Arthur Stadthagen. Zu Karl Kautsky und Eduard Bernstein vgl. zudem Morina (2017): Erfindung des Marxismus. 9 Vgl. exemplarisch Luban (2008): Spartakusgruppe; Bois (2016): Netzwerke der Antikriegslinken. 10 Zur Novemberrevolution vgl. Bollinger (2014): Weltbrand; Weipert (2015): Zweite Revolution. 11 Niess (2017): Die Revolution von 1918/19, S. 14. 12 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (1966): S. 307f.
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Politik gehandelt, die sich folgerichtig aus der Vorkriegszeit entwickelt habe. Während die marxistisch-orthodoxe Interpretation von einem bereits zuvor eingenommenen Chauvinismus in der SPD ausging, wertete Rosenberg denselben Tatbestand noch als sozialistisch. Susan Miller kritisiert in ihrer wegweisenden Studie, dass all diese Positionen von einer inneren Logik in der Entwicklung der Vorkriegssozialdemokratie ausgingen.13 Die bereits vor dem Krieg vorliegenden Differenzen, so das von Miller kritisierte Narrativ, hätten mit innerer Notwendigkeit zum Schulterschluss des rechten Flügels der SPD mit dem kaiserlichen Staat und in gewisser Weise auch zur Abspaltung einer oppositionellen Linken führen müssen. Während von der marxistisch-orthodoxen Kritik die Verratsthese bis in die 1980er-Jahre breit vertreten wurde, wurde die Sozialdemokratie vor 1914 im Westen zunehmend differenzierter betrachtet. Neben der Infragestellung einer inneren Logik, der die Sozialdemokratie seit spätestens den 1890er-Jahren gefolgt sei, wird dem Organisationshandeln mit seinen Handlungsalternativen und Kontingenzen größerer Stellenwert eingeräumt. Ein schlichtes, aber eben wichtiges Argument war und ist, dass die USPD in ihrer Zusammensetzung nicht den politischen Konstellationen und widerstreitenden Linien des Vorkriegs entsprach.14 Helga Grebing hält fest, dass es zwar deutlich auseinanderstrebende Tendenzen in der Vorkriegssozialdemokratie gab, es aber auch politischen Spielraum für eine Rechtsabspaltung der Sozialdemokratie gegeben hätte. Peter Brandt verweist auf Österreich, Frankreich und Italien und resümiert, dass ein größerer Spielraum des oppositionellen Flügels, gewährt durch die Parteimehrheit, eine Spaltung hätte verhindern können. Die „sachlichen Gegensätze“ seit Kriegsbeginn seien für die Spaltung nicht zwingend gewesen.15 Stefan Berger stellt dagegen die ideologisch-politische Differenz in den Mittelpunkt, die seit dem Vorkrieg bestand und entlang derer sich die Spaltung vollzogen habe. Protagonisten wie Eduard Bernstein bildeten somit eine Ausnahme.16 In diesem Band argumentiert vor allem Stefan Bollinger mit den vor 1914 bereits vorliegenden Konfliktlinien. In eine durchaus ähnliche Richtung, aber mit anderen Schwerpunkten und Wertungen, weist Max Bloch in seinem Beitrag über die langen Linien des Interfraktionellen Ausschusses seit der Vorkriegszeit. Mit Bernd Brauns Beitrag über die politischen Systemziele der SPD gegen Ende des Krieges stellt sich schließlich die Frage, inwieweit die SPD und USPD mit ihren antagonistischen Zielen von parlamentarisierter Monarchie versus Räteherrschaft nicht die Debatte von Liberalen und Demokraten der Revolution von 1848 fortsetzten. Nach wie vor – dies kann festgehalten werden – wird die Rolle der Gewerkschaften für die Parteispaltung zu wenig berücksichtigt. Reiner Tosstorff exemplifiziert dies in diesem Band anhand der USPD in der Phase ihrer Radikalisierung. Schon Susan Miller wies auf das Drängen der gewerkschaftlichen Vorständekonferenz auf die sozialdemokratische Reichstagsfraktion hin, den Kriegskrediten 13 14 15 16
Miller (1974): Burgfrieden, S. 31. Grebing (2007): Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 60f. Brandt (2017): Zwischen Reformsozialismus und Rätedemokratie, S. 138. Vgl. Berger (2013): Parteispaltung.
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zuzustimmen.17 Helga Grebing betonte wiederholt das beharrliche Drängen der Gewerkschaften, sich nicht dem linken Parteiflügel oder später den Forderungen der Rätebewegung zu beugen.18 Anders als noch vor 1989/90 wird im politisch-historischen Feld kaum noch über die Burgfriedenspolitik gestritten, man könnte sogar von einer punktuellen Annäherung der Einschätzungen und Deutungen über die Ursachen der Spaltung und das Agieren der sozialdemokratischen Mehrheit 1914 sprechen. Obgleich sich auch heute noch Positionen finden, die der USPD eine inkonsequente Antikriegshaltung unterstellen, hat sich die Debatte versachlicht.19 Diese geschichtspolitische Detente hat ihre Ursachen nicht zuletzt auch in der Desavouierung marxistisch-leninistischer Deutungsmuster. Trotz dieser Annäherungen finden sich aber auch in diesem Sammelband differierende Wertungen der Parteispaltung. Mal wird die Frage der Disziplinlosigkeit und des Treuebruchs durch die Burgfriedensgegner in den Mittelunkt gerückt, die das Fass für die Mehrheit habe überlaufen lassen. In anderen Beiträgen wird stärker die politische Hoffnung des Mehrheitsflügels betont, durch die bedingungslose Einordnung in das Militärregime mit der Parlamentarisierung des Reiches belohnt zu werden. Der von der Mehrheit vollzogene Bruch mit der Minderheit 1916/17 stellte somit keine Reaktion auf Disziplinlosigkeit dar, sondern galt dem Beweis der Loyalität. In dieser Frage setzen im vorliegenden Band Walter Mühlhausen und Wolfgang Kruse unterschiedliche Akzente. 2. DIE NOVEMBERREVOLUTION IN DER DEUTSCHEN GESCHICHTE So wie der Burgfrieden und die Spaltung der Arbeiterparteien unterlag auch die Novemberrevolution einem historisch-politischen Deutungsstreit, deren Ausläufer bis in die 2000er-Jahre reichten.20 Die Novemberrevolution zählt politisch-historisch zwar nicht zu den umstrittensten Ereignissen der deutschen Geschichte und dient mittlerweile auch nicht mehr als „Negativfolie politischer Gegenwartsauseinander“,21deren Charakterisierung fällt jedoch nach wie vor schwer. Noch vor kurzem konnte Helga Grebing fragen: „War sie steckengeblieben, halbherzig, gescheitert, fehlgeschlagen, unvollendet geblieben, klein gehalten, ungeliebt, fehlgeleitet, verraten, schließlich vergessen?“22 In dieser, mehrere Jahrzehnte an Deutungsge 17 Miller (1974): Burgfrieden, S. 48ff. 18 Grebing (2007): Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. 19 So in der Mitgliederzeitung der Linksparte: Friedmann (2016): Ein grundsätzlicher Konflikt. Ein anderer Tenor findet sich in der SPD-Mitgliederzeitung Vorwärts, wo Horsmann (2017): Einheit, Liebknecht und Luxemburg unter dem pazifistischen Flügel der Partei subsumiert. 20 Gallus (2010): Die vergessene Revolution. 21 Stalmann (2016): Wiederentdeckung der Revolution, S. 522. Grundsätzlich zur Geschichte historiografischer Deutungen der Revolution vgl. Niess (2013): Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsschreibung. 22 Grebing (2017): Einhundert Jahre, S. 198.
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schichte zusammenfassenden Frage weist sie auf die Herausforderung hin, die Revolution in der deutschen Geschichte zu verorten. Zunächst, nach dem November 1918, in der Weimarer Republik, wollte und konnte sich keines der großen politischen Lage mit der Revolution identifizieren. Die rechten Gegner der Weimarer Republik bis hin zu den Nationalsozialisten kleideten ihren Hass auf die parlamentarische Demokratie in ihre Anklagen gegen die ‚Novemberverbrecher‘ und deren angeblichen ‚Dolchstoß‘. Die linksradikalen Widersacher Weimars kritisierten den von Ebert und Noske zu verantworteten Umschlag der Revolution in eine angebliche Gegenrevolution (mit der späteren Zuspitzung, die Sozialdemokraten als Sozialfaschisten zu bezeichnen), während andere linke Kritiker der Republik die lediglich formale und ideenlose Demokratie ankreideten.23 Für alle galt, auch für die Unterstützer der Weimarer Demokratie, dass die Revolution nicht mit den vergleichsweise ruhigen Wochen des November und Dezember 1918 in Verbindung gebracht wurde, sondern mit der Gewalteskalation des Jahres 1919. Nach dem Zweiten Weltkrieg deutete die westdeutsche Geschichtswissenschaft die Revolution vor dem Hintergrund der Bolschewismusgefahr und würdigte damit das Agieren der Mehrheitssozialdemokratie. Ein Aufsatz von Karl Dietrich Erdmann galt lange – trotz bereits kurz darauf geäußerter Kritik – als Grundlage der Analyse und Bewertung.24 Dies änderte sich in den 1960er-Jahren mit der Identifizierung der Arbeiter- und Soldatenräte als mehrheitlich nichtkommunistische und vielfach basisdemokratische Institutionen, deren demokratisches Potential durch die sozialdemokratische Regierung vernachlässigt und fälschlicherweise nicht genutzt wurde.25 Mittlerweile werden im Lichte der zunehmenden Historisierung der Revolution die Handlungsoptionen der Akteure vorsichtiger beurteilt; die Beurteilung konkreter Entscheidungen weicht der Sicht auf die Komplexität der Revolution und der damit eingeleiteten Epoche sowie die Wirkmächtigkeit von Mentalitäten in der longue durée.26Auch wenn die Handlungsoptionen der Protagonisten zurückhaltender beurteilt werden, finden sich zur Novemberrevolution noch immer starke Wertungen. So begreift Wolfgang Niess die Zeitphase 1918/19 als den „wahren Beginn“ der Demokratie in Deutschland.27 Gleichfalls pointiert, aber in die gegensätzliche Richtung tendierend, kann Mark Jones‘ (für die deutschsprachige Leserschaft noch zugespitzte) Bewertung der Revolution gelten, wonach die von der Mehrheitssozialdemokratie zu verantwortende staatliche Gewalteskalation des
23 Vgl. Gallus (2010): Erinnerung und Deutung im Wandel. 24 Erdmann (1955): Geschichte der Weimarer Republik. Zur Kritik vgl. Matthias (1956): Geschichte der Weimarer Republik. 25 Vgl. insbesondere Kolb (1962): Arbeiterräte; von Oertzen (1963): Betriebsräte in der Novemberrevolution. 26 Vgl. Stalmann (2016): Wiederentdeckung der Revolution. 27 Niess (2017): Die Revolution von 1918/19.
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Jahres 1919 gegen die vermeintliche bolschewistische Gefahr Teil der Entstehungsgeschichte des NS-Gewalt- und Vernichtungsregimes gewesen sei.28 Die Wertung der Novemberrevolution ist zwar nun nicht mehr in demselben Maße wie zu Zeiten des Kalten Krieges durch politische Grundsatzkonflikte geprägt. Dennoch sind neben Untersuchungen, die auf die geringen Handlungsoptionen der Akteure verweisen, und zugespitzten Wertungen über Resultate des November 1918 noch immer die alten Erzählungen präsent. Im Fokus steht dabei häufig der Spartakusbund, dessen Rolle in der Antikriegsbewegung in diesem Band von Marcel Bois beleuchtet wird. Wie unvermittelt in der Literatur dabei konträre Wertungen koexistieren, mag man am edierten Revolutionstagebuch Victor Klemperers ermessen: Im Vorwort hebt Christopher Clark die Bedeutung einer „dem sowjetischen Vorbild verpflichteten kommunistischen Linken“ hervor („Freikorpstruppen und Spartakisten lieferten sich erbitterte Gefechte“),29 wohingegen Wolfgang Wette in seinem historischen Nachwort darauf hinweist, dass die „Berliner Januarunruhen […] schon in der zeitgenössischen Feindbildpropaganda fälschlicherweise als ‚Spartakusaufstand‘ bezeichnet“ wurden.30 Trotz Diversifizierung der Fragestellungen und Themen zur Revolution sowie einem durchaus neu erwachten Interesse seit dem 90. Jahrestag ist der Befund zur Novemberrevolution noch immer zwiespältig. Die Revolution ist vergleichsweise gut erforscht und weist zugleich Leerstellen auf; die Revolution unterliegt noch immer konträren Wertungen, stößt aber dennoch in Forschung und Erinnerungskultur auf vergleichsweise geringes Interesse. So bleibt einerseits die Frage, ob die zunächst „ungeliebte“ Revolution noch immer eine „vergessene“ Revolution sei. Andererseits muss gefragt werden, in welchem Maß das Schließen von Forschungsdesiderata neue Erkenntnisse über den Charakter der Revolution und ihre Langzeitwirkungen hervorbringen wird. Insofern hoffen wir, dass das aus dem 100. Jahrestag erwachsende Interesse der Forschung und Erinnerungskultur Anstöße verleiht. In der Reihe ‚Weimarer Schriften zur Republik‘ sind neben diesem Band zumindest schon einmal zwei weitere Bände zur Revolution in Vorbereitung: Albert Dikovich und Alexander Wierzock dokumentieren in ideen- und philosophiegeschichtlicher Perspektive Vorstellungen des ‚neuen Menschen‘ und über das ‚politische Imaginäre‘ in der Philosophie, Literatur und den Humanwissenschaften im Mitteleuropa der Revolutionsepoche, während Michael Dreyer und Andreas Braune die Beiträge zu der von ihnen organisierten internationalen Fachtagung „Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch – Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort“ in einem weiteren Band publizieren werden.31
28 Jones (2017): Am Anfang war Gewalt. In der deutschen Geschichtswissenschaft wird dieser Darstellung eher skeptisch begegnet, vgl. Wirtz (2018): Tagungsbericht; Schumann (2017): Rezension zu Mark Jones. 29 Clark (2015): Vorwort, S. 5. 30 Wette (2015): Die deutsche Revolution, S. 203. 31 Vgl. Wirtz (2018): Tagungsbericht.
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3. DIE ZUKUNFT DER USPD Die USPD ist als sozialistische Linkspartei im Spannungsfeld von Sozialdemokratie und entstehendem Kommunismus nicht alleinig ein Forschungsthema der Arbeiterbewegungsgeschichte. Ihre Themen verweisen auf die soziokulturellen und gesellschaftspolitischen Herausforderungen und Konflikte der Weimarer Republik. Politische Entscheidungen sowie sozioökonomische und kulturelle Entwicklungen lassen sich wie in einem Brennglas nachvollziehen. Weder war die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung mit der Gründung in Gotha im April 1917 besiegelt, noch determinierte die Kooperation der Mehrheitssozialdemokratie mit den alten Gewalten seit dem November 1918 den Rechtsterrorismus oder gar das Ende der Weimarer Republik. Die Geschichte der Weimarer Republik war offen. Politische Entscheidungen und Einflussnahmen, vielfach von einem auf den anderen Tag getroffen, kollidierten auf (transnationaler Ebene) mit langfristigen Tendenzen, die im Jahr 1919 eine Dynamik von Radikalisierung in Gang setzen. Hierzu zählt zum einen die von der sozialdemokratischen Regierung im Frühjahr 1919 zu verantwortende militärische Gewalt gegen streikende Arbeiterinnen und Arbeiter, die, verstärkt durch zerstobene Revolutionserwartungen, zur Radikalisierung eines Teils der Arbeiterschaft führten. Es handelte sich um die „Erbitterung immer größerer, auch mehrheitssozialdemokratischer Teile der Arbeiterschaft über den NoskeKurs“.32 Hierzu zählt zum anderen die auf Spaltung drängende Politik der Kommunistischen Internationale (Komintern), die in hoher Erwartung einer sich im Westen in den Startlöchern befindlichen Revolution und aufgrund des inneren Drucks eine sozialistische Massenpartei zu zerschlagen bereit war.33 Dabei kann es nicht darum gehen, eine, wie Axel Schildt kritisierte, „kontrafaktisch angehauchte Dauerdiskussion“ um verpasste Chancen neu zu munitionieren.34 Stattdessen müssen die soziokulturellen Traditionslinien und deren Zuspitzungen untersucht werden. Im Sinne vergangener Zukünfte ist nach den in der USPD vorzufindenden Zukunftsvorstellungen (und dem korrespondierenden Zukunftshandeln) zu fragen.35 In der USPD prallten Milieus mit unterschiedlichen Erfahrungsräumen aufeinander, die nach einer kurzen Phase der Übereinkunft (1917/18) verschiedene Modi an Zukunftsvorstellungen aufwiesen: Eine junge, im und durch den Krieg sozialisierte Generation sah sich hinsichtlich ihrer (utopischen und zugleich auf rasche Veränderungen drängenden) Zukunftsvorstellungen den organisationserfahrenen, auf eine lange Geschichte zurückblickenden (und auf 32 Brandt (2017): Zwischen Reformsozialismus und Rätedemokratie, S. 142. 33 Auf diese real existierende internationalistische Hoffnung weist Albert (2017): Charisma der Weltrevolution, hin. 34 Schildt (2010): Historisierung des langen November, S. 233. 35 Zu den Konzepten vergangener Zukunftsvorstellungen findet seit einigen Jahren eine breite Debatte in der Geschichtswissenschaft statt. Vgl. Becker / Scheller / Schneider (2016): Ungewissheit des Zukünftigen; Hölscher (2016): Entdeckung der Zukunft (hierbei handelt es sich um die Überarbeitung des Textes von 1999); Landwehr (2016): Abwesenheit der Vergangenheit; Radkau (2017): Geschichte der Zukunft; Seefried (2015): Zukünfte.
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Zukunftsstabilität orientierten) Vorkriegssozialdemokratinnen und -sozialdemokraten gegenüber.36 Da Fragen nach Zukunftsvorstellungen in der Arbeiterbewegung zumeist mit den großen sozialistischen Ideen des 19. Jahrhunderts verknüpft wurden, wurde die Revolutionszeit und die Weimarer Republik lange Zeit vernachlässigt.37 Ausgehend von Konzepten zur historischen Zukunftsforschung können so beispielsweise politisch-generationale Prozesse zwischen etwa 1914 bis 1933 verfolgt werden. Auf die Generationendifferenz weist in diesem Band insbesondere Hartfrid Krause hin. Dass es sich bei der Novemberrevolution in ihrer sozialen, politischen und kulturellen Tiefe sowie in ihrer zeitlichen Ausdehnung (bis mindestens 1919 als dem Jahr der zweiten Revolutionsphase) um eine (im semantischen Sinne) Deutsche Revolution handelte, ist in der Forschung unbestritten. Seit einigen Jahren wird darüber hinaus intensiver über die zusätzliche Ausweitung des Zeitraums (1916 bis 1923), aber auch der Topografie der Revolution (in transnationaler Perspektive) diskutiert.38 Einen weiteren Weg stellt die von Thomas Welskopp vorgeschlagene Unterscheidung von Zukunftsvorstellungen und Zukunftshandeln in der Arbeiterbewegung entlang der drei Kategorien Utopie, Prognose und Programm dar.39 Analysiert man die Konjunkturen des Revolutionsdiskurses in der Sozialdemokratie vor 1914, so kann man resümieren, dass gerade die Transformation der Revolution von einer (aktiv anzustrebenden) Utopie in eine (passiv zu erwartende) Prognose es der Sozialdemokratie ermöglichte, den „Spagat“ zwischen parlamentarischer Tagespolitik und sozialistischen Sehnsüchten zu bewältigen. Mit der Spaltung der Partei, so führt Stefan Berger diese Überlegung fort, mussten sozialdemokratische Zukunftsvorstellungen fortan mit den Prognosen, Programmen und Utopien der kommunistischen Bewegung konkurrieren.40 Im Ergebnis konstatiert Berger einen Utopieverlust auf beiden Seiten, und nach dem Sieg der Nationalsozialisten und der Blockbildung seit 1945 kann man gar von einer Versteinerung utopischen Denkens in beiden Lagern sprechen. Insbesondere eignet sich die USPD für die Untersuchung der beginnenden Weimarer Republik, da diese junge Organisation als die eigentliche Partei der Revolution betrachtet werden kann. Im Vergleich zur Mehrheitssozialdemokratie verfolgte sie nicht das Ziel einer Einhegung und Begrenzung der Revolution im Namen von ‚Ruhe und Ordnung‘, sondern verstand sich selbst als Teil und Antrieb der revolutionären Bewegung. Beiden – der MSPD wie der USPD – war die Revolution in den Schoß gefallen, aber anders als die MSPD wollte die USPD die Gelegenheit in vielerlei Hinsicht beim Schopfe packen. Sie war zwar auch keine im engeren Sinne „revolutionmachende Partei“ (obgleich ein Teil von ihnen dies durchaus sein wollte), aber sie schrieb sich Kernanliegen der Novemberrevolution auf ihre 36 Zum Erfahrungsraum vgl. Koselleck (1989): Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Zur kritischen Rezeption der Koselleck’schen Termini und kategorialen Vorschlägen für Modi der Zukunft vgl. Graf / Herzog (2016): Geschichte der Zukunftsvorstellungen. 37 Graf (2008): Zukunft der Weimarer Republik, S. 17. 38 Zuletzt Weinhauer / McElligott / Heinsohn (2015): Germany 1916–1923. 39 Welskopp (2017): „Neue Zeit“. 40 Berger (2017): Begrenzung der Zukunft.
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Fahnen: Zum Ersten die Sozialisierung zentraler industrieller Sektoren und hier insbesondere (und zumindest) des Bergbaus, zum Zweiten die Zerschlagung der alten militärischen Eliten und Hierarchien sowie drittens schließlich zumindest die Integration rätedemokratischer Elemente in die parlamentarische Demokratie. Diese drei zentralen Forderungen wurden vom Reichskongress der Arbeiter- und Soldatenräte Mitte Dezember 1918 in Berlin erhoben, sie standen aber auch im Fokus des Berliner Generalstreiks vom März 1919 oder der Streiks und Widerstandsaktionen gegen Freikorps in Thüringen im Frühjahr 1919 (beides Themen dieses Sammelbandes in den Beiträgen von Axel Weipert und Mario Hesselbarth). Es handelte sich um Forderungen, die weit in das sozialdemokratische Milieu hineinreichten und wenn nicht von der Mehrheit, dann zumindest von einem relevanten Teil der MSPD-Mitgliedschaft geteilt wurde. Dieses Argument wird insbesondere in den Beiträgen von Wolfgang Kruse und Hartfrid Krause in diesem Band betont. Über die Weimarer Republik hinaus war die Spaltung der Arbeiterbewegung in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in die Signatur eines ganzen Jahrhunderts eingeschrieben.41 Ob man von einem engeren Fokus der Parteiengeschichte ausgeht oder aber die Flughöhe des weltpolitischen Blockkonflikts in der zweiten Jahrhunderthälfte in den Blick nimmt: In der USPD-Geschichte finden sich die Grautöne dieses Konfliktes, die von den hegemonialen Kräften überdeckten Differenzierungen. Die USPD wird insofern (insbesondere aus politisch linker Perspektive) mitunter als verschüttete Alternative betrachtet, deren Forderungen und politische Positionen hinsichtlich der Stärkung und Sicherung der Demokratie einen alternativen Entwicklungsweg hätten darstellen können. In unserem Sammelband wirft Axel Weipert diese Fragen in seinem Beitrag auf, wenn er die Rolle der Arbeiter- und Soldatenräte würdigt. Aber auch schon Helga Grebing betonte, dass MSPD und Gewerkschaften durch ihre rigorose Ablehnung der Räte deren „massenmobilisierende reformerische Kraft [schwächten]“.42 Offen bleibt, wie dieser Weg jedoch ohne die repressive Unterdrückung zumindest eines erheblichen Teils des Bürgertums hätte durchgesetzt werden können. Auf diese zeitgenössisch schon umstrittene Frage weist Mike Schmeitzner in seinem Beitrag über Karl Kautsky in diesem Band hin. Abgesehen von der Praxistauglichkeit der USPD-Positionen fanden entlang dieser drei Forderungsbündel im Jahr 1919 die Gewalteskalation und die Radikalisierung der USPD statt. In der erneuten Spaltung 1920 spiegelten sich dann die unterschiedlichen Interessenlagen der Akteure, aber auch die Dilemmata und Widersprüche der deutschen Gesellschaft am Ende des Ersten Weltkrieges. Insofern sind frühere Wertungen zur USPD wie bei Miller überholt, die auf die innere Zerrissenheit und Konzeptionslosigkeit der Partei nach dem Krieg verweist, welche dazu geführt habe, dass diese nicht eine „Wahrerin sozialdemokratischer
41 Vgl. Schöler / Scholle (2018): Einleitung; Weipert / Bennewitz (2017): An den Rändern. 42 Grebing (2007): Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 71.
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Traditionen“, sondern stattdessen „zu einem Tummelplatz wirklichkeitsfremder und verantwortungsloser Radikaler“ wurde.43 Mit gutem Grund kann seit dem Ersten Weltkrieg von zwei Arbeiterbewegungen gesprochen werden.44 Dies kam mit der Spaltung der USPD 1920 zum Ausdruck. Seitdem stellt sich die Frage nach Kooperationsmöglichkeiten beziehungsweise den Grenzen der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Parteien und Organisationen (zu denen auch das gesamte kulturelle Feld zählt). In zeitgenössischen Termini ging es um die politisch beschworene ‚Einheit der Arbeiterbewegung‘. Gegen Ende der Weimarer Republik, als die nationalsozialistische Gefahr kaum noch zu negieren war, wurde die Frage eines einheitlichen Agierens dann von vielen der sogenannten Zwischengruppen mit Vehemenz aufgeworfen. Die größte dieser politisch zwischen SPD und KPD angesiedelten Organisationen war die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP). Bei der SAP handelte es sich wie schon bei der USPD um eine linke ‚Abspaltung‘ von aus der Partei geworfenen, abtrünnigen Mitgliedern und Angehörigen der Reichstagsfraktion. Die USPD wies aber nicht nur politisch-konzeptionell, sondern auch personell auf die SAP hin; wichtige Protagonisten der 1930er-Jahre wie Kurt Rosenfeld, August Siemsen, Heinrich Ströbel, Hans Ziegler oder Andreas Portune waren zuvor Mitglieder der USPD gewesen, bevor sie zur SPD zurückkehrten.45 Dieser Befund der Nähe und Ähnlichkeit von USPD zur SAP wirft somit die Frage nach der Tradition eines spezifisch politischen Denkens, nämlich eines Linkssozialismus auf, der bislang nur ansatzweise untersucht wurde.46 Die deutsche und die österreichische Sozialdemokratie brachte eine Reihe von Politikern hervor, die zu einem solchen historischen Linkssozialismus gerechnet werden können. Hugo Haase, dessen friedenspolitische Positionen im vorliegenden Band von Thilo Scholle diskutiert werden, könnte hierzu gerechnet werden. Wie in den anderen Fragen hängt die Bewertung der USPD auch hinsichtlich ihres Potentials und ihrer Stärken zum erheblichen Teil von den Gegenwartspositionen der Interpreten ab. Max Reinhardt betont beispielsweise als einer von Wenigen in der linkssozialdemokratischen Zeitschrift „spw“ die „alternative Organisationsstruktur“ der USPD: „weniger Macht für bezahlte Parteibürokraten und mehr Demokratie für die Ortsgruppen“.47 Angesichts des kontrafaktischen Hintergrunds vieler Urteile über die (verhinderten, verschütteten, vergessenen usw.) Potentiale der Novemberrevolution und der USPD spielen persönlich-moralische Urteile, die nur bedingt quellengesättigt argumentieren können, auch hier eine große Rolle. Die These von Niess, dass die Wertungen der Novemberrevolution insbesondere vom 43 Miller (1974): Burgfrieden, S. 397. 44 Vgl. Walter (2016): Nicht nur eine Arbeiterbewegung. 45 Vgl. Weber (2005): Rosenfeld; Osterroth (1960): Lexikon, S. 241 (zu Andreas Portune); Graf (2008): Politik der reinen Vernunft; Raberg (2001): Biographisches Handbuch (zu Hans Ziegler). Zur SAP vgl. Drechsler (1983): SAPD; Niemann (1991): Auf verlorenem Posten. 46 Vgl. die Beiträge in Jünke (2010): Linkssozialismus in Deutschland. 47 Reinhardt (2016): Strömungsgeschichte, S. 67.
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politischen Zeitgeist bedingt sind, muss mit Klaus Latzel um den Einfluss des erfahrungsgeschichtlichen Hintergrunds der Autoren ergänzt werden.48 Die möglichen Interpretationen sind durchaus vielfältig. So kann man die Geschichte der USPD zum einen mahnend als Forderung nach Stärke und Einheit lesen. Zum anderen kann diese Geschichte eben aufgrund ihres „Scheiterns“ (im Sinne der historischen Akteure) auch als Forderung nach Pluralität auf Seiten der Linken verstanden werden. Es gäbe, folgt man diesem Argument, eine Vielzahl an linken und progressiven Positionen, die miteinander im Wettbewerb stünden. Muss also auf die Pluralisierung der Kommunismen und Marxismen durch die historische Forschung nicht auch sozialdemokratisches Denken und Handeln vervielfältigt werden? 4. DIE USPD IM AKTUELLEN DISKURS – ZU DEN BEITRÄGEN DES BANDES Der Sammelband geht auf ein Kolloquium zur Spaltung der Arbeiterbewegung im April 2017 zurück. Die Forschungsstelle Weimarer Republik an der FriedrichSchiller-Universität Jena hatte gemeinsam mit dem Weimarer Republik e.V. das Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung und die RosaLuxemburg-Stiftung (RLS) eingeladen, diese Veranstaltung anlässlich der 100. Wiederkehr der Gründung der USPD gemeinsam durchzuführen. Mit dieser Anbindung an zwei parteinahe Stiftungen handelte es sich um ein Kolloquium, das sich sowohl im geschichtswissenschaftlichen Feld bewegt, als auch die aktuellen historisch-politischen Analysen und Debatten um die Geschichte der Arbeiterbewegung (in ihrer Organisationsform als Parteien) widerspiegelt. In seiner Gesamtheit ist der Band etwas weniger mit dem Ziel der Abrundung einer eng umrissenen Fragestellung zur Geschichte der USPD konzipiert und mit dezidiert thematisch aufeinander abgestimmten (und voneinander abgegrenzten) Beiträgen zu den unterschiedlichen Facetten der USPD-Geschichte organisiert. Die Beiträge sind stattdessen als Diskussion unter Historikern zu verstehen, die eigene Schwerpunkte setzen und eine jeweils eigene Perspektive entwickeln. Dieses jeweilige Neuerzählen und Bewerten der USPD-Geschichte führt somit zu Redundanzen. Diese sollten aber ausdrücklich nicht nur nicht vermieden werden. Im Gegenteil, um der historiografischen und historisch-politischen Perspektive Willen sind diese sogar erwünscht. Nur so lassen sich differierende Wertungen beispielsweise der Rolle der Flügel in der Vorkriegssozialdemokratie, des Interfraktionellen Ausschusses oder des Spartakusbundes für die Spaltungsgeschichte in ihrer mittlerweile eingetretenen Differenzierung und Pluralität kenntlich machen. Nicht zuletzt wird dies deutlich, wo und wenn die Autoren in ihren Beiträgen ihre Sympathien nicht verbergen können und auch nicht wollen. In seinem einleitenden Beitrag für diesen Band gibt Hartfrid Krause, der bereits 1975 eines der drei bislang erschienenen Standardwerke zur USPD-Geschichte 48 Latzel (2016): Geschichten der Novemberrevolution.
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verfasste, einen organisations- und politikgeschichtlichen Überblick. Neben Gründung der USPD und Thesen zu den Ursachen der Spaltung der sozialdemokratischen Bewegung ordnet Krause die geschichtswissenschaftlichen Debatten über die USPD in Ost und West zu Zeiten der Blockkonfrontation ein. Der Beitrag betont insbesondere den Generationenkonflikt, der schließlich auch zur Spaltung der USPD führte. Demnach kehrten vor allem die älteren Mitglieder, die auf eine lange politische Sozialisation in der Vorkriegssozialdemokratie zurückblickten, in der Phase der nachrevolutionären Radikalisierung wieder zur SPD zurück oder lehnten zumindest die Zusammenarbeit mit den Kommunisten ab. Der jüngere, aktivistische und vielfach im Weltkrieg radikalisierte Teil der Mitgliedschaft fand dagegen 1920 seine Heimat in der KPD. Diese generationale Spannung habe die USPD zugleich zwischen 1917 und 1920 in die Initiative geführt. Es war ihr möglich, sowohl auf der parlamentarischen Klaviatur zu spielen als auch auf der Straße und in den Betrieben politischen Druck zu entfalten. In der Frage, inwieweit die Spaltung der Sozialdemokratie schon vor 1914 angelegt war, tendiert Krause zu einer vermittelnden Position. So stellte der Burgfrieden ohne Zweifel den Auslöser dar, dem jedoch länger wirkende Entwicklungen wie die Parlamentarisierung der SPD zugrunde lagen. Der Einführung von Hartfrid Krause folgt Wolfgang Kruse mit dem Argument, dass es sich bei der USPD um eine genuin sozialdemokratische Partei gehandelt habe. So habe es zwar langfristige Konflikt- und Bruchlinien schon in der Vorkriegssozialdemokratie gegeben, jedoch habe das repressive Kaiserreich auch dem reform- und integrationsbereiten Flügel kaum Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet. Erst der Krieg habe dann diese Integrationsmöglichkeit in Form des Burgfriedens geschaffen, und erst der Krieg habe damit auch die entscheidende Voraussetzung für die Spaltung geliefert und diese provoziert. Der Krieg spitzte also die vorhandenen politischen Konflikte zu, er ordnete aber auch die politischen Lager zumindest teilweise neu: während (ehemalige) Revisionisten die „Politik des 4. August“ ablehnten, wechselten (ehemalige) Marxisten in das Lager derjenigen, die nun in Deutschland allerorten den Sozialismus erblickten. Der genuin sozialdemokratische Charakter der USPD erkläre sich daraus, so Kruse, dass es der Opposition um Unabhängigkeit vom kaiserlichen Staat ging, darum, überhaupt sozialdemokratische Positionen formulieren zu können und diese nicht dem Ziel der nationalen Einheit hintanzustellen. Den sozialdemokratischen Charakter der USPD betont Kruse auch mit seiner Feststellung, dass er in der Partei nicht eine Verbindung unvereinbarer Teile sieht, die USPD nicht notwendigerweise ein Übergangsphänomen darstellte. Der zweite Abschnitt diskutiert entlang parteilicher und biografischer Perspektiven die Ursachen der Spaltung der Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg. Zunächst zeichnet Thilo Scholle illustrativ die friedenspolitischen Positionen der USPD entlang der Person Hugo Haases nach. Haase böte sich für eine solche Diskussion aufgrund seiner Brückenfunktion zwischen der Vorkriegssozialdemokratie und der USPD an. Scholle erkennt entsprechend ein hohes Maß an Kontinuität in dessen politischen Positionen und macht anders als Krause (der dies für die USPD in seiner Einführung feststellt) keine im Krieg vonstattengegangene Radikalisierung aus. In dieser Perspektive kann Hugo Haase somit sicherlich als das
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bekannteste Beispiel dafür gelten, dass es sich bei der USPD um eine genuin sozialdemokratische Partei handelte, die sich erst im Verlauf der Revolution radikalisierte. Wie sich Haase angesichts dieser Eskalation verhalten hätte, können wir aufgrund seines Todes im Herbst 1919 – er war Opfer eines Attentats geworden – nur erahnen. Walter Mühlhausen beleuchtet die Burgfriedenspolitik und die Parteispaltung aus der Perspektive der Mehrheitssozialdemokratie. So betont Mühlhausen (im Unterschied zu Kruse) deutlicher den Disziplinbruch der Parteiminderheit als Ursache für die Parteispaltung. Ferner macht er in den beiden Parteien auch fortan unterschiedliche politische Konzeptionen aus, wenn er für die USPD einen seit der Spaltung lediglich außerparlamentarischen Weg sieht, der zwangläufig auf die revolutionäre Umgestaltung hinauslaufen musste. Einen Fokus legt Mühlhausen auf die Bildung des Interfraktionellen Ausschusses mit Liberalen und Zentrum. So habe sich im Sommer für die MSPD die Demokratisierungs- mit der Friedensfrage verschränkt und die Parteiführung stand angesichts einer weiterhin ablehnenden Haltung der Reichsleitung gegenüber einem nichtannexionistischen Frieden und der Demokratisierung des Reiches erstmalig vor der Ablehnung des Kriegsetats. Das Zugehen von Zentrum und Liberalen auf die SPD habe dann jedoch deren Ausscheren verhindert und die Aussicht auf eine Reformmehrheit eröffnet. Deren Ergebnisse blieben freilich bescheiden. Auch Max Bloch rückt den Interfraktionellen Ausschuss in den Mittelpunkt seiner Betrachtung der sozialdemokratischen Burgfriedenspolitik. Allerdings ordnet er die Kooperation mit den Liberalen dabei in eine Bündnispolitik von Teilen der Sozialdemokratie, insbesondere der süddeutschen Staaten, seit spätestens den 1900er-Jahren ein und kommt zu anderen Ergebnissen als beispielsweise Mühlhausen. Die parlamentarische Kooperation ab dem Sommer 1917 knüpfte, so Bloch, an vorangehende Budgetbewilligungen in den Teilstaaten, das Stichwahlabkommen von 1912 und die Zustimmung zur Deckungsvorlage durch die Reichstagsfraktion 1913 an (die gegen die Konservativen den Militäretat an eine gestaffelte Vermögenssteuer koppelte) und mündete schließlich in der Weimarer Koalition von 1919. Die Zustimmung am 4. August 1914 war damit in der Wertung Blochs eine Triebkraft, das Reich schon während des Krieges auf die Demokratie vorzubereiten; die Revolution vom November 1918 stellte lediglich den letzten Stoß dar; die Parteispaltung und Gründung der USPD wiederum waren Voraussetzungen für den Interfraktionellen Ausschuss, weil sie die Mehrheitspartei der Vertreter jenes Flügels entledigten, die diesem Weg mindestens skeptisch, wenn nicht gar ablehnend gegenüberstanden. Die radikalsten Opponenten der Burgfriedenspolitik untersucht Marcel Bois in seinem Beitrag über die Rolle der Spartakusgruppe auf die seit 1916 stetig wachsende Friedensbewegung. Nachdem die vor allem von der DDR-Geschichtsschreibung formulierte These der Führungsrolle von Liebknecht / Luxemburg in der Bewegung gegen den Krieg vielfach widerlegt wurde, fordert Bois zurecht, einen genauen Blick auf den Einfluss dieser Vorläufer der KPD zu werfen. Bois hebt die innere Zerrissenheit der radikalen Linken hervor, von denen nur ein Teil den Schritt in die USPD vollzog (die Bremer und Berliner Linke stieß erst zur KPD hinzu). Der
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unmittelbare Einfluss der (auch von der Mitgliederzahl her) kleinen Gruppe auf die breitere Friedensbewegung blieb gering. Die staatlichen Repressionen nahmen die radikale Opposition mit besonderer Schärfe ins Visier, aber auch die Schwierigkeiten, politisch in das mehrheitssozialdemokratische Milieu einzudringen, machten sich bemerkbar. So verschränkte sich die programmatische internationale Orientierung der Gruppe mit der notwendigen Hoffnung auf eine revolutionäre Lösung auf globaler Ebene. Eine indirekte Wirkung auf die (aus spartakistischer Sicht) gemäßigte Opposition, so Bois, sei aber dennoch auszumachen. Spartakus gelang es fallweise, die USPD zur Initiative zu drängen. Stefan Bollingers Darstellung und Diskussion der deutschen Linken im Ersten Weltkrieg stechen in doppelter Weise hervor. Zum einen versteht er diese Debatte explizit nicht nur historiografisch, sondern auch als politischen Auftrag, über die gegenwärtige Situation der politischen Linken nachzudenken. Das Spannungsfeld zwischen Reform und Revolution sei bis heute aktuell. Zum anderen sieht Bollinger die Ursache für die Parteispaltung in unentschiedenen Konflikten in der SPD seit dem Gothaer Vereinigungsparteitag von 1875. Vor der „organisatorischen Spaltung kam die inhaltliche“, so die Kernaussage Bollingers. In der USPD fanden sich zwar zunächst nicht die Vorkriegskonstellationen wieder, sobald jedoch der Krieg beendet war, kehrten die alten Frontstellungen zurück. Diese Antagonismen führten mit gewisser innerer Logik endgültig in die Spaltung, was Bollinger, da er die KPDPolitik der 1920er-Jahre nicht als vorbildgebend betrachtet, als nach wie vor existierende Herausforderung für die politische Linke betrachtet. Im dritten Abschnitt des Bandes werden die Stellung der USPD zwischen Parlamentarismus und Rätemodell, zwischen Reform und Revolution und die Rolle der USPD in der Novemberrevolution diskutiert. Im ersten Beitrag nimmt Bernd Braun die letzte kaiserliche Regierung unter Max von Baden zum Ausgangspunkt für die Frage nach den politischen Systemzielen der Sozialdemokratie. Die Führung der Sozialdemokratie, so Braun, war nicht nur unvorbereitet auf die Revolution, sondern hatte sich mit der Monarchie als Staatsform und der Parlamentarisierung des Reiches als Systemziel arrangiert. Insbesondere Friedrich Ebert sah in der Regierung Max von Baden die Geburtsstunde der Demokratie in Deutschland. Da die Republik in der Perspektive der MSPD nur Resultat (einer nicht gewollten) Revolution sein konnte, habe es sich im Herbst 1918 bei der USPD um die einzige republikanische Partei in Deutschland gehandelt. Sehr deutlich erscheinen die Mehrheitssozialdemokratie mit ihrem Eintreten für ein politisches Mischsystems aus Parlament und Reichsverweserschaft auf der einen Seite und die USPD als Republikpartei auf der anderen Seite als Wiedergänger der Akteure von 1848. Zugleich, und hier dürften ihm andere Autoren des Bandes widersprechen, folgt Braun dem damaligen Reichstagspräsidenten Paul Löbe in der Analyse, dass die Schwäche des herrschenden Regimes, nicht aber die Novemberrevolutionäre den Umsturz herbeiführten. In einer weiteren biografischen Studie setzt sich Mike Schmeitzner mit dem Cheftheoretiker der Vorkriegssozialdemokratie und zentralen Protagonisten der USPD Karl Kautsky auseinander. Schmeitzner untersucht dessen Verständnis proletarischer Diktatur und fragt, warum seitens der USPD überraschender Weise
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Kautsky und nicht beispielsweise Eduard Bernstein zum prominentesten Kritiker der russischen Bolschewiki wurde. Kautsky folgte zunächst dem späten Friedrich Engels und charakterisierte eine sozialistische Parlamentsmehrheit als Diktatur des Proletariats, wobei er von (liberalem) Grundrechtsschutz nicht viel wissen wollte und der Mehrheit repressive Mittel gegenüber der Bourgeoisie zubilligte. Diese Verwischung der Grenzen von Demokratie und Diktatur, so Schmeitzner, erfolgte durch die Unterscheidung von Diktatur und Herrschaft, die sich beim späten Kautsky zu einer Differenz von Diktatur als Zustand oder als Regierungsform transformierte. So kritisierte Kautsky dann im Spätsommer 1918 die Diktatur in Russland als Willkürherrschaft und sprach den Bolschewiki ab, sich auf Marx berufen zu können. Dieser habe unter der Diktatur des Proletariats einen gesellschaftlichen Zustand und nicht lediglich eine Regierungsform verstanden. In der Sphäre der Politik konnte es für den späten Kautsky nur noch eine pluralistische Demokratie geben. Diese relative Liberalisierung in Kautskys politischem Denken – die Parlamentarisierung des Diktaturbegriffs, wie es Schmeitzner charakterisiert – und die Reaktion Lenins („Renegat Kautsky“) wusste fortan die MSPD als Keil zu nutzen, den sie in die USPD trieb. Axel Weipert beleuchtet zunächst kritisch die in der USPD geführten theoretischen und konzeptionellen Debatten über das Rätesystem, die im Wesentlichen während der zweiten Revolutionsphase (Januar 1919 bis April 1920) geführt wurden. Während der sogenannte rechte Parteiflügel um Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding für ein Mischsystem aus Räten und Parlament eintrat, votierte der linke Flügel um Ernst Däumig und Richard Müller für ein reines Rätesystem. Obwohl der linke Flügel das Rätesystem mit der Diktatur des Proletariats gleichsetzte, lagen auch diesen Protagonisten putschistische Absichten fern. Eher waren sie bereit, ein Mischsystem während einer Übergangsphase zu akzeptieren. Obgleich mit Sympathie verbunden, macht Weipert aus demokratietheoretischer Sicht eine Reihe von Problemen aus, die mit den Rätevorstellungen des radikalen USPD-Flügels verbunden waren, nicht zuletzt die Leerstelle, wo Erwerbslose oder nicht in nomineller Lohnarbeit tätige Menschen ihren politischen Willen formulieren können. Zugleich erkennt Weipert im zweiten Teil seines Beitrags anhand des Berliner Generalstreiks vom März 1919 die politische Funktionalität der betrieblichen Rätestrukturen. Im Unterschied zu älterer Forschung macht er diese in der Revolution gebildeten Strukturen für den Aktivismus des Frühjahrs 1919 verantwortlich. Eine der jüngsten regionalen Detailstudien zur USPD-Geschichte stammt von Mario Hesselbarth. In der organisations- und politikgeschichtlichen Skizze einer ihrer Hochburgen – im Juni 1920 wurde die USPD stärkste Partei in Thüringen – argumentiert er gegen einseitige Vereinfachungen, die (wie in der DDR-Geschichtsschreibung) in der USPD lediglich Antagonismen wirken sahen, welche zur Spaltung und Fusion mit der KPD 1920 führen mussten, oder (wie in der Nachwendezeit) die Unabhängigen in eine rein parlamentarische Tradition stellten. Stattdessen lassen sich, so Hesselbarth, lokale und regionalgeschichtliche Parteitraditionen aus der Vorkriegszeit nachweisen, die in der USPD (und auch der SPD) fortlebten und deren politisches Agieren prägten. Eine solche Regionalstudie kann, dies belegt Hesselbarth, im Konkreten die Radikalisierung der USPD nachzeichnen, deren
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Grundlage vielfach die Erfahrungen mit einmarschierenden Freikorpseinheiten im Frühjahr 1919 beziehungsweise der Reichswehr im Anschluss an den abgewehrten Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 darstellte. Reiner Tosstorff schließlich diskutiert die Entwicklung der USPD seit Frühjahr 1919 bis hin zur Wiedervereinigung mit der Mehrheitssozialdemokratie 1922, verfolgt aber auch die Ausläufer der verbliebenen Organisation bis in die 1930er-Jahre hinein. Der lokalen Untersuchung des Radikalisierungsprozesses fügt Tosstorff damit einen Gesamtüberblick bei, der sowohl die Dynamik von Zentrale (Berlin) und ‚Provinz‘ thematisiert, als auch die transnationale Dimension in den Blick nimmt. Dabei diskutiert er zum Ersten die Auseinandersetzungen in den Freien Gewerkschaften, in denen die USPD etwa ein Drittel der Delegierten stellte, aber mit dem Metallarbeiterverband zugleich die größte Einzelgewerkschaft dominierte. Zum Zweiten integriert Tosstorff mit seinem Blick auf die im März 1919 gegründete Komintern die bolschewistische Organisation in seine Analyse, an deren Aufnahmebedingungen sich erst die Geister und dann die Flügel in der USPD schieden. Die Bedeutung dieses übergreifenden Blicks wird deutlich, wenn Tosstorff auf die durch den Streit um die Komintern-Bedingungen nicht ausdiskutierte Gewerkschaftsfrage (Gewerkschaften oder Räte?) aufmerksam macht. Mit dem Anschluss an die Komintern und der damit verbundenen Fusion mit der KPD verlor die USPD/KPD ihren Gewerkschaftsflügel, da dieser nicht bereit war, seinen seit der Revolution erreichten Einfluss aufzugeben. Der Wiedervereinigung mit der SPD folgten dann auch die meisten Gewerkschaftskader, obgleich prominente Vertreter wie Robert Dißmann vom Deutschen Metallarbeiter-Verband – an dem Tosstorff seine Argumente immer wieder exemplifiziert – noch einen Ausweg suchten. LITERATUR Albert, Gleb J.: Das Charisma der Weltrevolution. Revolutionärer Internationalismus in der frühsowjetischen Gesellschaft, 1917–1927, Köln 2017. Anton, Bernward: Die Spaltung der bayerischen Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg und die Entstehung der USPD. Vorgeschichte – Verlauf – Ursachen, Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades an der Philologisch-Historischen Fakultät der Universität Augsburg, 2015. Becker, Frank / Scheller, Benjamin / Schneider, Ute (Hg.): Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte. Frankfurt am Main 2016. Berger, Stefan: Die Parteispaltung während des Ersten Weltkrieges, in: Faulenbach, Bernd / Helle, Andreas (Hg.): Menschen, Ideen, Wegmarken. Aus 150 Jahren deutscher Sozialdemokratie, [Berlin?] 2013, S. 52–61. Ders.: Von der Begrenzung der Zukunft zur Suche nach Zukunft.: Die Zukunft der Sozialdemokratie vom Ersten Weltkrieg bis heute, in: Hölscher, Lucian (Hg.): Die Zukunft des 20. Jahrhunderts. Dimensionen einer historischen Zukunftsforschung, Frankfurt am Main 2017, S. 57–74. Bloch, Max: Albert Südekum (1871–1944). Ein deutscher Sozialdemokrat zwischen Kaiserreich und Diktatur. Eine politische Biographie, Düsseldorf 2009. Ders. (Hrsg.): Albert Südekum. Genosse, Bürger, Patriarch. Briefe an seine Familie 1909–1932, Wien 2017. Bois, Marcel: Zeiten des Aufruhrs. Die globalen Proteste am Ende des Ersten Weltkriegs, in: Hüttner, Bernd (Hrsg.): Verzögerter Widerstand. Die Arbeiterbewegung und der Erste Weltkrieg, Berlin 2015, S. 103–116.
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DIE USPD: STOLPERSTEIN DER DEUTSCHEN DEMOKRATIEGESCHICHTE?
DIE SPALTUNG DER DEUTSCHEN ARBEITERBEWEGUNG UND DIE GRÜNDUNG DER USPD 19171 Hartfrid Krause 1. DIE GRÜNDUNG DER USPD 1917 Der USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) ist innerhalb der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung im Vergleich zur Geschichte der SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) oder der KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) weniger Aufmerksamkeit beschieden. Keine der beiden anderen Arbeiterparteien beriefen sich später auf die USPD. Nach einer ersten Veröffentlichung von Eugen Prager im Jahr 1921, Redakteur der USPD-Zeitung „Freiheit“, erschienen erst im Jahr 1975 drei voneinander unabhängige Arbeiten über die USPD: vom englischen Historiker David W. Morgan, vom Amerikaner Robert W. Wheeler sowie meine Arbeit; regionale oder lokale Arbeiten folgten.2 Am 6. April 1917 wurde die USPD im Volkshaus „Zum Mohren“ in Gotha gegründet.
Abb. 1: Volkshaus zum Mohren3
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Zum hundertsten Jahrestag erschien: Krause (2017a): Die Gründung der USPD; siehe auch die Beiträge im Themenheft „1917 bis 2017: 100 Jahre Links“, Indes 2016, H. 4. Allgemeine Literatur zur USPD: Prager (1922): Geschichte der USPD; Morgan (1975): The Socialist Left; Wheeler (1975): USPD und Internationale; Krause (1975): Geschichte der USPD; Regionalgeschichte der USPD: Neuschl (1983): USPD in Württemberg; Hermann (1989): Pfälzische USPD; Grau (2007) sowie Anton (2015): USPD Bayern; Ulrich (1993): USPD Hamburg; Hesselbarth (2017): USPD Thüringen. Engelmann / Naumann, (1993): Zwischen Spaltung, S. 27
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Hartfrid Krause
Auffällig ist die Symbolik des Tagungsortes: 1875 hatte in Gotha der Vereinigungsparteitag des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins, gegründet von Ferdinand Lassalle, mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei unter August Bebel und Wilhelm Liebknecht stattgefunden. Die Anknüpfung an diese Tradition 1917 sagt viel über das Selbstverständnis der innerparteilichen Opposition im Ersten Weltkrieg aus. Nicht Spaltung, sondern Einheit war das Motto. Hier versammelten sich 143 sozialdemokratische Vertreter, darunter 15 Reichstagsabgeordnete, zunächst entsprechend dem Einladungsschreiben zu einer Oppositionskonferenz.4 Wilhelm Bock, der bereits 1875 im Präsidium auf dem Vereinigungsparteitag gesessen hatte, postulierte in seiner Begrüßungsansprache, das Ziel dieser Konferenz sei, „den Zusammenbruch der einst so starken deutschen Sozialdemokratie aufzuhalten“.5 Noch deutlicher: Die Wiedergeburt der Sozialdemokratie ist das hohe Ziel, das sich diese Konferenz gesteckt hat, und dieses hohe Ziel soll allen bei den Beratungen vorschweben […] und auch die Internationale harrt gespannt, ob von hier aus das Banner des Sozialismus in alter Reinheit neu entfaltet wird.6
Damit war für einen Teil der Delegierten die Zielvorgabe dieser Konferenz deutlich formuliert. 2. DIE FÜHRUNGSCREW DER USPD 1917 Die Führung der neuen Partei bestand durchweg aus Reichstagsabgeordneten der SPD, die der Kriegspolitik der Mehrheit – ab 1917 Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands (MSPD) – in der Fraktion ihre Zustimmung versagten. Vergleicht man die Biographien dieser „Abweichler“ und späteren USPD-Vorsitzenden zwischen 1917 und 1922, so fällt auf, dass alle drei langjährige Mitglieder des deutschen Reichstages waren: Hugo Haase seit 1897, Georg Ledebour seit 1900 und Wilhelm Dittmann seit 1912. Sie waren lange vor dem Ersten Weltkrieg in die SPD eingetreten und wurden von der Vorkriegssozialdemokratie entscheidend geprägt. Haase wurde 1887 Mitglied der SPD, Ledebour 1890 und Dittmann 1894. Alle waren hauptberuflich Politiker: als Rechtsanwalt, als Reichstags- oder Landtagsabgeordnete oder Redakteur sozialdemokratischer Zeitungen. Sie waren Kriegsgegner der ersten Stunde; keiner hat von sich aus aktiv die Spaltung der Sozialdemokratie betrieben. Sie wollten innerparteiliche Meinungsfreiheit auch gegenüber der Mehrheit im Reichstag, sie wollten für ihre Position kämpfen und hofften, auf Dauer die Mehrheit der sozialdemokratischen Mitglieder von ihren Positionen überzeugen zu können. Alle wollten „die Massen“ der Arbeiter erreichen und nicht als kleine Sekte existieren. 4 5 6
Protokoll Gründungsparteitag der USPD (1922), S. 38. Ebd., S. 8. Ebd., S. 9.
Die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung und die Gründung der USPD
Abb. 2: Wilhelm Dittmann (1874–1954) Tischler
Abb. 3: Hugo Haase (1865–1919) Rechtsanwalt
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Abb. 4: Georg Ledebour (1850–1947) Gelernter Kaufmann, Schriftsteller7
Als neue Parteivorsitzende und in Abkehr von der alten Sozialdemokratie veränderten sie ihre Positionen, sie wurden radikaler in ihren Forderungen, schufen ein eigenes Profil. Ihr Ziel war „eine sozialistische Republik als Alternative zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft“. Konkrete Vorstellungen über die nächsten Schritte waren, wenn überhaupt, nur rudimentär entwickelt. Sie schafften es nach Ende des Ersten Weltkrieges nicht, die verschiedenen Flügel der USPD zusammenzuhalten, aus der freien, solidarischen Diskussion die Kraft zu schöpfen, um unter einem gemeinsamen Dach eine links-sozialistische Alternative zur alten Sozialdemokratie und zur entstehenden kommunistischen Partei zu entwickeln. Sie unterschieden sich allerdings deutlich von der im Weltkrieg entstandenen Spartakusgruppe unter Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Die USPD-Gründer waren Gegner „putschistischer“ Aktionen, Gegner des Kommunismus, nach 1919 Gegner der Kommunistischen Internationale. Dieses Spannungsverhältnis prägte bereits den Gründungsparteitag. Die späteren Vorsitzenden der USPD Arthur Crispien, Ernst Däumig und Adolf Hoffmann gingen 1922 wieder zur SPD zurück, nur die „jungen“ Parteisekretäre Wilhelm Koenen, Walter Stoecker, Otto Gäbel und Bertha Braunthal, im Gründungsjahr der USPD zwischen 26 und 31 Jahre alt, gingen zur KPD und fanden dort ihre politische Heimat. Curt Geyer, einer der Wortführer der jungen Linken in der USPD, formulierte in seinen in den sechziger Jahren veröffentlichten Erinnerungen über den Gegensatz zwischen ‚parlamentarischer Opposition‘ und ‚direkter Aktion‘: Das war in der Partei eine Frage der Generationen wie eine Frage der Tradition. Die älteren Politiker und Parlamentarier der Partei verstanden unter Politik das, was die Sozialdemokratie
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Dittmann (1995): Erinnerungen, Bd.1; Haase (1929): Sein Leben; Ledebour (1954): Mensch und Kämpfer.
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Hartfrid Krause der Vorkriegszeit darunter verstanden hatte, wir Jungen dagegen waren Aktivisten, die unmittelbar in die Ereignisse eingreifen und den Gang der Geschichte bestimmen wollten.8
Die Jungen begeisterten sich für die russische Februarrevolution 1917 und auch für die Bolschewisten: Diese russischen Revolutionäre redeten nicht nur über den Sozialismus, sondern versuchten, ihn aktiv, stellvertretend für die Arbeiter und Bauern umzusetzen. Curt Geyer beschreibt diese Haltung der jungen Radikalen deutlich: „Die russische Revolution schien alle meine Anschauungen und Erwartungen zu bestätigen und feuerte meinen Drang nach Aktivität an.“9. Die verbale Unterstützung der älteren USPD-Reichstagmitglieder für die russische Revolution war zwar vorhanden. So äußerte Hugo Haase im Reichstag, es gäbe „nur einen Weg der Rettung – und da stimmen wir überein mit ihnen [den russischen Bolschewisten]. Hilfe bringt nur der internationale Klassenkampf“.10 Eine konkrete praktische Umsetzung erfolgte jedoch nicht. Diese Dialektik zwischen den „jungen Aktivisten“ und den „älteren Parlamentariern“ prägte die USPD zwischen 1917 und 1920 und trieb die Partei zu einer immer deutlicheren Abkehr von der Vorkriegssozialdemokratie. Auf der einen Seite war das Vorantreiben neuer Ideen (Arbeiter- und Soldatenräte), neuer Ziele (Sozialisierung, Betriebsrätegesetz), kein Erstarren in bewährten Aktivitäten deutlich zu spüren. Auf der anderen Seite war die konsequente Ausnutzung parlamentarischer Möglichkeiten erkennbar. Alternative Aktionsformen der „Jungen“ wurden zugelassen, der Fokus auf erreichbare Zwischenschritte mit „den Massen der Arbeiter“ gerichtet, ohne das Endziel aus dem Auge zu verlieren. Die Streiks seit April 1917 wurden unterstützt, immer neu auszurufende Massendemonstrationen dagegen abgelehnt. Die lebendige Diskussion und die Aktionen trieben die USPD von der rein parlamentarischen Oppositionspolitik während der Kriegszeit hin zu einer „links-sozialistischen Alternative“. Ein weiter zu erklärendes Unterscheidungsmerkmal war die soziale Basis der USPD-Mitglieder: Die qualifizierten Facharbeiter tendierten eher zur USPD, während die jungen Radikalen, häufig ehemalige Soldaten, später in der Weimarer Republik die Arbeitslosen, eher der KPD zuneigten. 3. STATIONEN DER SPALTUNG (AUGUST 1914 – APRIL 1917) Die zentralen Persönlichkeiten der USPD waren keine „Hinterbänkler“, sondern gestandene Sozialdemokraten: Hugo Haase war bis 1916 Vorsitzender der sozialdemokratischen Partei und der Reichstagsfraktion, Georg Ledebour ein allseits geachteter Berliner Arbeiterführer und Karl Kautsky war Herausgeber der sozialdemokratischen Wochenschrift ‚Die Neue Zeit‘. Die Oppositionellen gingen davon 8 Zit. nach: Benz, Graml (1976): Revolutionäre Illusion, S. 139. 9 Ebd., S.57. 10 Haase am 29.November 1917 in Verhandlungen des Reichstages 13. Legislaturperiode, II. Session, Berlin 1914ff. Sitzung vom 29. November 1917, Bd. 311, S. 3964f.
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aus, spätestens nach Ende des Weltkrieges die Mehrheit der sozialdemokratischen Arbeiter hinter sich zu scharen. Sie fühlten sich als die „echten“ Sozialdemokraten, die mit Rückgriff auf das Erfurter Parteiprogramm von 1891 die Gesellschaft revolutionieren wollten. Sie verstanden sich als die „reine“ Sozialdemokratie, während sie der Mehrheit Verrat an den Grundlagen der sozialdemokratischen Bewegung vorwarfen. Der Trennungsprozess begann allerdings spätestens mit Ausbruch des 1. Weltkrieges im August 1914, als die Sozialdemokratie im Reichstag aufgefordert wurde, für die Kriegskredite zu stimmen. Die Stimmung in Deutschland war aufgeheizt. Man ging von einem kurzen ruhmreichen Feldzug aus. Dass es ein vierjähriger Weltkrieg werden würde, den Deutschland verlieren könnte, hatte Anfang August 1914 keiner gedacht. Da die SPD-Führung um die eigene Organisation Angst hatte, schickte sie Friedrich Ebert mit der Parteikasse sicherheitshalber in die Schweiz. Die öffentliche Kriegsbegeisterung, der sich viele SPD-Reichstagsabgeordnete nicht entziehen konnten, und das geschickte Verhalten der rechten SPD-Führer – Eduard David sprach davon, „sich von überkommenen Vorstellungen loszusagen, umzulernen“11 – , sowie das Argument gegen das Zarenreich und das Abrücken anderer sozialdemokratischer Parteien der am Krieg beteiligten Länder von den Grundsätzen der 2. Internationale charakterisierten die Stimmung. Ende Juli 1914 blieb von der klaren pazifistischen Position, wie sie noch 1907 auf dem Internationalen Sozialisten-Kongress in Stuttgart beschlossen war12, nicht mehr viel übrig. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion beschloss am 3. August 1914 (mit 78 gegen 14 Stimmen), dem Antrag der Reichsregierung auf Kriegskreditbewilligung zuzustimmen und den Fraktionszwang beizubehalten, der von allem Abgeordneten (auch von Karl Liebknecht) eingehalten wurde. Ausgerechnet den Parteiund Fraktionsvorsitzenden Hugo Haase, einer der deutlichsten Kritiker dieser Position, beauftragte die Fraktion damit, diese Kriegsunterstützung im Reichstag zu verkünden. Entgegen seiner eigenen Überzeugung erklärte Haase im Reichstag die Position seiner Fraktion: Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen Schrecknisse der feindlichen Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel. […] Unsere heißen Wünsche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen Brüder ohne Unterschied der Partei.13
11 Prager (1922): Geschichte der USPD, S. 25. 12 „Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarischen Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, alles aufzubieten, […] den Ausbruch des Krieges zu verhindern. […] Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, so ist es die Pflicht, für dessen rascher Beendigung einzutreten. (Internationaler Sozialisten-Kongress zu Stuttgart. 18. bis 24. August 1907, Berlin 1907, S.65f). 13 Verhandlungen des Reichstages. Stenographische Berichte. XIII Legislaturperiode, II. Session, Bd.306, Sitzung vom 4. August 1914, S. 8f.; siehe auch Matthias / Pikart (1966): Reichstagsfraktion, S. 3ff.
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Hartfrid Krause
Damit war klar, dass dem Wortradikalismus der Sozialdemokratie von 1907 keine entsprechenden Taten folgen würden: Ein Auseinanderdriften dieser großen sozialdemokratischen Partei war vorgezeichnet. Die Opposition bestand aus den bereits vor dem Ersten Weltkrieg herausgebildeten sehr unterschiedlichen Gruppierungen: die Linke um Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Clara Zetkin, Franz Mehring, also die spätere Spartakusgruppe und seit dem 31. Dezember 1918 KPD, die Pazifisten um Eduard Bernstein, die nach Ende des Weltkrieges keinen Grund einer weiteren Spaltung sehen sollten, und das „marxistische Zentrum“ um Karl Kautsky, Hugo Haase, Rudolf Hilferding, die erst 1922 den Weg zurück zur SPD gehen sollten, sowie die sehr kleine Gruppe um den sozialistischen Arbeiterführer und „Querdenker“ Georg Ledebour.14 Der Reichstag verabschiedete sich bis zum Dezember 1914. Das Kriegsgeschehen innerhalb dieses halben Jahres machte schnell deutlich, dass es sich nicht um einen Verteidigungskrieg gegen die ‚russische Aggression‘ handelte: Der langandauernde Stellungskrieg war schon bald nach der Marne-Schlacht im Herbst 1914 erkennbar. Bei der Vorlage zur 2. Kriegskreditbewilligung im Dezember 1914 stimmte Karl Liebknecht als einziger auch im Reichstag offen gegen die Kreditvorlage. In Abwägung zwischen Fraktionsdisziplin und Parteiprogramm entschied er sich für das Letztere. Eine Reaktion des Fraktionsvorstandes war zu erwarten und kam auch prompt: Der Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion stellt fest, dass der Genosse Liebknecht entgegen dem alten Brauch der Fraktion, der durch einen ausdrücklichen Beschluss für den vorliegenden Fall erneuert wurde, gegen die Kriegskreditvorlage gestimmt hat. Der Vorstand bedauert diesen Bruch der Disziplin, der die Fraktion noch beschäftigen wird, aufs tiefste.15
Damit wurde bereits im Dezember 1914 deutlich, wie die Fraktion mit abweichenden Positionen umgehen würde: Sie bestand auf der Fraktionsdisziplin und ließ öffentliche Diskussionen nicht zu, Abweichlern wurde Disziplin- und Vertrauensbruch vorgeworfen. Der Druck wurde beständig erhöht und die Möglichkeit einer offenen Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit verhindert bis die Oppositionellen schließlich aus der Fraktion ausgeschlossen wurden. Im zweiten Kriegsjahr 1915 formierte sich die Opposition. Zunächst stimmte bei der dritten Kriegskreditbewilligung am 20. März 1915 neben Karl Liebknecht auch Otto Rühle offen im Reichstag dagegen, während 30 sozialdemokratische Abgeordnete vor der Abstimmung den Saal verließen, eine Form des kleinen 14 Ledebour schloss sich keiner dieser Richtungen an, führte im Herbst 1922 die USPD weiter, wurde 1924 aus der „Rest-USPD“ ausgeschlossen und führte den von ihm gegründeten „Sozialistischen Bund“ – eine Abspaltung der „Rest-USPD“ – weiter, bis dieser dann 1931 in der SAPD aufging. Siehe Krause (2017b): Die USPD nach 1922. 15 Prager (1922): Geschichte der USPD, S. 46; siehe Matthias / Pikart (1966): Reichstagsfraktion, S. 5f. „Ein Antrag von Henke auf Freigabe der Abstimmung mit dem Recht für die Minorität, ihre Abstimmung gleichfalls mit einer Erklärung motivieren zu dürfen, wurde […] gegen 7 Stimmen abgelehnt.“ (Ebd., S. 7). Die Opposition der 17 Gegenstimmen war erst im Erstehen.
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Widerspruchs: man gab seinem Missfallen Ausdruck, ohne die Fraktionsdisziplin offen zu durchbrechen.16 Nachdem eine innerparteiliche Klärung zur Frage der Kreditbewilligung in der sozialdemokratischen Partei und Presse nicht geführt wurde, ging die parteiinterne Opposition mit zwei unterschiedlichen Verlautbarungen an die Öffentlichkeit. Zunächst wurde am 9. Juni 1915 ein von Liebknecht und Ledebour initiiertes und formuliertes Protestschreiben und Flugblatt gegen die Burgfriedenspolitik der Reichstagsfraktion an den Vorstand der SPD veröffentlicht, das von fast 1000 oppositionellen Partei- und Gewerkschaftsmitgliedern unterzeichnet worden war. In dem Protestschreiben hieß es: Keinem, der noch länger zögert, kann fürderhin Gutgläubigkeit und Unkenntnis zugebilligt werden. Der Tatbestand liegt unzweideutig; die Situation ist vom letzten Nebel geklärt. Die Alternative lautet schlechthin: Parteirettung oder Parteizerstörung. […] Wir fordern, dass Fraktion und Parteivorstand endlich ohne Zaudern dem Parteiverderben Einhalt tun, den Burgfrieden aufsagen und auf der ganzen Linie den Klassenkampf nach den Grundsätzen des Programms und den Parteibeschlüssen, den sozialistischen Kampf für den Frieden eröffnen. Die Verantwortung für alles, was sonst kommt, fällt denen zu, die die Partei auf die abschüssige Bahn getrieben haben und ferner darauf erhalten wollen.17
Betrachtet man die Funktionärsliste nach dem Herkunftsorten, um etwas über die frühe Stärke der innerparteilichen Opposition zu erfahren, so lassen sich folgende Aussagen treffen: mehr als 60 % aller Unterschriften stammen aus sechs Bezirken: Berlin (über 40 %), Hanau (über 4 %), Düsseldorf (4 %), Crimmitschau (3,5 %), Gotha (fast 3 %) und Stuttgart (gut 2,5 %). 10 Tage später – am 19. Juni 1915 – veröffentlichte die Leipziger Volkszeitung den Aufruf „Das Gebot der Stunde“, verfasst von Eduard Bernstein, Hugo Haase (noch Vorsitzender der SPD und der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion) und Karl Kautsky. Darin wurde dargelegt, warum gerade jetzt „die Stunde der Entscheidung“ gekommen sei: Der Krieg sei ein Eroberungskrieg geworden, die Konservativen hätten sich „unumwunden für Annexionen ausgesprochen.“ Es sei jetzt Aufgabe der Sozialdemokratie, der „Partei des Friedens“, auf der Grundlage freier Vereinbarung gegen die Eroberungspläne einen Frieden ohne Annexion anzustreben. Eine Positionsänderung des Parteivorstandes oder der Reichstagsfraktion erfolgte allerdings nicht. Die vierte Kriegskreditbewilligung im August 1915 brachte noch keine Veränderung, sie vollzog sich erst bei der fünften Kriegskreditbewilligung im Dezember 1915. Hier kam es fast zum Bruch der Fraktion; Eugen Prager spricht von einer „Gewitterstimmung“18, nachdem Hugo Haase in der vorausgegangenen Fraktionssit 16 Eine Zusammenstellung der Abweichler von 1914–1917 in Krause (2017a): Die Gründung der USPD, S. 74ff. 17 Die fast 1000 Namen mit Ortsangabe sind neben dem Protestschreiben abgedruckt in: Dokumente und Materialien (1958), S. 169– 85, hier S.172f.; siehe auch Prager (1922): Geschichte der USPD, S. 69ff.; Ratz (1969): Georg Ledebour, S.172f. 18 Siehe Prager (1922): Geschichte der USPD, S. 86.
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zung eindringlich für eine Freigabe der Abstimmung mit den folgenden Worten geworben hatte: Ich würde es als eine Tat weitsichtiger Taktik der Fraktion ansehen, wenn die Fraktion dann, wenn in zunehmendem Maß die Minderheit wächst, wenn man sagen kann und muss, dass sich die Minderheit in eine Mehrheit verwandeln wird, dass sie dann den Standpunkt der Toleranz annimmt. […] Man sagt, dieses Vorgehen führe zur Spaltung. Nein, es führt nicht zur Spaltung. Wenn aber die Fraktion sich anders verhalten würde, dann würde die Intoleranz zur Spaltung tatsächlich führen.19
Durchsetzen konnte er sich freilich nicht.20 Obwohl der Minderheit am Ende dieser sehr kontroversen Diskussion gegen 21 Stimmen ein offenes Votum im Reichstag untersagt wurde, verließen vor der Abstimmung 22 Sozialdemokraten den Reichstag und weitere 20 Abgeordnete stimmten im Reichstag offen gegen die Kriegskreditvorlage. Friedrich Geyer erklärte im Namen dieser 20 Abgeordneten im Reichstag: Unsere Landesgrenzen und unsere Unabhängigkeit sind gesichert, nicht Einbruch feindlicher Heere droht uns, wohl aber geht unser Reich wie das übrige Europa bei Fortsetzung des Krieges der Gefahr der Verarmung seiner Kultur entgegen. Wir lehnen die Kriegskredite ab. […] Unseren Friedenswillen und unsere Gegnerschaft gegen Eroberungspläne können wir nicht vereinbaren mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten.21
Das hatte Konsequenzen innerhalb der sozialdemokratischen Fraktion. Noch wurde ein Ausschluss aus der Fraktion nicht beschlossen, aber in dieser Sonderaktion „ein Disziplinbruch bedauerlichster Art erblickt. Die Sonderaktion zerstört die Einheit der parlamentarischen Aktion in der schwierigsten politischen Lage und ist darum auf das Schärfste zu verurteilen.“22 Als „letzten Schuss vor den Bug“ wurde im Januar 1916 Karl Liebknecht aus der Fraktion ausgeschlossen, da er in fortgesetzten Handlungen ohne Abstimmung mit der Fraktion durch Kleine Anfragen die Reichsregierung angeprangert hatte. Damit war Liebknechts Rede- und Antragsrecht entscheidend eingeengt. Die endgültige Trennung und damit das Entstehen der „Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft“ (SAG), der parlamentarische Vorläufer der USPD, erfolgte im März 1916 vor, während und nach den Beratungen zum Not-Etat, der am 24. März 1916 vom Reichstag verabschiedet wurde. In der Fraktionssitzung am Vormittag des 24. März 1916 wurde nur kursorisch über den Not-Etat – als formale Weiterführung des alten Etats über den 1. April 1916 hinaus – diskutiert. Haase 19 Zitiert nach Krause (1975): USPD, S. 60f.; vgl. Dittmann (1995): Erinnerungen, S.408. 20 Hermann Molkenbuhr antwortete darauf: „Das beabsichtigte Sondervorgehen ist eine Spaltung, nicht nur der Fraktion, sondern auch der Partei.“ Zitiert nach Dittmann (1995): Erinnerungen, S. 409. 21 Zitiert nach Prager (1922): Geschichte der USPD, S. 87; Vgl. Krause: USPD (1975), S. 62; Dittmann (1995): Erinnerungen, S. 412f.; Matthias / Pickart (1966): Reichstagsfraktion, S.133ff. mit den Namen der Ablehner. 22 Matthias / Pickart (1966): Reichstagsfraktion, S. 134. Dittmann (1995): Erinnerungen, S. 416.
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ergriff mehrfach das Wort, ohne aber deutlich zu machen, dass er im Reichstag eine anderslautende Rede halten werde. Dittmann schreibt in seinen Erinnerungen: In einer Zusammenkunft am Abend dieses Tages [23.3.1916], in welcher Haase nicht anwesend sein konnte, beschlossen diese Fraktionsmitglieder […], den Not- Etat im Plenum abzulehnen und Haase eine Rede zur Begründung dieses Standpunktes halten zu lassen. Um zu verhindern, dass diese Absicht durch die Mehrheit der Fraktion oder die bürgerlichen Parteien vereitelt werden könnte, wurde beschlossen, der Fraktion davon keine Mitteilung zu machen.23
Im Reichstag erklärte Haase: In allen Ländern haben die Massen den leidenschaftlichen Willen zum Frieden. […] Wir Sozialisten, die wir den Krieg verabscheuen und mit aller Kraft ihn zu verhindern uns bemüht haben, widersetzen uns selbstverständlich seiner Verlängerung. […] Wenn es sich nur darum handelte, die Unversehrtheit des Reiches und die Unabhängigkeit unseres Volkes aufrecht zu erhalten, [so hätten] wir wahrscheinlich schon den Frieden erzielen können.24
Haases Rede im Reichstag wurde zehnmal vom Parlamentspräsidenten unterbrochen, um mit der Unruhe fertig zu werden und Haase auf das Thema zurückzuführen. Am Ende formulierte der Reichstagspräsident ganz erstaunlich: Ich frage nunmehr das Haus, ob es dem Herrn Abgeordneten Haase das Wort weiter gestatten will. Ich bitte die Herren, die es ihm nicht weiter gestatten wollen, sich von ihren Plätzen zu erheben. (Geschieht. — Rufe: auch Sozialdemokraten! — Lebhaftes Bravo.) Das ist die Mehrheit. (Mehrfache Rufe von den Sozialdemokraten: Gegenprobe! — Andauernde Bewegung.)25
Die Rede von Haase und die Turbulenz im Reichstag waren vorüber, nicht jedoch die inner-sozialdemokratische Auseinandersetzung. Diese Rede war für die Mehrheit der Fraktion nicht mehr tragbar. Noch am selben Tag beschloss die sozialdemokratische Fraktion: Durch diese Rede ohne Ankündigung wird sein Disziplinbruch zum Treubruch. Nachdem die Fraktion bereits am 12. Januar die damalige Sonderaktion [Liebknecht] aufs schärfste gerügt hatte, sieht sie sich nunmehr gezwungen zu erklären, dass Haase und diejenigen Fraktionsmitglieder, welche die gemeinsam gefassten Beschlüsse gröblich missachten und öffentlich durchkreuzen, dadurch die aus der Fraktionszugehörigkeit entspringenden Rechte verwirkt haben.26
Die Minderheit erklärte daraufhin noch am selben Tag: Die sozialdemokratische Fraktion des Reichstages hat uns heute […] der aus der ‚Fraktionszugehörigkeit entspringenden Rechte‘ beraubt. Dieser Beschluss macht es uns unmöglich, innerhalb der Fraktion auch ferner die Pflichten zu erfüllen, die uns durch die Wahl als Abgeordnete der sozialdemokratischen Partei auferlegt sind. Wir sind uns bewusst, getreu den Grundsätzen der Partei und den Beschlüssen der Parteitage gehandelt zu haben. Um so die Pflicht gegenüber
23 Ebda., S. 455f. 24 Dittmann (1995): Erinnerungen S. 457. 25 Verhandlungen des Reichstages. Stenographische Berichte. XIII Legislaturperiode, II. Session, Bd. 307, Sitzung vom 24.3.1916, Berlin 1916, S. 844. 26 Ebd. S.4 58; Matthias / Pickart (1966): Reichstagsfraktion, S. 173–177; namentliche Abstimmung: S.176.
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Hartfrid Krause unseren Wählern auch weiterhin erfüllen zu können, sind wir genötigt, uns zu einer Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft zusammen zu schließen. Den völlig unbegründeten Vorwurf des Disziplinbruchs und des Treuebruchs weisen wir zurück.27
Damit war der erste Teil der Spaltung der Arbeiterbewegung vollzogen. Hugo Haase legte zwei Tage später den Fraktionsvorsitz und den Vorsitz der sozialdemokratischen Partei wenig freiwillig nieder. Die große sozialdemokratische Fraktion war gespalten. Dies war in erster Linie nicht der Wunsch der Minderheit. Sie wollte Rede- und Handlungsfreiheit innerhalb der sozialdemokratischen Partei und nicht eine neue Partei gründen. Aber die Minderheit war von der Mehrheit aus der Fraktion herausgedrängt worden: der Weg von der SAG zu einer eigenständigen Partei war damit vorgezeichnet. In drei Konferenzen wurde das Schicksal einer einheitlichen deutschen Arbeiterbewegung besiegelt: Im September 1916 tagte eine Reichskonferenz der Sozialdemokratie Deutschlands, die letzte gemeinsame Konferenz der verschiedenen Flügel der Vorkriegssozialdemokratie, im Januar 1917 tagte die SAG mit der Spartakusgruppe und drei Monate später wurde die Oppositionskonferenz am Ende zum Gründungsparteitag der USPD im April 1917 in Gotha. 4. WAS WAREN DIE GRÜNDE FÜR DIE SPALTUNG? Versucht man die Gründe zu erforschen, so gibt es sicherlich nicht den einen Grund – die Gegnerschaft gegen die Kriegskredite –, auch wenn dies der auslösende Punkt war. Es waren noch andere Gründe wichtig wie beispielsweise die schleichende Parlamentarisierung der Sozialdemokratie, oder das verbale Festhalten am Klassenkampf ohne reale Vermittlung zur Tagespraxis. Hinzu kam sicherlich eine wachsende Unzufriedenheit auf dem linken Flügel (Luxemburg, Liebknecht, Kautsky ) sowie eine pazifistische Grundhaltung, von der die Mehrheit der Sozialdemokratie ab 1914 nichts mehr wissen wollte. Die einigende Kraft des alten Vorsitzenden Bebel fehlte der Sozialdemokratie nach 1913. So stoben die Flügel auseinander ohne Rücksicht auf das gemeinsame Erbe der Vorkriegssozialdemokratie. Spartakusbund, Bremer Linke, die Berliner revolutionären Obleute, die an den Rand gedrückten „Zentristen“ um Kautsky und Haase auf der einen Seite, auf der anderen Seite die Machtpolitiker im Verein mit den Gewerkschaften (Ebert, Legien); diese Flügel wollten oder konnten nicht mehr in einer gemeinsamen Partei zusammen arbeiten. Die sozialdemokratischen Rechten hatten die machtpolitisch wichtigen Schaltstellen in der Partei besetzt und nutzten dies weidlich aus. Nahezu ohne eine eigene Presse fehlte der Opposition jede Möglichkeit der Artikulation oder des Werbens für ihre Position in der Partei und einer weiteren Öffentlichkeit.
27 Dittmann (1995): Erinnerungen, S. 459f. Veröffentlicht wurde diese ‚Erklärung der neuen Fraktion‘, in: Vorwärts, 33. Jg., Nr. 84 (25. März 1916), S. 1.
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5. BESCHLÜSSE DER KONFERENZ IN GOTHA Der Gründungsparteitag der USPD war zunächst ein Zusammengehen der meisten Oppositionsgruppen im Weltkrieg: Nach Gotha gekommen waren die Spartakusgruppe die revolutionären Obleute, die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, die gegen die Kriegskredite gestimmt hatten, und pazifistische Gruppierungen, die in der Sozialdemokratie „keine Stimme“ hatten. Wer fehlte, waren die Bremer Linksradikalen. Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen wurden offen benannt und ausgetragen, ohne gleich mit einem Ausschlussantrag mundtot gemacht zu werden. Beschlossen wurde neben den „Organisations-Grundlinien für die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands“28 als erste gemeinsame inhaltliches Stellungnahme ein von Kautsky verfasstes Manifest. Dieses Manifest wurde „gegen eine Stimme“ – also auch von der Spartakusgruppe – angenommen: Wir verlangen einen Frieden durch Verständigung der Völker, ohne direkte oder versteckte Annexionen, auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, mit internationaler Beschränkung der Rüstungen und obligatorischen Schiedsgerichten. […] Der nationalen Solidarität der Klassen setzen wir entgegen die internationale Solidarität des Proletariats, den internationalen Kampf der Arbeiterklasse. […] Brot und Wissen für alle! Frieden und Freiheit allen Völkern!29
Weitere Beschlüsse wurden nicht gefasst. Längerfristige Ziele, wie es denn weitergehen sollte, wenn der Krieg beendet sein würde, fehlten. Das war durchaus typisch. In einem ersten Aufruf nach Ende des Gründungsparteitages heißt es: In dem erhebenden Bewusstsein, dass in Gotha die alte Sozialdemokratie neu erstanden ist, werden Hundertausende begeistert den neuen unabhängigen Organisationen zuströmen. […] Das Eisen glüht! Frisch ans Werk, es zu schmieden.30
6. DIE WEITERE ENTWICKLUNG DER USPD Der Werdegang der Unabhängigen bis zu ihrem Auseinanderfallen in Richtung KPD und SPD soll hier lediglich kursorisch umrissen werden. Ab April 1917 fand zunächst ein Kampf in jedem Ortsbezirk um die Mitglieder, die Presse und die bezahlten Funktionäre statt. Es zeigte sich allerdings schnell, dass die neu gegründete Partei so gut wie über keine eigene Presse verfügte, bestenfalls die Leipziger Volkszeitung und der Duisburger Der Kampf. Erst am 15. November 1918 konnte die USPD mit einer eigenen Zeitung aufwarten: Die Freiheit. Knapp zwei Monate nach ihrer Gründung trat die USPD im Rahmen der Stockholmer Friedenskonferenz erstmals als eigenständige Partei und nicht mehr nur als Oppositionsgruppe in der SPD auf. Einer der Höhepunkte der Parteiaktivität bis 28 Siehe USPD: Protokoll Parteitag März 1919, S. 8f. 29 Protokoll Gründungsparteitag der USPD (1922), S. 79–83, hier S. 81f. 30 Ebd.
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zum Kriegsende war die Beteiligung am Januarstreik 1918, an dem die USPD im Verein mit den revolutionären Obleuten entscheidenden Anteil hatte.
Abb. 5: Bernstein, Haase (eine Stufe höher), Kautsky, Herzfeld (vordere Reihe v.l.n.r.)31
Mit der Novemberrevolution wendete sich dann das Blatt: Die Oppositionspartei USPD fand sich im Rat der Volksbeauftragten wieder und stelle ab dem 10. November 1918 gemeinsam mit den drei Mehrheitssozialdemokraten Ebert, Scheidemann und Landsberg die Regierung. Die USPD war mit Haase, Dittmann und Barth vertreten. Der Rat der Volksbeauftragten hielt allerdings nur bis Mitte Dezember 1918. Zu verschieden waren die Vorstellungen der alten Sozialdemokratie und der Unabhängigen. Nach dem Rückzug der USPD-Vertreter konnte die alte Sozialdemokratie ihre Politik der Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 problemlos umsetzen, ebenso wie ihren Kampf gegen lokale Arbeiter- und Soldatenräte. Da die Unabhängigen im Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte nicht vertreten waren, standen sie nach kurzer Regierungserfahrung wieder in Opposition gegen die alte Sozialdemokratie, die im Verein mit dem Militär und der alten Bürokratie nur wenig zu ändern bereit war.
31 Ruppert (1988): Fotogeschichte, S.116; siehe hierzu Heid (2002): Oskar Cohn S. 172ff.
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Abb. 6: Die sechs Volksbeauftragten vom 9. November32
Entsprechend wurden die Januar-Unruhen 1919 von vielen USPD-Mitgliedern mitgetragen. Georg Ledebour, Parteivorsitzender der USPD, war aktiv beteiligt und wurde unmittelbar nach der Niederschlagung des Aufstandes verhaftet. In einem spektakulären Gerichtsverfahren wurde er im Sommer 1919 freigesprochen. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 errang die USPD einen Achtungserfolg, jedoch noch deutlich abgeschlagen hinter der SPD. Die Hoffnungen und Erwartungen, als eigentliche sozialdemokratische Partei wahrgenommen und in die Nationalversammlung gewählt zu werden, erfüllten sich nicht.
32 Barth (1919): Aus der Werkstatt, S.80.
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Abb. 7: Besetzung des Berliner Zeitungsviertels33
14000 12000
Wahlen zur Nationalversammlung (1919) und zu den Reichstagswahlen (1920–1924) (in Tausend)
11509
10000 8000 6104 6000 4000
SPD
6009 5047 3693
USPD KPD
2317
2000 0
589
235
0 NV 1919
RT 1920
RT 1924
Abb. 8: Wahlergebnisse der linken Parteien, 1919–192434
33 „5. Januar 1919. Besetzung des Berliner Zeitungsviertels. Hinter einem mit Maschinengewehren bewehrten Auto ziehen Arbeiter und Soldaten zum Vorwärts-Gebäude in der Lindenstraße“ [Berlin], in Römer (1984): Januarkämpfe, S. 6. 34 Statistisches Reichsamt 1919; Statistisches Reichsamt 1920; Statistisches Reichsamt 1925, eigene Zusammenstellung.
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Bei den ersten Wahlen zum Reichstag im Juni 1920 errang die USPD dann allerdings fast so viele Stimmen wie die MSPD. Hier machte sich noch einmal die tiefe Enttäuschung unter sozialdemokratischen Wählerinnen und Wählern über das Ausbleiben weitergehender, sozialrevolutionärer Schritte bemerkbar. Diese Radikalisierung auch in der USPD führte dann 1920 zum Zusammengehen größerer Teile ihrer Mitgliedschaft mit der KPD, die ihrerseits damit erst zu einer Massenpartei wurde. Entzündet hatte sich die Spaltung der USPD auf ihrem Parteitag in Halle im Oktober 1920 an der Frage des Beitritts zur Kommunistischen Internationale (Komintern). Allerdings gingen in diesem Prozess die Stimmen für die Arbeiterparteien insgesamt von 13,8 Millionen im Jahr 1919 über 11,8 Millionen im Jahr 1920 auf 9,9 Millionen 1924 zurück. War das Anwachsen der Mitglieder der verschiedenen Arbeiterparteien im Jahr 1920 fast ausschließlich auf das große Wachstum der USPD zurückzuführen, so führte das Auseinanderbrechen der USPD im Herbst 1920 zu einem entsprechend großen Verlust: Fast jedes dritte USPD-Mitglied organisierte sich nicht mehr in einer der Arbeiterparteien. Im Herbst 1922 vereinigte sich schließlich die verbliebene USPD wieder mit der SPD.
Mitglieder der Arbeiterparteien (1914–1924) in Tausend 2.500 2.000 1.500 1.000 500 0 1914
1917
1918 SPD
1919 USPD
1920
1921
1922
1923
1924
KPD
Abb. 9: Mitgliederzahlen der Arbeiterparteien35
Nur ein kleines Häuflein um Ledebour versuchte die USPD weiter am Leben zu erhalten. Diese „Rest-USPD“ konnte an die Erfolge der alten USPD nie mehr 35 Eigene Zusammenstellung, vgl. Krause (1975): Geschichte der USPD, S. 303.
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anknüpfen, der von Ledebour 1924 gegründete ‚Sozialistische Bund‘ noch viel weniger.36 7. ZUR REZEPTION DER GESCHICHTE DER USPD IN DER DDR UND DER BRD Die Geschichte der USPD ist – im Gegensatz zur Geschichte der Sozialdemokratie oder der Kommunisten – weder in der Bundesrepublik noch in der DDR in derselben Intensität erforscht worden. Das achtbändige Werk Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED von 1966, setzte sich kritisch ablehnend mit der USPD auseinander, indem sie betonte, dass es nur einen richtigen Weg gegeben hätte: Hinein in die KPD! Zur Gründung der USPD heißt es in diesem Werk: Die Gründung der USPD war ein Ausdruck der tiefen Empörung vieler Sozialdemokraten über die Unterstützung des imperialistischen Krieges und die fortgesetzte Bewilligung der Kriegskredite durch die sozialchauvinistischen Mehrheiten in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion und im Parteivorstand. Doch die rechten zentristischen Führer, wie Wilhelm Dittmann, Hugo Haase und Karl Kautsky, wollten durch die Gründung der USPD den Radikalisierungsprozess der Massen auffangen und den Übergang weiter Teile der organisierten Arbeiter auf die Positionen der Linken verhindern. Das aber bedeutete, diese Massen weiterhin der antinationalen Politik der rechten Führung der Sozialdemokratie und damit der imperialistischen Bourgeoisie unterzuordnen.37
Auch ansonsten werden Originalquellen so umgedeutet, dass sie der herrschenden DDR-Parteilinie entsprachen. Zwei kleine Beispiel hierfür. Weiterhin heißt es dort: Georg Ledebour referierte [auf dem Gründungsparteitag der USPD] über die Aufgaben der Partei, die im wesentlichen von den sozialpazifistischen und nur parlamentarischen Auffassungen der Zentristen bestimmt sein sollten.38
Demgegenüber liest man im Protokoll des Gründungsparteitages in der Rede Ledebours: Wir alle wissen, dass der Kampf zu führen ist durch Massenaktionen und durch die sogenannte parlamentarische Vertretung. Das eine hat das andere zu ergänzen, das eine schließt das andere nicht aus. Es kommt auf die Umstände, die Zeitverhältnisse, die Entwicklung der Dinge an, welche Aktionen zur Zeit in den Vordergrund zu treten haben. […] Massenaktionen können nicht durch Führer gemacht werden. Sie erwachsen aus der Not der Zeit.39
36 37 38 39
Siehe Krause (2017b): Die USPD nach 1922. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 2 (1966), S. 307f. Ebd., S. 307. Protokoll Gründungsparteitag der USPD (1922), S. 52.
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Bedenkt man die vielfältigen Zensureinschränkungen während des Krieges, den Belagerungszustand, so war diese Doppelstrategie durchaus das adäquate politische Kampfmittel 1917. Ein zweites Beispiel aus der achtbändigen Geschichte: Zum beschlossenen Manifest am Ende des Gründungs-Parteitages heißt es in dieser DDR-Veröffentlichung: „Die Mehrheit des Parteitages nahm lediglich ein von Karl Kautsky verfasstes Manifest an.“40 Das Protokoll schreibt eindeutig: „Das Manifest wird gegen eine Stimme angenommen.“41 Das bedeutete, dass auch die Spartakusvertreter – bis auf eine Stimme – dem Manifest zugestimmt hatten, was natürlich in der offiziellen DDR-Geschichte nicht deutlich werden sollte. Diverse, sich in der DDR „auf Parteilinie“ befindliche Promotionsarbeiten der 1960er-Jahre beschäftigen sich mit der USPD; als Bücher sind diese Arbeiten nicht erschienen. Die USPD wurde darin in ihrer Gesamtheit als opportunistisch charakterisiert, der linke Flügel galt den Verfassern sogar als gefährlicher als das Parteizentrum um Kautsky, da es ein früheres Zusammengehen mit dem Spartakusbund beziehungsweise der KPD verhindert habe. Der DDR-Historiker Dieter Engelmann schrieb 1987 noch in bewährter Weise über die USPD, dass durch die prinzipienlose Zusammenarbeit von Zentristen wie Haase und Dittmann sowie auch des Vertreters der revolutionären Obleute, Emil Barth, mit den rechten SPD- Führern Ebert, Scheidemann und Landsberg im Rat der Volksbeauftragten […] wirkten die zentristischen USPD-Führer objektiv als Schutzschild für die konterrevolutionäre SPD-Führung. Sie wurden dadurch insofern zur Reserve der Konterrevolution.42
Engelmann veränderte diese radikale Kritik an „den Zentristen“ nach 1989. Befreit von der offiziellen Parteilinie der SED schrieben er und Naumann nun in ihrem Buch „Zwischen Spaltung und Vereinigung“ (1993) von der Partei USPD als „Partei des Sozialismus“ mit einem „Streben nach einer Synthese von Demokratie und Sozialismus als Alternative zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung“43. 1994 schrieb mir Naumann in einem Brief, dass er mit Engelmann zu der Auffassung gelangte, „dass die USPD neu bewertet werden, vor allem die sogenannten Zentristen differenzierter und gerechter beurteilt werden müssten.“44 Diese Umwertung geschah allerdings leise. Die Veränderung früherer Positionen wurden weder konkret benannt noch erklärt.45 In der Bundesrepublik Deutschland benennt die der SPD verbundene Historikerin Susanne Miller 1974 als „grundlegende Schwäche“ der USPD 40 41 42 43 44 45
Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 2, (1966), S. 307. Protokoll Gründungsparteitag der USPD (1922), S. 79. Engelmann (1987): „Zum 70. Gründungsjahr der USPD“, S. 324–334, hier S. 330. Engelmann / Naumann (1993): Zwischen Spaltung, S. 6. Brief Naumann an H. Krause vom 16. Oktober 1994, S. 3. So war das letzte Kapitel „USPD und Sozialistischer Bund in den Jahren 1922 bis 1931“ bereits 1991 in der DDR-Reihe „Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung“ veröffentlicht. Siehe Engelmann (1991): Die Nachfolgeorganisationen.
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Hartfrid Krause die innere Heterogenität, die Verschwommenheit ihrer Zielsetzung, der durch die Parteistruktur vorgegebene Mangel an straffer Führung, der durch Haases persönliche Weichheit und politische Unentschlossenheit noch verstärkt wurde. Der Geburtsfehler der USPD, die Vereinigung unvereinbarer politischer Elemente, hätte in der Revolutionssituation wahrscheinlich korrigiert werden können, wenn die damals kräftemäßig noch weit überlegene ‚zentristische Richtung‘ eine energische und zielklare Führung besessen hätte.46
Die Arbeiten von Morgan, Wheeler und meine Arbeit zeichnen ein differenzierteres Bild der USPD. Robert Wheeler sieht das Neue in der USPD schärfer: In Wirklichkeit hatte man bei vielen praktischen Problemen, von denen man hätte annehmen können, dass sie die Partei zerreißen würden – Parlament und Räte, Demokratie und Diktatur, Gewerkschaftsbewegung, Methode des Putsches –, trotz all der Erregung, die sie hervorriefen, einen Weg für Lösungen gefunden, die den größten Teil der Parteimitglieder befriedigten. Sollten außerdem die lebhaften Auseinandersetzungen in der USPD nicht als ein Zeichen politischer Lebenskraft und als Beweis der demokratischen Struktur der Partei angesehen werden?47
Ich fasste den Gründungskongress und seine möglichen Konsequenzen – wenn auch konjunktivisch – zusammen: Die Erfahrungen des Krieges und die Folgen der revolutionären Ausbrüche hätten den Erfahrungshorizont erweitern und eine Basis für gemeinsame Politik erbracht haben können. Gewiss hätte das eine ‚Radikalisierung‘ der USPD bedeutet, also etwa den Übergang zu bewusster Führung der spontan entstehenden Massenbewegung, zur konsequenten Loslösung von der alten Internationale, zur Konkretisierung revolutionärer Ziele, ja auch zur Übernahme mancher Forderungen, die der Spartakusbund auf dem USPD-Gründungsparteitag vertrat.48
Aber soweit wollte sich die neue Führung nicht aus dem Fenster lehnen. Ein Aufruf vom 12. April 1917 beschwor die gute alte Zeit: „In dem erhebenden Bewusstsein, dass in Gotha die alte Sozialdemokratie neu erstanden ist, werden Hunderttausende begeistert den unabhängigen Organisationen zuströmen […] Das Eisen glüht, frisch ans Werk, es zu schmieden.“49 Was denn das Eisen konkret bedeutete, was denn die nächsten Schritte zur Beendigung des Weltkrieges oder für eine Revolutionierung der alten Gesellschaft sein sollten, blieb ungesagt. 8. SCHLUSS Im Krieg scharten sich um die Opposition diejenigen Kräfte, die zunächst gegen die Burgfriedenspolitik der alten SPD kämpften. In der dann doch spontan ausgebrochenen, wenn auch längst überfälligen Revolution im November 1918 stand die USPD auf einmal in der Regierungsverantwortung und musste sich von Opposition auf Regierungshandeln umstellen – das Ganze im Verbund mit den Vertretern der alten SPD, gegen die man ja gekämpft hatte. 46 47 48 49
Miller (1994): Burgfrieden und Klassenkampf, S. 176f. Wheeler (1975): USPD und Internationale, S. 281. Krause (1975): USPD S. 91. Abgedruckt bei Prager (1922): USPD, S.152f., Krause (1975): USPD, S. 92.
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Diese alte SPD suchte und hielt den Kontakt zur alten Herrschaftselite, zum Militär und damit zu der entscheidenden Exekutivkraft im November / Dezember 1918 und tat alles, um den unabhängigen Ratsmitgliedern das Leben schwer zu machen: von Wahltermin, Stellung zu den Arbeiter- und Soldatenräten, bis zu Sozialisierungsfragen gab es stets einen Dissens, der durch das faktische Machtübergewicht der sozialdemokratischen Ratsmitglieder in ihrem Sinne entschieden wurde. Im Dezember 1918 verließen die drei Unabhängigen verbittert die Regierung und überließen das Regierungsgeschäft vollends den Sozialdemokraten unter der Leitung von Friedrich Ebert, eine zumindest im Nachhinein betrachtete fatale Entscheidung, da die USPD somit jeden regierungsnahen Einfluss einfach aufgab. Dem verbalen Revolutions-Radikalismus folgte keine entsprechende Aktion. Für die aktionsbereite Arbeiterschaft wurde die neue „Hoffnung USPD“ erdrückt von der „Regierungspartei USPD“, die viel zu wenig änderte oder auch ändern konnte. Und trotzdem: Es muss auch über 1922 hinaus ein Bedürfnis gegeben haben, einen dritten Weg zwischen Sozialdemokratie und Kommunistischer Partei zu suchen, in dem zugleich sozialistische und basisdemokratische Strukturen vorherrschten. Geht man zurück zur Ur-USPD und fragt, wer denn zu Beginn der Weimarer Republik quasi als Symbolfigur dafür hätte einstehen können, so stößt man auf dem linken Flügel auf einzelne Männer, die die USPD entscheidend prägten und die von ihr geprägt wurden. Beispielsweise wären auf zentraler Ebene Georg Ledebour (1850–1947) und Theodor Liebknecht (1870–1948), auf lokaler Ebene z. B. die weniger bekannten Dr. Georg Wagner (1867–1935) aus Hanau50 und Ludwig Pappenheim (1887–1934)51 aus Schmalkalden zu nennen. So unterschiedlich die Einzelbiographien auch sind, so lässt sich trotzdem Verbindendes erkennen: Keiner wollte zurück zur alten Vorkriegssozialdemokratie und keiner wollte in die kommunistische Partei eintreten; sie suchten einen Weg zwischen den beiden großen Arbeiterparteien. Sie hatten eine starke lokale Verankerung, für die sie lebten und kämpften, arbeiteten und schrieben. Ihr Fernziel einer geeinten Arbeiterbewegung wurde immer wieder formuliert, auch wenn es ihre Tagespolitik kaum bestimmte. Sie hegten große Vorbehalte gegenüber der Macht eines zentralen Parteivorstandes. Sie waren von Rosa Luxemburg geprägt. Ihr Credo „nie anders die Regierungsgewalt [zu] übernehmen als durch den klaren unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Massen in ganz Deutschland“52 kann durchaus auch als Credo dieser Männer verstanden werden. Für Ledebour und Liebknecht kommt hinzu: Die eigene Überzeugung – so schien es – wurde nie in Frage gestellt. 50 Vgl. Krause (1977): Revolution und Konterrevolution, S. 246ff.; wiederabgedruckt in: Schnellbacher (1988): Hanau in der Revolution. 51 Siehe die Kurzbiographien von Pappenheim in König / Krause-Vilmar (2014): Ludwig Pappenheim. 52 Luxemburg (1974), S. 450.
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Kompromisse zu suchen und zu schmieden für ein gemeinsames Ziel, das konnten sie kaum. So prägend die Vorkriegssozialdemokratie für diese Männer auch war, scheint mir die Zeit der USPD für deren weiteres Leben entscheidend gewesen zu sein. Ich denke, man kann von einem „archimedischen Punkt ihres Daseins“53 bezüglich der USPD sprechen. Auch wenn die USPD nach 1922 als Machtfaktor keine Rolle mehr spielte, waren die USPD-Erfahrungen richtungsweisend für den weiteren Lebensweg der Protagonisten. Angefangen bei der Spaltung im Krieg über die Kämpfe in der Novemberrevolution und den Beginn der Weimarer Republik, die starke Verankerung in der Arbeiterklasse, die Erfahrung des Generalstreiks beim KappPutsch, das überragende Ergebnis bei den Reichstagswahlen 1920 – all das musste ein fulminanter Erfahrungshorizont gewesen sein. Das kurze Leben der USPD hatte individualbiographische Wirkungen ausgelöst, die sie lebenslang weiter begleiten sollten. Insofern hatte die USPD durchaus eine Langzeitwirkung hervorgerufen, die deutlich über das Jahr 1922 hinausweist. Eine Gesamtgeschichte der USPD fehlt allerdings weiterhin. Vielleicht wird jedoch im Rahmen der von der Friedrich-Ebert-Stiftung seit 1984 unregelmäßig erscheinenden Bände der Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in dem angekündigten 8. Band mit dem Titel Machtgewinn und Spaltung. Arbeiter und Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg eine umfassende Geschichte der USPD unter Berücksichtigung regionaler und lokaler Schwerpunkte der USPD veröffentlicht werden. LITERATUR „1917–2017: 100 Jahre Links“, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 4, 2016.mit Beiträgen von Franz Walter: „Nicht nur eine Arbeiterbewegung“ (S. 7–23); Ralf Hoffrogge: „Räteaktivisten in der USPD“ (S. 43–54); Detlef Lehnert: „Gründungsfiguren der USPD“ (S. 115–124). Anton, Bernward: Die Spaltung der bayerischen Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg und die Entstehung der USPD. Vorgeschichte – Verlauf – Ursachen, Dissertation Universität Augsburg, Typoskript, o.O., 2015 Barth, Emil: Aus der Werkstatt der Revolution, Berlin o.J. [Vorwort Juli 1919]. Benz, Wolfgang und Graml, Hermann (Hrsg.): Die Revolutionäre Illusion. Zur Geschichte des linken Flügels der USPD. Erinnerungen von Curt Geyer, Stuttgart 1976. Dittmann, Wilhelm: Erinnerungen. Bearbeitet und eigeleitet von Jürgen Rojahn, Frankfurt / New York 1995. Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Reihe II, Band 1. Juli 1914–Oktober 1917, Berlin1958. Engelmann, Dieter: Zum 70. Gründungsjahr der USPD, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 29.Jg. (1987), S. 324–334. Ders.: Die Nachfolgeorganisationen der USPD, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 33. Jg. (1991), S. 37–45.
53 Der Begriff ist Mario Kesslers Portraitstudie über kommunistische Grenzgänger entnommen. Kessler (2015): Grenzgänger des Kommunismus, S. 10.
Die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung und die Gründung der USPD
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Ders. / Naumann, Horst: Zwischen Spaltung und Vereinigung. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands in den Jahren 1917–1922, Berlin 1993. Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin 1966. Grau, Bernhard: „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), 1917–1922“, publiziert am 14.05.2007; in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: Haase, Ernst: Hugo Haase. Sein Leben und Wirken, Berlin-Frohnau, o.J. [1929]. Heid, Ludger: Oskar Cohn. Ein Sozialist und Zionist im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Frankfurt / New York 2002. Hermann, Alfred: Die Geschichte der pfälzischen USPD, Neustadt a.d.W. 1989. Hesselbarth, Mario: Zur Geschichte der USPD Thüringen, Jena 2017. Illustrierte Geschichte der Deutschen Revolution, Berlin o.J. [1929] Kessler, Mario: Grenzgänger des Kommunismus. Zwölf Portraits aus dem Jahrhundert der Katastrophen, Berlin 2015. König, York-Egbert / Krause-Vilmar, Dietfrid: Ludwig Pappenheim. Redakteur – Sozialdemokrat – Menschenfreund, Berlin 2014. Krause, Hartfrid: USPD. Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Frankfurt/Main 1975. Ders.: Revolution und Konterrevolution 1918/19 ab Beispiel Hanau, 2. Aufl. Kronberg 1977. Ders.: Die Gründung der USPD vor 100 Jahren in Gotha. Eine sozialistische Alternative?, Norderstedt 2017a. Ders.: Die USPD nach 1922. Zum 70. Todestag von Georg Ledebour (2017). Georg Ledebour und der Sozialistische Bund, Theodor Liebknecht und die „Rest-USPD“, Norderstedt 2017b. Ledebour, Minna: Georg Ledebour, Mensch und Kämpfer, Zürich 1954. Luxemburg, Rosa „Was will der Spartakusbund“, in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 442–451. Matthias, Erich / Pikart, Eberhard: Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898– 1918, Zweiter Teil [1914–1918], (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der Politischen Parteien), Düsseldorf 1966. Miller, Susanne: Burgfrieden und Klassenkampf, Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1974. Morgan, David W.: The Socialist Left and the German Revolution. A History of the German Independent Social Democratic Party 1917–1922, Ithaca and London 1975. Naumann, Horst: Die Nachfolgeorganisationen der USPD, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 33. Jg. (1991), S. 37–45. Neuschl, Sylvia: Geschichte der USPD in Württemberg oder Über die Unmöglichkeit einig zu bleiben, Esslingen 1983. Prager, Eugen: Geschichte der USPD, Berlin 1921. Protokoll über die Verhandlungen des Gründungsparteitages der U.S.P.D. vom 6. bis 8. April 1917 in Gotha, Berlin 1921(wieder abgedruckt in: Protokolle der Parteitage der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 5. Bde, Glashütten 1975). Protokoll über die Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages [der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands] vom 2. bis 6. März 1919 in Berlin, Verlagsgenossenschaft Freiheit: Berlin o.J. (wieder abgedruckt in: Protokolle der Parteitage der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 5. Bde, Glashütten 1975). Ratz, Ursula: Georg Ledebour 1850–1947, Berlin 1969. Römer, Willy: Januarkämpfe 1919, Berlin 1984. Ruppert, Wolfgang: Fotogeschichte der deutschen Sozialdemokratie. Herausgegeben von Willy Brand, Berlin 1988. Schnellbacher, Friedrich: Hanau in der Revolution vom 7. November 1918 bis 7. November 1919, o.O., 1920, Neuauflage Wetzlar / Hanau 1988.
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Statistisches Reichsamt (Bearb.) 1919: Die Wahlen zur verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 mit einer Karte der Wahlkreise und farbiger Darstellung der Zahl und Parteistellung der in jedem Wahlkreis gewählten Abgeordneten. Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, 28/1. Ergänzungsheft. Statistisches Reichsamt (Bearb.) 1920: Die Wahlen zum Reichstag am 6. Juni 1920. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 291, Heft I. Berlin. Statistisches Reichsamt (Bearb.) 1925: Die Wahlen zum Reichstag am 4. Mai 1924 und am 7. Dezember 1924 (Zweite und dritte Wahlperiode). Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 315, Heft II. Berlin. Ulrich, Volker: Die USPD in Hamburg und im Bezirk Wasserkante 1917/18, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, 79. Jg.,(1993), S. 133–162. Verhandlungen des Reichstages. Stenographische Berichte. XIII Legislaturperiode, II. Session, Verhandlungen des Reichstages 13. Legislaturperiode, II. Session, Berlin 1914ff. Wheeler, Robert F: USPD und Internationale. Sozialistischer Internationalismus in der Zeit der Revolution, Frankfurt / Berlin / Wien 1975.
INTEGRATION VERSUS OPPOSITION Fünf Thesen zur Spaltung der deutschen Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg Wolfgang Kruse Die sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in allen Industrieländern herausbildende Spaltung der sozialistischen Arbeiterbewegung in eine sozial(istisch)-demokratische und eine kommunistische Richtung war eine Entwicklung von weltgeschichtlicher Bedeutung, die das ganze 20. Jahrhundert tiefgehend geprägt hat. Ein spezifischer Teil der Vorgeschichte dieses Spaltungsprozesses war die Spaltung der deutschen Sozialdemokratie, die sich bereits während des Ersten Weltkrieges vollzog und in der Gründung der „Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ (USPD) Ostern 1917 manifest wurde. Dabei bildeten sich aber erst einmal durchaus anders konturierte Bruchlinien heraus, die erst Jahre später in die langfristig wirksame Spaltung zwischen SPD und KPD einmündeten. Zu den Grundlagen und der historischen Bedeutung dieses Spaltungsprozesses in der deutschen Sozialdemokratie möchte ich hier fünf Thesen vortragen und begründen. Sie gehen grundsätzlich davon aus, dass die Gegensätze der Kriegszeit im Wesentlichen von unterschiedlichen Konzepten sozialdemokratischer Politik bestimmt wurden und auch die USPD dementsprechend eine genuin sozialdemokratische Partei war. Die trotzdem zunehmend unausweichlich werdende Parteispaltung hatte ihre wesentlichen Ursachen in den spezifischen gesellschaftspolitischen Verhältnissen des Kaiserreichs, die der deutschen Sozialdemokratie unter den Bedingungen des Krieges nur die Alternative zwischen weitgehend bedingungsloser Integration in die nationale Einheitsfront oder fundamentaler Opposition gegen den Krieg und seine Träger ließen. 1. THESE Die Burgfriedenspolitik war die conditio sine qua non der Parteispaltung, weil sie den auseinandertreibenden Gegensatz von Integration in und Opposition gegen das gesellschaftspolitische System des kriegführenden Kaiserreichs auf die politische Agenda setzte. Der amerikanische Historiker Carl E. Schorske hat mit bewundernswerter Stringenz die langfristig wirksamen Spaltungstendenzen in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung herausgearbeitet, die nach seiner einflussreichen Deutung mit innerer
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Konsequenz in der Spaltung des Jahres 1917 kulminiert sind.1 Die Entwicklungen während des Krieges spielen in seiner Deutung dagegen nur eine vergleichsweise kleine Rolle und erscheinen weitgehend als Vollzug einer zuvor bereits vollständig ausgereiften politisch-ideologischen Spaltung. Schorske hat m. E. jedoch sowohl die spezifisch repressiven gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen des Deutschen Kaiserreichs als auch die besondere Bedeutung von Krieg und Burgfriedenspolitik für den Spaltungsprozess unterschätzt. Denn bis Kriegsbeginn hatten nicht nur revolutionäre, sondern auch entschieden reformerische sozialdemokratische Bestrebungen im obrigkeitsstaatlichen politischen System des Kaiserreichs nur begrenzte Entwicklungsmöglichkeiten und wurden zugleich mit gemeinsamer Ausgrenzung bedroht. Die Partei wurde so durch eine „negative Integration“ in die gesellschaftspolitische Ordnung des Kaiserreiches zusammengehalten, deren verbindende Klammer in einer Mischung aus gemeinsamer Ausgrenzungserfahrung und entschiedener Kritik an den herrschenden Verhältnissen bestand.2 Vor diesem Hintergrund war eine förmliche Spaltung der SPD trotz verbissener ideologischer Auseinandersetzungen über den Weg zum Sozialismus vor dem Ersten Weltkrieg kein Thema, das ernsthaft auf der Tagesordnung gestanden hätte. Das änderte sich erst mit dem Burgfriedensschluss im August 1914, der für die Parteimehrheit mit der Unterstützung der nationalen Kriegspolitik die Perspektive einer dauerhaften, auf Anerkennung und Reformen basierenden Integration in die bestehende Ordnung zu eröffnen schien, während eine wachsende Minderheit die Kriegspolitik des Kaiserreichs und dementsprechend auch die sozialdemokratischen Integrationsbemühungen grundsätzlich ablehnte. Die Entscheidung, den von der Regierung beantragten Kriegskrediten im Reichstag zuzustimmen und den von ihr proklamierten Burgfrieden zu akzeptieren, war dabei im unmittelbaren Vorfeld alles andere als selbstverständlich. Noch am 31. Juli 1914 tendierte die Mehrheit des Partei- und Fraktionsvorstandes eindeutig zu Ablehnung oder Enthaltung in der Frage der Kriegskredite3, und am förmlichen Burgfriedensschluss während der Eröffnungssitzung des Reichstages im Weißen Saal des Berliner Stadtschlosses, wo die Führer der bürgerlichen Parteien dem Kaiser in die Hand gelobten, mit ihm „durch dick und dünn, durch Not und Tod“ zu gehen, war die SPD-Fraktion gar nicht beteiligt, weil sie traditionell dieses monarchische Ritual boykottierte. Die Gründe dafür, dass sich die SPD trotzdem innerhalb weniger Tage zur Bewilligung der Kriegskredite und zur Integration in die nationale Einheitsfront zur vermeintlichen Verteidigung des Vaterlandes entschloss, waren vielfältig, und der Entscheidungsprozess vollzog sich in einer ausgesprochen unübersichtlichen und hektischen, von vielfältigen Mitteilungen und Gerüchten, Bewegungen und Emotionen geprägten Situation, in der die Reichsleitung gegenüber der Sozialdemokratie eine ausgesprochen geschickte Integrations 1 2 3
Vgl. Schorske (1981/1955): Die große Spaltung. Vgl. Groh (1973): Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Vgl. David (1966): Kriegstagebuch, S. 3f.
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strategie verfolgte.4 Erfolgreich aber war sie vor allem, weil in den Zusammenhängen des Kriegsbeginns die oppositionellen Bezüge der Sozialdemokratie mit rasanter Schnelligkeit an Überzeugungskraft verloren, während integrative Faktoren gleichzeitig immer dominanter hervortraten. Die Sozialdemokratie hatte den Krieg nicht verhindern können, sie sah sich nun mit einer nationalistischen Welle konfrontiert, befürchtete Verfolgungsmaßnahmen und musste zugleich den Zusammenbruch der Sozialistischen Internationale realisieren.5 Darüber hinaus rief der Krieg gegen Russland den überkommenen, teilweise mit rassistischen Versatzstücken besetzten sozialdemokratischen Antizarismus hervor. Vor allem aber schien das Pathos der nationalen Einheit zur Verteidigung des Vaterlandes die Möglichkeit zu eröffnen, aus der bisherigen Pariastellung auszubrechen, den Vorwurf der Reichsfeindschaft zu widerlegen und so die Grundlagen für eine positive, auf nationaler Anerkennung und demokratischen Reformen basierende Integration in eine sich im Sinne der Sozialdemokratie wandelnde Ordnung legen zu können. „Jenseits aller Greuel der Verwüstung steigt uns ein anderes, freundlicheres Bild auf“, so konnte die sozialdemokratische Zukunft Anfang August 1914 aussehen: „Ein freies deutsches Volk, das sich sein Vaterland eroberte, indem es dieses sein Land verteidigte. Dieses freie deutsche Volk nach billigen Friedensbedingungen im Bunde mit den großen Kulturvölkern der Welt. Unsere große Sache allüberall im Vordringen. Drüben aber im Osten die rauchenden Trümmer eines Zarenthrones.“6 Für diese Perspektive hatte der Führer des rechten Parteiflügels Ludwig Frank Anfang August bereits etwa ein Viertel der Mitglieder der Reichstagsfraktion darauf verpflichtet, unabhängig von der Mehrheitsentscheidung in jedem Fall für die Kriegskredite zu stimmen. Und sie gewann in der Folgezeit immer mehr Zustimmung. So erhoffte die Gewerkschaftsführung „hohe moralische Eroberungen“ machen zu können, die „den materiellen Effekt weit übertreffen“ sollten, als sie sich schon am 2. August für ihren Burgfrieden mit Staat und Kapital entschied und so auch eine wichtige Vorentscheidung für die Haltung der Reichstagsfraktion traf.7 Und als die Fraktion am 3. August zusammentrat, um über ihre Haltung zu entscheiden, wurden ähnliche Argumente vorgebracht, die zwischen der Angst vor Ausgrenzung und Verfolgung im Falle oppositioneller Verweigerung auf der einen, der Hoffnung auf Anerkennung und Reformen als Folge einer Unterstützung der 4 5 6 7
Vgl. hier wie zum folgenden Kruse (1993): Krieg und nationale Integration. Vgl. Haupt (1967): Der Kongreß fand nicht statt; Schröder (2016): Der Zusammenbruch der Zweiten Internationale. Stampfer, Friedrich: „Sein oder Nichtsein“, Korrespondenzartikel vom 31.7.1914. Der Artikel wurde zwar nach Einspruch des Parteivorsitzenden Hugo Haase zurückgezogen, trotzdem aber von einer Reihe Parteiblätter abgedruckt oder als Vorlage für eigene Artikel benutzt. So der Vorsitzende des Fabrikarbeiterverbandes und SPD-Reichstagsabgeordnete August Brey auf der Sitzung von Generalkommission und Gewerkschaftsvorständen am 2. August. Zit. n. Prot. Der Vorständekonferenz, abgedr. in: Schönhoven (1985): Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution, S. 74–85, hier S. 77.
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nationalen Kriegspolitik auf der anderen Seite oszillierten: „Die deutsche Sozialdemokratie kann sich in einem solchen Moment nicht ausschalten lassen; unsere Organisationen würden vernichtet, zertrümmert, wenn wir die Kredite verweigern – das ‚Ja‘ aber wird die Stellung der Sozialdemokratie gewaltig stärken –, die Regierung wird nicht mehr in der Lage sein, diese Partei als außerhalb des Gesetzes stehend zu betrachten; eine starke demokratische Welle wird nach dem Krieg kommen.“8 Die am Ende sehr kleine Gruppe der Gegner der Kreditbewilligung in der SPDReichstagsfraktion – dagegen stimmten nur 14 von über 90 anwesenden Abgeordneten – wurde immer konfuser und konnte demgegenüber keine klare Linie entwickeln. Nur zwei burgfriedenskritische Abgeordnete, Fritz Kunert und Josef Simon, entfernten sich vor der Abstimmung aus dem Reichstagsplenum und stimmten so ohne demonstrativen Charakter den Kriegskrediten nicht zu. Selbst der prominenteste Antimilitarist in der Fraktion, Karl Liebknecht, bewilligte gegen seine Überzeugung die ersten Kriegskredite, weil er sich in dieser Situation nicht von seiner Fraktion isolieren wollte. Und der ebenfalls zur Minderheit der Bewilligungsgegner zählende Partei- und Fraktionsvorsitzende Hugo Haase, der als einziger Sozialdemokrat beide zentralen Führungsämter innehatte und so als herausragende Führungspersönlichkeit der SPD galt, ließ sich sogar dazu überreden, die Begründung für die Bewilligung der Kriegskredite im Reichstag vorzutragen, um nicht den Eindruck einer zerstrittenen Partei zu erwecken. Offenbar wollte die Minderheit sich nicht demonstrativ gegen die große Mehrheit der Partei stellen, von der man die baldige Rückkehr zu einer sozialdemokratischen Oppositionspolitik erwartete. Es war allerdings ein Ausdruck für den unbedingten Willen zur nationalen Integration und ein Menetekel für die weitere Entwicklung der Burgfriedenspolitik, dass der ursprüngliche, von Karl Kautsky formulierte Schlusssatz der Fraktionserklärung, in dem angekündigt worden wäre, jeder Wendung zum Eroberungskrieg mit Kreditverweigerung entgegenzutreten, auf Einspruch der Reichsregierung gestrichen wurde. 2. THESE Die sich im Zeichen von „Augusterlebnis“ und „Geist von 1914“ vollziehende Sinnstiftung von Krieg und Burgfrieden hat die ideologischen Auseinandersetzungen in der Sozialdemokratie entscheidend zugespitzt. Als sich Reichskanzler Bethmann Hollweg bei seiner Rede vor dem Reichstag am 4. August 1914 unter lautem Beifall des Hauses explizit an die Sozialdemokraten wandte, erhob sich, wie der Parteivorsitzende Friedrich Ebert in seinem Tagebuch 8
Liebknecht (1915): Klassenkampf gegen den Krieg: Um den 4. August 1914, abgedr. in: ders. (1982): Ges. Reden und Schriften, VIII, S.1.144, hier S. 30.
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festhielt, „der größte Teil der Fraktion […], jeder ruhig und ernst, ich und auch Scheidemann sind ebenfalls aufgestanden.“ Nachdem sie bisher als „Reichsfeinde“ und „vaterlandslose Gesellen“ aus der Nation ausgegrenzt worden waren, reagierten viele Sozialdemokraten offensichtlich tief bewegt auf ihre offizielle Aufnahme in die nationale Gemeinschaft der „Vaterlandsverteidiger“. Wie sehr die Beteiligung führender Sozialdemokraten an der symbolischen Inszenierung nationaler Einheit zugleich aber auch das vehemente Missfallen anderer Repräsentanten der Partei hervorrief, lässt sich in Eberts Aufzeichnungen ebenfalls nachlesen: „…, während Ledebour hinter uns Gift spie“, heißt es dort weiter mit Bezug auf das führende Mitglied des linken Parteiflügels im Vorstand der SPD-Reichstagsfraktion Georg Ledebour. Und als eine Reihe von Abgeordneten sich abschließend nicht nur gemeinsam mit den anderen Fraktionen zum „Hoch auf Kaiser, Volk und Vaterland“ erhoben, sondern gegen einen förmlichen Fraktionsbeschluss auch offen in das „Hoch“ einstimmten, lehnte der Parteivorsitzende dies zwar ab, beurteilte die erregten Proteste linker Abgeordneter, namentlich von Ledebour und Arthur Stadthagen, aber empört als „ekelhaft“.9 In der Folgezeit wurde schnell deutlich, dass die unter den Chiffren „Augusterlebnis“, „Geist von 1914“ und „Ideen von 1914“ bekannten nationalen Emotionen und Ideologien nicht nur in der bürgerlichen Öffentlichkeit, sondern auch innerhalb der Sozialdemokratie Verbreitung fanden. Viele Vertreter der „Politik des 4. August“, wie die Burgfriedenspolitik bald genannt wurde, sahen in der nationalen Einheitsstimmung des Kriegsbeginns vor allem eine Bestärkung ihrer Integrationshoffnungen und entwarfen Projekte für eine „Neuorientierung“ nicht nur der deutschen, sondern auch der sozialdemokratischen Politik. In anderen Teilen der Partei dagegen traf dies auf entschiedene Ablehnung. Die Gegner des Burgfriedens sahen die Partei auf diesem Wege in „eine Art geistiger Gefangenschaft geraten“10 und erkannten genau darin eine Abkehr von zentralen sozialdemokratischen Werten und Zielen, die sie als Zerstörung der wesentlichen Grundlagen der Partei begriffen. Schon Dieter Groh hat den Umschwung in der veröffentlichten Meinung der Sozialdemokratie bei Kriegsbeginn erhellend als „Objektwechsel der Aggressionen“ beschrieben.11 Im Krieg gegen „Krämerliberalismus und Knutenmoral“12 trat der russische Zarismus als „Hort der Reaktion“ an die Stelle des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates, und England wurde die Rolle eines „Weltkapitalisten“ zugeschrieben, den man nun gemeinsam mit dem bisherigen nationalen Klassenfeind als „proletarisches Volk“ bekämpfen wollte. Zugleich identifizierte sich die Sozialdemokratie mit einer deutschen Nation, die nicht nur nach außen ganz sozialdemokratisch einen gerechten Verteidigungskrieg zu führen, sondern auch im Innern einen geradezu sozialdemokratischen Charakter zu gewinnen schien. 9
Ebert, Friedrich: Kriegsnotizen, 4.8.1914, abgedr. in: Ders. (1926): Schriften, Aufzeichnungen, Reden, S. 445. 10 Bernstein: Für das Ausland, in: Vorwärts, 26.3.1916. 11 Groh (1973): Negative Integration und revolutionärer Attentismus, S. 725. 12 Volksblatt für Lüneburg und Umgebung, 26.8.1914, Überschrift des Leitartikels.
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Zum einen wurden die nationale Einheitsstimmung des Kriegsbeginns und besonders das unbehinderte Mittun der Sozialdemokratie geradezu als Garant für eine unaufhaltsame Demokratisierung des Kaiserreichs gewertet. „Auf alle Fälle gehen wir ungeheuren Veränderungen entgegen“, hieß es etwa in einem von mehreren Parteiblättern Anfang August 1914 abgedruckten Korrespondenzartikel, „und daß sich diese Veränderungen zuungunsten der von der Sozialdemokratie vertretenen Wünsche vollziehen könnten, wird heute niemand mehr annehmen. Denn es gibt jetzt und in Zukunft, in Krieg und Frieden, nur ein einiges Volk, das keine russischen Zustände auf deutschem Boden dulden will. Dieses Volk kämpft heute gegen den Zaren um seine Freiheit. Alle tun in der Stunde der Gefahr willig die gleiche Pflicht, und keine Macht der Erde wird darum imstande sein, ihm nach dem Kriege das gleiche Recht zu verweigern.“13 Ein besonderer Ausdruck dieser Hoffnungen war die „geistige Arbeitsgemeinschaft“ führender Sozialdemokraten und bürgerlicher Sozialreformer, die 1915 bereits Grundlinien für die Stellung der „Arbeiterschaft im neuen Deutschland“ entwarf. Es sollte darum gehen, „die Einheit und Einigkeit des deutschen Volkes, die sich im Weltensturm so herrlich offenbart hat, aus der Kriegszeit hinüberzuretten in die Zeit des künftigen Friedens.“14 Zum anderen wurden der nationale Zusammenhalt und die beginnenden staatlichen Versuche zur Organisierung der Kriegswirtschaft unter den Chiffren „Kriegssozialismus“ und „deutsche Gemeinwirtschaft“ auch als entscheidende Schritte auf dem Weg zur Einführung des Sozialismus gewertet. „Eine neue Zeit ist angebrochen“, jubelte etwa die „Metallarbeiter-Zeitung“ im November 1914, „andere Menschen hat der Krieg in kurzer Zeit aus uns allen gemacht. Das gilt unterschiedslos für Hoch und Niedrig, Arm und Reich, für Privatperson und Staatsdiener. Solidarität und Hilfeleistung aus unverschuldeter bitterer Not, die wir den Arbeitern als unvergängliche Richtschnur ihres Handels eingeimpft und von den Reichen so oft vergeblich gefordert haben, ist über Nacht Gemeingut eines großen und leistungsfähigen Volks geworden. Sozialismus, wohin wir blicken.“15 Es war nicht zuletzt eine Gruppe von bislang zum linken Parteiflügel zählenden, sich explizit weiterhin als Marxisten verstehenden Sozialdemokraten wie Paul Lensch, Heinrich Cunow und Konrad Haenisch, die nun die vermeintliche neue Qualität der staatlichen Wirtschaftsorganisation ideologisierten und zu einer geradezu geschichtsphilosophischen Rechtfertigung des Krieges als Kampf um die globale Durchsetzung des „deutschen Sozialismus“ gegen den von England repräsentierten Weltkapitalismus weiterentwickelten: „… und diese Organisation des Wirtschaftslebens, die man jetzt plötzlich an die Stelle der kapitalistischen Anarchie setzen will“, fragte Paul Lensch, der am 3. August in der SPD-Reichstagsfraktion noch gegen die Kreditbewilligung gestimmt hatte, zu Anfang des Jahres 1915 rhetorisch, „was heißt 13 Zit. n. Kruse (1993): Krieg und nationale Integration, S. 114. 14 Thimme u. Legien (1915): Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland, Vorwort S. 3. 15 Metallarbeiter-Zeitung, 7.11.1914, „Der Krieg und die sozialen Aufgaben“.
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sie aber im Prinzip anderes als Sozialismus?“16 Einige Zeit später bestimmte er den Sinn des Weltkrieges beziehungsweise des erwarteten deutschen Sieges folgendermaßen: „So steht das individualistische Wirtschaftssystem an den Marken seiner Tage. Eine neue Zeit und mit ihr ein neues soziales Ideal zieht herauf: die sozialisierte Gesellschaft. Ihr Degen aber ist Deutschland.“ Für Sozialdemokraten, die dem Krieg und seiner nationalistischen Ideologisierung weiterhin kritisch gegenüberstanden, war der auch in der Partei um sich greifende Nationalismus dagegen ein Greul und sie lehnten die Vorstellung, der Krieg werde Demokratie und Sozialismus fördern, ebenso grundlegend ab wie die Beschwörung eines unverschuldeten Verteidigungskrieges oder gar die Unterstützung offensiver Kriegsziele. Vielmehr handelte es sich nach ihrer Auffassung um „einen imperialistischen Krieg reinsten Wassers, und zwar vor allem auf deutscher Seite“, um „einen Kampf um die Macht, um die Weltherrschaft für den deutschen Kapitalismus“, dem bald auch in aller Öffentlichkeit „der Stempel des Eroberungskrieges aufgedrückt“ worden sei, wie burgfriedenskritische Vertreter aller sozialdemokratischen Richtungen von Liebknecht über Ledebour bis zu Haase, Kautsky und Bernstein einhellig feststellten.17 Vor allem aber grenzten sich nicht nur Vertreter des linken Parteiflügels aggressiv gegen die geforderte nationale „Neuorientierung“ der Sozialdemokratie ab, sondern diese Ablehnung wurde von Personen aus dem ganzen Spektrum der Partei fast gleichlautend formuliert. Einige Beispiele mögen dies veranschaulichen: „Dieser Krieg baut nicht auf, er zerstört nur. Er vergrößert nicht den Geist der Freiheit, sondern den Geist der Rohheit. Und aus dem Krieg des deutschen Absolutismus gegen die europäische Demokratie ist auch kein Fortschritt zu erwarten“, stellte etwa der revisionistisch orientierte Reichstagsabgeordnete Edmund Fischer schon im Oktober 1914 fest, um dann alle Perspektiven für eine nationale Neuorientierung der Sozialdemokratie im Kaiserreich fundamental abzulehnen. „Eine nationale Sozialdemokratie ist in einem absolutistisch regierten und verwalteten Land […] ein vollkommener Widerspruch“, stellte er gegenüber seinem Fraktionskollegen Wolfgang Heine fest. „Sie schreiben, der ‚Staat‘ sei das Haus, in dem wir wohnen. Sie meinen damit wohl das Land? […] In Deutschland ist der Staat tatsächlich noch ein Feind des Volkes!“18 Einige Monate später formulierte Kurt Eisner, der 1905 noch als vermeintlicher „Revisionist“ aus der Redaktion des SPD-Zentralorgans „Vorwärts“ entlassen 16 Lensch (1915): Die deutsche Sozialdemokratie, S. 63; das folgende Zitat ders. (1916): Die Sozialdemokratie, ihr Ende und ihr Glück, S. 183; vgl. Sigel (1976): Lensch-Cunow-HaenischGruppe. 17 Die Zitate in der Reihenfolge: Liebknecht, Thesen zur Begründung eines Minderheitsvotums, November 1914, abgedr. in: ders. (1982) Ges. Reden und Schriften VIII, S. 161–72, hier S. 164; Georg Ledebour am November 1914 in der SPD-Reichstagsfraktion, Abschrift eines streng vertraulichen Berichtes vom 30.11.1914. Bundesarchiv, Akten der Reichskanzlei, 1395/9, Bl. 47–52; Eduard Bernstein, Karl Kautsky und Hugo Haase, Das Gebot der Stunde, in: Vorwärts, 22.6.1915, Beilage. 18 Fischer an Heine, 27.10.1914, Bundesarchiv Potsdam, NL Wolfgang Heine, Pp 2, Bl. 115–22.
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worden war und 1918 zum Führer der bayerischen Revolution aufstieg, ebenfalls gegenüber Heine eine fundamentale Anklage gegen die kriegspolitische Neuorientierung der Sozialdemokratie, die mit ihrem Bezug auf die grundlegenden programmatischen Positionen der SPD zweifellos jeder Kritiker der Burgfriedenspolitik unterschrieben hätte: „Was aber hat die deutsche Sozialdemokratie mit dem preußischen Militarismus gemein, den sie seit 40 Jahren bekämpft und der sich am 4. August nicht durch ein plötzliches Verwandlungswunder von Grund auf gewandelt, sondern vielmehr sein furchtbares Gesicht gezeigt hat? Welchen Grund haben wir, die Politik einer Regierung zu verteidigen, das Weltabenteuer der herrschenden Klassen, die bis zum August 1914 die Sozialdemokraten als minderen Rechts behandelten? Wo lehrt der Sozialismus, daß es Aufgabe des Proletariats sei, die kapitalistischen Bedürfnisse zu fördern? Was ist das für eine Internationalität, die nicht genau so die Invasionsleiden der belgischen und französischen, wie der preußischen und galizischen Bevölkerung empfindet, und für die es deshalb gar keine Genugtuung ist, daß wir die Kriegsgreuel ins Ausland getragen haben, anstatt sie selber im Land zu haben?“19 Und in seiner stärker auf die sozialen Verhältnisse und Entwicklungen der Kriegszeit bezogenen Analyse brachte der zum linken Parteizentrum zählende Vorwärts-Chefredakteur Rudolf Hilferding Anfang 1916 die auseinandertreibenden ideologischen Gegensätze in der Sozialdemokratie folgendermaßen auf den Punkt: Der Krieg habe „mit seinen ideologischen Begleiterscheinungen, mit dem Aufschwung des Nationalismus, der Zerreißung der internationalen Solidarität, der Suspendierung des [Klassenkampfes] und den Verbrüderungsillusionen des Burgfriedens […] Tendenzen in der Partei allzu mächtig werden lassen, die zu einer Verwischung ihres sozialistischen [klassenkämpferischen] Charakters, zu einer Anpassung der proletarischen Parteiziele an die Bedürfnisse der kapitalistischen Gesellschaft führen mußten. Zugleich aber hat der Krieg, der diese Ideologien begünstigte, je länger je mehr die realen Grundlagen untergraben, auf denen sie erwachsen und sich erhalten konnten. Je länger der Krieg dauert, desto mehr schafft er die Bedingungen für eine Zukunft der schwersten sozialen Konflikte innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Diese Konflikte werden die arbeitenden Massen zu jenen Kämpfen zwingen, von deren Ergebnis wir die Neuordnung der Gesellschaft erwarten.“20
19 Eisner an Heine, 11.2.1915, BA-Potsdam, NL Heine, Pp3, Bl. 133–38. 20 Vorwärts, 15. 1. 1916, S. 1 „Der Konflikt in der deutschen Sozialdemokratie“. Die in Klammern gesetzten Worte sind im Original jeweils durch vier Punkte ersetzt, weil der Vorwärts unter Verbotsdrohung das Thema Klassenkampf nicht ansprechen durfte.
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3. THESE Die integrative „Politik des 4. August“ war mit einem Verlust politischer Eigenständigkeit verbunden, der eine wachsende Minderheit die Forderung nach einer selbständigen, an spezifisch sozialdemokratischen Werten und Zielen orientierte Politik entgegenstellte. Neben den auseinandertreibenden nationalen Emotionen und ideologischen Orientierungen der Kriegszeit war es vor allem die Struktur der von der Parteimehrheit verfolgten integrativen Politik, die zur politischen Spaltung der Sozialdemokratie führte. Sie basierte im Kern auf Konzepten des reformistischen Flügels der SPD, die nach den Worten von Ludwig Frank nunmehr „statt eines Generalsstreiks […] für das preußische Wahlrecht einen Krieg“ führen sollte. Doch gerade unter den Bedingungen des Weltkrieges und des Burgfriedensschlusses verlor die seit Kriegsbeginn verfolgte Integrationspolitik jeden aktiv reformistischen, politikgestaltenden Charakter. Denn die mit ihr verbundenen Hoffnungen auf politische Fortschritte setzten den Nachweis einer unbedingten nationalen Loyalität voraus, der durch die Formulierung spezifisch sozialdemokratischer politischer Positionen oder gar Forderungen – und insbesondere ihrer Bindung an die Unterstützung der nationalen Kriegspolitik – grundsätzlich in Frage gestellt worden wäre. Das dahinter stehende politische Kalkül erläuterte der Syndikus der Generalkommission der Freien Gewerkschaften Hugo Heinemann folgendermaßen: „Nur eine Tatsache kann es verhindern, daß wir die Früchte dieses Umschlags ernten: wenn wir uns gewaltsam isolieren und in dieser Zeit, in der Einheit und Weiterexistenz des deutschen Volkes zusammenfallen, uns in einen bewußten Gegensatz zum übrigen Deutschland stellen wollten.“21 Erst einmal ging es nun darum, die unbedingte sozialdemokratische Unterstützung der nationalen Kriegspolitik zu demonstrieren, die Einordnung der Partei in die kriegspolitische nationale Einheitsfront sicherzustellen und so vermeintlich die Voraussetzungen für Gleichberechtigung und demokratische Reformen zu schaffen. Demgegenüber hatten spezifisch sozialdemokratische Forderungen insbesondere in Bezug auf die Kriegspolitik grundsätzlich zurückzustehen. Aus den innenpolitischen Zielsetzungen der SPD, so belehrte Eduard David den inzwischen vom aggressiven Charakter der deutschen Kriegspolitik überzeugten Eduard Bernstein, als dieser mit seiner Kritik an die Öffentlichkeit treten wollte, „entspringen auch Direktiven für unsere Äußerungen zur auswärtigen Politik. Alles muß sich jetzt dem einen, nächsten, wichtigsten Ziel“, gemeint war die erhoffte Wahlrechtsreform in Preußen, „unterordnen.“22 Und auch als die anfänglich überschießenden Hoffnungen auf die große symbolische Geste einer schnellen Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts verflogen waren, führte das keineswegs zu einer Abkehr von 21 Heinemann: Zur Erklärung der sozialdemokratischen Fraktion im preußischen Landtag, in: Sozialistische Monatshefte, 21. Jg. 1915, Bd. 1, S. 167–74, hier S. 169. 22 David an Bernstein, 28.10.1914, abgedr. in: Ders. (1966): Kriegstagebuch, S. 56.
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der nationalen Integrationspolitik, sondern vielmehr zu ihrer Verlängerung in eine fernere Zukunft. Nach einer Besprechung mit Reichskanzler Bethmann Hollweg über innenpolitische Reformprojekte hielt Philipp Scheidemann als Grundlage der sozialdemokratischen Kriegspolitik zu Anfang des Jahres 1915 in seinem Tagebuch nur scheinbar selbstgewiss, tatsächlich aber ernüchtert fest: „Also, es gibt nichts und wird auch nichts in Aussicht gestellt. Das hatte ich erwartet. Schließlich haben wir nicht für die Kredite gestimmt, um eine Belohnung dafür zu bekommen.“ Doch kurz danach stellte er klar, dass damit keineswegs ein Aufgeben der an die Burgfriedenspolitik geknüpften Fortschrittshoffnungen verbunden war: „Auf Grund unserer Haltung im Kriege wird es leichter sein nach dem Kriege durchzusetzen, was bisher nicht möglich war.“23 Die Politik des 4. August basierte in der Tat auf Hoffnungen, die politisch nicht offen vertreten und schon gar nicht zur Bedingung für die Unterstützung der nationalen Kriegspolitik gemacht werden konnten. Die Sozialdemokratie geriet so nicht nur, wie Susanne Miller treffend festgestellt hat, in einen „Teufelskreis der Einflußlosigkeit“24. Vielmehr verlor die Partei auf diesem Wege auch ihre politische Eigenständigkeit und wurde immer stärker zu einem integralen Bestandteil des Systems der nationalen Kriegspolitik. Die Sozialdemokratie empfange, so kritisierte der „Vorwärts“ treffend, „das Gesetz ihres Handelns nicht mehr nach ihren Grundsätzen und Prinzipien, sondern von ihren bisherigen Gegnern. Deren Entschließungen und Entscheidungen sind es, die in letzter Linie die Haltung der Sozialdemokratie bestimmen. Nicht ihre Grundsätze leiten mehr die Partei, sondern die Furcht vor der Isolierung, die Angst, den Anschluß an die bürgerlichen Parteien, das Wohlwollen der Regierung zu verlieren.“25 Demgegenüber einte alle Strömungen der innerparteilichen Opposition die Forderung, sich aus der Abhängigkeit von den Vorgaben der nationalen Kriegspolitik zu lösen, eine eigenständige sozialdemokratische Perspektive auf die grundlegenden Probleme der Zeit zu entwerfen und die Politik der Partei selbständig daran auszurichten. Darauf zielten sowohl das im Kern von der Gruppe Internationale entworfene „Unterschriftenflugblatt“ der breiteren Parteiopposition vom 9. Juni 1915 als auch der kurz darauf veröffentlichte Aufruf „Das Gebot der Stunde“ ab, in dem die gemäßigteren Repräsentanten der Opposition Haase, Bernstein und Kautsky die Orientierung der SPD-Politik an den „schönsten Überlieferungen der Sozialdemokratie“ forderten.26 Sie wurden darin nicht zuletzt auch bestärkt durch die burgfriedenskritische Stimmung in weiten Teilen der Parteibasis. So hatte Haase bereits einige Monate vorher festgestellt, „daß wir die Passivität nicht mehr lange ertragen können. Dieses Gefühl lebt auch in den Massen. In allen Versammlungen, 23 24 25 26
Scheidemann (1928): Memoiren I, S. 312f. Miller (1974): Burgfrieden und Klassenkampf, S. 253. Vorwärts, 8.8.1915, zit. n. Prager (1978/1921): Geschichte der USPD, S. 80. Bernstein, Haase, Kautsky: Das Gebot der Stunde, abgedr. u. a. in: Vorwärts, 22.6.1915, Beilage.
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in denen ich spreche, bricht es hervor; und die Massen denken in Berlin auch sonst nicht so wie die superiori.“27 Der Konflikt zwischen Integration und Abhängigkeit auf der einen, Selbständigkeit und Opposition auf der anderen Seite, stand auch im Zentrum der politischen Auseinandersetzungen in der SPD-Reichstagsfraktion. „Bernstein ruft uns auf zu einer selbständigen Politik der Partei, David vertritt den Standpunkt der Blockpolitik mit bürgerlichen Elementen“28, so fasste Liebknecht die Debatten im August 1915 treffend zusammen. Und was das aus Sicht der Opposition angesichts der realen kriegspolitischen Verhältnisse in Deutschland konkret bedeuten mußte, formulierte kaum ein oppositioneller Sozialdemokrat in solcher Klarheit wie Eduard Bernstein. Die oppositionelle Minderheit eine, so stellte er Anfang 1916 noch einmal in aller Klarheit fest, die Ablehnung der „Tendenz der möglichsten Anpassung an die Schlagworte und Absichten der bürgerlichen Parteien“, wie sie die Politik der Mehrheit auszeichne. Eine spezifisch sozialdemokratische Politik dagegen müsse „bestimmt sein von der Gegnerschaft gegen ein System“, das noch immer „das Gleiche“ geblieben sei, denn: „Die Anhänger oder Verteidiger des Systems haben Mittel zu bewilligen, nicht die Gegner.“29 Keine der relevanten Kräfte in der Opposition zielte dabei aktiv auf eine förmliche Abspaltung von der Sozialdemokratie ab. Das in dieser Frage übereinstimmende, allerdings mit unterschiedlicher Radikalität verfolgte Ziel der oppositionellen Minderheit lag vielmehr in der gerade auch von Vertretern des linksradikalen Flügels proklamierten „Rückeroberung der Partei“. Um für ihre Positionen werben, die innerparteilichen Mehrheitsverhältnisse verändern und damit auch die Kriegspolitik der SPD neu justieren zu können, forderte die Opposition allerdings, ihre Auffassungen in der Partei und bald auch in der allgemeineren Öffentlichkeit selbständig vertreten zu können. Die sich daraus für das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit ergebende, die Partei auseinandertreibende Problematik charakterisierten die für eine „Neuorientierung“ der Sozialdemokratie wirkenden bürgerlichen Sozialreformer im „Büro für Sozialpolitik“ zu Anfang des Jahres 1916 so: „Im großen und ganzen darf angenommen werden, daß bei etwas größerer Freiheit der Erörterung die Parteiminderheit wohl regelmäßig von der auf Erhaltung des Burgfriedens bedachten Mehrheit zurückgewiesen werden würde; je mehr die letztere durch unverantwortliches Schreiben und Reden der Minderheit die innenpolitischen Früchte des Krieges gefährdet sehen würde, desto stärker würde auch ihre Abwehr ausfallen, desto mehr wäre sie zu klarstem vaterländischen Bekennen gezwungen.“30 27 Haase an Victor Adler, 8.2.1915. Archiv des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung Wien, Adler Archiv, 184. 28 Zit. n. Kruse (1993): Krieg und nationale Integration, S. 215. 29 Bernstein: Was die Minderheit eint, in: Leipziger Volkszeitung, 8.4.1016; handschriftliches Ms. „Abstimmung der SD-Minderheit“, Januar 1916. Internationales Institut für Sozialgeschichte Amsterdam, NL Bernstein, E. 1. 30 Bericht eines Mitarbeiters des Büros für Sozialpolitik, 8.1.1916, an Innenministerium und Kriegsministerium. Bayrisches Hauptstaatsarchiv, MA 95735, Nr. 124270/15.
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4. THESE Die förmliche Parteispaltung war keine Folge des sozialdemokratischen Disziplinbegriffs, sondern sie ergab sich vor allem aus dem Bemühen der Parteimehrheit, umfassende nationale Loyalität zu demonstrieren. Als die SPD-Reichstagsfraktion Anfang 1915 Karl Liebknecht für seine erste Ablehnung der Kriegskredite am 2. Dezember 1914 im Reichstag mehrheitlich verurteilte, konnte der kritische Revisionist Edmund Fischer darin nur „eine Ungerechtigkeit und Heuchelei“ erkennen.31 Seine Empörung war berechtigt, denn ihm war schließlich bekannt, dass bei Kriegsbeginn 20 bis 30 rechtsstehende Abgeordnete, darunter die schärfsten Kritiker Liebknechts, selbst entschlossen gewesen waren, auch gegen eine anderslautende Mehrheitsentscheidung der Fraktion für die Kriegskredite zu stimmen. Es war tatsächlich nicht primär die moralische Empörung über den „Disziplinbruch“, die die Mehrheit zu dem Versuch veranlasste, mit disziplinarischen Maßnahmen gegen abweichende Stimmen vorzugehen, sondern der Versuch, eine möglichst einheitliche nationale Loyalität der Sozialdemokratie zu demonstrieren und dafür abweichende Stimmen mundtot zu machen, zu disziplinieren oder sie in letzter Konsequenz aus der Partei auszuschließen. Darin, nicht in Fragen der formalen Parteidisziplin, ist der eigentliche Grund dafür zu sehen, dass die in den Arbeiterparteien aller Länder auftretenden Auseinandersetzungen über die Kriegspolitik nur in Deutschland schon 1917 zur förmlichen Spaltung führten. Schon Mitte August 1914 erklärte der zum entschieden rechten Flügel der Sozialdemokratie zählende Gewerkschaftsführer und Reichstagsabgeordnete Robert Schmidt, wenn die „radikalen Doktrinäre versuchen, die Partei wieder zu separieren und den alten Faden weiterzuspinnen“, sei er entschlossen, „den Schnitt zu machen.“32 So eindeutig äußerten sich Vertreter der engeren, zentristisch geprägten Parteiführung zu Anfang noch nicht, doch auch Philipp Scheidemann wandte sich schon im Oktober 1914 gegen die „verbohrten Dogmenfanatiker“, die „lieber die Partei und alles Erreichbare zum Teufel gehen lassen, ehe sie ein i-Tüpfelchen preisgeben von dem, was sie als unverrückbare Prinzipien konstruiert haben.“33 Und ein halbes Jahr später gab der Spiritus rector der bayerischen Reformisten Georg von Vollmar angesichts der sich zuspitzenden innerparteilichen Konflikte die Parole aus: „Es wäre falsch, den Bogen zu überspannen, aber andererseits wird die Lage nie mehr so günstig für uns, um unseren Auffassungen Nachdruck zu geben. Und wenn vollends die Dinge wirklich so weit kämen, daß die Gegner mit Recht unsere Vaterlandsgefühle bezweifeln könnten, dann müßte im Notfall – sei 31 Prot. d. Sitzung vom 2.–4.2.1915, zit. n. Matthias u. Pikart (1966): Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie II, S. 27. 32 David: Kriegstagebuch, S. 17. 33 Scheidemann (1928): Memoiren I, S. 265.
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es gegen Haase oder gegen den ‚Vorwärts‘ oder gegen sonst wen – unter Einsatz der Person offen vorgegangen werden.“34 Genau so wurde letztlich verfahren. Zu Anfang ging es vor allem darum, die Parteipresse auf einen einheitlichen Burgfriedenskurs zu verpflichten.35 In Württemberg führte dieser Versuch schon im Frühjahr 1915 zur förmlichen Spaltung des SPD-Landesverbandes, als der Berliner Parteivorstand zwar die Absetzung der burgfriedenskritischen Redaktion der „Schwäbischen Tagwacht“ und anschließend auch die Gründung eines neuen, burgfriedlichen Ortsvereins im mehrheitlich oppositionell eingestellten Stuttgart akzeptierte, die Mitglieder eines daraufhin ins Leben gerufenen oppositionellen Landesausschusses aber als „Treibereien der Opposition“ verurteilte und sie kurzerhand aus der SPD ausschloss. Vor allem aber konzentrierten sich die Auseinandersetzungen auf das SPD-Zentralorgan „Vorwärts“, dessen Redaktion mehrheitlich burgfriedenskritisch eingestellt war. Als die Zeitung schon im September 1914 Probleme mit den Zensurbehörden bekam und erstmals für drei Tage verboten wurde, nutzten die Generalkommission der Gewerkschaften und der SPD-Parteivorstand diese Situation, um die Redaktion auf Kurs zu bringen. Wie stark die Bereitschaft zur Anpassung tatsächlich ausgeprägt war, verdeutlicht ein Tagebucheintrag Otto Brauns: Gegen den Inhalt der von der Zensur beanstandeten Aussage, dass die Arbeiter aller Länder gegen ihren Willen zum Krieg gezwungen worden seien, sei zwar „an sich nichts zu sagen, aber in der jetzigen Zeit läßt die Regierung ihn sich nicht gefallen, das mußte die Redaktion sich sagen.“36 Und der nun vom Parteivorstand als Zensor eingesetzte Hermann Müller lehnte zu Anfang des Jahres 1915 im Parteiausschuss jede Verantwortung für den Vorwärts ab, weil seiner Berichterstattung das „Erhebende“ fehle und der „Wille zum Sieg“ nicht genügend in Erscheinung trete.37 Am Ende der fortgesetzten Auseinandersetzungen über das Zentralorgan stand Ende 1916 schließlich die Amtsenthebung der Redaktion des Vorwärts, die nunmehr der Leitung des entschieden burgfriedlich orientierten Friedrich Stampfer unterstellt wurde. In ähnlicher Weise vollzog sich die Spaltung zuerst der Reichstagsfraktion und dann der Partei. Als Teile der im Laufe des Jahres 1915 deutlich anwachsenden Fraktionsminderheit sich im Dezember zu einer begründeten Ablehnung der Kriegskredite entschlossen, wurden sie zuerst verurteilt und nach der erneuten Ablehnung eines mit den Kriegskrediten verbundenen Notetats (eigentlich ein durch förmliche Parteitagsbeschlüsse vorgeschriebenes Verhalten) für ihren „Disziplinund Treubruch“ aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen und bildeten mit der „Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft“ eine eigene Fraktion. Ein Jahr später wurde auch die Parteispaltung förmlich von der Parteimehrheit herbeigeführt. 34 Vollmar an Heine, 15.5.1915. BA-Potsdam, NL Heine, Pp 5, Bl. 149–55. 35 Vgl. zum folgenden Kruse (1993): Krieg und nationale Integration, S. 145–49, die Zitate S. 147. 36 Tagebuch Otto Braun, 4.10.1914. Geheimes Staatsarchiv Pr. Kulturbesitz, A 19a, A 79. 37 Protokoll SPD-Parteiausschuss, 12. u. 13.1.1915, abgedr. in: Dove (1980): Protokolle SPDParteiausschuss I, S. 118.
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Nachdem die oppositionellen Kräfte sich im Januar 1917 zu einer „Reichskonferenz“ zusammengefunden hatten, wurden sie aus der SPD ausgeschlossen und so genötigt, nun eine neue Partei zu gründen, die sie ihrem eigenen politisch-programmatischen Anspruch nach „Unabhängige sozialdemokratische Partei Deutschlands“ nannten: „Unabhängig gegenüber der Regierungspolitik, unabhängig gegenüber den Bestrebungen der bürgerlichen Parteien, unabhängig gegenüber den Regierungssozialisten wird die neugeschaffene Organisation zielbewußt eine selbständige sozialdemokratische Politik treiben.“38 Dass diese im Kern sozialdemokratische Abspaltung aber notwendig wurde, war, wie der ebenfalls zum Kreis burgfriedenskritischer Revisionisten zählende, sich einige Monate später der USPD anschließende Reichstagsabgeordnete August Erdmann schon Anfang 1917 urteilte, vor allem eine Folge der von den leitenden Instanzen der Parteimehrheit verfolgten Integrationspolitik, die die Minderheit „zur Rettung dieser Politik aus der Partei zu verdrängen suchen.“39 5. THESE Eine historische Beurteilung der Parteispaltung muss von den vorrevolutionären gesellschaftspolitischen Bedingungen der Kriegszeit ausgehen und vor diesem Hintergrund die auseinanderlaufenden Perspektiven von Integration in und zunehmend revolutionärer Opposition gegen das kriegführende Kaiserreich ernst nehmen Die Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung ist generell stark geprägt worden von Autoren, die sich entweder ihrer sozialdemokratischen oder ihrer kommunistischen Ausprägung verpflichtet fühlen. Von besonderer Virulenz waren und sind solche Loyalitäten für die gemeinsame Spaltungsgeschichte, für die beide Seiten in erstaunlicher Übereinstimmung „falsche Scheidelinien“ festgestellt und die USPD als Verbindung vermeintlich unvereinbarer Elemente bewertet haben. Während Susanne Miller in ihrer stilbildenden Arbeit über „Burgfrieden und Klassenkampf“ im Ersten Weltkrieg die Auffassung vertreten hat, dass die inhaltlich ‚richtige‘, den sozialdemokratischen Orientierungen auch der Mehrheit der USPD entsprechende Scheidelinie nur zur Abspaltung des linksradikalen, auf dem Weg zum Kommunismus befindlichen Parteiflügels hätte führen sollen, hat die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung die Beteiligung insbesondere des Spartakusbundes an der USPD als Verwischung grundlegender Unterschiede zwischen sozialdemokratischem Opportunismus und kommunistischer Revolutionsperspektive kritisiert und 38 Aufruf der Zentralleitung der USPD, 13.4.1917, abgedr. in: Prager (1978/1921): Geschichte der USPD, S. 152f. 39 Erklärung Erdmanns zum Konflikt in der SPD, wegen Weigerung der Parteizeitung seines der Parteimehrheit anhängenden Dortmunder Reichstagswahlkreises abgedr. in: Königsberger Volkszeitung, 10.2.1917.
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eine frühere Klärung fundamentaler Gegensätze durch die Gründung einer neuen, linksradikalen Partei für angemessen erklärt.40 Jeweils handelt es sich dabei jedoch um kontrafaktische Wunschbilder, die von der Situation nach der Novemberrevolution ausgehen und in der Weimarer Republik bessere Entwicklungsmöglichkeiten für die jeweils favorisierte Partei imaginieren, die grundlegenden Bedingungen und Konflikte im kriegführenden Kaiserreich aber vernachlässigen. Der Weltkrieg war indes keine weltgeschichtliche Petitesse und das Kaiserreich keine politische Ordnung auf Abruf, deren baldiges Ende bei der Beurteilung der sozialdemokratischen Kriegspolitik wie selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Im Gegenteil, die Mehrheitssozialdemokratie wurde mehr und mehr zu einem integralen Bestandteil des kriegsführenden Kaiserreichs, das trotz mancher Parlamentarisierungstendenzen doch wesentlich im Zeichen einer sich verfestigenden Militärherrschaft stand und dessen Eliten mit dem angestrebten Siegfrieden nicht zuletzt das Ziel einer innenpolitischen Systemstabilisierung verbanden. Welchen Grund hätte eine siegreiche Militärmonarchie im Verein mit den „Kriegsgöttern“ Hindenburg und Ludendorff am Ende tatsächlich haben sollen, ihre Herrschaft durch ernsthafte demokratische Reformen zur Disposition zu stellen? Nicht der verlängerte Burgfrieden von 1914, den die mehrheitssozialdemokratische Parteiführung noch im Zeichen des militärischen Zusammenbruchs anvisierte, sondern die von der USPD vorbereitete Revolution beendete im November 1918 die Fürstenherrschaft in Deutschland und schuf erst die grundlegenden Voraussetzungen für die Entstehung einer demokratischen Republik – und damit auch für die Zuspitzung der Gegensätze innerhalb der USPD, die schließlich 1920 zu ihrer eigenen Spaltung führte. Während des Krieges aber war die Spaltung der Sozialdemokratie ein letztlich angemessener Ausdruck der tatsächlich fundamental auseinanderlaufenden politischen Perspektiven von SPD und USPD. „Denn selbst dort, wo beide Fraktionen das gleiche (oder anscheinend das gleiche) Ziel verfolgen“, so erläuterte Kautsky dem um Verständigung bemühten österreichischen Parteiführer Victor Adler den grundlegenden, Gemeinsamkeiten ausschließenden Charakter des Konflikts, „tun sie es mit total verschiedenen Mitteln und Methoden gegenüber den bürgerlichen Parteien und der Regierung.“ Wenn man unter dieser den zeitgenössischen Bedingungen und Perspektiven der Kriegszeit entsprechenden Prämisse über richtige und falsche Scheidelinien nachdenken möchte, wird man mit mehr Recht auf die beträchtlichen burgfriedenskritischen Kräfte hinweisen können, die trotz ihrer politischen Nähe zur entstehenden USPD wie Edmund Fischer aus Loyalität in der SPD blieben, dort aber keinen relevanten Einfluss mehr ausüben konnten. „Soviel darf man doch wohl als eine unbestreitbare Tatsache feststellen“, hielt Hugo Haase nach der Fraktionsspaltung seinem zurückbleibenden Freund Gustav Hoch entgegen, 40 Vgl. Miller (1974): Burgfrieden und Klassenkampf, S. 112, 154–56; Institut für MarxismusLeninismus (1988): Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. 1, S. 505ff.
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„daß in der alten Fraktion eine unerschütterliche Mehrheit für jene Politik vorhanden ist, die nach unserer beider Auffassung verkehrt und unheilvoll ist.“41 Diese Einschätzung bedeutet nicht, die durchaus beträchtlichen Differenzen innerhalb der USPD zu negieren.42 Auch in den sozialen Entwicklungstendenzen der Kriegszeit mit der Ausbildung von Riesenbetrieben und neuen Arbeitergruppen bereiteten sich zweifellos die Widersprüche vor, die 1920 zur Spaltung der USPD führten und in ihrem Gefolge die fundamentalen Gegensätze zwischen sozialdemokratischer und kommunistischer Arbeiterbewegung verfestigten. Doch mindestens bis zum November 1918 wurden alle Strömungen der USPD trotz ihrer vielbeschworenen Heterogenität durch eine gemeinsame, sich zunehmend revolutionär entwickelnde Gegnerschaft zur herrschenden Ordnung zusammengehalten. Diese trat in aller Deutlichkeit hervor, als die Reichstagsfraktion der USPD im Januar 1918 in enger Kooperation mit der Führung der „Revolutionären Obleute“ in der Berliner Metallindustrie die Arbeiterschaft zu einem politischen Massenstreik gegen den Krieg aufrief und damit die als „Generalprobe für die Novemberrevolution“43 zu begreifenden Januarstreiks vorbereitete. Die Spartakus-Gruppe wirkte dabei zweifellos als eine vorantreibende Kraft für die gemäßigteren Kräfte in der Opposition. Doch sollte ihre Bedeutung auch nicht überschätzt werden, insbesondere für die sich radikalisierenden Massenbewegungen, deren Führer sich mehrheitlich der USPD-Führung enger verbunden sahen als den Spartakisten, denen sie mangelndes Verständnis für die realen Verhältnisse der Arbeiterschaft vorwarfen. Die Führer und der Parteivorstand der USPD, so fasste der Leiter der „Revolutionären Obleute“ Richard Müller ihr Verhältnis während der Januarstreiks und vor der Novemberrevolution 1918 zusammen, „standen trotz mancher Meinungsverschiedenheiten bis zuletzt zur Bewegung. […] Die Entwicklung der militärischen und politischen Verhältnisse und der näherrückende Ausbruch des Endkampfes um die Macht geboten eine engere Fühlungnahme mit der Parteileitung der U.S.P.D.“44 Erst der Novemberumsturz schuf eine neue politische Grundlage, die manche Unabhängige wie Bernstein und den noch 1915 in der Gruppe Internationale mitwirkenden Heinrich Ströbel schon früh dazu veranlasste, eine Wiederannäherung an die SPD zu suchen, die radikalen Kräfte in der Partei dagegen schließlich zur Verbindung mit der bis dahin relativ unbedeutenden KPD trieb. Welche Entwicklungspotentiale die 1919 als revolutionäre Regierungspartei in Kooperation mit der SPD gescheiterte USPD, die spätestens nach dem Kapp-Putsch 1920 kurzzeitig zur Massenpartei des deutschen Proletariats wurde, im Spannungsfeld zwischen parlamentarischer Demokratie, außerparlamentarischen Massenbewegungen und revolutionärer Räteherrschaft hätte entwickeln können, wenn sie sich nicht den 41 Haase an Hoch, 16.11.1916, abgedr. in: Haase (1929): Hugo Haase, S. 131–34. 42 Vgl. neben Prager (1978/ 1921): USPD, noch Krause (1975): USPD, Morgan (1975): Socialist Left und Wheeler (1975): USPD und Internationale. 43 Rosenberg (1961/1928): Entstehung der Weimarer Republik, S. 181. 44 Müller (1974/1924): Vom Kaiserreich zur Republik, S. 110, 127.
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Spaltungsversuchen der bolschewistischen Dritten Internationale unterworfen hätte, muss hier eine offene Frage bleiben. LITERATUR David, Eduard: Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914–1918, in Verb. m. Erich Matthias bearb. v. Susanne Miller, Düsseldorf 1966. Ebert, Friedrich: Schriften, Aufzeichnungen, Reden. Mit unveröffentlichten Erinnerungen aus dem Nachlaß, Bd. 1, Dresden 1926. Groh, Dieter: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankf./M. u. a. 1973. Haase, Ernst: Hugo Haase. Sein Leben und Wirken, mit einer Auswahl von Briefen, Reden und Aufsätzen, Berlin 1929. Haupt, Georges: Der Kongreß fand nicht statt. Die Sozialistische Internationale 1914, Wien 1967. Institut für Marxismus-Leninismus b. ZK der SED (Hg.): Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. 1: Von den Anfängen bis 1917, Berlin 1988. Krause, Hartfrid: USPD. Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Frankfurt/M. u. a. 1975. Kruse, Wolfgang: Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1993. Liebknecht, Karl: Klassenkampf gegen den Krieg: Um den 4. August 1914, abgedr. in: Ders., Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VIII. August 1914 bis April 1916, Berlin 1982. Lensch, Paul: Die deutsche Sozialdemokratie und der Weltkrieg, Berlin 1915. Ders.: Die Sozialdemokratie, ihr Ende und ihr Glück, Leipzig 1916. Miller, Susanne: Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1974. Morgan, David W.: The Socialist Left and the German Revolution. A History of the German Independent Social Democratic Party, 1917–1922, Ithaca NY u. a. 1975. Müller, Richard: Vom Kaiserreich zur Republik, Berlin 1974 (zuerst 1924). Prager, Eugen: Geschichte der U.S.P.D. Entstehung und Entwicklung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Berlin u. Bonn 1978 (zuerst 1921). Protokolle der Sitzungen des Parteiausschusses der SPD 1912–1921. Inkl. Prot. der Parteikonferenz im Weimar am 22. Und 23 März 1919. Prot. Über die Verhandlungen der Reichskonferenz der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgeh. In Berlin am 5. U. 6. Mai 1920. ND, hg. v. Dieter Dowe, mit einer Einleitung von Friedhelm Boll sowie einem Personen- und Ortsregister v. Hans-Peter Schulz, 2 Bde., Berlin / Bonn 1980. Rosenberg, Arthur: Entstehung der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1961 (zuerst 1928), 1978 (zuerst 1921). Matthias, Erich / Eberhard Pikart (Bearb.): Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898–1917, 2 Bde., Düsseldorf 1966. Schönhoven, Klaus (Bearb.): Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution 1914–1919, Köln, Köln 1985. Schorske, Carl E.: Die große Spaltung. Die deutsche Sozialdemokratie 1905–1917, Berlin 1981 (Orig. Cambridge/Mass. 1955). Scheidemann, Philipp: Memoiren eines Sozialdemokraten, Bd. I, Dresden 1928 Sigel, Robert: Die Lensch-Cunow-Haenisch-Gruppe. Eine Studie zum rechten Flügel der SPD im Ersten Weltkrieg, Berlin 1976. Schröder, Joachim: Der Zusammenbruch der Zweiten Internationale. Die Konferenz in Brüssel und die ‚Müller-Mission‘ am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in: Löffelbein, Nils / Fehlemann,
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Silke / Cornelißen, Christoph (Hg.): Europa 1914. Wege ins Unbekannte, Paderborn 2016, S. 125–35. Thimme, Friedrich u. Carl Legien (Hg.): Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland, Leipzig 1915. Wheeler, Robert F.: USPD und Internationale. Sozialistischer Internationalismus in der Zeit der Revolution Frankfurt am Main u. a. 1975.
DIE SPALTUNG DER SOZIALDEMOKRATIE IM SPANNUNGSFELD VON KRIEG UND FRIEDEN
DAS GEBOT DER STUNDE Die USPD und der Frieden Thilo Scholle Der Beginn des Ersten Weltkrieges im Jahr 1914 führte die deutsche Sozialdemokratie in eine Zerreißprobe. Waren die Bekundungen gegen den Krieg von Seiten des Parteivorstands noch wenige Tage zuvor eindeutig und in massenhaft besuchten Kundgebungen auch öffentlich vorgetragen worden, so drehte sich diese Wahrnehmung mit der Zustimmung der Reichstagsfraktion der SPD zu den Kriegskrediten in der Sitzung am 4. August 1914. Hintergrund des Umschwungs mag bei einer Reihe von Abgeordneten die ernsthafte Annahme eines Verteidigungskrieges angesichts einer äußeren Bedrohung gewesen sein. Offensichtlich ist aber auch, dass für einen anderen Teil der Fraktion, maßgeblich vorangetrieben unter anderem von Eduard David, nun endlich die Chance gekommen schien, das marxistische Zentrum und den linken Parteiflügel an die Seite oder sogar aus der Partei zu drängen und die Sozialdemokratie als „normale“ Partei im Kaiserreich zu etablieren.1 Demgegenüber war eine nicht zu vernachlässigende Zahl von Abgeordneten weder vom Bestehen eines Verteidigungsfalles noch von der Verpflichtung der Sozialdemokratie, Gelder für den Krieg bewilligen zu müssen, überzeugt. Bereits bei den Diskussionen in der Fraktion um die erste Kreditgewährung am 3. August 1914 stimmten 14 Abgeordnete für die Ablehnung der Kreditvorlage.2 In der internen Abstimmung unterlegen, hielten sie sich zunächst an die Fraktionsdisziplin und stimmten im Plenum des Reichstags der Vorlage zu. Hugo Haase, als Parteivorsitzender eine der wichtigsten Persönlichkeiten der Partei und entschiedener Gegner einer Bewilligung der Kredite, beugte sich darüber hinaus dem Druck der Fraktionsmehrheit und übernahm es, die Begründung der Zustimmung durch die Sozialdemokratie im Plenum des Reichstages vorzutragen. Karl Kautsky war es zuvor zwar gelungen, in den Text der das Abstimmungsverhalten der SPD-Fraktion erklärenden Resolution einen Passus hinein zu formulieren, dem zu Folge der Krieg sofort zu beenden sei, sollte er in einen Eroberungskrieg übergehen. Kurz vor der Reichstagssitzung erklärte sich die Fraktionsspitze auf Drängen der Reichsregierung dann jedoch einverstanden, diesen Passus wieder aus der Resolution heraus zu nehmen.3 1 2 3
Siehe dazu beispielsweise Anton (2018): Heine. Prager (1980): Gebot, S. 16ff. Zu den Bemühungen Kautskys um die Positionierung der SPD zur Kriegskreditfrage siehe Schöler (2018): Kautsky.
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Die Brüche, die im Jahr 1916 zunächst zur Spaltung der Fraktion und dann ein Jahr darauf zur Spaltung der Partei und zur Gründung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) führen sollten, waren hier schon angelegt. Der Blick auf die Haltung der USPD zu Krieg und Frieden kann daher nicht erst mit dem Gründungsdatum der Partei, dem 6. April 1917, einsetzen, sondern muss mit dem Jahr 1914 und den Debatten zu Beginn des Ersten Weltkriegs beginnen – einem Zeitpunkt also, zu dem die USPD organisatorisch noch gar nicht bestand.4 Zu präzisieren ist zudem, ‚welche‘ USPD im Mittelpunkt der Darstellung stehen soll. In den ersten beiden Jahren nach der Parteigründung reichte das Spektrum der Mitgliedschaft von Reformisten wie Eduard Bernstein5 über Angehörige der Spartakus-Gruppe, Rätedemokraten wie Ernst Däumig6 bis hin zu Akteuren des marxistischen Parteizentrums wie beispielsweise Karl Kautsky.7 Das ehemalige marxistische Zentrum der SPD prägte von den Anfangsmonaten bis in die Gründungsphase der Weimarer Republik hinein die neue Partei. Sinnbildlich für diese Positionierung steht der Name Hugo Haase, der in diesem Zeitraum sowohl den personellen wie auch den politischen Mittelpunkt der jungen Partei bildete. Als auf dem USPD-Parteitag im März 1919 in Berlin gegen seinen Willen Ernst Däumig als Co-Vorsitzender gewählt wurde, gelang es Haase beispielsweise mit der Drohung der Nichtannahme seiner eigenen Wahl so viel Druck auszuüben, dass Däumig auf sein Amt verzichtete und der Parteitag den Haase politisch nahestehenden Arthur Crispien zum Co-Vorsitzenden wählte. Die Entwicklung der kriegs- bzw. friedenspolitischen Positionen der USPD soll im Folgenden am Beispiel der politischen Positionierungen Hugo Haases skizziert werden. Dies bietet sich an, weil Haase als letzter noch gemeinsam mit August Bebel gewählter Parteivorsitzender der SPD die Brücke in die Vorkriegssozialdemokratie schlägt und sodann als Vorsitzender der neugegründeten USPD für einen an die Politik der Vorkriegssozialdemokratie anschließenden Kurs der Partei steht. Haases Perspektive war die einer linkssozialdemokratischen Partei, die in selbst empfundener und weitgehend auch tatsächlicher Kontinuität zur politischen Ideologie und Strategie der Vorkriegssozialdemokratie stand. Der im Jahr 1863 geborene Haase, zum Zeitpunkt seines Todes im Herbst 1919 der „am meisten geachtete Arbeiterführer Deutschlands“8, hätte von seinem Lebensalter her auch in der Weimarer Republik noch eine bedeutende Rolle spielen können, möglicherweise auch in einem Prozess der Versöhnung und Vereinigung der beiden sozialdemokratischen Parteien. Er starb jedoch am 7. November 1919, 4 5 6 7 8
Zur Geschichte der USPD siehe beispielsweise die Darstellungen bei Krause (1975): Geschichte der USPD, Prager (1980): Gebot und Wheeler (1975): USPD. Zur Haltung Bernsteins zu Ende des Ersten Weltkriegs und Gründung der Weimarer Republik siehe zuletzt Löwe-Bahners (2018): Bernstein. Siehe zuletzt Stalmann (2018): Däumig. Schöler (2018): Kautsky. Wheeler (1975): USPD, S. 162.
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ein Jahr nach der Revolution, an den Folgen eines einen Monat zuvor auf ihn verübten Attentats.9 Wichtig ist, die Unabgeschlossenheit und Dynamik der Diskurse, Positionierungen und später auch der organisationspolitischen Zuordnungen der Akteure der Arbeiterbewegung während und kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs zu beachten. Die Problematik, politische Debatten zu führen, während an den Landesgrenzen ein unfassbares Blutvergießen stattfindet, während Genossen und Angehörige sich im Krieg befinden, verwundet oder bereits gefallen sind und während im Landesinnern die Versorgungslage zunehmend schlechter und die politische Lage zunehmend autoritärer wird, ist nicht trivial. Nachrichtenzensur und die begrenzten zeitgenössischen logistischen Möglichkeiten führten zudem zu einer großen Fragmentierung von Nachrichtenlage, politischen Einschätzungen und Debatten. Insbesondere gegen Kriegsende und in den ersten Jahren der Weimarer Republik lassen sich bei vielen der handelnden Akteure Suchbewegungen beobachten, die oft erst nach einer Reihe von Wendungen in der eigenen Positionierung wie auch der organisationspolitischen Zuordnung abgeschlossen waren.10 1. BEI KRIEGSAUSBRUCH Dass ein Weltkrieg drohen könnte, war vor 1914 beständiges Thema auf sozialdemokratischen Parteitagen und Kongressen, sowohl in Deutschland als auch innerhalb der Internationale. Hugo Haase erklärte für die deutsche Sozialdemokratie auf dem Baseler Sozialisten-Kongress am 24. November 1912: Das internationale Proletariat verabscheut den Krieg aus tiefster Seele, und keine Gewalt der Erde wird es dahin bringen, daß es mit Begeisterung in den Kampf zieht und auf die schießt, die es schätzt, die es liebt, seine proletarischen Brüder.11
Er gab der Hoffnung Ausdruck, dass „die einige, geschlossene Aktion des Proletariats die Kriegsgefahr“ bannen werde und dass es mit dem Kampf gegen „soziale Ausbeutung und politische Unterdrückung“ die Klassenherrschaft beseitigen und damit die Grundlage schaffen werde für den ewigen Frieden, „die Völkerverbrüderung und die Völkerfreiheit“. Hugo Haase blieb bei dieser Position. Für den durch den Kriegsausbruch nicht mehr zustande gekommenen Kongress der Internationale im Herbst 1914 in Wien hatte er einen Redeentwurf ausgearbeitet, der eine Reihe von Themen enthielt, die auch während der Kriegsjahre in seinen Positionierungen größeren Raum einneh-
9 Zur Biographie Haases siehe umfassend Seils (2016): Haase. 10 Siehe dazu die Beiträge in: Schöler / Scholle (2018): Weltkrieg. 11 Hugo Haase: Rede im Baseler Münster, Internationaler Sozialistenkongress, 24. November 1912, nach: Haase (1929): Leben und Wirken, S. 215f.
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men sollten.12 Haase wandte sich gegen das „bis zum Wahnsinn getrieben Wettrüsten“, dass den wichtigen Kulturaufgaben des Staates zunehmend die Ressourcen entziehe und den „Anreiz zum Losschlagen“ erhöhe. Den Imperialismus sah er als eine „spezifische Phase in der Entwicklung des Kapitalismus“, die nur mit diesem selbst überwunden werden könne. Und je stärker die Arbeiterbewegung als Friedensbewegung sei, desto weniger könnten die Herrschenden den Krieg wagen. Seine Hoffnung auf einen baldigen Frieden wollte Haase zunächst nicht aufgeben. So schrieb er im November 1914 an seinen Sohn Ernst: Nachdem sich bald vier Monate die Soldaten auf allen Seiten tapfer und zäh geschlagen haben, könnte jeder Staat, ohne den Eindruck der Schwäche zu erwecken, friedensbereit sein. Die Forderung nach einem raschen Abschluss des Friedens muss jedenfalls erhoben werden. Leider darf man sich aber der Einsicht nicht verschließen, daß sie an den maßgebenden Stellen wenig geneigtes Gehör finden wird.13
Auch wenn Haase mit Blick auf das Prinzip eines einheitlichen Auftretens der Partei nach außen die Unterstützung der Kriegskredite durch die SPD-Fraktion zunächst akzeptierte, stellte er in diesem Brief in Bezug auf die Kriegsursachen grundsätzlich fest, dass einerseits den „ökonomischen Triebkräften“ die wesentliche Verantwortung zuzuschreiben sei, dass der Krieg aber andererseits „ein gesellschaftliches Ereignis“ sei und deshalb „der Einwirkung unseres Willens“ unterliege. Damit ordnete Haase den Krieg einerseits als durch Entwicklungen im kapitalistischen System hervorgebrachtes Ereignis ein, dass auf der anderen Seite aber wie alle anderen gesellschaftlichen Entwicklungen auch durch die handelnden Akteure beeinflussbar blieb. Mit seiner Position sah Haase sich in der Partei und Fraktion im Laufe der weiteren Entwicklung keineswegs isoliert: Immer deutlicher stellt sich heraus, daß wir in einem großen historischen Moment unsere Stellung besser gewahrt hätten, wenn es nach mir gegangen wäre. Gar mancher meiner alten Freunde, der sich auf einen anderen Standpunkt stellte, erklärt jetzt, daß er sich mir von vornherein angeschlossen hätte, wenn er vorausgesehen hätte, was sich seitdem ereignet hat. Aber nicht alle haben die Kraft, den Rückzug anzutreten.14
Für Haase und sein politisches Umfeld war offensichtlich, dass die 1914 mitgetragene Entscheidung für die Kriegskredite auf Dauer nicht die Position der Sozialdemokratie würde bleiben können. Zugleich sollte sich seine Feststellung, nicht alle hätten die Kraft, den Rückzug von ihren bislang kriegsbefürwortenden Positionen anzutreten, im Laufe des Krieges immer mehr bewahrheiten. Wie bei anderen großen politischen Richtungsentscheidungen auch verband sich fortan die 12 Hugo Haase: Imperialismus und Schiedsgericht. Grundzüge für das Referat auf dem geplanten Internationalen Sozialistenkongress in Wien 1914, nach: Haase (1929): Leben und Wirken, S. 217f. 13 Brief an Ernst Haase, 21. November 1914. In: Haase (1929): Leben und Wirken, S. 103f. 14 Brief an Ernst Haase vom 17. April 1915. In: Haase (1929): Leben und Wirken, S. 106.
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Entscheidung für die Kriegskredite bei vielen maßgeblichen Akteuren der Sozialdemokratie mit ihrer eigenen politischen Biographie. Die (selbst-)kritische Reflexion, ob eine nach langen und intensiven Diskussionen und in der Folge massiven innerparteilichen Verwerfungen getroffene Entscheidung tatsächlich politisch weiterhin Bestand haben soll und muss, verlangte zumindest von denjenigen Akteuren einen hohen emotionalen Preis, die unter Bezugnahme auf die Grundfesten der gemeinsamen politischen Überzeugung für die Unterstützung der Kriegskredite geworben und an die im Laufe der folgenden Jahre von der Reichsregierung vorgetragenen Behauptungen und Rechtfertigungen geglaubt hatten, die stets den eigenen Friedenswillen und die demgegenüber angeblich ablehnende Haltung der anderen Staaten hervorgehoben hatten. Akteuren wie Ebert, Scheidemann und anderen sollte es denn später auch nachvollziehbar schwer fallen, zu akzeptieren, über mehrere Jahre hinweg politische Einschätzungen vertreten zu haben, die sich bei einem nüchternen Blick auf die Faktenlage kaum halten ließen. 2. DAS GEBOT DER STUNDE Die Einschätzung, es nicht mit einem Verteidigungskrieg zu tun zu haben, artikulierten Haase und andere auch öffentlich. Aufgrund des von der Reichsregierung verhängten Belagerungszustandes mit der Folge einer Einschränkung von Versammlungsrecht und Pressefreiheit war eine solche an die Breite der Bevölkerung adressierte Stellungnahme gegen den Krieg nicht einfach, einigermaßen freie Debatten waren nur in den Sitzungen des Reichstags möglich. Dass Haase nicht alleine stand, zeigt sich unter anderem in einem auf Liebknechts Initiative hin aufgesetzten und als Flugblatt verteilten offenen Brief vom 9. Juni 1915 an den Parteivorstand und die Reichstagsfraktion 15, in dem die Unterzeichner, etwa 1000 Funktionäre der SPD aus ganz Deutschland, festhielten: Immer klarer war zutage getreten, daß der Krieg nicht der Verteidigung der nationalen Unversehrtheit dient. Immer deutlicher hatte sich sein imperialistischer Eroberungscharakter offenbart. Immer ungeniertere Bekenntnisse zur Annexionspolitik wurden abgelegt. Zu den Äußerungen einflussreicher Drahtzieher des Kapitalismus traten Kundgebungen mächtiger kapitalistischer Wirtschaftsverbände, Beschlüsse der herrschenden bürgerlichen Parteien und im Februar die vom Herrenhaus mit einhelliger Zustimmung aufgenommene Rede des Herrenhauspräsidenten, die die Möglichkeit eines sofortigen Friedens unter Aufrechterhaltung des bisherigen deutschen Besitzstandes feststellte, aber die Fortsetzung des Krieges zu Eroberungszwecken für geboten erklärte, eine Rede, durch die sich die Mehrheit der sozialdemokratischen Fraktion dennoch nicht an der Bewilligung neuer zehn Milliarden Kriegskredite und des Budgets hatte hindern lassen.16
15 Siehe hierzu den Beitrag von Wolfgang Kruse in diesem Band. 16 Brief der Opposition an die Vorstände von Partei und Reichstagsfraktion vom 9. Juni 1915, abgedruckt bei Prager (1980): Gebot, S. 65ff.
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Anstatt die proletarisch-internationalen Friedensziele zu betonen, sei man eine erneute Politik des Durchhaltens eingegangen und habe die Regierungs-Kriegspolitik weiter unterstützt.17 Konsequent folgte die Forderung, „daß Fraktion und Parteivorstand endlich ohne Zaudern dem Parteiverderben Einhalt tun, den Burgfrieden aufsagen und auf der ganzen Linie den Klassenkampf nach den Grundsätzen des Programms und der Parteibeschlüsse, den sozialistischen Kampf für den Frieden eröffnen.“18 Haase versuchte von der Tribüne des Reichstags aus Möglichkeiten zur Debatte zu eröffnen und für eine offene und öffentliche politische Diskussion über Krieg und Frieden zu werben: „Es wäre geradezu ein Unglück für unser Volk, wenn der Burgfriede zum Kirchhofsfrieden würde“.19 Der von Seiten der Reichsregierung stets abstrakt formulierten Friedensbereitschaft hielt Haase entgegen, gerade der Starke dürfe zuerst die Friedenshand ausstrecken.20 Dauerhafter Friede werde erreicht, wenn „kein Volk das andere vergewaltigt, wenn die Völker vielmehr ihre Aufgabe in dem friedlichen Austausch der Kulturgüter erblicken.“21 Die insbesondere von Industriellen und Wirtschaftsverbänden immer offener vorgetragenen Forderungen nach weitreichenden Annexionen im nach wie vor erwarteten Fall eines deutschen Sieges spitzten die Debattenlage auch innerhalb der SPD zu. Wenige Tage nach dem zitierten offenen Brief versuchte Haase gemeinsam mit Karl Kautsky und Eduard Bernstein ebenfalls, die Sozialdemokratie zu einer Haltung zu bewegen, die die Fortsetzung des Kriegs ablehnte und für die sofortige Aufnahme von Friedensverhandlungen plädierte. Mit ihrem am 19. Juni 1915 in der vom linken Parteiflügel dominierten „Leipziger Volkszeitung“ veröffentlichten Text „Das Gebot der Stunde“ bemühten sie sich aber, durch eher zurückhaltende und maßvolle Formulierungen in das Lager der bislang die Kriegskredite und damit die Fortsetzung des Krieges befürwortenden Gruppen innerhalb der Sozialdemokratie hineinzuwirken: Die deutsche Sozialdemokratie müsse sich prüfen, ob sie in der Frage der Fortführung des Krieges noch „Hüterin der materiellen und moralischen Interessen der arbeitenden Klassen Deutschlands“ sei oder an der Seite derjenigen stehe, „deren Absichten in schroffstem Widerspruch sind zu den Sätzen der Erklärung unserer Reichstagsfraktion vom 4. August 1914, in denen diese aussprach, daß sie im Einklang mit der Internationale jeden Eroberungskrieg verurteilt.“ Die wachsende Friedenssehnsucht richte sich immer stärker auf die Sozialdemokratie. Und weiter: „Nachdem die Eroberungspläne vor aller Welt offenkundig sind, hat die Sozialdemokratie die volle Freiheit, ihren gegensätzlichen Standpunkt in nachdrücklichster Weise geltend zu machen, und die gegebene Situation macht aus der Freiheit eine Pflicht.22
17 Ebd., S. 66. 18 Ebd., S. 68. 19 Hugo Haase: Rede vom 10. März 1915 zum Reichshaushalt. In: Haase (1919): Reichstagsreden, S. 13. 20 Ebd., S. 14. 21 Ebd. 22 Prager (1980): Gebot, 68f.
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Bezugspunkt der Ablehnung der weiteren Kriegsführung sollte somit nicht nur eine grundsätzliche und gewissermaßen überzeitliche Ablehnung von imperialistischen Kriegen sein, sondern auch die von der die Kriegskredite selbst befürwortenden Fraktionsmehrheit eingebrachte (und von Haase aus Parteidisziplin verlesene) Erklärung in der Reichstagssitzung vom August 1914. Wer zum Zeitpunkt der Befürwortung der Kriegskredite unmittelbar nach Kriegsbeginn noch von dem Sachverhalt eines Verteidigungskriegs ausgegangen war, hätte nun geltend machen können, dass mit der immer stärkeren werdenden Sichtbarkeit der Annexionspläne die bereits damals formulierte „Rote Linie“ zur Abgrenzung zwischen Verteidigungs- und Angriffskrieg überschritten worden sei.23 Für die Fraktionsmehrheit hätte nun die Chance bestanden, mit diesem Bezug auf die eigene Position gewissermaßen neutralen Grund für eine gesichtswahrende Neubewertung der Situation zu finden und so eine Ablehnung der weiteren Unterstützung des Kriegskurses der Reichsregierung zu ermöglichen. Eine solche Entwicklung trat jedoch nicht ein. Die Mitglieder der Vorstände von Partei sowie Reichstagsfraktion reagierten mit einer knappen und deutlichen Distanzierung. Kernargument war, dass Haase als Mitglied der Partei- und Fraktionsführung seine Forderungen in den entsprechenden Gremien selbst hätte vortragen können, dies aber nicht getan habe.24 Haase wies diesen Vorwurf zurück.25 Von den Mitgliedern der Partei- und Fraktionsführung erklärte lediglich Gustav Hoch, Haase habe „das Recht und die Pflicht, seine Meinung sachlich zu vertreten, genau wie jeder andere Parteigenosse“.26 Mit dem „Gebot der Stunde“ setzten die drei Unterzeichner ein sowohl in der deutschen wie der internationalen Öffentlichkeit wahrgenommenes Zeichen, dass die Unterstützung für die Burgfriedenspolitik auch innerhalb der SPD-Parteiführung keineswegs mehr einhellig war. Zu einem Bruch wollten es in der Folge weder die Mehrheit in der Parteiführung noch die Gruppe um Haase kommen lassen. Dies unterschied Haase, Kautsky und Bernstein im Übrigen auch von Liebknecht und seinem Umfeld, die in Wortwahl und Verhalten wesentlich radikaler auftraten. Zugleich wird mit dem „Gebot der Stunde“ eine Differenz in der Bewertung der aktuellen Kriegslage wie auch bei den daraus abzuleitenden Konsequenzen für die Politik der Sozialdemokratischen Partei zwischen der Parteimehrheit und dem später den Kern der USPD bildenden ehemaligen Parteizentrum sichtbar, die sich bis Kriegsende nicht mehr überbrücken lassen sollte. Die Fraktionsmehrheit unternahm nun zwar auch selbst – in Form und inhaltlicher Reichweite allerdings recht zurückhaltende – Vorstöße, um die Friedensbereitschaft der Reichsregierung auszutesten. So brachte sie am 9. Dezember 1915 im Reichstag eine Interpellation ein, in der der Reichsregierung die Frage gestellt wurde: „Ist der Herr Reichskanzler bereit, Auskunft zu geben, unter welchen 23
Siehe dazu auch Brandt, S. 77ff. Zur Klarstellung, in: Vorwärts, 22. Juni 1915, S. 5. 25 Haase, Zur Klarstellung, in: Vorwärts, 23. Juni 1915, S. 5. 26 Hoch, Gustav, Erklärung, in: Vorwärts, 25. Juni 1915, S. 6. 24
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Bedingungen er zu Friedensverhandlungen bereit ist?“27 Eine substantielle Neubewertung der militärischen und politischen Lage durch die Fraktionsmehrheit erfolgte jedoch nicht. Reichskanzler Bethmann-Hollweg nahm die Interpellation wohlwollend auf: „Kommen unsere Feinde mit Friedensangeboten, die der Würde und Sicherheit Deutschlands entsprechen, so werden wir allzeit bereit sein, sie uns anzusehen.“28 Wesentlich deutlicher wurde er allerdings am Schluss seiner Rede: „Weder im Osten noch im Westen dürfen unsere Feinde von heute über Einfallstore verfügen, durch die sie uns von morgen ab aufs neue und schärfer als bisher bedrohen.“29 Als Reaktion auf die Rede des Reichskanzlers ergriff Haase im Rahmen einer Geschäftsordnungsdebatte das Wort: Meine Herren, wollen Sie denn wirklich, dass aus diesem Gemetzel, das Sie ja alle bedauert haben (wiederholte Rufe: Zur Geschäftsordnung!), schließlich als Ergebnis herauskommt ein Europa, das einen Trümmerhaufen bildet, (sehr richtig bei den Sozialdemokraten. – Erneute Rufe: Zur Geschäftsordnung!) durchtränkt von Tränen und Blut?! Wir verlangen eine Absage an alle Eroberungspläne, (Zustimmung und Beifall bei den Sozialdemokraten) von welcher Seite sie auch kommen und in welcher Form sie sich auch äußern. Wir wollen den Frieden. (Stürmischer Beifall und Händeklatschen der Sozialdemokraten – Große Unruhe im übrigen Teil des Hauses.)30
In den Beratungen des Reichstags zur 5. Kreditvorlage der Reichsregierung am 21. Dezember 1915 stimmte Haase mit 19 weiteren SPD-Abgeordneten offen gegen die Vorlage. Gegen die Stimmen in der Reichstagsfraktion, die einen Ausschluss dieser Gruppe aus ihren Reihen forderten, verabschiedete die Fraktion nur eine scharfe Missbilligung des Abstimmungsverhaltens. Hugo Haase trat aus dem Fraktionsvorstand zurück. 3. SPALTUNG DER SPD-FRAKTION Offensichtlich gelang es immer weniger, die unterschiedlichen Gruppen in der Fraktion zusammenzuhalten. Zwar hatte auch die Fraktionsmehrheit ihren Friedenswillen immer wieder bekundet. Nach der Wahrnehmung von Haase und seinen Anhängern aber hatte die Mehrheit an keiner Stelle erkennen lassen, dass sie von der Reichsregierung über abstrakte Bekundungen hinausgehende konkrete Friedensbemühungen erwartete und dass sie sich damit zufrieden gab, dass die Reichsregierung wiederholt auf die fehlende Friedensbereitschaft in den anderen kriegsführenden Ländern verwiesen hatte. Zudem hatten Eduard David und andere immer wieder Sympathien für einen Friedensschluss zulasten der anderen beteiligten Staaten erkennen lassen. Im März 1916 trat die Fraktionsopposition innerhalb der SPD nun auch verstärkt öffentlich in Erscheinung. Vor Beginn der Reichstagssitzung des 27 28 29 30
Verhandlungen des Reichstags, 22. Sitzung, 9. Dezember 1915, S. 426ff. Ebd. Ebd. Hugo Haase: Reichstagsrede vom 9. Dezember 1915. In: Haase (1919): Reichstagsreden, S. 20.
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24. März 1916 hatte Haase der Fraktionsführung mitgeteilt, im Namen der Opposition ebenfalls in der Debatte über die Bewilligung des von der Reichsregierung zur Abstimmung gestellten Notetats sprechen zu wollen. Nachdem Philipp Scheidemann im Namen der SPD-Fraktion für eine Zustimmung gesprochen hatte, begründete Haase für die innerfraktionelle Opposition die Ablehnung des Notetats. Inhaltlich verwies er dabei insbesondere auf die bestehende Versorgungskrise, den Hunger und die Unterernährung in der Bevölkerung. Zugleich machte Haase auch Bruchlinien im herrschenden Machtblock aus. So scheine der Teil der Kapitalisten, der nicht Nutznießer des Krieges sei, den Fehler, sich auf den Krieg einzulassen, schon einzusehen: Auf der anderen Seite erheben sich immer lauter Stimmen, die als Ziel des Krieges die Ausdehnung unserer Weltmacht, die Erringung der Weltherrschaft fordern, und zu diesem Zwecke die ausschweifendsten Eroberungspläne verfolgen. Man sollte annehmen, dass nur komplette Narren oder gewissenslose Verbrecher solche Pläne verfolgen können.31
Insgesamt 18 sozialdemokratische Abgeordnete stimmten gegen den Notetat, 20 verließen vor der Abstimmung den Saal. Nach einer emotionalen Sitzung schloss die SPD-Fraktion noch am gleichen Abend die 18 Abgeordneten aus der Fraktion aus. Diese konstituierten sich kurz darauf als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ (SAG) im Reichstag. In seiner Reichstagsrede am 6. April 1916 hielt Haase im Namen der neuen Fraktion fest, die Arbeiter würden immer mehr von dem bitteren Gefühl erfüllt, dass für sie das Wort gelte: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen. „Wir wissen freilich, meine Herren, daß Rechte dem Volke nicht geschenkt werden, sondern daß sie von ihm in hartem Kampfe errungen werden müssen.“32 Politisch forderte Haase unter anderem die vollständige politische wie ökonomische Wiederherstellung Belgiens. Den Vertretern der Reichsregierung, die sich hinter vermeintlichen Notwendigkeiten von Krieg und Kriegsführung versteckten, hielt Haase entgegen: „Meine Herren, der Grundsatz: ‚Not kennt kein Gebot!‘ kann von uns nicht anerkannt werden.“33 Im Gegenteil: „Wir dagegen sind Gegner des Krieges und wollen eine Gesellschaftsordnung, bei der eine blutige Auseinandersetzung zwischen den Völkern nicht möglich ist, sondern eine Versöhnung der Völker Platz greift.“34 Die Regierung müsse nun ein Friedensangebot machen, ohne die Friedensbedingungen diktieren zu wollen. Ein letzter Versuch die gegensätzlichen innerparteilichen Positionen wieder anzunähern, sollte im Rahmen einer vom Parteivorstand der SPD einberufenen ‚Reichskonferenz‘ im September 1916 erfolgen. Auswahl der Delegierten und Ablauf waren zwischen Mehrheit und Opposition umstritten.35 Auch inhaltlich führte 31 32 33 34 35
Hugo Haase, Reichstagsrede vom 24. März 1916. In: Haase (1919): Reichstagsreden, S. 25. Hugo Haase, Reichstagsrede vom 6. April 1916. In: Haase: (1919): Reichstagsreden, S. 32. Ebd., S. 35. Ebd., S. 38. Prager (1980), S. 103ff.
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die Konferenz zu keiner Annäherung. In seiner Rede auf der Konferenz skizzierte Haase ausführlich die Umstände des Kriegsausbruchs, für den er in erster Linie Deutschland und Österreich verantwortlich machte. Auch könne man sich nicht auf August Bebel berufen, der im Juli 1870 zusammen mit Liebknecht eben nicht für die Bewilligung der Kriegskredite gestimmt habe, noch sei das Schüren von Angst vor dem Zarismus ein taugliches Argument zur Legitimation der Kriegspolitik.36 Deutlich wird in dieser Rede, dass für Haase die von der Vorkriegssozialdemokratie getroffenen Analysen und politischen Schlussfolgerungen weiterhin Geltung besaßen und nicht durch den Kriegsfall obsolet geworden waren: „Wenn ein Krieg kommt, haben wir dann alles auszulöschen, was wir bisher gesagt haben, müssen wir niederreißen, was wir angebetet haben, und müssen wir verbrennen, was wir geschrieben und gedruckt haben?“37 Aktuelles Ziel sei ein Verständigungsfrieden: Wir wollen nicht Frieden um jeden Preis, wir wollen nicht etwa in die Gewalt Russlands kommen, auch nicht unter die Gewalt irgendeines anderen Staates, wir wollen nicht den Despotismus stärken, wir wollen nicht irgendwie den englischen Imperialismus unterstützen, aber wir wollen – und das bitte ich Sie zu beachten – um keinen Preis die Fortsetzung dieses Krieges! […] Dieser Friede, den wir erstreben, ist nur zu erreichen, wenn mit aller Rücksichtslosigkeit diejenigen bekämpft werden, die der Verständigung sich in den Weg stellen.38
Haase und seine Anhänger wollten die Konferenz nicht als beschlussfassendes Gremium akzeptieren, konnte sich damit jedoch nicht durchsetzen. Die von der Konferenz letztlich beschlossene Resolution stellte im Sinne der Parteimehrheit fest, dass eine Mitschuld Deutschlands am Kriegsausbruche nicht bestünde und nach wie vor der Tatbestand eines Verteidigungskrieges vorläge.39 Die unterschiedliche Bewertung der Kriegsschuldfrage und die unterschiedliche Bewertung der Ziele und des Charakters des Krieges bildeten damit nach wie vor den Kern des Gegensatzes zwischen Mehrheit und Opposition innerhalb der Sozialdemokratie, der immer wieder formuliert und ausgetragen wurde. So kam die Grundhaltung Haases auch in einer Broschüre zum Ausdruck, in der die neue Fraktion der SAG ihre Sicht auf die Hintergründe des innerparteilichen Streits erläuterte: Die Pflicht der Vaterlandsverteidigung ist eine staatsrechtliche Pflicht, die für den Einzelnen aus der Zugehörigkeit zu einem Staatswesen erwächst. Die Bewilligung von Kriegskrediten ist ein politischer Akt. Die Entscheidung darüber hängt ab von dem Charakter des Kriegs, um den es sich handelt, von der Kriegspolitik, die die Landesregierung verfolgt, insbesondere von ihren Kriegszielen. […] Nun ist der gegenwärtige Krieg ein imperialistischer Machterweiterungskrieg und Weltausbeutungskonflikt zweier großer Mächtebünde.40
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Hugo Haase, in: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (1916): Bericht, S. 14. Ebd., S. 18. Ebd., S. 23. Pager (1980), S. 109. Vorstand der Fraktion der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft (1916): Bildung, S. 4f.
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Auf Seiten der Parteimehrheit klang dies in einer Broschüre zum Thema „Reichstagsarbeit im Krieg“ genau andersherum: Was die Fraktion zu ihrer Haltung am 4. August 1914 veranlasste, war die Notwendigkeit der Landesverteidigung. Den Krieg selber hatte die Sozialdemokratie nicht zu verhindern vermocht. Damit trat die Pflicht an sie heran, die Schäden des Krieges nach Möglichkeit von dem eigenen Volke abzuwenden, für die Verteidigung des eigenen Landes zu wirken und zugleich mit allen Mitteln für eine schnelle Beendigung des Krieges zu sorgen.41
Die Version des Verteidigungskrieges wurde aufrechterhalten, obwohl die deutschen Truppen nach eigener Beschreibung überwiegend „bis weit in die feindlichen Länder hineinstehen“. Argumentativ verlangte dies den Akteuren einige Anstrengung ab, da ein Kampf weit auf dem Territorium des Gegners nicht so ohne weiteres für die Version des Verteidigungskrieges spricht. Die „Annexionspläne der Eroberungspolitiker“ wurden zudem zwar gesehen, der Reichsregierung aber genügend Vernunft oder guter Wille unterstellt, sie sich nicht zu eigen zu machen. Die Fraktion nimmt für sich in Anspruch, die kriegerische Lage und die politische Situation stets gewissenhaft geprüft zu haben: Wer kühl die Tatsachen ins Auge faßt, kann keinen Augenblick darüber im Zweifel sein, daß der Krieg noch bis zur Stunde ein bitterernster Verteidigungskrieg ist. Wohl stehen die deutschen Heere, mit der alleinigen Ausnahme des Elsaß, bis weit in die feindlichen Länder hinein. Aber hört darum der Krieg auf, ein Verteidigungskrieg zu sein? Gerade die riesige Offensivbewegung der feindlichen Heere auf allen Fronten, die im Juni und Juli 1916 einsetzte, im Osten, im Westen, im Süden, dazu die neuesten skrupellosen Mittel Englands und seiner Verbündeten, Deutschland auch um den letzten Rest der Nahrungsmitteleinfuhr durch neutrale Länder zu bringen, können keinerlei Zweifel darüber lassen, dass Deutschland noch immer um sein nächstes und elementarstes Recht, um seine Selbsterhaltung, um die Verteidigung seines Daseins, seiner politischen und wirtschaftlichen Zukunft die Waffen führt.42 Die Fraktion ist selbstverständlich keinen Augenblick darüber im Zweifel gewesen, daß der gut konservativ gesinnte Reichskanzler (Bethmann-Hollweg, Anm. TS) nicht sozialistische und demokratische Politik machen würde, und daß auch in der Frage der Kriegsziele zwischen ihr und dem Reichskanzler erhebliche Gegensätze bestehen. Aber sie hält doch den Kanzler für klug genug […] daß er einerseits nicht daran denkt, die Annexionspläne der Eroberungspolitiker zu den seinigen zu machen, und daß er andererseits Frieden schließen würde, sobald nur die Gegner einen für Deutschland ehrenvollen Frieden zu schließen bereit sind.43
Bezogen auf erste Friedensideen der Reichsregierung gegenüber Russland erklärte Haase, dass man aus manchem Munde schon die Äußerung höre, was man in diesem Kriege nicht erreicht habe, müsse dann im nächsten Krieg geholt werden. „Meine Herren, wer nach den Leiden und dem Jammer dieses Krieges noch den Mut hat, von einem neuen Kriege zu sprechen, den beneide ich nicht um sein 41 Vorstand der Sozialdemokratischen Reichstagsfraktion (1916): Reichstagsarbeit im Kriege, S. 6. 42 Ebd., S. 6. 43 Ebd., S. 27.
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robustes Gewissen.“44 Es sei nachvollziehbar, dass sich Staatsmänner gegen das Eingeständnis sträubten, dass der Krieg durch Verständigung zu Ende gebracht werden müsse, wenn vorher Wunderdinge versprochen worden seien. „Das System Gewalt hat Fiasko gemacht. Es muß an seine Stelle treten ein System friedlicher Beziehungen aller Völker zueinander.“45 Und bezogen auf den vermeintlichen Friedensunwillen der anderen kriegsführenden Nationen: „Wenn ein Annexionist außerhalb dieses Hauses zu mir über den Vernichtungswillen der anderen lamentiert, dann erkläre ich ihm, daß das eine unerhörte Heuchelei ist.“46 Innenpolitisch forderte Haase insbesondere das Ende des Belagerungszustandes, ein Ende der Zensur, sowie Anstrengungen, die Ernährungsfrage zu lösen. Die Forderung nach sofortigem Frieden trug Haase auch in der Reichstagssitzung vom 2. Dezember 1916 vor. Schon im Frühjahr habe er gesagt, dass es in diesem Krieg weder Sieger noch Besiegte geben würde. Damals habe dies große Empörung ausgelöst. Aber: „Es kommt darauf an, klar zu erkennen, was ist und was wird. Wir sehen nach 28 Monaten hier und dort Siege, aber keinen entscheidenden Sieg der einen Mächtegruppe über die andere. Worauf warten die Kriegsführenden? – muß man stets wieder fragen. Durchhalten heißt nichts anderes als für alle Beteiligten Verbluten und Erschöpfung.“47 Der von der deutschen Militärführung an der Westfront tatsächlich angestrebten Strategie eines „Weißblutens des Gegners“ kam Haase analytisch hier sehr nahe – mit dem Unterschied dass er ein solches Vorgehen nicht nur als militärisch sinnlos ansah, sondern auch als humanitäres Desaster ablehnte. 4. DIE UNABHÄNGIGE SOZIALDEMOKRATISCHE PARTEI Die russische Februarrevolution 1917 begrüßte Haase ausdrücklich. „Ich denke nicht daran, mit einer Revolution zu drohen. Eine solche Drohung ist nutzlos. Revolutionen entstehen, wenn die sozialen, politischen und psychologischen Vorbedingungen gegeben sind; fehlen diese, so kann eine Revolution nicht ‚gemacht‘ werden.“48 Letztlich habe das Gottesgnadentum einen Schlag erhalten, von dem es sich nicht mehr erholen werde. In Bezug auf das deutsche Kaiserreich gehe es um die Abschaffung der ersten Kammern – insbesondere des preußischen Herrenhauses –, die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen sowie die Einführung des Frauenwahlrechts.49 Bei seiner Ablehnung von Friedensgesprächen nur mit Russland blieb er, die „Phantasterei des Separatfriedens“ mit Russland müsse fort.50 44 45 46 47 48 49 50
Hugo Haase: Reichstagsrede vom 11. Oktober 1916. In: Haase (1919): Reichstagsreden, S. 51. Ebd., S. 51. Ebd., S. 53 Hugo Haase: Reichstagsrede vom 2. Dezember 1916. In: Haase (1919): Reichstagsreden, S. 63. Hugo Haase, Reichstagsrede vom 30. März 1917. In: Haase (1919): Reichstagsreden, S. 67. Ebd., S. 73. Ebd., S. 77.
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Stattdessen: „Wir fordern die sofortige Anbahnung des Waffenstillstandes zu dem Zwecke eines Friedens ohne Annexion auf irgendeiner Seite, ohne Kriegsentschädigung, auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker.“51 Zudem thematisierte Haase die Doppelmoral der Reichsregierung im Umgang mit den Nationalitätenfragen. Während hinsichtlich der Wiederherstellung Belgiens mit der Stärkung der Rechte der Vlamen argumentiert werde, gelte dies offensichtlich nicht für andere Volksgruppen: Meine Herren, wir gerade sollten dazu berufen sein, unterdrückte Nationen zu befreien? Man fange mit der Befreiung doch zunächst in seinem eigenen Hause an! Wenn Sie das, was Sie den Vlamen versprechen, ja nur das, was die Vlamen schon längst hatten, den Polen, den Dänen, den Elsaß-Lothringern geben würden – deren Klagen wären mit einem Schlage beseitigt.52
Auch in der Friedensresolution von Mehrheitssozialdemokratie, Zentrum und Liberalen vom 19. Juli 1917 sah Haase, der inzwischen zum Vorsitzenden der im Frühjahr dieses Jahres unter maßgeblicher Beteiligung der Abgeordneten der SAG gegründeten Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gewählt worden war, wenig Positives. Das kooperative Verhalten der Sozialdemokratie gegenüber der Reichsregierung und die Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien habe bislang keinerlei Fortschritte für eine innerstaatliche Demokratisierung gebracht: Das gleiche Wahlrecht ist für uns eine Selbstverständlichkeit; aber es ist auch nur der allerbescheidenste Anfang derjenigen Reformen, die notwendig durchgesetzt werden müssen. Erforderlich ist die volle Demokratisierung der Verfassung und Verwaltung des Reichs und der Einzelstaaten, die, wie wir es in unserem Antrag erklärt haben, ausmünden muss in die soziale Republik. Meine Herren, während die Regierungssozialisten ihren Frieden mit der Monarchie schließen wollen, vernehmen wir aus anderen Kreisen immer häufiger, es sei in den letzten Jahren deutlicher als je geworden, daß die monarchischen Einrichtungen sich nicht bewährt haben, daß sie in unsere Zeit nicht hineinpassen, daß die Republik dasjenige staatsrechtliche Gebilde ist, welches kommen muß und kommen wird. Die demokratische Umgestaltung des Reichs und der Einzelstaaten ist aber auch die beste Vorbedingung für einen raschen und günstigen Friedensschluß.53
Die Friedensresolution ordnete Haase eher als Blendwerk denn als ernsthaftes Angebot an die anderen kriegsführenden Länder ein. Zur Vorbereitung der internationalen sozialistischen Konferenz in Stockholm 1917 verabschiedete die USPD ihrerseits ein Manifest zur Friedensfrage. Darin forderte sie bei Friedensschluss ein internationales Übereinkommen über allgemeine Abrüstung, Freiheit des internationalen Handels und des Verkehrs sowie die unbeschränkte internationale Freizügigkeit zur Entfaltung der Produktivkräfte der Welt und zur Annäherung und Verbindung der Völker; die Einführung eines internationalen Schiedsgerichts
51 Ebd., S. 85. 52 Ebd., S. 82. 53 Hugo Haase, Reichstagsrede vom 19. Juli 1917. In: Haase (1919): Reichstagsreden, S. 89.
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als obligatorisches Instrument der Streitbeilegung zwischen den Staaten; internationale Verträge zum Schutz der Arbeiter vor Ausbeutung, insbesondere der Kinder und Frauen; die Zuerkennung voller politischer Rechte an die Frauen; die „Anerkennung der Gleichberechtigung für alle Einwohner eines Staates, ohne Rücksicht auf Staatszugehörigkeit, Sprache, Rasse, Religion54
einschließlich des Schutzes nationaler Minderheiten. Und weiter: „Grenzänderungen müssen an die Zustimmung der davon betroffenen Bevölkerung gebunden werden, dürfen nicht aufgezwungene Gewaltakte sein.“ Gefordert wird ein Frieden ohne Annexionen und Kontributionen auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Serbien solle als selbstständiger und unabhängiger Staat wiederhergestellt werden. Auch das Selbstbestimmungsrecht des polnischen Volkes sei zu respektieren – sowohl in Russisch-Polen wie auch in Österreichisch- und Preußisch-Polen. Krieg sei kein Mittel, auch nicht zur Bestimmung des Status von Elsaß-Lothringen. Die volle Unabhängigkeit und Selbstständigkeit Belgiens sei unabweisbar: In Erfüllung des feierlichen Versprechens, das die deutsche Regierung bei Kriegsbeginn gegeben hat, sind dem belgischen Volke auch die durch den Krieg verursachten Schäden, insbesondere die weggenommenen wirtschaftlichen Werte, zu ersetzen. Ein derartiger Ersatz hat nichts zu tun mit jener Art von Kriegsentschädigungen, die eine Plünderung des Besiegten durch den Sieger bedeuten und die wir deshalb verwerfen.
Darüber hinaus lehnte Haase die Politik kolonialer Eroberungen ab. Notwendig sei auch die Sicherung des Friedensvertrags durch eine internationale Kraft. Diese könne nicht bei einer internationalen Regierungsbehörde liegen, sondern werde durch das internationale sozialistische Proletariat gebildet. „Nur wenn die Internationale selbstständig und kraftvoll aufgebaut wird, wenn das Proletariat ihr überall seine volle Macht für die Kontrolle über die Regierungen und für die Erhaltung des Friedens leiht, wird in Zukunft an Stelle des verhängnisvollen Wettrüstens ein Zustand des gegenseitigen Vertrauens der Völker treten.“ Öffentlich zugänglich war das Manifest in Deutschland nicht, Hugo Haase trug den Inhalt allerdings in seiner Reichstagsrede vom 19. Juli 1917 vor.55 Anfang des Jahres 1918 sah sich Haase nach dem Bekanntwerden der deutschen Friedensbedingungen gegenüber Russland (Brest-Litowsk) in seiner Skepsis über den Friedenswillen des deutschen Kaiserreichs bestätigt. In Deutschland herrsche eine Militärdiktatur. Wer jetzt noch behaupte, dass die Regierung einen Verständigungsfrieden erstrebe, könne nicht mehr Anspruch auf guten Glauben erheben.56 Auch die Frage um Elsaß-Lothringen sei durch die Selbstbestimmung der Einwohner zu regeln, nicht durch eine Fortsetzung des Krieges. „Meine Herren, wie in der auswärtigen Politik, so herrscht auch in der inneren Politik das Prinzip der 54 Hier und im Folgenden zitiert nach Prager (1980): Gebot, S. 150ff. 55 Hugo Haase, Reichstagsrede vom 19. Juli 1917. In: Haase (1919): Reichstagsreden, S. 86ff. 56 Hugo Haase, Reichstagsrede vom 27. Februar 1918. In: Haase (1919): Reichstagsreden, S. 133.
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Gewalt.“57 Von Äußerungen aus der Mehrheitssozialdemokratie grenzte Haase sich deutlich ab. In der Reichstagsdebatte vom 22. März 1918 formulierte er mit Blick auf Eduard David, der gesagt habe, er betrachte den Frieden von Brest-Litowsk mit gemischten Gefühlen: „Meine Fraktion wird nur von einem Gefühl erfüllt, und zwar von dem Gefühl der Schande, daß trotz aller Beteuerungen unserem Nachbarvolk rücksichtslos ein Schwertfriede aufgezwungen wurde.“58 Dieser werde zudem die internationale Abneigung gegen Deutschland weiter steigern. Die Enthaltung der Mehrheitssozialdemokraten sei deshalb nicht hilfreich. Letztlich handele es sich um ein klares „entweder oder“. Dieser Friedensvertrag werde „kein Segen sein“. „Die revolutionäre Bewegung ist aber nicht aufzuhalten, mögen Sie machen, was Sie wollen. Was Sie heute tun, ist nichts anderes, als daß Sie Wind säen; und wer Wind sät, wird Sturm ernten.“59 Rückblickend auf die Friedensresolution hielt Haase ein Jahr später fest, diese sei schon tot zur Welt gekommen, gelebt habe sie nie. Ein Versuch, sie noch lebendig zu machen, habe scheitern müssen.60 5. KRIEGSENDE Das Kriegsende im Herbst 1918 begrüßte Haase. Über die Nachkriegsfriedensordnung und die Rolle des von der Versailler Friedenskonferenz geschaffenen Völkerbundes machte er sich allerdings wenig Illusionen: Dieser Völkerbund sieht ganz anders aus, als mancher Illusionär sich ihn vorgestellt hat, es ist ein Staatenbund, kein Völkerbund. Er kann gewiß manche Reibungen zwischen den einzelnen Staaten durch Schiedsgerichte schlichten und dadurch einzelne Kriege verhindern. Er bringt aber nicht die Abrüstung. Erst wenn die sozialistische Internationale zur Macht kommt, kann der Völkerbund mit anderem Geiste erfüllt werden. Dann wird er ein Instrument für die Versöhnung der Völker, für die Versöhnung der Menschheit werden.61
Für die Aufregung im bürgerlichen Lager in Deutschland um die harten Friedensbedingungen der Kriegsgegner hatte Haase nur Spott übrig: „Viereinhalb Jahre furchtbaren Mordens haben die Bourgeoisie nicht so erregt wie die Bekanntgabe des Friedensvertrages.“62 Die Folgen der deutschen Kriegsschuld waren Haase demgegenüber klar: „Wir haben viel gutzumachen. Und wir Unabhängigen haben deshalb schon während des Krieges keinen Zweifel darüber gelassen, daß wir zwar
57 58 59 60 61
Ebd., S. 145. Hugo Haase, Reichstagsrede vom 22. März 1918. In: Haase (1919): Reichstagsreden, S. 152. Ebd., S. 162. Hugo Haase, Reichstagsrede vom 25. Juni 1918. In: Haase (1919): Reichstagsreden, S. 168. Hugo Haase, Die Aufgaben der Partei. Rede auf dem Parteitag der USPD am 3. März 1919. In: Haase (1929): Leben und Wirken, S. 239. 62 Ebd., S. 242.
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Kontributionen verwerfen, aber den angerichteten Schaden ersetzen müssen. Nicht Strafgelder, aber Ersatz verlangt die Gerechtigkeit.“63 Zugleich wandte sich Haase gegen einen Teil der Friedensbedingungen. Gebietsveränderungen zulasten des bisherigen deutschen Territoriums ohne Beteiligung der betroffenen Bevölkerung an der jeweiligen Entscheidung lehnte er ab. Haase machte geltend, dass der Selbstbestimmungsgrundsatz des Völkerrechts auch für Deutsche gelten müsse. „Wir verurteilen deshalb mit vollem Recht, daß die Entente das Selbstbestimmungerecht der Völker, das sie feierlich proklamiert hat, in geradezu schnöder Weise zum Nachteil des deutschen Volkes verletzt hat.“64 Im Ergebnis gehörten Haase und die USPD jedoch zu den offenen Befürwortern des Friedensvertrags, wenn auch wegen der katastrophalen Versorgungslage aus eher pragmatischen Gründen: Für die Massen wäre dieser Zustand aber unerträglich. Schon jetzt ist die Sterblichkeit der Kinder so groß, daß man damit rechnet, in den nächsten Jahren ganze Volksschulklassen ausfallen lassen zu müssen, viele Lehrer nicht mehr einstellen zu können. Wer eine solche Politik unterstützt, ist entweder ein Hysteriker oder ein Hasardeur. Wir wollen nicht noch einmal nach Ludendorffs Methode regiert werden.65
Die Hoffnung auf einen aus deutscher Sicht gerechteren Frieden wollte Haase dennoch nicht aufgeben. Seine Hoffnung bezog sich allerdings erneut auf eine Zukunft, die vom Erstarken der Arbeiterbewegung in allen beteiligten Ländern getragen sein sollte. 6. FAZIT In Hugo Haases Haltung und politischen Analysen zum Weltkrieg und den Möglichkeiten seiner Beendigung lassen sich zwischen der Vorkriegszeit und den Monaten nach Kriegsende im Jahr 1919 klare Verbindungslinien ausmachen. Haase ging zu keinem Zeitpunkt vom Vorliegen eines Verteidigungskrieges aus. Die Einbeziehung der Sozialdemokratie in eine Politik des Burgfriedens lehnte er ab, da er den Motiven der die kaiserliche Kriegspolitik bestimmenden Gruppen zutiefst misstraute. Bestärkt wurde er dabei auch durch die Wahrnehmung, dass von den im Gegenzug erwarteten Zugeständnissen noch nicht einmal die Abschaffung des reaktionären preußischen Dreiklassenwahlrechts erfolgte. Für Haase führte die zunehmende Nähe von Teilen der sozialdemokratischen Führung zur kaiserlichen Regierung weder zu einer Beeinflussung der Regierungspolitik hin auf Initiativen zur Beendigung des Krieges noch zu ernsthaften innenpolitischen Fortschritten und Verbesserungen. 63 Hugo Haase: Sollen wir den Friedenvertrag unterzeichnen? Rede, Mai 1919. In: Haase (1929): Leben und Wirken, S. 243. 64 Ebd. 65 Ebd., S. 247.
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Zugleich blieb Haase zuversichtlich, dass sich auch in den gegnerischen Ländern Partner für Friedensbemühungen finden lassen würden. Sehr konsequent positionierte er sich in Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundprinzip einer internationalen Ordnung: Was für Elsaß-Lothringen, Belgien und andere von deutschen Truppen besetzte Länder galt, müsse umgekehrt auch für Gebiete mit mehrheitlich deutschsprachiger Bevölkerung unter anderer Besatzung gelten. An dieser Stelle wurde Haase wie andere auch von den Versailler Friedensbedingungen enttäuscht. Haases Kritik am Kriegskurs von Reichsregierung und Fraktionsmehrheit beschränkte sich damit nicht auf eine reine prinzipiengeleite Grundsatzkritik, sondern bezog sich stets auf den tatsächlichen Kriegsverlauf und die von ihm wahrgenommenen Motivlagen der am politischen Geschehen beteiligten Akteure im In- und Ausland. Haases Grundeinstellungen bildeten auch den Kern der Positionierung der USPD bis etwa Ende 1919. Nach seinem gewaltsamen Tod fand sich keine Führungspersönlichkeit, die mit vergleichbarer Autorität die immer weiter auseinander strebenden innerparteilichen Lager zusammen halten konnte. Insbesondere die Frage des Umgangs mit der Sowjet-Union einerseits und der entstehenden Weimarer Republik andererseits sollte schon bald zu einer Spaltung der Unabhängigen führen, von der sich die bis dahin sowohl bezüglich ihrer gesellschaftlichen Verankerung wie auch mit Blick auf die Wahlergebnisse aufstrebende USPD nicht mehr erholen sollte. Voraussetzung für einen mittelfristigen Frieden in Europa waren für Haase der Verzicht auf territoriale Gewinne – egal durch wen. Eine grundsätzliche Beseitigung der Kriegsursachen war für Haase hingegen aber nur mit einer Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsordnungen und einer Durchsetzung sozialistisch-demokratischer Wirtschaftsverfassungen in ganz Europa möglich und auf Dauer aussichtsreich. LITERATUR Anton, Bernward: Wolfgang Heine und die „Erfindung“ der Burgfriedenspolitik, in: Schöler, Uli / Scholle, Thilo (Hrsg.): Weltkrieg. Spaltung. Revolution. Sozialdemokratie 1916–22, Bonn 2018, S. 73–85. Brandt, Peter: Das Gebot der Stunde. Wie führende Sozialdemokraten den „Burgfrieden“ im Ersten Weltkrieg aufkündigten, in: Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte, Heft 6, Bonn 2015, S. 77– 79. Haase, Ernst (Hrsg.): Hugo Haase. Sein Leben und Wirken, Berlin 1929 Haase, Hugo: Reichstagsreden gegen die deutsche Kriegspolitik, Berlin 1919. Ders.: Rede des Reichstagsabgeordneten Hugo Haase, Berlin 1916. Krause, Hartfrid: USPD. Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Frankfurt am Main 1975. Löwe-Bahners, Teresa: Zwischen allen Stühlen: Eduard Bernsteins Stellung in der deutschen Sozialdemokratie 1918–1920, in: Schöler, Uli / Scholle, Thilo (Hrsg.): Weltkrieg. Spaltung. Revolution. Sozialdemokratie 1916–22, Bonn 2018, S. 372–389.
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Prager, Eugen: Das Gebot der Stunde. Geschichte der USPD, 4., annotierte Aufl., Bonn 1980. Schöler, Uli / Scholle, Thilo (Hrsg.): Weltkrieg. Spaltung. Revolution. Sozialdemokratie 1916– 1922, Bonn 2018. Schöler, Uli: Verzweifeltes Festhalten am Ziel der Einheit der Sozialdemokratie: Karl Kautsky, in: Schöler, Uli / Scholle, Thilo (Hrsg.): Weltkrieg. Spaltung. Revolution. Sozialdemokratie 1916– 1922, Bonn 2018, S. 230–242. Seils, Ernst-Albert: Hugo Haase. Ein jüdischer Sozialdemokrat im deutschen Kaiserreich. Sein Kampf für Frieden und soziale Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 2016. Sozialdemokratische Partei Deutschlands: Bericht über die Reichskonferenz der deutschen Sozialdemokratie 1916. Stalmann, Volker: Ein Theoretiker des Rätesystems: Ernst Däumig (1866–1922), in: Schöler, Uli / Scholle, Thilo (Hrsg.): Weltkrieg. Spaltung. Revolution. Sozialdemokratie 1916–22, Bonn, 2018, S. 255–266. Wheeler, Robert F.: USPD und Internationale. Sozialistischer Internationalismus in der Zeit der Revolution, Frankfurt am Main 1975. Vorstand der Fraktion der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft: Die Bildung der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft, Berlin 1916. Vorstand der Sozialdemokratischen Reichstagsfraktion (Hrsg.): Ein Jahr sozialdemokratischer Reichstagsarbeit im Kriege. Aus der Tätigkeit der Reichstagsfraktion in der Session 1915– 1916, Berlin 1916. Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 32. Jahrgang, Berlin 1915.
DIE EROSION DES BURGFRIEDENS Die Spaltung der Sozialdemokratie und der Versuch eines parlamentarischen Verständigungsfriedens Walter Mühlhausen Das Finale des Spaltungsprozesses der SPD fiel genau in die Zeit, als die Chancen für eine konzentrierte gemeinsame Aktion der beiden Flügel in der Friedensfrage stiegen, die mit dem von der deutschen Sozialdemokratie lebhaft begrüßten Sturz des Zaren auf der Tagesordnung stand.1 Doch dazu kam es nicht. Da die Regierung in Sachen Frieden und Demokratisierung untätig blieb, mehrten sich innerhalb der sozialdemokratischen Burgfriedensfraktion die Stimmen, die im August 1914 geschlossene Stillhaltepolitik aufzukündigen. Am 3. Juli 1917 klagte der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert im Hauptausschuss des Reichstages, im wichtigsten Gremium zwischen den Sitzungen des Parlaments: „Wozu die großen Opfer, wenn die Regierung nicht gewillt ist, uns das Notwendigste, Unentbehrlichste, Selbstverständlichste: die politische Gleichberechtigung, zu gewähren, die Fesseln der politischen Ungleichheit, das Dreiklassenwahlsystem, zu beseitigen.“2 Wenn er von „Opfern“ sprach, so hatte das eine persönliche Seite, denn zwei seiner vier Söhne waren in den letzten fünf Monaten an der Front gefallen. Mit „Opfer“ meinte er am Ende des dritten Kriegsjahres aber auch das allgemeine Leid in der Heimat und an der Front und nicht zuletzt das „Opfer“ seiner Partei, die auf dem Altar des Burgfriedens ihre Einheit dargebracht hatte. Aus dem Treffen der Parteiführer mit Reichskanzler Bethmann Hollweg tags zuvor hatte sie die Erkenntnis gewonnen, dass die Reichsleitung im Schneckenhaus verharren würde.3 Ebert listete in dieser Rede vom 3. Juli die Unterlassungen der Regierung auf, vor allem auch die mangelnde Initiative für einen Frieden, die es seiner seit dem August 1914 zum Burgfrieden stehenden Partei erschweren würde, den Kurs beizubehalten. Trotz dieses von Resignation, aber auch von gewisser Entschlossenheit getragenen Mahnrufes sollte es nicht zur Abkehr von dieser Politik kommen: Denn im Sommer 1917 vollzogen sich im Zeichen eines längst von Kriegstreibern unterspülten Burgfriedens Weichenstellungen, die die SPD letztlich von der Aufkündigung der Kooperation mit der Regierung abhielten, weil sie doch nun auch hoffen durfte, eben jene 1
2 3
So Brandt / Lehnert (2013): Mehr Demokratie wagen, S. 109. Für unser Thema immer noch grundlegend: Miller (1974): Burgfrieden, und Boll (1980): Frieden. Minutiös nacherzählt wird die Geschichte des Reichstages im Weltkrieg bei Seils (2011): Weltmachtstreben. Auf Einzelverweise zu diesen Werken wird nachfolgend weitgehend verzichtet. HA 3 (1981), S. 1484. Das Kriegstagebuch David (1966), S. 239: Eintragung 2. Juli 1917.
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verfassungsrechtliche Neuorientierung mit einleiten zu können. Diese Hoffnung speiste sich aus der Bildung des Interfraktionellen Ausschusses und der von diesem neuen Kooperationsgremium im Reichstag durchgebrachte Friedensresolution. So wurde es ihr ermöglicht, weiter an den Prinzipien der Landesverteidigung festzuhalten. Gleichzeitig aber erhöhte sie den Druck auf die Regierung, von der sie nicht nur innere Reformen, sondern auch eine Friedensinitiative einforderte. 1. VOM BURGFRIEDEN ZUM „BRUDERKAMPF“ – DIE SPD IM WELTKRIEG Der Burgfrieden war im August 1914 vor allem in der Einschätzung von einem Verteidigungskrieg gegen das zaristische Russland geschlossen worden.4 Die Pflicht zur Landesverteidigung, zu der sich die SPD schon weit vor Kriegsausbruch mehrheitlich bekannt hatte, war von der Reichsführung geschickt aktiviert worden, indem sie die bewusste Inkaufnahme eines Krieges mit dem nach außen gezeichneten Bild von der Schuld des russischen Despoten kaschierte. Neben der Furcht vor einer Herrschaft des „blutdurstigen Zarismus“, wie Parteivorstandsmitglied Hermann Molkenbuhr im Dezember 1914 schreiben sollte5, bestimmte das Gefühl der nationalen Einheit die Entscheidung, der auch viele Sozialdemokraten glaubten sich nicht entziehen zu können. Einige Mandatsträger wurden zudem von der Hoffnung getragen, dass die Reichsleitung die Einreihung in die nationale Abwehrfront mit der von der SPD lang ersehnten Demokratisierung und Parlamentarisierung des Reiches hin zu einer Art „Volksmonarchie“ honorieren werde. Symbolkraft besaß dabei die Beseitigung des undemokratischen und das Proletariat erheblich benachteiligenden preußischen Dreiklassenwahlrechts, gegen das die SPD seit der Jahrhundertwende Sturm gelaufen war. Die sozialdemokratische Mehrheit aber machte die Politik des inneren Burgfriedens nicht von irgendwelchen Zugeständnissen abhängig. Die Zustimmung zu den Krediten wurde mehrheitlich nicht als ein Pfand gesehen, das die Reichsführung umgehend mit substantiellen Reformen vergüten sollte, wenngleich man, je länger der Krieg dauerte, insgeheim wohl doch darauf hoffte. Noch im Frühjahr 1916 aber unterstrich Ebert im Reichstag, die Stellung zur Landesverteidigung dürfe nicht „Objekt eines politischen Schachergeschäftes“ sein.6 Bereits die Abstimmung der SPD-Fraktion am 3. August 1914, als man die Annahme der Kriegskredite mit 78 gegen 14 der anwesenden Abgeordneten beschloss, offenbarte, dass der Burgfrieden nicht von allen gutgeheißen wurde. Der Keil ging mitten durch die Parteispitze. Der eine Vorsitzende, Hugo Haase, gehörte vom August 1914 an zu den Gegnern, der andere, Friedrich Ebert, zu den Befürwortern des 4 5 6
Vgl. Kruse (1993): Krieg, passim; Überblick: Mühlhausen (1994): Scheideweg; Mühlhausen (2014): Burgfrieden; zur Einordung des 4. August in die Traditionslinien der SPD vgl. Mühlhausen (2014): Völker, S. 184–188. Braun / Eichler (2000): Arbeiterführer, S. 240. Friedrich Ebert am 5. April 1916; VRT 307, S. 860.
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Burgfriedens. Die Zahl der Nein-Sager wuchs beständig von Abstimmung zu Abstimmung. Die Parteiführung wurde dabei von der Hoffnung getragen, den Dissens nicht ausfechten zu müssen und bis zum Kriegsende zurückstellen zu können, denn wie die große Mehrheit der Deutschen erwartete auch sie nur einen kurzen Waffengang. Da sich die Einschätzung als illusorisch erwies und der Krieg zu einem dauerhaften Weltenbrand ausuferte, konnte der Balanceakt, sich irgendwie zwischen den innerparteilichen Fronten durchzulavieren, nicht gelingen. Die Politik stürzte die Partei schließlich in eine Krise, der sie nicht mehr gewachsen und die von der Führung nicht mehr zu managen war. Die Einheit zerbrach. Die Spaltung der Partei wurde eingeleitet mit dem unangekündigten, überfallartigen Sondervotum von 20 SPD-Abgeordneten, die am 21. Dezember 1915 die Kredite im Reichstag ablehnten, deren Annahme die Fraktion zuvor beschlossen hatte. Damit torpedierten die Oppositionellen den Beschluss vom Februar des Jahres, wonach das Votum im Reichstag einstimmig zu erfolgen hatte. Als salomonischen Ausweg hatte man festgelegt, dass diejenigen, die sich nicht in der Lage sahen, die Mehrheitspolitik mitzutragen, ohne großes Aufsehen der Abstimmung im Parlament fernbleiben durften. Mit diesem Modus glaubte die Führung einen Weg gefunden zu haben, die Partei trotz divergierender Standpunkte zusammenhalten zu können. Doch die in der Extremsituation des Krieges eingeforderte, von der Minderheit als Knebel empfundene Disziplin sollte sich als Spaltpilz erweisen. Zum Jahreswechsel 1915/16 konnten Fraktions- und Parteiführung disziplinarische Maßnahmen gegen die Abweichler abwenden, sehr zum Unwillen der betont nationalen Rechten um Eduard David, für den das Zusammenleimen der Parteispitze nichts weniger war als „elendster Umfall, jetzt wo das Geschwür ausgeschnitten werden könnte und müsste“.7 Der Vorstand folgte dem nicht, doch die Geduld des lange um die Einheit ringenden Vorsitzenden Ebert war dann Ende März 1916 aufgebraucht, als die Minderheit im Reichstag nach Rechtfertigung durch Haase den sogenannten Not-Etat ablehnte, obwohl sich die Fraktion zuvor mit 44 gegen 36 Stimmen für eine Annahme ausgesprochen hatte. Für die Mehrheit war das Verhalten der Opposition nichts weniger als ein „Disziplinbruch“ und eine „ganz unerhörte Treulosigkeit“.8 Es gab jetzt nichts mehr zu kitten; die Minderheit zog die Konsequenzen und formierte sich in einer eigenen Fraktion, der „Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft“. Da auch eine Reichskonferenz im September 1916 keine Entspannung bewirkte, sondern ganz im Gegenteil die Fronten sich verhärteten, ging die SPD zerstrittener denn je in das Jahr 1917. Und als die Arbeitsgemeinschaft im Januar 1917 eine Konferenz der Burgfriedensgegner abhielt, war für die Meinungsführer der Mehrheit das gemeinsame Tischtuch endgültig zerschnitten. Dem Vollzug der Scheidung durch die Gründung der USPD folgte eine erbitterte Auseinandersetzung, ein „Bruderkampf“, der – so prophezeite Ebert vor dem Parteiausschuss – „mit einer Heftigkeit und mit all den hässlichen Begleitfor 7 8
Das Kriegstagebuch David (1966), S. 148: Eintragung 21. Dezember 1915. Ebert in der Fraktion am 24. März 1916; RT-Fraktion 2 (1966), S. 174; vgl. Dittmann (1995): Erinnerungen 2, S. 458.
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men geführt werden wird, die die Kämpfe der Eisenacher und Lassalleaner sicher weit hinter sich lassen werden“.9 Es sollte so kommen. 2. „DURCH DIE RUSSISCHE REVOLUTION ZUM FRIEDEN“ – DIE FRIEDENSFRAGE AUF DER TAGESORDNUNG Wie die innerparteiliche Opposition unter dem Einfluss der russischen Revolution vom März (wir richten uns – ungeachtet der feststehenden Begriffe „Februar- oder Oktoberrevolution“ – hier nach der in Deutschland geltenden gregorianischen Zeitrechnung) von „Begeisterung und Aufbruchsstimmung“ erfasst wurde10, so hoffte auch die Mehrheit auf eine Chance zum Frieden. Aber zu einem Schulterschluss kam es nicht. Geschwisterliche Gefühle bestimmten ohnehin nicht die Interaktion zwischen beiden Parteien, deren Kluft sich mit der Bildung des Interfraktionellen Ausschusses im Juli 1917 noch vertiefte. Für die USPD waren die Burgfriedensbefürworter nichts weiter als „Regierungssozialisten“. Die SPD setzte auf einen Frieden über das Parlament und mit der Reichsführung, unter Ausnutzung ihrer nach wie vor bestehenden internationalen Kontakte, während die USPD das internationale sozialistische Parkett als Forum wählte, um die Friedensfrage voranzubringen. Ein parlamentarisches Vorgehen wäre für sie als Partei auf dem linken Flügel ohnehin gänzlich aussichtslos gewesen. Wer wie die USPD den außerparlamentarischen Weg zum Frieden einschlug, setzte zwangsläufig damit auf einen revolutionären Umbruch. Einhergehend mit dem Prozess der endgültigen Parteispaltung spitzte sich die Lage im Innern zu. Der dramatische Versorgungsmangel während des „Kohlrübenwinters“ 1916/17 ließ die Stimmung auf den Tiefpunkt sinken, was sich im April 1917 in größeren Streiks entlud, vor allem in den USPD-Hochburgen Leipzig und Berlin. Diese Streiks wurden durch die Herabsetzung der Brotration ausgelöst und wuchsen zu Ausständen politischer Natur. Sie waren ein untrügliches Zeichen, dass in der Heimat Friedenssehnsucht und Kriegsmüdigkeit weit um sich griffen. Das galt auch für die Front. Der Friede wurde allenthalben diskutiert, war aber längst nicht in Sicht. Geraume Zeit nach Beendigung der Streiks charakterisierte Friedrich Ebert in einem Brief an seinen Sohn Georg, der wenige Tage später in Frankreich fallen sollte, die April-Ausstände als den Friedensbemühungen abträgliche „Narrenstreiche“. Er gab aber auch seiner Hoffnung Ausdruck, dass mit der russischen Februarrevolution ein baldiger Frieden möglich sei. Denn mit dem neuen, auf ein Ende der Kampfhandlungen drängenden Russland wolle er bald Fühlung für eine gemeinsame Initiative aufnehmen.11 In der Tat hatte die SPD-Führung über befreundete dänische Sozialdemokraten, mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes, Kon 9 Sitzung des erweiterten Parteiausschusses am 18. April 1917; PA 1 (1980), S. 431. 10 Wieland (2009): Ströbel, S. 120. 11 Brief vom 1. Mai 1917, in: Mühlhausen (1992): Familie, S. 104.
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takt zu den neuen Machthabern im Osten aufgenommen, um die Friedensfrage anzukurbeln. Jetzt galt es entschieden zu handeln. Auch wenn die Partei die an den russischen Wandel geknüpften Hoffnungen nicht zu hoch schrauben sollte12, wollte sie nicht die Chance verspielen, „durch die russische Revolution jetzt bald zum Frieden zu kommen“, wie der Hanauer SPD-Abgeordnete Gustav Hoch im Hauptausschuss mahnte.13 Die SPD machte sich die Formel des Petersburger Arbeiter- und Soldatenrats zu eigen, in der von einem Frieden der Verständigung „ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen“ auf der „Grundlage einer freien nationalen Entwicklung aller Völker“ die Rede war.14 Das entsprach allgemein den als „ScheidemannFrieden“ bezeichneten Vorstellungen der SPD, mit dem sie einen Kontrapunkt gegen die Expansionsbestrebungen der „Schwertsieger“15 setzte. Der Namensgeber Philipp Scheidemann, der sich in Sachen Frieden öffentlich besonders exponierte, trat als Wortführer der SPD in den Ring, als im Reichstag am 15. Mai 1917 der Reichskanzler durch zwei Interpellationen aufgefordert worden war, zur Friedensfrage Stellung zu beziehen. Ganz im Sinne des enthusiastischen Beschlusses des erweiterten Parteiausschusses vom 19. April16 verlangte die SPD Auskunft, welche Schritte Bethmann Hollweg zur Erlangung eines Friedens der Verständigung zu unternehmen bereit sei. Der Reichskanzler lehnte jedoch eine programmatische Erklärung zur Kriegszielfrage ausdrücklich ab. Die Sitzung offenbarte die tiefe Kluft zwischen SPD und USPD, deren Vertreter Georg Ledebour gegen die SPD austeilte, sie der Kumpanei mit der Reichsführung bezichtigte und als „Nutznießer der Unterdrückungspolitik der Reichsregierung“ diffamierte. Sie müsse nun vom Burgfrieden abrücken.17 Sie tat es nicht, aber sie drohte. Scheidemanns Mahnung am Ende seiner Rede, dass, wenn sich die Reichsleitung der Notwendigkeit eines baldigen Friedens verschließe, man „die Revolution im Lande“ habe18, war prophetischer Natur, die ihm sogleich einen Ordnungsruf des Reichstagspräsidenten einbrachte, der dies als Drohung mit dem Umsturz wertete. Auch später schloss der Kanzler sich der zentralen Forderung der SPD nicht an, sich für einen Frieden der Verständigung und gegen Annexionen auszusprechen. In zahlreichen sozialdemokratischen Vereinen wurde nach dieser Sitzung die
12 Scheidemann vor dem erweiterten Parteiausschuss am 19. April; PA 1 (1980), S. 473. 13 Sitzung am 3. Juli; HA 3 (1981), S. 1377. 14 Die erste Erklärung der provisorischen russischen Regierung sowie die Kundgebung des Petrograder Arbeiter- und Soldatenrates vom 16. April abgedruckt im Protokoll der Parteiausschusssitzung 18./19. April 1917; PA 1 (1980), S. 474/75. 15 So Scheidemann vor dem Hauptausschuss am 24. Januar 1918; HA 4 (1983), S. 1924. 16 Resolution in: PA 1 (1980), S. 504. 17 VRT 310, S. 3402. 18 VRT 310, S. 3395. Zu dieser Rede vgl. Schmersal (1999): Scheidemann, S. 104.
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Frage gestellt, ob nun die Kriegskredite abzulehnen seien.19 Andere wiederum forderten die Fraktion auf, weiter fest zur Bewilligung zu stehen.20 Im Dezember 1916, beim folgenlosen Friedensangebot der Mittelmächte, hatten sich Mehrheitssozialdemokratie und Gewerkschaften mit dem Vorgehen Bethmann Hollwegs einverstanden erklärt, ja nachgerade die Aktion begrüßt und als Zeichen des Friedenswillens des Kanzlers gewürdigt. Wie überhaupt die Mehrheitsfraktion doch ein gewisses Vertrauen in Bethmann Hollweg besaß und ihm lautere Friedensabsichten attestierte. Das galt bis zur Verkündung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges am 1. Februar 1917. Die SPD wandte sich schließlich wegen seiner Untätigkeit in Sachen Wahlrechtsreform und Friedensfrage immer mehr vom Kanzler ab.21 Auch auf dem internationalen Parkett erlebte die Sozialdemokratie eine Enttäuschung. Die mit der russischen Entwicklung genährten Hoffnungen auf eine Konferenz der sozialistischen Parteien der verfeindeten Staaten erfüllten sich nicht. Über Vorgespräche in Stockholm kam das Projekt nicht hinaus. Die getrennt nach Schweden reisenden Delegationen von SPD und USPD präsentierten dort umfangreiche Leitsätze für den Frieden. Was die Vorstellungen betraf, so herrschte in einigen Punkten Übereinstimmung – vordergründig zumindest.22 Allein die vage Formel vom freien „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ ließ nuancierte Auslegungen zu. Beide wollten das „Reichsland“ Elsass-Lothringen in Deutschland halten, doch trat die USPD, im Gegensatz zur SPD, für eine Volksabstimmung in der Nachkriegszeit ein, denn die Annexion 1871 sei gegen den Willen der Bevölkerung geschehen. Bezüglich Belgien forderte die SPD wie auch die USPD eine Wiederherstellung, lehnte aber Schadenersatz ab. Dies revidierte sie dann später, im Herbst 1918, und sprach von einer „Verständigung über Entschädigung“.23 3. „KEIN KOMPROMISSELN MEHR“ – ZUR VERSCHRÄNKUNG VON DEMOKRATISIERUNG UND FRIEDENSFRAGE In der Friedensfrage zeichneten sich nun gar keine Fortschritte ab und im Innern brodelte es. Unter dem Eindruck einer sich dramatisch verschlechternden Stimmung stellte die Mehrheitssozialdemokratie ihre Ziele Demokratisierung und Parlamentarisierung stärker heraus und verknüpfte sie mit der Friedensfrage. In ihren Reihen setzte sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass die „äußere Freiheit“ nur 19 Dazu etwa die Berichte über Parteiversammlungen in Solingen und Frankfurt a. M.; „Vorwärts“ Nr. 134 vom 17. Mai 1917. 20 So die Landeskonferenz der SPD im Großherzogtum Hessen; „Vorwärts“ Nr. 139 vom 23. Mai 1917. 21 Braun (1999): Molkenbuhr, S. 318; auch Miller (1974): Burgfrieden, S. 317. 22 Das Stockholmer Memorandum der SPD bei Scheidemann (1928): Memoiren 2, S. 11–18, das der USPD von Haase im Reichstag verlesen; VRT 310, S. 3590–3592. 23 In ihren Bedingungen zum Regierungseintritt; „Vorwärts“ Nr. 263 vom 24. September 1918.
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mit einer inneren Freiheit zu erringen sei.24 Die SPD stellte ihre Oppositionsrolle wieder stärker heraus. Jetzt, so Scheidemann am 19. April vor dem erweiterten Parteiausschuss, dürfte es kein „Kompromisseln“ mehr geben, nur eine „vollkommene Demokratisierung des Reichs und der Bundesstaaten“.25 Die Reform des Dreiklassenwahlrechts in Preußen avancierte endgültig zur „Kapitalfrage der inneren Politik“.26 Die kaiserliche Osterbotschaft mit der Ankündigung von Reformen nach „Heimkehr“ der Krieger war ein Scheck ohne konkretes Datum der Fälligkeit. Ein Hinhalten auf eine fernere Zukunft, auf die Zeit nach Kriegsende, wollte die SPD, die auf einem „sofort“ bestand, nicht mehr hinnehmen: „Mit den bloßen Versprechen ist nichts getan.“27 Auch die Gewerkschaften widersprachen jeglichen zaudernden Untertönen in der SPD, die von dem „sofort“ abrücken wollten und meinten, die Reform sei vielleicht auch erst nach dem Krieg möglich. Der Gewerkschaftsführer Theodor Leipart wies die „Vorwärts“-Redaktion zurecht: „Es wäre ja noch schöner, wenn die Sozialdemokratie sich mit ihren Reformforderungen bis nach dem Kriege vertrösten lassen sollte.“ Jetzt sei die Zeit, die „Forderungen mit nachdrücklicher Entschlossenheit zu vertreten“.28 Bereits im April 1916 hatte Friedrich Ebert prophezeit, dass sich die vom Kriegsschauplatz heimkehrende Generation ihr „politisches Leben nicht wieder in die Drahtverhaue des Dreiklassensystems“ hineinzwängen lassen werde. Das „neue Schützengrabengeschlecht“ verlange Freiheit und Gleichberechtigung – und es werde, wenn nötig, dafür kämpfen.29 In der Fraktion wurde immer heftiger die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer weiteren Kooperationspolitik gestellt. Die Sitzung des Parteiausschuss am 26. Juni 1917 verlief in erhitzter Atmosphäre, die deutlich machte, dass eine neuerliche Kreditbewilligung von einer eindeutigen Aussage der Regierung in Sachen Frieden und Demokratisierung abhängig gemacht wurde, mit den Worten aus Scheidemanns Tagebuch: „Aber – das war der Tenor aller Ausführungen – die bevorstehende Kreditvorlage muss abgelehnt werden, wenn der Reichskanzler nicht klipp und klar seine Kriegsziele angibt und feste Versprechungen über die innere Neuordnung macht.“30 Der Schlesier Paul Löbe, der nicht im Reichstag saß, wollte es, getrieben von einer als „hundsmiserabel“ charakterisierten Stimmung im Lande, auf einen scharfen Konflikt mit der Regierung ankommen lassen, und der Dresdner Abgeordnete Georg Gradnauer hielt die Zeit für gekommen, mit dem Kanzler auch über die innere Politik „Fraktur“ zu reden.31 24 25 26 27 28 29 30 31
So Scheidemann im „Vorwärts“ Nr. 170 vom 24. Juni 1917. PA 1 (1980), S. 469. Ebert im Hauptausschuss am 3. Juli 1917; HA 3 (1981), S. 1485. Ebert im Interfraktionellen Ausschuss am 12. Juli 1917; IFA 1 (1959), S. 61. Brief vom 27. April 1917; Die Gewerkschaften (1985), S. 357. Am 5. April 1916; VRT 307, S. 860. Tagebuchaufzeichnungen wiedergegeben bei Scheidemann (1928): Memoiren 2, S. 27. PA 1 (1980), S. 535 (Löbe) und S. 538 (Gradnauer).
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Die Gespräche mit der Reichsleitung bis zum Ende des Monats führten der SPD deutlich vor Augen, dass sich der Reichskanzler keinen Deut bewegen würde. Das auch von der USPD eingeforderte „Bekenntnis zum Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen“ (Wilhelm Dittmann)32 kam nicht; das erhoffte Signal einer Verständigungsbereitschaft blieb aus. 4. „FARBE BEKENNEN“ – DER INTERFRAKTIONELLE AUSSCHUSS In dieser schwierigen Lage, im „Zustand heftigster Gärung“33, erwog die SPD erstmals, die Kriegsfinanzierung abzulehnen. Zu sehr fühlte sie sich von der Regierung enttäuscht, die nun „endlich Farbe“ bekennen und sich mit der SPD auf die von ihr vertretenen Formel vom Verständigungsfrieden einigen müsse.34 Denn der Druck der Parteibasis wuchs: Orts- und Wahlkreisvereine erklärten ihren Anschluss an die USPD, allenthalben wurden vor Ort Resolutionen diskutiert, wegen des fehlenden Bekenntnisses der Reichsführung zur Friedensfrage „nunmehr die weiteren Kriegskredite zu verweigern“.35 Auch wenn solche Anträge mitunter abgeschmettert wurden, registrierte die Parteispitze sehr wohl den steigenden Verdruss in der Mitgliedschaft. In der Fraktion standen am 5. Juli die Zeichen auf Sturm, denn in „der gegenwärtigen Lage“ sei es unmöglich, „der Regierung bedingungslos weitere Kriegskredite zu bewilligen“.36 Wenn sich die Regierung nicht der Forderung „keine Annexionen, keine Kriegsentschädigung“ anschließen werde, dann dürfe die Partei nicht mehr zustimmen. Mehr noch: Auch politische Konsequenzen schienen geboten, denn ein Friedensangebot im Sinne der sozialdemokratischen Prinzipien würde nur durch eine innenpolitische Absicherung, über eine parlamentarisch gebundene Regierung, Wirkungskraft entwickeln. Max Cohen-Reuß wurde auf dieser Fraktionssitzung deutlich, dass es auch einer Umbildung der Regierung bedurfte: „Ich stehe grundsätzlich auf dem Boden der Kreditbewilligung; aber nicht ohne weiteres mehr jeder Regierung. […] Wenn wir das Vaterland retten wollen, dann geht es nur gegen diese Regierung, nicht mit ihr.“37 Es galt nunmehr der Zusammenhang, wie ihn Gustav Hoch auf dem Würzburger Parteitag im Oktober formulieren sollte: „Ohne diese Verfassungsfragen können wir die Friedensfrage nicht lösen und ohne die Friedensfrage hätten wir jetzt keine Verfassungsfrage.“38 32 33 34 35
Im Hauptausschuss am 4. Juli 1917; HA 3 (1981), S. 1573. Scheidemann (1928): Memoiren 2, S. 28. Gustav Noske im Hauptausschuss am 4. Juli 1917; HA 3 (1981), S. 1501. So die eingebrachte, schließlich aber auf der Versammlung des Vereins in Dresden-Neustadt abgelehnte Resolution; „Vorwärts“ Nr. 154 vom 8. Juni 1917. Eine SPD-Konferenz im 14. hannoverschen Wahlkreis forderte einstimmig die Fraktion auf, weitere Kriegskredite abzulehnen, solange sich die Regierung nicht zu einem Frieden der Verständigung bekenne; „Vorwärts“ Nr. 191 vom 15. Juli 1917. 36 So der Frankfurter Hermann Wendel; RT-Fraktion 2 (1966), S. 269. 37 RT-Fraktion 2 (1966), S. 271. 38 PT 1917, S. 348.
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Es schien so, als wenn die SPD die Kreditverweigerung als Hebel nutzen wollte, Reformen und Friedensbekenntnis der Reichsleitung zu erzwingen. Doch schon bald sollte sich eine neue Tür öffnen, damit sie weiter die Kredite bewilligen konnte. Denn das Wanken der SPD lockte die bürgerlichen Parteien aus der Reserve.39 Die Zentrumspartei, bis dahin Gegner einer Neuorientierung, ging nun auf die SPD zu, um den inneren Burgfrieden zu erhalten, aus dem die Mehrheitssozialdemokraten auszuscheren drohten. Die Rede des Zentrumsführers Matthias Erzberger vor dem Hauptausschuss am 6. Juli 1917, drei Tage nachdem Ebert die Regierung angegriffen und Reformen eingefordert hatte, markierte den Wendepunkt.40 Als Erzberger von einem Frieden des Ausgleichs sprach, erkannte Ebert die Bedeutung dieser Worte und forderte eine Unterbrechung der Debatte, um in den Fraktionen die „vollständig neue parlamentarische und politische Situation“ zu bewerten.41 Es war in der Tat eine vollkommen neue Lage, denn mit Erzberger meldete sich ein Mann zu Wort, der noch kurz vor dem Krieg als Kernfrage der Innenpolitik „die Zertrümmerung der gewaltigen Macht der Sozialdemokratie“ bezeichnet hatte42 und lange mit der Expansionspolitik liebäugelte. Die vom Zentrumsmann im Juli 1917 „geworfene Sprengbombe“43 verschob das innenpolitische Koordinatensystem und machte die Bahn frei für eine neue Reformmehrheit aus MSPD, katholischer Zentrumspartei und linksliberaler Fortschrittlicher Volkspartei, den Interfraktionellen Ausschuss44, Vorläufer der späteren Weimarer Koalition. Diese erste institutionalisierte Zusammenarbeit der Sozialdemokratie mit bürgerlichen Parteien auf Reichsebene, der sich zeitweilig auch die Nationalliberalen anschlossen, erwies sich als ein wichtiges Durchgangsstadium auf ihrem Weg zur Regierungspartei. Die Kooperation war erst nach der Spaltung der SPD und einer Öffnung der bürgerlichen Organisationen möglich geworden. Das neue Bündnis informierte umgehend den Reichskanzler davon, dass nun entscheidende Schritte zur demokratischen Neuordnung und zum Frieden unternommen werden müssten.45 Die Bildung des Interfraktionellen Ausschusses musste die SPD als Erfolg verbuchen, aber die Ergebnisse dieser neuen Reichstagsmehrheit nahmen sich, gemes 39 Erzberger (1920): Erlebnisse, S. 267, nennt in einer Aufzeichnung (Anfang 1918) als einen Grund für die Friedensresolution die „große Gefahr“ einer Ablehnung der Kredite durch die SPD. 40 HA 3 (1981), S. 1525–1529. 41 So Ebert auf der nachfolgenden Fraktionssitzung am 6. Juli 1917; RT-Fraktion 2, S. 280. Es spricht vieles für die Wertung von Boll (1980): Frieden, S. 237, die SPD hätte, wäre Erzberger ihr nicht beigesprungen, den Bankrott ihrer Kriegspolitik eingestehen und die Kredite verweigern müssen. 42 Im Mai 1914; zitiert bei Mühlhausen (1993): Strategien, S. 283. 43 Zitat aus dem Bericht des württembergischen Gesandten in Berlin vom 10. Juli 1917; Dowe (2011): Erzberger, S. 77. 44 Vgl. die Edition IFA (1959); Ribhegge (1988): Frieden, S. 171–181. 45 Zur Kanzlerunterredung mit den Parteiführern vgl. die SPD-Fraktionssitzung am 7. Juli; RTFraktion 2 (1966), S. 283.
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sen am sozialdemokratischen Forderungskatalog, doch eher gering aus, denn das aus dem gemeinsamen Bekenntnis zur nationalen Selbstbehauptung geschmiedete informelle Gremium wuchs nicht zu einem homogenen, den bürokratisch-militärischen Machtkomplex herausfordernden Reformbündnis. Mangelnde Konfliktbereitschaft sowie politisch-programmatische Binnendifferenzierung des Ausschusses schränkten seine Wirkungskraft ein.46 Insgesamt vermochte er es nicht, in das politische Vakuum vorzustoßen, das der kontinuierliche, auf unzulängliche Krisenbewältigung zurückzuführende Autoritätsverlust der Reichsleitung hinterließ. Die Politik wurde immer mehr von der Obersten Heeresleitung (OHL) diktiert, nicht mehr von den zivilen Instanzen bestimmt. Als Bethmann Hollweg gehen musste, trat am 14. Juli mit Georg Michaelis ein Vertrauensmann der Militärführung an seine Stelle, ohne dass die Parteien des Ausschusses ihre Vorstellungen von einer aus Parlamentariern gebildeten Regierung auch nur ansatzweise realisieren konnten. Der SPD erschien der Kanzler von Hindenburgs Gnaden als ganz und gar unzuverlässig. 5. „ALLES KAPUTT“ – DIE PAPIERNE FRIEDENSRESOLUTION Die Bedenken gegen Michaelis wurden sogleich bestätigt, als er die sichtbarste Tat des Interfraktionellen Ausschusses konterkarierte: die am 19. Juli 1917 im Reichstag mit 212 gegen 126 Stimmen verabschiedete Friedensresolution, die mit der ebenso plakativen wie unkonkreten Formel von einem Frieden der Verständigung, mit dem „erzwungene Gebietserwerbungen und politische, wirtschaftliche oder finanzielle Vergewaltigungen unvereinbar seien“, weitgehend sozialdemokratischem Vokabular entsprach. Michaelis entwertete sie in seiner parlamentarischen Auftaktrede durch die Wendung „wie ich sie auffasse“47 und brachte damit die SPD in eine „furchtbare Situation“.48 Die wegen einer – in ihrer Durchhaltepolitik begründeten – Entfremdung von der Basis in einer Legitimationskrise befindlichen sozialistischen Gewerkschaften zollten der Reichstagsresolution umgehend Beifall.49 Kritik kam von der durch die Offensive der SPD und die Friedensresolution in die Defensive gedrängten USPD, die eine Aussage zum Selbstbestimmungsrecht der Völker vermisste und eine eigene Resolution präsentierte, die aber nicht den Hauch einer Chance besaß. Haase 46 So deutlich Schönhoven (2002): Entstehung, S. 189. 47 Das Reichstagsprotokoll verzeichnet zu den Passagen von Michaelis zur Friedensfrage Zurufe wie „Bravo!“ und „sehr gut“ von den Parteien der Friedensresolution, auch von der SPD; VRT 310, S. 3570–3573, hier S. 3572. Dies sei, so die teilnehmenden SPD-Abgeordneten später, falsch festgehalten worden; Miller (1974): Burgfrieden, S. 309. 48 Ebert vor dem Interfraktionellen Ausschuss am 22. August 1917; IFA 1 (1959), S. 140; die Resolution u. a. in: ebd., S. 114; vgl. Ribhegge (1988): Frieden, S. 182–188. 49 Entschließung, einstimmig verabschiedet auf der Konferenz der Verbandsvorstände, 24.–26. Juli 1917, in: Die Gewerkschaften (1985), S. 375.
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enthüllte das „Gaukelspiel“ von Militär und Michaelis, so Wilhelm Dittmann50, und verknüpfte die Friedensfrage mit Reformen, denn die „beste Vorbedingung für einen raschen und erfolgreichen Frieden“ sei „die demokratische Umgestaltung des Reichs“.51 Folgerichtig lehnte die USPD die Friedensresolution ab, über die der Spartakusmann Karl Liebknecht ein schonungsloses Urteil fällte: ein „Täuschungsversuch“.52 Mit der Friedenskundgebung hatte sich das Reichsparlament erstmals in die Außenpolitik eingeschaltet und war vom Kanzler sofort wieder in die Schranken verwiesen worden. Die Sozialdemokraten waren konsterniert: „Alles kaputt, die Resolution ist entzweigeschlagen.“53 Die Annahme der Kriegskredite schien in der Fraktion am Morgen des 19. Juli, unmittelbar vor der parlamentarischen Verabschiedung der zwei Tage zuvor nach langen Diskussionen endgültig fertig gestellten Resolution, keineswegs gesichert. Einige hielten jedoch eine Debatte um die neuerliche Kreditbewilligung für obsolet. Das galt etwa für Otto Landsberg, der für Magdeburg im Reichstag saß: „Wenn wir jetzt ablehnen, werden wir vielleicht draußen bei den körperlich und geistig herabgestimmten Massen jetzt Zustimmung erhalten. Wenn aber die Niederlage kommt, so ist Deutschland, und bei einer Kreditablehnung auch unsere Partei ruiniert.“54 61 folgten ihm, 14 wollten ihre Entscheidung vom Auftritt des neuen Kanzlers abhängig machen. Im Parlament entfernten sich dann bei der Abstimmung vier Abgeordnete stillschweigend. So ganz von Zufriedenheit war die Stimmung innerhalb der SPD nun nicht geprägt. Einige beschlich Ungewissheit über die Wirkung der Resolution. So hatte der zum betont nationalen Flügel zählende Wolfgang Heine bereits am 10. Juli in der Fraktion vorhergesagt, die Friedensresolution könne nur dann wirklich etwas bewirken, wenn sogleich eine neue Regierung auf der Basis einer Parlamentsmehrheit gebildet werden würde.55 Michaelis war das beileibe nicht. Und außenpolitisch blieb die Reichstagsresolution ohne Wirkung. Mit der in der Friedensresolution manifestierten Einigkeit der Parteien des Interfraktionellen Ausschusses war es in der Folgezeit nicht so weit her. Bei den Beratungen der päpstlichen Friedensnote im August 1917, der ersten „Probe aufs Exempel“56, setzte sich die SPD im Siebener-Ausschuss, der allerersten Parlamentarierkommission unter dem Vorsitz des Kanzlers zur Beratung einer außenpolitischen Frage, nicht damit durch, in die Antwort auch eine Erklärung über Belgien aufzunehmen. Vielmehr pflichteten die bürgerlichen Parteien dem Reichskanzler
50 51 52 53 54 55 56
Dittmann (1995): Erinnerungen 2, S. 515. VRT 310, S. 3587; referiert bei Seils (2016): Haase, S. 575. Zitiert bei Miller (1974): Burgfrieden, S. 312. Otto Landsberg 1926; ebd., S. 309. Fraktionssitzung am 19. Juli 1917; RT-Fraktion 2 (1966), S. 313. Ebd., S. 300. Dittmann (1995): Erinnerungen 2, S. 519.
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bei, in der Replik ganz allgemein auf die Friedensresolution hinzuweisen.57 Die SPD gab sich schließlich damit zufrieden. Trotz aller Enttäuschungen hielt die Mehrheitssozialdemokratie an dieser semiinstitutionalisierten Verbindung fest. Auf dem Würzburger Parteitag im Oktober 1917 holte sich die Parteispitze Rückendeckung: Die Resolution, auch künftig die Zustimmung zu den Kriegskrediten davon abhängig zu machen, „ob sie im Interesse der Landesverteidigung geboten“ seien, stieß mit 265 gegen 14 Stimmen auf eine übergroße Mehrheit. Mit nahezu gleicher Stimmenzahl wurde der Antrag von „Gustav Hoch und 43 Genossen“ abgeschmettert, die Fraktion könne der „jetzigen Reichsleitung“ keine Kriegsforderungen mehr bewilligen.58 Als Berichterstatter der Fraktion lobte Eduard David den Interfraktionellen Ausschuss in höchsten Tönen als kraftvollen „Mehrheitsblock mit uns“, die Friedensresolution und die Antwort auf die Papstnote als gewaltige Erfolge in der Friedensfrage.59 Das war ein sehr geschöntes Resümee, denn die Zusammenarbeit trug nur wenig Früchte. Die Unzufriedenheit beförderte wesentlich der Kanzler, „der Saboteur der Friedensresolution des Reichstags und der päpstlichen Friedensbemühungen“60, der nicht nur in den Augen der SPD hilflos und unfähig agierte. Bereits am 28. August hatte Ebert vor der Fraktion davon gesprochen, man müsse versuchen, „ihn so schnell wie möglich zu beseitigen“.61 Mit seiner ungemein scharfen Reichstagsrede vom 9. Oktober 1917, dass „jeder Tag, der das deutsche Volk früher von dieser Regierung befreit“, zu begrüßen sei, läutete er den Sturz des Kanzlers ein.62 Schließlich gelang es, eine neue Regierung zu installieren, der zum ersten Mal Vertrauensleute der Parteien angehörten, allen voran Friedrich von Payer (Freiheitliche Volkspartei) als Vizekanzler. Doch hatte Michaelis mit dem konservativen Georg Graf von Hertling noch seinen Nachfolger ins Spiel gebracht. Diesen akzeptierte die SPD nur „mit Widerwillen“.63 Mit dieser semi-parlamentarischen Regierung wurde die SPD noch stärker eingebunden, ohne aber personell darin vertreten zu sein: Sie wurde letztlich also nur bei der Stange gehalten. Zu großem Optimismus gab es keinen Anlass. Ungeachtet dessen: Die Friedensresolution blieb für die SPD Orientierung: Noch im September 1918, als ihr Regierungseintritt anstand, nannte sie als erste ihrer Bedingungen das „uneingeschränkte Bekenntnis“ des neuen Kabinetts zum Beschluss vom 19. Juli 1917.64 Im Grunde aber erzielte die Friedensresolution 57 Verhaltene Kritik („eine besondere Bezugnahme auf Belgien“ sei „rätlich gewesen“) im „Vorwärts“ Nr. 160 vom 22. September 1917. Auf dem Parteitag im Oktober beklagte Gustav Hoch, dass man sich hinsichtlich Belgiens mit „Andeutungen abgefunden“ habe; PT 1917, S. 350; ausführlich: Scheidemann (1928): Memoiren 2, S. 60–83. 58 PT 1917, die Anträge von Löbe bzw. Hoch S. 216–218; die Abstimmungen S. 398–400. 59 Ebd., S. 325. 60 Scheidemann (1928): Memoiren 2, S. 107. 61 RT-Fraktion 2 (1966), S. 319. 62 VRT 310, S. 3794; s. a. das Lob von Dittmann (1995): Erinnerungen 2, S. 522/23: „eine Rede von großer Schärfe im Ton und im Inhalt“. 63 So Ebert am 6. November 1917; IFA 1 (1959), S. 490. 64 „Vorwärts“ Nr. 263 vom 24. September 1918.
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wenig Wirkung und wurde bereits durch den von deutscher Seite diktierten Vertrag von Brest-Litowsk vom März 1918 vollkommen unterlaufen. Der Friedensschluss im Osten wurde zum Lackmustest für die sozialdemokratische Friedenspolitik. 6. DIE RUSSISCHE OKTOBERREVOLUTION ALS „HIMMELSGESCHENK“ – BREST-LITOWSK ALS TESTFALL Die Machtübernahme der Bolschewiki im November 1917 („Oktoberrevolution“) und insbesondere deren Friedensappell veranlassten die Mehrheitssozialdemokratie zu einer Versammlungskampagne (die Unabhängigen Sozialdemokraten wurden von der Regierung daran gehindert), mit der sie sich „entschieden für den Friedenskampf der Russen“ einsetzte.65 Die neuerliche Revolution wurde als „Himmelsgeschenk“ (Eduard David) gesehen, das von den Bolschewiki unterbreitete Angebot als das „wichtigste politische Ereignis des Krieges“ und den „ersten ernsten Schritt zum Frieden“ begrüßt (Friedrich Ebert).66 Der Vertrag von Brest-Litowsk aber widersprach den Friedensvorstellungen beider sozialdemokratischer Fraktionen. Obwohl sie in der Bewertung als Gewaltfrieden übereinstimmten, gingen sie bei der Abstimmung getrennte Wege. Das Nein der USPD entsprach ihrer Grundhaltung; die ehrlichen und ernsthaften Friedensabsichten der Bolschewiki67 seien missbraucht worden. In der Entscheidungsfindung der SPD spielte nicht nur der Vertragsinhalt eine Rolle. Es ging auch um die Beziehungen zum Interfraktionellen Ausschuss und die Furcht vor einer erneuten Isolierung. Man wollte das ohnehin getrübte Verhältnis zu den Partnern nicht noch weiter belasten, die vor allem auch die Rolle der SPD beim großen Munitionsarbeiterstreik missbilligt hatten. Die von deutscher Seite diktierten Friedensverhandlungen mit den Sowjets gaben das Signal für die mächtigen Streiks im Januar 1918, als allein in Berlin Hunderttausende in den Ausstand traten. Die politischen Streiks, gerichtet gegen den Krieg und für eine Demokratisierung68, offenbarten das ganze Dilemma der Mehrheits-SPD: Einerseits verlor sie zusehends an Einfluss in der Arbeiterschaft, die sich mehr und mehr der USPD zuwandte69, andererseits war sie aber auch nicht bereit, der Reichsleitung den Fehdehandschuh hinzuwerfen. Die in die Streikleitung 65 So Ebert an den Österreicher Victor Adler, 28. November 1917; Adler (1954): Briefwechsel, S. 649. 66 David im Hauptausschuss am 26. Januar 1918; HA 4 (1983), S. 1933; Ebert am 1. Dezember 1917 im Reichstag; VRT 311, S. 3972. 67 Hugo Haase im Hauptausschuss am 26. Januar 1918; HA 4 (1983), S. 1944. 68 Friedhelm Boll: Der Januarstreik in seinen friedenspolitischen Kontexten, in: Boebel / Wentzel (2008): Streiken, S. 27–39, hier S. 34. 69 Was sich allerdings nicht an der Wahlurne niederschlug: Bei Reichstagsersatzwahlen 1917/18 siegte die SPD, auch in der linken Hochburg Niederbarmin; Miller (1974): Burgfrieden, S. 381–385. Vielleicht wird allgemein die Verankerung der USPD in der Arbeiterschaft für die zweite Kriegshälfte zu hoch, die der SPD doch zu niedrig bemessen. Trotz Rumoren scheint die SPD-Gefolgschaft sich nicht in Massen von der Partei abgewendet zu haben.
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eingetretenen Scheidemann, Ebert und Otto Braun wollten die Bewegung – so wurde stets betont – in „geordnete Bahnen“ lenken und sie rasch, ohne Schädigung der Allgemeinheit, zum Abschluss bringen. Die SPD-Spitze hielt die Forderungen der Streikenden nach Herbeiführung des Friedens zwar für berechtigt, betrachtete aber angesichts der politischen Machtkonstellation im Innern Deutschlands den Streik als wirkungslos und gefährlich für die Streikenden. Der Versuch, zwischen Streikenden und Reichsregierung zu vermitteln, scheiterte. Nur allzu Recht hatte Ebert, wenn er der unnachgiebigen Haltung der Reichsleitung die Schuld zuwies, als er ihr vor dem Reichstag am 22. Februar 1918 vorwarf, dass sie durch eine „unhaltbare Politik“ den Streik provoziert habe.70 Eine zutreffende Anklage, aber sie blieb ohne Folgen. Folgen hatte hingegen der Eintritt in die Streikleitung für die SPD-Führung, besonders für Ebert – und zwar bis an sein Lebensende. Die politische Rechte leitete hieraus den Vorwurf des Landesverrats ab.71 Das Odium des Landesverrats, ein dem reichhaltigen antisozialistischen Arsenal der Vorkriegszeit entlehntes Stereotyp, haftete den Sozialdemokraten noch lange an und wurde zentraler Bestandteil der antirepublikanischen Sammlungsideologie in der Weimarer Zeit. Damit war der Weg zur Dolchstoßlegende planiert, die die politische Kultur der ersten Republik so nachhaltig vergiftete. Im sozialistischen Lager als Arbeiterverräter angegriffen, von konservativen Sozialistenfressern, vor allem von der als Reflex auf den Interfraktionellen Ausschuss gegründeten Vaterlandspartei, als Landesverräter72 diffamiert, änderte die SPD ihren Kurs nicht. Auch nicht beim Vertrag von Brest-Litowsk, der der Friedensresolution Hohn sprach. Die Chance wurde verpasst, mit dem Ostfrieden, so Scheidemann schon 1921, „mächtige Quadersteine“ für einen allgemeinen Frieden zu legen. Er machte dafür „politische Unzulänglichkeit, diplomatische Unehrlichkeit und militärische[n] Machtkitzel“ verantwortlich, aber, so der seinerzeitige Parteivorsitzende selbstkritisch, der Anteil der SPD an dieser vollkommen missratenen zentralen außenpolitischen Weichenstellung sei „leider ein negativer“ gewesen.73 Die Entscheidung der SPD wurde auch von der Frage bestimmt, wie ihr Votum die Beziehungen zu den bürgerlichen Parteien beeinflussen würde. Noch mehr sollte dieses nicht belastet werden. Rigoroser trat auf der entscheidenden Sitzung am 22. März Gradnauer auf, der vor dem faulen Kompromiss „Enthaltung“ warnte 70 VRT 311, S. 4056; dazu die Stellungnahme der SPD-Führung in: RT-Fraktion 2 (1966), S. 364; Fritz Ebert: Zur Streikbewegung, in: „Die Neue Zeit“ Nr. 20 vom Februar 1918, S. 457–462. Vgl. die Beiträge in Boebel / Wentzel (2008): Streiken. 71 Siehe für Ebert insbesondere den sogenannten Magdeburger Prozess vom Dezember 1924, in dem der Landesverratsvorwurf mit Blick auf seinen Eintritt in die Streikleitung 1918 gerichtlich bestätigt wurde; Mühlhausen (2007): Reichspräsident, S. 936–955. 72 Vgl. auch Scheidemann vor dem Hauptausschuss am 24. Januar 1918, dass Ebert und er bereits als Landesverräter angeprangert würden und zahlreiche Drohbriefe aus Kreisen der Vaterlandspartei erhalten hätten; HA 4 (1983), S. 1924. 73 Scheidemann (1921): Zusammenbruch, S. 153; wiederholt in Scheidemann (1928): Memoiren 2, S. 150.
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und eine fatale Wirkung auf die Anhängerschaft prophezeite, die man bislang nur durch eine konsequente Politik bei der Stange hatte halten können. Also müsse man zustimmen. Ihm folgten 25 weitere Abgeordnete; für Ablehnung plädierten 12, für Enthaltung 31. In der notwendigen zweiten Runde wurde eine Annahme mit 40 gegen 25 Stimmen verworfen, mit 48 gegen 4 die Stimmenthaltung beschlossen, durch die man sich eine insgesamt günstige Wirkung auf die Mehrheitsparteien erhoffte.74 Für die zweite anstehende Entscheidung, die Bewilligung der Kriegskredite, ergab sich eine Mehrheit von 49 zu 14.75 7. „DIE REGIERUNG HAT UNS DÜPIERT“ – UND TROTZDEM KREDITBEWILLIGUNG Im November 1917 begründete Friedrich Ebert an seiner alten Wirkungsstätte Bremen den Burgfriedenskurs auch mit der Haltung der Reichsführung zum Frieden: „So lange nicht von maßgebender Seite versucht wird, dem Kriege den Charakter eines Eroberungskrieges aufzudrücken, so lange sich auch die Reichsregierung zu einem Verständigungsfrieden bereit erklärt, so lange ist die Stellungnahme der Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten in bejahendem Sinne zu rechtfertigen.“76 Brest-Litowsk war nun nicht gerade ein Zeichen der Verständigungsbereitschaft. Es folgten weitere bittere Erfahrungen für die SPD: Nachfolger von Staatsekretär des Auswärtigen Richard von Kühlmann, der eine rein militärische Lösung des Krieges nicht mehr für möglich gehalten und für flankierende diplomatische Verhandlungen plädiert hatte und aufgrund der über ihn hereinbrechenden Kritik Anfang Juli 1918 zurückgetreten war, wurde ausgerechnet der frühere Admiral Paul von Hintze. Die Personalentscheidung war eine Provokation der SPD, die in der ersten Erregung glaubte, die geforderten Kredite nicht mehr „ohne weiteres“ bewilligen zu können.77 Trotz alledem stand die SPD zur Zusammenarbeit mit den anderen Parteien und besaß auch noch im Juli 1918 den Willen, „die Koalition aufrechtzuerhalten“.78 Die Partei hielt an der Bejahung der Kriegskredite fest – zuletzt am 12. Juli 1918 in der Fraktion „gegen 7 Stimmen“79, betonte dabei aber stets, dass dies keine Frage des Vertrauens oder des Misstrauens gegenüber der Reichsregierung sei. Die Zustimmung sei einzig und allein in der Pflicht zur Landesverteidigung begründet – und 74 75 76 77 78 79
So Ebert vor der Fraktion am 18. März 1918; RT-Fraktion 2 (1966), S. 388. RT-Fraktion 2 (1966), S. 392. „Bremer Bürger-Zeitung“ Nr. 274 vom 22. November 1917. Vgl. die Aufzeichnung von Erzberger vom 9. Juli 1918, in: IFA 2 (1959), S. 446. Ebert vor dem Interfraktionellen Ausschuss am 6. Juli 1918; ebd., S. 432. RT-Fraktion 2 (1966), S. 412. Die Zahl der befürwortenden Stimmen ist im Protokoll nicht vermerkt. Zuvor hatte der „Vorwärts“ (Nr. 189 vom 12. Juli 1918) noch von einer allgemeinen Unentschlossenheit geschrieben.
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mit der Angst vor einer Niederlage mit unvorhersehbaren Folgen.80 Noch im Juli 1918 gab der SPD-Parteivorsitzende eine Solidaritätserklärung ab: „Wir haben nicht die Absicht, diese Regierung zu stürzen. Wir wollen ihr Gewissen schärfen, sie antreiben.“81 Zwar sei – so Ebert im April 1918 – noch keines der Ziele, nämlich Frieden, Wahlrecht und sozialpolitische Forderungen, erreicht, doch stehe die SPD nach wie vor zum Programm der Regierung.82 Die Partei hielt also nach wie vor an der Landesverteidigung fest, drängte aber gleichzeitig weiter auf Reformen. Der Burgfrieden war längstens Schimäre. Im Grunde genommen waren diese Worte das Eingeständnis, so gar nichts erreicht zu haben. Schon im März 1918 hatte Ebert mit Vorhaltungen in Richtung Regierung eingestanden: „Es ist alles anders gemacht worden von der Regierung, als abgemacht worden ist. Die Regierung hat uns düpiert!“83 Etwas mehr als ein halbes Jahr später wurden die Düpierten zu Deputierten des kriegsmüden Volkes, die die Verantwortung für die besiegte Nation übernahmen und den Weg in die Demokratie bereiteten. In einem „Spartakusbrief“ vom August 1917 stand mit Blick auf Friedensresolution zu lesen: „Die Verkoppelung des Plans innerer Reformen mit der Friedensresolution spiegelt sehr deutlich und sehr treffend die wirkliche Verknüpfung in der Situation: ohne Umsturz keinen Frieden.“84 Spartakus sollte Recht behalten. Die Revolution war Vorbedingung für den Frieden: Der Umsturz wurde am 9. November besiegelt, der Waffenstillstand zwei Tage später unterschrieben. Die Sozialdemokraten hatten ein halbes Jahr nach der bis in den Herbst 1918 nicht für möglich gehaltenen Niederlage einen Frieden zu schließen, der die schlimmsten Befürchtungen übertraf. Versailles lieferte der nationalistischen Rechten die Munition gegen die verhasste Republik und ihre Träger, allen voran gegen die als Novemberverbrecher gescholtenen Sozialdemokraten, deren Forderung nach einem auf Ausgleich und Verständigung bedachten Frieden in der Kriegszeit nie eine wirkliche Chance der Realisierung besessen hatte. Nie erhielt die SPD die Möglichkeit, über einen Frieden zu verhandeln. Dabei war sie sich stets bewusst, allein nichts ausrichten zu können.85 Die Sozialdemokraten wurden nur um ihr Votum zu fertigen Regelungen gefragt. Auch nach dem Krieg. Sie mussten in Weimar die Suppe auslöffeln, die andere dem Reich (und ihnen) eingebrockt hatten. Dass beide sozialdemokratischen Parteien in einer Atmosphäre höchster nationaler Erregung die Bürde der unausweichlichen Unterzeichnung des Versailler Vertrages auf 80 Gustav Noske entwarf vor der Fraktion am 17. Oktober 1918 das Szenario von einer „Unterwerfung“ und den Folgen; RT-Fraktion 2 (1966), S. 482. 81 IFA 2 (1959), S. 431: Sitzung vom 6. Juli 1918. 82 Ebd., S. 354: Sitzung vom 22. April 1918; vgl. Ribhegge (1980): Frieden, S. 297. 83 IFA 2 (1959), S. 341: Sitzung vom 20. März 1918. 84 Zitiert bei Miller (1974): Burgfrieden, S. 312. 85 So schreibt Wolfgang Heine an das bayerische SPD-Urgestein Georg von Vollmar am 17. August 1915, dass Ebert der Meinung sei, „es sei ja ganz egal, was wir beschlössen, denn der Friede würde doch ohne uns gemacht“ werden; RT-Fraktion 2 (1966), S. 73.
Die Erosion des Burgfriedens
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sich luden, zählt zu ihren bedeutenden Leistungen in der ersten Republik. Gedankt wurde es ihnen nicht. LITERATUR Adler, Victor: Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky. Gesammelt und erläutert von Friedrich Adler, Wien 1954. Boebel, Chaja / Wentzel, Lothar (Hrsg.): Streiken gegen den Krieg. Die Bedeutung der Massenstreiks in der Metallindustrie vom Januar 1918, Hamburg 2008. Boll, Friedhelm: Frieden ohne Revolution? Friedensstrategien der deutschen Sozialdemokratie vom Erfurter Programm 1891 bis zur Revolution 1918, Bonn 1980. Brandt, Peter / Lehnert, Detlef: „Mehr Demokratie wagen“. Geschichte der Sozialdemokratie 1830– 2010, Berlin 2013. Braun, Bernd / Eichler, Joachim (Hrsg.): Arbeiterführer – Parlamentarier – Parteiveteran. Die Tagebücher des Sozialdemokraten Hermann Molkenbuhr 1905 bis 1927. Mit einer Einleitung von Bernd Braun, München 2000. Braun, Bernd: Hermann Molkenbuhr (1851–1927). Eine politische Biographie, Düsseldorf 1999. Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914 bis 1918. In Verbindung mit Erich Matthias bearb. von Susanne Miller, Düsseldorf 1966. Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution 1914–1919. Bearb. von Klaus Schönhoven, Köln 1985. Dittmann, Wilhelm: Erinnerungen. Bearb. und eingeleitet von Jürgen Rojahn, Bd. 2, Frankfurt a. M. / New York 1995. Dowe, Christopher: Matthias Erzberger. Ein Leben für die Demokratie, Stuttgart 2011. Erzberger, M.[atthias]: Erlebnisse im Weltkrieg, Stuttgart 1920. HA = Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915–1918. Eingeleitet von Reinhard Schiffers. Bearb. von Reinhard Schiffers und Manfred Koch in Verbindung mit Hans Boldt, Bd. 3: 118– 190. Sitzung 1917; Bd. 4: 191.–275. Sitzung 1918, Düsseldorf 1981 und 1983. IFA = Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18. Zwei Teile, bearb. von Erich Matthias unter Mitwirkung von Rudolf Morsey, Düsseldorf 1959. Kruse, Wolfgang: Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1993. Miller, Susanne: Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1974. Mühlhausen, Walter (Hrsg. unter Mitarbeit von Bernd Braun): Friedrich Ebert und seine Familie. Private Briefe 1909–1924, München 1992. Ders.: Strategien gegen den Systemfeind – Zur Politik von Staat und Gesellschaft gegenüber der Sozialdemokratie im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, in: Lademacher, Horst / Mühlhausen, Walter (Hrsg.): Freiheitsstreben – Demokratie – Emanzipation. Aufsätze zur politischen Kultur in Deutschland und den Niederlanden, Münster 1993, S. 283–329. Ders.: Die Sozialdemokratie am Scheideweg – Burgfrieden, Parteikrise und Spaltung im Ersten Weltkrieg, in: Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Wolfgang Michalka, München 1994, S. 649–671. Ders.: Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, 2. Aufl., Bonn 2007. Ders.: „Völker, hört die Signale“? Internationalismus und Nationalismus der SPD am Vorabend des Ersten Weltkrieges, in: Mares, Detlev / Schott, Dieter (Hrsg.): Das Jahr 1913. Aufbrüche und Krisenwahrnehmungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Bielefeld 2014, S. 169–192.
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Ders.: Burgfrieden und Parteispaltung. Die SPD und die „Politik des 4. August“, in: 14 – Menschen – Krieg. Essays zur Ausstellung zum Ersten Weltkrieg. Militärhistorisches Museum der Bundeswehr. Hrsg. von Gerhard Bauer, Gorch Pieken und Matthias Rogg, Dresden 2014, S. 178–187. PA = Protokolle der Sitzungen des Parteiausschusses der SPD 1912 bis 1921. Nachdrucke. Hrsg. von Dieter Dowe. Mit einer Einleitung von Friedhelm Boll, Berlin / Bonn 1980. PT = Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten in Würzburg vom 14. bis 20. Oktober 1917, Berlin 1917 (Nachdruck Berlin u. a. 1973). Ribhegge, Wilhelm: Frieden für Europa. Die Politik der deutschen Reichstagsmehrheit 1917/18, Essen 1988. RT-Fraktion = Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898 bis 1918. Zwei Teile, bearb. von Erich Matthias und Eberhard Pikart, Düsseldorf 1966. Scheidemann, Philipp: Der Zusammenbruch, Berlin 1921. Ders.: Memoiren eines Sozialdemokraten, 2 Bde., Dresden 1928. Schmersal, Helmut: Philipp Scheidemann 1865–1939. Ein vergessener Sozialdemokrat, Frankfurt a. M. 1999. Schönhoven, Klaus: Die Entstehung der Weimarer Republik aus dem Krieg: Vorbelastungen und Neuanfang, in: ders.: Arbeiterbewegung und soziale Demokratie in Deutschland. Ausgewählte Beiträge. Hrsg. von Hans-Jochen-Vogel und Michael Ruck, Bonn 2002, S. 185–202. Seils, Ernst-Albert: Weltmachtstreben und Kampf für den Frieden. Der deutsche Reichstag im Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 2011. Ders.: Hugo Haase. Ein jüdischer Sozialdemokrat im deutschen Kaiserreich. Sein Kampf für Frieden und soziale Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2016. VRT = Verhandlung des Reichstags. XIII. Legislaturperiode, Bd. 307 bis 311, Stenographische Berichte 1914 bis 1918. Wieland, Lothar: „Wieder wie 1914!“ Heinrich Ströbel (1869–1944). Biografie eines vergessenen Sozialdemokraten, Bremen 2009.
DIE BURGFRIEDENSPOLITIK DER SPD Wegmarke der parlamentarischen Demokratie? Max Bloch 1. AUSGANGSLAGE Im Januar 1912 hatte die SPD ihren bis dahin größten Wahlerfolg errungen: Mit über 4,2 Millionen Stimmen (34,8 %) stellte sie mit 110 (von 397) Abgeordneten die fortan größte Reichstagsfraktion. Im März 1914 wurden erstmals mehr als eine Million Parteimitglieder gezählt. Damit war die SPD, wie sie es auf ihren Parteitagen zuvor schon gesungen hatte, nun wirklich auch „die stärkste der Partei’n“. Der Wahlerfolg von 1912 war auch auf das Stichwahlabkommen mit den Linksliberalen zurückzuführen, das als ein deutliches Signal in Richtung einer sozialliberalen Kooperationsstrategie wirkte und das Hans-Jürgen Puhle dezidiert in die Vorgeschichte der interfraktionellen Zusammenarbeit von 1917, der Verfassungsreformen von 1918 und der Weimarer Koalition von 1919 einordnet.1 1913 bewilligte die SPD-Reichstagsfraktion die Deckungsvorlage zur bislang größten Heeresvermehrung seit der Reichsgründung – mit Zentrum, National- und Linksliberalen; gegen die konservativen Fraktionen, die sich vehement gegen jegliche Form direkter Besitzbesteuerung sperrten. Damit wiederholte sich das Spiel von 1909, als die Fraktion die Erbschaftsteuervorlage des damaligen Reichskanzlers Bernhard von Bülow unterstützt hatte, und der konservative Kanzler am Widerstand seiner eigenen Klientel – und am Entzug des kaiserlichen Vertrauens – kläglich gescheitert war. Die SPD – das mögen diese Beispiele zeigen, es gäbe noch weitere – war im Grunde seit dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 auf dem Weg zu einer den Gegenwartsstaat nicht länger negierenden Reformpartei. Walter Mühlhausen spricht von einer „sukzessiven Einbindung in Nation und Gesellschaft“,2 Bernhard Neff von einer „systematischen Reformstrategie“3 und Christoph Nonn von einer „Reformpolitik der kleinen Schritte“.4 Dass die SPD beim „Kaiserhoch“ demonstrativ sitzen blieb, regelmäßig den Reichshaushalt ablehnte (in den liberalen süddeutschen Staaten das Budget aber durchaus bewilligte) und auf den ihr zustehenden Posten des Reichstagsvizepräsi 1 2 3 4
Vgl. Puhle (1976): Parlament, S. 353. Mühlhausen (2014): Völker, hört die Signale, S. 180. Neff (2004): Paradetruppe, S. 249. Nonn (1996): Verbraucherprotest, S. 275.
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denten 1912 verzichtete, weil dieser bei Antritt des Amtes eine Kaiseraudienz über sich hätte ergehen lassen müssen, waren demgegenüber rein symbolpolitische Reflexe, die mehr über die Psychologie einer Partei aussagten, der aus liebgewonnener Gewohnheit die revolutionäre Geste gefiel, als über ihre tatsächliche Politik. Die Sozialdemokraten der letzten Vorkriegsjahre waren, um ein bekanntes Gedicht Erich Mühsams zu zitieren, eben doch eher „Lampenputzer“ als „Revoluzzer“.5 Und sie bekannten sich hierzu immer unumwundener. So resümierte die sozialdemokratische Frankfurter Volksstimme im Herbst 1913 die Ergebnisse des Jenaer SPD-Parteitags mit den Worten: „auf dem Boden des Parteiprogramms und einer lang bewährten Taktik stehend, will die Sozialdemokratie Deutschlands in ihrer überwältigenden Mehrheit nichts wissen vom Antiparlamentarismus, sondern strebt entschlossen ihrem Ziele zu: Demokratisierung unseres politischen, Sozialisierung unseres wirtschaftlichen Lebens.“6 Dabei war sie auf Partner angewiesen, und sie setzte, wie Carl-Wilhelm Reibel in einem bemerkenswerten Aufsatz schreibt, die Demokratietechniken „Kompromiß“ und „Bündnis“ immer selbstverständlicher ein, um Einfluss zu gewinnen und Veränderungen anzustoßen.7 Das heißt, sie verließ den eigenen (nur sozialistischen) Referenzrahmen und interagierte, von der Veränderbarkeit des status quo ausgehend, als demokratische Kraft mit anderen demokratischen Kräften, die gemeinsam demokratisierend wirkten. Das war die Ausgangslage im August 1914. 2. DEMOKRATIE UND WELTKRIEG8 Gerd Krumeich beantwortet die Frage „Hat der [Erste Welt-]Krieg zur Demokratisierung Deutschlands beigetragen?“ mit einem verhaltenen Ja.9 Er macht dies an der Personalie des seit 1916 amtierenden liberalen Vizekanzlers Friedrich von Payer, dem im selben Jahr verabschiedeten „Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst“, dem Interfraktionellen Ausschuss bzw. der Friedensresolution von 1917 und den Oktoberreformen von 1918 fest. Am Vorabend der Novemberrevolution war das preußische Dreiklassenwahlrecht abgeschafft, die betriebliche Mitbestimmung gesetzlich verankert, und eine parlamentarisch bestückte Regierung führte die politischen Geschäfte – und trug die Verantwortung anstelle der sich bescheiden in den Hintergrund verabschiedenden Militärs. Unter dem Druck des Krieges hatte sich das Gesicht des Reiches fundamental gewandelt. Personell und strukturell war 5 6 7 8
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Mühsam hatte sein Spott-Gedicht Der Revoluzzer 1907 „der deutschen Sozialdemokratie gewidmet“. Bloch (2009): Albert Südekum, S. 126. Vgl. Reibel (2011): Bündnis, S. 76. Titel eines 1916 bei Eugen Diederichs erschienenen Buches des schwedischen Soziologen Gustaf F. Steffen, der im Vorjahr wegen seiner deutschfreundlichen Haltung aus der schwedischen Sozialdemokratie ausgeschlossen worden war und in engem Kontakt zur deutschen Mehrheitssozialdemokratie stand. Krumeich (2014): Der Erste Weltkrieg, Nr. 49.
Die Burgfriedenspolitik der SPD
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es ein Obrigkeitsstaat auf Abruf. Die Kriegsmüdigkeitsrevolte vom November 1918 gab dem „Alten und Morschen“, von dem Philipp Scheidemann sprach,10 nur den letzten Stoß. Der Motor dieser Veränderung war die SPD, und ihr Triebriemen ist die Burgfriedenspolitik vom 4. August 1914 gewesen. An jenem denkwürdigen Tag verlas der zukünftige USPD-Vorsitzende Hugo Haase die Erklärung der damals noch geeinten SPD-Fraktion zur Bewilligung der Kriegskredite, die in dem Bekenntnis gipfelte: „Wir lassen in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich.“ 11 Die Entscheidung war mit 78 gegen 14 Stimmen getroffen worden, und Abweichler von der Fraktionsdisziplin gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine. Die größte Partei des Reiches, so führte der Abgeordnete Albert Südekum in einer Rede 1915 aus, hätte sich in einer nationalen Schicksalsfrage gar nicht abseits stellen können und fragen: „Was geht mich die ganze Sache überhaupt an?“ Sondern sie hätte den „Mut zur Wahrheit und Klarheit“ aufbringen und das Reich in seinen Verteidigungsanstrengungen unterstützen müssen.12 Nun ist das mit der Alternativlosigkeit ja so eine Sache: Auch innerhalb der Parteirechten, der Südekum zuzurechnen war, wurde eine Mitschuld der Reichsführung am Kriegsausbruch durchaus nicht a priori in Abrede gestellt; in der Fraktionserklärung vom 4. August (die auf einen Entwurf Südekums zurückging) wurde explizit auf die deutsch-englische Rüstungsspirale verwiesen, vor deren verheerenden Folgen die SPD seit Jahr und Tag gewarnt hatte; und der Überfall auf das neutrale Belgien sorgte auch bei manch engagiertem „Regierungssozialisten“ privatim für Bauchschmerzen. Aber es überwog der – durchaus ernsthafte und ernstzunehmende – Gedanke der Landesverteidigung: Die Mehrheit der SPD-Abgeordneten (das galt auch für viele zukünftige USPDler) war, zumindest im August 1914, zutiefst davon überzeugt, auf eine Aggression des zaristischen Russland reagieren zu müssen, jener benachbarten Macht, gegen die ja auch der 1913 verstorbene August Bebel noch die Flinte auf den Buckel hatte schnallen wollen. Auf die Westmächte bezogen, ging ein Teil der Abgeordneten davon aus, das Sozialstaatsprinzip, das im Deutschen Reich bei aller Unausgereiftheit der demokratischen Formen bestand, vor der „seelenlosen Brutalität des englischen Kapitalismus“ (so etwa Südekum im August 1914)13 schützen zu müssen; und sie empfanden es als Selbstverständlichkeit, die territoriale Integrität des eigenen Staates, jenes Staates, für den sie Verantwortung übernehmen und dem sie ihren Stempel aufdrücken wollten, bewahren zu helfen. Der badische Parteichef Ludwig Frank formulierte es eine Woche vor seinem Tod – er fiel in Frankreich – so: „Wir verteidigen Deutschland, um es zu erobern“.14 In diesem Sinne sah man den Krieg durchaus auch als Chance, das Negativimage der „vaterlandslosen Gesellen“ loszuwerden, den anderen die Verantwortungsbe 10 11 12 13 14
Winkler (1995): Weimar, S. 30f. http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003402_00020.html, Zugriff 20.2.2018. Südekum, Albert: Redemanuskript vom 20. April 2015 (Bundesarchiv, NL Südekum, Nr. 99i). Bloch (2009): Albert Südekum, S. 143. Boll (1980): Frieden ohne Revolution?, S. 123.
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reitschaft und nationale Loyalität zu beweisen und so für eine Wandlung des Reiches in demokratischer Richtung zu sorgen. „Nun haben wir die gemeinsame Basis zu einflussreichem Wirken während und nach dem Kriege gewonnen. Und wir wollen uns nicht wieder ausschalten lassen“, hatte der Reichstagsabgeordnete Eduard David am Abend des 4. August 1914 in sein Tagebuch notiert.15 Der Weg zu einer Reformpartei war, wie bereits erwähnt, schon vor 1914 beschritten worden, die Entwicklung nahm mit dem 4. August aber spürbar Fahrt auf. Die SPD erfuhr plötzlich die Aufwertung, die ihr vordem versagt geblieben war: Die Reaktion der anderen Fraktionen auf die SPD-Kriegskreditbewilligung nahm Friedrich Ebert mit Verwunderung und Rührung zur Kenntnis: „Sie erhoben sich, auch die Tribünenbesucher, Bundesratstribüne und alle anderen jubelten uns an. Der größte Teil der Fraktion erhob sich dabei, jeder ruhig und ernst.“16 Als Ludwig Frank als erster Reichstagsabgeordneter überhaupt gefallen war – ein Sozialist und Jude obendrein –, erhob sich der Reichstag zu seiner Würdigung. Im November 1914 beehrten, auf Anregung Südekums, die Spitzen preußischer und Reichsbehörden das Gewerkschaftshaus am Berliner Engelufer mit ihrem Besuch – ein im wilhelminischen Deutschland unerhörter Akt! Südekum selbst ging in der Reichskanzlei ein und aus und sorgte durch seine ostentative Regierungsnähe für wachsendes Befremden seitens seiner skeptischer eingestellten Parteigenossen. Durch ihn gab es einen direkten Draht zum Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, der als Zauderer und „Philosoph von Hohenfinow“ in die Geschichte eingegangen ist und dessen Person, wie Susanne Miller schreibt, zu einem „neuralgischen Punkt der innerparteilichen Beziehungen“ wurde.17 Bethmann erging es ganz ähnlich wie seinem Amtsvorgänger Bülow, insofern er den stärksten Gegenwind aus konservativer Richtung (aus der er eigentlich kam) empfing und sich in immer stärkerem Maße auf die parlamentarische Linke stützte und stützen musste. Gegen den Reichstag konnte kein Kanzler regieren. Bülow hatte einen „Block“ aus Liberalen und Konservativen geschmiedet, der sich nicht als wetterfest erwies. Bethmann arbeitete bis 1914 mit wechselnden Mehrheiten („Politik der Diagonale“). Nach Kriegsausbruch, als er den belgischen Neutralitätsbruch öffentlich als „Unrecht“, wenn auch als notwendiges, bezeichnet und sich damit in den Augen der Rechten unmöglich gemacht hatte, fielen die Konservativen als parlamentarische Stütze weg. Tatsächlich nahm – unter der immer fadenscheinigeren Decke des offiziellen „Burgfriedens“ – ein sozial-liberal-katholisches Reformbündnis Gestalt an, das an die zaghaften Annäherungsversuche vor 1914 anknüpfen konnte und den zögernden Kanzler anschieben beziehungsweise antreiben wollte. Albert Südekum ging bereits 1915 so weit, die SPD als Bethmanns eigentliche „Kerntruppe“ zu bezeichnen,18 und Georg Ledebour, einer der Gründungs 15 16 17 18
Miller, Susanne (1966): Kriegstagebuch, S. 13. Buse (1968): Ebert, S. 444. Miller (1974): Burgfrieden, S. 257. Vgl. Bloch (2009): Albert Südekum, S. 175.
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väter der späteren USPD, sprach ihr im selben Jahr – und das durchaus nicht im anerkennenden Sinne – den Charakter einer informellen „Regierungspartei“ zu.19 „Die deutsche Sozialdemokratie“, so begann Susanne Miller ihre 1974 erschienene bahnbrechende Studie Burgfrieden und Klassenkampf, „erhielt im Ersten Weltkrieg ihre in wesentlichen Zügen bis heute gültige Prägung.“20 Sie gab ihre in den letzten Vorkriegsjahren nur noch symbolpolitisch geäußerte Systemopposition auf, bekannte sich zum Gegenwartsstaat und seiner Verteidigung, wurde Teil des Establishments und versuchte als solcher, ihre politische Agenda gegen die Beharrungs- und Verschleppungskräfte des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates – auf dem Verhandlungswege, unter der Moderation des Kanzlers – durchzusetzen. Die Sozialdemokraten wurden, wie Reibel schreibt, „von den reformorientierten Kräften im Zentrum und in den liberalen Parteien als politischer Partner anerkannt und nicht weiter als Systemgegner, die für keine Zusammenarbeit in Frage kamen, aus dem parlamentarischen Kooperationsprozeß ausgeschlossen“.21 Dieser Befund gilt, mit Abstrichen, auch für das Verhältnis zwischen gemäßigter SPD und kaiserlicher Regierung. Selbst der strikt antisozialistisch sozialisierte preußische Innenminister Friedrich Wilhelm von Loebell, wiewohl sicherlich kein Sozialistenfreund geworden, ließ während des Krieges prinzipielle Vorbehalte fallen und persönliche Kontakte – etwa mit Albert Südekum und Wolfgang Heine – zu.22 Auch wenn der SPD – sicherlich zu Recht – der Vorwurf gemacht worden ist, es versäumt zu haben, sich ihre Mitarbeit in angemessener Weise „durch politische Zusagen veredeln“ zu lassen,23 so ist etwa das Hilfsdienstgesetz von 1916, ein Vorläufer des Betriebsrätegesetzes von 1920, sicherlich auf der Habenseite zu verbuchen. Derart mühsam errungene Teilerfolge waren vielen in der eigenen Partei schlicht zu wenig: Im Angesicht millionenfachen Tötens und Sterbens erschien ihnen die betriebliche Mitbestimmung oder eine Wahlrechtsreform in Preußen nicht als adäquate Antwort auf eine in die Apokalypse stürzende Welt. Mehr noch: Indem die SPD die Regierung des Deutschen Reiches – eines der Hauptkombattanten – stützte, schien sie mitschuldig zu werden. Im Dezember 1914 stimmte Karl Liebknecht als erster SPD-Reichstagsabgeordneter im Plenum gegen die Kriegskredite. Im März 1915 tat es ihm Otto Rühle gleich. Diese beiden blieben aber Ausnahmen und konnten auch nicht als repräsentativ für die pazifistische Fraktionsminderheit gelten. Gleichwohl wuchs die Gruppe derer, die bei fraktionsinternen Abstimmungen gegen die Bewilligung der Kriegskredite votierten, von 14 (im August 1914), auf 23 (im März 1915) und schließlich auf 43 (im Dezember desselben Jahres) kontinuierlich an. Das waren letztlich knapp über 40 % der Fraktionsangehörigen. Je stärker die Minderheit wurde, desto schärfer wurde der Ton der innerparteilichen Auseinandersetzung: Als sich Karl Kautsky und Eduard Bernstein, die 19 20 21 22 23
Vgl. Lehnert (2016): Krise, S. 146. Miller (1974): Burgfrieden, S. 9. Reibel (2011): Bündnis, S. 101. Vgl. Winzen (2016): Friedrich Wilhelm von Loebell. Vgl. Grotjahn (1932): Erlebtes, S. 169.
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ehemaligen Kontrahenten aus Zeiten der „Reformismusdebatte“, im Juni 1915 mit ihrem Aufruf Das Gebot der Stunde an die Parteiöffentlichkeit wandten und die Parteiführung zu einer klaren Verurteilung dessen aufforderten, was sie mittlerweile als deutschen Eroberungskrieg klassifizierten, wurden sie von dem Abgeordneten Wolfgang Heine als „geschwätzige Mummelgreise“ verspottet.24 Albert Südekum nannte sie zurückhaltender „Romantiker“ und legte in seiner öffentlichen Erwiderung die Geschäftsgrundlage der sozialdemokratischen Kriegspolitik, wie er sie verstand, folgendermaßen dar: Noch rennen mit wildem Mut die Franzosen, Engländer und Belgier an der Westfront gegen unsere dünnen Linien an, noch beherrscht nach wie vor England das Meer und schneidet uns alle überseeische Zufuhr ab, noch liegt der russische Koloss nicht zertrümmert am Boden, noch hat der neueste Feind, Italien, nicht seine ganze Kraft eingesetzt, noch birgt die zweifelhafte Haltung der Balkanvölker die Möglichkeit neuer schwerer Gefahren, noch ist es der Türkei nicht gelungen, die von allen Seiten heranspringenden Feinde endgültig niederzuringen, noch versorgt Amerika unsere Feinde mit immer neuen Munitionsmengen. […] Und bei einer solchen Lage behaupten die Verfasser jenes Aufrufs, der Krieg habe seinen Charakter verändert und sei aus einem Verteidigungs- zu einem Angriffskrieg geworden! Ich weiß nicht, was ihren Blick so getrübt hat, und ich beneide sie wahrlich nicht um die Harmlosigkeit ihres Gemüts, die ihnen erlaubt, in dieser furchtbar schweren Lage mit einem Streich wie ihrem Aufruf der Parteimehrheit in den Rücken zu fallen. Der Parteimehrheit, aber auch dem ganzen Volke.25
Hier führte ein Genosse gegen Genossen vornehmlich militärpolitische Argumente ins Feld; einen Grundkonsens sucht man vergebens. Man sprach verschiedene Sprachen, und es schien tatsächlich so, dass zwei Parteien unter dem Dach der SPD existierten, sich im Treppenhaus aber nicht grüßten. In der stürmischen Fraktionssitzung vom 20. Dezember 1915 geschah dann das Unvermeidliche: Hugo Haase, SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzender, setzte die Fraktion darüber in Kenntnis, „dass ein Teil der Fraktionsmitglieder, zu dem auch er selbst gehöre, den inneren Zwang fühle, diesmal nicht, wie bereits geschehen, in der Fraktion gegen die Kredite zu stimmen, sondern auch im Plenum.“ Eduard David – neben Wolfgang Heine und Albert Südekum der dritte maßgebliche „Regierungssozialist“, also Rechtsaußen der Fraktion – bewunderte in einer scharfen Erwiderung „die eiserne Stirn Haases, hier die Parteispaltung zu verkünden, während er das höchste Ehrenamt bekleidet, das Partei und Fraktion zu vergeben haben“. Und Südekum ergänzte, dass Haase „unwürdig“ sei, diese Ämter weiterhin auszufüllen.26 Haase legte den Fraktionsvorsitz nieder, am Folgetag stimmten 20 Abgeordnete im Plenum gegen die Kriegskredite. Im Folgemonat wurden zwei Abgeordnete (Liebknecht und Rühle) aus der Fraktion ausgeschlossen, und im März 1916 – nach einer von Tumulten begleiteten Anti-Kriegs-Rede Haases – wurde die organisatorische Spaltung der SPD-Reichstagsfraktion durch Gründung der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft (SAG), der nunmehr 18 Abgeordnete angehörten, vollzogen. Alfred Grotjahn, ein mit dem rechten Parteiflügel sympathisierender Berliner Arzt und von 24 Lehnert (2016): Krise, S. 135. 25 Bloch (2009): Albert Südekum, S. 173. 26 Vgl. ebd., S. 181.
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1921–24 selbst Reichstagsabgeordneter für die SPD, kommentierte diesen Vorgang wie folgt: Gestern ist im Reichstag die alte Sozialdemokratie zerplatzt. Das Molekül löst sich auf, und die Atome können neue Verbindungen eingehen. Seit fünfzehn Jahren [seit dem Dresdener Parteitag von 1903, M.B.] hoffte ich auf diesen Vorgang. Der Krieg hat jetzt wenigstens einmal etwas Vernünftiges zu Wege gebracht. Der deutsche Sozialismus wird sich als Gedankenwelt ganz anders entfalten, wenn er die Schale des Sektierertums gesprengt hat.27
Die Partei war zu diesem Zeitpunkt formal noch intakt. Im September 1916 trat sie zu einer Reichskonferenz (wohlgemerkt: keinem Parteitag!) zusammen, um sich mal gründlich auszusprechen: Auf nur einer Protokollseite überzog der, neben Haase, zweite Parteivorsitzende Friedrich Ebert die innerparteiliche Minderheit mit einer ganzen Suada von Schmähworten: „Heuchelei“, „Spitzbubentaktik“, „Parteizerstörung“, „demagogische Augenverblendung“, „Schlammflut“, „Verleumdungssucht“, „Sudeleien“, „Brunnenvergiftung“.28 Festzuhalten bleibt: Nicht jede Aussprache führt zur Versöhnung. Sieben Monate später, im April 1917, folgte der Fraktionsspaltung mit der Gründung der USPD auch die Spaltung der Partei. War diese Entwicklung folgerichtig? Aufhaltbar? Handelte es sich um die reinliche Scheidung einer längst schon zerrütteten politischen Lebensgemeinschaft? Oder um einen katastrophalen Bruch, der auch mit der Wiedervereinigung von 1922 nicht mehr ganz zu kitten war? In einem 2016 erschienenen Sammelband zum Thema SPD und Parlamentarismus meint der Herausgeber Detlev Lehnert, die SPD hätte sich spätestens ab Ende 1915, als die innerparteilichen Auseinandersetzungen eskalierten und auch den Vertretern der Mehrheit klargeworden sein musste, dass es sich nicht mehr (nur) um einen reinen Verteidigungskrieg handeln konnte, bei den Abstimmungen zur Kriegskreditbewilligung enthalten müssen, um den Bruch zu verhindern.29 Damit aber – ließe sich entgegnen – hätte sie zum einen der Mehrheitsüberzeugung von der Notwendigkeit der Landesverteidigung zuwidergehandelt; zum anderen hätte sie die Chance zur interfraktionellen Zusammenarbeit vergeben, aus der im Oktober 1918 die erste parlamentarische Regierung Deutschlands hervorging. Denn ob es ohne vorangegangene Parteispaltung zur Bildung des Interfraktionellen Ausschusses im Juli 1917 überhaupt gekommen wäre, scheint mehr als fraglich. Die Basis der interfraktionellen Zusammenarbeit war die Verantwortlichkeit gegenüber dem bestehenden Staat, für den man einen günstigen Frieden und einen geordneten Übergang in modernere Zeiten wünschte. Auf dieser Basis standen weite Teile der USPD nicht, und mit einem enfant terrible wie Georg Ledebour in ihren Reihen hätte sich die Einordnung der SPD in das politische System des späten Kaiserreichs sicherlich noch schwieriger bewerkstelligen lassen, als sie sich ohnehin vollzog: Im August 1917 trat mit August Müller, Unterstaatssekretär im Reichsernährungsamt, der erste Sozialdemokrat in eine deutsche Regierung ein (heute ein 27 Grotjahn (1932): Erlebtes, S. 170. 28 Vgl. Lehnert (2016): Krise, S. 139. 29 Vgl. ebd., S. 146.
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vergessener Mann!), und im Oktober 1918 folgten ihm Philipp Scheidemann und Gustav Bauer als Staatssekretäre (in heutiger Lesart: Minister), Robert Schmidt und Eduard David als Unterstaatssekretäre nach. Im selben Monat trat die häufig versprochene, immer wieder aber verschobene und verwässerte Wahlrechtsreform in Preußen endlich in Kraft: eine Leistung, die die MSPD nur hatte durchsetzen können, weil sie sich als verantwortungsbereite, kooperations- und kompromissfähige Partei bewährt und erwiesen hatte. Sie wollte das, was man damals die „organische Weiterentwicklung“ des bestehenden Staatswesens nannte. Die USPD wollte den radikalen Schnitt: sofortigen Frieden und einen gesellschaftspolitischen Neubeginn. Unversöhnliches stand noch immer nebeneinander, als die beiden Scheidungspartner im November 1918 – und auch das nur für kurze Zeit – auf gemeinsamen Koalitionsbänken Platz nahmen, und es sollte vier wechselvolle Jahre dauern, bis sie sich, noch immer fremdelnd, zur (teilweisen) Wiedervereinigung entschlossen. 3. FAZIT Carl-Wilhelm Reibel hat jene Entwicklung, die vom sozialliberalen Stichwahlabkommen 1912 über die SPD-Kriegskreditbewilligung 1914, die interfraktionelle Zusammenarbeit 1917, die Verfassungsreformen von 1918 zur Weimarer Koalition 1919 führte, als einen „demokratischen Lernprozess“ beschrieben, den SPD, Zentrum und Liberale gleichermaßen durchliefen: Sie lernten aufeinander zuzugehen, miteinander zu sprechen und zu streiten, politische Vorhaben gemeinsam anzupacken und so in die Übernahme der Regierungsverantwortung hineinzuwachsen.30 Die SPD hatte diesen Prozess mit ihrer Spaltung zu bezahlen, da die bürgerlichen Partner die Zusammenarbeit andernfalls wohl kaum so eng hätten werden lassen, wie sie es 1917/18 tatsächlich wurde. Durch ihre Kriegspolitik, die im Grunde den bereits vor 1914 einsetzenden Kooperationsprozess lediglich beschleunigte, hatte die Mehrheitssozialdemokratie die Grundlagen eines (weitgehend) friedlichen Übergangs vom späten Kaiserreich in die parlamentarische Demokratie gelegt. Hierbei ging sie, wie sich der Liberale Georg Gothein erinnert, von der Prämisse aus, „daß für das deutsche Volk eine verfassungsmäßige Fortbildung seiner Staatsform dem gewaltsamen revolutionären Umsturz unendlich vorzuziehen sein würde“.31 So unvollkommen die Weimarer Republik, gemessen an den ihre Gründung begleitenden Hoffnungen, auch gewesen sein mochte – dies bleibt ein historisches Verdienst. Die MSPD hat diesen Übergang einleiten können, weil ihr Vertrauen geschenkt wurde und weil sie wusste, dass der kommende Staat, wollte er ein demokratischer sein, kein (rein) sozialistischer sein konnte. Wenn der preußische Finanzminister Albert Südekum den USPD-Mitgliedern der preußischen Landesversammlung im März 1919 vorhielt: „Was Sie wollen, ist eine Diktatur; was wir wollen, ist die 30 Vgl. Reibel (2011): Bündnis. 31 Bloch (2017): Genosse, Bürger, Patriarch, S. 161f.
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Demokratie“,32 so spielte er hiermit genau auf jene Kooperation mit den bürgerlichen Partnern, auf jenen „Lernprozess“ an, dem sich die Parteiminderheit und später dann die USPD prinzipiell verweigert hatten. Die Demokratie setzt jedoch niemand im Alleingang durch. Wie auch immer man die Unterstützung der deutschen Kriegsanstrengungen im Ersten Weltkrieg durch die Mehrheitssozialdemokratie bewerten mag – an der Tatsache, dass sie in diesen Jahren ihre Regierungs- und Bündnisfähigkeit bewies, Berührungsängste überwand und ein Reformbündnis schloss, das zur Gründungskoalition der ersten parlamentarischen Demokratie auf deutschem Boden wurde, kommt man nicht vorbei. Die sozialdemokratische „Burgfriedenspolitik“ – im Grunde nur ein schlecht sitzendes Label für ihre Kooperationsstrategie – kann vor diesem Hintergrund durchaus als eine Wegmarke der demokratischen Entwicklung in Deutschland verstanden werden. LITERATUR Bloch, Max: Albert Südekum (1871–1944). Ein deutscher Sozialdemokrat zwischen Kaiserreich und Diktatur. Eine politische Biographie, Düsseldorf 2009. Ders. (Hrsg.): Albert Südekum. Genosse, Bürger, Patriarch. Briefe an seine Familie 1909–1932, Köln / Weimar / Wien 2017. Boll, Friedhelm: Frieden ohne Revolution? Friedensstrategien der deutschen Sozialdemokratie vom Erfurter Programm 1891 bis zur Revolution 1918, Bonn 1980. Buse, D. K.: Ebert and the Coming of World War I: A Month from his Diary, in: International Review of Social History 13 (1968), S. 430–448. Grotjahn, Alfred: Erlebtes und Erstrebtes. Erinnerungen eines sozialistischen Arztes, Berlin 1932. Krumeich, Gerd: Der Erste Weltkrieg. Die 101 wichtigsten Fragen, München 2014. Lehnert, Detlev: Krise des Kaiserreichs – Weltkrieg und Spaltung der SPD – Revolution und demokratische Republik (1913–1922), in: Ders. (Hrsg.): SPD und Parlamentarismus. Entwicklungslinien und Problemfelder 1871–1990, Köln / Weimar / Wien 2016, S. 123–161. Miller, Susanne: Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1974. Dies. (Bearb.): Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914–1918, Düsseldorf 1966. Mühlhausen, Walter: „Völker, hört die Signale“? Internationalismus und Nationalismus der SPD am Vorabend des Ersten Weltkrieges, in: Mares, Detlev / Dieter Schott (Hrsg.): Das Jahr 1913. Aufbrüche und Krisenwahrnehmungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Bielefeld 2014, S. 169–192. Neff, Bernhard: „Wir wollen keine Paradetruppe, wir wollen eine Kriegstruppe...“ Die reformorientierte Militärkritik der SPD unter Wilhelm II. 1890–1913, Köln 2004. Nonn, Christoph: Verbraucherprotest und Parteiensystem im Wilhelminischen Deutschland, Düsseldorf 1996. Puhle, Hans-Jürgen: Parlament, Parteien und Interessenverbände 1890–1914, in: Stürmer, Michael (Hrsg.): Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870–1917, Düsseldorf 1976, S. 340–378. Reibel, Carl-Wilhelm: Bündnis und Kompromiß. Parteienkooperation im Deutschen Kaiserreich 1890–1918, in: Historische Zeitschrift 293 (2011), S. 69–114. Steffen, Gustaf F.: Demokratie und Weltkrieg, Jena 1916.
32 Bloch (2009): Albert Südekum, S. 235.
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Winkler, Heinrich August: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1995. Winzen, Peter: Friedrich Wilhelm von Loebell. Erinnerungen an die ausgehende Kaiserzeit und politischer Schriftwechsel, Düsseldorf 2016.
ZWISCHEN BURGFRIEDEN, REPRESSION UND MASSENSTREIK Zum Einfluss der Spartakusgruppe auf die Friedensbewegung während des Ersten Weltkriegs Marcel Bois Tausende erschienen an diesem 28. Juni 1916 vor dem Militärgerichtsgebäude in Berlin. Die Zugänge waren abgesperrt, Zuschauer durften dem Prozess nicht beiwohnen. Angeklagt war Karl Liebknecht, der wahrscheinlich bekannteste Gegner jenes globalen Krieges, der nun bald in sein drittes Jahr eintreten sollte. Hochverrat warf die Staatsanwaltschaft dem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten vor. „Nieder mit dem Krieg, nieder mit der Regierung“, hatte er am 1. Mai bei einer Demonstration der Menge zugerufen. Das Urteil, das noch am selben Tag in erster Instanz gefällt wurde, war wenig überraschend: Zwei Jahre, sechs Monate und drei Tage Zuchthaus. „Eine fast allgemeine Überraschung“ (Hugo Haase)1 war aber das, was außerhalb des Gerichts geschah. „Aus den Fenstern flogen den Polizisten Blumentöpfe auf die Köpfe“, berichtete eine Augenzeugin. „Es ist kaum vorstellbar, mit welcher Leidenschaft die Menschen Partei nahmen für den revolutionären Liebknecht.“2 Seit zwei Jahren hatte der „Burgfrieden“ im Deutschen Reich weitgehend Bestand. Die im Reichstag vertretenen Parteien hatten sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs bereit erklärt, innenpolitische Konflikte zurückzustellen, die Gewerkschaften einen Streikverzicht angekündigt. Tatsächlich gab es allenfalls kleinere Widerstandsakte gegen den Krieg und seine Auswirkungen. Nun aber löste der Prozess gegen Liebknecht den ersten politischen Massenstreik aus. 55.000 Metallarbeiter traten am Morgen des Prozesstages in Berlin in den Ausstand. Am Abend zuvor hatten bereits 25.000 Berlinerinnen und Berliner für einen Freispruch demonstriert. In Braunschweig fand zudem ein zweitägiger Generalstreik statt. Die Sympathieproteste für Liebknecht symbolisierten gewissermaßen den Startpunkt für eine nun immer weiter anwachsende Friedensbewegung. Je länger der Krieg andauerte, desto stärker nahm auch die Kriegsmüdigkeit zu. Schon im „Kohlrübenwinter“ 1916/17 kam es vielfach zu Hungerunruhen; im April 1917 streikten dann 200.000 Metallarbeiter gegen die Auswirkungen des Krieges und ein 1 2
Zit. nach Luban (2008): Politische Massenstreiks, S. 25. Zit. nach Laschitza (2007): Die Liebknechts, S. 314.
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knappes Jahr später – in den Januarstreiks von 1918 – beteiligten sich über eine Million Arbeiter in einem Dutzend Städten an den Ausständen. Ohnehin lag die Zahl der Streikenden in den beiden letzten Kriegsjahren deutlich über dem Vorkriegsniveau.3 Zudem entzogen sich Schätzungen zufolge in den letzten Kriegsmonaten zwischen 750.000 und einer Million Soldaten dem Frontdienst.4 Im November 1918 kulminierte diese Bewegung schließlich in einer Revolution: Der Massenprotest von Arbeiterinnen, Arbeitern und Soldaten führte zum Sturz Kaiser Wilhelms II. und beschleunigte das Ende des Ersten Weltkriegs. Karl Liebknecht, für den im Sommer 1916 Tausende auf die Straße gingen, gehörte der Spartakusgruppe an, einer kleinen linken Strömung, die innerhalb der Sozialdemokratie, ab 1917 dann innerhalb der USPD agierte. Bekannte Vertreterinnen und Vertreter dieser Gruppe waren Rosa Luxemburg, Clara Zetkin und Franz Mehring. Anders als die SPD-Führung lehnten sie den Krieg von Beginn an ab. Von allen sozialdemokratischen Richtungen waren sie in dieser Frage am wenigsten kompromissbereit und drängten am radikalsten auf die Beendigung des Mordens. „Krieg dem Kriege“ lautete dementsprechend ihre Losung. „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“, formulierte Liebknecht als Programm für die Gruppe.5 In der Geschichtsschreibung der DDR wurde der Spartakusgruppe, die zu den Vorläuferorganisationen der zur Jahreswende 1918/19 gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) gehörte, eine führende Rolle in den Bewegungen gegen den Krieg zugeschrieben. Ihre „grundsätzliche Klarheit in den Fragen des Klassenkampfs“ sei die Voraussetzung für das Anwachsen der Proteste in den letzten Kriegsjahren gewesen.6 Längst sind zahlreiche quellenbasierte Monografien und Aufsätze über die Geschichte des Spartakusbundes und biografische Arbeiten über dessen Akteure erschienen, die diese These widerlegen. Der Einfluss der Spartakusgruppe war „viel zu begrenzt, als daß sie das Proletariat hätte ‚führen‘ können“, schrieb schon Arno Klönne Anfang der 1980er Jahre.7 Doch welche Rolle spielten Liebknecht, Luxemburg und Genossen wirklich in der Friedensbewegung der letzten Kriegsjahre? Welche Haltung vertraten sie zu einem möglichen Frieden? Wie wirkten sie auf Proteste und Streiks ein? Mit welchen Problemen, Hindernissen und Repressionen hatten sie zu kämpfen? Und wie sah die organisatorische Entwicklung der Gruppe seit 1914 aus? Diese Fragen sollen auf Grundlage zeitgenössischer Quellen und der Forschungsliteratur im Folgenden beantwortet werden.
3 4 5 6 7
Siehe die Tabelle in Bollinger (2014): Weltbrand, S. 191. Neitzel (2011): Weltkrieg und Revolution, S. 148. Liebknecht (1915): Hauptfeind. Für diese Sichtweise siehe beispielsweise Wohlgemuth (1978): Entstehung (Zitat von S. 142). Zum widersprüchlichen Umgang mit den führenden Spartakisten Luxemburg und Liebknecht in der DDR-Geschichtsschreibung siehe Lokatis (2003): Der rote Faden. Klönne (1980): Arbeiterbewegung, S. 144.
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1. SAMMLUNG DER LINKEN OPPOSITION Am Abend des 4. August 1914 kamen in der Berliner Wohnung von Rosa Luxemburg einige Vertreter des linken Parteiflügels der SPD zusammen. Hermann Duncker und Hugo Eberlein waren anwesend, ebenso Julian Marchlewski, Franz Mehring, Wilhelm Pieck und Ernst Meyer.8 Die Stimmung war gedrückt. Wenige Stunden zuvor hatte ihre Reichstagsfraktion geschlossen den Kriegskrediten und damit jenem Krieg zugestimmt, vor dem sie selbst so lange gewarnt hatte. Alle Parlamentarier der SPD fügten sich dem Fraktionszwang, auch Kriegsgegner wie Karl Liebknecht oder Hugo Haase. Letzterer wurde sogar von der Fraktionsmehrheit genötigt, im Plenum des Reichstags den gegen seinen Willen gefassten Beschluss zu begründen. „Das war nicht zu glauben, nicht zu fassen“, erinnerte sich Luxemburgs Genosse und späterer Biograf Paul Frölich zwei Jahrzehnte später an die Reaktionen ausländischer Sozialisten auf das Abstimmungsverhalten der deutschen Sozialdemokratie.9 Die Zusammensetzung des Treffens in Rosa Luxemburgs Wohnung kam derweil keineswegs zufällig zustande: Als Angehörige des linken Flügels der SPD kannte man sich gut. Zudem traf sich ein Teil der Anwesenden schon länger regelmäßig in Steglitz zu einer Kneipenrunde.10 Gleichwohl haben sowohl Zeitgenossen als auch Historiker der Versammlung im Nachhinein eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Ernst Meyer, der spätere Vorsitzende der Kommunistischen Partei Deutschlands, bezeichnete sie als „Geburtsstunde der KPD“.11 Auch Wiliam A. Pelz schreibt, hier sei „the nucleus of what was to become the German Communist Party” zusammengekommen.12 Doch den Anwesenden ging es in diesem Moment nicht um die Gründung einer neuen Partei. Vielmehr wollten sie ihre Bemühungen in den Aufbau einer Antikriegsbewegung richten. Umstritten war dabei jedoch, welche organisatorische Konsequenz sie aus dem ziehen sollten, was sie als ‚Verrat‘ der SPD-Führung wahrnahmen.13 Die Idee eines gemeinsamen, öffentlichkeitswirksamen Parteiaustritts kam auf – und wurde nach kurzer Diskussion verworfen. „Aus kleinen Sekten und Konventikeln kann man ‚austreten‘, wenn sie einem nicht mehr passen, um neue Sekten und Konventikel zu gründen“, schrieb Luxemburg später hierzu. „Es ist nichts als unreife Phantasie, die gesamte Masse der Proletarier aus diesem schwersten und gefährlichsten Joch der Bourgeoisie durch einfachen ‚Austritt‘ befreien zu wollen und ihr auf diesem Wege mit tapferem Beispiel voranzugehen.“14 8 9 10 11 12 13 14
Laschitza (2002): Rosa Luxemburg, S. 467; Wilde (2011): Ernst Meyer, S. 54. Nettl (1968): Rosa Luxemburg, S. 584 nennt noch Käthe Duncker als Teilnehmerin, verschweigt aber Hugo Eberlein. Frölich (1990): Rosa Luxemburg, S. 261. Bois (2016): Netzwerke, S. 39f. Weber (1993): Gründungsparteitag, S. 10. Pelz (1987): Spartakusbund, S. 75. Zur Verratsthese siehe Kruse (2009): Burgfrieden. Luxemburg (1917): Offene Briefe, S. 235.
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Deshalb beschlossen die SPD-Linken eine Art Doppelstrategie. Zum einen wollten sie sich direkt an die Arbeiterschaft wenden, um die außerparlamentarische Opposition gegen den Krieg aufzubauen. Zum anderen wollten sie auf allen Ebenen den Kampf um die Sozialdemokratie führen. Gleichwohl benannten sie aber auch Kriterien für ihren Verbleib in der SPD: Die Zugehörigkeit zu der gegenwärtigen Sozialdemokratischen Partei darf von der Opposition nur solange aufrechterhalten werden, als diese ihre selbständige politische Aktion nicht hemmt, noch beeinträchtigt. Die Opposition verbleibt in der Partei, nur um die Politik der Mehrheit auf Schritt und Tritt zu bekämpfen und zu durchkreuzen, die Massen von der unter dem Deckmantel der Sozialdemokratie betriebenen imperialistischen Politik zu schützen und die Partei als Rekrutierungsfeld für den proletarischen antiimperialistischen Klassenkampf zu benutzen.15
Zunächst stand der Kreis um Luxemburg jedoch vor der Aufgabe, seine Opposition gegen den Krieg überhaupt sichtbar zu machen. Ein erster Versuch, Gleichgesinnte zu sammeln, scheiterte. Noch am Abend des 4. August 1914 begann Luxemburg eine Telegrammaktion und kontaktierte mehr als dreihundert Parteifunktionäre mit der Bitte, zum Abstimmungsverhalten der Reichstagsfraktion Stellung zu beziehen. Einzig Clara Zetkin reagierte auf das Schreiben. Sie schloss sich zwar der Kritik an der Haltung der Fraktionsmehrheit an, aber warnte zunächst davor, an die Öffentlichkeit zu gehen.16 Es sollte noch bis Ende Oktober 1914 dauern, bis eine erste, von Luxemburg, Liebknecht, Mehring und Zetkin unterzeichnete öffentliche Erklärung erschien. Verklausuliert brachten sie hier zum Ausdruck, „dass wir und sicherlich viele andere deutsche Sozialdemokraten den Krieg, seine Ursachen, seinen Charakter sowie die Rolle der Sozialdemokratie in der gegenwärtigen Lage von einem Standpunkte betrachten, der demjenigen der Genossen [Albert] Südekum und [Richard] Fischer durchaus nicht entspricht“. Zugleich betonten sie die Schwierigkeiten, ihre Positionen überhaupt bekannt zu machen: „Der Belagerungszustand macht es uns vorläufig unmöglich, unsere Auffassung öffentlich zu vertreten.“17 „Symptomatisch für die Schwäche der deutschen Linksradikalen war“, schreibt Florian Wilde, „dass diese auf den 10. September datierte Erklärung nicht in einer deutschen Zeitung, sondern erst sechs Wochen später in der schweizerischen ‚Berner Tagwacht‘ abgedruckt wurde: Sie hatten in Deutschland keine einzige Zeitung, die ihre Ideen verbreitete.“18 Tatsächlich blieb die Gruppe bis zum Frühjahr 1915, wie Ottokar Luban betont, „so gut wie unbekannt“ für die Parteiöffentlichkeit.19 Dies habe sich erst geändert, als im April 1915 die erste Ausgabe der Zeitschrift „Die Internationale“ erschien, nach der sich die Oppositionellen nun Gruppe Internationale nannten. Das Heft mit 15 W. K[raft, d. i. Leo Jogiches]: Zirkular der Spartakusgruppe (25.12.1916), in: Spartakus im Kriege (1927), S. 159–163, hier S. 161. 16 Luban (2008): Clara Zetkin, S. 79f. Zetkins Brief ist abgedruckt in Kuczynski (1957): Ausbruch, S. 97f. 17 Liebknecht et. al. (1914): Erklärung, S. 5. 18 Wilde (2011): Ernst Meyer, S. 59. 19 Luban (2008): Rolle, S. 69.
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Beiträgen von Käthe Duncker, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Clara Zetkin und anderen erschien in einer Auflage von 9000 Exemplaren, wurde aber umgehend verboten. Es sollte bis Kriegsende keine weitere Nummer mehr herauskommen.20 Trotzdem habe die Gruppe Internationale zu dieser Zeit bereits „tiefe Wurzeln gefasst“, schrieb Ernst Meyer, als er eine Dekade später im Auftrag der KPD die Flugblätter der Spartakusgruppe veröffentlichte.21 Nach Angaben Hugo Eberleins gelang es ihr bis zum Sommer 1915, Verbindungen zu Kontakten in 300 Städten herzustellen.22 Allerdings war, so betont Hermann Weber, die linke Opposition der SPD zu diesem Zeitpunkt noch „vielschichtiger als oft angenommen wird“. Sie sei weder mit der Linken der Vorkriegs-Sozialdemokratie noch mit der späteren Gründergeneration der KPD identisch gewesen. Vielmehr hätten ihr auch einige Persönlichkeiten angehört, die auch nach 1918 in der USPD eine wichtige Rolle spielen sollten, also den Weg zur KPD zunächst nicht mitgingen. Weber nennt hier beispielsweise Arthur Crispien und Otto Geithner.23 Erst mit Erscheinen der „Internationale“ wurden die Fronten zwischen den verschiedenen Strömungen der sozialdemokratischen Opposition deutlicher. Die „eigentliche Trennung“24 datierte schließlich auf den Jahresbeginn 1916, als „die erste zentrale Zusammenkunft des Spartakusbundes“ stattfand.25 Die Gruppe Internationale hatte für den 1. Januar zu einer Reichskonferenz geladen, die konspirativ in den Räumen der Rechtsanwaltskanzlei der Brüder Theodor und Karl Liebknecht tagte.26 An ihr nahmen Vertreter aus zahlreichen deutschen Städten teil, darunter auch Abgesandte der Bremer und Hamburger Linksradikalen. Bekannte Akteure dieser Strömung waren Johann Knief, Anton Pannekoek, Karl Radek und der bereits erwähnte Paul Frölich. Sie blieben aber weiterhin eigenständig organisiert. Trotzdem waren diejenigen, die sich nun hier zusammenfanden, tatsächlich drei Jahre später an der Gründung der KPD beteiligt.27 Die gemäßigte SPD-Opposition wurde hingegen nicht zu der Versammlung eingeladen. Auch Rosa Luxemburg nahm nicht teil, weil sie seit Februar 1915 im Gefängnis saß. Sie hatte aber die Leitsätze formuliert, welche die Gruppe Internationale als ihr Programm annahm.28 Darüber hinaus beschlossen deren Mitglieder die Herausgabe eines eigenen Mitteilungsblatts, das die Unterschrift „Spartacus“ trug. In der Folgezeit wurde das Periodikum als „Spartakusbriefe“ bekannt, für die Gruppe bürgerte sich nun der Name
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Weitere Ausgaben erschienen ab 1919, nun als Theoriezeitschrift der KPD. Meyer (1927): Einleitung, S. 8. Wohlgemuth (1978): Entstehung, S. 87. Weber (1993): Gründungsparteitag, S. 13f., Zitat von S. 14. Ebd., S. 17. Frölich (2013): Im radikalen Lager, S. 113. Benz (2014): Fritz Rück, S. 72. Weber (1993): Gründungsparteitag, S. 18. Nettl (1968): Rosa Luxemburg, S. 610.
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Spartakusgruppe ein.29 Diese war nun „eine eigene Richtung, doch wirkte sie weiterhin in der SPD und blieb durch zahlreiche Fäden mit anderen Kriegsgegnern verbunden.“30 Ihre Hochburgen hatte sie in Stuttgart, wo schon vor dem Krieg eine starke Opposition gegen die Parteiführung bestanden hatte, ferner in Berlin, Chemnitz, Hanau und Braunschweig.31 Je stärker sich die linke Opposition festigte, desto entschiedener ging die SPDFührung gegen deren Akteure vor. Schon vor dem Krieg waren etliche Repräsentanten dieses Flügels aus relevanten Parteiämtern gedrängt worden.32 Nun traf es die Verbliebenen: Am 12. Januar 1916 erkannte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion Karl Liebknecht die Rechte eines Fraktionsmitglieds ab. Er trat daraufhin aus der Fraktion aus, Otto Rühle folgte ihm bald nach. Wenige Monate später, am 15. April, musste Ernst Meyer seinen Posten als Redakteur beim SPD-Zentralorgan „Vorwärts“ räumen.33 Im Mai 1917 entließ der Parteivorstand schließlich Clara Zetkin als Chefredakteurin der politischen Frauenzeitschrift „Gleichheit“, die sie ein Vierteljahrhundert an führender Stelle geprägt hatte.34 Auch die gemäßigte Opposition war von innerparteilichen Maßregelungen betroffen. Nachdem am 24. März 1916 achtzehn sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete ein zweites Mal (nach dem 21. Dezember 1915) den Kriegskrediten ihre Zustimmung verweigert hatten, mussten auch sie die Fraktion verlassen. Unter ihnen befanden sich prominente Persönlichkeiten wie der bisherige SPD-Vorsitzende Hugo Haase, der Parteitheoretiker Eduard Bernstein und das Fraktionsvorstandsmitglied Georg Ledebour. Sie gründeten die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft (SAG). Spätestens jetzt bewegte sich die SPD auf die Spaltung zu. Im Herbst des Jahres 1916 wurden weitere kriegskritische Redakteure des „Vorwärts“ wie Ernst Däumig entlassen. Derweil weigerten sich verschiedene Ortsvereine, dem Parteivorstand die Mitgliederbeiträge zu überweisen. Nachdem die Antikriegsopposition am 7. Januar 1917 eine Reichskonferenz veranstaltet hatte, beschloss die SPD-Führung schließlich deren Parteiausschluss. Das Schisma der Sozialdemokratie war vollzogen. Die Ausgeschlossenen versammelten sich Anfang April 1917 in Gotha, um mit der USPD eine neue Partei aus der Taufe zu heben. Auch für die Linksradikalen stellte sich die Organisationsfrage neu. War es besser, nun unabhängig zu agieren oder Fraktionsarbeit innerhalb der USPD zu betreiben? An dieser Frage spalteten sie sich. Die Bremer Linksradikalen traten der USPD ebenso wenig bei wie eine kleine Gruppe in Berlin, die sich um Julian Borchardt und dessen Zeitschrift 29 Dieser Name geht auf einen Vorschlag Ernst Meyers zurück und wurde auf einer Sitzung der Gruppe Mitte Januar 1916 festgelegt; Wilde (2011): Ernst Meyer, S. 80. 30 Weber (1993): Gründungsparteitag, S. 19. 31 Ebd., S. 20f. 32 Wilde (2009): Novemberrevolution, S. 214. 33 Wilde (2011): Ernst Meyer, S. 96. Anlass für die Kündigung war Meyers Mitarbeit an einem von Rosa Luxemburg verfassten Flugblatt, das den Ausschluss von weiteren 18 Dissidenten aus der SPD-Reichstagsfraktion am 24. März 1916 thematisierte. 34 Sachse (2008): Zetkins Entlassung.
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„Lichtstrahlen“ scharte. Seit Ende 1915 firmierten sie gemeinsam unter dem Etikett Internationale Sozialisten Deutschlands (ISD), später nannten sie sich Internationale Kommunisten Deutschlands (IKD).35 Die Führung der Spartakusgruppe, vor allem Luxemburg und Jogiches, setzte sich derweil für eine Mitarbeit in der USPD ein. Sie argumentierte, dass die angestrebte revolutionäre Massenpartei keineswegs aus dem Nichts entstehe, sondern das Ergebnis eines Gärungsprozesses sei, dessen erste Phase mit der organisatorischen Spaltung der SPD und der Gründung der USPD abgeschlossen sei. Die USPD stelle einen bedeutenden Schritt nach links von substanziellen Teilen des Parteiapparates und der Mitgliederschaft dar. Die Gründe für eine Mitarbeit seien also ähnlich wie die für den bisherigen Verbleib in der SPD. „[Es] gilt ebenso, die neue Partei, die größere Massen in sich vereinigen wird, als Rekrutierungsfeld für unsere Ansichten, für die entschiedene Richtung in der Opposition auszunutzen“, fasste Jogiches die Haltung der Spartakusgruppe zusammen. Zudem gelte es, „die Partei als Ganzes durch rücksichtslose Kritik, durch unsere Tätigkeit in den Organisationen selbst, wie auch durch unsere selbständigen Aktionen vorwärts zu treiben, eventl. auch ihrer schädlichen Einwirkung auf die Klasse entgegenzuwirken.“36 2. HALTUNG ZUM KRIEG Die Gründung der USPD fiel in eine Zeit, als sich die Haltung führender Repräsentanten der Arbeiterbewegung zum Krieg zu verändern begann. In Russland war Anfang März 1917 der Zar gestürzt worden. Der USPD-Politiker Wilhelm Dittmann erinnerte sich später daran, dass diese Revolution eine enorme „unmittelbare psychologische Wirkung auf die Stimmung in der deutschen Arbeiterschaft“ gehabt habe, „auch bei den Anhängern der alten Sozialdemokratischen Partei“.37 Tatsächlich entfiel nun ein wichtiges Argument der Mehrheitssozialdemokratie. Denn bislang hatte sie ihre Zustimmung zum Krieg damit begründet, dass das Reich gegen den despotischen Zaren verteidigt werden müsse. Nun begann die Parteiführung, sich für Friedensverhandlungen einzusetzen und beteiligte sich im Juni 1917 an der Stockholmer Friedenskonferenz der Zweiten Internationale. Die Spartakusgruppe hatte seit Kriegsbeginn eine andere Position vertreten. Sie sah die militärische Auseinandersetzung nicht als Verteidigungskrieg, sondern als imperialistischen Krieg an. Die Führungen der sozialistischen Parteien Deutschlands, Frankreichs und Englands hätten mit ihrer Unterstützung der jeweiligen Regierungen „einen Verrat an den elementarsten Grundsätzen des internationalen Sozialismus“ geübt und dem eigenen Imperialismus den Rücken gestärkt.38 35 Bock (1976): Linker Radikalismus, S. 82. 36 W. K[raft, d. i. Leo Jogiches]: Zirkular der Spartakusgruppe (13.2.1917), in: Spartakus im Kriege (1927), S. 163–165, hier S. 164. 37 Dittmann (1995): Erinnerungen, S. 503. 38 Luxemburg (1916): Entwurf zu Junius-Thesen, S. 43.
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Hier sah sich die Gruppe selbst in Einklang mit den Positionen der Zweiten Internationalen, die bis zum Sommer 1914 stets vor einem Krieg gewarnt und gemeinsame Maßnahmen zu dessen Abwehr beschlossen hatte. „Droht der Ausbruch eines Krieges“, hieß es beispielsweise in einer Erklärung des Stuttgarter Kongresses vom August 1907, „so sind in den beteiligten Ländern die Arbeiter und ihre parlamentarischen Vertreter verpflichtet, alles aufzubieten, um den Ausbruch des Krieges […] zu verhindern […]. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, sind sie verpflichtet, für dessen rasche Beendigung einzutreten.“39 Der Krieg führe nun, so formulierte Luxemburg in einem Entwurf für die Leitsätze der Spartakusgruppe, zur Stärkung des Militarismus, der internationalen Gegensätze und der weltwirtschaftlichen Rivalitäten. Die Diplomatie habe versagt: Der Weltfriede kann weder durch internationale Schiedsgerichte kapitalistischer Diplomaten noch durch diplomatische Abmachungen über ‚Abrüstung‘, über die sogenannte ‚Freiheit der Meere‘, noch durch ‚europäische Staatenbünde‘, ‚mitteleuropäische Zollvereine‘, ‚nationale Pufferstaaten‘ und dergleichen utopische oder in ihrem Grunde reaktionäre Projekte gesichert werden. Imperialismus, Militarismus und Kriege sind nicht zu beseitigen und nicht einzudämmen, solange die kapitalistischen Klassen unbestritten ihre Klassenherrschaft ausüben.40
Daher gälte es für das internationale Proletariat, den Kampf gegen den Imperialismus aufzunehmen. Frieden könne nur durch Massenaktionen und gegebenenfalls durch eine Revolution erreicht werden. Der Kampf gegen den Krieg sei „für das internationale Proletariat zugleich der Kampf um die politische Macht im Staate, die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus“, so Luxemburg weiter. „Die Schicksale des sozialistischen Endzieles hängen davon ab, ob das internationale Proletariat sich dazu aufraffen wird, gegen den Imperialismus auf der ganzen Linie Front zu machen und die Losung ‚Krieg dem Kriege!‘ unter Aufbietung der vollen Kraft und des äußersten Opfermutes zur Richtschnur seiner praktischen Politik zu machen“.41 Diese Haltung vertrat auch Karl Liebknecht, als er im Mai 1915 das Flugblatt „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“ veröffentlichte. Als Gegner benannte er hier den „deutsche[n] Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie“. Sie gelte es zu bekämpfen „im politischen Kampf, zusammenwirkend mit dem Proletariat der anderen Länder, dessen Kampf gegen die heimischen Imperialisten geht“.42 Schon früh vertrat die Gruppe Internationale eine defätistische, also die Niederlage Deutschlands befürwortende Haltung. „Sie stehen eben auf dem Standpunkt, dass es im Interesse einer freiheitlichen Entwicklung Deutschlands liegt, wenn es im Krieg unterliegt“, notierte Otto Braun im September 1914 nach einem Gespräch mit den Linksoppositionellen Ernst Meyer und Rudolf Hilferding.43 39 Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Stuttgart 1907, Berlin 1907, S. 24, zit. nach Schorske (1981): Große Spaltung, S. 116. 40 Luxemburg (1916): Entwurf zu Junius-Thesen, S. 44f. 41 Ebd., S. 45. 42 Liebknecht (1915): Hauptfeind, S. 42. 43 Zit. nach Wilde (2011): Ernst Meyer, S. 62.
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Zugleich sahen die Linken eine Revolution in Deutschland als Beitrag dazu, die sozialistische Umgestaltung des Kontinents voranzutreiben. Als ersten Schritt hierzu betrachteten sie die beiden Revolutionen in Russland des Jahres 1917. Nicht nur Zetkin, Mehring und Meyer nahmen diese begeistert wahr. Auch Luxemburg, die sich in ihrer Schrift „Zur Russischen Revolution“ kritisch mit der Politik der Bolschewiki auseinandersetzte, betonte zunächst, dass es sich bei der Oktoberrevolution um das „gewaltigste Faktum des Weltkriegs“ handele – ein Ereignis, das am Anfang der sozialistischen Weltrevolution stehen würde.44 „Es gibt nur eine Lösung der Tragödie, in die Rußland verstrickt ist: den Aufstand im Rücken des deutschen Imperialismus, die deutsche Massenerhebung als Signal zur internationalen revolutionären Beendigung des Völkermordes“, schrieb Luxemburg kurze Zeit später, als die Revolution im Bürgerkrieg unter Beschuss der zaristischen Weißen Armee stand. „Die Rettung der Ehre der russischen Revolution ist in dieser Schicksalsstunde identisch mit der Ehrenrettung des deutschen Proletariats und des internationalen Sozialismus.“45 Auch in ihrer Praxis hielt die Spartakusgruppe am Internationalismus der sozialistischen Bewegung der Vorkriegszeit fest. So stand sie nach dem Sommer 1914 weiterhin in Verbindung zu Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegnern des Auslands. Karl Liebknecht reiste beispielsweise Anfang September 1914 nach Belgien und in die Niederlande, um sich ein Bild der Verwüstungen zu machen, die deutsche Truppen bei ihrem völkerrechtswidrigen Durchmarsch durch das neutrale Belgien hinterlassen hatten. In diesem Zusammenhang traf er sich mit Sozialisten aus beiden Ländern.46 Ernst Meyer und Bertha Thalheimer nahmen als Vertreter der Gruppe an den Konferenzen von Zimmerwald (September 1915) und Kiental (April 1916) teil. Zuvor hatte Clara Zetkin bereits eine Internationale Konferenz sozialistischer Frauen gegen den Krieg in Bern (März 1915) organisiert. Ebenfalls in der Schweizer Hauptstadt tagte im April 1915 eine Internationale Sozialistische Jugendkonferenz, an der sich drei Junggenossen aus Deutschland beteiligten. 3. ROLLE IN DER FRIEDENSBEWEGUNG Mit ihren Aktivitäten verfolgte die Opposition anfänglich das Ziel, wie Ernst Meyer später schrieb, die SPD-Mitglieder „über den imperialistischen Charakter des Krieges und den Verrat der SPD an den Grundsätzen des Sozialismus wie an den feierlichen Beschlüssen der internationalen Sozialistenkongresse und der sozialdemokratischen Parteitage Deutschlands aufzuklären.“47 Eine wichtige Rolle spielte hierbei Liebknecht, der nicht nur zahlreiche Vorträge vor lokalen Parteigliederungen hielt, sondern durch seine Auftritte im Reichstag der Friedensbewegung ein Gesicht 44 45 46 47
Luxemburg (1918): Zur russischen Revolution, S. 332–334. Luxemburg (1918): Die russische Tragödie, S. 392. Laschitza (2007): Die Liebknechts, S. 242–245. Luxemburg (1925): Entweder – Oder, S. 944.
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gab.48 Als er im Dezember 1914 als erster und einziger Abgeordneter gegen die Kriegskredite stimmte, brachte ihm das viel Unmut aus den Reihen seiner eigenen Partei ein, aber ebenso viel Lob und Hochachtung. Sogar international fand seine Haltung Beachtung. „Das war das bedeutendste und mächtigste ‚Nein‘, das jemals im Deutschen Reichstag seit seiner ersten Sitzung vor 33 Jahren gesprochen wurde“, schrieb auf der anderen Seite des Atlantiks eine Arbeiterzeitung aus St. Louis.49 Im Frühjahr 1915 rief die Gruppe Internationale erstmals zu Demonstrationen gegen den Krieg auf.50 Es folgten weitere Aktivitäten wie die illegale Verbreitung des Manifests der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Bern.51 Wohlgemuth schreibt, die deutschen Linken hätten 200.000 Exemplare davon unters Volk gebracht. Zu dieser Zeit wurde zudem Liebknechts Aufruf „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ über das Vertrauensleutesystem der Gruppe Internationale in verschiedenen Betrieben verteilt. Unterdessen war Wilhelm Pieck an der Organisation einer Frauendemonstration am 28. Mai 1915 beteiligt. Als Spaziergang getarnt versammelten sich 2000 Teilnehmerinnen vor dem Reichstagsgebäude, um ihre Ablehnung des Krieges zum Ausdruck zu bringen.52 Um die Jahreswende 1915/16 bemühte sich die Gruppe Internationale um weitere Proteste, von denen aber nur eine Friedensdemonstration in Berlin mit einigen Tausend Teilnehmenden als kleiner Erfolg gewertet werden kann. Selbiges gilt für jene Friedensdemonstration am 1. Mai 1916, welche die Spartakusgruppe in Berlin organisierte. Erneut versammelten sich einige Tausend Demonstranten, darunter viele Mitglieder der sozialdemokratischen Arbeiterjugend. Ein Massenprotest war aber auch das nicht. Vor allem aber verlor die Gruppe an diesem Tag durch die Verhaftung Liebknechts einen ihrer bekanntesten Köpfe.53 In der Folgezeit entfalteten die Spartakisten eine intensive Agitation zu Freilassung Liebknechts. Doch sie hatten es nicht leicht, mit ihren Positionen an die Öffentlichkeit vorzudringen. Es handelte sich um eine kleine Gruppe, genaue reichsweite Mitgliederzahlen existieren nicht – nicht zuletzt weil die Spartakusgruppe keine klassische Mitgliederorganisation war. „Jeder“, schreibt Wilde, „der sich zu den Auffassungen der Gruppe bekannte, konnte sich als ihr Mitglied oder Anhänger betrachten, auch wenn er an der illegalen Arbeit der Gruppe nicht direkt beteiligt war.“54 Zudem handelte es sich bei ihren führenden Figuren weitgehend um Intellektuelle, die wenig in den Betrieben verankert waren. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass der eingangs geschilderte Massenstreik während der Verhandlung 48 Pelz (1987): Spartakusbund, S. 75f. 49 Zu den Reaktionen siehe Laschitza (2007): Die Liebknechts, S. 260–262, Nachweis des Zitats ebd. 50 Luxemburg (1925): Entweder – Oder, S. 944. 51 Wilde (2011): Ernst Meyer, S. 65. 52 Wohlgemuth (1978): Entstehung, S. 99 u.102. 53 Luban (2008): Politische Massenstreiks, S. 24. 54 Wilde (2011): Ernst Meyer, S. 85.
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gegen Liebknecht keineswegs von der Spartakusgruppe allein initiiert worden war. Vielmehr kam der Protest durch ein Bündnis mit Vertretern der SAG und mit oppositionellen Betriebsvertrauensleuten aus Berlin zustande, die später als Revolutionäre Obleute bekannt werden sollten. Dieses Netzwerk hatte seine Basis im Deutschen Metallarbeiter-Verband und war in jenen Rüstungsbetrieben verankert, von denen der Streik ausging.55 Hier hatten schon im Oktober 1914 erste Proteste stattgefunden.56 Auch die nun folgenden Protestaktionen wurden, wie Luban aufzeigt, von dieser Koalition aus gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Linken getragen. So spielten beim Aprilstreik 1917 die Revolutionären Obleute ebenfalls die wichtigste Rolle in den Betrieben, während die Spartakusgruppe durch Flugblattaktionen die Streikbewegung unterstützte und USPD-Abgeordnete als Redner auftraten. Ein ähnliches Bild bot sich in den Januarstreiks von 1918.57 Hier wurden die Aktivitäten zudem finanziell von bürgerlichen Kriegsgegnern aus dem Umfeld des Bunds Neues Vaterland finanziert.58 Hierbei handelte es sich um eine bedeutsame, kurz nach Kriegsbeginn gegründete pazifistische Organisation. Scharrer urteilt zusammenfassend, die USPD-Führung habe sich „offen an die Spitze der entstehenden Friedensbewegung“ gestellt.59 Gleichwohl zeichneten sich die Massenstreiks der Jahre 1917 und 1918, so Weipert, „dadurch aus, dass sie nicht von den Zentralinstanzen der Parteien und Gewerkschaften initiiert waren“.60 Die Mehrheitssozialdemokratie und auch die Führungen der Gewerkschaften wichen unterdessen nicht von ihrer Unterstützung der Burgfriedenspolitik ab. Schon Liebknechts Fahrt nach Belgien im September 1914 hatte der Parteivorstand aufs Schärfste verurteilt.61 Und auch jetzt stellten sich führende Funktionäre der SPD und aus den Gewerkschaften gegen die Antikriegsbewegung. Sie distanzierten sich von den Solidaritätskundgebungen gegenüber Liebknecht und versuchten, weiteren politischen Streiks bei den Revisionsterminen des Verfahrens entgegenzuwirken. Ein gemeinsamer Aufruf von SPD-Vorstand und Generalkommission der Gewerkschaften warnte „vor dem Treiben der im Dunkel der Anonymität wirkenden Protest- und Generalstreikapostel“. Wer sich an dem „putschistische[n] Treiben einzelner, jedes Verantwortlichkeitsgefühls barer Personen“ beteilige, hieß es, der diene „weder der Arbeiterbewegung noch der Sache des Friedens, sondern trägt eher zur Verlängerung des Krieges bei.“62 Das Papier erschien im Juli 1916 im
55 Luban (2008): Politische Massenstreiks, S. 26f. Zu den Revolutionären Obleuten siehe Hoffrogge (2008): Räteaktivisten und Hoffrogge (2008): Richard Müller. 56 Weipert (2017): Widerstand, S. 215. 57 Luban (2008): Politische Massenstreiks, S. 28–31. 58 Hierzu ausführlich: Luban (2008): Finanzierung. 59 Scharrer (1983): Spaltung, S. 76. 60 Weipert (2017): Widerstand, S. 219. 61 Laschitza (2007): Die Liebknechts, S. 245. 62 Vorwärts, 26. Juli 1916.
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„Vorwärts“ und in Form eines Flugblatts, das 100.000 Mal in Berlin verteilt wurde.63 Doch die Spartakusgruppe hatte nicht nur mit Störmanövern aus den Reihen der Arbeiterbewegung zu kämpfen. Zugleich war sie starken staatlichen Repressionen ausgesetzt. Die einzelnen Gliederungen waren von Spitzeln durchsetzt, die Zensur erschwerte die Publikationsmöglichkeiten. Nicht zuletzt befanden sich Angehörige der reichsweiten oder der regionalen Führungen immer wieder in Haft. Vor allem seit 1916 beeinträchtigte dies die Aktivitäten der Gruppe. Wenige Wochen nach Liebknechts Verhaftung am 1. Mai verhängten die Behörden Schutzhaft zunächst gegen Julian Marchlewski und dann gegen Rosa Luxemburg. Beide kamen ebenso wie Liebknecht erst 1918 wieder frei. Auch Bertha Thalheimer wurde am 26. Juni 1916 nach einer Großdemonstration verhaftet, wo sie gegen die Verurteilung Liebknechts auf die Straße gegangen war. Im selben Monat nahm die Polizei Erwin Hoernle in Gewahrsam. Derweil verurteilte ein Gericht den Stuttgarter Gemeinderat Wilhelm Schwab zu zwei Jahren Zuchthaus, weil er Flugblätter gegen die Verhaftung Wilhelm Liebknechts verteilt hatte.64 Im August 1916 gerieten auch Ernst Meyer und Franz Mehring hinter Gitter. Rosi Wolfstein, die die Arbeiterjugend in Duisburg leitete, wurde Ende des Jahres 1916 und erneut im Mai 1917 inhaftiert.65 Wegen der Teilnahme an einer unangemeldeten Versammlung und einem Aufruf zum Streik der Munitionsarbeiter wurde Fritz Rück am 8. Mai 1917 festgenommen und zu vier Monaten Haft verurteilt.66 Im Februar 1917 schätzte die politische Polizei Berlins, durch ihr Eingreifen verschiedene radikale Strömungen entscheidend geschwächt zu haben.67 Tatsächlich legten die Verhaftungen die Spartakusgruppe zeitweise weitgehend lahm und erschwerten deren Agitation immens. Besonders schwerwiegend wirkte sich die Festnahme von Leo Jogiches am 24. März 1918 aus, der die Spartakisten seit der Verhaftung Meyers und Mehrings geleitet hatte. Zudem flog im Sommer 1918 ein Großteil der illegalen Infrastruktur der Gruppe auf. „Dies beeinträchtigte ihre politischen Wirkungsmöglichkeiten in den letzten drei Monaten vor der deutschen Novemberrevolution ganz erheblich“, urteilt Luban.68 Nicht zuletzt wirkte es sich auf die Beziehungen zu den Revolutionären Obleuten aus, die den Kontakt zur Spartakusgruppe abbrachen, weil sich diese zu stark im Visier der Polizei befand. Ein weiteres Element staatlicher Repression, das zumindest die männlichen Angehörigen der Linksopposition traf, war die strafweise Verschickung an die Front. So wurde der Thüringer Otto Geithner durch seine Einberufung zum Militär daran gehindert, weitere Mitstreiter für die Gruppe Internationale zu gewinnen.69 63 64 65 66 67 68 69
Luban (2008): Politische Massenstreiks, S. 25. Benz (2014): Fritz Rück, S. 74. Luban (2010): Rosi Wolfstein, S. 125. Benz (2014): Fritz Rück, S. 87f. Wilde (2011): Ernst Meyer, S. 120. Luban (2008): Politische Massenstreiks, S. 35. Hesselbarth (2017): USPD Thüringen, S. 20.
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Selbiges galt für Hugo Eberlein, Erwin Hoernle und zu Beginn des Krieges auch für Karl Liebknecht, der nur vom Frontdienst freigestellt wurde, wenn der Reichstag tagte. Auch Friedrich Westmeyer wurde trotz Landtagsmandats eingezogen und an die Westfront geschickt – selbst eine körperliche Behinderung konnte den Spartakusanhänger aus Stuttgart nicht vor dem Kriegseinsatz bewahren.70 Am 14. November 1917 starb er in einem Lazarett bei Reims an den Folgen einer Ruhr-Infektion. Doch allen Repressionen und auch ihrer eigenen Schwäche zum Trotz war die Spartakusgruppe ein wichtiger Akteur der Antikriegsbewegung der Jahre 1916 bis 1918. Mit Luxemburg, Zetkin und Mehring befanden sich bekannte und wichtige Figuren aus der Sozialdemokratie in ihren Reihen. Vor allem Liebknecht ist hervorzuheben, der aufgrund seiner Haltung im Reichstag zum prominenten Kriegsgegner wurde. Der „persönliche und publizistische Einsatz der kleinen Gruppe von sozialistischen Intellektuellen und Arbeiterfunktionären im ‚Spartakus‘“ war also, wie auch Klönne schreibt, „ein wichtiger Bezugspunkt der in der Arbeiterschaft selbst und weitgehend spontan sich entwickelnden Opposition gegen den Krieg und gegen den Obrigkeitsstaat.“71 Zumeist wirkten die Spartakisten indirekt auf die Haltung der Antikriegsbewegung ein. Darauf weist Ottokar Luban hin. Ihre ständigen Forderungen nach einem entschiedenen Auftreten gegen den Krieg hätten die gemäßigte Opposition nach links getrieben. Beispielsweise habe im Dezember 1915 die scharfe Kritik der Gruppe Internationale an der zurückhaltenden Position von großen Teilen der Opposition die Ablehnung der Kriegskredite durch weitere Reichstagsabgeordnete zur Folge gehabt. Im Jahr 1916 habe die Veröffentlichung der Spartakusbriefe die Herausgabe der Informationsbriefe der SAG nach sich gezogen. Weiter sei es der Spartakusgruppe zu verdanken, dass führende Vertreter der USPD im April 1917 während des ersten Massenstreiks des Kriegs öffentlich für eine Fortsetzung der Aktionen plädierten. Und auch vor dem Januarstreik sei die zögernde USPD-Führung durch zur Spartakusgruppe gehörende Vertreter in USPD-Landesorganisationen unter Druck gesetzt worden, einen Streikaufruf herauszugeben.72 4. AUSBLICK Im Herbst 1918 kam es noch einmal zu einer Neuauflage des Bündnisses zwischen Revolutionären Obleuten, linken USPD-Aktivisten und Mitgliedern des Spartakusbundes.73 Gemeinsam planten sie einen revolutionären Massenaufstand in Berlin, der am 9. November Wirklichkeit wurde: Ausgehend von den Matrosenprotesten in Wilhelmshaven und Kiel brachte die Revolte von Soldaten, Arbeiterinnen und Arbeitern die jahrhundertealte monarchistische Ordnung zu Fall. Sie stürzten 70 71 72 73
Benz (2014): Fritz Rück, S. 75. Klönne (1980): Arbeiterbewegung, S. 144. Luban (2008): Rolle, S. 70f. Luban (2015): Massenstreiks für Frieden, S. 44.
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Kaiser Wilhelm II. sowie weitere 22 deutsche Könige und Fürsten, erkämpften das allgemeine und vor allem das Frauenwahlrecht und bereiteten so der parlamentarischen Demokratie den Weg. Vor allem hatten ihre Proteste einen entscheidenden Anteil daran, dass der mehr als vier Jahre währende Erste Weltkrieg endete. Auf den ersten Blick schienen sich die Hoffnungen der Spartakusgruppe zu bestätigen: Deutschland verlor den Krieg, der „Hauptfeind im eigenen Land“ war besiegt und zugleich sah es für einen kurzen Augenblick so aus, als stünde die Weltrevolution unmittelbar bevor. Denn Millionen gingen seinerzeit zwischen Moskau und Tokio, zwischen Barcelona und Buenos Aires auf die Straße, um ihrem Wunsch nach sozialer und politischer Veränderung Ausdruck zu verleihen.74 „Ganz Europa ist vom Geist der Revolution erfüllt“, charakterisierte im März 1919 der britische Premierminister David Lloyd George die Stimmung auf dem Kontinent. „Die ganze bestehende soziale, politische und wirtschaftliche Ordnung wird von der Masse der Bevölkerung von einem Ende Europas zum anderen in Frage gestellt.“75 Doch anders als von Spartakusgruppe und den Bolschewiki erhofft, wiederholten sich in keinem anderen Land die russischen Ereignisse. Längst hat die Forschung gezeigt, dass die zeitgenössische Angst vor der „bolschewistischen Gefahr“ in Deutschland unbegründet war. Die Spartakusgruppe war auch während der Revolution zu klein, um dies Ereignisse nachhaltig in ihrem Sinne beeinflussen zu können. Auch deswegen etablierte sich statt eines Rätesystems eine parlamentarische Demokratie. Um die Jahreswende 1918/19 vereinigte sich die Gruppe schließlich mit den anderen linksradikalen Kräften der IKD zur Kommunistischen Partei Deutschlands. Die Revolutionären Obleute blieben trotz anfänglichen Interesses der neuen Partei fern.76 Kaum gegründet, sollte die junge KPD jedoch ihre führenden Köpfe verlieren. Im Januar 1919 ermordeten Freikorps-Soldaten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Kurz darauf starb der 72-jährige Franz Mehring. Nur zwei Monate später erschossen Soldaten Leo Jogiches in seiner Zelle im Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit. Anfang Juni wurde auch noch Eugen Leviné wegen seiner führenden Rolle in der Bayerischen Räterepublik zum Tode verurteilt und hingerichtet. Dieser intellektuelle Exodus sollte sich als eine schwere Hypothek für die KPD erweisen, die sich zwar während der Weimarer Republik zur Massenpartei mit zeitweilig mehr als 300.000 Mitgliedern entwickelte. Doch die „Stalinisierung“, welche die Partei im Lauf der 1920er Jahre erfuhr, ließ sie zu einer dogmatischen Partei werden, die nicht mehr viel mit dem Spartakusbund Luxemburgischer Prägung gemeinsam hatte.77 Nun wuchs die Abhängigkeit von Moskau in dem Maße wie die innerparteiliche Demokratie verschwand und die letzten Reste der Spartakus-Tradition aus der Partei gedrängt wurden. 74 75 76 77
Bois (2015): Zeiten des Aufruhrs. Braunthal (1978): Geschichte der Internationale, S. 186. Hoffrogge (2008): Räteaktivisten, S. 42. Hierzu immer noch das Standardwerk: Weber (1969): Wandlung. Siehe hierzu außerdem Bois (2018): Weber und die Stalinisierung.
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STAATSTRAGEND, REVOLUTIONÄR ODER EIN DRITTER WEG? Deutsche Linke im Ersten Weltkrieg zwischen Anpassung und konsequenter Kriegsgegnerschaft Stefan Bollinger Die USPD-Gründung liegt einhundert Jahre zurück. Ihre Entstehungsanlässe, ihr historischer Weg als neue linke Partei, aber auch ihr Schicksal zwischen gemäßigteren und radikaleren anderen Linken sind keineswegs nur Stoff für eine historische Aufarbeitung. So wichtig die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Ereignis und der Partei, so zwingend – so zumindest meine Überzeugung für einen solchen nicht nur fachwissenschaftlichen, sondern eben auch politisch von Sozialdemokraten wie Vertretern der Partei Die Linken gewünschten Dialog – ist das Aufzeigen der politischen Dimension. Diese ist aber nicht nur Vergangenheit, sondern auch sehr gegenwärtig. Über die USPD zu nachzudenken, heißt, über das Schicksal der Linken im vergangenen, aber wohl auch im derzeitigen Jahrhundert zu sprechen. Es wirft die Frage auf, wie unzerstörbar eine linke Partei sein darf, welche Rolle Fraktionsdisziplin spielen kann und vor allem – welches Gewicht eigene politische Überzeugungen von Friedensbewahrung, Antimilitarismus, Antiimperialismus und sozialer Gerechtigkeit haben dürfen. Und ab wann Linke ihrem auch ungeliebten Staat im höheren Interesse treu ergeben, staatstragend sein müssen oder auch einer höheren Idee mit ihren internationalistischen Strukturen und Verpflichtungen. Also ein Thema, das weit über die Grenzen der einzelnen linken Parteien hinaus Gültigkeit hat und nicht nur ein Thema vergangener Zeiten ist. Es heißt zu fragen, welche Rolle Linke in einer und gegen eine kapitalistische Gesellschaft spielen wollen und können. Es heißt aber auch danach zu fragen, ob sie durch ihr Handeln und ihre Radikalität den Lauf der Geschichte beeinflussen und die Umsetzung ihrer sozialistischen Ideale von einer demokratischen, ausbeutungsfreien, friedlichen Welt verwirklichen können. Damit ist gleichzeitig die Frage verbunden, mit welchen Mitteln sie dieses Ziel erreichen wollen und können. Für Deutschland war die Gründung der USPD als einer zweiten, politisch relevanten linken Partei in Deutschland die erste bedeutsame organisatorische Spaltung der Arbeiterbewegung. Denn eigentlich war die Herstellung der politischen Einheit der Arbeiterklasse seit 1875 mit dem Gothaer Parteitag, der Lassalleaner und Bebelianer in einer Partei vereinte, bislang das Markenzeichen der sozialdemokratischen
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Linken.1 Dieser Schritt im Jahr 1917 war nach der wechselhaften Geschichte der deutschen Linken seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wesentliche Zäsur. Vom genius loci inspiriert – dem Ort des Workshops, der diesem Band voran ging –, mag die Erinnerung an die ersten Schritte einer einigen Sozialdemokratie nicht hoch genug geschätzt werden, aber ebenso die seherische Warnung der Altvorderen dieser Partei in London. Sie sahen die theoretischen Schwächen der Partei, wie sie sich in der Programmatik niederschlugen. Sie befürchteten bereits damals, dass das Fehlen einer materialistischen, die ökonomischen Grundlagen des Kapitalismus begreifenden und bekämpfenden sozialistischen Theorie Folgen haben werde. Die von den Lassalleaner eingebrachten Vorstellungen eines über den Klassen stehenden Staates, der für den sozialen Wandel genutzt werden sollte ließen Marx und Engels ahnen, dass es irgendwann mit dem revolutionären Anspruch nicht mehr weit her sein würde. Noch schien die Sorge eines kurzfristigen Konflikts, wie sie etwa Friedrich Engels artikulierte, unbegründet zu sein. Dafür sprach nicht zuletzt die Kluft zwischen dem von ihm und Marx heftig kritisierten Programmtext und der Wahrnehmung durch die Partei und den politischen Gegner. So galt wohl doch, „dass die Einigung unsererseits überstürzt ist und den Keim künftigen Zwiespalts in sich trägt“. 2 Aber gleichzeitig räumte Engels ein, dass theoretische Schwachpunkte im Moment keine Rolle spielten. „Statt dessen haben die Esel von Bourgeoisblättern dies Programm ganz ernsthaft genommen, hineingelesen, was nicht darin steht, und es kommunistisch gedeutet. Die Arbeiter scheinen dasselbe zu tun.“3 In der Tat überlebte die vereinigte Sozialdemokratie nicht nur die Zeit bis zu den nächsten Reichstagswahlen, sondern mehr als vier Jahrzehnte erfolgreicher klassenkämpferischer und parlamentarischer Arbeit. Nur, die Konflikte zwischen Revolution und Reform, zwischen staatstragendem Anspruch und Fundamentalopposition, zwischen Antimilitarismus und Bejahung von Verteidigungskriegen wurden nie entschieden, sondern zentristisch zugekleistert, mit „Formelkompromissen“, wie wir heute sagen würden, gedeckelt. Die Rechnung zahlten die SPD, die Linke und die deutsche Arbeiterbewegung seit 1914. 1
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Die Vereinigung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) August Bebels und Wilhelm Liebknechts mit dem Lassalleschen Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) unter Wilhelm Hasenclever fand auf dem Gothaer Vereinigungskongress 1875 statt. Die damals gegründete Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) benannte sich dann 15 Jahre später in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) um. Karl Marx suchte mit seinen „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“ (Marx (1875): Randglossen, S. 15ff.), unmittelbar in diesen Vereinigungsprozess einzugreifen. Auch wenn ihm der wirkliche Erfolg der Durchsetzung marxistischer Positionen in den damaligen Programmpapieren versagt blieb, hatte er doch für Jahrzehnte einen marxistischen Ansatz in der Partei verankert. Gleichzeitig war diese (nicht wirklich stattgefundene) „Programmdiskussion“ ein ausschlaggebender Bezugspunkt für die Linke in der Sozialdemokratie. Engels (1875): An August Bebel, S. 158. Ebd., S. 159.
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Vor der organisatorischen Spaltung kam die inhaltliche. Zwar hatten Sozialdemokraten schon lange gestritten, waren in ‚Revionismusstreit‘ und ‚Massenstreikdebatte‘ uneinig, hatten aber immer den Bruch vermieden. Dieser Bruch kam mit der Entscheidung im August 1914 zum Krieg. Er fand am 4. August 1914 statt, als die sozialdemokratische Reichstagsfraktion fraktionsdiszipliniert für die Kriegskredite stimmte und sich in den nationalistischen Taumel dieser Tage für die Verteidigung des Vaterlandes willig – bei manchen auch widerwillig oder gar nicht – einreihte. Hatte sich auch die SPD in Übereinstimmung mit den anderen Parteien der II. Internationale – zuletzt 1912 – dazu bekannt, im Falle eines imperialistischen Krieges diesen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen, so war dies nun vergessen. Über die Mittel hatten sich die Linken bis dato sowieso nicht einigen können, und sie wussten um die Risiken auch eines für die Linke wohl hoffnungslosen Bürgerkrieges in Deutschland, wenn sie sich gegen eine Mobilmachung stellen würden. Zwar rief der Parteivorstand in den letzten Julitagen noch zu Großkundgebungen gegen den drohenden Krieg, wurde mit den französischen Klassengenossen noch gesprochen, so sorgten nun die „Sachzwänge“ für eine Umkehr in der Führung von Fraktion und Partei.4 In Gesprächen mit der Reichsleitung wurden führende Genossen überzeugt, dass der Aggressor das ungeliebte und gefährliche, undemokratisch Russland sei.5 Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg verstand es blendend, die politischen Entscheidungswege und offiziellen Verlautbarungen entsprechend zu manipulieren. In der Not, wenn der zaristische Terror drohte, wollten und konnten gute Sozialdemokraten nicht abseits stehen, so die fatale Einsicht. Wenn französische oder britische Klassengenossen mit einem solchen perfiden Verbündeten in den Krieg zogen, waren sie selbst schuld. Zudem versprach man den SPD-Gesprächspartnern demokratische und soziale Reformen, die nach dem Sieg der Partei und dem Volke zufallen mussten, allerdings erst dann. Die Folgen sind bekannt. Die Antikriegsbewegung der Julitage brach zusammen, auch die sozialdemokratischen Arbeiter zogen in den Krieg, und es brauchte erst der blutigen und elenden Erfahrungen an Front und Hinterland, dass sich ab 1916 offener politischer Widerstand in Kundgebungen, Demonstrationen und vor allem in Streiks manifestierte. Das war auch die Stunde für jene nicht wenigen Kriegsgegner in der SPD, die endlich spürten, dass sie nicht alleine standen. Nicht vergessen werden darf, dass es seit dem August 1914 auch in den entscheidenden Gremiensitzungen Gegenstimmen gab, dass sich rasch um Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Franz Mehring, Clara Zetkin und andere eine radikale Minderheit gegen den Krieg formierte, die dann ihren Weg in den Spartakusbund suchte. Für sie war das Verhalten von Parteiführung und Fraktion Verrat, sie begriffen mehr und mehr, dass nur eine revolutionäre Überwindung der bestehenden Ordnung die Chance für Frieden und 4 5
Ich habe das an anderer Stelle ausführlich dargestellt. Bollinger (2014): Weltbrand, bes. Kap. 8. Selbstentlarvend sei hier nur verwiesen auf David (1966): Kriegstagebuch.
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Sozialismus bringen würde. Rosa Luxemburg hat diesen Konflikt für die deutsche Partei klar auf den Begriff gebracht: Durch die Zustimmung zu den Kriegskrediten und die Proklamierung des Burgfriedens haben die offiziellen Führer der sozialistischen Parteien in Deutschland, Frankreich und England dem Imperialismus den Rücken gestärkt, die Volksmassen zum geduldigen Ertragen des Elends und der Schrecken des Krieges veranlasst und so zur zügellosen Entfesselung der imperialistischen Furien, zur Verlängerung des Massenmordes und zur Vermehrung seiner Opfer beigetragen, die Verantwortung für den Krieg und seine Folgen mit übernommen.
Diese Politik, so schrieb sie im Kontext ihrer 1916 erschienenen Junius-Broschüre, bedeutet einen Verrat an den elementarsten Grundsätzen des internationalen Sozialismus, an den Lebensinteressen der Volksmassen, an den freiheitlichen und demokratischen Interessen ihrer Länder.6
Dagegen agierten diese radikalen linken Kriegsgegner – soweit möglich – international, fanden sich in der Zimmerwalder Linken mit Partnern zusammen, die ähnliche Ziele verfolgten. Sie verurteilten den Krieg als imperialistisch und prangerten das Versagen der meisten linken Parteien an. In dieser unerträglichen Lage haben wir, die Vertreter der sozialistischen Parteien, Gewerkschaften und ihrer Minderheiten [...], die nicht auf dem Boden der nationalen Solidarität mit der Ausbeuterklasse, sondern auf dem Boden der internationalen Solidarität des Proletariats und des Klassenkampfes stehen, uns zusammengefunden, um die zerrissenen Fäden der internationalen Beziehungen neu zu knüpfen und die Arbeiterklasse zur Selbstbesinnung und zum Kampfe für den Frieden aufzurufen.7
An Radikalität ließen sie es nicht missen, wenn etwa Rosa Luxemburg unter dem Eindruck der russischen Revolution konstatierte, sobald das russische Proletariat bei sich zu Hause den Kampf für den Frieden aufrollt [...], verwandelt sich das Verharren des deutschen Proletariats in der Haltung eines gehorsamen Kanonenfutters in offenen Verrat an den russischen Brüdern. ‚In Russland fiel der erste Schuss.‘ Russland befreit sich selbst. Wer wird Deutschland von Säbeldiktatur, ostelbischer Reaktion und imperialistischem Völkermord befreien?8
Bei Liebknecht heißt es im Mai 1915: Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland: der deutsche Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie. Diesen Feind im eigenen Lande gilt’s für das deutsche Volk zu bekämpfen, zu bekämpfen im politischen Kampf, zusammenwirkend mit dem Proletariat der anderen Länder, dessen Kampf gegen seine heimischen Imperialisten geht [...] Der Hauptfeind steht im eigenen Land!9
Trotz solch radikaler Positionen blieb für Liebknecht und Genossen das Dilemma: Sie wollten die Revolution, aber zu lange fehlten dafür die Kämpfer. 6 7 8 9
Luxemburg (1916): Entwurf zu den Junius-Thesen, S. 43. Zimmerwalder Manifest (1915), S. 18f. Luxemburg (1917): Revolution in Rußland, S. 245. Liebknecht (1915): Hauptfeind, S. 230.
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Die radikale Linke setzte auf den „dem internationalen Sozialismus treu gebliebene Teil des deutschen Proletariats“.10 Aber es blieb eine mühsame Arbeit des Sammelns und Organisieren, immer im Zwiespalt, die eigene Partei doch noch umzukrempeln oder mit ihr zu brechen. Und dies unter den diktatorischen Bedingungen des allgegenwärtigen Belagerungszustandes. Nicht übersehen werden darf, dass in der Kriegsfrage aber auch weniger radikale Linke wie Hugo Haase, Eduard Bernstein oder Karl Kautsky in Konflikt mit ihrer Partei gerieten. Die 1917 beginnende Spaltung der SPD in der Kriegsfrage war insofern keineswegs die auf neue Ebene gehobene Revisionismusdebatte der Vorkriegsjahre mit ihren Protagonisten. Hier fanden sich neue Koalitionen zusammen, die in dieser einen Frage – der Ablehnung des Krieges – einig waren, weniger in den Wegen zu seiner Beendigung und einen politischen Wandel in Deutschland. Bei aller heutigen Polemik gegen den leninistischen Parteityp erinnert allerdings die damalige SPD doch sehr stark an dieses Modell der Einheit und Geschlossenheit, der festen Überzeugung auch kritischer Parteimitglieder, dass die Partei und ihre Disziplin das Wichtigste sein konnten.11 Es war ein langer Weg vom Dezember 1914, als ein Liebknecht im Parlament als erster den Krediten die Zustimmung verweigerte, bis zum offenen Abfall der 18 sozialdemokratischen Abgeordneten 1916. Letztlich sorgte erst die Mehrheitspartei mit ihrer Disziplinierungspolitik und Pression gegen die Opponenten sowie schließlich dem faktischen Rauswurf aus der Fraktion für die offene Spaltung der deutschen Linken. Anzumerken bleibt an dieser Stelle, dass die Russischen Revolutionen (zunächst die des Februar 1917) wiederholt Katalysatoren der deutschen Entwicklung waren und zur Radikalisierung der linken Kriegsgegner beitrugen, aber auch zu Wandlungen in der MSPD etwa in der Forderung nach einem Frieden ohne Annexionen. So hieß es im Gothaer Manifest der USPD vom April 1917: Die Proletarier Russlands haben für die Demokratie gekämpft, für die Eröffnung der Bahn zum Sozialismus, aber auch für den Frieden, für die baldige Beendigung des furchtbarsten aller Kriege durch einen Friedensschluss auf der Grundlage unserer gemeinsamen sozialdemokratischen Grundsätze. Kein Zweifel, die Arbeiter Russlands werden auch in dieser Hinsicht ihre Pflicht erfüllen. Aber der Erfolg ihrer Friedensarbeit hängt nicht von ihnen allein ab. Er hat zur Vorbedingung das Zusammenwirken der Arbeiter aller Länder in gleichem Sinne, das erneute Aufleben der Internationale und die Betätigung der Arbeiter in ihrem Rahmen.12
Mit der Entwicklung der USPD kehrte allerdings auch die andere Spaltung der deutschen Linken, die in eher reformorientierte und die eher revolutionären Protagonisten, zurück. Erst diese besondere Verbindung der Kriegsfrage und der Frage des Weges des sozialen Wandels verdeutlicht die Schwierigkeit der Linken, sich auch über Konfliktlinien hinweg zu vereinen. Die Mehrheitssozialdemokratie konnte mit ihrer Politik durchaus zufrieden sein. Auf lange Sicht hatten sich ihre Bekenntnisse zur Vaterlandsverteidigung und 10 Ebd., S. 226. 11 Mustergültig beschrieben bei: Michels (1989): Soziologie des Parteiwesens. 12 Abgedruckt in: Prager (1921): Geschichte der USPD, S. 150.
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zur staatstragenden Rolle trotz aller Verzögerungstaktiken seitens der bürgerlichkonservativen Kräfte ausgezahlt. Sie war ein nicht nur nicht zu übersehender Faktor des politischen Geschäfts geworden, sie war dies auch dank ihrer weitgehend erfolgreichen Burgfriedenspolitik. An der MSPD konnte die Reichsleitung nicht vorbei handeln und diese erwies sich als verlässlicher Partner. Im Januar 1918 konnte die MSPD dies trotz des großen Frusts und der Kampfbereitschaft vieler ihrer Mitglieder und Sympathisanten in den Munitionsarbeiterstreiks unter Beweis stellen.13 Führende Mehrheitssozialdemokraten traten in die Streikkomitees ein und überzeugten die Streikenden, ihren Ausstand zugunsten einer längerfristigen Reformalternative und damit auch eines Friedens zu beenden. Deutlich wurde, dass nicht der soziale Umsturz, sondern ein möglichst einvernehmlicher Weg gemeinsam mit den bisherigen Eliten ihnen näher stand als die Risiken der für sie nur als „linksradikal“ abzuwertenden Politik von Spartakus oder Revolutionären Obleuten. Gerade darum konnte sie so erfolgreich die spontanen Massenbewegungen im November 1918 im Interesse eines längerfristigen Reformprozesses kanalisieren und dabei in den Vertretern der bisherigen Macht, insbesondere der Obersten Heeresleitung (OHL), ihre Partner finden. Der Preis, den dafür die gesamte Linke zu zahlen hatte, war jedoch groß. Denn dieses staatstragende Verhalten musste in die Konfrontation mit der radikalen Linken führen. Fand sich die USPD nach innerparteilichen Auseinandersetzungen noch für wenige Wochen als Partner im Rat der Volksbeauftragten wieder, so hatte der radikalere Teil der Partei um Liebknecht und Luxemburg begriffen, dass es in dieser Konstellationen zwar soziale Verbesserungen und mehr demokratische Möglichkeiten geben würde, dass aber die sozialökonomischen Grundlagen des Staates, der Gesellschaft, der Wirtschaftsordnung weitgehend unangetastet blieben. Ihr Weg führte zur Gründung einer kommunistischen Partei, der KPD, und zur offenen Konfrontation mit der Staatsmacht, deren Führungspersonal nun die einstigen Genossen waren und dessen härteste Vertreter in Gestalt Noskes für „Ruhe und Ordnung“ sorgten, auch mit Mord. Bis heute wird darüber gestritten, welche politische Kraft an der Gewalteskalation nach dem weitgehend unblutigen Beginn der Revolution Schuld trug.14 Dass die radikale Linke, also zuallererst Spartakusbund und dann KPD, nicht nur Sympathien mit den russischen Bolschewiki hatten, sondern auch wie diese bereit zu einer Konfrontation mit der alten wie neuen Macht waren, steht außer Frage. Ihre Ziele einer sozialistischen Umwälzung der politischen wie der sozialen Verhältnisse wurden von den bislang herrschenden, vor allem den besitzenden Kräften berechtigt als Bedrohung begriffen. Ebenso war den Führern von Spartakus klar, dass ein solcher Umbruch auch Gewalt bedeuten konnte und musste. Bei aller Skepsis zum Vorgehen der russischen Bolschewiki waren ihre Sympathien für diese doch offenkundig. Wobei die Unentschlossenheit der KPD-Gründer, ihr mehrheitliches Unverständnis für die unterschiedlichen 13 Siehe Boebel / Wentzel (Hrsg.) (2015): Streiken gegen den Krieg. 14 Siehe Jones (2017): Am Anfang.
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politischen Kampfformen auffällt. Das schlug sich vor allem im Boykott der Wahlen zur Nationalversammlung nieder. Sie setzten weiter auf die Räte, obwohl diese sich längst mit ihrer Entscheidung für den Parlamentarismus selbst entmannt hatten. Ebenso, dass Teile der radikalen Linken mit dem Januaraufstand versuchten, in einer Gegenoffensive die Entwicklung revolutionär in Richtung einer Rätedemokratie gewaltsam zu erzwingen. Aber: Es war eben eine Gegenoffensive. Die revolutionären Kräfte, die Liebknecht und Luxemburg zugeordnet werden können, waren eine Minderheit, hatten angesichts der übermächtigen Organisationskraft der MSPD, aber auch der USPD, nicht den erhofften Einfluss, was sich insbesondere in der Politik der Räte niederschlug. Trotzdem, oder gerade deswegen, waren seitens des Rates der Volksbeauftragten, der OHL wie der Freikorps gerade diese Kräfte frühzeitig Ziel militärischer Angriffe, die zunächst Weihnachten 1918 eskalierten, aber noch erfolglos blieben. Der weitere Verlauf der Revolution 1918/19 zeigt eine permanente Auseinandersetzung seitens der politischen und militärischen Kräfte der alten Ordnung gegen die radikale Linke, die sich zwar verzweifelt zu wehren suchte, aber in den Januarkämpfen wie in der Münchner Räterepublik den militärischen Kräften unter Führung Noskes unterlag. Wobei diese Auseinandersetzungen eben nicht nur einfache militärische Konfrontationen waren, sondern die Gestalt eines Bürgerkrieges annahmen, in dem von Seiten der sozialdemokratisch geführten Regierung und den von ihnen genutzten Kräften des Heeres und der schnell aufgebauten, zuverlässigeren Freikorps mit Willkür, Terror und Mord vorgegangen wurde. Von dieser Niederlage erholten sich die radikalen Linken nur mühsam. Das Fehlen ihrer ermordeten Führer, das Scheitern ihrer ersten politischen Schritte, der Verzicht der Räte auf die politische Macht zugunsten der von den Kommunisten boykottierten Nationalversammlung begrenzten zunächst ihren Einfluss auf die Arbeiter. In dieser Konstellation blieb die USPD über längere Zeit weit überzeugender ein politisch handlungsfähiges Sammelbecken der radikalen Kritiker des Kapitalismus als die junge, gerade enthauptete KPD. Aber auch die USPD konnte diese Konstellation nicht für eine erfolgreiche prosozialistische Politik nutzen. Im Ergebnis der Konsolidierung der jungen Republik und der zentralen Rolle der MSPD war Deutschland auf dem Weg in eine demokratische Ordnung, soziale Zugeständnisse waren errungen und die Zwänge des wirtschaftlichen Wiederaufbaus, vor allem der Umstellung auf die Friedenswirtschaft und die Eingliederung der ehemaligen Soldaten, schränkten die Spielräume einer neben der klassischen Sozialdemokratie starken und eigenständigen USPD ein. Der Grund für die Spaltung, die unterschiedliche Haltung zum Krieg und seiner Finanzierung, war mit der deutschen Niederlage obsolet geworden. Nun ging es um den alten Konflikt zwischen den möglichen Entwicklungswegen hin zu einer sozialistischen Gesellschaft: um Reformen oder Revolution. Diesen ewigen Konflikt der deutschen Sozialdemokratie hatten die Gründer der USPD 1917 angesichts der drängenden Frage des Krieges und seiner Bekämpfung beiseitegeschoben. Angesichts der begrenzten Resultate der Revolution, der unveränderten Eigentumsverhältnisse und dem Wiedererstarken der alten Eliten, schließlich der blutigen Unterdrückung der radikalen linken Kräfte mussten sich auch die Führer und
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Mitglieder der USPD neu orientieren und fanden sich in den alten Frontstellungen wieder. Das erklärt schließlich den Bruch und den Verfall der USPD zu Beginn der 1920er Jahre, bei dem sich zunächst zahlreiche USPD-Genossen von ihrer Partei abwandten, sich auf die Positionen der Komintern-Aufnahmebedingungen stellten und zur KPD fanden. Letztlich wurde der USPD ihr zentristischer Kurs zum Verhängnis. In irgendeiner Weise mussten sich die Partei und ihre Mitglieder entscheiden. Natürlich stimmt es nachdenklich und es war keineswegs falsch, als die RestUSPD im Oktober 1920 in Halle in ihrem von Arthur Crispiens formulierten „Manifest der Unabhängigen Sozialdemokratie an das deutsche Proletariat“ einschätzte: Die Entwicklung seit dem 9. November hat den Bankerott des Reformsozialismus besiegelt. Seine Politik hat der Bourgeoisie zur Herrschaft geholfen, das Proletariat gelähmt. Die kommunistische Partei aber hat ebenfalls die Politik des wissenschaftlichen Sozialismus aufgegeben und verfällt immer mehr dem Abenteurertum durch putschistische Aktionen von Minderheiten, die Revolution erzwingen zu wollen. Diese Politik führt nur zur neuen Zersplitterung und zu gefährlichen Niederlagen.15
Dass die KPD die Frischzellenkur nur bedingt nutzen konnte, hat mit ihrer eigenen Radikalität, ihrem linken Abenteurertum und ihrem Schwanken in den Krisenjahren bis 1923 zu tun. Wobei auch dieser Partei zugute zu halten ist, dass sie nicht nur unerfahren agierte, sondern von unbändiger wie unrealistischer eigener und Moskauer Hoffnung getragen war, endlich das radikale Programm des Russischen Oktobers auch nach Deutschland zu tragen. Was bleibt? Solange Linke nur theoretisieren müssen und eigene Debatten führen können, ist die Welt meist in Ordnung. In dem Moment, wo sie politisch entscheiden und Verantwortung übernehmen müssen, gibt es meist unvereinbare Handlungsbedarfe. Politisches Handeln heißt auch für Linke immer wieder, Partei zu nehmen, mit allen Konsequenzen. Die Idee von den Dritten Wegen ist dabei immer reizvoll, auf dem Papier auch ideal auszuzirkeln, in der praktischen Politik – das belegt auch jener Revival-Versuch von 1990 zu Zeiten der sich reformierenden Noch-DDR16 – auf Dauer zum Scheitern verurteilt. Nicht zuletzt gibt es eine Kontinuität in der Geschichte linker Politik: Die verhängnisvolle Entscheidung Pro-Krieg ist eine Entscheidung für die Spaltung und das Staatstragende gewesen, für das es bislang in keiner Parteiformation in Deutschland eine Heilung gab und gibt. Die Geschichte der USPD ist Teil der Vorgeschichte heutiger linker Parteien in Deutschland. Die Gründe für ihren Aufstieg wie für ihren Niedergang bleiben nicht nur für die Forschung bedenkenswert. Heutige Parteien weder aber ihre Politik hier und heute machen müssen.
15 Abgedruckt in: Boebel / Wentzel (Hrsg.) (2015): Streiken gegen den Krieg, S. 229. 16 Im Februar 1990 gründete sich in der Noch-DDR eine USPD, die jenseits von PDS und SPD einen eigenen Weg für einen demokratischen Sozialismus suchen wollte. An den Volkskammerwahlen im März 1990 nahm sie erfolglos teil.
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REVOLUTION ODER REFORM? DIE USPD ZWISCHEN PARLAMENTARISMUS UND RÄTEMODELL
„DER GEBURTSTAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATIE“ Die Regierung Max von Baden als Ausgangs- oder Endpunkt sozialdemokratischer Systemziele? Bernd Braun Im Dezember 1893 hatte der Parteitheoretiker Karl Kautsky in der „Neuen Zeit“ in einem Artikel mit dem Titel „Ein sozialdemokratischer Katechismus“ geschrieben: „Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolution machende Partei“.1 Dieses Diktum galt auch noch 25 Jahre später im Herbst 1918. Man könnte dieses berühmte Zitat des Gralshüters der marxistischen Theorie noch zuspitzen: Die Sozialdemokratie war auch keine Revolutionen prophetisch vorhersehende Partei. Mit entwaffnender Offenheit bekennt der USPD-Führer und spätere Volksbeauftragte Wilhelm Dittmann in seinen „Erinnerungen“ über den 9. November 1918: „Noch vier Wochen vorher war mir nicht der Gedanke gekommen, daß das halbabsolutistische Regierungssystem des kaiserlichen Deutschland in einer fast unblutigen Revolution von wenigen Tagen im ganzen Reich zusammenbrechen würde.“2 Hermann Müller, seit 1906 Mitglied im Parteivorstand und seit 1919 einer der beiden SPD-Parteivorsitzenden, verfügte im Unterschied zu Wilhelm Dittmann offenbar über eine seltene Sehergabe, denn er schreibt in seiner Ende 1928 erschienenen Studie „Die Novemberrevolution“: „Vom Oktober 1918 ab war sicher, daß der Ausbruch der Revolution kam. Fraglich war nur, wo zuerst und an welchem Tage die Gewalt des Krieges in die Gewalt der Revolution umschlug.“3 Ohne Hermann Müller allzu kritisch danach hinterfragen zu wollen, ob es sich bei dieser Äußerung nicht um eine Prophetie ex post handelt, so lässt sich doch aus beiden Zitaten ablesen, dass die deutsche Sozialdemokratie nicht nur keine Revolutionen machende, sondern auch keine für den Tag X der potentiellen Revolution Konzepte entwickelnde Partei war. Die Sozialdemokratie agierte nicht, sondern sie reagierte, wie es der württembergische Sozialdemokrat Wilhelm Keil in seinen Memoiren so zusammengefasst hat: „Die Zwangsläufigkeit des Geschehens führte zu revolutionären Erscheinungen und nicht der Wille oder gar ein fester Plan der sozialdemokratischen Führung.“4
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Vgl. Kautsky (1893): Sozialdemokratischer Katechismus, S. 368. Dittmann (1995): Erinnerungen, Bd. 2, S. 555. Müller-Franken (1928): Die November-Revolution, S. 13. Vgl. Keil (1947): Erlebnisse eines Sozialdemokraten, S. 470.
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1. DER EINTRITT IN DIE REGIERUNG MAX VON BADEN Ende September / Anfang Oktober 1918 debattierte man innerhalb der SPD allenfalls über den Tag X nach dem überfälligen Sturz des überforderten Reichskanzlers Georg Graf Hertling. Der Eintritt in eine von den Mehrheitsparteien SPD, Zentrum und Fortschrittliche Volkspartei getragene parlamentarische Regierung war dabei innerhalb der Mehrheitssozialdemokratie durchaus umstritten. Die auf der gemeinsamen Sitzung von Reichstagsfraktion und Parteiausschuss am 23. September 1918 formulierten Bedingungen für einen Eintritt in eine Regierung nach Hertling enthalten neben einigen Punkten, die den künftigen Friedensschluss betreffen, nur Forderungen nach (wenn auch tiefgreifenden) Reformen innerhalb der bestehenden Verfassungsordnung des Kaiserreiches: Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts, Bildung der Regierung durch die Mehrheitsparteien des Reichstages etc.5 In einem Gutachten des Auswärtigen Amtes über die Haltung der Sozialdemokratie heißt es: „Diese Bedingungen verzichten gänzlich auf sozialistische Forderungen, um die Einheitsfront mit den bisherigen Mehrheitsparteien auch fernerhin zu ermöglichen.“6 Von den beiden Parteivorsitzenden der SPD setzte sich Friedrich Ebert ebenso vehement für den Eintritt in die Regierung des Prinzen Max von Baden ein, wie sich Philipp Scheidemann dagegen aussprach. Im Vorfeld dieser Entscheidung hatte es eine ganze Reihe von Sondierungen und vertrauensbildenden Maßnahmen zwischen dem seit 1917 als Anwärter auf die Kanzlerschaft gehandelten badischen Thronfolger und dem SPD-Parteivorsitzenden gegeben, die zum Teil ohne Wissen der SPD-Parteiführung stattgefunden hatten.7 Ebert drohte für den Fall eines Neins zur Regierungsbeteiligung sogar mit seinem Rücktritt. Diese Drohung wirkte: Mit sechs zu fünf Stimmen konnte sich Ebert auf einer kombinierten Sitzung von Partei- und Fraktionsvorstand mit dem denkbar knappsten Vorsprung durchsetzen. Die Zustimmung der Fraktion und des Parteiausschusses fiel deutlicher aus. Als in der Fraktionssitzung vom 16. Oktober 1918 Kritik an seinem Führungsstil laut wurde, Ebert übergehe die Fraktion und stelle sie vor vollendete Tatsachen, trat er demonstrativ von seinem Posten zurück, wurde aber unmittelbar nach seiner Demission als einziger Kandidat per Akklamation erneut zum Fraktionsvorsitzenden gewählt.8 Ebert setzte also die letzte und schärfste Waffe ein, die einem Politiker zur Verfügung steht – die Drohung mit Rücktritt –, um seine Partei in die Regierung Max von Baden zu führen und trotz aller auftretenden Probleme in dieser Regierung zu halten. Auf der erwähnten Sitzung am 23. September hatte Ebert als Alternative aufgezeigt:
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Vgl. Protokolle des Parteiausschusses der SPD, Bd. 2, S. 565–607, besonders S. 601. Vgl. Die Reichstagsfraktion, Bd. 2, S. 461. Vgl. zum Verhältnis Friedrich Eberts zu Max von Baden: Braun (2016): Der „Nachfolger“; vgl. allgemein zu Max von Baden: Machtan (2013): Max von Baden. Vgl. Die Reichstagsfraktion, Bd. 2, S. 478.
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Wollen wir jetzt keine Verständigung mit den bürgerlichen Parteien und der Regierung, dann müssen wir die Dinge laufen lassen, dann greifen wir zur revolutionären Taktik, stellen uns auf die eigenen Füße und überlassen das Schicksal der Partei der Revolution. Wer die Dinge in Rußland erlebt hat, der kann im Interesse des Proletariats nicht wünschen, daß eine solche Entwicklung bei uns eintritt. Wir müssen uns im Gegenteil in die Bresche werfen, wir müssen sehen, ob wir genug Einfluß bekommen, unsere Forderungen durchzusetzen und, wenn es möglich ist, sie mit der Rettung des Landes zu verbinden, dann ist es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, das zu tun.9
Damit definierte Ebert klar, was die Sozialdemokratie nicht wollte: sie wollte keine blutige Revolution, keinen Bürgerkrieg, keine Wiederholung der russischen Zustände auf deutschem Boden. All dies musste verhindert werden. Was die MSPD über den Eintritt in eine parlamentarische Regierung hinaus noch anstrebte, welche Systemvorstellungen sie umzusetzen gedachte, ließ Ebert offen. Dies mag man als Planlosigkeit kritisieren, aber angesichts der für alle damals beteiligten Akteure nie dagewesenen historischen Zäsur – die Bewältigung der Niederlage in einem Weltkrieg mit all ihren unabsehbaren ökonomischen und mentalen Verwerfungen – kann man diese Haltung auch schlicht als abwartenden Realismus einschätzen. Allerdings hatten wohl beide MSPD-Parteiführer die Lebensdauer der Regierung Max von Baden weit überschätzt. Dass Friedrich Ebert noch am 22. Oktober 1918 nicht mit einer binnen zwei Wochen beginnenden Revolution rechnete, machen zwei Passagen aus seiner Replik auf die Regierungserklärung Max von Badens vom 5. Oktober 1918 deutlich. Am 22. Oktober warnte Ebert davor, die Einführung des gleichen Wahlrechts in Preußen „noch auf Monate hinauszuschieben“, und an anderer Stelle, die Aufhebung des Belagerungszustandes „auf die lange Bank zu schieben“.10 Beide Zeitangaben sind zwar nicht präzise, erlauben aber doch den Schluss, dass Ebert mit einer Regierungsdauer Max von Badens bis (weit) in das Jahr 1919 hinein rechnete. Liest man alle Beiträge der Reichstagsdebatte am 22. und 23. Oktober über die Regierungserklärung Max von Badens, so fällt auf, dass besonders Friedrich Ebert die neue Regierung würdigte und ihrem Zustandekommen epochalen Charakter zubilligte: Am 5. Oktober hat sich dem Deutschen Reichstag eine Regierung vorgestellt, die ihre Existenz von der Zustimmung des Reichstags, von der Billigung weitester Volkskreise und insbesondere von der Mitwirkung der Vertrauensmänner der Arbeiter abhängig gemacht hat. Mit Recht ist deshalb der 5. Oktober als ein Wendepunkt in der Geschichte Deutschlands bezeichnet worden. Es ist der Geburtstag der deutschen Demokratie. Die Regierung des Volksvertrauens – das will sie sein – leitet [...] eine neue innerpolitische Epoche für Deutschland ein.11
Vergleicht man andere Einschätzungen, etwa in den Zeitungen und Zeitschriften der SPD und der Gewerkschaften, über die Bedeutung des 5. Oktober 1918, so sind 9 Vgl. Protokolle des Parteiausschusses der SPD, Bd. 2, S. 586. 10 Sten. Berichte der Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 13. LP, 193. Sitzung vom 22. Oktober 1918, S. 6160–6166, Zitate S. 6162 und 6163. 11 Ebd., S. 6161.
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die Worte Eberts vom „Geburtstag der deutschen Demokratie“ sogar noch recht nüchtern formuliert. In einem Aufsatz in den „Sozialistischen Monatsheften“ ist vom „Schicksalstag in der Geschichte des deutschen Volkes“ zu lesen,12 in einer Ausgabe der „Dachdeckerzeitung“ gar von einem Ereignis „von welthistorischer Bedeutung“.13 An anderer Stelle seiner vermutlich von Eduard David entworfenen Reichstagsrede führte Ebert aus, dass die Regierung Max von Baden noch nicht der Endpunkt sozialdemokratischer Systemziele war: „Der 5. Oktober leitet also einen Systemwechsel von großer Tragweite ein. Er ist der Übergang zu einem neuen Staatswesen, in dem das Volk durch seine freigewählten Vertreter seine Zukunft gestalten soll. Natürlich ist das, was bisher geschah, nur der Anfang eines Überganges. Wir Sozialdemokraten sind uns darüber klar, daß von wirklicher Demokratie und Volksbefreiung erst dann gesprochen werden kann, wenn die wirtschaftliche Ausbeutung beseitigt und die Klassengegensätze aufgehoben sind.“14 Nun, zur Überwindung des Kapitalismus und zur Errichtung der klassenlosen Gesellschaft hat nicht nur die Weimarer Republik lediglich marginale Beiträge geliefert, denn diese beiden Ziele sind bis heute eine unerfüllte Utopie geblieben. 2. DER SCHLÜSSELBEGRIFF „REPUBLIK“ Was Ebert aber in seiner Rede nicht erwähnt, ist ein Punkt, den schon Karl Kautsky 1893 genannt hatte, und den der USPD-Vorsitzende Hugo Haase in seinem Debattenbeitrag am 23. Oktober 1918 in aller Deutlichkeit herausstellte: die Errichtung der Republik.15 Stürmische Unruhe und Pfui-Rufe im Plenum löste Haase mit seiner Forderung nach dem Ende der Monarchien in Deutschland aus: „Meine Herren, die Kronen rollen auf das Pflaster [...]. Rings um uns werden Republiken sich auftun, und da soll Deutschland allein, umgeben von Republiken, noch einen Kronenträger haben oder Träger vieler Kronen und Krönlein!“16 Tatsächlich hatte sich die Mehrheitssozialdemokratie mit der Einführung der Republik schwer getan. Am 31. Oktober 1918 nahm Friedrich Ebert an einem Frühstück teil, zu dem Arndt von Holtzendorff, der Vertreter der Hamburger Reederei HAPAG in Berlin, einige liberale Parteiführer und den SPD-Vorsitzenden eingeladen hatte. Dabei soll Ebert gesagt haben: 12 Peus (1918): Volksregierung, S. 932. 13 Zitiert in: Bieber (1981): Gewerkschaften in Krieg und Revolution, S. 549. 14 Sten. Berichte der Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 13. LP, 193. Sitzung vom 22. Oktober 1918, S. 6161. 15 Kautsky hatte in seinem Beitrag „Ein sozialdemokratischer Katechismus“ [vgl. Anm. 1], auf S. 368 geschrieben: „Und die bestimmte Staatsform, in der allein der Sozialismus verwirklicht werden kann, ist die Republik, und zwar im landläufigen Sinne des Wortes, nämlich die demokratische Republik.“ 16 Sten. Berichte der Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 13. LP, 194. Sitzung vom 23. Oktober 1918, S. 6185.
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Sie wollen meine Meinung über die Frage einer Abdankung des Kaisers hören. Ich gebe Sie Ihnen gern und ganz offen: Ich bin dafür, dass die deutsche Monarchie bestehen bleibt. Deutschland ist nicht reif für eine Republik, und wir Sozialdemokraten, die dies wissen, fürchten den Augenblick, da die Masse, die Straße, unter dem Einfluss der Unabhängigen die Durchführung unseres Parteiprogramms von uns verlangt und eine Republik fordert. Aber damit wir die Monarchie erhalten und eine Republik vermeiden können, muss der jetzige Monarch zurücktreten [...], weil er diesen Krieg verloren und damit Bankrott erlitten hat. Die Firma aber kann und muss erhalten bleiben. [...] ich denke an eine Reichsverweserschaft durch eine Persönlichkeit wie Prinz Max.17
Dieses eindeutige Plädoyer Friedrich Eberts für die Beibehaltung der Monarchie mag zumindest teilweise auf die Adressaten seiner Äußerung, also die bürgerlichen Teilnehmer des Treffens, abgezielt haben. Allerdings wird diese promonarchistische Einstellung Eberts auch von anderen führenden Sozialdemokraten bestätigt: „Unter uns“, schreibt Wilhelm Keil im Jahr 1947 ein wenig verklausuliert, „war es kein Geheimnis, daß Ebert in einem bestimmten Stadium des raschen Ablaufs der Ereignisse der Meinung zuneigte, man solle den Thronverzicht des Kaisers und des Kronprinzen durchsetzen, die Monarchie mit einem Thronverweser hingegen bestehen lassen. Eine Revolution zur Beseitigung der Monarchie herbeizuführen, das lag nicht entfernt im Sinne Eberts.“18 Bei der Abfassung seiner Memoiren nach Ende des Zweiten Weltkrieges vermied es Keil zu betonen, dass auch er selbst ein überzeugter Anhänger der Monarchie und vor allem des württembergischen Königs Wilhelm II. gewesen war. In der „Schwäbischen Tagwacht“, dem Zentralorgan der Sozialdemokratie Württembergs, hatte er während des Ersten Weltkriegs geschrieben: „Träte in Württemberg morgen die Republik an die Stelle der Monarchie, so hätte, wenn alle Bürgerinnen und Bürger zu entscheiden hätten, kein Anwärter mehr Aussicht, an die Spitze des Staates gestellt zu werden, als der jetzige König.“19 Sechs Tage nach dem HAPAG-Frühstück Friedrich Eberts wurde auf der Sitzung der SPD-Reichstagsfraktion vom 6. November 1918 auch die Kaiserfrage erörtert. Es ging darum, ob die SPD ultimativ die Abdankung des Kaisers und des ebenfalls kompromittierten Kronprinzen verlangen sollte; bei Fortbestehen der Hohenzollerndynastie hätte der erst zwölfjährige Kaiserenkel Wilhelm den Thron bestiegen, was bis zu dessen Volljährigkeit die Einsetzung eines Regenten notwendig gemacht hätte. Laut des Protokolls nahm in der Diskussion nur ein einziger Abgeordneter überhaupt das Wort Republik in den Mund, nämlich der Fraktionsvorsitzende und Sozialexperte Hermann Molkenbuhr, der ausführte: „Können wir das Zwitterding, Kind als Kaiser mit Regentschaft, mitmachen? Nein, nur Republik.“20 Hermann Molkenbuhrs Haltung dürfte sowohl mit seiner politischen Sozialisation in der Hansestadt Hamburg mit ihrer dezidiert republikanischen Tradition zusammenhängen, als auch mit seiner Zugehörigkeit zur ersten Generation sozialdemo 17 18 19 20
Zitiert nach Mühlhausen (2006): Friedrich Ebert, S. 98. Vgl. Keil (1947): Erlebnisse eines Sozialdemokraten, S. 469f. Zitiert bei Benz (2014): Fritz Rück, S. 70. Die Reichstagsfraktion, Bd. 2, S. 511; vgl. zu Hermann Molkenbuhr: Braun (1999): Hermann Molkenbuhr.
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kratischer Parteiführer.21 Wer wie Molkenbuhr unter dem Sozialistengesetz politisch verfolgt worden war, im Gefängnis gesessen hatte, aus seiner Heimat ausgewiesen worden war und drei Jahre im Exil in den Vereinigten Staaten von Amerika gelebt hatte, der konnte sich mit dem politischen System des Deutschen Reiches inklusive seines monarchischen Überbaus nur sehr bedingt identifizieren. Die nachfolgende Generation Ebert war in dieses System weit integrierter und auch integrationsbereiter.22 Friedrich Stampfer, seit 1916 Chefredakteur des „Vorwärts“, fasste die Haltung der Sozialdemokratie zur Staatsform im Herbst 1918 folgendermaßen zusammen: „Wir Sozialdemokraten waren in jener Zeit keine intransigenten Republikaner. Wir waren Gegner des persönlichen Regiments, Gegner des Kaisers, der keine Eigenschaft hatte, die ein Monarch haben muß, und viele, die er nicht haben darf – aber um eine konstitutionelle Monarchie mit einem vernünftigen Monarchen durch eine Republik zu ersetzen, hätten wir nicht einmal das Leben einer Straßenlaterne riskiert. Was wir in Frankreich sahen und was wir aus Amerika hörten, hatte unsere Begeisterung für eine ‚bürgerliche‘, eine ‚Geldsackrepublik‘ stark abgekühlt.“23 Wenige Sätze später charakterisiert Stampfer als Hauptziel des Reichskanzlers Max von Baden, dass er die Monarchie in Deutschland retten wollte. Dabei sei dem badischen Thronfolger zu Gute gekommen, „daß es keine eigentliche republikanische Partei gab“.24 Hier hat Friedrich Stampfer offensichtlich die USPD übersehen. Schon Anfang April 1917 war es vermutlich Stampfer gewesen, der sich in einem Leitartikel des „Vorwärts“ für die Beibehaltung einer reformierten Monarchie ausgesprochen hatte: Das deutsche Volk ist in seiner Mehrheit nicht antimonarchisch, es ist aber zweifellos in seiner Mehrheit demokratisch gesinnt, es will das gleiche Wahlrecht zu allen Vertretungskörpern, es will Selbstverwaltung und parlamentarisches System. […] Sobald die Monarchie die Wünsche des Volkes erfüllt, ist aller republikanischen Agitation der Boden unter den Füßen weggezogen. Die Frage, ob Monarchie oder Republik, würde dann noch viel weniger Diskussionsthema sein, als sie es jetzt schon ist. Und alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass es so kommt. Wenn auch noch Schwierigkeiten zu überwinden sind, so werden sie – voraussichtlich sogar schon in kürzester Zeit – überwunden werden, ohne eine Spur von gewaltsamem Umsturz und ohne Sturz der Monarchie.25
Kritik an diesem Artikel nahm Karl Kautsky in das nur wenige Tage später, am 8. April 1917, auf dem Parteitag in Gotha verabschiedete Gründungsmanifest der USPD auf. Von den „Regierungssozialisten“ sei „nichts Durchgreifendes“ zu erwarten: „Während heute in Russland sich selbst das Bürgertum für die demokratische Republik erklärt, hat der ‚Vorwärts‘, das Organ des Parteivorstandes, diesen 21 Vgl. zur Generationenfrage: Schönhoven / Braun (2005): Generationen, besonders Braun (2005): Die „Generation Ebert“, S. 69–86. 22 Nach wie vor anregend: Groh (1974): Negative Integration und revolutionärer Attentismus. 23 Vgl. Stampfer (1957): Erfahrungen und Erkenntnisse, S. 224. 24 Ebd., S. 225. 25 „Vorwärts“ Nr. 92 vom 3. April 1917 („Zur Aufklärung nach Rußland. Republik und Monarchie“).
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Zeitpunkt für den geeigneten erachtet, ein Bekenntnis zur Monarchie abzulegen.“26 Einen weiteren Artikel Stampfers mit monarchistischem Tenor vom Oktober 1918 nutzte das Zentralorgan der USPD, die „Leipziger Volkszeitung“, dazu, den Vertretern der MSPD neben dem Etikett „Regierungs-Sozialisten“ nunmehr auch dasjenige der „Monarcho-Sozialisten“ anzuheften: „Stampfer und Genossen […] werden sich mit der ‚Vernunft‘-Monarchie abzufinden wissen. Der republikanische Grundsatz wird fein säuberlich in eine Ecke des Schrankes für sozialistische Reliquien gestellt. […] Tiefer kann die Verlotterung alles grundsätzlichen Wesens kaum mehr gehen.“27 Aufgrund dieser dezidiert republikanischen Positionierung der USPD konnte Hugo Haase in der Nationalversammlung dem linksliberalen Parteiführer Friedrich Naumann entgegnen „Wir jedenfalls nicht“, als dieser behauptet hatte, die Sozialdemokratie habe auf „den Programmpunkt von der Republik“ kein „hervorragendes Gewicht gelegt“.28 3. DIE ROLLE DER GEWERKSCHAFTEN Die Monarchie- und Systemfreundlichkeit innerhalb der MSPD hing eng mit der Parteispaltung zusammen, die einen spürbaren Rechtsruck verursacht hatte. Große Teile des linken Flügels liefen 1917 zur USPD über, mit Karl Kautsky und Eduard Bernstein auch die beiden wichtigsten Parteitheoretiker, aber nur sehr wenige Gewerkschaftsführer. Der spätere Vorsitzende des Metallarbeiterverbandes Robert Dißmann bildete hier die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Gerade die Gewerkschaftsführer, mit der Generalkommission unter Carl Legien und Gustav Bauer an der Spitze, gehörten von Beginn an zu den vehementesten Verteidigern der Burgfriedenspolitik und zu den schärfsten Kritikern der Parteiminderheit.29 In der Gewerkschaftspresse wurde die Bildung der Regierung Max von Baden als fundamentaler Systemwechsel begrüßt. Selbst die weit verbreitete Kritik, dass an der Spitze der ersten parlamentarischen Regierung in Deutschland als Reichskanzler der badische Thronfolger und damit der seit 1871 am höchsten in der Hierarchie angesiedelte Adlige stand, wusste man in Gewerkschaftskreisen als Symbol des demokratischen Aufbruchs umzudeuten. Die Zeitschrift „Der Holzarbeiter“, das Zentralorgan des Holzarbeiterverbandes, äußerte sich wie folgt:
26 Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Gründungs-Parteitags der U.S.P.D. vom 6. bis 8. April 1917 in Gotha, in: Protokoll der Parteitage der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Glashütten im Taunus 1975, S. 81. 27 „Leipziger Volkszeitung“ Nr. 247 vom 22. Oktober 1918 („Monarcho-Sozialisten“). 28 Sten. Berichte der Verhandlungen der Nationalversammlung, 6. Sitzung vom 13. Februar 1919, S. 56 (Zitat Naumann) und 8. Sitzung vom 15. Februar 1919, S. 110 (Zitat Haase). 29 Vgl. zur Haltung der Gewerkschaften während des Ersten Weltkrieges: Bieber (1981): Gewerkschaften in Krieg und Revolution, besonders S. 546ff.
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Bernd Braun Daß an der Spitze dieser Regierung der badische Thronfolger steht, ist der Ausdruck ihrer demokratischen Zusammensetzung, die sich nicht an Vorurteil[en] stößt, sondern die Kräfte dort hernimmt, von wo sie glaubt, daß sie am besten der großen Aufgabe dienen können. Hoffen wir, daß sich das erfüllt, was wir von der deutschen Volksregierung erwarten.30
Eine „königliche Hoheit“ an der Spitze einer „Volksregierung“ – zweifellos ein argumentativer Spagat, den die Gewerkschaftszeitung hier vollzog. Noch in der just am 9. November 1918 erschienenen Ausgabe des Zentralorgans der Generalkommission, dem „Correspondenzblatt“, erschien ein Artikel, in dem die Frage der Staatsform zu einer solchen von nachrangiger Bedeutung erklärt wurde. Kritik wurde sowohl an der MSPD geübt, die einen Thronverzicht des Kaisers und des Kronprinzen verlangt hatte, als auch an der USPD („Die Unabhängigen gehen natürlich auch hierin gleich aufs Ganze.“). In diesen „ernsten Tagen“ komme es jedoch nicht in erster Linie auf „Fragen der Repräsentation“, sondern auf die „Vorbedingungen des wirklichen Seins“ an: „Die Fragen, ob neben dem verantwortlichen Reichskanzler und seinen ebenso verantwortlichen Staatssekretären ein unverantwortliches Haupt der Nation den Titel „Kaiser“ oder „Präsident“ führt, ob dieser Titel vererblich oder nur durch Wahlakt auf den Würdigsten des Volkes übertragbar ist und ob dieses Symbol in Person aus der Familie der Hohenzollern, Wittelsbacher, Wettiner, Württemberger oder Zähringer entstammt oder Fehrenbach heißt, scheinen uns wirklich nicht die nächstliegendsten und noch weniger die schwerwiegendsten zu sein.“31 Die Druckerschwärze dieser Ausgabe des „Correspondenzblattes“ war noch nicht trocken, als diese aus Gewerkschaftssicht zweitrangige „Frage der Repräsentation“ durch die Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann und wenig später durch Karl Liebknecht am frühen Nachmittag des 9. November 1918 entschieden war. 4. DER SCHLÜSSELBEGRIFF „NATIONALVERSAMMLUNG“ Auch ein anderer Terminus, der sich ab dem 9. November 1918 urplötzlich zu einem der Schlüsselbegriffe der Novemberrevolution entwickeln sollte, nämlich Nationalversammlung, taucht in den Sitzungen der sozialdemokratischen Gremien vor diesem Wendedatum überhaupt nicht auf.32 Möglicherweise hatte hier tatsächlich Max von Baden oder vielleicht doch sein spiritus rector Curt Hahn das Copyright.33 Max von Baden selbst verweist auf einen Artikel in der „Vossischen Zeitung“ als 30 „Der Holzarbeiter“ Nr. 43 vom 25. Oktober 1918 („Neue Zeiten“). 31 „Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“ Nr. 45 vom 9. November 1918 („Zur Sicherung der Demokratie in Deutschland“). 32 Vgl. zur Thematik SPD und Nationalversammlung: Miller (1978): Bürde der Macht, S. 104– 115. 33 So jedenfalls deutet es Bollmeyer (2007): Der steinige Weg zur Demokratie, S. 186; vgl. zur Verortung der Nationalversammlung in der deutschen Geschichte: Gruhlich (2012): Deutsche Nationalversammlung.
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Urheber.34 Ursprünglich stammte der Vorschlag zur Einberufung einer Nationalversammlung aus der sich auflösenden Donaumonarchie, genauer aus Deutsch-Österreich. In einem Aufsatz in den „Sozialistischen Monatsheften“ wurde dieser Vorschlag von dem mehrheitssozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Ludwig Quessel aufgegriffen und in einem Satz eher beiläufig erwähnt.35 Dieser Aufsatz schien der „Vossischen Zeitung“ offensichtlich „höchst bemerkenswert“ zu sein, denn sie druckte Teile daraus unter der Überschrift „Gesamtdeutsche Nationalversammlung“ am 29. Oktober 1918 ab und wies in einem Vorspann ihre Leser darauf hin: „Von besonders hohem Interesse ist die Anregung Quessels, eine konstituierende Nationalversammlung der deutschen Nation zu bilden, die ihr die künftige Einheit geben soll“.36 Obwohl die „Vossische Zeitung“ als reichsweit gelesene liberale Tageszeitung eine weit größere Resonanz erreichte als die „Sozialistischen Monatshefte“, beherrschte die Wahl zu einer Nationalversammlung nicht den politischen Diskurs in diesen Wochen, worüber sich der Reichstagsabgeordnete Max Cohen vier Wochen später, ebenfalls in den „Sozialistischen Monatsheften“, beschwerte: „Der Gedanke einer gesamtdeutschen konstituierenden Nationalversammlung, der hier vor vier Wochen aufgeworfen war, aber wegen des geistigen Konservatismus der alten Parteien, auch der Sozialdemokratie, einen ganzen Monat lang sich nicht durchsetzen konnte, wurde nun plötzlich eine Selbstverständlichkeit“.37 Ganz offensichtlich aber war dieser Artikel Max von Baden oder seinen Beratern aufgefallen. Nach den „Erinnerungen“ des badischen Thronfolgers fragte er Friedrich Ebert bei der Übertragung der Kanzlerschaft am 9. November 1918, ob Ebert bereit sei, eine Nationalversammlung wählen zu lassen, was Ebert bejahte. Die Artikel in den „Sozialistischen Monatsheften“ reichen jedoch nicht aus, um ihren Verfassern, geschweige denn der Sozialdemokratie, Anerkennung für einen detaillierten Plan zur Umgestaltung Deutschlands zu zollen. Die Kombination Nationalversammlung plus Reichsverweserschaft war außerdem kein revolutionäres, ja nicht einmal ein originelles Konzept, sondern ein wortwörtliches historisches Zitat der Revolution von 1848. Wie sehr man an diese bürgerliche Revolution von 34 Vgl. Baden (1968): Erinnerungen und Dokumente, S. 565. 35 Die entsprechende Passage lautet: „Wird nun aber an die Stelle des österreichisch-ungarischen Reiches nichts anderes treten? Daß die deutschösterreichischen Landesteile ihre Wiedervereinigung mit Deutschland erstreben müssen, versteht sich eigentlich von selbst. Es wird Sache einer aus allen deutschen Volksteilen, die sich zu einem neuen Deutschen Reich zusammenschließen wollen, zu bildenden konstituierenden Nationalversammlung sein, der deutschen Nation ihre staatliche Einheit zu geben, die Grenzen des Reichs zu bestimmen und so eine wirklich deutsche Demokratie zu schaffen.“ Quessel (1918): Nation, Staat, Imperium, S. 1004f. 36 „Vossische Zeitung“ Nr. 553 vom 29. Oktober 1918 („Gesamtdeutsche Nationalversammlung“). Offensichtlich hatte Ludwig Quessel im letzten Drittel des Monats Oktober 1918 Grundzüge eines Friedensprogramms der SPD-Reichstagsfraktion entworfen und in einen längeren schriftlichen Antrag gepackt. Im Fraktionsprotokoll heißt es dazu lapidar: „Sie [die Fraktion, Anm. des Verfassers] beschließt, den Antrag auf die Tagesordnung einer der nächsten Sitzungen zu stellen.“ Zu einer Diskussion kam es nicht mehr. Vgl. Die Reichstagsfraktion, Bd. 2, S. 501–503. 37 Cohen (1918): Neuaufbau Deutschlands, S. 1041.
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1848/49 anzuknüpfen gedachte, wurde in zahlreichen Bezügen der Reden in Weimar deutlich, am prägnantesten in der ersten Rede von Hugo Preuß in der dritten Sitzung der Nationalversammlung vom 8. Februar 1919. Der linksliberale Staatssekretär des Innern stellte darin den Gesetzentwurf über die vorläufige Reichsgewalt – in dem übrigens weder die Worte Revolution noch Republik enthalten sind – vor und zitierte zu Beginn seiner Ansprache die Begrüßungsworte, mit denen Heinrich von Gagern 1848 die Abgeordneten der Paulskirche in Frankfurt am Main willkommen geheißen hatte.38 5. DIE KONTINUITÄT DES SYSTEMS Die Gegenüberstellung der beiden Reichstagsreden von Friedrich Ebert und Hugo Haase vom 22. und 23. Oktober 1918 in der Reichstagsdebatte über die Regierungserklärung Max von Badens könnte den Eindruck vermitteln, als sei die SPD konsequent systemerhaltend, die USPD ebenso konsequent systemüberwindend aufgetreten. Dieser Eindruck relativiert sich aber, wenn man die beiden letzten Reden, die von Reichstagsabgeordneten im kaiserlichen Reichstag gehalten wurden, miteinander vergleicht. Wieder waren es zwei Sozialdemokraten, der spätere Volksbeauftragte und Reichsjustizminister Otto Landsberg für die SPD und der führende Theoretiker des Revisionismus Eduard Bernstein für die USPD, die am 26. Oktober über die Verfassungsreformpläne sprachen.39 Beide kritisierten die Verfassungsreform als in Teilen nicht präzise genug formuliert, beide mahnten zusätzlich notwendige Reformen an, aber keiner von beiden lässt in seinem Beitrag erkennen, dass die geforderten Ziele nur durch und nach einer Revolution zu erreichen gewesen wären. Dieses Urteil würde sich vermutlich bei einem genaueren Blick in die Debatten des Verfassungsausschusses bestätigen. Noch am 22. Oktober 1918 hatte die USPD-Reichstagsfraktion ihren letzten Änderungsantrag zur Revision der kaiserlichen Reichsverfassung vorgelegt – ein überflüssiger Akt, wenn die Partei den Kollaps des Systems 18 Tage später erahnt hätte.40 Otto Landsberg sprach am Schluss seiner Rede einer Revolution in Deutschland jedwede Legitimation ab: Meine politischen Freunde haben stets das Recht der Völker auf Revolution anerkannt. Wenn eine Volksmehrheit von einer Minderheit geknechtet wird und die Rückständigkeit seiner Verfassung ihm nicht gestattet, sich auf gesetzlichem Wege zu befreien, dann darf es [das Volk, Anm. des Verf.] in den Himmel greifen und seine ewigen Rechte herunterholen, die droben hängen unveräußerlich. Aber nie hat eine Minderheit das Recht der bewaffneten Erhebung zum
38 Sten. Berichte der Verhandlungen der Nationalversammlung, 3. Sitzung vom 8. Februar 1919, S. 12. 39 Sten. Berichte der Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 13. LP, 197. Sitzung vom 26. Oktober 1918, S. 6290–6293 (Rede Landsberg) und S. 6293–6297 (Rede Bernstein). 40 Ebd., 13. LP, Anlagen, Bd. 325, Nr. 1978.
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Zwecke der Verhängung einer Diktatur, und am wenigsten hat sie dieses Recht, wenn ihr eine erfolgreiche, friedliche Mitarbeit am Bau des Fortschritts möglich ist.41
Und natürlich meinte Landsberg damit, dass sich diese erfolgreiche Mitarbeit der Sozialdemokratie am Bau des Fortschritts gerade innerhalb der Regierung Max von Baden und in konstitutionellen Bahnen vollziehe. Eduard David notiert in seinem Kriegstagebuch am 6. Oktober 1918, dass mit der Regierung Max von Baden „das neue Deutschland geboren wurde“.42 Dazu scheint übrigens der Satz von Friedrich Ebert in seiner Eröffnungsrede der Nationalversammlung am 6. Februar 1919 schlecht zu passen: „In der Revolution erhob sich das deutsche Volk gegen eine veraltete, zusammenbrechende Gewaltherrschaft“, denn gestürzt wurde am 9. November 1918 die von Friedrich Ebert selbst als solche bezeichnete und von der SPD mitgetragene „Regierung des Volksvertrauens“.43 Eduard David fährt in seinem Tagebucheintrag vom 6. Oktober 1918 fort: Mein Hauptziel: Die Losung der Partei sei bewußte Reformpolitik auf dem Boden des gegebenen Staates, scheint erreicht. Der Weg vom 4. 8. 14 bis 5. 10. 18 war schwer. Die Belastungsprobe war stark. Manchmal war ich selbst irre, ob es der richtige Weg sei. Aber was wäre mit der revolutionären Taktik erreicht worden? Die Herbeiführung des Verständigungsfriedens auf dem Wege des Bürgerkrieges barg furchtbarste Gefahren und Leiden und hätte womöglich mit dem Sieg der Reaktion geendet. Solange das zaristische Rußland bestand, sicher; danach möglicherweise auch. Ich glaube, wir handelten, weltgeschichtlich gesehen, richtig.44
Für Eduard David, Friedrich Ebert und viele andere führende Sozialdemokraten war mit der Parlamentarisierung des Reiches, mit der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, der Zuständigkeit für die Entscheidung über Krieg und Frieden durch den Reichstag etc. das politische Systemziel erreicht. Mit einer dann konstitutionellen Monarchie nach britischem Muster hätten die meisten Mehrheitssozialdemokraten sich arrangieren können. Verspielt wurde dieses Systemziel nicht von der Sozialdemokratie, sondern von der Intransigenz der Hohenzollern. Ergebnis war die von der SPD mal als Menetekel, mal als Sünde oder Katastrophe apostrophierte „Novemberrevolution“, deren Führung sie gezwungenermaßen übernahm, indem sie wortwörtlich über Nacht eine Revolutionsregierung installierte. 6. DIE KONTINUITÄT DES PERSONALS Der Rat der Volksbeauftragten war zwar an seiner Spitze eine rein sozialistische Regierung aus drei SPD- und drei USPD-Vertretern, die seit dem Ausscheiden der Unabhängigen Ende Dezember 1918 nur noch aus fünf Mehrheitssozialdemokraten 41 Ebd., 13. LP, 197. Sitzung vom 26. Oktober 1918, S. 6293. 42 Vgl. David (1966): Kriegstagebuch, S. 286. 43 Sten. Berichte der Verhandlungen der Nationalversammlung, 1. Sitzung vom 6. Februar 1919, S. 1. 44 Vgl. David (1966): Kriegstagebuch, S. 288.
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bestand, aber unterhalb dieser Ebene wurden die meisten Fachressorts von Politikern bürgerlicher Parteien geleitet. Diese Revolutionsregierung, so urteilt Friedrich Stampfer, unterschied sich „in ihrer Struktur eigentlich nur wenig von den späteren. Sie ist ein Zwitterding zwischen einer ‚rein sozialistischen‘ und einer Regierung der Weimarer Koalition.“45 Die aufgrund des Ergebnisses der Wahlen zur Nationalversammlung vom 19. Januar 1919 gebildete erste Reichsregierung der Weimarer Republik war dann eine lupenreine Weimarer Koalition, die sich personell durch eine große Kontinuität auszeichnete. An ihrer Spitze stand als Regierungschef, der bis zur Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung im August 1919 den Titel Reichsministerpräsident trug, der vormalige Staatssekretär ohne Geschäftsbereich der Regierung Max von Baden und Volksbeauftragte Philipp Scheidemann. Auch die sechs sozialdemokratischen Minister waren keine Neulinge: der Regierung Max von Baden hatten Gustav Bauer als Staatssekretär des Reichsarbeitsamtes und damit erster sozialdemokratischer Fachminister in der deutschen Geschichte angehört, ebenso Reichsernährungsminister Robert Schmidt als Unterstaatssekretär des (Kriegs-) Ernährungsamtes und der Reichsminister ohne Geschäftsbereich Eduard David als Unterstaatssekretär des Auswärtigen Amtes; Reichsjustizminister Otto Landsberg hatte seit November als Mitglied im Rat der Volksbeauftragten amtiert, Reichswehrminister Gustav Noske und Reichswirtschaftsminister Rudolf Wissell zogen Ende Dezember 1918 in dieses Gremium ein. Von den Ministern der bürgerlichen Parteien hatten Matthias Erzberger (nunmehr Reichsminister ohne Geschäftsbereich, vormals Staatssekretär auf dieser Position) und der aus den christlichen Gewerkschaften kommende Reichspostminister Johannes Giesberts (als Unterstaatssekretär im Reichsarbeitsministerium) ebenfalls der Regierung Max von Baden angehört. Ihre während der Regierung des Rates der Volksbeauftragten angetretenen Ämter hatten unter verändertem Titel behalten: Reichsaußenminister Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau und Reichsinnenminister Hugo Preuß. Lediglich zwei Minister des Kabinetts Scheidemann waren Homines novi ohne Regierungserfahrung: Reichskolonialminister Johannes Bell und Reichsschatzminister Georg Gothein. Diese auffallende, die Revolutionszeit überbrückende Kontinuität innerhalb der Exekutive wäre zu ergänzen durch diejenige an der Spitze des Parlamentes: Um nicht die drei wichtigsten Staatsämter allein mit Mehrheitssozialdemokraten zu besetzen, verzichtete Eduard David zu Gunsten des Zentrumspolitikers Constantin Fehrenbach, des letzten Präsidenten des kaiserlichen Reichstages, am 13. Februar 1919 auf sein Amt als Präsident der Nationalversammlung. Hugo Haase kritisierte, diese Wahl sei als Demonstration inszeniert worden, dass der revolutionäre Umbruch nicht notwendig gewesen sei: „Der Herr Präsident Fehrenbach versinnbildlicht und soll nach dem Wunsche der bürgerlichen Parteien versinnbildlichen die Kontinuität mit dem gesetzlichen Zustand vor der Revolution.“46 Der deutschnationale Abgeordnete Albrecht von Graefe hatte deshalb nicht ganz Unrecht, wenn er 45 Stampfer (1947): Vierzehn Jahre, S. 69. 46 Sten. Berichte der Verhandlungen der Nationalversammlung, 8. Sitzung vom 15. Februar 1919, S. 101.
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kaum Unterschiede zu dem „Regierungsblock“ Max von Badens sah, „der ja inzwischen aus seiner Asche in so schöner Verjüngung ziemlich unverändert wieder emporgestiegen ist“.47 Die Kontinuität des politischen Personals über die Revolution hinweg bedeutete naturgemäß nicht gleichzeitig eine Konvergenz der politischen Einstellung zur Revolution. Der nunmehrige Justizminister Otto Landsberg äußerte sich am 20. Februar 1919 in der Nationalversammlung über das „Recht auf Revolution“, das sein Vorredner, der Abgeordnete Wilhelm Kahl von der Deutschen Volkspartei, bestritten hatte: Wünschenswert ist eine Revolution nie; das gebe ich Ihnen ohne weiteres zu. Ich bin kein Revolutionsnarr. Sicher ist es gut, wenn die Verfassung eines Volkes so ausgezeichnet ist, daß es allmählich evolutionistisch fortschreiten kann. Die Entwicklung ist nicht antithetisch, sondern synthetisch. Die Weltgeschichte hat so wenig Neigung zu Sprüngen wie die Natur. Es ist durchaus wünschenswert, daß sich der natürlichen Entwicklung keine Hindernisse entgegenstellen, daß also Revolutionen nicht nötig sind. Aber wenn eine Mehrheit des Volkes von den Rechten, die sie auf die Welt mitgebracht hat, gewaltsam durch eine gewalttätige Minderheit ferngehalten wird, dann besteht das Recht der Mehrheit auf Revolution.48
Dass Otto Landsberg mit dieser Einschätzung seinen oben zitierten eigenen Worten vom 26. Oktober 1918 fundamental widersprach, fiel zumindest keinem anderen Debattenredner in Weimar auf. 7. FAZIT Am 9. November 1928 gedachte der „Vorwärts“ mit einer Titelzeichnung und einem Leitartikel von Reichstagspräsident Paul Löbe des zehnten Jahrestages der Novemberrevolution. Die Zeichnung zeigt einen riesigen Arbeiter, der sich mit der linken Hand auf eine vor ihm befindliche halbkreisförmige Mauer stützt, welche aus der Zahl und den Buchstaben „9. November“ gebildet wird. Im Hintergrund sind Fabrikgebäude mit zahlreichen Schloten zu erkennen. In der rechten Hand hält der Arbeiter einen Vorschlaghammer mit dem er wuchtig in eine Gruppe im Vergleich zu ihm sehr kleiner Menschen schlägt, die wild durcheinanderstieben oder durch die Luft gewirbelt werden. Die Flüchtenden sind als Bürger mit Zylinder und Spazierstock, als Soldaten oder Polizisten mit Pickelhaube, als Geistliche im Talar oder als Bajuwaren in Tracht mit Gamsbarthut kenntlich gemacht. Versinnbildlicht diese Zeichnung energische Entschlossenheit und Aktivität der Novemberrevolution, so steht der Artikel des Reichstagspräsidenten dazu in einem überraschenden Gegensatz.
47 Ebd., 10. Sitzung vom 18. Februar 1919, S. 153. 48 Ebd., 12. Sitzung vom 20. Februar 1919, S. 227.
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Abb. 1: Titelbild des „Vorwärts“ vom 9. November 1928 Wenn eine Revolution die gewaltsame Sprengung politischer Fesseln durch ein kraftvolles, freiheitsdurstiges Volk bedeutet, dann sind die Ereignisse des November 1918 nur schwer unter diesem geschichtlichen Begriff einzustellen. Nicht der Elan und das Zielbewusstsein der ‚Revolutionäre‘, sondern die absolute Kraft und Widerstandslosigkeit der alten Gewalten ist das kennzeichnende Merkmal der politischen Umwandlung vor zehn Jahren. Das Steuer fiel den alten Herrschern aus der Hand, es lag auf der Straße. Jeder, der sich danach bückte, konnte es aufheben – die bisherigen Steuerleute jedenfalls hätten ihn am wenigsten daran gehindert.49
Dieses Zitat beschreibt die historische Situation Anfang November 1918 ziemlich exakt. Da weder die Regierung Max von Baden noch die parlamentarische Monarchie gerettet werden konnten, sondern durch die „merkwürdige Revolution“ (Paul Löbe) beseitigt wurden, war es die Mehrheitssozialdemokratie, die sich als einzige nach dem nunmehr vakanten Steuer des Staates „bückte“, es aufhob und in die Hand nahm, um die Revolution zu kanalisieren und die aus ihrer Sicht bereits Anfang Oktober 1918 geborene Demokratie wieder in diejenigen parlamentarischen Bahnen zurückzuleiten, denen sie mit ihrer erstmaligen Regierungsbeteiligung selbst den Weg geebnet hatte. LITERATUR Baden, Prinz Max von: Erinnerungen und Dokumente, hrsg. von Golo Mann und Andreas Burckhardt, Stuttgart 1968. Benz, Elisabeth: Ein halbes Leben für die Revolution Fritz Rück (1895–1959). Eine politische Biografie, Essen 2014. Bieber, Hans-Joachim: Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Arbeiterbewegung, Industrie, Staat und Militär in Deutschland 1914–1920, Teil II, Hamburg 1981.
49 „Vorwärts“ Nr. 531 vom 9. November 1928 („Zehn Jahre Republik“).
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AUF DEMOKRATISCHEM WEG? Karl Kautsky und die Diktatur des Proletariats Mike Schmeitzner 1. EINLEITUNG: Im Gegensatz zu Lenin oder Trotzki ist Karl Kautsky heute nur noch Spezialisten oder Historikern bekannt:1 Dabei zählte der einstige Cheftheoretiker der deutschen Sozialdemokratie und der II. Internationale zu den namhaftesten Sozialisten der damaligen Zeit. 1854 in Prag geboren und 1938 im Exil in Amsterdam gestorben, galt der Begründer und langjährige Chefredakteur des SPD-Theorieorgans „Neue Zeit“ als wichtiger Ideengeber des Parteivorsitzenden August Bebel; die Parteiprogramme der deutschen Sozialdemokratie von 1891 (Erfurt) und 1925 (Heidelberg) sind untrennbar mit seinem Namen verbunden. Nach dem Ableben der „Klassiker“ Marx (1883) und Engels (1895) wurde Kautsky als deren wichtigster Interpret und geistiger „Nachlassverwalter“ betrachtet. Im Revisionismusstreit mit Eduard Bernstein, der wichtige Aussagen, Annahmen und Prognosen der „Klassiker“ zu revidieren versuchte, verteidigte Kautsky mit großer Vehemenz die marxistische Orthodoxie, was im fernen Russland selbst Lenin und Trotzki beeindruckte. Vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich Kautsky zum Verfechter eines „revolutionären Attentismus“: Aufgrund der relativen Besserstellung der Arbeiter und ihrer „negativen Integration“ in das bestehende System trat für ihn die revolutionäre Aktion hinter eine „politische Abwartehaltung“ und Revolutionsrhetorik zurück, die sich aus einer sozialökonomisch bedingten Hoffnung auf den Sozialismus speiste. Die Sozialdemokratie war für ihn zwar eine „revolutionäre, aber keine Revolution machende Partei“.2 Zu Ostern 1917 gehörte er schließlich zu den prominentesten Mitbegründern der USPD: Pazifistische Überzeugungen und antiimperialistische Überlegungen ließen ihn an die Seite des vormaligen paritätischen SPD-Vorsitzenden und jetzigen USPD-Vorsitzenden Hugo Haase treten, mit dem er sich freundschaftlich verbunden fühlte. Dass der neuen Partei auch sein früherer innerparteilicher Gegner 1
2
Zur Biographie und Bedeutung Kautskys vgl. etwa Morina (2017): Die Erfindung des Marxismus; Rojahn / Schelz / Steinberg (Hrsg.) (1992): Marxismus und Demokratie; Häupel (1993): Karl Kautsky; Mende (1985): Karl Kautsky; Koth (1993): „Meine Zeit wird wieder kommen…“. Zit. nach: Groh (1973): Negative Integration und revolutionäre Attentismus, S. 36.
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Bernstein (aus pazifistischen Gründen) und die weiter links von ihm stehende Rosa Luxemburg angehörten, zeigt in eindrücklicher Weise deren Heterogenität.3 Umso bemerkenswerter erscheint es, dass nach 1917 nicht etwa Bernstein zum schärfsten sozialistischen Kritiker der Bolschewiki und deren Diktatur aufstieg, sondern Kautsky.4 Dabei wäre eigentlich Bernstein, der schon 1898 die Diktatur des Proletariats als „Phrase“ verworfen und mit seinem Plädoyer für die parlamentarische Demokratie als Eigenwert geworben hatte, der berufenere Kritiker gewesen.5 Zumal Kautsky im Revisionismusstreit den Begriff der Diktatur des Proletariats gegen Bernstein verteidigt und auch später selbst verwendet hatte. Was also motivierte Kautsky zu seiner Kritik? Wurzelte der Konflikt womöglich in der unterschiedlichen Interpretation des Diktatur-Begriffs? Oder lässt sich gar von einer geistigen Weiterentwicklung Kautskys sprechen, die es ansatzweise rechtfertigen würde, ihn als „Renegaten“ zu bezeichnen – so wie es Lenin im Herbst 1918 tat, als er auf Kautskys erste größere Schrift gegen die diktatorische Praxis in Russland reagierte? Kurzum: In welcher Beziehung standen die Begriffe „Diktatur“ und „Demokratie“ für Kautsky? Und inwiefern wirkte sich die Spaltung der SPD auf diese Problematik aus? Anders als bei Jürgen Zarusky, Beate Häupel und Uli Schöler6 soll hier der Fokus nicht primär auf die Auseinandersetzungen mit den Bolschewiki und Kautskys Demokratie-Begriff gerichtet werden, sondern auf die Wandlungen seines Diktatur-Begriffs und auf Kautsky Wirken in der deutschen Revolution von 1918/19. 2. DER BEGRIFF DER DIKTATUR DES PROLETARIATS UND KAUTSKYS DEUTUNG Die Diktatur des Proletariats als Begriff und Legitimationsressource ist ein Produkt der staatssozialistischen Legitimationswissenschaften. Karl Marx und Friedrich Engels hatten den Begriff zwar mehrfach erwähnt, aber nicht detailliert ausgeführt und das Problem der politischen Institutionen weitgehend offen gelassen. Kennzeichnend ist, dass die „Klassiker“ den Begriff im Gefolge von niedergeschlagenen Revolutionen erwähnten (1848, 1871) oder aber – im Falle von Engels – nach 1890 im Zuge der SPD-Programmdiskussion. Folgt man der bekannten Begriffsdefinition von Marx (1875), dann charakterisierte diese spezifische Diktatur die revolutionär gestaltete Übergangsperiode zwischen kapitalistischer und klassenloser Gesellschaft, in der das Proletariat als Klasse die eigene Herrschaft aufrichten, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse in sozialistische umwandeln und dabei (gegebenenfalls) den Widerstand der zu enteignenden Bourgeoisie brechen sollte. Im Zuge dieser Übergangsperiode sollte der Staat, der nach Marx und Engels immer 3 4 5 6
Zur Geschichte der USPD vgl. Morgan (1975): The Socialist Left and the German Revolution. Vgl. Zarusky (2007): Demokratie oder Diktatur, S. 49–68. Bernstein (1921): Voraussetzungen des Sozialismus, S. 182. Schöler (1990): „Despotischer Sozialismus” oder „Staatssklaverei”?, S. 290–315.
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Unterdrückungsinstrument einer Klasse war, die oben genannten Aufgaben als proletarischer Staat realisieren und dann verschwinden – oder besser gesagt: er sollte „absterben“ – damit sollte dann auch sukzessive jegliche Klassenherrschaft aufgehoben werden, und zwar auch die proletarische.7 Allerdings blieb bei diesem tendenziell utopischen Projekt die Frage nicht zufriedenstellend beantwortet, wer genau die Macht ergreifen und die neue Herrschaft aufzurichten hatte – das Proletariat als Klasse oder seine politische Vorhut? Zudem schien nicht wirklich klar, auf welchem Wege die neue Klassenherrschaft aufgerichtet werden sollte – auf dem Wege eines (gewaltsames) Umsturzes oder demokratischer Wahlen? Marx und Engels haben diese Fragen zeit- und länderabhängig unterschiedlich beantwortet – mal im blanquistischen Sinne (1850) als Minderheitendiktatur, mal als Klassendiktatur in demokratischer Gewandung. Im Nachgang interpretierten beide „Klassiker“ die Pariser Kommune (1871) – eine kommunale Räte-Republik mit allgemeinem Wahlrecht – als eine Form der Diktatur des Proletariats.8 Für beide schien es überdies nur konsequent, dass sich ein proletarischer Staat ganz von selbst zurück- bzw. umbilden würde. Wie sich dies im Angesicht gesteigerter Staatskompetenzen (z.B. auf wirtschaftlichem Gebiet) realistischer Weise vollziehen sollte, blieb freilich ihr Geheimnis. Nach Marx’ Tod (1883) hat sich der späte Engels (1890–1895) die Diktatur des Proletariats nur mehr in Form einer demokratischen Republik mit allgemeinem Wahlrecht vorstellen können, was direkt im Zusammenhang mit den scheinbar unaufhaltsam fortschreitenden Wahlerfolgen der deutschen Sozialdemokratie zu sehen ist.9 Engels letzter Hinweis auf das allgemeine Wahlrecht als das „Werkzeug der Befreiung“10 hatte auch für dessen langjährigen Freund Karl Kautsky insofern Bedeutung, als der sich in seiner Wahrnehmung des Parlamentarismus als das definitive „Instrument der Diktatur des Proletariats“ bestätigt fühlen konnte. Schon 1893 hatte sich Kautsky über die Lage im halbabsolutistischen Deutschland folgendermaßen geäußert: Meiner Meinung nach leiden wir in Deutschland nicht an zuviel, sondern an zu wenig Parlamentarismus, und es wird die Aufgabe des Proletariats sein, nachzuholen, was die deutsche Bourgeoisie in ihrer Feigheit versäumt, ein wirkliches parlamentarisches Regime zu schaffen. […] Für die Diktatur des Proletariats kann ich mir aber eine andere Form nicht denken, als die eines kraftvollen Parlaments nach englischem Muster mit einer sozialdemokratischen Mehrheit und einem starken und bewussten Proletariat hinter sich.
7
Vgl. Marx (1962): Randglossen, S. 28; Schmeitzner (2017): Diktatur des Proletariats, S. 1420– 1424; Euchner (1990): Degradierung der politischen Institutionen, S. 487–505; Hobsbawm (2012): Wie man die Welt verändert, S. 72. 8 Vgl. Engels (1963), Einleitung zu Marx’ „Bürgerkrieg in Frankreich“, S. 199; Sieferle (1979): Die Revolution in der Theorie von Karl Marx, S. 89–97 und 232. 9 Vgl. Engels (1963): Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfes 1891, S. 235. 10 Engels (1963): Einleitung zu Marx’ Klassenkämpfe in Frankreich, S. 519.
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Kautsky betrachtete den Kampf um einen „wirklichen Parlamentarismus“ als „Entscheidungskampf der sozialen Revolution“ und erwartete hier den „Sieg des Proletariats“.11 Anders als Eduard Bernstein und Friedrich Stampfer, die den Begriff der Diktatur des Proletariats aufgrund der ihr innewohnenden mangelnden Trennschärfe ablehnten,12 folgten Kautsky und Rudolf Hilferding dem späten Engels bei seinem Versuch, die Grenzen zwischen Demokratie und Diktatur aufzulösen. Für beide blieb der Begriff jedoch bis in den Ersten Weltkrieg hinein von eher untergeordneter Bedeutung.13 Doch war es gerade Kautsky, der auf dem ersten Höhepunkt der Revisionismus-Debatte und in der scharfen Auseinandersetzung mit Bernstein den Begriff selbst genauso wenig wie dessen repressive Tendenzen gänzlich aufgeben wollte. In seinem damals weit verbreiteten Werk „Bernstein und das sozialdemokratische Programm“ (1899) – dem „Anti-Bernstein“ – wandte sich Kautsky vehement gegen die Ankündigung Bernsteins, auf den Begriff der Diktatur des Proletariats zu verzichten: Bernstein weist den Gedanken einer Diktatur des Proletariats entrüstet zurück. Ob man mit Elementen nach der Art der preußischen Junker, der Stumm und Kühlmänner, der Rockefeller und Jay Gould, der höheren und niederen Banditen, die sich um den französischen Generalstab sammeln, und anderer nach einer schneidigen Politik lüsterner Patrone auf dem Wege vollster Achtung vor ihrer Individualität fertig wird, erscheint mir etwas fraglich. Und nichts deutet darauf hin, daß die Gegensätze sich mildern und abschleifen. Im Gegentheil! Ich will nicht darauf schwören, daß die Klassenherrschaft des Proletariats die Formen einer Klassendiktatur annehmen muß. Aber daß die demokratischen Formen bereits genügen, die Klassenherrschaft des Proletariats für seine Emanzipation überflüssig zu machen, wird durch die bisherige Praxis und ihre weiteren Aussichten keineswegs bewiesen.14
Was in diesen entscheidenden Sätzen und in den letzten Kapiteln des „Anti-Bernstein“ anklang, war von mehrschichtiger Bedeutung: Erstens hielt Kautsky am Begriffs der Diktatur des Proletariats fest. Doch plädierte er zweitens für eine Differenzierung zwischen Diktatur und Herrschaft, die die „Klassiker“ häufig genug nur synonym betrachtet hatten; wenn man will, kann man hier die Urform seiner späteren Differenzierung (der Diktatur) als „Zustand“ und „Regierungsform“ erkennen, wobei er 1899 noch beide Formen als legitim erachtete. Im Anschluss daran postulierte er jedoch drittens die Diktatur („Regierungsform“) als Möglichkeitsform und nicht als Zwangsläufigkeit. Viertens verteidigte er damit aber auch den repressiven Charakter der (eventuell notwendigen) Diktatur, um im Ernstfall den Widerstand von Kapitalmagnaten und reaktionären Klassenkräften („Junker“!) zu brechen. 11 Zitiert nach Grosser (1970): Vom monarchischen Konstitutionalismus zur parlamentarischen Demokratie, S. 33f. und 88. 12 Bernstein: Voraussetzungen, S. 182; Stampfer (1910): Grundbegriffe der Politik, S. 104–109. 13 Kautsky verwendet ihn in seinem Buch „Der Weg zur Macht“ (1909) an einer einzigen, allerdings prominenten Stelle, dasselbe trifft auf Hilferdings Werk „Das Finanzkapital“ (1909) zu, in dem nur auf der letzten Seite der Begriff erwähnt wird, dort freilich als Gegenbegriff zur „Diktatur des Finanzkapitals“. 14 Kautsky (1976): Bernstein und das sozialdemokratische Programm, S. 172.
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Fünftens definierte er die „politische Herrschaft des Proletariats“ als eine „Herrschaft seiner Elite“, nämlich der Partei beziehungsweise Teile derselben.15 Und schließlich zeigte er sich sechstens gegenüber Bernsteins Postulat einer Berücksichtigung „der Rechte der [politischen] Minderheiten“ recht unempfindlich.16 Vor dem Hintergrund dieser Postulate und seiner Aussage, dass eine „fortschrittliche Demokratie“ in einem modernen Industriestaat „nur noch als proletarische Demokratie“ möglich sei,17 fällt es schwer, Kautskys damaligen DemokratieBegriff in die Nähe eines tendenziell pluralistischen, mit Minderheitenrechten und Gewaltenteilung ausgestatten Demokratie-Modells zu rücken.18 Kautskys Weltbild hatte also einen mehr oder weniger ambivalenten Charakter, was nicht zuletzt in seiner Schrift „Der Weg zur Macht“ (1909) zum Ausdruck kam.19 3. DIE BOLSCHEWIKI AN DER MACHT UND KAUTSKYS STELLUNGNAHME Es war kein Zufall, dass Kautskys „Anti-Bernstein“ in der russischen Sozialdemokratie auf breiten Widerhall stieß. Vor allem in den Auslandszirkeln um Georgi Plechanow sowie im Umkreis der Verfolgten und Verbannten in Sibirien bot das Buch 1899 reichlich Nahrung. Einer der großen Nachwuchshoffnungen der recht spät gegründeten und durch die Repressionen des zaristischen Geheimdienstapparates noch immer disparat gebliebenen russischen Sozialdemokratie, nämlich Wladimir Uljanow (der sich später Lenin nannte), nahm sich des Bandes umgehend an: Er übersetzte den „Anti-Bernstein“ zusammen mit seiner Lebensgefährtin Nadeshda Krupskaja in nur wenigen Tagen in der sibirischen Verbannung ins Russische. Kautsky wurde Lenins „Idol“, weil er – nicht nur mit diesem Buch – einem vermeintlichen Opportunismus (Bernstein) Widerstand entgegensetzte. Kautskys Verhalten – sein Widerspruch gegen eine Anpassung an den (vermeintlichen) Zeitgeist, das heißt gegen eine Transformation der Sozialdemokratie von einer revolutionären in eine reformatorische Kraft, die sich an (bürgerlichen) Koalitionsregierungen beteiligte – imponierte Lenin und Plechanow.20 Beide russische Sozialdemokraten attackierten das ‚Bernsteinianertum‘ auf das Heftigste und verabsolutierten Kautskys Aussagen vor dem Hintergrund der eigenen russischen Tradition und Wirklichkeit. Auf dem Exil-Parteitag der russischen 15 16 17 18
Ebd., S. 194. Ebd., S. 171. Ebd., S. 193. So vor allem Häupel: Karl Kautsky, S. 69–72 und 78. Kautskys Aussagen zur eventuell notwendigen repressiven Praxis einer Diktatur des Proletariats werden hier nicht weiter diskutiert. 19 In diesem Werk hielt Kautsky weitgehend an den Vorstellungen von 1899 fest, die Diktatur des Proletariats wurde mit Verweis auf Marx und Engels als notwendige „politische Alleinherrschaft“ des Proletariats gewürdigt. Kautsky (1910): Der Weg zur Macht, S. 20. 20 Schmeitzner (2017): Lenin und die Diktatur des Proletariats, S. 23f.; Service (2002): Lenin, S. 184; Geyer (1964): Lenin und der deutsche Sozialismus, S. 86f.
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Sozialdemokratie von 1903 verankerten Plechanow, Lenin und die übrigen Mitglieder der Iskra-Gruppe den Begriff der Diktatur des Proletariats im neuen Parteiprogramm, was angesichts der Minoritätenrolle des russischen Proletariats besonders merkwürdig anmutete. Lenin mehr noch als Plechanow plädierte bereits auf diesem Forum für einen Wahlrechtsentzug für das Bürgertum. Ein Jahr zuvor hatte Lenin in seiner Programmschrift „Was tun?“ Kautskys Aussagen über eine Elite (Partei) und den Einfluss eines von außen einströmenden revolutionären Bewusstseins auf das Proletariat mit den geistigen Traditionen der revolutionären russischen Intelligentsja verschmolzen. Von nun ab bestimmten die abgeschotteten Zirkel der Berufsrevolutionäre und die von ihnen geführte Kaderpartei das Weltbild des Revolutionärs. Da in Lenins Denken die Machterringung zur zentralen Frage avancierte, nahmen für ihn Gewalt und Voluntarismus einen besonderen Stellenwert ein. Die erstmals in der Revolution von 1905 in Erscheinung getretenen Räte (Sowjets) hatten für ihn einen vornehmlich instrumentellen Charakter.21 Schon 1906 definierte er Diktatur als „eine unbeschränkte, außergesetzliche, sich auf Gewalt im direkten Sinne des Wortes stützende Macht“,22 wobei er als Machtinstrumente dieser Diktatur die eigene Partei und die von ihr geführte „provisorische revolutionäre Regierung“ betrachtete.23 Mit diesen Vorstellungen, zu denen auch die taktische Variante einer „revolutionär-demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern“ zählte,24 trat Lenin nach seiner Rückkehr nach Russland (April 1917) politisch in Erscheinung. Anders als seine politischen Mitbewerber, Liberale und Sozialisten (Sozialrevolutionäre, Menschewiki), aber selbst Teile der eigenen Partei (Bolschewiki), verfügte Lenin über ein einigermaßen stringentes Programm und den eisernen Willen zur Macht. Angesichts des politischen Versagens dieser Mitbewerber – sie beriefen nach der Februarrevolution weder umgehend eine Nationalversammlung (Konstituante) ein noch schlossen sie Frieden oder setzten eine umfassende Landreform in Gang – bekamen die Bolschewiki mit ihren Thesen (sofortiger Frieden, Landreform, sozialistischer Umbau der Wirtschaft) sukzessive Zulauf. Der militärische Aufstand gegen eine desorganisierte Regierung traf daher im Oktober 1917 nur auf geringen Widerstand; die Bestätigung des Machtergreifungscoups durch die prekäre Mehrheit eines Rätekongresses wie auch die sofort veröffentlichten Dekrete über den Frieden und eine Landreform sicherten den Bolschewiki und ihrer „provisorischen revolutionären Regierung“ die notwendige Atempause im eigenen Land. Dass die Führer der Bolschewiki, vor allem Lenin und Trotzki, unter der Parole der „Diktatur des Proletariats“ (die Bauern kamen in diesem Postulat bald nicht mehr vor) rasch daran gingen, die Herrschaft ihrer eigenen Partei – der Bolschewiki – aufzurichten, eine neue Geheimpolizei (Tscheka) gründeten (Dezember 21 Vollrath (1970): Lenin und der Staat. Zum Begriff des Politischen bei Lenin, S. 22 und 32; Schmeitzner (2017): Lenin und die Diktatur des Proletariats, S. 25–31 und 34f. 22 Lenin (1958): Der Sieg der Kadetten, S. 241. 23 Vgl. Schmeitzner (2017): Lenin und die Diktatur des Proletariats, S. 32–34. 24 Faktisch als Vorstufe (und noch mit Unterstützung dieser sozialen Klientel) einer Diktatur des Proletariats.
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1917), zuerst die bürgerlichen Parteien unterdrückten, wenig später auch die sozialistischen und im Januar 1918 die spät einberufene Konstituante militärisch auseinanderjagten, weil sie dort nur zweitstärkste Partei geworden waren, rief schnell auch außerrussische Kritiker auf den Plan. In Deutschland, und hier insbesonders in der USPD, zählten der deutsch-russische Sozialist Alexander Stein und Kautsky zu den frühesten und schärfsten Kritikern. Sie äußerten sich in der „Leipziger Volkszeitung“ (LVZ) der USPD und in der von Rudolf Breitscheid herausgegebenen Zeitschrift „Sozialistische Auslandspolitik“. Während Stein noch vor der Zerschlagung der Konstituante die Demokratiedefizite der Regierung der Bolschewiki ansprach – seiner Meinung nach herrsche dort nur die Lenin-Trotzki-Gruppe25 – wollte Kautsky Ende 1917 noch nicht den Stab über die neue Regierung brechen: Er lobte deren Friedensbereitschaft, zeigte sich aber skeptisch, wie denn die Diktatur des Proletariats in einem bäuerlich geprägten Land realisiert werden sollte, selbst wenn sich die Bolschewiki auf den „revolutionären Teil der Bauernschaft“ stützen würden.26 In der weiteren innerparteilichen Diskussion der USPD standen sich Kritiker (neben Kautsky und Stein vor allem Bernstein und Heinrich Ströbel) und Verteidiger der Bolschewiki (Clara Zetkin, Franz Mehring, Alfred Henke u. a.) bald schon unversöhnlich gegenüber.27 Die fundierteste Kritik aber lieferte im Spätsommer 1918 Kautskys 63-seitige Broschüre „Die Diktatur des Proletariats“, deren Erscheinen der USPD-Vorsitzende Haase zu verhindern versucht hatte.28 Kautskys „beeindruckend geschlossene Argumentation“29 machte sowohl auf die gravierenden demokratischen Legitimationsprobleme des neuen Staates als auch auf die fehlenden sozialökonomischen Voraussetzungen in Russland aufmerksam. Auf beiden Ebenen versuchte Kautsky im Anschluss an Marx zu argumentieren: Sozialökonomisch betrachtet hätten „unsere bolschewistischen Freunde“ wohl vergessen, dass ihre Diktatur des Proletariats, „die sie predigen und üben, […] nichts anderes als ein grandioser Versuch“ sei, „naturgemäße Entwicklungsphasen zu überspringen und wegzu[de]kretieren“. In einem Land mit bäuerlicher Prägung und proletarischer Minderheit bedeute das bolschewistische Experiment – verglichen mit einer schwangeren Frau – nichts anderes als eine abgekürzte „Schwangerschaft“, die unweigerlich zur „Frühgeburt“ führt.30 Mit Blick auf Marx’ Thesen über den notwendigen Reifegrad der gesellschaftlichen Verhältnisse für eine proletarische Diktatur 25 Vgl. Stein (1917): Demokratie oder Diktatur? 26 Kautsky (1917): Die Erhebung der Bolschewiki, vgl. auch Schmeitzner (2017): „Demokratie oder Diktatur“? 27 Zu dieser Diskussion vgl. jetzt die Edition von Schütrumpf (Hg.) (2017): Diktatur statt Sozialismus; Rosa Luxemburgs im Frühherbst 1918 formulierter Debattenbeitrag „Zur russischen Revolution“ spielte dabei keine Rolle, da dieser erst 1921 veröffentlicht wurde. 28 Haase an Kautsky vom 6.8.1918. In: Haase (Hg.) (1929): Hugo Haase, S. 162. Als Grund nannte Haase die bedrängte Lage der Bolschewiki. 29 Zarusky (1992): Die deutschen Sozialdemokraten und das sowjetische Modell, S. 54. 30 Kautsky (1918): Diktatur des Proletariats, S. 43.
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widerspreche also die aktuelle bolschewistische Diktatur genau dieser „Marxschen Lehre“.31 Aber auch in demokratietheoretischer Hinsicht sei Lenins Diktatur keine Diktatur in Marxscher Perspektive: Marx habe noch in seinen Arbeiten über die Pariser Kommune das allgemeine Stimmrecht der Bevölkerung betont – die „Regierungsgewalt sollte dem allgemeinen Stimmrecht unterworfen werden“.32 Die Bolschewiki hätten nun das Gegenteil durchgeführt: Sie hätten die nach allgemeinen und demokratischen Wahlrecht gewählte Konstituante auseinandergejagt, weil sie dort über keine Mehrheit verfügte; die im Juli 1918 verabschiedete Sowjetverfassung würde hingegen erhebliche (bürgerliche) Teile der Wählerschaft vom Rätewahlrecht ausschließen – sie sei mithin undemokratisch. Diese Art „Willkür“33 habe Marx bei seiner Definition der Diktatur des Proletariats niemals vorgeschwebt: Unter eine solchen Diktatur habe Marx nämlich einen „gesellschaftlichen Zustand“ begriffen, nicht aber eine „Regierungsform“.34 Die Herrschaft beziehungsweise Diktatur des Proletariats könne also auf demokratisch-parlamentarischen Weg bewerkstelligt und auch aufrechterhalten werden, aber eben nur in dazu gesellschaftlich reifen Staaten. Letzten Endes könne eine proletarisch-sozialdemokratische Mehrheit in der parlamentarischen Demokratie als proletarische Diktatur bezeichnet werden. Die in Russland jetzt herrschende Partei der Bolschewiki habe im Namen des Proletariats, aber nicht einmal als dessen stärkste Partei, eine bürokratisch organisierte Herrschaft über das Proletariat und andere soziale Klassen aufgerichtet.35 4. LENINS REAKTION UND STAMPFERS KALKÜL Kautskys vernichtende Analyse ließ den Führer der Bolschewiki und Chef des Rats der Volkskommissare nicht lange ruhen: Von einem Attentat im Sommer 1918 kaum genesen, ließ Lenin noch im Oktober 1918 eine erste Antwort als Artikel in der Parteizeitung „Prawda“ verbreiten, die den Tenor der Auseinandersetzung vorgab: „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“. Am 10. November 1918 – einen Tag nach Revolutionsausbruch in Deutschland – schloss der Sowjetführer ein längeres Manuskript ab, das denselben Titel trug und wenig später im Druck erschien. Lenins Antwort darf getrost als „publizistischer Vatermord“36 an einem Mann verstanden werden, den er über Jahre hinweg zitiert und verehrt hatte und der ihm jetzt in den Rücken zu fallen schien; vor allem deswegen verhöhnte er ihn nun als „Dutzendliberalen“, „parlamentarischen Kretin“, „Dummkopf“ und 31 Ebd., S. 60. 32 Ebd., S. 21. 33 Ebd., S. 37. 34 Ebd., S. 21. 35 Ebd., S. 60. 36 Schmeitzner (2017): Lenin und die Diktatur des Proletariats, S. 69.
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„Renegaten“, dessen Analysen „süßliche Naivität“ ausströmten sowie „ekelerregend“ und „schwachsinnig“ seien.37 Gewiss war Lenins Schrift vor allem eine üble Suada auf den „Renegaten Kautsky“, doch finden sich in ihr auch partiell zutreffende Kritikansätze, die einer Überprüfung lohnen. Lenins Versuche, die Diktatur des Proletariats als „Wesen der Marxschen Lehre“ auszugeben, waren dabei gewiss ebenso unzutreffend wie viele seiner Behauptungen nicht bewiesen werden konnten (etwa jene, die proletarische Diktatur sei „millionenfach demokratischer“ als „jede bürgerliche Demokratie“38). Doch legte er den Finger in die Wunde, als er Kautsky vorhielt, die einer proletarischen Diktatur zwangsläufig innewohnenden repressiven Tendenzen durch den bloßen Hinweis auf die „reine Demokratie“ und deren Chancen zu negieren.39 Zweifellos hatten Marx, Engels und auch Kautsky zu keiner Zeit die Diktatur als „eine sich unmittelbar auf Gewalt stützende Macht, die an keine Gesetze gebunden ist“, definiert, wie dies Lenin 1918 tat.40 Doch existierte in der Frage von Repression und Diktatur zwischen dem Marx-Adepten Kautsky von 1899 („AntiBernstein“) und 1909 („Der Weg zur Macht“) und dem von 1918 („Die Diktatur des Proletariats“) erhebliche Differenzen: Denn Kautsky hatte damals keineswegs die repressive Seite einer solchen Herrschaft/Diktatur verneint – im Gegenteil hatte er sie für eine Beseitigung von Kapitalmagnaten und deren Macht als eher zielführend begriffen. Jetzt – im Jahre 1918 – sprach er auch nicht mehr von „proletarischer Demokratie“ wie noch 1899, sondern nur noch von „reiner Demokratie“. In der Sphäre des Politischen („Regierungsform“) betrachtete er Demokratie und Diktatur jetzt sogar als Gegensatz: Herrsche auf der einen Seite Diskussionsfreiheit, werde auf der anderen Seite eine „gewaltsame Unterdrückung“ jeder anderen Ansicht praktiziert.41 Darauf fußend folgte ein weiteres (konsequentes) Bekenntnis: Ein „modernes Staatswesen“ basiere auf dem allgemeinen Wahlrecht und auf dem „Schutz der Minoritäten, der Opposition im Staate“.42 1899 hatte er sich noch über derartige Überlegungen seines Widersachers Bernstein belustigt gezeigt, jetzt überzog ihn Lenin für solche (neuen) Erkenntnisse seinerseits mit Hohn und Spott.43 Die Tatsache, dass eine Klasse nur „herrschen, aber nicht regieren“ könne, da diese doch nur eine „formlose Masse“ sei – regieren könne nur eine Organisation44 – hatte Kautsky auch schon 1899 gewusst: Nicht das Proletariat werde die „politische Herrschaft“ zu realisieren haben, sondern dessen politische Vorhut, die „Elite“, nämlich die Partei. Diese alte Erkenntnis war jetzt durch neuere Entwicklungen entscheidend modifiziert worden: 1917 hatte sich die „Elite“ (Partei) in 37 Lenin (1970): Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, S. 225, 229, 234 und 265. 38 Ebd., S. 248. 39 Ebd., S. 184. 40 Ebd., S. 234. 41 Kautsky: Diktatur, S. 4f. 42 Ebd., S. 14f. 43 Vgl. Lenin: Renegat Kautsky, S. 243. 44 Kautsky (1918): Diktatur, S. 15.
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MSPD und USPD gespalten, in Russland herrschte sogar die eine sozialistische Partei (Bolschewiki), während die andere sozialistische (Menschewiki) politisch unterdrückt war. Für Kautsky ergab sich daraus die folgerichtige Konsequenz: „Parteien und Klasse brauchen also nicht zusammenfallen. Eine Klasse kann sich in verschiedene Parteien spalten, eine Partei aus Angehörigen verschiedener Klassen bestehen.“ Doch selbst wenn Klassenherrschaft und Parteiherrschaft zusammenfallen sollten, sei dies kein Endzustand, da „viel rascher als die Herrschaft der Klassen“ in einer Demokratie die „Regierung der Parteien“ wechsele.45 Der Wechsel von „Majoritäten“ erschien für ihn jetzt als etwas Selbstverständliches; in der Demokratie könne sich „kein Regime auf ständige Dauer einrichten“.46 Kein Zweifel: In Kautskys politischem Denken hatte sich eine Liberalisierung vollzogen, und damit eine starke Annäherung an Positionen des ehemals bekämpften Bernstein. Indem Kautsky den Diktaturbegriff in die Sphäre des „gesellschaftlichen Zustandes“ verlagerte, vermochte er ihn in der Sphäre des Politischen durch den Begriff der modernen pluralistischen Demokratie zu ersetzen. Dies war eine bemerkenswert geschickte Begriffsdiversifizierung, die einerseits versuchte, Marx’ Erbe weiterzutragen, ja sich selbst (und nicht die Bolschewiki!) zum legitimen Marx-Erben zu erklären, und andererseits die politische Moderne in das eigene Konzept zu integrieren. Doch eine solche Begriffsaufspaltung musste problematisch bleiben, da sich eine (vermeintliche) Dialektik von (gesellschaftlicher) Klassendiktatur und moderner Demokratie nur schwer in Einklang bringen ließ. Noch allerdings war Kautsky nicht bereit, sich vollends vom Diktaturbegriff zu distanzieren. Dessen ungeachtet erschienen der MSPD die Broschüre Kautskys und die ersten harten Distanzierungen aus den Reihen der USPD wie eine politische Steilvorlage, die sie nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte. Am 21. Oktober 1918, also noch vor dem Ausbruch der Revolution in Deutschland, veröffentlichte Friedrich Stampfer, der Chefredakteur des MSPD-Zentralorgans „Vorwärts“, einen Leitartikel („Diktatur oder Demokratie?“), der die ohnehin schon tief zerklüftete Front der Unabhängigen weiter auseinanderreißen sollte. Stampfers Blatt lobte Kautskys Ausführungen in den höchsten Tönen; es gäbe, so der Leitartikel, „kaum ein Wort, das wir nicht unterschreiben möchten“, und es fände sich in Kautskys „Abrechnung mit dem Bolschewismus mancher Satz, den wir hier nachdrücklichst unterstreichen wollen“. Der Artikel würdigte Kautskys Versuche, den „bolschewistischen Mißbrauch der Marxschen Formel von der ‚Diktatur des Proletariats‘“ anzuprangern; gleichzeitig fragte er die USPD, wo denn deren klare Linie hinsichtlich der Frage Diktatur und Demokratie eigentlich sei. Wolle sie – wie die Bolschewiki – das allgemeine Wahlrecht abschaffen oder aber an diesem Grundsatz – wie die MSPD – festhalten? Eine Partei wie die USPD, die sich mit der „einen Hälfte zu bolschewistisch-diktatorischen“ und mit der anderen Hälfte „zu marxistisch-sozialdemokra 45 Ebd., S. 16. 46 Ebd., S. 15.
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tischen“ Auffassungen bekenne, sei ein „Unding, Spott und Schaden für die ganze Arbeiterbewegung“.47 Doch damit nicht genug, ließ Stampfer vier Tage später, am 25. Oktober 1918, einen weiteren publizistischen Brandbeschleuniger in die USPD-Reihen werfen: Sein Blatt [!] veröffentlichte nämlich Lenins ersten großen Anti-Kautsky-Artikel exklusiv,48 was den Druck auf die USPD, sich für Kautsky oder Lenin erklären zu müssen, noch einmal dramatisch erhöhte. Die Presse der USPD reagierte innerlich zutiefst zerrissen, was auch gar nicht anders zu erwarten gewesen war. Den Anfang machte die LVZ49 mit einer „notwendigen Verwahrung“, die sich aber gar nicht so sehr auf die inhaltliche Seite der Lenin-Replik bezog, sondern nur auf die unflätigen Anwürfe gegen Kautsky und den Vorwurf des Renegatentums. Inhaltlich lobte die LVZ Kautskys Schrift als „ernste wissenschaftliche Arbeit“, doch könne man „nicht allem, was Genosse Kautsky in seiner Schrift ausführt, zustimmen“; man sehe „die Methoden der russischen Genossen mit anderen Augen als er“.50 Breitscheits „Sozialistische Auslandspolitik“ wollte zwar inhaltlich nicht soweit gehen wie die LVZ, registrierte aber sorgsam Stampfers Versuch, den Keil noch tiefer in die USPD zu treiben, als eine echte Gefahr für die Partei. Doch spiegelten Breitscheids Abwiegelungsversuche – der „Vorwärts“ verbreite ein vergiftetes Lob, dies alles sei ein „plumpes und durchsichtiges Manöver“, die „russischen Methoden“ stünden heute nicht „als erster Punkt auf der Tagesordnung“ – nur einmal mehr die offene Flanke der USPD. Und auch sein Gegenangriff – die MSPD solle doch einmal ihren eigenen Bruch mit „der Idee der Diktatur des Proletariats“ erklären51 – ging weit ins Leere, da keiner ihrer führenden Politiker vor 1914 dieser Idee je das Wort geredet hatte. Für Stampfers „Vorwärts“ blieb der USPD-Politiker Kautsky eine Art Kronzeuge gegen die eigene Partei. Dieses Kalkül sollte die USPD zuerst in der Presse, dann in den Parlamenten weiter begleiten. Der Ausbruch der Revolution in Deutschland stellte die USPD – und allen voran Kautsky – nun ganz praktisch vor die Frage, wie sie denn die Diktatur des Proletariats definieren sollten.
47 Ohne Autor (1918): „Demokratie oder Diktatur“. Der Artikel war ungezeichnet, doch dürfte er mit großer Sicherheit von Stampfer selbst stammen, der sich bereits seit 1910 und wiederholt seit Anfang 1918 mit der Theorie der proletarischen Diktatur im „Vorwärts“ auseinandergesetzt hatte. 48 Vgl. Lenin (1918): Die Proletarier-Revolution und der Renegat Kautsky. 49 Die LVZ nahm bis zur Gründung eines eigenen USPD-Zentralorgans am 15.11.1918 („Freiheit“) diese Funktion quasi mit wahr. 50 Ohne Autor (1918): „Eine notwendige Verwahrung“. Dieser Artikel wurde auch in der peripheren Regionalpresse der USPD verbreitet; so am 2.11.1918 im Generalanzeiger für das Herzogtum Gotha, Eisenach und Umgebung, dem Ersatzblatt für das vordem verbotene Gothaer Volksblatt. Ich danke Mario Hesselbarth für den Hinweis auf diesen Artikel. 51 Breitscheid (1918): Amtliche Sozialdemokratie, S. 1f.; vgl. auch ders. (1918): Methoden der Abhängigen, S. 1f.
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5. GEGEN DIE DIKTATUR ALS REGIERUNGSFORM: KAUTSKYS STELLUNG IN DER DEUTSCHEN REVOLUTION Kautsky jedenfalls blieb sich auch nach dem 9. November treu: In einem seiner ersten Artikel unmittelbar nach dem Ausbruch der Revolution nahm er nicht von ungefähr Bezug auf Aussagen des späten Engels’, der den Weg zum Sozialismus über die „Form der demokratischen Republik“, der „spezifischen Form für die Diktatur des Proletariats“ bezeichnet habe. Engels’ Programmkommentar von 1891 sollte nach Kautskys Willen den Rahmen für die „politische Neubildung Deutschlands“52 abgeben – nämlich der Wahl einer nach allgemeinem Wahlrecht organisierten Volksvertretung und einer Beseitigung der Kleinstaaterei. Hier wie in vielen anderen publizistischen Äußerungen des früheren Cheftheoretikers der alten SPD war sein Bestreben erkennbar, für die gesamte Sozialdemokratie zu sprechen. Tatsächlich lag die Gründung der USPD gerade einmal anderthalb Jahre zurück, und der Grund ihrer Schaffung – die unterschiedliche Stellung zum Krieg – schien mit dem ersten Waffenstillstandsabkommen (11.11.1918) beseitigt. Das jedenfalls war Kautskys Empfinden, als er rascher als viele andere USPD-Politiker daranging, einer Wiedervereinigung der sozialdemokratischen Parteien das Wort zu reden; die gemeinsame Regierung der Volksbeauftragten Ebert-Haase schien dafür die erste, wichtige Voraussetzung zu sein. In diese Richtung zielte auch sein beständiges Werben für die Durchsetzung einer auf allgemeinem Wahlrecht fußenden Nationalversammlung, in der alle entscheidenden Kompetenzen – einschließlich der Wahl der Exekutive – liegen müssten. Dieses ‚alte‘ Ziel der Sozialdemokratie verfocht Kautsky mit besonderer Verve in drei rasch veröffentlichten Broschüren, deren Titel unzweideutig Auskunft gaben: „Demokratie oder Diktatur“, „Gegen die Diktatur“ sowie „Nationalversammlung und Räteversammlung“. Nicht nur in der ersten Schrift, die bis Ende 1918 mehrere Auflagen und Ausgaben erlebte,53 plädierte er mit Nachdruck für die rasche Wahl der Nationalversammlung und gegen die Diktatur als „Regierungsform“,54 wie sie in Sowjetrussland via Arbeiterräte und Kaderpartei bereits existierte. Mit dieser Publizistik avancierte Kautsky binnen kürzester Zeit zu einem der einflussreichsten Wegbereiter einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Dass ihn die Regierung Ebert-Haase noch zum Beigeordneten für das Auswärtige 52 Kautsky (1918): Engels über den Neuaufbau, S. 2f. 53 Die Schrift erschien erstmals Ende November 1918 im Verlag Paul Cassirer Berlin und erreichte schnell eine zweite Auflage; zwei Ausgaben erschienen außerdem im Verlag der weißen Blätter unter dem Titel „Der neue Staat. Demokratie oder Diktatur“ sowie „Volksherrschaft oder Gewaltherrschaft“. Aus dieser Broschüre wurde noch Ende 1918 eines der Kernkapitel herausgelöst und als eigenständige Broschüre vom „Büro für Soziale Aufklärung“ in Berlin unter dem Titel „Gegen die Diktatur“ in hoher Auflage vertrieben. 54 Zu dieser frühen Kampfansage vgl. auch Kautskys Artikel „Revolution und Bolschewismus in Österreich“, der kurz vor dem 9.11.1918 geschrieben worden war, aber wegen der aktuelleren Revolutionsereignisse nicht mehr in der LVZ erscheinen konnte; Vgl. Eugen Prager an Karl Kautsky vom 10.11.1918 (IISG Amsterdam, Karl Kautsky Papers, Nr. A 81).
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Amt und zum Leiter der Sozialisierungskommission berief, unterstreicht die Wertschätzung, die er auf beiden Seiten genoss. In seiner Schrift „Demokratie oder Diktatur“, die Teile aus der Broschüre „Die Diktatur des Proletariats“ mit neuen Überlegungen kompilierte, kam er noch einmal auf die Diktatur als „Zustand“ und „Regierungsform“ zurück. Mit Blick auf seine Kontrahenten von links, vom linken Flügel der USPD und von der Spartakusgruppe, der späteren KPD, erklärte er: „Strittig“ sei „in unseren Reihen“ nur die „Diktatur als Regierungsform“, ziele sie doch auf eine „Entrechtung der Opposition“ – „ihr werde das Wahlrecht genommen, die Preß- und Versammlungsfreiheit“. Seinesgleichen würden „unter der Diktatur des Proletariats nichts anderes verstehen, als seine Herrschaft auf der Grundlage der Demokratie“. Das Proletariat könne eben nur dort zur Herrschaft kommen, „wo es die Mehrheit der Bevölkerung darstellt oder doch wenigstens hinter sich hat“. Die „Diktatur einer Minderheit“ und ein „Kasernen“-Sozialismus wie in Sowjetrussland müssten abgelehnt werden. Gemessen an seiner Intention hätte eine Verwendung des Begriffs der demokratischen Diktatur nahe gelegen, doch vermied er jetzt jeden Anklang an den Begriff der Diktatur, der durch die sowjetrussische Entwicklung kontaminiert erschien; er sprach nun lieber von der Demokratie und vom allgemeinen Wahlrecht. Und er machte deutlich, was passieren könnte, wenn es zu einer vergleichbaren Entwicklung käme: Das „Endergebnis des Versuchs der Aufhebung oder Vorenthaltung des allgemeinen gleichen Wahlrechts, der definitiven Ersetzung einer Nationalversammlung durch eine dauernde Zentralversammlung von Arbeiter-, Soldaten und Bauernräten“ sei „nur Bürgerkrieg, völliger ökonomischer Ruin und daher schließlicher Sieg der Konterrevolution“.55 Deshalb beschwor Kautsky Sozialisten aller Schattierungen, die Nationalversammlung rasch und ohne Vorbehalte zu akzeptieren. Die Gründe, die er nannte, erschienen überzeugend: Die Masse des Volkes habe alles Vertrauen zu den Parteien verloren, die „bisher regierten“, diese Masse stehe „zurzeit auf der Seite des Sozialismus“ und erwarte die ökonomische Rettung und einen „aufbauenden Sozialismus“. Dagegen verlange diese nicht nach „Verewigung der Unruhe, nicht nach Verlängerung des Krieges durch Bürgerkrieg“. Sozialisten, die sich weiter gegen die Nationalversammlung stellten, könnten nur „die Verkleinerung der sozialistischen Mehrheit in ihr“ oder gar eine „gegenrevolutionäre Mehrheit“ erreichen.56 Noch sei der Gegner durch den „unerhörten Zusammenbruch“ gelähmt, dies aber würde sich bald ändern.57 Anders als eine wachsende Zahl von USPD-Mitgliedern vermochte sich Kautsky auch nicht für eine (weitere) politische Funktion der Arbeiter- und Soldatenräte zu erwärmen. Diese hätten in der ersten Phase der Revolution – während des „Umsturzes der alten Gewalten“ – eine wichtige Funktion 55 Alle Zitate: Kautsky (1918): Demokratie oder Diktatur, S. 30, 31, 34, 38, 40, 46. 56 Kautsky (1918): Nationalversammlung und Räteversammlung, S. 16; Der Text erschien erstmals als Aufsatz im Berliner USPD-Organ Freiheit am 6.12.1918; andere regionale USPDBlätter wie die LVZ druckten diesen Text am 12.12.1918 nach. 57 Kautsky (1918): Die konstituierende Nationalversammlung.
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übernehmen müssen; doch in der zweiten Phase der Revolution – der „Konsolidierung und des Wiederaufbaus der neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung“ – müsse das Parlament die Weichen stellen.58 Dies umso mehr, als die Räte einem Wahlrecht unterlägen, das nicht zweifelsfrei als transparent und demokratisch bezeichnet werden könne.59 Kautskys beharrlicher Einsatz für die schnelle Wahl einer Nationalversammlung fand viel Lob in der Presse der MSPD.60 Und auch mit seinem Diktum, es sei ein Irrtum – „wie viele meiner Freunde“ – anzunehmen, erst sozialistische Maßnahmen durchzusetzen und dann zu wählen, man müsse vielmehr zuerst wählen und dann demokratisch legitimierte Sozialisierungsschritte realisieren,61 lag er letztlich mehr auf der Linie der MSPD als auf der der USPD. Dabei wäre es aus sozialdemokratischer Perspektive gewiss zielführender gewesen, die vorhandenen Spielräume nach dem 9. November gesellschaftspolitisch stärker zu nutzen.62 Doch verhallte Kautskys Appell an die Geschlossenheit im eigenen Lager aus zwei Gründen ungehört: Zum einen machte sich innerhalb der USPD eine immer stärkere Linksentwicklung bemerkbar, die noch im Dezember 1918 darauf zielte, die eigenen Volksbeauftragten aus der gemeinsamen Regierung mit der MSPD zu drängen. Im Gegensatz zu Kautsky, der mit seinen Prämissen den rechten Flügel der USPD personifizierte, versuchten maßgebliche (linke) Teile der USPD die Wahlen zur Nationalversammlung hinauszuzögern oder ganz zu sabotieren. Für diese Kreise sollten die Räte sowohl im wirtschaftlichen wie im politischen Leben eine größere, wenn nicht gar die zentrale Rolle spielen; die Diktatur des Proletariats hatte hier einen Räte- aber keinen Parlamentscharakter. Zum anderen schwenkten maßgebliche Führer der MSPD seit Weihnachten 1918 auf einen Kurs um, der Gewalt gegen die linke Konkurrenz als legitimes Mittel erachtete und mit aller Härte exekutierte.63 Gustav Noske hat jener Richtung seinen Namen gegeben. Gegen diese Trends vermochte sich Kautsky nicht zu behaupten: Sein Plädoyer für eine gemeinsame Aktion von MSPD und USPD, ja für gemeinsame Wahllisten für die Wahlen zur Nationalversammlung blieb chancenlos.64 Zudem scheiterte seine 58 Kautsky (1918): Nationalversammlung und Räteversammlung, S. 8. 59 Vgl. ebd., S. 3–7; Diese Problematik, zugespitzt in der Frage, wer überhaupt zu den ASR wahlberechtigt sei und wer nicht, legte Kautsky anhand einiger Beispiele schonungslos offen. 60 Vgl. etwa Ohne Autor (1918): „Der Termin der Nationalversammlung. Kautsky für rasche Einberufung“. 61 Kautsky (1918): Die konstituierende Nationalversammlung. 62 Mit Blick auf Kautskys Position dezidiert kritisch: Schöler (1990): „Despotischer Sozialismus“, S. 307 und 309. 63 Vgl. jetzt ausführlich Mark Jones (2017): Am Anfang war Gewalt; Allerdings provozierte die radikale Linke mit dem „Januar-Aufstand“ 1919 in Berlin eine Gewaltreaktion der Regierung, da diese in dem Aufstand zu Recht den Versuch einer Hintertreibung der Nationalversammlungswahlen sah. 64 Kautsky (1918): Über den inneren Gegensatz der USPD, Bl. 8. Der Text, der „wegen Bedenken Haases“ nicht erschien, setzte sich mit dem Zustand der USPD äußerst kritisch auseinander; Ebd., Bl. 2.
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Vermittlungsaktion während des Januar-Aufstandes in Berlin 1919 ebenso wie die von ihm veröffentlichten „programmatischen Richtlinien“ für MSPD und USPD.65 Im Ergebnis der Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 kamen MSPD und USPD zusammen nur auf 45 Prozent der Stimmen.66 Damit aber hatten sich Kautskys Warnungen bestätigt. 6. KAUTSKYS LANGER ABSCHIED VON DER DIKTATUR DES PROLETARIATS Für Kautsky, der die weitere Spaltung der deutschen Sozialdemokratie als tiefe Tragik begriff, blieb in der USPD bald nur noch eine Zuschauerrolle. Als Akteur dieser Partei trat er allein bis Frühjahr 1919 in Erscheinung – nämlich auf der internationalen sozialistischen Konferenz in Bern Anfang Februar 1919 und auf dem außerordentlichen Parteitag der USPD in Berlin Anfang März 1919. Auf beiden Konferenzen wandte er sich gegen eine Diktatur des Proletariats, die nicht parlamentarisch-demokratisch legitimiert sei. Bemerkenswert und folgerichtig war sein Auftritt in Bern, wo er in der Diktatur-Debatte eine rechtssozialistische Resolution unterstützte.67 Auf dem USPD-Konvent in Berlin knüpfte er an seine eigene Diktaturdefinition an, indem er sich als Anhänger einer proletarischen Diktatur als „Zustand“ zu erkennen gab, die keine „diktatorischen Staatseinrichtungen“ beinhalte.68 Mit solchen Vorstellungen gerieten Kautsky und Haase hier aber schnell in die Defensive. Beide sahen sich dort wegen vermeintlicher „demokratischer“ Illusionen heftiger Kritik etwa von Clara Zetkin, Robert Dißmann oder Toni Sender ausgesetzt. Vielmehr gewann hier die These des Rätetheoretikers Ernst Däumig an Zugkraft, Rätemacht und Diktatur des Proletariats als Junktim zu betrachten;69 die parlamentarische Niederlage der USPD im Januar 1919 hatte diesen Kurs verstärkt. Nur mit großer Mühe gelang es Haase, in der „Programmatischen Erklärung“ Parlament und Räte gemeinsam zu verankern; auf dem USPD-Parteitag Ende 1919 in Leipzig war dann nur noch vom revolutionären Rätekongress als Diktatur-„Parlament“ die Rede.70 Angesichts dieses Linksrucks der USPD hätte es nahegelegen, dass Kautsky – wie bereits Bernstein – zur MSPD zurückgekehrt wäre. Was ihn von diesem Schritt jedoch abhielt, waren – wenn man einmal von der Freundschaft zu Haase absieht – Enttäuschung und Gewalt, die er seit Anfang 1919 mit der MSPD in Zusammenhang brachte. Mehr noch als die gescheiterte Sozialisierung war Kautsky von dem 65 Kautsky (1919): Richtlinien für ein sozialistisches Aktions-Programm. Der Text erschien zwar sowohl in der Presse der MSPD als auch in der der USPD, doch blieb sein Inhalt für die weitere Entwicklung dieser Parteien folgenlos. 66 Die MSPD erhielt ca. 38 % der Stimmen, die USPD nur ca. 8 %. 67 Vgl. Koth (1993): Kautsky, S. 196. 68 Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (1919): Protokoll, S. 220f. 69 Vgl. ebd., S. 95f., 104f., 132–134, 145, 156–158. 70 Vgl. Schmeitzner (2013): Ambivalenzen des Fortschritts, S. 113–145, S. 140.
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Ausmaß der Gewalt entsetzt, die Noske in Berlin (März) und München (Mai) 1919 hatte praktizieren lassen. Das war der Grund, weshalb er in seiner neuen Bolschewismus-Kritik („Terrorismus und Kommunismus“) im Frühsommer 1919 erstmals Vergleiche zwischen den deutschen und sowjetischen „Regierungssozialisten“ anstellte. Beide seien für Chaos, „ökonomischen Ruin“ und „scheußlichen Brudermord“ verantwortlich. Der „blutigste Terrorismus“ der Bolschewiki habe eine Nachahmung von Seiten der MSPD gefunden, die – „kaum […] in ihrer Herrschaft bedroht“ – zu den „Mitteln des gleichen Schreckensregiments“ greife, das sie „eben noch im Osten gebrandmarkt“ habe. Noske träte „kühn in Trotzkis Fußstapfen“ mit dem Unterschied, dass er „seine Diktatur nicht als die des Proletariats“ betrachte.71 Bei diesem problematischen Vergleich – und bei aller Kritik an den Noske zugeschriebenen Gewaltexzessen und der überdehnten „Schutzhaft“-Praxis der deutschen Regierung – blieb unberücksichtigt, dass die MSPD keine neuartige diktatorische Staatspartei war. Jedoch verdeutlicht dieser schiefe Vergleich Kautskys ehrliche Empörung. Allerdings stand in „Terrorismus und Kommunismus“ nicht dieser Vergleich im Fokus, sondern die terroristische Praxis der Bolschewiki, weswegen Stampfers „Vorwärts“ Kautsky auch weiterhin als Kronzeugen gegen die USPD ins Feld führte.72 Kautskys Diktum – unter den Erscheinungen, die der Bolschewismus „gezeitigt“ habe, sei der Terrorismus, der „mit der Aufhebung jeglicher Preßfreiheit“ beginne und „in einem System der Massenerschießungen“ gipfele, „wohl die auffallendste und abstoßendste“ – intensivierte den Deutungskampf mit den Führern der Bolschewiki, die sich von Kautsky nicht darüber belehren lassen wollten, dass ein „zweckwidriges Mittel“ durch den „Zweck nicht geheiligt“ werde.73 Trotzkis Replik „Terrorismus und Kommunismus“ (1920) und Kautskys Antwort „Von der Demokratie zur Staatssklaverei“ (1921) schärften indes den Blick auf den Zusammenhang von Diktatur, Gewalt und Terror. Trotzkis „Apologie des Terrors“ (Enzo Traverso) stützte sich dabei auf zwei Grundannahmen: Erstens nutzten die Bolschewiki den Terror als „Überlebenswaffe im verzweifelten Kampf gegen einen Feind, der sie zu vernichten trachtete“, und zweitens als Geburtshelfer einer neuen Gesellschaft.74 Geschichtsphilosophisch gewendet und mit historischen Beispielen flankiert (Cromwell, Robespierre u.a.) betrachtete Trotzki den „roten Terror“ als ein „Werkzeug, das gegen eine dem Untergang geweihte Klasse angewendet wird, die nicht untergehen will“.75 Hier wie bei der Definition der sowjetischen Form der Diktatur des Proletariats als des 71 Kautsky (1919): Terrorismus und Kommunismus; zit. nach: Mende (Hrsg.) (1990): Demokratie oder Diktatur?, S. 180f. 72 Vgl. etwa Ohne Autor (1919): „Kautsky gegen Spartakus“; Ohne Autor (1919): „Olle Kamellen“; Stampfer, Friedrich (1919): Zur Einigungsfrage; Ohne Autor (1919): „Karl Kautsky zum 65. Geburtstag“. 73 Kautsky (1919): Terrorismus und Kommunismus, S. 329–331. 74 Traverso (2008): Im Bann der Gewalt, S. 115f. 75 Trotzki (1990): Terrorismus und Kommunismus, S. 62.
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„schonungslosesten Staates, der das Leben der Bürger von allen Seiten gebieterisch erfaßt“, wurden entsprechende Aussagen von Marx verabsolutiert. Ähnliches traf auf Trotzkis Logik zu, dass, wer den Terrorismus in Bezug auf eine „erbitterte und bewaffnete Gegenrevolution“ prinzipiell ablehne, letztlich auf die Herrschaft der Arbeiterklasse, auf die „revolutionäre Diktatur“, ja sogar auf die soziale Revolution und den Sozialismus verzichten müsse.76 Gegen diesen „Prinzipien-Rigorismus“ erhob Kautsky vom „allgemein-humanistischen Standpunkt“ aus ebenso Einspruch wie vom Standpunkt der konkreten Fall-Situation, bei der immer darauf geachtet werden müsse, opferträchtiges Handeln zu vermeiden, da doch im Umkehrschluss auch das Proletariat Opfer terroristischer Praxis werden könne.77 Dass die Diktatur-Vorstellungen beider Theoretiker unvereinbar waren, zeigt beider Blick auf die Lage des Proletariers in der proletarischen Diktatur. Gegen Trotzkis Diktum von einer unabdingbaren „Militarisierung der Arbeit“, der sich der einzelne Arbeiter unterwerfen müsse, erhob Kautsky grundsätzlich Einspruch: „Gewiss, Freizügigkeit, Freiheit der Wahl des Berufs und des Betriebs sind ‚liberale‘ Freiheiten, ebenso wie Preß- und Versammlungsfreiheit usw. Aber das besagt nicht, daß die Arbeiter auf diese Freiheiten verzichten, sondern daß sie ihnen nicht genügen, daß sie von einem sozialistischen Gemeinwesen noch größere Freiheit verlangen. Trotzki irrt sehr, wenn er glaubt, der Arbeiter würde auf die Freiheit, die er heute verlangt, im sozialistischen Staat verzichten, weil dieser ‚sein‘ Staat ist.“78 Trotz dieser unzweideutig liberalen Postulate wollte Kautsky im selben Jahr des Erscheinens seiner Trotzki-Replik (1921) auf den Begriff der Diktatur des Proletariats noch immer nicht verzichten: Wohl in einem ersten Anflug von Vereinigungseuphorie mit Blick auf Rest-USPD und MSPD brachte er gar den Begriff der „befreienden Form der Diktatur des Proletariats“ ins Spiel, die er der „knechtenden Form“ der Bolschewiki gegenüberstellte. Dabei wäre eine „einige sozialistische Partei“ die „erste Vorbedingung einer ersprießlichen, wirklich befreiend wirkenden Diktatur des Proletariats“, die im Rahmen der Demokratie die proletarische „Alleinherrschaft ohne Kompromisse“ beinhalten würde.79 Von solchen Begriffsspielereien sah Kautsky ein knappes Jahr später und im Zuge der gegenrevolutionären Entwicklung wieder ab, als er im unmittelbaren Vorfeld der Vereinigung von RestUSPD und MSPD – im Sommer 1922 – sein Werk „Die proletarische Revolution und ihr Programm“ vorlegte. Ungeachtet des Titels fokussierte das 340 Seiten umfassende Buch nur mehr auf die „politische Herrschaft des Proletariats“.80 Daran, dass die „demokratische Republik“ die einzige Staatsform dieser Herrschaft sei, ließ Kautsky keinen Zweifel. „Von welcher Seite“ man also die „Diktatur anpacken“ möge, sie erweise sich als ein „untaugliches Mittel, den Kapitalismus zum 76 Ebd., S. 25. 77 Fritze (1998): Täter mit gutem Gewissen, S. 177f. 78 Kautsky (1921): Von der Demokratie zur Staatssklaverei, S. 263; Kursivschreibung im Original. 79 Kautsky (1921): Klassendiktatur und Parteidiktatur, S. 281. 80 Kautsky (1922): Die proletarische Revolution und ihr Programm, S. 115.
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Sozialismus zu entwickeln“.81 Dies machte Kautsky vor allem mit der kritischen Analyse der bolschewistischen Diktatur des Proletariats als „Parteidiktatur“ mehr als deutlich.82 Bereits in dieser Schrift sah er im Erhalt der modernen rechtsstaatlich geprägten Parlamentsdemokratie ein wesentliches Movens sozialdemokratischer Politik im Zeichen der Gegenrevolution.83 Positive Anklänge an den Diktaturbegriff verschwanden in Kautskys Denken seit dieser Zeit sowie im Gefolge der Stabilisierung der sowjetischen Diktatur, der Machtübernahme der italienischen Faschisten 1922 und der NSDAP 1933. In seiner Programmschrift aus dem Frühherbst 1933 distanzierte er sich von jeder Idee und jeder Form der Diktatur; die Demokratie allein sei es Wert, in Deutschland wieder etabliert zu werden. Dass der erstarkende linke Flügel der Sozialdemokratie sich im Reich wie im Exil erneut dem Gedanken einer Diktatur des Proletariats verschrieb – quasi als Gegendiktatur zum Nationalsozialismus – stieß bei ihm nunmehr auf heftige und grundsätzliche Kritik.84 7. FAZIT Im Gegensatz zu Bernstein hat Kautsky lange am Begriff der Diktatur des Proletariats festgehalten. Das ist nur verständlich vor dem Hintergrund, dass er sich selbst als geistiger Nachlassverwalter von Marx und Engels betrachtete und den Bolschewiki diesen Begriff nicht umstandslos überlassen wollte. Wenn man will, hat Kautsky bis in die 1920er Jahre hinein eine permanente Demokratisierung – oder besser: Parlamentarisierung – des Begriffs betrieben, womit er sich wenigstens teilweise auf Prämissen des späten Engels stützen konnte. Auffällig ist, dass er in diesem Zeitraum dem Begriff jegliches Repressionspotential entzog, was mit den ursprünglichen Intentionen der „Klassiker“ kaum in Einklang zu bringen war. „Statisch“ war Kautskys Begriff – wie Uli Schöler meint – also nur bedingt, nämlich zeitlich gesehen ab 1918.85 Bei aller Kritik an Kautskys Interpretationsarbeit am Diktaturbegriff sollte jedoch nicht übersehen werden, dass seine Arbeit entscheidend dazu beitrug, einen demokratischen Sozialismus theoretisch zu begründen.86 Die Spaltung der SPD und die Herausforderung durch die Bolschewiki haben dies freilich erst in einem erheblichen Maße ermöglicht.
81 82 83 84 85 86
Ebd., S. 142. Vgl. ebd., S. 106–124 und 135–142. Vgl. ebd., S. 95. Der Hinweis findet sich nicht von ungefähr im Kapitel „Die Gegenrevolution“. Vgl. Kautsky (1933): Ein neues Programm der Sozialdemokratie, Bl. 14–47. Schöler (1990): „Despotischer Sozialismus“, S. 294 und 297. Vgl. auch Zarusky (2007): Kautsky, S. 55; Häupel (1993): Kautsky, S. 160–163.
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DIE USPD-LINKE 1919/20 Reines Rätesystem und Generalstreik in der ‚zweiten‘ Revolution Axel Weipert German Chaos – another Revolution coming. The state of Germany is passing into another serious phase. […] It is beginning to be realized by all who desire a break with the old system of militarism, class tyranny, and foreign aggression that the new ‘Republic’ is only the old autocracy in a new suit of clothes. […] A ‘second revolution’ is being talked of everywhere.1
So beschrieb die konservative, revolutionären Sympathien gänzlich unverdächtige Pall Mall Gazette aus London die deutsche Situation im Frühjahr 1919. Revolutionäre in Deutschland selbst skizzierten ihre Erwartungen in den Worten: „Die Revolution vom 9. November war die Revolution in den Ämtern, die Revolution in der Wilhelmstraße, die zweite Revolution ist die Revolution der Proleten, die Revolution in den Fabriken.“2 Ähnliche Formulierungen waren oft zu hören in den ereignisreichen Jahren 1919 und 1920 in Deutschland. In diesem Zusammenhang kann gerade auch die Bedeutung der Rätebewegung kaum überschätzt werden. Gelang es den Räten doch, Hunderttausende für ihre Ziele und Aktionen zu mobilisieren. Gleichwohl genießen diese Bewegung und der damit eng verbundene zweite Revolutionsabschnitt heute weder in der öffentlichen Wahrnehmung noch in der Geschichtswissenschaft besondere Aufmerksamkeit. Sie gehören damit zu den verschütteten Alternativen der Geschichte – ein Charakteristikum, das sie mit der USPD gemeinsam haben. Was aber war nun der Kern dieser zweiten Revolution, und welche Rolle spielte die USPD-Linke dabei? Grundlegende Merkmale waren das Rätesystem als zentrales Ziel der gesellschaftlichen Umgestaltung, die Rätestrukturen als organisatorisches Mittel und die Rätebewegung als Motor und Hauptakteur in den politischen Aktionen. Damit wurde den Räten eine Doppelrolle zugedacht: sie sollten gleichermaßen Mittel und Ziel der Umgestaltung sein. Die Rätebewegung zielte in dieser Phase darauf ab, einen Gegenentwurf zu den herkömmlichen Arbeiterorganisationen und mehr noch zur damaligen Gesellschaft insgesamt zu formulieren. Das beinhaltete insbesondere die Kritik an stark hierarchischen Entscheidungsstrukturen, die sich nicht zuletzt aus der Kriegszeit speiste, in der wesentliche politische Fragen in kleinen, intransparenten Funktionärszirkeln entschieden wurden. Damit eng 1 2
Pall Mall Gazette, 28.2.1919. Rote Fahne, 2.3.1919. Die Wilhelmstraße in Berlin war Sitz des Reichskanzlers und zahlreicher Ministerien.
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verbunden war die Bereitschaft, die eigenen Ziele dann in breit angelegten Massenaktionen selbst durchzusetzen, anstatt allein auf das Wirken von Repräsentanten zu vertrauen. Dieser zweite Revolutionsabschnitt begann ungefähr mit der Wahl zur Nationalversammlung im Januar 1919 und reichte bis zu den Massenaktionen nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch im März und April 1920. In diesem größeren Zusammenhang spielte die USPD, und dabei besonders der linke Flügel, eine ganz wesentliche Rolle. Das lässt sich an verschiedenen Faktoren festmachen. Zunächst an ihrer Stärke in Regionen wie Berlin und Halle-Leipzig, in denen sie die SPD als dominante Arbeiterpartei verdränge. Die Partei steigerte in dem Zeitfenster ihre reichsweite Mitgliedschaft von rund 300.000 im März 1919 auf 750.000 im November.3 Im Oktober des folgenden Jahres, also unmittelbar vor der neuerlichen Spaltung, wurde der Höchststand mit über 890.000 Mitgliedern erreicht.4 Regional aufgeschlüsselte Mitgliederzahlen existieren für den hier relevanten Zeitraum nicht. Allerdings zeigen ihre Wahlergebnisse 1919 und 1920, dass sich die Hochburgen der Partei in Berlin, Mitteldeutschland und dem Ruhrgebiet befanden.5 Das waren auch die Regionen, in denen die wichtigsten politischen Streiks des Frühjahrs 1919 stattfanden, und hier hatten vor allem die Parteilinken ihre Basis. Zweitens kam die Beteiligung der Partei an einzelnen Aktionen wie den Streiks hinzu. Diese liefen letztlich kaum koordiniert ab, auch wenn sich, gerade vonseiten der USPD-Linken, verschiedentliche Ansätze einer überregionalen Zusammenarbeit nachweisen lassen.6 So entstand auf dem ersten Reichsrätekongress ein Netzwerk, das dann von den Vertretern der Linken in der Nationalversammlungsfraktion weiter gepflegt wurde. Zu ihnen gehörten unter anderem Curt Geyer aus Leipzig, Wilhelm Koenen aus Halle und Otto Brass aus Remscheid. Parallel gab es auch Kontakte zwischen den jeweiligen regionalen Rätestrukturen, in denen wiederum USPD-Funktionäre eine führende Rolle innehatten. Schließlich wurde eigens im Juli 1919 eine revolutionäre Betriebsrätezentrale gegründet. Federführend waren dabei erneut USPD-Funktionäre, in erster Linie aus dem Raum Halle und aus Berlin. Die wichtigste Aufgabe der Zentrale sah man in der Vertiefung der überregionalen Zusammenarbeit.7 Neben ihrer wachsenden Anhängerschaft und ihren Koordinierungsbemühungen brachte die USPD aber auch ideelle Impulse in die Bewegung ein. Der Beitrag des linken Flügels bestand vor allem in konzeptionellen Vorschlägen für ein reines Rätesystem, auf das gleich noch näher einzugehen sein wird. Die Verbreitung ihrer Ideen und deren bewegungsinterne Diskussion fand auch in Periodika der USPD statt, etwa dem Zentralorgan „Freiheit“ und der Theoriezeitschrift „Sozialist“ sowie dem zumindest USPD-nahen Blatt „Arbeiter-Rat“. Exemplarisch für die Massenaktionen mit USPD-Beteiligung wird abschließend der Berliner Generalstreik vom März 1919 behandelt. 3 4 5 6 7
USPD (1919): Parteitag Berlin, S. 50 und USPD (1920): Parteitag Leipzig, S. 80. Krause (1975): USPD, S. 303. Ebd., S. 172–186. Siehe hierzu Weipert (2015): Zweite Revolution, S. 71–79. Zu dieser Organisation siehe detailliert ebd., S. 235–255.
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1. DAS REINE RÄTESYSTEM ALS „MARKENKERN“ DER USPD-LINKEN In Bezug auf die Räte lassen sich in der USPD im Wesentlichen zwei Strömungen ausmachen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Das Hauptaugenmerk wird dabei auf das Konzept des reinen Rätesystems und damit auf die USPD-Linke gelenkt, denn diese vertrat den Rätegedanken besonders vehement und ihr innerparteilicher Einfluss nahm sukzessive zu. Die gemäßigten und anfangs tonangebenden Kräfte in der USPD setzten demgegenüber in den ersten Revolutionswochen den Kurs durch, Räte und parlamentarische Ordnung zu verbinden. Dabei bekannte man sich klar zu den Räten: „In allen Arbeiter- und Soldatenräten liegt Kraft des Rechts der Revolution die politische Gewalt.“8 Unter dem Druck der SPD und entsprechend dem Beschluss des ersten Rätekongresses vom Dezember 1918 sprachen sich die Vertreter der USPD im Rat der Volksbeauftragten dann aber doch für eine rasche Einberufung der Konstituante aus. Dennoch versuchte die Parteiführung, zwischen den Anhängern der Räte und des Parlamentarismus eine Brücke zu schlagen: „Nationalversammlung und Rätesystem brauchen sich nicht auszuschließen, es ist möglich, beide zu verbinden.“9 Wie sollten die Kompetenzen zwischen allgemein gewähltem Parlament und dem obersten Räteorgan – von Rudolf Breitscheid „Parlament der Arbeit“ genannt, von Rudolf Hilferding „Zentralrat“ – abgegrenzt werden? Das von den Gemäßigten Hilferding und Breitscheid im Februar 1919 vorgestellte Konzept beinhaltete, diesem Räteorgan das Recht einzuräumen, Parlamentsgesetze zu begutachten und gegebenenfalls abzulehnen. 10 In diesen Fällen würde dann mittels einer Volksabstimmung entschieden. Zusätzlich sollte der Rat auch über Regierungsverordnungen entscheiden und eigene Gesetzentwürfe einbringen dürfen; bei einer Ablehnung durch das Parlament käme es ebenfalls zu einem Plebiszit. Ziel eines solchen Mischsystems war es, der Arbeiterschaft über die Räte einen besonderen Einfluss auf die Gesetzgebung einzuräumen. So könne die „kapitalistische Verfälschung der Demokratie“ ausgeglichen werden, ohne auf eine allgemeine demokratische Legitimation zu verzichten.11 Gemessen an ihren Kompetenzen stellten die politischen Räte in dieser Konzeption vor allem ein Korrektiv des Parlaments dar. Es muss allerdings offen bleiben, ob ein solches Mischsystem politisch praktikabel gewesen wäre. Denkbar sind hier zwei Szenarien. Eine permanente und weitreichende Intervention in den Gesetzgebungsprozess hätte diesen mindestens 8
Aufruf der Parteileitung, zitiert nach Prager (1921): Geschichte der USPD, S. 184. Siehe auch die Darstellung in Ströbel (1922): deutsche Revolution, S. 57f. 9 Freiheit, 3.1.1919 M. 10 Rudolf Hilferding: Ausbau des Rätesystems! In: Freiheit, 5.2.1919 M sowie ders.: Die Einigung des Proletariats. In: Freiheit, 9.2.1919; Rudolf Breitscheid: Die Zukunft der Arbeiterräte. In: Der Sozialist, 7.2.1919 sowie ders.: Demokratie und Arbeiterräte. In: Freiheit, 10.2.1919 M. 11 Rudolf Hilferding: Ausbau des Rätesystems! In: Freiheit, 5.2.1919 M.
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verlangsamt und erschwert – was auch Breitscheid erkannte, aber als notwendiges Übel hinzunehmen bereit war.12 Bei einem nur punktuellen Eingreifen wären die politischen Räte dagegen weitgehend machtlos geblieben. Der theoretische Widerspruch dieses Mischsystems lag letztlich darin, einerseits die demokratische Legitimation des Parlaments – und im Konfliktfall eines Plebiszits – anzuerkennen, andererseits aber eben diesem Parlament eine „kapitalistische Verfälschung“ vorzuwerfen. Abgesehen davon ist zumindest anzunehmen, dass die Exekutive mit ihrem umfangreichen Verwaltungsapparat im Rücken die Initiative behalten hätte – ein Aspekt, der den USPD-Funktionären aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem Rat der Volksbeauftragten bewusst sein musste, als Friedrich Ebert sie im Zusammenspiel mit der Verwaltungsbürokratie rasch an den Rand drängte. Neben den politischen Räten sollten nach diesem Konzept auch Betriebsräte gebildet werden. Ihnen würde die Aufgabe zufallen, innerbetriebliche Sozialmaßnahmen mitzugestalten, die Unternehmensleitung zu kontrollieren und später an der Sozialisierung mitzuwirken. Die Vorstellung, sie könnten die alleinige Führung ihrer Unternehmen in die Hand nehmen, wurde jedoch als syndikalistischer Irrtum verworfen.13 Stattdessen sollten sich die Betriebsräte zunächst nach Branchen zusammenschließen und auf einer dritten Ebene dann einen die ganze Wirtschaft umfassenden „Hauptausschuß“ bilden.14 Dieser würde in einer zweiten Etappe die sozialisierten Unternehmen koordinieren und leiten. Neben dem gemäßigten rechten Flügel existierte in der USPD von Anfang an ein radikalerer linker Flügel. Im Verlauf der Revolution nahm sein innerparteilicher Einfluss kontinuierlich zu. Seine führenden Vertreter Ernst Däumig und Richard Müller entwickelten die Konzeption eines reinen Rätesystems.15 Der wesentliche Unterschied zu den Vorstellungen des rechten Flügels bestand darin, kein Mischsystem aus Parlament und Räten zu bilden, sondern langfristig alle Kompetenzen ausschließlich den Rätegremien zu übertragen – eben ein reines Rätesystem zu konstituieren. Däumig legte dem ersten Reichsrätekongress, der Mitte Dezember in Berlin tagte, eine entsprechende Resolution zur Entscheidung vor: „Die Delegiertenversammlung erklärt, daß unter allen Umständen an dem Rätesystem als Grundlage der Verfassung der sozialistischen Republik festgehalten wird, und zwar derart, daß den Räten die höchste gesetzgebende und Vollzugsgewalt zusteht.“16 Dem Antrag stimmten nur 98 Delegierte zu, 344 votierten dagegen. Diese Niederlage und die Entwicklung der Revolution allgemein führten zeitweise zu taktischen Konzes 12 Rudolf Breitscheid: Die Zukunft der Arbeiterräte. In: Der Sozialist, 7.2.1919. 13 Rudolf Hilferding: Ausbau des Rätesystems! In: Freiheit, 5.2.1919 M. Exakt diese Kompetenzen finden sich auch in einem Aufruf von Parteileitung und Nationalversammlungsfraktion: Freiheit, 11.2.1919 M. 14 Hugo Petersen: Grundsätzliches zur Sozialisierung. In: Der Sozialist, 1.3.1919. 15 Zu Müller siehe die Biografie Hoffrogge (2008): Richard Müller. Eine umfassende Darstellung zu Däumigs Leben ist noch immer ein Desiderat der Forschung; zu seinem durchaus schillernden Werdegang siehe knapp Weipert (2013): Das Rote Berlin, S. 145f. 16 O.A. (1919): Allgemeiner Kongreß, S. 184.
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sionen: „Es gilt zunächst einmal, dem Rätesystem unter den gegebenen Machtverhältnissen Geltung zu verschaffen“, so Däumig Mitte Februar 1919.17 Gegen die kompromisslose Politik der KPD gewendet, erklärte auch der Vorsitzende des Berliner Vollzugsrates Richard Müller, eine sinnvoll abgestufte Vorgehensweise stelle sicher, dass „man mit den gegebenen Tatsachen rechnet“.18 Konkret hätte dies laut Däumig bedeuten können, die Räte in die Verfassung als zweite Kammer aufzunehmen – also genau das, was die Vertreter des rechten Flügels auch forderten. Für die Protagonisten eines reinen Rätesystems stellte dies aber nur ein zeitbedingtes, kein prinzipielles Zugeständnis dar. Grundsätzlich galt nach wie vor: „Wir wollen nicht die bürgerliche Demokratie, sondern die proletarische Demokratie, die das Rätesystem zur Folge haben muß. Die formale Demokratie […] kann uns niemals den Sozialismus bringen.“19 In der Aussage spiegelt sich auch die wachsende Enttäuschung der Radikalen mit den Ergebnissen der ersten Revolutionsphase und der Nationalversammlung wider, die lediglich einige sozialpolitische Fortschritte, aber keinen umfassenden sozialistischen Umbau gebracht hatten. Däumig erwartete schon vor der Wahl der Nationalversammlung, dass diese keine sozialistische oder gar revolutionäre Mehrheit bringen werde; deshalb seien entschlossene außerparlamentarische Aktionen umso wichtiger.20 Tatsächlich rechnete die Gruppe noch mit einer längeren Entwicklung, bis ihr Rätemodell vollständig umgesetzt sein würde. Wichtigstes Mittel seien dabei politische Streiks, um sukzessive den Räten die politische Macht zu übertragen und sie schließlich zu einem alle gesellschaftlichen Bereiche umfassenden System zu entfalten.21 Man wurde nicht müde zu betonen, dass die Revolution bisher nur wenig erreicht hatte. So führte Däumig vor Berliner Arbeiterräten aus: Wir haben uns klar zu sein, daß das, was in der ersten Woche geschehen ist, überhaupt nur der allererste Schritt der Revolution ist, und daß sie weit davon entfernt ist, eine soziale Revolution zu sein. […] Wir müssen das System der Räte diesem rein bürgerlichen demokratischen Gedanken entgegenhalten. […] Wie liegen die Dinge jetzt, nach ungefähr 7 Wochen der Revolution? Zufrieden mit dem, was bis jetzt erreicht worden ist, kann wohl keiner von uns sein.22
Im Detail ausgearbeitet wurde das Konzept erst in den Jahren 1919 und 1920, also nachdem die Ende 1918 entstandenen Räte entweder bereits aufgelöst oder weitgehend entmachtet waren. Ohnehin herrschte in der Partei Konsens darüber, dass die zu Beginn der Revolution entstandenen Räte keineswegs dem entsprachen, was man sich zukünftig unter ihnen vorstellte. Das galt unisono für den linken wie den rechten Flügel.23 17 18 19 20 21 22 23
Ernst Däumig: Der Kampf um das Rätesystem. In: Freiheit, 19.2.1919 M. Richard Müller: Wer rettet das deutsche Volk? In: Freiheit, 24.2.1919 M. Richard Müller: Vor dem zweiten Rätekongreß. In: Freiheit, 8.4.1919 M. Däumig (o.J.): Der erste Akt, S. 5. Ernst Däumig: Irrungen und Wirrungen. In: Der Arbeiter-Rat, 1919, Nr. 20. Däumig (o.J.): Der erste Akt, S. 1f. Siehe Däumigs Stellungnahme in USPD (1919): Parteitag Berlin, S. 95 und Henke in USPD (1920): Parteitag Leipzig, S. 410.
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Die Grundgedanken des reinen Rätesystems hat Däumig mehrfach dargestellt.24 Der Zweck des Rätesystems bestünde demnach darin, den Kapitalismus und den bisherigen Staat zu beseitigen und anschließend die Basis einer sozialistischen Wirtschaft und politischen Selbstverwaltung zu bilden. Um diesen Aufgaben gewachsen zu sein, war eine gründliche Vorbereitung in Form einer handlungsfähigen Räteorganisation erforderlich: Hier zeigt sich, dass den Räten nicht nur Bedeutung als Ziel gesellschaftlicher Umgestaltung zukam, sondern zugleich als politisches Instrument der Umsetzung. Konstitutives Element des Systems war die Erfassung aller „Hand- und Kopfarbeiter, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft dem Kapital zu verkaufen“, und zwar als Wähler direkt in den Betrieben. Vertreter von Kapitalinteressen sollten also explizit ausgeschlossen bleiben, um so die „antikapitalistischen Ziele“ nicht zu gefährden. Eine ständige Kontrolle der Gewählten und ihre jederzeitige Abberufbarkeit würden sicherstellen, dass bürokratische Tendenzen und Korruption erst gar nicht entstehen könnten. Vor allem aber sei so „der Rätegedanke auch ein wirksames Mittel gegen die Herdentiergewohnheiten großer Proletarierschichten.“ Eng damit verbunden wandte sich Däumig auch gegen die Vereinnahmung der Räte durch Parteien und deren Funktionäre. Langfristig würde das Rätesystem ohnehin die alten Organisationen überflüssig machen.25 Er betonte, Partei und Gewerkschaft seien aber zumindest in der ersten Phase der Revolution noch unverzichtbar. Er sah die Räte aber als parteiübergreifende Klassenorgane: „Wir haben immer auf dem Standpunkt gestanden, daß die Rätebewegung keine Parteisache ist.“26 Richard Müller sagte bei anderer Gelegenheit, aber im gleichen Sinn: „Der Zusammenschluß des Proletariats in einer revolutionären Kampforganisation über die Grenzen der Parteien muß unsere vornehmste Aufgabe sein.“27 Außerdem meinte er, die Gewerkschaften „werden aufgesaugt von dem Rätesystem“.28 Die Zusammenarbeit und langfristig die Fusion der verschiedenen Organisationen der Arbeiterbewegung forderten auch andere Vertreter des linken Parteiflügels wie Wilhelm Koenen und der Berliner Paul Wegmann, außerdem die Frankfurterin Toni Sender.29 Zur Rolle der Gewalt blieben die Aussagen eher vage. Die reine Herrschaft einer Minderheit durch gewaltsame Unterdrückung sei falsch. Zugleich konstatierte Däumig jedoch zweideutig, die Diktatur des Proletariats „braucht nicht ihr Schwer 24 Für das Folgende siehe Däumig (1920): Der Rätegedanke, S. 85–97. Die folgenden Zitate sind dem entnommen. Ähnlich skizzierte er seine Vorstellungen erstmals: USPD (1919): Parteitag Berlin, S. 97–99. 25 USPD (1920): Parteitag Leipzig, S. 242f. 26 Freiheit, 6.1.1920 M. 27 Freiheit, 27.7.1919. 28 Siehe USPD (1919): Parteitag Berlin, S. 45. 29 Wilhelm Koenen: Parteiorganisation und Rätebewegung. In: Freiheit, 1.12.1919 A; Paul Wegmann: Räte, Partei und Gewerkschaften. In: Freiheit, 24.4.1920 A; Sender (o.J.): Die Frauen, S. 24.
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gewicht auf militärische Gewaltmittel und terroristische Akte zu legen“.30 Diktatur des Proletariats hieß hier aber weder die Herrschaft einer einzelnen Partei nach dem Muster der russischen Bolschewisten, noch implizierte der Begriff eine Aufgabe von demokratischen Prinzipien. Vielmehr verstand Däumig darunter die Herrschaft der Arbeiterschaft als Klasse durch die Räte im Gegensatz zur Herrschaft des Kapitals in der bürgerlich-parlamentarischen Republik. Eine Diktatur war das allerdings insofern, als dass die Eigentümer der Produktionsmittel in der revolutionären Übergangsphase von den Wahlen ausgeschlossen bleiben sollten. Däumig erklärte explizit, dass „der Begriff Rätesystem gleichbedeutend ist mit dem Begriff ‚Diktatur des Proletariats‘, daß das Rätesystem für mich in seinem Endzustand […] die höchste Stufe der Demokratie [darstellt]“.31 Die Machtübernahme mithilfe von Gewaltakten einer kleinen Avantgarde kam für ihn nicht in Betracht, weshalb Däumig sich auch eindeutig von der so verstandenen Taktik der KPD distanzierte.32 Bei einer anderen Gelegenheit hielt er fest: „Ich für meinen Teil vertrete keine Putschtaktik. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß Arbeiterblut ein sehr kostbarer Stoff ist, der nach diesem Weltkrieg besonders sparsam behandelt werden muß.“33 Die Vertreter des rechten Parteiflügels mahnten immer wieder an, das bolschewistische Russland könne nicht als Vorbild dienen. Eugen Prager begründete das damit, dass sich die Vorgehensweise „nach den jeweils gegebenen politischen und ökonomischen Verhältnissen richten“ sollte; und die seien in Deutschland ganz andere.34 Däumig hielt dem entgegen, man berücksichtige sehr wohl diese Unterschiede, es gehe ihm keineswegs um eine „Nachäffung des russischen Beispiels“.35 Dennoch seien die Räte ganz allgemein die gegebene Kampfform in einer entwickelten Industrie, was sich nicht zuletzt beim System der englischen shop stewards zeige.36 Auch an anderer Stelle distanzierte sich Däumig unmissverständlich von den Bolschewiki und ihren deutschen Anhängern: Und gerade weil wir von Rußland ungeheuer lernen können, wie wir es nicht machen sollen, bauen wir unser Rätesystem nicht sklavisch nach russischem Muster aus. Wir schalten aus die Herrschaft einer Partei. Das ist die große Trennungsscheide zwischen uns und den Kommunisten.37
Der organisatorische Aufbau des zukünftigen Rätesystems wurde vor allem von Richard Müller konkretisiert. Er entwickelte ein komplexes System aus zwei paral 30 31 32 33 34
Däumig (1920): Der Rätegedanke. USPD (1919): Parteitag Berlin, S. 95f. Ebd., S. 106. Däumig (o.J.): Der erste Akt, S. 6. Prager (1921): Geschichte der USPD, S. 196. Ebenso Haase, USPD (1919): Parteitag Berlin, S. 85f. 35 USPD (1919): Parteitag Berlin, S. 96f. 36 Zur Bewegung der britischen shop stewards siehe die umfangreiche Studie Pribicevic (1959): Shop Stewards. Der Autor geht detailliert auf die dort entwickelten Konzepte von Betriebsdemokratie und Arbeiterkontrolle ein, die vor allem im Bergbau propagiert wurden. 37 Freiheit, 8.9.1919 M.
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lelen Säulen, den wirtschaftlichen und den politischen Rätegremien.38 Erstere gliederten sich in Betriebsräte, auf der zweiten Stufe in branchenspezifische und branchenübergreifende Wirtschaftsräte, auf der dritten, reichsweiten Ebene dann ebenfalls in Branchenvertretungen und einen umfassenden Reichswirtschaftsrat.39 Während die unteren Räte Vertretungsorgane der Arbeiter ihres Betriebes sein sollten, wären die oberen für Koordination und wirtschaftliche Gesamtplanung zuständig und sollten die Betriebsleitungen einsetzen. So könne einerseits die Mitwirkung der Belegschaften sichergestellt, andererseits ein syndikalistischer Betriebsegoismus verhindert werden. Die politischen, territorial gewählten Räte folgten in der Konzeption ebenfalls einem mehrstufigen Aufbau, der sich in kommunale, regionale und als oberste Instanz in einen Reichsrätekongress gliedern sollte. Dieser würde dann einen geschäftsführenden Zentralrat einsetzen. Generell war nur für die untersten Räte eine Direktwahl vorgesehen, die anderen sollten von den jeweils darunter stehenden Organen gewählt werden. Für alle aber galten die Prinzipien des imperativen Mandats und der jederzeitigen Abberufbarkeit. Dieses System setzte natürlich voraus, dass der alte Staat und die kapitalistische Eigentumsordnung schon beseitigt sind. Zugleich wurde von seinen Schöpfern klar betont: „Ein fix und fertiges Programm des Rätesystems zu entwerfen, ist ganz unmöglich. Wir müssen ja erst abwarten und verfolgen, welchen Gang die revolutionäre Entwicklung weiter nimmt.“40 Müller schrieb ebenfalls in diesem Sinn, das Rätesystem „darf nicht starr, nichts Festes werden, sondern muß ein ständig sich bewegendes, fließendes, alles Ungeeignete ausscheidendes Gebilde sein“.41 Deshalb geht hier der Vorwurf an der Sache vorbei, den Volker Arnold erhebt: „Staats- und verfassungsrechtlich sind nahezu alle Räteentwürfe vollkommen unbrauchbar, da sie in jeder Hinsicht viel zu unpräzise und interpretationsfähig und -bedürftig sind.“42 Denn es bestand überhaupt nicht die Intention, diese Vorschläge in juristisch ausgearbeitete Formen zu gießen. Vielmehr dienten sie dazu, Orientierung in einer revolutionären Zeit zu schaffen und die Arbeiterschaft für eine auf den Räten basierende Umwälzung zu gewinnen. Dennoch blieb die Abgrenzung der Kompetenzen des politischen und ökonomischen Arms tatsächlich unklar. Das reine Rätesystem, zumindest in diesem Punkt ist der Forschung zuzustimmen, vermochte hier weder eine eindeutige Trennlinie zu ziehen noch eine Begründung für die Notwendigkeit dieser doppelten Struktur zu liefern. 38 Siehe dazu detailliert Müller (1921): Das Rätesystem; Müller (1919): Arbeiterräte, sowie in Ansätzen schon früher in ders.: Das Rätesystem im künftigen Wirtschaftsleben. In: Der Arbeiter-Rat, 1919, Nr. 4. Auch Geyer propagiert ein solches System: Geyer (1919): Sozialismus und Rätesystem, insbesondere S. 14–19 sowie 31f. 39 Eine dementsprechende Grafik ist abgedruckt in: Der Arbeiter-Rat, 1919, Nr. 27. 40 So Däumig nach: USPD (1919): Parteitag Berlin, S. 100. 41 Richard Müller: Das Rätesystem im künftigen Wirtschaftsleben. In: Der Arbeiter-Rat, 1919, Nr. 4. 42 Arnold (1985): Rätebewegung, S. 206. Ähnlich die Einwände bei Oertzen (1976): Betriebsräte, S. 89–94.
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Hinzu kommt noch ein weiterer Einwand: In der konkreten Situation nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 gelang es den Berlinern um Däumig und Müller gerade nicht, das Modell flexibel den Bedürfnissen anzupassen, was die politische Wirksamkeit dieser Räte dann massiv behinderte.43 Denn als sich die neue, unnötig komplizierte Rätestruktur in Berlin endlich konstituiert hatte, war das absehbar enge Zeitfenster bereits wieder geschlossen: Der Generalstreik war beendet und damit das entscheidende Druckmittel für politische Veränderungen entfallen. In anderen Punkten ist das reine Rätesystem noch sehr viel problematischer. Zum Beispiel ist die Annahme, die „Kopfarbeiter“, also Techniker, Intellektuellen und Angestellten, seien mehrheitlich für ein solches System zu gewinnen, mindestens fraglich. Zwar gab es dafür positive Signale: So etwa die Beteiligung dieser Gruppen an der Berliner Vollversammlung, unter anderem in der linksliberal ausgerichteten demokratischen Fraktion, oder auch die Politischen Räte geistiger Arbeiter, die in vielen Städten entstanden.44 Dennoch standen sie in ihrer großen Mehrzahl linken „Experimenten“ eher skeptisch gegenüber und tendierten überwiegend zum bürgerlichen Lager.45 Das bewiesen nicht zuletzt die parlamentarischen Wahlen im Frühjahr 1919 mehr als deutlich. Zugleich blieben große Gruppen nach diesen Vorstellungen ganz ohne eigene Vertretung, namentlich Erwerbslose und Hausfrauen. Wohl als Erbe der patriarchalischen Tradition der Arbeiterbewegung waren Frauen in den Räten ohnehin deutlich unterrepräsentiert. Das verstärkte sich noch im Rahmen der Demobilisierung, als Frauen in großer Zahl entlassen wurden und die heimkehrenden Soldaten wieder ihre alten Arbeitsplätze einnahmen. Dieser Aspekt ist aber nicht nur ein Schwachpunkt der Anhänger des reinen Rätesystems, sondern gilt für die große Mehrheit der Rätebewegung insgesamt. Wie dem entgegengewirkt werden könne, wurde kontrovers diskutiert, auch in der USPD.46 Die Erwerbslosen wiederum bildeten eigene Rätestrukturen auf der lokalen, regionalen und reichsweiten Ebene.47 Zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit den Arbeiter- bzw. Betriebsräten kam es aber nur bedingt, teils gab es auch direkte Konflikte. Beide Beispiele – es ließen sich noch weitere Bereiche anführen, etwa die Schülerräte – zeigen jedenfalls, dass sich ein auf die betriebliche Sphäre konzentriertes System der Interessenvertretung schwer tat, andere gesellschaftliche Gruppen zu integrieren. Das war zwar nicht unmöglich, und faktisch gab es auch Initiativen zur Kooperation. Eine solche Erweiterung blieb im Konzept des reinen Rätesystems aber unberücksichtigt. 43 Weipert (2015): Zweite Revolution, S. 190–234. 44 Zu dieser Gruppe siehe ausführlich Engel (2004): Freie demokratische Fraktion, zu den Intellektuellen Weipert (2015): Zweite Revolution, S. 319–328. 45 Zu den Angestellten in der Weimarer Republik allgemein siehe die immer noch sehr lesenswerte Studie von Kracauer (1971): Die Angestellten. Der Text erschien ursprünglich 1929 als Artikelreihe in der „Frankfurter Zeitung“. 46 Siehe zu Frauen in Rätekonzepten und –praxis Weipert (2015): Zweite Revolution, S. 329–342 47 Ebd., S. 288–318.
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Die zukünftige Koordination der wirtschaftlichen Aktivitäten, also die Organisation der Arbeitsteilung ebenso wie die volkswirtschaftliche Gesamtplanung, spielte in den Ausführungen von Müller und Däumig auch kaum eine Rolle. Hier ist Ralf Hoffrogges Kritik zuzustimmen, der diesbezüglich bilanzierte: „Unklarheiten wurden weder theoretisch noch praktisch ausgeräumt“.48 Dabei wäre noch zu ergänzen: Auch die Durchführung von technischen und organisatorischen Innovationen könnte sich in der Praxis als schwierig erweisen, von notwendigen Umstrukturierungen wie etwa Betriebsstilllegungen ganz abgesehen. Zumindest wäre es aber naheliegend, dass solche Aufgaben den überbetrieblichen Räten und insbesondere dem Reichswirtschaftsrat zufallen sollten. Es ist auch davon auszugehen, dass in einem solchen zukünftigen Rätesystem weiter Meinungsverschiedenheiten über den politischen Kurs bestehen würden – ebenso wie es weiter ‚handfeste‘ Interessensgegensätze geben würde. Das Problem von Betriebsstilllegungen und allgemeiner von langfristigem Strukturwandel sowie die Integration von ‚produktionsfernen‘ Gruppen wie den erwähnten Hausfrauen oder Erwerbslosen sind dafür nur einige Beispiele. Ein weiteres wäre der mögliche Gegensatz zwischen einfachen Beschäftigten und Funktionären der Leitungsebenen. Prinzipiell ließe sich das unter anderem über Fraktionsbildungen in den Räten lösen. Faktisch gab es in den Räteorganen der Jahre 1918 bis 1920 auch Fraktionen mit unterschiedlicher politischer Ausrichtung, die zumindest in Teilen auch jeweils eigene soziale Gruppen vertraten. In Berlin organisierten sich beispielsweise die Lehrer vorwiegend in der oben erwähnten, linksliberalen demokratischen Fraktion. Solche Problemfelder blieben in der Konzeption von Däumig und Müller jedoch weitgehend ausgespart. Das reine Rätesystem lebte von der Voraussetzung, dass die Arbeiterschaft ständig aktiven Anteil an politischen und wirtschaftlichen Vorgängen nehmen würde. Gleichzeitig sollte das auch sein Ergebnis sein, wie die oben zitierte Formulierung Däumigs in Bezug auf die „Herdentiergewohnheiten“ nahelegt. In einer revolutionären Situation wie Anfang 1919 mit seiner Politisierung breiter Bevölkerungsschichten war diese Bedingung sicherlich gegeben. Die Räte konnten dabei zahlreiche bisher indifferente, inaktive Arbeiter erfassen. Wie aber würde sich das in einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaft entwickeln? Wäre es wirklich möglich, das erforderliche permanente Interesse und Engagement aufrechtzuerhalten? Sollte das nicht der Fall sein, würden die Kontrollmechanismen und die jederzeitige Abberufbarkeit ins Leere laufen, Hierarchisierung und Bürokratisierung sich wieder einstellen. Damit käme es auch zu einem Rückfall in die Passivität bei weiten Teilen der Arbeiterschaft in und außerhalb der Parteien und Gewerkschaften. Genau das war einer der Hauptkritikpunkte der Rätebefürworter an den herkömmlichen Organisationsformen der Arbeiterbewegung: Dass sie die ‚Massen‘ nicht selbstständig handeln ließen, sondern stattdessen die Funktionäre als ihre Stellvertreter ohne direkte Kontrolle und ohne jederzeit mögliche Einflussnahme von unten agierten. Hier sind zumindest Zweifel an den optimistischen Erwar 48 Hoffrogge (2008): Richard Müller, S. 114.
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tungen des Kreises um Däumig und Müller angebracht. Realistischer muten dagegen die Überlegungen an, die Arbeiterschaft durch die schrittweise Übertragung von Kompetenzen und die gezielte Schulung an ihre neuen Aufgaben heranzuführen. In diesem Sinn ist auch die Gründung der Berliner Räteschule zu verstehen, die dann allerdings nach dem Ende der Revolution von den ADGB-Gewerkschaften zur Weiterbildung ihrer Betriebsräte umfunktioniert wurde. Trotz der genannten Problemfelder ist jedoch dem Urteil von Feldman, Kolb und Rürup zuzustimmen, die Theorie des reinen Rätesystems „ist als die eigentliche theoretische Leistung der Massenbewegung in Deutschland zwischen 1917 und 1920 anzusehen, indem hier versucht wurde, das Problem der Revolution und des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft grundlegend neu zu durchdenken.“49 2. DER BERLINER GENERALSTREIK 1919 ALS „SCHULBEISPIEL“ DER POLITISCHEN PRAXIS Die Streikwelle im Frühjahr 1919 gehört sicher zu den spektakulärsten außerparlamentarischen Aktionen in der Weimarer Republik. Einen wichtigen Teil davon bildete der Berliner Generalstreik.50 Anfang März sprach sich eine ganze Anzahl von Fabriken Berlins für einen Streik aus und erzwang so nach kontrovers geführter Debatte einen Beschluss der Vollversammlung der Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte, dem zentralen Gremium der Berliner Rätebewegung. Dessen Spitze, der Vollzugsrat mit seinem Vorsitzenden Richard Müller, bildete dann eine Streikleitung. Auch Däumig spielte eine prominente Rolle in der Aktion. Am 4. März setzte der Ausstand dann mit voller Wucht ein. Insgesamt legten rund eine Million Beschäftigte die Arbeit nieder. Das Wirtschaftsleben der Hauptstadt kam weitestgehend zum Erliegen: Neben den Großbetrieben der Metall- und Elektroindustrie waren auch kleinere Unternehmen sowie das Verlags- und Zeitungswesen betroffen. Auch der öffentliche Nah- und Fernverkehr fiel praktisch komplett aus. Später kamen im Zuge einer Verschärfung auch die Versorgungsunternehmen für Gas, Wasser und Elektrizität hinzu. Als wesentliche Träger und Organisatoren fungierten die Räte in den Fabriken. Zu den Zielen gehörten die grundsätzliche Erhaltung der Räte, eine umfassende Armeereform, die Sozialisierung der Wirtschaft durch die Räte und enge Beziehungen mit dem revolutionären Russland. Falsche Gräuelberichte und einige tatsächliche Plünderungen am Alexanderplatz nutzte nun die Regierung, um den Belagerungszustand über Berlin zu verhängen und Truppen einzusetzen. Der Streik wurde schnell von der eskalierenden Gewalt überschattet, es kam zu heftigen Straßenkämpfen in der Innenstadt, die sich später vor allem in die östlichen Arbeiterviertel verlagerten. 49 Feldman u. a. (1971): Massenbewegungen, S. 100. 50 Siehe dazu ausführlich Weipert (2015): Zweite Revolution, S. 41–159.
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Unterdessen hatte die Streikleitung Verhandlungen mit der Regierung in Weimar aufgenommen. Diese zeigte unter dem Eindruck der großen Streikwelle – auch im Ruhrgebiet, Mitteldeutschland und an anderen Orten wurde die Arbeit niedergelegt – Kompromissbereitschaft. Sie versprach die Verankerung der Räte in der Reichsverfassung, die Sicherstellung betrieblicher Räte und eine rasche Sozialisierung einzelner Branchen. Das waren jedoch eher taktische Zugeständnisse, wenig davon wurde später Wirklichkeit. Zwar wurde in die Weimarer Reichsverfassung der „Räteartikel“ 165 aufgenommen und im Februar 1920 trat das Betriebsrätegesetz (BRG) in Kraft. Außerdem wurden 1919 einzelne Gesetze zur Sozialisierung erlassen. Das BRG sprach den Betriebsräten allerdings nur geringe innerbetriebliche Kompetenzen vor allem im sozialen Bereich zu, der aufgrund des Art. 165 WRV installierte „vorläufige Reichswirtschaftsrat“ blieb bezeichnenderweise bis zu seinem Ende im Dritten Reich auch dem Namen nach ein vorläufiger. Die Sozialisierung entsprach noch weniger den Versprechungen, denn Enteignungen fanden überhaupt nicht statt. Vielmehr erschöpfte sich die Gesetzgebung faktisch in der Einrichtung je eines Kohlen- und Kalisyndikats, das die Macht- und Eigentumsverhältnisse im Bergbau unangetastet ließ. Andere Branchen waren ohnehin nicht betroffen.51 Der Armeeeinsatz führte zu einer Verschärfung des Streiks, der nun zusätzlich auf die Wasser-, Gas- und Stromversorgung ausgedehnt wurde. Diese Ausweitung nahmen wiederum die SPD-Vertreter zum Anlass, sich aus der Aktion zurückzuziehen. Die Unabhängigen wollten ihn allein nicht fortführen, und nach weiteren, praktisch ergebnislosen Verhandlungen mit der Regierung brachen sie den Ausstand ebenfalls ab. Im Folgenden ist zu klären, wie der Generalstreik initiiert wurde und welche Rolle dabei das Rätesystem spielte. Hinsichtlich der USPD ist dies auch insoweit von Interesse, als dass Däumig ihn – unmittelbar während der Ereignisse – zum „Schulbeispiel“ für zukünftige Aktionen erklärte: Wir haben es zustande gebracht, daß ein großer Massenstreik inszeniert worden ist auf Grund einer Willenskundgebung einer Körperschaft, in der alle Teile und politischen Richtungen der Arbeiterschaft vertreten sind. Und dieses erste Schulbeispiel zeigt, wie wirksam das Rätesystem sein kann und sein wird.52
Besonders spannend ist die Mobilisierung für den Streik, da man daran gut die Rolle des Rätesystems in einer solchen Massenaktion nachvollziehen kann. Interessant ist, dass die lokalen Führungen von SPD und USPD gegen den Streik waren, er aber dennoch in der Vollversammlung der Berliner Räte beschlossen wurde. Wie kam es also dazu? Dazu ist es notwendig, sich mit der Basis der Rätebewegung, den Belegschaften der Groß-Berliner Betriebe, näher zu befassen. In der Regel wählten die Beschäftigten sowohl Vertreter für die Vollversammlung mit ihren insgesamt etwa 800 51 Zu Art. 165 WRV, BRG und der Sozialisierungsgesetzgebung siehe Weipert (2015): Zweite Revolution, S. 343–350; dort auch Verweise auf die weitere Literatur. 52 Engel u. a. (2002): Dokumente der Vollversammlung, S. 108.
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Delegierten, als auch innerbetriebliche Räte bzw. Vertrauensleute. Nicht selten waren beide Posten in Personalunion besetzt oder das Betriebsratsgremium delegierte aus seiner Mitte Vertreter zur Vollversammlung. Da der Delegiertenschlüssel einen Vertreter je 1.000 Beschäftigte vorsah, konnten Großbetriebe mehrere Delegierte entsenden, während umgekehrt die kleineren Unternehmen zu gemeinsamen Wahlkörpern zusammengefasst wurden. Mangels exakter Daten lässt sich nicht mehr eindeutig rekonstruieren, aus welchem Betrieb jeder einzelne Delegierte kam – zumal sich die Zusammensetzung durch Neuwahlen in den Betrieben laufend änderte. Anhand der Redner in der Vollversammlung und der Presseberichterstattung kann aber festgehalten werden, dass die Schwerpunkte der Räte in der Metall- und Elektroindustrie sowie dem Verkehrswesen lagen. Diese Branchen waren auch die wichtigsten in Groß-Berlin. Gerade die Vertreter der Großbetriebe wie AEG, Siemens, Schwartzkopff und Knorr-Bremse spielten wiederholt eine herausgehobene Rolle. Unmittelbar vor dem Generalstreik bildeten USPD (305 Mitglieder) und SPD (271) die beiden stärksten Fraktionen, gefolgt von den Kommunisten (99) und den der DDP nahestehenden Demokraten (95). Die Fraktionsdisziplin war jedoch deutlich weniger ausgeprägt als in Parlamenten üblich. Häufiger stimmten die Räte anders ab, als es ihre Fraktionsspitzen vorschlugen. Auch die Stärkeverhältnisse zwischen den Fraktionen waren einem stetigen Wandel unterworfen. Noch während des Streiks etwa traten einige SPD-Räte zur USPD über und bis April 1919 schrumpfte die Fraktion weiter auf nur noch 164 Mitglieder. In der Vollversammlung der Berliner Räte vom 31. Januar 1919 wurde erstmals das Thema Generalstreik eingebracht. Die Initiative ging aber nicht vom Vollzugsrat oder den Fraktionsführern aus, sondern kam von der Basis. Heinrich Weber, Obmann der AEG-Flugzeugfabrik in Hennigsdorf und zugleich Mitglied von Vollversammlung und USPD, brachte dazu einen Antrag ein. Da er einen guten Einblick in die Stimmungslage in den Betrieben gibt, lohnt es sich, ihn ausführlicher zu zitieren: Für jeden, der die Entwicklung der Revolution seit dem 9. November genau verfolgte, besteht heute kein Zweifel mehr, daß sie immer [mehr] in ein rein kapitalistisches, reaktionäres Fahrwasser gelenkt worden ist. […] Als größte ‚Errungenschaft‘ der Revolution präsentieren sich heute der neuerstandene Militarismus und die aus den überstürzten Wahlen geborene Nationalversammlung. Wir haben berechtigte Bedenken, daß diese Nationalversammlung das System der Arbeiterräte, unsere wichtigste Errungenschaft, hinwegfegen wird. Im Verfassungsentwurf sind die Arbeiterräte mit keinem Wort erwähnt. […] Jedenfalls steht für uns fest, daß die Arbeiterschaft sich der Beseitigung der Arbeiterräte mit den äußersten zu Gebote stehenden Mitteln widersetzen muß. 53
Im Februar 1919 setzte sich in den Betrieben dann der Stimmungsumschwung fort. Viele Belegschaften stellten Forderungen auf und sprachen sich für einen politi 53 Engel u. a. (1997): Dokumente der Vollversammlung, S. 512f. Außerhalb der Vollversammlung wurde der Antrag einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich durch Abdruck in: Der Arbeiter-Rat, 1919, Nr. 4.
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schen Streik aus. Ein Beispiel ist der Streikbeschluss der 3.000 Beschäftigten des AEG-Turbinenwerks, der von einem ihrer Delegierten so begründet wurde: Weil [die Beschäftigten] in der Nationalversammlung nicht sozialistische Arbeit erblicken, sondern Arbeit, die sich gegen den Sozialismus und gegen das Proletariat richtet. Wir sehen nur die Gewähr darin, dass durch Massenaktionen in jeder Beziehung die Arbeiterräte sichergestellt werden.54
Zu den Unternehmen, deren Belegschaft aktiv wurde, gehörte auch Borsig in Tegel. Am 22. Februar forderte hier eine Betriebsversammlung eine Entwaffnung der neugeschaffenen Freikorps und die „sofortige Anerkennung der Arbeiter- und Soldatenräte, denn nur das Rätesystem ist imstande, das deutsche Wirtschaftsleben zu heben und die sozialistische Republik zu wahren“.55 Die Arbeiterschaft der Maschinen- und Werkzeugfabrik Franz Stock in Treptow erklärte, sie stehe geschlossen hinter dem Rätesystem; ähnliches wurde von der Aron Elektrizitätszähler-Fabrik aus Charlottenburg gemeldet.56 Das waren keineswegs die einzigen Belegschaften, die auf diese Weise agierten; es ließen sich zahlreiche weitere Beispiele anführen. Der Impuls für den Streik kam also von unten, direkt aus den Betrieben. Dem konnten sich die gewählten Räte dann nicht verweigern. Sogar die SPD-Vertreter traten in die Streikleitung ein, obwohl sich der Streik faktisch gegen ihre eigenen Parteifreunde in der Regierung richtete. Nicht weniger wichtig ist dabei, dass dann die Arbeiterschaft im Generalstreik selbst für ihre Anliegen eintrat. Den Räten kam also eine Doppelrolle zu: Einmal als Organe, um Aktionen durchzuführen, und zum anderen war es gerade das Ziel dieser Aktion, die Räte zu stärken. Auch während des Streiks hat die Basis noch mehrfach eine wichtige Rolle gespielt. Zum Beispiel hat sie die erwähnte Verschärfung des Streiks durchgesetzt, um gegen den Militäreinsatz zu protestieren. Auch das geschah wieder gegen den erklärten Willen der Führer. Gescheitert ist der Streik am Ende nicht am mangelnden Rückhalt der Basis, sondern an einem massiven Militäreinsatz mit weit über tausend Toten. Der USPD kam im Berliner Streik eine wichtige, wenn auch nicht die allein maßgebliche Rolle zu. So war Richard Müller einer der Vorsitzenden der Streikleitung, in der Vollversammlung der Großberliner Arbeiter- und Soldatenräte stellte die USPD die stärkste Fraktion und in den Betrieben war die Partei ebenfalls fest verankert. Däumig lag mit seiner oben zitierten Einschätzung insofern richtig, als tatsächlich bewiesen wurde, „wie wirksam das Rätesystem sein kann“. Jedenfalls, was die Organisation einer Massenbewegung betrifft. Es ist also zumindest ungenau, wenn Mommsen ganz allgemein mit Blick auf die Bewegungen des Frühjahrs 1919 betont, die Initiative dazu sei von der Arbeiterschaft selbst, nicht von den Räten 54 Engel u. a. (1997): Dokumente der Vollversammlung, S. 820. 55 Rote Fahne, 1.3.1919; ein Bericht dazu auch im Vorwärts, 1.3.1919 M. 56 Freiheit, 24.2.1919 A.
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ausgegangen.57 Denn deren Initiativen konnten sich überhaupt nur dank der Rätestruktur wirksam entfalten. Es ist aber auch festzuhalten: Die Generalstreikwelle des Frühjahrs 1919 stellte den Höhe- und Wendepunkt der zweiten Phase der Rätebewegung in der Revolution dar. Zu keinem anderen Zeitpunkt gelang es ihr, eine derart breite Mobilisierung herbeizuführen. Ihre Ziele konnte sie jedoch kaum verwirklichen. So blieben sowohl der Verfassungsartikel 165 als auch das darauf aufbauende Betriebsrätegesetz von 1920 weit hinter dem zurück, was sich der Kreis um Däumig und Müller erhofft hatte – aber auch hinter dem, was die Vertreter des gemäßigten USPD-Flügels um Hilferding und Breitscheid konzipierten. Ungeachtet dieser Niederlagen waren die Streiks großangelegte außerparlamentarische Massenaktionen, die zeigen, dass die konzeptionellen Überlegungen des linken USPD-Flügels zumindest zeitweise eine praktisch-politische Wirkung entfalteten. Einige Zeit gelang es den führenden Vertretern des linken Flügels noch, wichtige Positionen einzunehmen; aber schon bald gerieten die meisten von ihnen ins politische Aus. Däumig wie Müller warben 1920 für einen Anschluss der Partei an die Komintern und, damit verbunden, um eine Fusion mit der KPD. Däumig wurde sogar zum Vorsitzenden der neuen Partei VKPD gewählt. Aber schon wenige Monate später trat er von seinen Ämtern zurück und verließ dann die Partei. Er wollte die aus seiner Sicht zu aggressive Linie, wie sie sich in der sogenannten Offensivstrategie und der gescheiterten Märzaktion 1921 zeigte, nicht mittragen. Gemeinsam mit Richard Müller beteiligte er sich an der Kommunistischen Arbeitsgemeinschaft Paul Levis, auch andere Berliner Räteaktivisten wie Heinrich Malzahn gingen diesen Weg mit. Däumig starb dann an den Folgen eines Schlaganfalls, den er während einer Reichstagssitzung erlitten hatte. Müller versuchte sich nach dem Scheitern der revolutionären Betriebsrätezentrale – die sich im Oktober 1920 auf dem Berliner Betriebsrätekongress gegenüber dem ADGB nicht durchsetzen konnte – an dem Aufbau alternativer Gewerkschaftsstrukturen. Diesem Projekt war jedoch ebenfalls kein Erfolg beschieden. Später zog er sich ganz aus dem politischen Leben zurück. Andere Funktionäre des linken Flügels spielten zwar in der KPD oder SPD noch eine Rolle, ohne aber deren Politik maßgeblich prägen zu können. Der politische Ansatz des linken Flügels der USPD teilte das Schicksal seiner führenden Protagonisten – er wurde in den Weimarer Jahren zwischen SPD und KPD zerrieben. Nach dem Abklingen der revolutionären Welle war auch kein Platz mehr für ein revolutionäres Rätesystem. Die im Rahmen des Betriebsrätegesetzes installierten Betriebsräte orientierten sich mehrheitlich am ADGB und konzentrierten sich fast ausschließlich auf eine innerbetriebliche Interessenvertretung ohne weitergehende politische Ambitionen.
57 Mommsen (1978): deutsche Revolution, S. 369.
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Axel Weipert
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ZUR GESCHICHTE DER USPD IN THÜRINGEN Mario Hesselbarth Mit Gotha – dem Ort ihrer Gründung vom 6. bis 8. April 1917 – und Gera – hier beschloss sie auf einem außerordentlichen Parteitag vom 20. bis 23. September 1922 mit übergroßer Mehrheit ihre Rückkehr in die SPD – markieren zwei thüringische Städte den Beginn und das Ende der nur fünfeinhalb Jahre als politisch relevante Kraft existierenden USPD. Wenngleich ihre Geschichte in Thüringen in Umrissen bekannt ist, fehlt bislang eine mit anderen Regionalstudien1 vergleichbare Gesamtdarstellung. Eine solche kann hier schon aufgrund des begrenzten Raums nicht gegeben werden. Nachfolgend will der Beitrag jedoch vor dem Hintergrund des bislang existierenden und durchaus widersprüchlichen Bildes über die USPD in Thüringen Anstöße für ihre noch ausstehende umfassendere Erforschung geben. Die in den 1960er Jahren in der DDR vorgelegten Arbeiten betrachteten die USPD hauptsächlich unter dem Aspekt der Vereinigung ihres linken Flügels mit der KPD im Herbst 1920.2 Aus dieser Perspektive schien sie von „antagonistischen Widersprüchen“ gekennzeichnet und habe „ein zeitweises Konglomerat entgegengesetzter Interessen und Ziele“3 verkörpert. Nach 1989/90 erfuhr auch die USPD in Thüringen eine Neuinterpretation. Aufgrund ihrer Verortung in der parlamentarischen Tradition der Sozialdemokratie sei ihre große Mehrheit nach der Novemberrevolution 1918 schnell für die parlamentarische Demokratie gewonnen worden, deren Etablierung ihre gemäßigten Führungen mit ermöglicht hätten.4Allein den Männern um Otto Geithner5 in Gotha sei zur Durchsetzung der „Diktatur des Proletariats“ jedes Mittel recht gewesen. Deren lokale Dominanz habe auf dem Rätesystem beruht, mit dem sie die Arbeiterschaft der Großbetriebe an sich banden.6 Gegenüber diesen Sichtweisen, die sich entweder auf die Zerrissenheit oder auf das Eintreten für den Parlamentarismus konzentrierten, muss das Agieren der Thüringer USPD sowohl in seiner Gesamtheit als auch seinem jeweiligen politischen, sozialökonomischen Umfeld und konkreten sozialistischen Milieu untersucht werden. Vieles spricht dafür, dass dabei neben Unterschieden auch Gemeinsamkeiten zum Vorschein kommen. Die USPD-dominierten Arbeiter- und Soldatenräte haben 1 2 3 4 5 6
Neuschl (1983): USPD in Württemberg. Hermann (1989): Geschichte der pfälzischen USPD. Pöhland (1965): Arbeiterbewegung in Ostthüringen; Buchsbaum (1965): Gothaer Arbeiterbewegung. Pöhland (1965): Arbeiterbewegung in Ostthüringen, S. II. Häupel (1995): Gründung Thüringen, S. 49. Seela (2002): Übergangslandtage, S. 248. Raschke (2006): Ernst Geithner, S. 177–183. Matthiesen (1995): Zwei Radikalisierungen, S. 42.
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während der Novemberrevolution 1918/19 in den Fürstentümern Reuß jüngere Linie (Gera) und Reuß ältere Linie (Greiz) mindestens ebenso tiefgreifend und nachhaltig in die sozialökonomischen und staatsrechtlichen Grundlagen ihrer Kleinstaaten einzugreifen versucht wie ihre radikaleren Parteifreunde in Gotha. Ein solcher Ansatz kann, darf und will jedoch die Differenzen weder verwischen noch ignorieren, die zwischen der revolutionären USPD in Gotha und der tief in der sozialdemokratischen Tradition verankerten marxistisch-reformerischen Richtung in Ostthüringen bestanden haben, die insgesamt den USPD-Bezirksverband dominierte und vom langjährigen Reichstagsabgeordneten Wilhelm Bock7 repräsentiert wurde. Zugleich aber bildete sich in Thüringen vor dem Hintergrund der innenpolitischen Zuspitzung während der Frühphase der Weimarer Republik im Zeitraum 1919/20 ein „Radikalismus ohne Radikale“8aus, der für die „Diktatur des Proletariats“ und das Rätesystem eintrat. 1. ZU DEN ANFÄNGEN DER INNERPARTEILICHEN OPPOSITION GEGEN DIE SOZIALDEMOKRATISCHE BURGFRIEDENSPOLITIK UND DIE GRÜNDUNG DER USPD IN THÜRINGEN Die „Politik des 4. August“ 1914, die in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung einen einschneidenden Wendepunkt markierte,9wurde von der Sozialdemokratie in Thüringenangesichts des vermeintlichen Verteidigungskrieges gegen den Zarismus zunächst weitgehend unterstützt, zumindest toleriert. Zunächst warenauch hierentsprechend dem Aufruf des SPD-Parteivorstands von 25. Juli 1914 massenhaft Arbeiterinnen und Arbeiter auf zahlreichen Kundgebungen für den Frieden eingetreten. Doch schon am 30. Juli erklärte der SPD-Reichstagsabgeordnete Heinrich Schulz im Erfurter Gewerkschaftshaus „Tivoli“: „Jeder Sozialdemokrat werde im bevorstehenden Krieg seine Pflicht tun müssen!“10 Das Gothaer Volksblatt, das bald zu den wenigen gegen den Burgfrieden opponierenden Parteiblättern gehören sollte, stimmte unmittelbar nach Kriegsbeginn zunächst in den Kampf gegen den Zarismus ein.11 Wer sich wie der junge Zeiss-Arbeiter Curt Böhme12 einen kritischen Blick für die Situation bewahrt hatte, bekam schnell die Wucht der Situation zu spüren. Als er nach dem erstmaligen Läuten der „Siegesglocken“ Mitte August 1914 seine Arbeitskollegen mahnte, das darin enthaltene Totengeläut für die gefallenen Väter, Söhne und Brüder zu erkennen und daraus Schlussfolgerungen gegen den Krieg zu 7
Hesselbarth (2006): Wilhelm Bock, S. 53–63. Bock war von 1884 bis 1907 und von 1912 bis 1918 Abgeordneter des Deutschen Reichstages. 1919/20 Mitglied der Nationalversammlung, danach ab 1920 bis zu seinem Tod 1931 wieder Abgeordneter des Deutschen Reichstages. 8 Schmidtke (1993): Sozialdemokratie in Nordhausen, S. 209f. 9 Kruse (1993): Neuinterpretation, S. 9. 10 zitiert nach Gutsche (1963): Revolutionäre Bewegung in Erfurt, S. 67f. 11 Seeber (1957/58): Kampf der Gothaer Arbeiter, S. 319. 12 Lengemann (2014): Böhme Curt, S. 183–185.
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ziehen, wurde er mit dem Vorwurf des „Landesverrats“ konfrontiert.13 Böhme war schon am Abend des 1. August 1914 mit einigen linken Jenaer Sozialdemokraten, unter ihnen die späteren kommunistischen Reichstagsabgeordneten Emil Höllein und Georg Schumann sowie die KPD-Mitbegründer Gertrud und Edwin Morgner14 zusammen gekommen um zu erörtern, wie „der Kriegspolitik begegnet werden müsse.“15 In Erwartung eines kurzen Krieges akzeptierten sie jedoch zunächst den „innerparteilichen Burgfrieden.“16 Ihn durchbrachen die Redakteure des Gothaer Volksblatts um Otto Geithner als erste Sozialdemokraten in Thüringen, als sie am 14. September 1914 die Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten kritisierten. Da das Blatt zunehmend auf Distanz zur „Politik des 4. August“ ging, geriet es in Konflikt sowohl mit dem Parteivorstand17 als auch mit den Militärbehörden. Im März 1915 wurde das Gothaer Volksblatt verboten,18 wenngleich Wilhelm Bock seine Weiterführung unter dem Namen „Gothaer Generalanzeiger“ erreichen konnte.19 Das Nein Karl Liebknechts zu den Kriegskrediten im Plenum des Deutschen Reichstages am 2. Dezember 1914 hatte die Existenz der sich ab Herbst 1914 allmählich herausbildenden innerparteilichen Opposition öffentlich sichtbar gemacht. Deren Breite und Mobilisierungsfähigkeit zeigte sich, als dasmaßgeblich von ihm initiierte Protestschreiben an den Parteivorstand vom 9. Juni 191520 von etwa eintausend sozialdemokratischen Funktionären und Mitgliedern aus dem gesamten Reichsgebiet unterstützt wurde. Aus Thüringen kamen mindestens 54 Unterschriften, wobei die Herkunft der Unterzeichner mit den späteren Hochburgen der USPD übereinstimmte.21 Zugleich zeigte das am 19. Juni 1915 vom SPD-Parteivorsitzenden Hugo Haase sowie den beiden Parteitheoretikern Karl Kautsky und Eduard Bernstein in der Leipziger Volkszeitung veröffentlichte „Gebot der Stunde“, dass auch das marxistische Parteizentrum vor dem Hintergrund der zunehmenden Annexionsforderungen den Krieg als Eroberungskrieg betrachtete und eine Abkehr von der Burgfriedenspolitik forderte.22 Nachdem es mit diesem Bestreben im Herbst 1915 endgültig gescheitert war, stimmten am 21. Dezember 1915 neben Karl Liebknecht und Otto Rühle achtzehn weitere SPD-Abgeordnete im Reichstagsplenum gegen die Kriegskredite.23 Die „relativ große Resonanz“, auf die diese Aktion innerhalb der Thüringer SPD stieß,24 zeigte, dass die anfängliche Unterstüt 13 Böhme (1967): Erinnerungen, S. 63. 14 Weber, Herbst (Hrsg.) (2004): Höllein, Emil, S. 318. Schumann, Georg, S. 717f. Morgner, Edwin und Gertud, S. 514f. 15 zitiert nach Schulz (2008): Gegen Krieg, Monarchie und Militarismus, S. 30. 16 Miller (1974): Burgfrieden und Klassenkampf, S. 76–78. 17 Fricke (1987): Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 634. 18 Seeber (1957/58): Kampf der Gothaer Arbeiter, S. 321. 19 Buchsbaum (1965): Gothaer Arbeiterbewegung, S. 30f. 20 IML (Hrsg.) (1958): Dokumente und Materialien, S. 169–185. 21 Kachel (2011): Ein rot-roter Sonderweg? S. 141. 22 Engelmann / Naumann (1993): Spaltung und Vereinigung, S. 17. 23 Kruse (1993): Neuinterpretation, S. 215–219. 24 Schulze (1976): Novemberrevolution in Thüringen, S. 28.
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zung der „Politik des 4. August“ einer zunehmenden Skepsis und Ablehnung gewichen war. Schon im Juli 1915 hatte die Mitgliederversammlung in Gera/Lusan ihren Abgeordneten Emanuel Wurm aufgefordert, gegen die Kriegskredite zu stimmen.25 Das massive Vorgehen der Partei- und Fraktionsführung gegen die Minderheit und insbesondere der Ausschluss Karl Liebknechts aus der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion am 12. Januar 1916 rief auch in der thüringischen SPD großen Widerspruch hervor26 und bildete die eigentliche Ursache für das Entstehen einer breiten innerparteilichen Opposition. Nachdem am 24. März 1916 die Minderheit von der Mehrheit aus der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ausgeschlossen worden war und sich als Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft (SAG)27 eigenständig konstituierte, erhielt sie in Thüringen aus den Wahlkreisvereinen in Erfurt sowie Reuß j.L. und Reuß ä.L. Unterstützung.28 In Jena gelang es der Opposition, bei der Neuwahl des Vorstandes im Juni 1916 die Mehrheit zu erringen.29 Den letzten Anstoß zur Parteispaltung gab der Parteivorstand mit seinem „Vorwärts-Raub“. Indem er die burgfriedenskritischen Redakteure des SPD-Zentralorgans „Vorwärts“ entließ, „wurden die linken Sozialdemokraten gegen ihre ursprünglichen Absichten gedrängt, ihre eigene Partei zu gründen, um überhaupt wieder über ein Sprachrohr für ihre Vorstellungen zu verfügen.“30 Nachdem die Opposition auf einer Reichskonferenz am 7. Januar 1917 über „Maßnahmen zum Schutze des Parteistatuts und der Organisation, sowie um die Sicherung der Eigentumsrechte der Parteigenossen an ihren Zeitungen“31 beraten und ihren Willen bekundet hatte, in der Partei verbleiben zu wollen, wurde sie von der Parteiführung ausgeschlossen.32 Das lehnte die außerordentliche Bezirkskonferenz der Thüringer SPD am 18. Februar 1917 mit großer Mehrheit und erklärte „Die Organisation kennt kein Außerhalb der Partei stellen.“33 Inhaltlich bezogen die Delegierten jedoch keine Position. Die SAG-Anhänger unterlagen mit ihrem Resolutionsentwurf knapp, während die Vorstandsunterstützer deutlich in der Minderheit blieben.34 Am 7. März 1917 lud der Gothaer Kreisvorstand zu einer „Konferenz der Opposition für Thüringen“ ein,35 die am 25. März stattfand. Aus den wenigen Überlieferungen geht hervor, dass an ihr SAG-Anhänger aus zehn Thüringer Wahlkreisen teilnahmen,36 die sich mit der Vorbereitung der für den 6. April 1917 nach Gotha einberufenen Reichskonferenz der Opposition befassten und deren Organisationsvorschläge 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36
Pöhland (1965): Arbeiterbewegung in Ostthüringen, S. 38. Krause (1975): USPD, S. 63. Ebd., S. 64/65. Volkszeitung, 14.04.1916. Pöhland(1965): Arbeiterbewegung in Ostthüringen, S. 82. Schulz (2008): Gegen Krieg, Monarchie und Militarismus, S. 70f. Brandt / Lehnert (2013): Mehr Demokratie wagen, S. 108. Prager (1921): Geschichte der USPD, S. 121f. Krause (1975): USPD, S. 79. Volkszeitung, 22.02.1917. Hesselbarth (2008): Spaltung der Sozialdemokratie, S. 99. Volkszeitung, 17.03.1917. Buchsbaum (1965): Gothaer Arbeiterbewegung, S. 60.
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einstimmig unterstützten. Die Debatte selbst jedoch verlief kontrovers, einige Konferenzteilnehmer betonten, „daß eine Verkleisterung der Differenzen nicht mehr möglich sei und es darum schon jetzt zu einer reinlichen Scheidung kommen müsse.“ Dem wurde entgegen gehalten, dass ein solcher Schritt erst dann erfolgen sollte, wenn der Parteivorstand organisatorische Maßnahmen gegen die Opposition ergreifen würde. „Allerdings müßten die oppositionellen Kräfte zusammenhalten und aktionsfähig gehalten werden, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein.“37 Für die nach der USPD-Gründung auch in Thüringen erfolgte SPD-Spaltung lassen sich die Konturen sehr eindeutig entlang der lokalen / regionalen Parteigeschichte und -tradition nachzeichnen.38 In den Wahlkreisorganisationen SachsenAltenburg, Sachsen-Meinigen und Schwarzburg-Rudolstadt hatte die reformistisch / revisionistische Richtung vor dem Ersten Weltkrieg dominiert. Sie verblieben nahezu geschlossen in der Mehrheitssozialdemokratischen Partei (MSPD). Ebenso gingen die in der Vorkriegszeit zentristisch orientierten Organisationen in den beiden reußischen Staaten, in Sachsen-Gotha sowie in Schwarzburg-Sondershausen fast vollständig zur USPD über. Dies gilt auch für die zu Preußen gehörenden Wahlkreisorganisationen Erfurt-Schleusingen, Nordhausen, Mühlhausen-Langensalza und Heiligenstadt-Worbis.39 Zur Spaltung kam es hingegen in Sachsen-Weimar und insbesondere in Jena.40 Neben Gotha war die Saale-Stadt in den nachfolgendeneineinhalb Jahren bis zur Novemberrevolution 1918 aufgrund des Agierens der USPD ein Zentrum der Massenproteste gegen den Ersten Weltkrieg.41 Ausgelöst durch die sich dramatisch verschlechternde soziale Situation, kam in den Protestaktionen jedoch vor allem der Wille der Arbeiterschaft nach einer sofortigen Beendigung des Krieges zum Ausdruck. 2. ZUR RADIKALISIERUNG DER USPD IN THÜRINGEN 1919/20 Im zentralen Konflikt der ersten Wochen nach der Novemberrevolution 1918 trat der USPD-Bezirksverband Groß-Thüringen mit großer Mehrheit für die Nationalversammlung ein. Getragen von der „Welle der proletarischen Einheit“42, die seit Beginn der Revolution die sozialdemokratische Arbeiterschaft beider Richtungen in Thüringens erfasst hatte, unterstrich der Geraer USPD-Funktionär Emil Vetterlein43 am 25. November 1918 mit seinem Aufruf „An alle Sozialdemokraten Großthüringens“ diese Position und plädierte für einen gemeinsamen Wahlantritt, um 37 Tribüne, 23.03.1917. 38 Miller (1974): Burgfrieden und Klassenkampf, S. 174. 39 Hess (1991): Geschichte Thüringens, S. 410. Schulze: Novemberrevolution in Thüringen, S. 30. 40 Schulz (2008): Gegen Krieg, Monarchie und Militarismus, S. 92f. 41 Schulze (1976): Novemberrevolution in Thüringen, S. 34–38. 42 Kachel (2011): Ein rot-roter Sonderweg? S. 159. 43 Lengemann (2014):VetterleinEmil, S. 655–657.
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das sie einende sozialistische Ziel zu erreichen.44 Die am 19. Dezember 1918 in Erfurt tagende USPD-Bezirkskonferenz schloss sich gegen die Bedenken der Gothaer Delegierten dieser Position an. Ihr Vorschlag einer paritätischen Liste war jedoch an die Bedingung geknüpft, die MSPD solle auf „kompromittierte Genossen“45, also Befürworter der „Politik des 4. August“ verzichten. Hieran scheiterte der USPD-Vorstoß Ende 191846 vor dem Hintergrund der zunehmenden Differenzen zwischen den beiden Parteien Ende 1918/19. Die Gothaer USPD sprach sich auf ihrer Landeskonferenz am 26. Januar 1919 für das „reine Rätesystem“47 aus. Diese Entscheidung veranlasste Wilhelm Bock zum Rücktritt als Mitglied der Gothaer Revolutionsregierung, in der nun ausschließlich Mitglieder des linken Parteiflügels vertreten waren. Zu diesem Zeitpunkt, Ende Januar 1919, hatte sich die politische Situation in Deutschland endgültig zugunsten der Konterrevolution verschoben. Die blutigen Berliner Januarkämpfe 191948 und insbesondere die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts durch rechtsextreme Freikorpssoldaten am 15. Januar 1919 mobilisierten auch in Thüringen die sozialistische Arbeiterschaft über die bestehenden politischen Differenzen und Parteigrenzen hinweg zu massenhaften Protesten. An den Streiks und Demonstrationen nahmen in Erfurt, Suhl, Nordhausen, Jena, Eisenach, Gotha und Gera jeweils bis zu 20.000 Menschen teil.49 Die Nachricht, dass zum Schutz der in Weimar tagenden Nationalversammlung Regierungstruppen aus Berlin in der Klassikerstadt eingetroffen waren, stieß aber nicht nur bei der Gothaer USPD, sondern auch bei der großen Mehrheit der Thüringer Arbeiter- und Soldatenräte auf massiven Widerspruch. Aus ihrer Sicht hatten sie dafür gesorgt, dass in Thüringen die Ereignisse friedlich geblieben und die Wahl zur Nationalversammlung ordnungsgemäß und ohne Störungen verlaufen war. Die Ursache hierfür sahen sie im weitgehenden Verzicht auf militärische Machtdemonstrationen.50 Deshalb richtete der gemäßigte und auf Verständigung bedachte Erfurter Arbeiter- und Soldatenrat51 an die Regierung die kritische Frage, ob sie von dem in Berlin und Bremen aufgrund ihrer Kopflosigkeit mit verschuldeten Blutvergießen noch nicht genug habe.52 Auf ihrer Eisenacher Tagung Anfang Februar 1919 beschlossen die Thüringer Soldatenräte, „die Nationalversammlung in Weimar in jedem Fall zu schützen“ um zugleich zu verhindern, „daß durch Berliner Truppen der Bruderkrieg provoziert wird.“53 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53
Volkszeitung, 14.12.1918. Gothaer Volksblatt, 23.12.1918. Volkszeitung, 03.01.1919. Gothaer Volksblatt, 29.01.1919. Winkler (1983): Stabilisierung, S. 120–133. Luban (2008): Luxemburgs Demokratiekonzept, S. 67–117. Schulze (1976): Novemberrevolution in Thüringen, S. 165–167. Gothaer Volksblatt, 01.02.1919. Kachel (2011): Ein rot-roter Sonderweg? S. 151. Gothaer Volksblatt, 01.02.1919. Volkszeitung, 04.02.1919.
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Der Weimarer Soldatenrat hatte die hierzu erforderlichen Maßnahmen bereits zu organisieren begonnen und ein erstes Vorauskommando der Regierungstruppen bei seinem Eintreffen in der Klassikerstadt54entwaffnet. Letztlich aber musste er sich der militärischen Übermacht beugen. Daraufhin stellte der USPD-dominierte Arbeiter- und Soldatenrat Gotha der Reichsregierung ein Ultimatum. Sie habe innerhalb von 24 Stunden ihre Truppen aus Weimar zurückzuziehen, anderenfalls würden für Großthüringen der Generalstreik organisiert und „alle zu Gebote stehenden Mittel, auch die der Gewalt“ angewendet werden.55 Dieses Agieren lieferte zwar die entsprechenden Vorwände sowohl für militärisches Eingreifen als auch bürgerliche Presseberichte über spartakistische Putschversuche. Entscheidend für die Konfrontationen in und um Gotha im Frühjahr 1919 war jedoch der Wille des MSPD-Reichswehrministers Gustav Noske, der Regierung gegenüber der Rätebewegung auch mit militärischer Gewalt Autorität zu verschaffen.56 Dass sich große Teile der westthüringischen Arbeiterschaft Ende Februar / Anfang März 1919 der mitteldeutschen Generalstreikbewegung anschlossen,resultierte nicht zuletzt aus der Eskalation in und umGotha infolge des überraschenden Einmarschs von Freikorpstruppen am Morgen des 18. Februar 1919.57 Der hierauf einsetzende Generalstreik58 weitete sich auf weitere Orte Westthüringens aus, als am 22. Februar 1919 auch Langensalza besetzt wurde.59 Aus diesen Anlässen schloss sich die Konferenz der Thüringer Arbeiter- und Soldatenräte am 23. Februar 1919 unter Androhung eines ganz Thüringen umfassenden Generalstreiks den allgemeinen Forderungen der Rätebewegung des Frühjahrs 1919 an. Gefordert wurden die Rücknahme des Erlasses über die Kommandogewalt, die umgehende Sozialisierung der Berg- und Monopolbetriebe, die Einsetzung von Betriebsräten sowie den sofortigen Rückzug der Regierungstruppen und deren Demobilisierung.60 Der sich bis in den Sommer 1919 hineinziehende aktive Widerstand gegen die Präsenz der Freikorps in Thüringen wurde damit auf der programmatischen Ebene von einer zunehmenden Radikalisierung der Arbeiterschaft begleitet. Ihren Ausdruck fand sie in der Forderung nach der „Diktatur des Proletariats“, die im Jenaer Aktionsprogramm Ende April 1919 die gemeinsame Plattform der „Vereinigten sozialistischen Parteien“61 gegen den Einmarsch von 6.000 Freikorpssoldaten am 26. April 1919 bildete, und dem sich die Arbeiterräte Thüringens Anfang Mai anschlossen.62 Am 29. April trat nahezu die gesamte Jenaer Arbeiterschaft in den Generalstreik, um den Truppenabzug zu erzwingen. Diese Aktion und die am 1. Mai 1919 54 55 56 57 58 59 60 61 62
Gothaer Volksblatt, 05.02.1919. Gothaer Volksblatt, 03.02.1919. Winkler (1983): Stabilisierung, S. 132. Matthiesen (1994): Das bürgerliche Gotha, S. 83. Buchsbaum (1965): Gothaer Arbeiterbewegung, S. 154. Schulze (1976): Novemberrevolution in Thüringen, S. 170. Volkszeitung, 26.02.1919. Volkszeitung, 29.04.1919. Pöhland (1965): Arbeiterbewegung in Ostthüringen, S. 278.
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stattgefundene Maidemonstration mit ihren 10.000 Teilnehmern63 machten jene Massenstimmung kenntlich, in der sich die lokale USPD radikalisierte. Hatte sie noch Ende Februar 1919 entsprechend des kurz danach vom Berliner „Revolutionsparteitag“ beschlossenen Aktionsprogramms den Einbau des Rätesystems in die Verfassung gefordert,64 plädierte sie nun für die „Diktatur des Proletariats“ und die Verwirklichung des „Rätesystems“. Als Anfang Mai 1919 in Gera bekannt wurde, dass Freikorpstruppen in die Stadt verlegt werden sollten, bildeten die Betriebsausschüsse spontan einen aus Mitgliedern der drei Arbeiterparteien bestehenden Aktionsausschuss, der sich das Jenaer Aktionsprogramm zu eigen machte. Für den Fall, dass tatsächlich Truppen in die Stadt verlegt werden würden, drohte er mit dem Generalstreik. Dem Arbeiterrat Gera blieb gar keine andere Wahl, als sich dieser spontanen Bewegung anzuschließen. Für die USPD konstatierte ihr Funktionär HeinrichKnauf, die spontane Aktion der Arbeiter sei völlig überraschend gekommen. „Wir müssen uns als Vertreter der USPD mit eiserner Konsequenz auf den Boden der Beschlüsse (des Aktionsausschusses) stellen, sonst geht die Radikalisierung der Massen über uns hinweg.“65 Die in diesen Beispielen kenntlich werdende Hinwendung der Thüringer USPD zur „Diktatur des Proletariats“ und zum Rätesystem resultierte jedoch im Unterschied zur reichsweiten Entwicklung weniger aus dem Zustrom radikalisierter junger Arbeiter. Zum Zeitpunkt des Bezirksparteitags am 28. September 1919 gehörten ihr 53.192 Mitglieder an, unter ihnen 11.697 Frauen.66 Das bedeutete einen Zuwachs gegenüber dem April 1919 von etwa 22 Prozent,67 demgegenüber war die Gesamtzahl der USPD-Mitgliedschaft im Zeitraum März bis Dezember 1919 von ca. 300.000 auf 700.000 angestiegen.68 Die Auswirkungen der Radikalisierung der Thüringer USPD zeigten sich insbesondere unmittelbar nach dem Scheitern des Kapp-Putsches am 17. März 1920. Entgegen den Aufrufen der Reichsregierung und der MSPD-Führung setzte die Arbeiterschaft auch in Thüringen ihren Generalstreik und Widerstand gegen die Reichswehr fort, weil sie nicht bereit war, einfach zur Tagesordnung der Zeit vor dem 13. März 1920 zurückzukehren.69 Während in Meiningen die lokale Arbeiterschaft den Abzug der Garnison gewaltfrei erzwang,70 kam es am 18. März in Gotha zu blutigen Kämpfen zwischen Reichswehr und Gothaer sowie Suhler Arbeiterformationen.71 Bei Zickra in Ostthüringen umstellten und entwaffneten Arbeiter 63 64 65 66 67 68 69 70 71
Schulz (2008): Gegen Krieg, Monarchie und Militarismus, S. 176–178. Volkszeitung, 26.02.1919. Miller (1978): Bürde der Macht, S. 324 Fleischer (1968): Novemberrevolution in Ostthüringen, S. 463. Neue Zeitung, 05.10.1919. Gothaer Volksblatt, 29.04.1919. Miller (1978): Bürde der Macht, S. 327. Winkler (1983): Stabilisierung, S. 309f. Baumgärtner (1980): Aktionseinheit, S. 38. Matthiesen (1994): Das bürgerliche Gotha, S. 97.
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wehren aus Gera und Greiz am 20. März 1920 zwei Plauener Reichswehrbataillone.72 Zur Sicherung ihres Erfolgs begannen sich die westthüringischen Arbeiterwehren ab dem 20. März 1920 zu einer „Volksarmee“ zusammen zu schließen.73 Bereits am 16. März hatte der Aktionsausschuss in Gera nach erfolgreicher Niederschlagung der lokalen Putschisten zur Fortführung des revolutionären Kampfes für den Sozialismus zur Bildung einer „Roten Armee“ aufgerufen.74 In Jena demonstrierten die Angehörigen der „Proletarischen Hundertschaft“ am 23. März sowohl ihre Bereitschaft, „die Stadt vor Blutvergießen zu bewahren“, als auch für die „Diktatur des Proletariats“ zu kämpfen.75 Dass in diesen Aktivitäten nicht nur der Wille zur Abwehr des Putsches, sondern zugleich die Hoffnung auf eine zweite Revolution zum Ausdruck kam, zeigte der Aufruf des Greizer Aktionsausschusses vom 16. März 1920. „Nicht zum Schutz der demokratischen Reichsverfassung, die eine Verfassung des Kapitalismus ist, und auch nicht zum Schutz der ordnungsgemäßen Reichsregierung, die durch ihre antirevolutionäre Politik der Gegenrevolution zum Sieg verholfen hat“, habe er die Arbeiterschaft zum Generalstreik aufgerufen, sondern zum Kampf gegen die Gegenrevolution und für den Sozialismus.76 Der Vollzugsrat des Gothaer Aktionsausschusses forderte am 14. März 1920, auf dem Boden des revolutionären Rätesystems gegen die Militärdiktatur zu streiken und für den Sozialismus zu kämpfen.77 Die revolutionäre Stimmung war dabei keineswegs auf die USPD-Hochburgen beschränkt, wie die Ausrufung einer Räterepublik in Schmalkalden belegt.78 Dennoch greift die Sicht zu kurz, die radikale Arbeiterschaft und hierin eingeschlossen große Teile der USPD hätten unter Ausnutzung des Kapp-Putsches versucht, die parlamentarische Demokratie zu beseitigen.79 Dies würde jenen Wandlungsprozess übersehen, den ein großer Teil der USPD-Basis einschließlich ihrer lokalen Führungen bezüglich der Ziele des Generalstreiks und der erforderlichen politischen Maßnahmen zur Sicherung seines Erfolges vollzog. Dies zeigte die „Einigungsgrundlage der drei sozialistischen Parteien Jenas“ vom 22. März 192080. Nicht nur hier stellte die USPD zur Sicherung des Erfolgs der Generalstreikbewegung ihre radikale Kernforderung, die „Diktatur des Proletariats“, im Interesse der Aktionseinheit der sozialistischen Arbeiterschaft zurück.81 Vor allem wird die These vom linken Gegenputsch dem Agieren der USPD in den Regierungen der thüringischen Kleinstaaten, auch und vor allem in Gotha, nicht gerecht. Die Gothaer Landesregierung erklärte bereits am 19. März, dass sich ihre 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81
Könnemann / Schulze (2002): Kapp-Lütwitz-Ludendorf Putsch, S. 761–763. Dok. 491. Ebd., S. 749. Dok. 486. Ebd., S. 744f. Dok. 481. Neue Zeitung, 24.03.1920. Könnemann / Schulze (2002): Kapp-Lütwitz-Ludendorf Putsch, S. 737. FN 2. Ebd., S. 738. Dok. 474. John (Hrsg.) (1996): Quellen zur Geschichte Thüringens, S. 88. Häupel (1995): Gründung Thüringen, S. 98. Büttner (2008): Weimar, S. 145. Schulz (2010): Jena 1919/1920, S. 85. Engelmann / Naumann (1993): Spaltung und Vereinigung, S. 149.
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Maßnahmen ausschließlich gegen die Putschisten richteten. „Alle Berichte über einen Putsch von links oder die Ausrufung einer Räterepublik sind frech erlogen, um die Bevölkerung zu verwirren.“82 Gleichzeitig bemühte sie sich um Kontakt zur Reichswehr in Kassel und Erfurt. Dem lokalen Bürgertum versicherte sie, dass an eine Rätediktatur nicht zu denken sei.83 Am 24. März erklärte sie die Volkswehr für aufgelöst und ordnete die umgehende Abgabe der Waffen an.84 Tatsächlich von den Arbeiterwehren zu verantwortende Übergriffe und Ungesetzlichkeiten verurteilte namens der USPD ihr Abgeordneter Hermann Brill85 am 29. März in der Landesversammlung, wobei er versicherte, sie seien bereits von der Regierung unterbunden worden.86 Diese Maßnahmen konnten den am 22. März 1920 beginnenden „Rachefeldzug“87 der Reichswehr in Westthüringen jedoch nicht verhindern. Ihm fielen in Sömmerda und Mechterstedt mehrere Arbeiter zum Opfer.88 Erst am 31. März 1920 erreichte der Thüringer Staatsrat bei der Reichsregierung die Aufhebung des Belagerungszustandes und damit das vorläufige Ende der Reichswehraktivitäten.89 Das Gothaer Bürgertum nutzte indes mit Erfolg die nach der Besetzung der Stadt durch Reichswehrtruppen am 26. März 1920 entstandene Situation zur Beseitigung der USPD-Landesregierung. Im geschickt-hinterhältigen Zusammenspiel zwischen bürgerlich / mehrheitssozialdemokratischer Landtagsopposition, deren Abgeordnete am 30. März 1920 ihre Mandate niederlegten und damit das Parlament funktionsunfähig machten,90 und Reichsregierung, die diesen Akt zum Vorwand für eine Reichsexekution nahm, wurde die demokratisch gewählte Landesregierung Sachsen-Gothas beseitigt.91 Die Folge war eine weitere Radikalisierung der Gothaer USPD. Wie schon zur Wahl der Nationalversammlung im Januar 1919 gehörte Thüringen bei der dem Kapp-Putsch nachfolgenden ersten Reichstagswahl der Weimarer Republik am 6. Juni 1920 zu den Hochburgen der USPD. Als zweitstärkste Partei im Deutschen Reichstag hatte sie damit „den Höhepunkt ihres Masseneinflusses“ erreicht.92
82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92
Könnemann / Schulze (2002): Kapp-Lütwitz-Ludendorf Putsch, S. 755. Dok. 753. Buchsbaum (1965): Gothaer Arbeiterbewegung, S. 277. Ebd., S. 279. Lengemann (2014): Brill Hermann Louis, S. 190–193. Verhandlungen der Landesversammlung 1919, S. 367f. Kachel (2011): Ein rot-roter Sonderweg? S. 156. Heither / Schulze (2015): Mechterstädt 1920, S. 152–176. Häupel (1995): Gründung Thüringen, S. 100f. Matthiesen (1994): Das bürgerliche Gotha, S. 99. Buchsbaum (1965): Gothaer Arbeiterbewegung, S. 277. Brandt / Lehnert (2013): Mehr Demokratie wagen, S. 123.
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3. ZUR LANDESPOLITISCHEN BEDEUTUNG DER USPD THÜRINGEN Die USPD prägte nach der Novemberrevolution 1918 aufgrund ihrer regionalen Verankerung die innenpolitische Entwicklung in den thüringischen Kleinstaaten Reuß j.L und Reuß ä.L. sowie in Sachsen-Gotha. Am 9. November 1918 hatte hier die revolutionäre Volksbewegung den Herzog gestützt, einen Tag später trat der reußische Fürst unter dem Eindruck der Revolution zurück. Die Arbeiter- und Soldatenräte übernahmen die oberste Staatsgewalt und ließen unter ihrer Aufsicht bürgerliche Minister die Verwaltungsarbeit weiterführen. Nicht nur in Gotha,93 sondern auch in Reuß blieb das Bürgertum von der Mitarbeit in den Arbeiter- und Soldatenräten ausgeschlossen.94 Ebenso wie die radikale USPD im Westen Thüringens verlangte die gemäßigte in Ostthüringen von den Lehrern und Beamten ein Bekenntnis zur sozialistischen Republik.95 Der Vollzugsausschuss für Reuß j.L. erließ Ende November / Anfang Dezember 1918 zusätzlich zu dem bereits verordneten Acht-Stunden-Tag ein Notgesetz über Mindestlöhne und Arbeitszeit. Am 28. Dezember folgte eine Notverordnung über Mindestgehälter für die Angestellten und Lehrlinge in Privatunternehmen. Gleichzeitig wurden in allen Betrieben des Landes auf dem Verordnungsweg Arbeiterausschüsse eingesetzt. Hinzu kamen Enteignungs-, Einkommens- und Vermögenssteuergesetze. Diese konkreten Maßnahmen bewirkten eine materielle Besserstellung der arbeitenden Bevölkerung und bis ins Frühjahr 1919 eine vergleichsweise ruhige Entwicklung.96 Am 14. November 1918 verfügte der Gothaer Arbeiter- und Soldatenrat die Einführung des Acht-Stunden-Tages und verpflichtete am 19. November alle Unternehmen, Arbeitern und Angestellten den gleichen Lohn zu zahlen.97 Zudem löste er den Landtag auf.98Obwohl Otto Geithner als Vorsitzender den Arbeiter- und Soldatenrat als eine Regierung mit Gesetzgebungsvollmacht betrachtete, die erst abtreten dürfe, nachdem sie die entsprechenden gesellschaftlichen Veränderungen im Sinne des werktätigen Volkes herbeigeführt hätte,99 setzte der Gothaer Rat bereits am 30. Dezember eine Kommission zur Vorbereitung und Durchführung der Wahl einer Landesversammlung ein.100 Diese erfolgte am 23. Februar 1919, die USPD erreichte dabei mit 50,9 Prozent101 die absolute Mehrheit. Dass sie eine Räteverfassung installieren wollte,102 geht jedoch am Kern des nachfolgenden Verfassungskonflikts vorbei. Der am 24. April 1919 veröffentlichte Verfassungsentwurf des 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102
Matthiesen (1994): Das bürgerliche Gotha, S. 38. Pöhland (1965): Arbeiterbewegung in Ostthüringen, S. 178. Ebd., S. 154. Schulze (1976): Novemberrevolution in Thüringen, S. 109. Ebd., S. 104. Ebd., S. 94–96. Buchsbaum (1965): Gothaer Arbeiterbewegung, S. 115. Gothaer Volksblatt, 31.12.1919. Häupel (1995): Gründung Thüringen, S. 69. Ebd., S. 76.
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Arbeiterrats stellte eine Kombination aus parlamentarischer, Räte- und plebiszitärer Demokratie und insofern eine radikal-linke Variante des Kompromisses des „Revolutionsparteitages“ der USPD dar.103 Dies zu konstatieren blendet keineswegs aus, dass dieser Entwurf mit seinen weitgehenden Rechten für den Landes-Arbeiter- und Bauernrat nur schwer mit den Vorstellungen einer parlamentarischen Demokratie in Übereinstimmung zu bringen war. Ebenso wenig zielte jedoch der Verfassungsentwurf auf ein Rätesystem. Deshalb beantragte die Ortsgruppe ZellaMehlis auf der USPD-Landeskonferenz Anfang Mai 1919, die Landtagsfraktion solle der Landesversammlung eine solche Räteverfassung vorlegen. Dieses Anliegen lehnte die große Mehrheit der Delegierten ab.104 Vor dem Hintergrund deskonfliktreichen ersten Jahres der Weimarer Republik bildete die Verfassungsfrage vielmehr den Ausdruck jener grundsätzlichen Auseinandersetzungen, die zwischen der allein regierenden USPD in Gotha einerseits und der vereinigten Landtagsopposition sowie der Reichsregierung andererseits ausgetragen wurden. Zugleich aber brachte die Verfassungsfrage die USPD selbst an den Rand der Spaltung, die nur durch einen Schiedsspruch der Parteiführung vermieden werden konnte. Letztlich musste Hermann Brill für seine Fraktion am 23. Dezember 1919 in der Landesversammlung konstatieren, dass die beabsichtigte Verbindung von parlamentarischer Demokratie und Rätegedanken nicht möglich sei. Das Proletariat könne sich das Rätesystem nur in den außerparlamentarischen Massenaktionen erkämpfen. Brill protestierte gegen den von der Reichsregierung ausgeübten Zwang in Form einer angedrohten Reichsexekution, „die freilich die notwendigen Grundlagen jeder Verfassung kapitalistischer Zeitalter sind.“105 Die Landtage der beiden reußischen Kleinstaaten wurden zwar nach der Novemberrevolution formal nicht aufgelöst, sie spielten jedoch wie in Gotha für die weitere Entwicklung keine Rolle, da sie nicht mehr zusammentraten. Die Bildung des Volksstaates Reuß erfolgte am 21. Dezember 1918 durch ein von beiden Arbeiter- und Soldatenräten verabschiedetes Notgesetz über eine Verwaltungsgemeinschaft106 und damit auf revolutionärer Grundlage. In den Anfang Februar 1919 neu gewählten kleinstaatlichen Landtagen erreichte die USPD in Reuß j.L. gemeinsam mit der MSPD 62,1 Prozent und in Reuß ä.L. 44,5 Prozent.107 Beide Häuser bestätigten nach ihrer Konstituierung Mitte Februar 1919 die von den Arbeiter- und Soldatenräten geschaffenen Tatsachen und tagten fortan als Landtag des Volksstaates Reuß gemeinsam.108 Mit der Verwaltungsgemeinschaft war zugleich das Modell geschaffen, nach dem die Bildung des Landes Thüringen letztlich erfolgen sollte. Erst die Novemberrevolution 1918 hatte eine Chance eröffnet, die längst überfällige Beseitigung der Kleinstaaterei durchzusetzen. Diesbezüglich erklärte die USPD 103 104 105 106 107 108
Miller (1978): Bürde der Macht, S. 324. Gothaer Volksblatt, 07.05.1919. Verhandlungen der Landesversammlung 1919, S. 313f. Seela (2002): Übergangslandtage, S. 249. Häupel (1995): Gründung Thüringen, S. 65–67. Seela (2002): Übergangslandtage, S. 254.
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Bezirksleitung schon unmittelbar nach der Revolution: „Das Thüringer Volk kann und will diese vielerlei Bevormundungen nicht mehr länger ertragen. Es will über seine Geschicke selbst entscheiden.“109 Die einzelnen Schritte zur Bildung des Landes, beginnend mit der am 10. Dezember 1918 in Erfurt tagenden Konferenz der Vertreter der Arbeiter- und Soldatenräte des 36. Reichstagswahlkreises bis zur Bildung des Thüringer Volksrates und der von ihm mit den Stimmen der USPD verabschiedeten provisorischen Landesverfassung können hier im Einzelnen nicht nachverfolgt werden.110 Bei der ersten Thüringer Landtagswahl am 20. Juni 1920 wurde die USPD mit knapp 28 Prozent stärkste Partei. Dennoch besaßen die beiden Arbeiterparteien aufgrund der großen Stimmenverluste der MSPD keine Mehrheit. Ihren insgesamt 26 Abgeordneten saßen 27 bürgerliche Mandatsträger gegenüber. Hatte die USPD unmittelbar nach der Wahl zunächst für eine rein sozialistische Regierung plädiert,111 war sie unter dem Eindruck der weiteren politischen Entwicklung zur Bildung einer Regierung mit MSPD und der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bereit. Damit wollte sie verhindern, dass eine bürgerliche Regierung die seit der Revolution von der Sozialdemokratie ergriffenen Maßnahmen zur gesellschaftlichen Umgestaltung rückgängig machen könne.112 In dem von ihr vorgeschlagenen „Abwehrkabinett“ beanspruchte die USPD den maßgebenden inhaltlichen und personellen Einfluss.113 Während die DDP eine Regierungsbildung unter den Bedingungen der USPD jedoch ablehnte, war die MSPD zur Zusammenarbeit bereit. Dies signalisierte sie mit ihrem Vorschlag an die USPD, so wie die Rechtsparteien eine gemeinsame Fraktion zu bilden und ihr damit den Anspruch auf das Amt des Landtagspräsidenten zu sichern.114 Zudem nahm der MSPD-Abgeordnete August Frölich am 31. Juli 1920 seine Wahl als Minister auf der Vorschlagsliste der vereinigten bürgerlichen Parteien, nicht an.115 Damit war die Regierungsbildung zunächst gescheitert. Obwohl sich im Sommer 1920 die innerparteilichen Auseinandersetzungen um die Frage der Internationale zuspitzten, unterstützte die USPD-Landeskonferenz am 29. August 1920 einstimmig die Haltung der USPD-Landtagsfraktion in der Regierungsfrage und bekräftigte das von ihr aufgestellte Programm.116 Die im November 1920 in Linke und Rechte gespaltene USPD gab diese Position jedoch auf und ermöglichte so die Bildung einer MSPD-DDP-Minderheitsregierung. Während die nun aus elf Abgeordneten bestehende USPD-Fraktion die Regierung direkt unterstützte, enthielten sich die vier zur KPD übergetretenen Abgeordneten bei der Wahl 109 110 111 112 113 114 115 116
Gothaer Volksblatt, 11.11.1918. Hierzu Häupel (1995): Gründung Thüringen, S. 80–106. Volkszeitung, 02.07.1920. Stenographische Berichte I. Landtag, S. 66f. Häupel (1995): Gründung Thüringen, S. 110. Volkszeitung, 23.07.1920. Stenographische Berichte I. Landtag, S. 129f. Neue Zeitung, 28.08.1920.
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ihrer Stimme.117 Gemeinsam mit den Rechtsparteien lehnte die KPD den von der Minderheitsregierung eingebrachten Entwurf eines Grundsteuergesetzes ab, woraufhin die Regierung zurücktrat und sich der erste Thüringer Landtag nach nur fünf Monaten Ende Juli 1921 auflöste.118 Die Landtagsneuwahl am 11. September 1921 fand wenige Tage nach der Ermordung des ehemaligen Reichfinanzminister Matthias Erzberger durch Mitglieder der faschistischen Geheimorganisation „Consul“ in einer reichsweit beeindruckenden Atmosphäre der republikanischen Gegenwehr119 statt. Der USPD-Bezirksvorstand hatte bereits in seinem Wahlaufruf zum Kampf gegen die Reaktion, die auch den Bestand Thüringens infrage stellte, aufgerufen. Die USPD schrieb sich den entscheidenden Anteil an der Gründung des Landes zu, dessen weitere Ausgestaltung sie beanspruchte.120 Das Wahlergebnis fiel für sie jedoch zwiespältig aus. Einerseits musste die USPD in Folge ihrer Spaltung vom Oktober 1920 einen Verlust von knapp 40 Prozent ihres Stimmenanteils hinnehmen. Damit reduzierte sich die Zahl ihrer Abgeordneten auf neun. Andererseits hatte die KPD mit sechs Mandaten die USPD-Verluste ausgeglichen, während die MSPD aufgrund ihrer Stimmenzuwächse nun über zwei Abgeordnete mehr verfügte. Insgesamt besaßen die drei Arbeiterparteien damit eine Mehrheit von zwei Mandaten,121 so dass die USPD den sofortigen Beginn von Verhandlungen zur Regierungsbildung forderte.122 In deren Ergebnis einigten sich MSPD und USPD am 5. Oktober 1921 auf die Bildung einer Minderheitsregierung, während sich die KPD dazu verpflichtete, diese zu tolerieren. Die Grundlage der Einigung der drei sozialistischen Parteien bildete eine Erklärung der USPD vom 20. September, die sich deshalb das Verdienst zurechnete, hierfür die Plattform geschaffen zu haben.123 Gegen den heftigen Widerstand der bürgerlichen Fraktionen wurde die sozialistische Regierung unter August Frölich am 7. Oktober 1921 mit den Stimmen der Abgeordneten der drei Arbeiterparteien gewählt. Die USPD stellte mit Karl Hermann124 den Innen- und Max Greil125 den Volksbildungsminister. Bis zur Wiedervereinigung mit der MSPD im Herbst 1922 verantwortete die USPD mit der Kommunalreform und der „Greilschen Schulreform“ die wichtigsten Vorhaben der Regierung Frölich.126
117 118 119 120 121 122 123 124 125 126
Stenographische Berichte I. Landtag, S. 192. Häupel (1995): Gründung Thüringen, S. 116. Büttner (2008): Weimar, S. 189. Tribüne, 20.08.1921. Häupel (1995): Gründung Thüringen, S. 120. Tribüne, 14.09.1921. Tribüne, 07.10.1921. Lengemann (2014): Hermann, Karl Robert, S. 330–333. Lengemann (2014): Greil, Max Richard, S. 293f. Häupel (1995): Gründung Thüringen, S. 119–155.
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4. ZUR SPALTUNG DER USPD THÜRINGEN IM HERBST 1920 UND IHRE WIEDERVEREINIGUNG MIT DER MSPD IM HERBST 1922 Nach dem Zusammenbruch der II. Internationale, dem Zusammenschluss der sozialdemokratischen Parteien Europas, am Beginn des Ersten Weltkriegs gehörte die Frage ihrer Wiederaufrichtung oder grundlegenden Neukonstituierung zu den heftigsten Kontroversen innerhalb der sozialdemokratischen Opposition. Während sich die um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht seit dem Frühjahr 1916 formierende Spartakusgruppe entsprechend ihren Leitsätzen für eine völlig neue zentralisierte Internationale aussprach, favorisierte die SAG die Wiedergründung einer reformierten II. Internationale.127 Der USPD-„Revolutionsparteitag“ Anfang März 1919 erklärte, die Internationale könne nur „auf dem Boden der revolutionären sozialistischen Politik im Geiste der internationalen Konferenz von Zimmerwald und Kiental“128 wieder aufgerichtet werden. Zeitgleich konstituierte sich in Moskau die Kommunistische Internationale (KOMINTERN). Die Beteiligung einer USPD-Delegation an der Luzerner Konferenz der II. Internationale Anfang August 1919 löste im Sommer / Herbst 1919 eine breite und intensive innerparteiliche Debatte aus. In Luzern versuchte die USPD vergeblich, die II. Internationale zu revolutionieren und zur Anerkennung des Rätesystems und der „Diktatur des Proletariats“ zu bewegen.129 Noch während der Verhandlungen forderte das Gothaer Volksblatt, sich darin mit vielen USPD-Parteiblättern einig wissend, den Anschluss an die KOMINTERN.130 In diesem „Drang nach Moskau“ zeigte sich eine praktische Konsequenz der Radikalisierung der USPD im Jahr 1919. Die Mehrheit der Delegierten des USPD-Bezirksparteitages Groß-Thüringen befürwortete am 28. September 1919 den Anschluss an die KOMINTERN, diesem Votum folgten die Unterbezirke Gotha, Suhl, Erfurt, Langensalza und Eisenach bei der Wahl ihrer Delegierten zum Außerordentlichen Parteitag. Heinrich Mehrhoff, USPD-Bezirksvorsitzender und erklärter KOMINTERN-Gegner, scheiterte in Erfurt mit seiner Parteitagskandidatur. Während sich die USPD Nordhausen gegen die KOMINTERN aussprach,131 vermied der Unterbezirk Reuß zunächst eine Festlegung.132 Einen Kompromissvorschlag für die weitere Entscheidungsfindung unterbreitete der Unterbezirk Jena, der für einen Zusammenschluss „des gesamten revolutionären Weltproletariats“ plädierte. Die Parteileitung sollte beauftragt werden, mit allen Parteien Kontakt aufzunehmen, die auf dem Boden der „Diktatur des Proletariats“ stünden und eine gemeinsam aktionsfähige und aktionswillige „Internationale der sozialistischen Tat“ bilden wollten. Wenn dies nicht gelänge, müsse sich 127 128 129 130 131 132
Wheeler (1975): USPD und Internationale, S. 24. Protokoll USPD-Parteitag März 1919, S. 4. Wheeler (1975): USPD und Internationale, S. 108–114. Gothaer Volksblatt, 05.08.1919. Wheeler (1975): USPD und Internationale, S. 145f. Pöhland(1965): Arbeiterbewegung in Ostthüringen, S. 298.
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die USPD der KOMINTERN anschließen.133 Diese links der Mitte liegende Position zeigte eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der Kompromisslösung des Leipziger Parteitages zur Frage der Internationale.134 Die in Anwesenheit einer USPD-Delegation auf dem II. Kongress der KOMINTERN Anfang August 1920 in Moskau beschlossenen 21 Aufnahmebedingen spitzten die innerparteilichen Auseinandersetzungen jedoch derart zu, dass die USPD auf ihrem Parteitag in Halle im Oktober 1920 faktisch zerbrach. Die These ihrer zwangsläufigen Spaltung deckt dabei jedoch nicht alle Aspekte des Problems ab. Plausibler erscheint jene Interpretation, die das Für und Wider zu den 21 Aufnahmebedingungen vor allem als Reaktion auf die Niederschlagung der Generalstreikbewegung gegen den Kapp-Putsch und der ihr folgenden politisch-gesellschaftlichen Entwicklung auffasst. Ein großer Teil der USPD-Mitglieder hatte sich infolge dieser Ereignisse weiter von der Weimarer Republik entfremdet, während die Sympathien für das bolschewistische Russland jedem sachlichen Einwand gegen die Aufnahmebedingungen den Boden entzogen.135 Insofern war es vor dem Hintergrund der Ereignisse in Gotha kein Zufall, dass der USPD-Landesparteitag bereits Anfang Mai 1920 erneut den Anschluss an die KOMINTERN forderte.136 Auf dem Parteitag in Halle votierten zwölf Thüringer Delegierte, unter ihnen Otto Geithner, Guido Heym, Karl Korsch und August Creuzburg137 für die Resolution „Däumig / Stoecker.“138, die sich für die Annahme der 21 Aufnahmebedingungen aussprach. Sie gehörten damit zur Parteitagsmehrheit, die am 16. Oktober 1920 ihren Anschluss an die KOMINTERN vollzog. Ihr gelang es jedoch nicht, die Mehrheit der Parteimitglieder, die der Abgeordneten oder der Parteizeitungen in Thüringen für sich zu gewinnen. Mit dem Gothaer Volksblatt und der Jenaer Neuen Zeitung gingen nur zwei der bisher zwölf USPD-Zeitungen zu ihr über. In ihren Hochburgen schlossen sich in Suhl 7.000, in Gotha 6.600 sowie in Erfurt und Jena jeweils knapp 5.500 Parteimitglieder der USPD-Linken an139, die insgesamt 26.295 der bisher knapp 60.000 USPD-Mitglieder für sich gewann.140 Sie bildeten nach der Vereinigung mit der KPD am 30. November 1920 die Massenbasis der Vereinigten Kommunistischen Partei in Thüringen. Die Rest-USPD bemühte sich ihre Existenzberechtigung als eigenständige Partei durch Abgrenzung sowohl von der KPD und USPD/Linke als auch der MSPD nachzuweisen. Sie bekannte sich weiterhin zu ihren revolutionären Grundsätzen, der „Diktatur des Proletariats“ und der Ablehnung jeglicher Koalitionspolitik mit bürgerlichen Parteien. Der Bezirksverband Thüringen zählte mit 38.700 Mitglie 133 134 135 136 137
Protokoll Parteitag Dezember 1919, S. 18. Antrag 40. Wheeler (1975): USPD und Internationale, S. 145. Wheeler (1975): USPD und Internationale, S. 245. Buchsbaum (1965): Linksentwicklung der Gothaer Arbeiterbewegung, S. 315. Weber, Herbst (Hrsg.) (2004): Heym Guido, S. 310–312. Korsch Karl, S. 398f. Creuzburg August, S. 138f. 138 Protokoll Parteitag Halle 1920, S. 258f. 139 Neue Zeitung, 01.12.1920. 140 Wheeler (1975): USPD und Internationale, S. 263.
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dern nun wieder zu den stärksten regionalen Organisationen innerhalb der RestUSPD, deren Mitgliederzahl insgesamt 340.000 betrug. Vor dem Hintergrund der 1921/22 zunehmenden innerparteilichen Tendenzen für eine Wiedervereinigung mit der MSPD entfaltete die reichsweite Protestwelle der Arbeiterschaft gegen die Ermordung Walter Rathenaus am 24. Juni 1922, dem Außenminister der Weimarer Republik, durch die rechtsextremen Organisation „Consul“ eine Art Katalysatorwirkung.141 Der nun in Gang kommende Wiedervereinigungsprozess der beiden Arbeiterparteien fand in Thüringen eine breite Unterstützung. Bereits am 21. Juli 1922 hatte eine in Erfurt tagende USPD-Funktionärskonferenz die eingeleiteten Schritte zur Wiedervereinigung mit der MSPD begrüßt,142 die dann vom Geraer Parteitag beschlossen wurde. Für die Thüringer USPD machte Heinrich Knauf, der den Parteitag eröffnete, die Motive und Erwartungen kenntlich. Sie würde „nicht ruhen und rasten, bis die vereinigte Partei eine revolutionäre Klassenkampfpartei geworden sei.“143 LITERATUR Baumgärtner, Jürgen: Aktionseinheit der südthüringer Arbeiterklasse schlägt die Kapp-Putschisten, Suhl 1980. Böhme, Curt: Erinnerungen im Jahre 1966. In: Sassning, Ronald: Die Jenaer Osterkonferenz 1916 und ihre aktuellen Lehren. Materialien und Dokumente zum 50. Jahrestag, Gera 1967. S. 62–63. Brandt, Peter / Lehnert, Detlef: „Mehr Demokratie wagen.“ Geschichte der Sozialdemokratie 1830– 2010, Berlin 2013. Buchsbaum, Ewald: Die Linksentwicklung der Gothaer Arbeiterbewegung von 1914 bis 1920 unter besonderer Berücksichtigung von der Entstehung und Entwicklung des linken revolutionären Flügels der USPD bis zu dessen Vereinigung mit der Kommunistischen Partei Deutschlands im Dezember 1920. Dissertation (unveröffentlicht), Halle 1965. Büttner, Ursula: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933, Bonn 2008. Engelmann, Dieter / Naumann, Horst: Zwischen Spaltung und Vereinigung. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands in den Jahren 1917–1922, Berlin 1993. Fleischer, Horst: Quellen zur Geschichte der Novemberrevolution in Ostthüringen,in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe. Heft 4, Jg. 17 (1968) S. 449–467. Fricke, Dieter: Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in zwei Bänden Bd. 1, Berlin 1987. Gothaer Volksblatt Gutsche, Willibald: Die revolutionäre Bewegung in Erfurt während des 1. Imperialistischen Weltkrieges und der Novemberrevolution, Erfurt 1963. Häupel, Beate: Die Gründung des Landes Thüringen. Staatsbildung und Reformpolitik 1918–1923, Weimar / Köln / Wien. 1995. Heither, Dietrich / Schulze, Adelheid: Die Morde von Mechterstädt 1920. Zur Geschichte rechtsradikaler Gewalt in Deutschland, Berlin 2015.
141 Ebd., S. 278. 142 Tribüne, 22.07.1921. 143 Protokoll USPD Parteitag Gera 1922, S. 123.
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ZWISCHEN PARLAMENTARISCHER DEMOKRATIE UND BOLSCHEWISTISCHER REVOLUTION Das Ende der USPD als Massenpartei Reiner Tosstorff In diesem Beitrag wird ein Überblick über die Stationen der USPD von Anfang 1919 über ihre Spaltung auf dem Parteitag in Halle im Oktober 1920 bis zur Wiedervereinigung (abgesehen von einem kleinen Rest) mit der SPD im September 1922 in Nürnberg gegeben.1 Nachdem sich in einer ersten Phase der Zusammenarbeit mit der SPD im Rat der Volksbeauftragten, der aus der Novemberrevolution hervorgegangenen provisorischen Regierung, die Differenzen immer mehr verschärft und sich schließlich als unüberbrückbar erwiesen hatten, hatte die USPD zunächst im Reich (29. Dezember 1918), dann auch in Preußen (3. Januar 1919) die gemeinsame Regierung verlassen. Die von ihr zu diesem frühen Zeitpunkt nicht gewollten Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar und zur preußischen Landesversammlung am 26. Januar 1919 endeten mit enttäuschenden, weil unerwartet schlechten Ergebnissen. (7,6 % bzw. 7,4 % gegen 37,9 % bzw. 36,4 % für die SPD). 1. SOZIALE KÄMPFE UND AUFSCHWUNG DER PARTEI Doch nur innerhalb weniger Wochen begann ein Aufschwung an Zustimmung und dann auch an Mitgliedschaft, der bis dahin beispiellos in der deutschen Parteiengeschichte war und der das Kräfteverhältnis zwischen beiden Arbeiterparteien umzukehren schien. Der Grund dafür waren die sehr schnell einsetzenden politischen und sozialen Auseinandersetzungen. Zwar war insgesamt die Revolution nach dem 9. 1
Die wesentlichen Darstellungen der USPD-Geschichte, auf die zurückgegriffen wurde, sind: Morgan (1975): The Socialist Left; Wheeler (1975): USPD und Internationale; Krause (1975): USPD. Noch immer mit Gewinn zu lesen ist auch die zeitgenössische Darstellung des früheren USPD-Journalisten Prager (1921): Geschichte. Unter den Memoiren ragen heraus für den rechten Parteiflügel Dittmann (1995): Erinnerungen; für den linken Geyer (1976): Die revolutionäre Illusion. Zum gesellschaftlichen und politischen Kontext, in dem sich die USPD bewegte, ist zweifellos die sehr umfangreiche, wenn auch der USPD nicht besonders zugeneigte Darstellung von Winkler (1984): Von der Revolution, noch immer grundlegend. Von besonderem Gewicht ist zudem die Darstellung der deutschen Revolution durch einen prominenten Vertreter des linken, eng mit der Rätebewegung verbundenen USPD-Mitglieds: Müller (2011): Geschichte der Novemberrevolution.
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November so verlaufen, dass man in den ersten beiden Monaten gleichsam tastend voranging, dabei aber auf ständige offene und verdeckte Widerstände stieß und so die Revolution letztlich stagnierte. Im Rat der Volksbeauftragten blockierten sich SPD und USPD gegenseitig, begleitet vom stillschweigenden Hinhalten durch den übernommenen Staatsapparat, während die Führung der Armee um Groener wachsenden Einfluss auf Ebert und die SPD-Volksbeauftragten gewann. Auf dem Reichsrätekongress (16.–21. Dezember 1918) konnte die SPD-Führung allerdings eine entscheidende Weichenstellung mit Blick auf die baldige Durchführung der Wahlen zur Nationalversammlung vornehmen. Damit war es offensichtlich, dass vor deren Zusammentritt grundlegende Veränderungen durch den Rat der Volksbeauftragten, der sich eigentlich auf die Räte hätte stützen können, nicht mehr vorgenommen würden. Als Folge davon standen aber auch die faktischen Errungenschaften der Revolution, das Gewicht und die Einflussmöglichkeiten der Arbeiterorganisationen, zur Disposition. Hatten sich zunächst die politischen Konflikte auf die Spitze beschränkt, wuchs nun auch an der Basis der revolutionären Bewegung langsam der Unmut. Er fand seinen ersten Ausdruck in verschiedenen Zusammenstößen, die zunächst in Berlin stattfanden und insbesondere auf die Ausschaltung der aus der Revolution hervorgegangenen bewaffneten Formationen zielte.2 Nach dem Konflikt um die Volksmarinedivision zu Weihnachten 1918 wurde mit den Januarkämpfen vom 5. bis 12. Januar 1919 unmittelbar vor den Wahlen zur Nationalversammlung ein erster Höhepunkt erreicht. Damit war der Konflikt auf die Straße getragen und unterlag der dort bestimmenden Eigendynamik. Zwar wurde zu Beginn der Kämpfe der Sturz der Regierung proklamiert. Als es dann aber nur noch um Verhandlungen über einen Abbruch der Kämpfe ging, war der nun ausschließlich aus SPD-Vertretern bestehende Rat der Volksbeauftragten unter Führung Eberts mit seinem neuem Mitglied Gustav Noske zu keinem Zugeständnis bereit. Die Zahl der Opfer, die auf Seiten der Aufständischen ein Vielfaches der Opfer auf Regierungsseite betrug, die Erschießung Unbeteiligter durch Reichswehr und Freikorps und das dadurch geschaffene Klima des Terrors sowie nicht zuletzt die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht vertieften die Spaltung innerhalb der Arbeiterbewegung. All das löste eine Radikalisierung aus, auch wenn sie sich in den Wahlen vom Januar noch nicht zeigte. Die Berliner Ereignisse wurden die Funken, die weit in das gesamte Reich, die „Provinz“, flogen. Nun kam es in vielen Industriegebieten zu oftmals gewaltsamen Auseinandersetzungen, zumeist aus Anlass „rein ökonomischer“ Konflikte um Lohn und Arbeitsplätze angesichts der desaströsen Wirtschafts- und vor allem Versorgungssituation, die aber bald übergehen sollten in Kämpfe zur Verwirklichung der sozialistischen Revolution: So insbesondere um die Sicherung der Räte als Vertretungs- und Kontrollorgane in den Betrieben, die sich oft mit der Forderung, den
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Dazu jetzt ganz neu die detaillierte Arbeit von Jones (2017): Am Anfang war Gewalt.
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Sozialisierungsbeschluss des Reichsrätekongresses zu verwirklichen, verschränkte.3 Hier kann keine vollständige Liste der großen politischen und sozialen Kämpfe gegeben werden. Es seien nur einige herausragende benannt. Ab Mitte Januar 1919 begann durch Streiks im Ruhrgebiet der Kampf um die Sozialisierung des Bergbaus. Es wurde die Neunerkommission aus der Streik- und Betriebsrätebewegung heraus gebildet, die in den folgenden Monaten vergeblich eine solche Sozialisierung durchzusetzen versuchte. Diese Mobilisierung wurde endgültig und blutig im Frühjahr des darauffolgenden Jahres im Anschluss an den Kapp-Putsch niedergeschlagen. Nach Bildung einer Roten Ruhr-Armee besetzte die Reichswehr das Ruhrgebiet. Die Sozialisierungsforderung durchwirkte aber noch lange Zeit die ökonomischen Kämpfe, insbesondere um die Schichtdauer im Bergbau. Bedeutender waren im Jahr 1919 natürlich die Auseinandersetzungen um die regionalen Räterepubliken in Bremen (Januar–Februar) und in Bayern (April–Mai). Die Märzkämpfe in Berlin zeigten, dass auch nach der blutigen Niederlage im Januar die Situation in der größten deutschen Industriestadt keineswegs „beruhigt“ war. Auch diesmal griffen, unter der obersten Leitung Noskes, inzwischen vom Volksbeauftragten zum Reichswehrminister gewandelt, Reichswehr beziehungsweise Freikorps ein. Das Halle-Mansfelder Industriegebiet, eine Hochburg der USPD, wurde ebenfalls zum Schauplatz ständiger Kämpfe, in denen die Betriebsräte eine besondere Rolle spielten. Das sind aber nur die Höhepunkte eines ganzen Jahres, in dem es vielerorts zu solchen ökonomischen, sozialen und politischen Kämpfen kam. Vor diesem Hintergrund machte die gesamte deutsche Arbeiterbewegung zunächst einen Prozess der elementaren Organisierung durch. Ausdruck hierfür war der gewaltige Zulauf bei den Gewerkschaften: Von 4,6 Millionen Mitgliedern im 1. Quartal 1919 wuchsen die freigewerkschaftlichen Organisationen auf 5,7 Millionen und schließlich auf 8,1 Millionen Mitglieder im Sommer 1920.4 Doch am deutlichsten zeigte sich die zunehmende Radikalisierung am nun einsetzenden Aufschwung der USPD: Zuvörderst, wenn auch nicht ausschließlich, in den großen städtischen Industriezentren und Hochburgen der Vorkriegssozialdemokratie. Die USPD hatte zwar einerseits ihre offiziellen Machtpositionen im Staat mit den Regierungsaustritten verloren. In der Nationalversammlung sah sie sich in zentralen Fragen isoliert und der geschlossenen Front der die Regierung bildenden Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und Demokraten gegenüber (sieht man vom Sonderproblem Versailler Friedensvertrag ab, wo die Spaltung durch das Regie 3
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Für das Folgende ist neben einer kaum noch überschaubaren Anzahl von lokalen und regionalen Studien mit Blick auf die Verzahnung von Kämpfen um die Betriebsräte mit der Entwicklung einer entsprechenden politischen Strategie, insbesondere bei der USPD, noch immer grundlegend Oertzen (1976): Betriebsräte. Ein neuerer Blick auf die Arbeitskämpfe und ihre Dynamik in den entsprechenden Abschnitten über diesen Zeitraum bei Weber (2010): Gescheiterte Sozialpartnerschaft. Potthoff (1979): Gewerkschaften und Politik, S. 41f.
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rungsbündnis ging und die USPD der Unterzeichnung zustimmte). Doch ihr strömten nun die Mitglieder zu. Auf dem Parteitag im März 1919 gab sie eine Mitgliederzahl von 300.000 an, die aber vermutlich schon übertroffen sei. Im Oktober waren es dann mit 750.000 mehr als doppelt so viele, so ungenau die Angaben im Einzelnen auch sein mögen.5 Dieses Mitgliederwachstum korrespondierte mit einem drastischen Stimmenanstieg bei den Wahlen nach dem Januar 1919, etwa bei den preußischen Kommunalwahlen. Besonders spektakulär war die Überflügelung der SPD in Berlin am 23. Februar 1919 (USPD 33 %, SPD 31,8 %). Hier hatte sich das Verhältnis im Vergleich zur Nationalversammlungswahl einen Monat zuvor (USPD 27,6 %, SPD 36,4 %) nun umgekehrt, und die USPD war jetzt die stärkste Partei.6 Ähnliches galt auch für andere Wahlen in dieser Zeit.7 Was die Mitgliedschaft anbetraf, wuchs die USPD nun auch in der Breite, also von den alten Oppositionszentren während des Kriegs in die angrenzende „Provinz“, von zweiundzwanzig auf zweiunddreißig Bezirke. Berlin-Brandenburg, Halle, der westliche rheinische-westfälische Industriebezirk und Thüringen und Sachsen blieben aber dennoch die Hochburgen und stellten die Mehrheit der Mitgliedschaft.8 Das Wachstum der Partei kam ebenso in dem starken Ansteigen ihrer Presse zum Ausdruck. Im August 1919 waren es nun 46 Tageszeitungen, nicht wenige davon erst im Verlaufe des Jahres gegründet.9 Vor dem Hintergrund der von Reichswehr und Freikorps blutig niedergeschlagenen Streik- und Protestaktionen der Arbeiterschaft ging das Wachstum der Mitgliedschaft Hand in Hand mit einem Radikalisierungsprozess der Parteibasis. Erstmals zeigte sich dies während des außerordentlichen USPD-Parteitages vom 2. bis 6. März 1919 in Berlin. Während der Beratungen wurde der gleichzeitig stattfindende Berliner Generalstreik durch Reichswehr und Freikorps mit Waffengewalt unterdrückt.10 Das wirkte sich unmittelbar auf die Atmosphäre des Parteitags aus. Innerhalb der Führung hatten sich schon seit einiger Zeit die Meinungsverschiedenheiten vertieft. Was sollte das Ziel der Partei sein? Eine Rückkehr in die Regierung unter modifizierten Bedingungen, das heißt eine im Wesentlichen parlamentarische Orientierung? Dafür stand eine Reihe Parteiführer wie Hugo Haase, Rudolf Hilferding und Rudolf Breitscheid. Sie sondierten solche Möglichkeiten und legten vor allem den Schwerpunkt auf das Auftreten in der Nationalversammlung. Auf der anderen Seite standen diejenigen, die besonders eng mit den verschiedenen Kämpfen verbunden waren und oftmals ihre Stütze in den noch vorhandenen Räten 5 6
USPD (o. J.): Protokoll Parteitag März 1919, S. 50; Morgan (1975): The Socialist Left, S. 242. Angaben auf https://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Stadtverordnetenversammlung#1919; http://www.wahlen-in-deutschland.de/wrtwberlin.htm [7. 8. 2017]. 7 Morgan (1975): The Socialist Left, S. 243, erwähnt etwa München, wo die USPD bei den Nationalversammlungswahlen im Januar 10 % des SPD-Stimmenanteils hatte und nun im Juni, nach der Erfahrung mit der Räterepublik, auf 170 % kam. 8 Ebd., S. 243f. 9 Ebd., S. 244f. 10 Vgl. dazu jetzt Lange (2012): Massenstreik und Schießbefehl.
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hatten. Sie wollten die gesetzlich noch nicht eingehegten Betriebsräte als Sprungbrett für einen Neuaufschwung der Rätebewegung nutzen. Vertreter dieser Richtung waren Wilhelm Koenen (Halle), Richard Müller (Berlin) und – noch – Robert Dißmann (Frankfurt). Teilweise – und das sollte bald zu einer neuen Differenzierung innerhalb der USPD-Linken führen – versuchten sie auch, die Radikalisierung in die Gewerkschaften hineinzutragen und dort die von SPD-Vertretern besetzen Funktionen zu erobern. Wortführer dieses linken Parteiflügels war auf dem Parteitag Ernst Däumig. Im Zentrum der programmatischen Vorstellungen des linken Flügels stand die Forderung – wenn auch in allgemeinen Worten – nach dem Rätesystem und der Diktatur des Proletariats. Vieles blieb dabei aber vage, man hatte auch wenig konkrete Kenntnisse von der Entwicklung in Sowjetrussland oder bezeichnete das, was man erfuhr, als der Bürgerkriegssituation geschuldet. So gelang es, ein Auseinanderdriften der Partei zu verhindern, indem man die beiden vorliegenden Programmvorschläge einfach verband. Noch war die Stellung des alten Führungskerns so stark, dass nach der Wahl der beiden „Flügelmänner“ auf dem Parteitag Haase und Däumig zu Ko-Vorsitzenden Haase durch seine Erklärung, nicht neben Däumig amtieren zu wollen, dessen Rücktritt erzwingen konnte. An seine Stelle trat Artur Crispien, der schon vor seiner Ministerzeit in Württemberg nach dem November 1918 ein gutes Stück Weg von Spartakus – er gehörte ursprünglich zum Gründungskern um Rosa Luxemburg – zum eher rechten Parteiflügel der USPD zurückgelegt hatte. Insgesamt bemühte sich der Parteitag also noch, das sich andeutende Auseinanderstreben zu vermeiden, indem ein mittlerer Kurs verabschiedet wurde. 2. VON DER INNERPARTEILICHEN FRAKTIONSBILDUNG ZUR SPALTUNG Einerseits war die Lage nach den großen Frühjahrskämpfen und deren Niederlagen spätestens ab Mitte 1919 vom Abschwung der revolutionären Welle gekennzeichnet. Auf der anderen Seite allerdings konsolidierte sich innerhalb der USPD der linke Flügel. Er baute seine Hochburgen aus und konzentrierte sich auf die Zusammenfassung der noch vorhandenen Betriebsräte. Wichtige Positionen wurden für die USPD nun in den Gewerkschaften gewonnen, wobei hier insbesondere die Übernahme des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, der größten Einzelgewerkschaft in Deutschland, zu erwähnen ist. Auf dessen Generalversammlung vom 13. bis 23. Oktober 1919 in Stuttgart wurde die alte Gewerkschaftsführung wegen ihrer Unterstützung der Burgfriedenspolitik abgelöst, wobei sich in dieser Abrechnung allerdings auch die Erfahrungen aus den zahlreichen gewerkschaftlichen Kämpfen, die von den Metallarbeitern in jenem Jahr geführt worden waren, ausdrückten. Wortführer der im Wesentlichen von der USPD getragenen innerverbandlichen Opposition – die KPD spielte zu dieser Zeit kaum eine Rolle in den Gewerkschaften – war Robert Dißmann. Er wurde einer von drei formal gleichberechtigten Vorsitzenden des DMV, faktisch aber wirkte Dißmann als „erster Vorsitzender“. Noch drei Monate zuvor, auf dem allgemeinen Gewerkschaftskongress in Nürnberg vom 30.
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Juni bis 5. Juli 1919, der die Umwandlung der bisher durch die Generalkommission zusammengefassten Gewerkschaften in den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) vollzog, war zwar auch schon Dißmann als Wortführer der Opposition gegen den Vorsitzenden Legien aufgetreten. Dort war sie jedoch deutlich in der Minderheit geblieben. (Die Oppositionsdelegierten repräsentierten ca. ein Drittel der Mitgliedschaft, ihre Delegiertenzahl lag aber aufgrund der Struktur des ADGB, die die kleineren Verbände begünstigte, deutlich darunter.)11 Mit dieser zunehmenden gewerkschaftlichen Präsenz war aber auch eine Festlegung in der Rätefrage nicht mehr zu umgehen. Was hatte Vorrang? Gewerkschaften oder Räte? Sollte man beides verbinden oder als Gegensatz sehen? Nach der Wahl der Nationalversammlung war eine Regierungsbildung (auf dem Boden der parlamentarischen Demokratie) nur unter Einschluss bürgerlicher Parteien möglich. Angesichts einer solcherart fehlenden Machtperspektive verlor der rechte Flügel der USPD, trotz seiner starken Persönlichkeiten insbesondere in der Nationalversammlungsfraktion, zunehmend an Einfluss innerhalb der Partei. Der Tod von Hugo Haase in Gefolge eines Attentats im November 1919 tat das Seinige dazu. Doch nun führte die Rätefrage zu einer neuen Differenzierung, die sich nicht zuletzt im gewerkschaftlichen Einflussbereich der USPD auswirkte. In Gestalt der Zeitung Arbeiter-Rat (Untertitel: Wochenschrift für praktischen Sozialismus. Organ der Arbeiter- und Betriebsräte Deutschlands) hatte sich der linke Flügel ein publizistisches Organ geschaffen, das seinen politischen Anspruch unterstrich, die Überreste der Rätebewegung in Gestalt der Betriebsräte zu einem Sprungbrett für einen neuen Aufschwung zusammenzufassen. Dies war allerdings nur das eine Problem, was die Differenzierung in die USPD hineintrug. Zunehmend wurde dieser Streitpunkt überschattet vom Problem der Internationale. Nach Kriegsende war es zu verschiedenen Initiativen gekommen (beginnend in Bern im Februar 1919), die Zweite Internationale wiederzubeleben. Dies fand eine Antwort in der Gründung der Kommunistischen Internationale (Komintern) im März 1919 in Moskau durch die Bolschewiki, ohne dass diese Internationale allerdings zunächst über Mitgliedsparteien mit einer Massenbasis außerhalb Russlands verfügte. Den seit Kriegsende etablierten kommunistischen Parteien, beispielsweise in Deutschland oder Österreich, fehlte weitgehend eine solche oder sie erlebten, wie in Ungarn mit der kurzlebigen Räterepublik, allzu bald eine schwere Niederlage. Die USPD hatte auch die Tagung in Bern beschickt und nahm an den Folgetreffen teil. Hier ging es um die Frage, ob und wie die Zweite Internationale wiederbelebt werden könne, dabei aber gleichzeitig die Burgfriedenspolitik verurteilt würde. Das beinhaltete zum einen natürlich eine scharfe Abgrenzung von der SPD. Zum anderen aber konnte sich dabei die USPD einigen sozialdemokratischen Massenparteien annähern, die deutlich weiter links standen, wie die französische, 11 Zum Nürnberger ADGB-Kongress vgl. Potthoff (1979): Gewerkschaften und Politik, S. 66– 84. Speziell zum DMV siehe Opel (1962): Der Deutsche Metallarbeiter-Verband, S. 97–109. Allgemein zur Gewerkschaftspolitik der USPD vgl. Högl (1982): Gewerkschaften und USPD.
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italienische, österreichische oder die Partei in der Schweiz. Diese hatten entweder die Burgfriedenspolitik nie vertreten oder waren davon inzwischen abgerückt. Sie sprachen zudem in der einen oder anderen Weise von der Notwendigkeit der Revolution und der Diktatur des Proletariats auf der Basis von Räten, allerdings oftmals verklausuliert und mit der Einschränkung, man brauche in den je eigenen Ländern aufgrund der vorhandenen demokratischen Traditionen keineswegs alle Methoden der Bolschewiki nachzuahmen. „Moskau“, also die Frage nach dem Beitritt zur Komintern, wurden dann aber zur wesentlichen Herausforderung für die USPD. Der linke Flügel liebäugelte zwar nun immer stärker mit dem Beitritt zur Komintern. Da diese im Westen aber schwach war, rückte zunächst in der USPD die Forderung nach Schaffung einer umfassenden „sozialrevolutionären Internationale“ in den Vordergrund. Anstelle des einfachen Anschlusses an ein Gebilde, das sich zwar auf das Prestige der Bolschewiki als „Revolutionäre der Tat“ – zumal sich im Wechsel 1919/20 ihr Sieg im Bürgerkrieg abzeichnete – berufen konnte, dem aber außerhalb Russlands einflussreiche Parteien fehlten, sollte eine „sozialrevolutionäre Internationale“ Ost und West vereinigen. Ausdruck des in der Partei erreichten Zwischenstandes wurde nach einer Reihe von kleineren Konferenzen der Leipziger Parteitag (30. November– 6. Dezember 1919). Auf ihm war der linke Parteiflügel schon deutlich stärker geworden, er konnte sich aber mit seiner Forderung nach einem direkten Anschluss an die Komintern noch nicht durchsetzen. Man verhandelte erneut einen Kompromiss im Sinne einer nach beiden Seiten hin offenen Internationale, für die eine internationale Konferenz einberufen werden sollte. Die Stimmen für einen direkten Beitritt zur Komintern kamen überwiegend von dem jüngeren Teil der Mitgliedschaft, der oftmals keine oder nur geringe Erfahrung in der Vorkriegspartei hatte und im Wesentlichen durch den Krieg radikalisiert worden war. Er war auch wesentlich stärker durch die Rätebewegung geprägt und weit weniger durch die parlamentarische Praxis, wie es bei den Gründern der USPD der Fall war. Dieser radikalere Teil konnte jetzt sein Gewicht in der Führung verstärken, ohne jedoch die Mehrheit zu stellen. Diese polarisierende, nur mühsam überbrückte Auseinandersetzung um die Internationale verhinderte schließlich, dass die Gewerkschaftsfrage intensiv diskutiert wurde. So artikulierten sich nur unterschwellig die Differenzen zwischen den von der USPD gestellten Gewerkschaftsführern wie Dißmann oder Josef Simon und dem linken Flügel mit seinem Beharren auf der selbständigen Existenz der Räte.12 Die Etappen der weiteren Entwicklung können hier nur skizziert werden: Äußere Voraussetzung war die weitere Verschärfung der politischen Lage. Ein besonderer Eckpunkt war die Verabschiedung des Betriebsrätegesetzes Anfang 1920, gegen die die USPD zu einer blutig niedergeschlagenen Demonstration vor dem Reichstag am 13. Januar aufgerufen hatte.13 Im März kam es zum Kapp-Putsch gegen die Republik und in der Antwort darauf zu einem gemeinsamen Abwehrkampf 12 Vgl. dazu USPD (1920): Protokoll Parteitag Dezember 1919. 13 Weipert (2012): Vor den Toren.
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von Gewerkschaften und den drei Arbeiterparteien. Die gemeinsame Aktion gipfelte in dem Vorschlag des Gewerkschaftsvorsitzenden Carl Legien nach einer Arbeiterregierung. Unabhängig von der Frage, wie ernst dieser Vorschlag gemeint war,14 lehnten die USPD und vor allem ihr linker Flügel den Vorschlag heftig ab. Nach den gemachten Erfahrungen mit der SPD in den Jahren zuvor war eine gemeinsame Regierung für die USPD kaum vorstellbar. Bei den Reichstagswahlen am 6. Juni 1920 zeigte sich, wie sehr die USPD inzwischen an Unterstützung gewonnen hatte. Das Ergebnis der USPD stieg gegenüber den Wahlen zur Nationalversammlungswahlen um zehn Prozentpunkte von 7,6 % auf 17,6 %. Dieser Stimmenzuwachs verdankte sich nicht unwesentlich ihren Gewinnen zu Lasten der SPD, die 16 Prozentpunkte verlor und nun mit 21,9 % nicht mehr Längen der USPD voraus lag. (Die Wahlbeteiligung ging allerdings auch um weit über eine Million Stimmen zurück.)15 Die sich darin ausdrückende gewonnene Stärke der Partei rückte in ihren Reihen die Frage der Internationale in den Vordergrund. Die von der USPD angestrebte internationale Konferenz – mit dem Ziel einer aus Ost und West zusammenwachsenden Internationale, aus linken Sozialdemokraten und Kommunisten – hatte sich, über einige informelle Gespräche hinaus, nicht realisieren lassen. In dieser Situation setzte ein intensives Werben aus Moskau ein. Briefe wurden hin und her geschickt. Emissäre suchten die USPD auf. Man versuchte, einen Keil in die Partei zu treiben und gegen die „opportunistischen Führer“ direkt an die „revolutionäre Basis“ zu appellieren. Zudem bemühte sich jetzt die KPD intensiver um die Herstellung von Kontakten, nachdem sie unter ihrem Vorsitzenden Paul Levi den linksradikalen Flügel, der zum Beispiel Gewerkschaftsmitgliedschaft und die Teilnahme an Wahlen ablehnte, im Oktober 1919 ausgeschlossen hatte. Dieser konstituierte sich im April 1920 als Kommunistische Arbeiterpartei. Das kommunistische Werben um die USPD gipfelte in einer Einladung zum zweiten Kongress der Komintern in Moskau im Juli / August 1920. Die USPD nahm diese an. Die bereits fortgeschrittene innere Konfrontation zeigte sich darin, dass die vier Delegierten je zur Hälfte einen der Flügel repräsentierten: Artur Crispien und Wilhelm Dittmann für den Moskau-skeptischen, an der alten Parteipolitik festhaltenden rechten Flügel, Ernst Däumig und Walter Stoecker vom linken, für eine auf die Räte gestützte Diktatur des Proletariats und für den Anschluss an die Komintern eintretenden Flügel. Umgehend nach dem Eintreffen in Moskau und dann auf dem Kongress selbst wurden die grundlegenden Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Delegation in den Diskussionen im Plenum und den Beratungen an seinem Rande deutlich.16 Hauptpunkt dabei waren die „21 Bedingungen“ für die Aufnahme der neuen, zur Komintern drängenden und aus der Sozialdemokratie stammenden Massenparteien. Sie sollten sich strikt auf 14 Führer (2009): Carl Legien, S. 241–251. 15 https://de.wikipedia.org/wiki/Reichstagswahl_1920 [7. 8. 2017]. 16 Zu seinem Verlauf vgl. jetzt die kommentierte Neuausgabe des Protokolls: Riddell (2015): To the Masses.
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zentralistischer Grundlage umorganisieren und die Wortführer des rechten Flügels ausschließen. Abgeordnete in Parlamenten hatten sich den Beschlüssen der Parteiführung zu unterwerfen, genauso wie sich Parteimitglieder in Massenorganisationen – vor allem in den Gewerkschaften – strikt an die Parteidisziplin zu halten hatten. Dazu wurde gefordert, mit dem Internationalen Gewerkschaftsbund (Amsterdamer Internationale), zu dem auch der ADGB gehörte, zu brechen und für die Schaffung einer neuen revolutionären Gewerkschaftsinternationale einzutreten. Nicht zuletzt dieser Punkt war für den Gewerkschaftsflügel der USPD unannehmbar, da er auf die Spaltung der deutschen Gewerkschaften hinausgelaufen wäre. Des Weiteren sollte ein militärischer Geheimapparat mit Blick auf die kommenden revolutionären Kämpfe geschaffen werden. Diese Mitgliedschaftsbedingungen wurden schließlich nach geringen Modifizierungen gegen eine kleine Minderheit in den verschiedenen Delegationen der nach Moskau eingeladenen Vertreter der Massenparteien angenommen. Als Konsequenz eines Beitritts zur Komintern hatte die USPD mit der KPD zu fusionieren. Schon bei ihrer Rückkehr zeigte sich die Delegation so gespalten, dass eine Überbrückung oder Wiederannäherung der Flügel praktisch ausgeschlossen war. Vor der Partei berichteten beide Seiten gegensätzlich. In den folgenden Wochen erlebte die USPD eine intensive Kampagne beider Seiten. Zwar begrüßte der linke Flügel die 21 Bedingungen keineswegs mit ausgestreckten Armen. Es wurde Kritik am überbordenden Zentralismus geäußert. Doch fühlte er sich stark genug für die Erwartung, in der neuen Partei ja noch immer Abänderungen erreichen zu können, und verwarf so die vom rechten Flügel geäußerten Befürchtungen. Im Übrigen seien sie nicht so wichtig wie das allgemeine Programm der Revolution. Die Abstimmungen in den Bezirken verliefen eindeutig. Die russische Revolution war wie ein Magnet, der die Mehrheit der USPD an sich zog. Entscheidend wurden die Delegiertenwahlen: 225 Delegierte, die 136.665 Mitglieder repräsentierten, wurden für die Annahme der 21 Bedingungen gewählt, 155 (für 99.668 Mitglieder) dagegen.17 Allerdings zählte die USPD 851.650 Mitglieder, ein Großteil hatte sich also an dieser doch entscheidenden Wahl gar nicht beteiligt. Das lag an einem ganzen Komplex von Gründen, die von technischen Schwierigkeiten – kurzfristige Ansetzung der Abstimmung, teilweise Durchführung an einem Werktag – bis zu einer gewissen Gleichgültigkeit reichten. Sei es weil die Stimmung in einem Wahlbezirk schon eindeutig war, weil man die Frage für zu abstrakt-theoretisch hielt oder man die entstandene bitter geführte Konfrontation ablehnte.18 Als der Parteitag in Halle am 12. Oktober 1920 zusammentrat, war der Bruch faktisch schon eingetreten und die Aufgabe bestand nur noch darin, ihn formell, gleichsam notariell beglaubigt, zu vollziehen.19 Vier Tage lang wurde heftig über die Aufnahmebedingungen und die allgemeinen Ergebnisse des Komintern-Kongresses diskutiert, wobei sich beide Seiten nichts schenkten. Daran nahmen auch 17 Wheeler (1975): USPD und Internationale, S. 248. Vgl. auch Morgan (1975): The Socialist Left, S. 376f. 18 Vgl. dazu die ausführliche Erörterung bei Wheeler (1975): USPD und Internationale, S. 257f. 19 USPD (1920): Protokoll Parteitag Oktober 1920.
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vier ausländische Vertreter teil: Julij Martov, der unbestrittene Führer der russischen Menschewiki, und Jean Longuet vom rechten Flügel der französischen Sozialisten plädierten gegen den Beitritt, und Grigorij Zinov’ev, der Komintern-Vorsitzende, und S. A. Lozovskij, der zukünftige Generalsekretär der im Jahr darauf geschaffenen Roten Gewerkschafts-Internationale, dafür. Am Nachmittag des 16. Oktober wurde abgestimmt: 236 für den Beitritt, 156 dagegen (wobei sich die Unterschiede zu den Wahlen aus dem Wechsel einiger Delegierter sowie aus Abwesenheiten ergaben). Die rechte Minderheit erklärte, die linke Mehrheit habe damit praktisch die USPD verlassen, und zog in einen anderen, vorbereiteten Saal aus. Beide Parteien wählten noch in ihren Schlusssitzungen jeweils neue Leitungen. Es folgten die Spaltung der Parlamentsfraktionen und es begann ein Kampf um die organisatorische Infrastruktur, insbesondere um die Zeitungen, wobei allerdings der rechte Flügel, wiewohl in der Minderheit gewesen, das Gros behalten konnte, da die zugrunde liegende Eigentumsstruktur in der Zeit vor der großen Radikalisierung der Partei geschaffen worden war. 3. EINE EIGENSTÄNDIGE USPD ZWISCHEN KPD UND SPD? Nun bestanden vorübergehend zwei Parteien, die den Namen USPD beanspruchten. Allerdings hatte die USPD-Linke mit ihrer Zustimmung zu den Mitgliedschaftsbedingungen ja den Willen zum Zusammenschluss mit der KPD ausgedrückt. Er wurde auf einem gemeinsamen Parteitag in Berlin (4.–7. Dezember 1920) vollzogen.20 Doch das eine war der Zusammenschluss der Parteistrukturen, das andere, was die alte Mitgliedschaft der USPD unternahm. Die Ergebnisse waren jedenfalls, gemessen an den Erwartungen des linken Flügels, ernüchternd. Wheeler zeigt in seinen ausführlichen Berechnungen21, dass zwar bei der USPD-Linken etwas mehr als 400.000 Mitglieder verblieben – eindeutig weniger als die von Zinov’ev erhofften 500.000 bis 600.000 – und beim rechten Flügel 340.000. Damit waren schon mehr als 125.000 Mitglieder – und immer unter Berücksichtigung, dass es die parteioffiziellen Angaben waren – in keiner der beiden Parteien mehr. Aber auch von der USPD-Linken gingen nicht alle den Weg in die KPD mit, selbst wenn der Verlust von etwa 50.000 Mitgliedern nicht sehr beträchtlich war. Aber immerhin „ergibt sich für die revolutionäre Arbeiterbewegung als Resultat der Spaltung ein Gesamtverlust von nicht weniger als 180.000 Personen oder ca. 20 % der Mitgliedschaft von KPD und USPD zusammen“.22 In der Wählerbewegung war dies noch deutlicher. Die „Rest“-USPD zeigte sich bei einer Reihe von Wahlen der neuen Vereinigten KPD überlegen. „Wahrscheinlich gaben 20–30 % der früheren USPDWähler ihre Stimmen nicht mehr für Parteien links von der SPD ab“, schließt 20 VKPD (1921): Protokoll Vereinigungsparteitag Dezember 1920. 21 Wheeler (1975): S. 262. Vgl. auch die ausführliche Analyse in Wheeler (1972). Morgan (1975): The Socialist Left, S. 383–386, kommt grosso modo zu vergleichbaren Angaben. 22 Wheeler (1975): USPD und Internationale, S. 264.
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Wheeler aus den Wahlergebnissen 1920/21 und fährt fort: „Die Spaltung kam also die radikale Arbeiterbewegung Deutschlands teuer zu stehen“.23 Bald trat noch ein weiterer Faktor hinzu. Die neue vereinigte KPD machte wenige Monate nach ihrer Entstehung eine tiefe Krise durch, als es im März 1921 zu einem putschistischen Vorgehen kam, das als „Märzaktion“ in die Geschichte eingegangen ist.24 Es kam zu Massenaustritten, vor allem formierte sich eine Opposition insbesondere von vielen einstigen Repräsentanten der USPD-Linken, die ironischerweise angeführt wurde von dem ehemaligen, bereits im Februar 1921 von seinem Posten zurückgetretenen KPD-Vorsitzenden Paul Levi. Sie wurden teils ausgeschlossen, teils traten sie aus und formierten sich im November 1921 als Kommunistische Arbeitsgemeinschaft (KAG) neu. Ihr gehörten nicht zuletzt eine Reihe von Reichstagsabgeordneten, aber auch viele Gewerkschaftskader der Partei an. Diese Strömung, die zunächst auf eine Reform der Partei und damit auf eine Rückkehr zu ihr gehofft hatte, ging schließlich größtenteils im März / April 1922 zur USPD zurück. Hier wurden sie allerdings, aufgrund der Konfrontation im Jahre 1920, durchaus reserviert empfangen. Doch trotz dieser Rückschläge, die die KPD durchmachte, blieb die Anziehungskraft der russischen Revolution ungebrochen und so sah sich die „RestUSPD“ in der Zwickmühle. Sie musste sich nicht nur nach rechts gegenüber der SPD, sondern auch weiterhin nach links abgrenzen. Zunächst galt es, die übriggebliebene Organisation zu konsolidieren. Dies gelang bemerkenswert schnell, wobei sich zweifellos, worauf bereits hingewiesen wurde, ausgezahlt haben dürfte, dass die Mehrheit der Parlamentarier und der Zeitungen bei ihr verblieb. Anfang 1922 zählte die USPD etwa 300.000 Mitglieder, trotz ihrer schwierigen finanziellen Situation und vor dem Hintergrund der sich langsam entwickelnden Inflationskrise gewiss zunächst einmal keine ungünstige Ausgangslage. Auch wenn es gelungen war, alle Bezirke der Partei wieder aufzubauen, so war jetzt allerdings die Mitgliedschaft regional viel konzentrierter. Sachsen, Berlin und Thüringen umfassten im Frühjahr 1921 die Hälfte der Mitgliedschaft, zusammen mit dem Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet 60 Prozent. Das bedeutete, dass es ehemalige Hochburgen gab wie Hamburg oder Stuttgart, in denen die Partei aufgrund des Wechsels der allermeisten Mitglieder zu den Kommunisten inzwischen nur noch eine Randgröße darstellte. „Die USPD war zurückgeschrumpft auf ihre frühen Hochburgen und damit nun von ihnen dominiert.“25 Von besonderem Gewicht war zweifellos, dass die von USPD-Mitgliedern besetzten Führungspositionen in den Gewerkschaften trotz der Spaltung der Partei weiter aufrechterhalten werden konnten. Das galt besonders für den DMV, in dem der linke USPD-Flügel an der Basis besonders stark gewesen war, so dass die USPD-Strömung um Dißmann eigentlich ihre frühere Mehrheit verloren hatte. Dies bedeutete, dass die USPD-Gewerkschafter nun stärker mit denjenigen der SPD 23 Wheeler (1975): USPD und Internationale, S. 267. 24 Koch-Baumgarten (1986): Aufstand der Avantgarde. 25 Morgan (1975): The Socialist Left, S. 388.
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kooperieren mussten, um ihre Positionen zu sichern. Eine gemeinsame Basis fand man in der Verteidigung der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale, insbesondere als die KPD in den ersten Monaten des Jahres 1921 versuchte, in den Gewerkschaften Delegierte für den Gründungskongress der Roten Gewerkschaftsinternationale in Moskau wählen zu lassen. Allerdings kam den USPD-Gewerkschaftern dabei bald der desaströse Kurs der KPD mit ihrer Märzaktion zu Hilfe.26 4. USPD UND INTERNATIONALE ARBEITSGEMEINSCHAFT SOZIALISTISCHER PARTEIEN Hatte sich die USPD über den Beitritt zur Komintern gespalten, so stand nun die Frage für die „Rest-USPD“, was aus der Forderung nach einer allumfassenden „sozialrevolutionären Internationale“ werden sollte. Bereits im Juli / August 1920 hatte sich die Zweite Internationale, die nur noch die Parteien des Burgfriedens im Weltkrieg, das heißt in Deutschland die SPD, umfasste, auf einem Kongress in Genf rekonstituiert. Ihr Sitz war nun London, die Labour Party ihre größte Stütze. In den der USPD nahestehenden linkssozialdemokratischen Parteien hatten sich ähnlich dramatische Auseinandersetzungen über den Anschluss an die Komintern entwickelt, die dann in Spaltungen endeten. Keineswegs alle verliefen so wie bei der USPD oder bei den französischen Sozialisten, die sich mehrheitlich für Moskau entschieden. Zumeist blieben die pro-kommunistischen Kräfte in der Minderheit. Die Mehrheit verteidigte eine Haltung zwischen Zweiter und Dritter Internationale, oder in den Worten Wilhelm Dittmanns zur Charakterisierung der USPD: „die auf dem Boden des wissenschaftlichen Marxismus stehende proletarische Massenpartei Deutschlands, die sowohl den Nurreformismus wie den Putschismus verwirft.“27 Ganz im Schatten der Auseinandersetzungen während des Jahres 1920 hatten tatsächlich bereits eine Reihe von Treffen im Wesentlichen von USPD, französischen Sozialisten und der Schweizer Sozialdemokratie für den Fall stattgefunden, dass die Verhandlungen mit Moskau scheitern würden. Daran wurde dann nach Halle verstärkt angeknüpft und Ende Oktober 1920 ging von der „Rest-USPD“ eine Einladung zu einer internationalen Beratung in Bern an gleichgesinnte Parteien heraus. Ähnliche Initiativen kamen aus anderen Ländern. Man war sich nicht ganz einig, ob dies eine Initiative zur Gründung einer allumfassenden Internationale oder in einem eingeschränkten Sinne die Bildung eines Blocks war, um von der Komintern eine Revidierung der 21 Bedingungen zu erreichen. Dennoch kam es zu weiteren vorbereitenden Treffen und schließlich vom 22. bis 28. Februar 1921 zu einer breiten Konferenz in Wien. Auf ihr wurde die Internationale Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien (IASP) gegründet.28 Von ihren kommunistischen Gegnern ironisch Zweieinhalbte Internationale getauft, aber auch als Wiener Internationale 26 Tosstorff (2004): Profintern, S. 211–217, 386–395. 27 Zit. in Morgan (1975): The Socialist Left, S. 390. 28 Die umfassende Darstellung ist noch immer Donneur (1967): Histoire.
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bekannt, sollte sie allerdings nach ihrem Verständnis keine eigene neue Internationale sein, die direkt im Gegensatz zu den bestehenden Organisationen stünde, sondern nur ein Mittel zu ihrer Schaffung. Die IASP beanspruchte, ein Drittel des organisierten Proletariats in Europa zu vertreten, doch lag der Schwerpunkt ihrer Mitgliedschaft eindeutig auf Deutschland und Österreich. Die von der Spaltung drei Monate zuvor übriggebliebenen französischen Sozialisten mussten erst ihre Partei wieder aufbauen. Die Schweizer Sozialdemokratie überragte zwar deutlich die schwache kommunistische Bewegung, doch war auf Europa bezogen das Land zu klein. Die britische Independent Labour Party stellte nur eine Minderheit der Labour Party dar, der sie kollektiv angeschlossen war, und die osteuropäischen Mitgliedsparteien waren mit Ausnahme des Jüdischen Arbeiterbundes eigentlich nur Splittergruppen, insoweit es sich bei ihnen nicht direkt um Exilgruppen handelte. Um einen eigenständigen Faktor darstellen zu können, war die IASP somit zu schwach. Letztlich war auch die Situation der Mitgliedsparteien in ihren Ländern zu unterschiedlich und sie erwiesen sich als politisch zu heterogen, um gemeinsam langfristig vorgehen zu können. Dennoch konnte die IASP beanspruchen, einen wichtigen Versuch zu einer Verständigung zwischen den verschiedenen Strömungen der internationalen Arbeiterbewegung unternommen zu haben. Auf ihre Initiative hin kam es im April 1922 in Berlin zu einem Treffen der „drei Internationalen“. Auch wenn es sogar zur Einsetzung einer gemeinsamen Kommission kam, stellte sich umgehend heraus, dass die Widersprüche zu groß waren, um zu einer auch nur kurzfristigen Vereinbarung über gemeinsame Aktionen zu gelangen. In den vorausgegangenen Jahren war zu viel passiert, als dass die existierenden Gräben einfach zugeschüttet werden konnten. Gleich auf ihrer ersten Sitzung im Folgemonat ging die gemeinsame Kommission ergebnislos auseinander. 5. DER WEG ZUR VEREINIGUNG MIT DER SPD Wie schwierig die Situation für die USPD geworden war, ein eigenständiges Profil nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern auch in politische Ergebnisse umzusetzen, zeigte der Parteitag vom Januar 1922, der erneut in Leipzig, der Hochburg der USPD, stattfand. Sich abzeichnende Meinungsverschiedenheiten wurden dort in der Beschwörung der gemeinsamen Traditionen und Erfahrungen zugedeckt.29 Zwar war nach der Spaltung die Wiederherstellung der Partei einigermaßen gelungen. Doch konnte auf die Dauer ihre selbständige Existenz mit dem Ziel, eine Art Scharnierfunktion in der Arbeiterbewegung auszuüben, nicht aufrechterhalten werden. Die SPD übte Druck auf Teile der USPD aus, der sich insbesondere dort ergab, wo gemeinsame parlamentarische Mehrheiten oder die Möglichkeit dazu existierten. Das war in Braunschweig, Thüringen und Sachsen der Fall. Allerdings versuchten ihrerseits auch die Kommunisten Einfluss zu nehmen, bei denen jetzt die Vorstellung aufkam, „sozialistische Mehrheiten“ zu unterstützen. Zeitweise 29 USPD (1922): Protokoll Parteitag Januar 1922.
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erschien auch die Möglichkeit einer politischen Annäherung in der gemeinsamen Forderung, die Besitzenden für die Kriegs- und Kriegsfolgekosten (Reparationen) heranzuziehen („Sachwerterfassung“). Doch dies wurde umgehend von der SPD durch die Annahme ihres neuen Programms konterkariert (Parteitag von Görlitz, 18.–24. September 1921), das aus Perspektive der USPD eine eindeutige Absage an den Klassenkampf und den Marxismus als mögliche gemeinsame politische Grundlage darstellte. Noch gravierender war das Liebäugeln der SPD mit einer großen Koalition und damit die Hereinnahme der schwerindustriellen Deutschen Volkspartei in die Regierung, da die alte Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP nicht mehr über die Mehrheit im Reichstag verfügte. Zudem kam es immer wieder zu Streiks und anderen sozialen Bewegungen, die von der USPD unterstützt, von der SPD aber abgelehnt oder offen bekämpft wurden. Hierzu zählte etwa der von der USPD (und auch KPD) unterstützte Eisenbahnerstreik vom Februar 1922, gegen den die Regierung vorging und der zur Festlegung des generellen Beamtenstreikverbots führte. Als in dieser Situation eine Regierungskrise drohte, kam es zum ersten Mal zum Auftreten einer Minderheit in der Reichstagsfraktion, die sich disziplinwidrig einem Misstrauensantrag entzog und durch ihre Abwesenheit die Regierung stützte, um eine bürgerliche Rechtsregierung zu verhindern. Intensive Auseinandersetzungen folgten, die einen ersten Höhepunkt im Rücktritt der Redaktion des Zentralorgans der Partei, Freiheit, fand. In dieser Situation war der Anschluss der KAG im April 1922, so sehr er auch aufgrund der ja nicht einmal zwei Jahre zurückliegenden Konfrontation und Spaltung mit einem gewissen Unbehagen betrachtet wurde, zwar eine gewisse Stärkung der Partei und ihres Anspruchs auf Eigenständigkeit. Doch konnte er an den allgemeinen Bedingungen nichts ändern. Vor allem sah sich die USPD in einer finanziellen Krise, die immer existenzbedrohender wurde. Hintergrund dafür war natürlich die allgemeine Wirtschaftslage, in der die Inflation das beherrschende Merkmal wurde, eine Situation, die durch das ungeklärte Reparationsproblem verschärft wurde. So stagnierten die Mitgliederzahlen oder gingen gar zurück, die Parteipresse war in einem Teufelskreis aus notwendigen Preiserhöhungen und im Gefolge sinkenden Auflagen gefangen. Wheeler kommt zu einem lapidaren Schluss: „Tatsächlich stand die USPD im Sommer 1922 am Rande des Bankrotts.“30 Im Fall einer vorgezogenen Reichstagswahl hätte sie kaum eine richtige Kampagne finanzieren können. Doch den entscheidenden Anstoß zu einer Annäherung von USPD und SPD gaben schließlich die Angriffe von rechts auf die Weimarer Republik (die wachsende Instabilität und nicht zuletzt die Schwierigkeit, eine dauerhafte Mehrheit im Reichstag herzustellen, bildeten dabei den allgemeinen Hintergrund). Bereits bei der Ermordung des Zentrumsführers Matthias Erzberger am 26. August 1921 war es zu einer gemeinsamen Mobilisierung der beiden Parteien gekommen. Doch, wie erwähnt, fasste die USPD das einen Monat später beschlossene Görlitzer Programm der MSPD als einen klaren Trennungsstrich nach links auf. 30 Wheeler (1975): USPD und Internationale, S. 279.
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Es war dann die Ermordung von Walther Rathenau am 24. Juni 1922, die die entscheidende Wendung brachte. Schon in den Monaten zuvor war es immer wieder zu Konflikten insbesondere in der USPD-Reichstagsfraktion gekommen, in denen sich deutlich die Annäherung eines Teils der Partei an die MSPD abzeichnete. Der Rathenaumord löste eine in ihrer Breite zuvor nicht gekannte Massenkampagne aus, bei der es auch zu bis dahin ungewohntem gemeinsamen Auftreten der drei Arbeiterparteien zusammen mit den Gewerkschaften kam. Während das Zusammengehen mit den Kommunisten bald an grundlegenden Fragen scheiterte, benutzte die SPD die einmal erreichte Dynamik, um der USPD einen Vorschlag zum Regierungseintritt zu machen. Doch in dem Maße, wie die Mobilisierung nach dem Mordanschlag nachließ, wuchs der Druck der bürgerlichen Koalitionspartner gegen eine Aufnahme der USPD in die Regierung, die ja nur die SPD gestärkt hätte. Während sich die Frage eines Regierungseintritts der USPD sehr schnell aufgrund der ganzen Widerstände – nicht zuletzt auch innerhalb der USPD selbst – erledigte, gewann die Idee einer Vereinigung der beiden Parteien zunehmend an Zuspruch. Zwischen den beiden Reichstagsfraktionen bildete man eine Arbeitsgemeinschaft, in den Parteien wurde intensiv diskutiert. Innerhalb der USPD bildeten sich mehrere Tendenzen heraus. Viele warnten davor, eine Vereinigung würde faktisch auf eine Absorption der USPD hinauslaufen. Noch immer gäbe es grundlegende Differenzen, wobei, neben vielen grundsätzlichen Fragen, besonders die Koalitionspolitik mit bürgerlichen Parteien genannt wurde. Wortführer des erklärten Widerstandes waren Georg Ledebour und Kurt Rosenfeld, während auf der anderen Seite Artur Crispien und Wilhelm Dittmann standen, nicht zu vergessen Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding, die allerdings wegen ihres bereits längeren offenen Eintretens für eine Wiedervereinigung in der Partei inzwischen isoliert waren. Im letzten Augenblick, auf dem USPD-Parteitag in Gera (20.–23. September 1922), der mit der Frage nach ihrer Beschließung konfrontiert war, schien es so, dass eine Zwischenposition, deren Wortführer Robert Dißmann war, sogar noch die Oberhand gewinnen würde. Sie stellte die Positionen der USPD, insbesondere die Ablehnung der Koalitionspolitik in den Vordergrund. Doch nach einigen Auseinandersetzungen wurde erreicht, dies als eine Absichtserklärung für das Wirken in der vereinigten Partei zu betrachten und nicht als politische Bedingung zu formulieren. Da zeitgleich die SPD dem vorher ausgehandelten Vereinigungspakt auf ihrem Parteitag vom 17. bis 23. September in Augsburg ebenfalls zugestimmt hatte, wurde am 24. September in Nürnberg die Vereinigung vollzogen. Es entstand die Vereinigte Sozialdemokratische Partei, wie sie sich bis 1924 nannte.31 Nicht alle Mitglieder der USPD sollten allerdings die Vereinigung vollziehen.32
31 Protokoll (1922). 32 Wheeler (1975): S. 279. Morgan (1975): The Socialist Left, S. 439. Sie kommen aber zu unterschiedlichen Einschätzungen, inwiefern die KPD, die im Herbst / Winter 1922 einen Mitgliederaufschwung erlebte, davon profitieren konnte.
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6. WAS FOLGTE? Innerhalb der neuen Partei verstärkten die ehemaligen USPD-Mitglieder zumeist den seit der Parteispaltung 1916/17 schwachen linken Flügel. Das galt insbesondere für Dißmann, der ja auch weiterhin das Gewicht als Vorsitzender des DMV einbringen konnte. Paul Levi, der über die KAG in die USPD gekommen war, war mit ihr nun auch zur SPD zurückgekehrt. Er initiierte 1923 mit der Zeitschrift Sozialistische Politik und Wirtschaft das zentrale Organ der Parteilinken. Andere USPDFührer wie Crispien und Dittmann rückten allerdings sehr schnell in den „Mainstream“ der Partei und sahen sich bald auch in heftige Kontroversen mit ihren ehemaligen USPD-Genossen auf dem linken Flügel der Partei verwickelt, wenn sie die Politik des Parteivorstandes rechtfertigten. Nur ein kleiner Rest um Georg Ledebour und Theodor Liebknecht versuchte, die USPD fortzuführen. Sie sollte nur eine Randexistenz führen und sich zudem 1924 noch ein weiteres Mal spalten, bis sich beide Teile dann 1931 einer neuen Linksabspaltung der SPD, der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), anschlossen. Auch die Wiener Internationale brach im Gefolge der sozialdemokratischen Vereinigung in Deutschland auseinander. Die Mehrheit vereinigte sich mit der Zweiten Internationale im Mai 1923 zur Sozialistischen Arbeiter-Internationale, der nun die Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien angehörte. (Vor allem die Schweizer Sozialdemokratie und der Jüdische Arbeiterbund in Polen brauchten noch eine Reihe von Jahren, bis auch sie diesen Schritt vollzogen.) Eine kleine Gruppe um die Rumpf-USPD von Ledebour versuchte noch, ein Internationales Büro revolutionär-sozialistischer Gruppen fortzuführen. Dieses Büro hatte jedoch nirgendwo eine größere Parteibasis und ging nach der Bildung der SAP 1932 im Londoner Büro der linkssozialistischen Parteien auf.33 Ein – allerdings sehr schwacher Ausläufer – der USPD war in einem gewissen Sinne, wenn auch nicht als solcher beabsichtigt, die Gruppe Fight for Freedom. Sie entstand innerhalb des sozialdemokratischen Exils in Großbritannien und wurde von einigen ehemaligen USPD-Mitgliedern gegründet, die nach 1922 lange in der SPD gewirkt hatten, oftmals sogar auf dem rechten Flügel. Fight for Freedom schlug einen Bogen von der scharfen Kritik am Nationalismus und der Burgfriedenspolitik ab 1914, was die USPD ausgezeichnet hatte, zur Katastrophe der kampflosen Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung im Jahre 1933, um darin inhaltliche Verbindungen und damit auch eine Erklärung zu sehen. Doch wurden sie durch die SOPADE, die Exilführung der SPD in London, isoliert und schließlich ausgeschlossen.34 Ein neues politisches Projekt entstand dadurch nicht und es gab hierfür in der gänzlich veränderten Nachkriegssituation auch keine politische Basis. Ähnlich galt dies auch für die SAP und die anderen linken Zwischengruppen der frühen 1930er-Jahre, für die nach 1945 keine Grundlage mehr für ein Weiterbestehen oder die Wiederaufnahme ihrer unabhängigen Existenz bestand. 33 Vgl. dazu Buschak (1985): Das Londoner Büro. 34 Geyer / Loeb (2009): Fight for Freedom.
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Reiner Tosstorff
U.S.P.D. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages in Leipzig vom 8. bis 12. Januar 1922. Leipzig 1922. Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands. Protokoll über die Verhandlungen des Vereinigungsparteitages der U.S.P.D. (Linke) und der K.P.D. (Spartakusbund). Abgehalten in Berlin vom 4. bis 7. Dezember 1920, Berlin 1921. Weber, Petra: Gescheiterte Sozialpartnerschaft – Gefährdete Republik? Industrielle Beziehungen, Arbeitskämpfe und der Sozialstaat. Deutschland und Frankreich im Vergleich (1918–1933/39). (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 77), München 2010 Weipert, Axel: Vor den Toren der Macht. Die Demonstration am 13. Januar 1920 vor dem Reichstag. In: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung 11 (2012), Heft 2, 16–32. Wheeler, Robert F.: USPD und Internationale. Sozialistischer Internationalismus in der Zeit der Revolution. Frankfurt / Berlin / Wien 1975. Ders.: Die ‚21 Bedingungen‘ und die Spaltung der USPD im Herbst 1920. Zur Geschichte der Basis. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 20 (1972), Heft 2, S. 117–154. Winkler, Heinrich August: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924. Berlin / Bonn 1984.
AUTOREN Max Bloch studierte Neuere Geschichte und Neuere deutsche Literatur. 2009 wurde er mit einer politischen Biographie über den sozialdemokratischen Politiker Albert Südekum promoviert. Seit 2012 ist er als Genealoge für die GEN Gesellschaft für Erbenermittlung mbH in deren Kölner Niederlassung tätig. 2017 ist sein Buch „Albert Südekum. Genosse, Bürger, Patriarch. Briefe an seine Familie 1909– 1932“ erschienen. Marcel Bois studierte Geschichte, Soziologie und Kunstgeschichte an den Universitäten Konstanz und Hamburg. An der Technischen Universität Berlin promovierte er über den Linkskommunismus in der Weimarer Republik und bearbeitet derzeit als Forschungsstipendiat der Gerda-Henkel-Stiftung die Biografie der österreichischen Architektin Margarete Schütte-Lihotzky. Stefan Bollinger studierte Philosophie, Politik und Geschichte an der HumboldtUniversität zu Berlin, promovierte zur sowjetrussischen Innenpolitik Anfang der 1920er Jahre und habilitierte zu neuen sozialen Bewegungen in der BRD. Er ist Mitglied der Historischen Kommission beim Parteivorstand der Partei Die Linke und ehrenamtlich Stellvertretender Vorsitzender Helle Panke e.V. – RLS Berlin. Forschungsschwerpunkte: deutsche und osteuropäische Geschichte. Bücher zum Thema: Weltbrand, „Urkatastrophe“ und linke Scheidewege. Fragen an den „Großen Krieg“, Verlag am Park, Berlin 2014; November ’18. Als die Revolution nach Deutschland kam, edition ost, Berlin 2018. Bernd Braun studierte Mittlere und Neueren Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft in Heidelberg, wo er auch mit einer Arbeit zu Hermann Molkenbuhr promoviert wurde. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellvertretender Geschäftsführer der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg und Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. Andreas Braune studierte Politikwissenschaft, Neuer Geschichte und Romanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo er 2014 in politischer Theorie und Ideengeschichte promovierte. Seit 2016 ist er stellvertretender Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der FSU Jena. Mario Hesselbarth studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der FernUniverstät Hagen. Er arbeitet ehrenamtlich für die Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen e.V. und ist Mitglied im Gesprächskreis Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Hartfrid Krause studierte Mathematik, Politische Wissenschaft und Informatik an den Universitäten Marburg/Lahn, Gießen und Darmstadt. Promotion an der Technischen Hochschule Darmstadt über den Hanauer Arbeiter- und Soldatenrat, Habili-
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Autoren
tation über die Geschichte der USPD. Lehrer und von 1992–2008 Schulleiter an einem Gymnasium in Groß-Gerau. Wolfgang Kruse studierte Geschichte und Germanistik in Bielefeld und Berlin. Nach der Promotion über die sozialdemokratische Burgfriedenspolitik bei Reinhard Rürup und der Habilitation über den Kriegsdiskurs der Französischen Revolution lehrt er als Akad. Oberrat und apl. Professor Geschichte der europäischen Moderne am Historischen Institut der FernUniversität in Hagen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung, des Ersten Weltkriegs, der Französischen Revolution und des modernen Gefallenenkults. Walter Mühlhausen studierte Germanistik, Geschichte, Politik und Pädagogik in Kassel und promovierte ebendort. Er ist Geschäftsführer und Vorstandsmitglied der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte (Heidelberg) und lehrt als außerplanmäßiger Professor an der TU Darmstadt, wo er sich 2006 habilitierte. Stefan Müller arbeitete als Drucker und studierte Politikwissenschaft in Berlin. Nach der Promotion 2009 über den Gewerkschafter Heinz Dürrbeck forschte er am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen, wo er sich 2017 mit einer Arbeit über die Ostkontakte des DGB habilitierte. Seit 2013 ist er Referent im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Mike Schmeitzner studierte Geschichte und Germanistik an der TU Dresden. Er promovierte 1999 über den sächsischen Politiker Alfred Fellisch (1884–1973) und habilitierte sich 2013; ab 2018 lehrt er als außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der TU Dresden. Seit 1998 arbeitet er als Historiker am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden, 2010/11 war er Gastprofessor an der Universität Erfurt. Thilo Scholle studierte Rechtswissenschaft in Münster und Paris. Nach Stationen u. a. in der Vertretung des Landes NRW beim Bund und beim SPD-Parteivorstand in Berlin ist er aktuell als Referent in einem Landesministerium in NRW tätig. Ehrenamtlich engagiert er sich in der Redaktion der Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft (spw), zu seinen Interessensschwerpunkten gehört die Ideengeschichte der Arbeiterbewegung. Reiner Tosstorff studierte Geschichte, Sozialwissenschaften und Hispanistik. Promotion an der Ruhr-Universität Bochum über die POUM im spanischen Bürgerkrieg und Habilitation an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz über die Rote Gewerkschafts-Internationale 1920–1937. Apl. Professor am Historischen Seminar der Universität Mainz (Neueste und Zeitgeschichte). Z. Zt. Abschluss eines biographischen Projekts über Robert Dißmann. Axel Weipert studierte Neuere Geschichte und Philosophie und promovierte über die Berliner Rätebewegung der Jahre 1919/20. Autor und Herausgeber mehrerer Publikationen zu den Themen Arbeiterbewegung, Erster Weltkrieg und Demokratisierung. Er ist Redakteur der Zeitschrift Arbeit-Bewegung-Geschichte und in der Brandenburger Landesverwaltung tätig.
QUELLEN ZUR GESCHICHTE DER USPD QUELLE 1 Protestschreiben oppositioneller Sozialdemokraten an den Vorstand der SPD und den Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gegen die Burgfriedenspolitik Berlin, 9. Juni 1915. An den Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands! An den Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, Berlin! Werte Genossen! Die Ereignisse der letzten Wochen zwingen uns zu diesem Schreiben. Mit dem 4. August 1914 hat die parlamentarische und außerparlamentarische Leitung der deutschen Sozialdemokratie eine Politik begonnen, die nicht nur das Versagen der Partei in einen unvergleichlichen geschichtlichen Augenblick, sondern eine immer schroffere Abkehr von ihren bisherigen Grundsätzen bedeutet. Die verhängnisvollen Wirkungen dieser Abkehr ergriffen unerbittlich von der äußeren Politik aus die gesamte innere Politik der Partei, die damit auf beiden Gebieten aufhörte, als selbständiger Faktor zu existieren. Die Anerkennung des Burgfriedens war das Kreuz auf dem Grabe des Klassenkampfes, der nicht in behördlichen und parlamentarischen Geheimkonventikeln, noch durch eine Hintertreppenpolitik nach dem Muster kapitalistischer Klüngel geführt werden kann. Die Mehrheit der Reichstagsfraktion wich jedem ernsthaften Kampf aus, selbst dem für die Koalitionsfreiheit, für die Wahlreform. Sie lehnte es ab, auch nur die Aufhebung des Belagerungszustandes zu beantragen, und verwandelte damit die aufgezwungene Rechtlosigkeit in eine freiwillig übernommene, um dann durch ihren Redner der untertänigen Hoffnung Ausdruck zu geben, eine Milderung der Zensur lasse sich vielleicht von einer Fürsprache beim Kaiser erreichen. Von Session zu Session wurden die Hoffnungen auf eine Änderung der Fraktionspolitik vertröstet und verschoben. Und immer von neuem enttäuscht. Der Mai brachte die Vollendung des Zusammenbruchs. Immer klarer war zutage getreten, daß der Krieg nicht der Verteidigung der nationalen Unversehrtheit dient. Immer deutlicher hatte sich sein imperialistischer Eroberungscharakter offenbart. Immer ungeniertere Bekenntnisse zur Annexionspolitik wurden abgelegt. Zu den Äußerungen einflußreicher Drahtzieher des Kapitalismus traten Kundgebungen mächtiger kapitalistischer Wirtschaftsver-
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bände, Beschlüsse der herrschenden bürgerlichen Parteien und im Februar die vom Herrenhaus mit einhelliger Zustimmung aufgenommene Rede des Herrenhauspräsidenten, die die Möglichkeit eines sofortigen Friedens unter Aufrechterhaltung des bisherigen deutschen Besitzstandes feststellte, aber die Fortsetzung des Krieges zu Eroberungszwecken für geboten erklärte, eine Rede, durch die sich die Mehrheit der sozialdemokratischen Fraktion dennoch nicht an der Bewilligung neuer zehn Milliarden Kriegskredite und des Budgets hatte hindern lassen. Die übergroße Masse der Parteigenossen daheim wie im Felde erwartete, daß die Reichstagsfraktion wenigstens jetzt endlich, im Mai, nach langen 10 Monaten eines furchtbaren, in Dauer und Ausgang unübersehbaren Krieges, in einer nachdrücklichen, unzweideutigen Kundgebung die schleunige Beendigung des Krieges fordern und dem entschlossenen Friedenswillen der Sozialdemokratie Ausdruck verleihen würde – entsprechend dem vom deutschen Parteitag noch ausdrücklich gebilligten Beschluß des Stuttgarter Kongresses, der die Partei verpflichtet, den Krieg zur Aufrüttelung der Massen im Klassenkampf auszunutzen und so für seine rasche Beendigung zu wirken. Die Erwartung der Massen ist wieder unerfüllt geblieben. Wie die Fraktionsmehrheit kein Wort des Protestes gegen den Bruch der belgischen Neutralität gefunden hatte, wie sie ablehnte, ihre Stimme zu erheben gegen die Torpedierung der „Lusitania“, gegen das Vergeltungsprinzip, das zu einem Wettlauf der Grausamkeit führt und die Zivilbevölkerung immer tiefer in die Schrecknisse des Krieges reißt, wie sie es unterließ, nach dem Beispiel unserer serbischen, russischen, englischen und italienischen Genossen die Schuldigen am Weltkrieg im eigenen Lande zu bekämpfen, und wie sie half, dem imperialistischen Unternehmen den Deckmantel des Patriotismus umzuhängen, so hat sie auch hier völlig versagt. Wenn der sozialdemokratische Redner am 29. Mai in einigen Wendungen von Friedenssehnsucht sprach und für einen Frieden ohne Annexion eintrat, so nahmen doch Form und Begleitumstände von vornherein dieser Rede den Charakter einer ernsten Friedenskundgebung. Und was sich nach ihr abspielte, stempelte die ganze „Aktion“ für In- und Ausland zum Gegenteil einer Friedenskundgebung. Die volle Bedeutung dieser Haltung der Fraktionsmehrheit ergibt sich aus der Tatsache, daß ihr das Kriegsziel der Regierung ganz autorativ bekannt war. Unverblümt hatte der Reichskanzler in der Reichstagssitzung vom 28. Mai den Eroberungskrieg proklamiert, zu dessen Programm, wie die Fraktion wußte, die offenen Annexion russischer und französischer Gebietsteile und unter dem Etikett der zwangsweisen wirtschaftlichen Angliederung die versteckte Annexion Belgiens gehört. Auf diese Proklamation galt es, die sozialdemokratische Antwort zuerteilen. Die sozialdemokratische Fraktionsmehrheit jedoch fand darauf, von jenen unerheblichen Redewendungen abgesehen, nur ein erneutes Bekenntnis zur Politik des 4. August, das heißt zur Willfährigkeit gegenüber der Regierung und den herrschenden Klassen; und das, obwohl Graf Westarp sie unter Beihilfe der bürgerlichen Parteien durch den – freilich von Mitgliedern der sozialdemokratischen Fraktion unterstützten! – Handstreich seines Vertagungsantrages gerade eben die Junkerpeitsche hatte fühlen lassen. Und auf die alarmierenden Eroberungsfanfaren des konser-
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vativen und nationalliberalen Redners fand sie nur eben eine nochmalige Unterstreichung dieses Bekenntnisses und die Berufung auf denselben Reichskanzler, dessen Annexionsziele vor den Augen aller Welt enthüllt waren. Der dringendste Anlaß war gegeben, sich endlich von der RegierungsKriegspolitik loszusagen und ihr den schärfsten Kampf zu erklären. Die endliche rücksichtslose Hervorkehrung der sozialistischen Interessen und der proletarisch-internationalen Friedensziele war geboten; aber eine erneute Verpflichtung zur Politik des Durchhaltens, eine wiederholte Solidaritätserklärung gegenüber den herrschenden Klassen und der Regierungs-Kriegspolitik erfolgte. Auch im Jahre 1870 waren die sozialdemokratischen Abgeordneten durch scharfe Gegensätze getrennt; aber geschlossen standen sie gegen die Regierung, sobald sich die Annexionspläne offen herauswagten Heute liegt das offizielle Annexionsprogramm der Regierung und aller bürgerlichen Parteien vor. Dennoch begnügt sich die Fraktionsmehrheit mit einigen nichtigen Wendungen über Friedenswünsche und Annexionspolitik, um sich desto nachdrücklicher auf das Durchhalten einzuschwören. Damit ist der Schlußpunkt unter die unheilvolle Entwicklung gesetzt, die am 4. August begann. Die Reichstagsfraktion, in der auch die meisten Mitglieder des Parteivorstandes sitzen, hat den Widerstand gegen die imperialistische Eroberungspolitik aufgegeben. Und nicht aus bloßer Schwäche und Burgfriedensfreudigkeit, sondern weil ein erheblicher Teil der Reichstagsfraktion – ebenso wie der preußischen Landtagsfraktion und wie andere einflußreiche Genossen – in konsequenter Fortbildung der Politik des Durchhaltens, das heißt der hemmungslosen Völkerzerfleischung, auch dieser Eroberungspolitik mit vollem Bewußtsein anhängt. Besonders dreist hat vor wenigen Tagen die Baumeistersche „Internationale Korrespondenz“ (IK), die vom EinfIuß der auch in der Reichstragsfraktion überaus mächtigen Generalkommission getragen wird, dieser Parteiströmung Ausdruck verliehen. Sie stimmt der Schifferschen Beurteilung von Eberts Rede zu: die Betonung des Durchhaltens sei ihr wesentlicher Sinn, die Fraktion werde sich von dieser Losung auch durch die Meinungsverschiedenheiten über das Kriegsziel nicht abbringen lassen – eine Beurteilung, der in der Reichstagssitzung vom 29. Mai die Fraktionsmehrheit begeistert Beifall rief! Und sie versichert, gegen die Methode der zwangsweisen „wirtschaftlichen Angliederung“, d. h. der verkappten Annexion Belgiens sei nichts einzuwenden! Noch einmal stehen die leitenden Parteiinstanzen am Scheidewege. Wollen sie, was an ihnen liegt, die Partei jener immer deutlicher hervortretenden Strömung noch länger überantworten oder nicht. In der Hand der deutschen Sozialdemokratie ruht noch immer die Macht zu einer welthistorischen Entscheidung. Die Unabhängige Arbeiterpartei Englands, die ihr bedeutendes Gewicht in die Waagschale des Friedens wirft, hat gerade jetzt mit verschärftem Nachdruck die sofortige Bekanntgabe der englischen Friedensbedingungen gefordert und den Kampf gegen die Annexionspolitik des Drei- oder Vierverbandes aufgenommen. Hervé und seine Gesinnungsgenossen sehen sich einer immer stärkeren Bewegung unter den französischen Sozialisten gegenüber,
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einer Bewegung für einen baldigen Frieden ohne Annexion und „Angliederung“, einer Bewegung, deren Drängen sie vergeblich zu beschwichtigen suchen. Das Beispiel der italienischen Bruderpartei läßt unsere Herzen höher schlagen. Aus England, aus Frankreich, aus Italien schallen sozialistische Friedensstimmen immer eindringlicher zu uns. Von der Haltung der deutschen Sozialdemokratie hängt die Weiterentwicklung des sozialistischen Kampfes gegen den Krieg in jenen Ländern wesentlich ab. Treibt die Leitung der deutschen Sozialdemokratie jetzt weiter im Kielwasser der Eroberungspolitik, rettet sie sich nicht jetzt endlich auf den Boden des internationalen proletarischen Kampfes gegen den Krieg und die imperialistischen Raubgelüste zurück, so versäumt sie die letzte Gelegenheit, sich von der vollen Mitschuld daran zu entlasten, daß dieser Krieg als erbarmungsloser Vernichtungskrieg bis zum Weißbluten der Völker fortgesetzt und der auf ihn folgende Friede nur die Vorbereitung eines neuen Weltkrieges sein wird. Der Augenblick heischt gebieterisch sofortiges Handeln: In den letzten Stunden sind der König und der Kronprinz von Bayern öffentlich als Befürworter der Eroberungspolitik hervorgetreten. Keinem, der noch länger zögert, kann fürderhin Gutgläubigkeit und Unkenntnis zugebilligt werden. Der Tatbestand liegt unzweideutig; die Situation ist, vom letzten Nebel geklärt. Die Alternative lautet schlechthin: Parteirettung oder Parteizerstörung. Wir warnen vor der Fortsetzung der Politik des 4. August und des 29. Mai. Wir wissen, daß wir die Auffassung eines großen Teils der Parteigenossen und breiter Bevölkerungsschichten ausdrücken, wenn wir fordern, daß Fraktion und Parteivorstand endlich ohne Zaudern dem Parteiverderben Einhalt tun, den Burgfrieden aufsagen und auf der ganzen Linie den Klassenkampf nach den Grundsätzen des Programms und der Parteibeschlüsse, den sozialistischen Kampf für den Frieden eröffnen. Die Verantwortung für alles, was sonst kommt, fällt denen zu, die die Partei auf die abschüssige Bahn getrieben haben und ferner darauf erhalten wollen. Quelle: Prager, Eugen: Geschichte der USPD. Entstehung und Entwicklung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Berlin 1921. S. 69–72. QUELLE 2 Das Gebot der Stunde, Juni 1915 Die Stunde der Entscheidung ist gekommen. Die deutsche Sozialdemokratie ist vor eine Frage gestellt, die für die Geschicke des deutschen Volkes, für die Zukunft der Kulturwelt von der größten Tragweite ist. Forderungen, für die schon in früheren Monaten eine gewisse Presse, sowie Vereinigungen, denen keine größere Bedeutung beigelegt wurde, systematisch Stimmung gemacht hatten, sind in den letzten Wochen von Persönlichkeiten in hervorragender Stellung, sowie von einflußreichen Körperschaften in teilweise sogar
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noch verschärfter Form vertreten worden. Programme werden aufgestellt, die dem gegenwärtigen Krieg den Stempel eines Eroberungskrieges aufdrücken. Noch ist es in aller Erinnerung, daß der Präsident des preußischen Herrenhauses, WedelPiesdorf in der Sitzung des Herrenhauses vom 15. März 1915 erklärte: Deutschland stehe jetzt als Sieger da: „Und wenn wir nichts weiter wollten, als den Angriff der Feinde abschlagen, so glaube ich, würde es nicht allzu schwer sein, einen Frieden in kurzer Frist zu erlangen. Damit aber kann sich Deutschland nicht befriedigt erklären. Nach den ungeheuren Opfern, die wir gebracht haben, an Menschen sowohl wie an Hab und Gut, müssen wir mehr fordern, wir können das Schwert erst wieder in die Scheide stecken, wenn Deutschland eine Sicherung erlangt hat dagegen, daß in ähnlicher Weise wie diesmal die Nachbarn über uns herfallen.“ In der Reichstagssitzung vom 29. Mai 1915 haben die Abgeordneten Graf v. Westarp als Vertreter der Konservativen und Schiffer als Vertreter der Nationalliberalen unumwunden sich für Annexionen ausgesprochen; der erstere unter Berufung auf eine Erklärung des deutschen Reichskanzlers vom Tage zuvor, die dahin ging, Deutschland müsse alle nur möglichen „realen Garantien und Sicherheiten“ dafür schaffen, daß keiner seiner Feinde, „nicht vereinzelt, nicht vereint“, wieder einen Waffengang wagen werde. Diese Auslegung der Worte des Reichskanzlers hat von der Reichsregierung keine Zurückweisung erfahren. Es ist fernerhin bekanntgeworden, daß sechs große Wirtschaftsvereinigungen, voran der großkapitalistische Zentralverband deutscher Industrieller und die Kampforganisation der Agrarier, der Bund der Landwirte, die der Politik des Deutschen Reiches so oft schon die Richtung gewiesen haben, unter dem 20. Mai 1915 eine Eingabe an den Reichskanzler gerichtet haben, worin sie fordern: Gewinnung eines großen Kolonialreiches, ausreichende Kriegsentschädigung und Annexionen in Europa, die allein im Westen über zehn Millionen Menschen – mehr als sieben Millionen Belgier und über drei Millionen Franzosen – zwangsweise unter deutsche Herrschaft stellen würden. Wie diese Zwangsherrschaft gedacht ist, kennzeichnet der Satz der Eingabe, wonach Regierung- und Verwaltung in den annektierten Ländern so geführt werden müssen, daß „die Bewohner keinen Einfluß auf die Geschicke des Deutschen Reiches erlangen“. Das heißt mit anderen Worten, diese gewaltsam annektierte Bevölkerung soll politisch rechtlos gemacht und gehalten werden. Und weiter wird gefordert, aller Besitz, der einen starken wirtschaftlichen und sozialen Einfluß gewähre, „müsse in deutsche Hände übergehen“, im Westen besonders der industrielle Besitz aller großen Unternehmungen, im Osten besonders der landwirtschaftliche große und Mittelbesitz. Mehr noch. In den allerletzten Tagen hat ein deutscher Bundesfürst, der König von Bayern, in einer Ansprache in Fürth Forderungen in Bezug auf die Ausdehnung unserer Grenzen im Westen ausgesprochen, „durch die wir für Süd- und Westdeutschland günstigere Verbindungen zum Meere bekommen“. Angesichts aller dieser Kundgebungen muß sich die deutsche Sozialdemokratie die Frage vorlegen, ob sie mit ihren Grundsätzen und mit den Pflichten, die ihr als Hüterin der materiellen und moralischen Interessen der arbei-
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tenden Klassen Deutschlands obliegen, vereinbaren kann, in der Frage der Fortführung des Krieges an der Seite derjenigen zu stehen, deren Absichten in schroffstem Widerstand sind zu den Sätzen der Erklärung unserer Reichstagsfraktion vom 4. August 1914, in denen diese aussprach, daß sie im Einklang mit der Internationale jeden Eroberungskrieg verurteilt. Dieser Satz würde zur Lüge gestempelt werden, wenn die deutsche Sozialdemokratie jenen Erklärungen aus den Kreisen der Machthaber gegenüber es bei dem Aussprechen akademischer Friedenswünsche bewenden ließe. Zu deutlich haben wir es erfahren müssen, daß man auf solche Bekundungen auch nicht die geringste Rücksicht nimmt. Was Verschiedene unter uns befürchtet haben, zeichnet sich immer bemerkenswerter ab: Man erlaubt der deutschen Sozialdemokratie, die Kriegsmittel zu bewilligen, man geht aber kühl über sie hinweg bei den für die Zukunft unseres Volkes folgenschwersten Beschlüssen. Dürfen wir dieses Verhältnis fortbestehen lassen, das uns die Möglichkeit raubt, die Kraft der deutschen Arbeiterklasse für eine Politik geltend zu machen, die nach unserer innersten, auf die Erfahrungen der Geschichte gestützten Überzeugung das Interesse des deutschen Volkes und mit diesem das aller beteiligten Völker gebietet? Ungeheuer sind die Opfer, die dieser Krieg den in ihn hineingerissenen Völkern schon verursacht hat und die jeder Tag vermehrt. Die Weltgeschichte kennt keinen zweiten Krieg, der auch nur annähernd gleich mörderisch gewirkt hätte. Es ist die Grausamkeit barbarischer Zeitalter, verbunden mit den raffiniertesten Mitteln der Zivilisation, welche die Blüte der Völker hinrafft. Nicht minder unerhört sind die Opfer an Gütern, die der Krieg den Völkern entreißt. Weite Gebiete werden verwüstet, und Summen, die für Kulturzwecke in einem Jahre auszugeben man sich gescheut hat, werden in diesem Kriege in einer Woche für die Tötung von Menschen und die Vernichtung von Grundlagen künftiger Wohlfahrt ausgegeben. Allen beteiligten Nationen starrt bei Verlängerung des Krieges der Bankrott entgegen. In weiten Kreisen unseres Volkes und derjenigen Völker, mit denen das Deutsche Reich im Kriege liegt, macht sich denn auch immer stärkere Friedenssehnsucht geltend. Während die Herrschenden davon zurückschrecken, diesem Friedensbedürfnis zu entsprechen, blicken Tausende und aber Tausende auf die Sozialdemokratie, die man als die Partei des Friedens zu betrachten gewohnt war, und erwarten von ihr das erlösende Wort und das ihm entsprechende Verhalten. Nachdem die Eroberungspläne vor aller Welt offenkundig sind, hat die Sozialdemokratie die volle Freiheit, ihren gegensätzlichen Standpunkt in nachdrücklichster Weise geltend zu machen, und die gegebene Situation macht aus der Freiheit eine Pflicht. Das Proletariat erwartet sicherlich, daß ebenso wie im Jahre 1870 sich bei einer ähnlichen Situation alle Sozialdemokraten, trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten beim Ausbruch des Krieges, zu einem einmütigen Handeln zusammenfanden, die Sozialdemokratie auch jetzt in gleicher Einmütigkeit zusammenstehen wird. Wir wissen, daß die Friedensbedingungen, die von einer Seite der Kriegführenden der anderen aufgezwungen werden, keinen wirklichen Frieden bringen,
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sondern nur neue Rüstungen mit dem Ausblick auf neuen Krieg bedeuten. Ein wirklicher und dauernder Friede ist nur möglich auf der Grundlage freier Vereinbarung. Diese Grundlage zu schaffen, ist nicht der Sozialdemokratie eines einzelnen Landes gegeben. Aber jede einzelne Partei kann nach Maßgabe ihrer Stellung und ihrer Kräfte dazu beitragen, daß diese Grundlage hergestellt wird. Die gegenwärtige Gestaltung der Dinge ruft die deutsche Sozialdemokratie auf, einen entscheidenden Schritt zu diesem Ziele zu tun. Sie ist heute vor die Wahl gestellt, diesem Gebote Folge zu leisten oder dem Vertrauen einen tödlichen Stolz zu versetzen, daß sie bisher im deutschen Volke und in der gesamten Welt als Verfechterin des Völkerfriedens genoss. Wir zweifeln nicht, daß unsere Partei diejenigen Folgerungen ziehen wird, die sich für unsere parlamentarische und außerparlamentarische Haltung hieraus ergeben. Mit den schönsten Überlieferungen der Sozialdemokratie steht die Zukunft unseres Volkes auf dem Spiel, seine Wohlfahrt und seine Freiheit. Hat unsere Partei nicht die Macht, die Entscheidungen zu treffen, so fällt doch uns die Aufgabe zu, als treibende Kraft die Politik in der Richtung vorwärts zu drängen, die wir als die richtige erkannt haben. Eduard Bernstein. Hugo Haase. Karl Kautsky. Quelle: Prager, Eugen: Geschichte der USPD. Entstehung und Entwicklung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Berlin 1921, S. 72–74. QUELLE 3 Erklärung der Ablehnung der Kriegskredite durch 20 Abgeordnete der SPD (durch Friedrich Geyer im Reichstag, 21. Dezember 1915) Geyer, Abgeordneter: Meine Herren, für mich und 19 meiner Fraktionskollegen habe ich folgendes zu erklären. Die Militärdiktatur, die rücksichtslos alle Friedensbestrebungen unterdrückt und die freie Meinungsäußerung zu ersticken sucht, macht es uns unmöglich, außerhalb dieses Hauses unsere Stellung zu der Kreditvorlage zu begründen. (Sehr richtig! bei einem Teile der Sozialdemokraten.) Wie wir Eroberungspläne, die von Regierungen und Parteien anderer Länder aufgestellt werden, mit aller Kraft bekämpfen, so wenden wir uns in der selben Entschlossenheit auch gegen das verhängnisvolle Treiben der Annexionspolitiker unseres Landes, (sehr richtig! bei den Sozialdemokraten) die in gleicher Weise wie jene das stärkste Hindernis für die Einleitung von Friedensverhandlungen sind. (Erneute Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)
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Diese gefährliche Politik hat der Reichskanzler am 9. Dezember, als er zu der sozialdemokratischen Interpellation das Wort ergriff, nicht von sich gewiesen. Er hat ihr vielmehr Vorschub geleistet, (Zustimmung bei den Sozialdemokraten) und die sämtlichen bürgerlichen Parteien haben in Unterstützung seiner Ausführungen ausdrücklich Gebietserwerbungen gefordert. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Erfolgversprechende Friedensverhandlungen sind aber nur möglich auf der Grundlage, daß kein Volk vergewaltigt, daß die politische und wirtschaftliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit jedes Volkes gewahrt, daß allenthalben Eroberungsplänen jeder Art entsagt wird. (Erneute Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Unsere Landesgrenzen und unsere Unabhängigkeit sind gesichert. Nicht der Einbruch feindlicher Heere droht uns. Wohl aber gehen unser Reich wie das übrige Europa bei Fortsetzung des Krieges der Gefahr der Vernichtung der Lebenskräftigsten, der Verarmung der Völker und der Verwüstung ihrer Kultur entgegen. (Lebhafte Rufe: Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Der deutschen Regierung käme es zu, da Deutschland sich mit seinen Verbündeten in günstigerer Kriegslage befindet, den ersten Schritt zum Frieden zu tun. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Von der sozialdemokratischen Fraktion ist sie aufgefordert worden, den Gegnern ein Friedensangebot zu machen. Der Reichskanzler hat dies jedoch schroff abgelehnt. Der entsetzliche Krieg geht weiter, jeder Tag schafft neue unsägliche Leiden. Eine Politik, die nicht alles tut, um diesem namenlosen Elend Einhalt zu gebieten, eine Politik, die in ihrer gesamten Betätigung in schreiendem Gegensatz zu den Interessen der breiten Massen der werktätigen Bevölkerung steht, durch unser parlamentarisches Verhalten zu unterstützen, ist uns unmöglich. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Es gilt, dem in allen Ländern hervortretenden und wachsenden Friedensbedürfnis einen kräftigen Antrieb zu geben. Unseren Friedenswillen und unsere Gegnerschaft gegen Eroberungspläne können wir nicht vereinbaren mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten. Wir lehnen die Kredite ab. (Bravo! und Händeklatschen bei einem Teil der Sozialdemokraten.) Quelle: Verhandlungen des Reichstags. XIII. Legislaturperiode. II. Session, Bd. 306, Stenographische Berichte. Berlin 1916, Sitzung vom 21.12.1915, S. 507–508.
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QUELLE 4 Anti-Kriegs-Rede Hugo Haases im Reichstag, 24. März 1916 Haase (Königsberg), Abgeordneter: Meine Herren, in dem Notetat erblicke ich mit einem Teil meiner Freunde einen Vertrauensakt für die Regierung und eine Vorwegnahme des ordentlichen Etats. (Rufe bei den Sozialdemokraten: Nein!) Meine Stellung zu dem Notetat ist deshalb abhängig von derjenigen zu dem Hauptetat, und wie ich den Hauptetat ablehne, so kann ich auch diesem Notetat meine Zustimmung nicht geben. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Welche Haltung hat die Regierung zu den wichtigsten Fragen der inneren und äußeren Politik eingenommen? Wir haben gestern und vorgestern gesehen, was unter der verkündeten Neuorientierung auf finanzpolitischem Gebiete zu verstehen ist. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Es handelt sich dabei um eine einmalige mäßige Abgabe, die gelegt wird nicht einmal auf das Vermögen, sondern auf den Vermögenszuwachs, der in dieser Zeit gewaltig gestiegen ist, während Hunderttausende um ihre Existenz gekommen sind. Auf der anderen Seite werden Verbrauchs- und Verkehrssteuern vorgeschlagen, die hemmend auf unser wirtschaftliches Leben wirken und letzten Endes den Mittelstand und die Arbeiterklasse am schärfsten treffen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Da zeigt sich der Klassencharakter des Staates in dieser Zeit ebenso scharf wie vorher, wenn nicht noch schärfer. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Fast alle Parteien, nicht nur wir, haben seit Jahr und Tag darauf hingewiesen, daß die Regierung auf dem Gebiete der Lebensmittelversorgung versagt hat, daß sie diejenigen Aufgaben, die ihr gestellt waren, in keiner Weise erfüllt hat. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, wir haben es erlebt, daß Hunderte und Hunderte von Frauen und Männern frühmorgens, zum Teil in der Nacht haben an die Läden sich drängen und Stunden und Stunden warten müssen, bis sie auch nur das notwendigste Lebensmittel, die Kartoffel, erhielten. Die Regierung hatte verkündet, daß sie gerade auf diesem Gebiete nach den Erfahrungen des vorigen Jahres auf der Wacht stehen würde und daß diese Mißstände nicht wieder vorkommen würden. Das Gegenteil ist eingetreten. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Die Mißstände haben sich so verschärft, daß, wie wir ja alle ohne Ausnahme wissen, in weiten Kreisen eingetreten ist Hunger, Unterernährung mit allen ihren Folgeerscheinungen. (Lebhafter Widerspruch. Glocke des Präsidenten.) Präsident: Herr Abgeordneter Haase, ich glaube, durch diese Rede eröffnen Sie eine ganz neue Generaldiskussion über den Etat. Ich bin der Meinung – und das ist auch in früheren Fällen geschehen –, daß bei einem Nachtragsetat
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(Zurufe: Notetat!) – Nachtragsetat – ich stelle diesen Notetat in gleiche Linie mit einem Nachtragsetat – allgemeine Diskussionen über den Etat selbst nicht mehr oder doch nur in ganz beschränktem Maße stattgefunden haben. (Sehr richtig!) Ich glaube, daran müßten wir uns auch hier halten. (Sehr gut!) Haase (Königsberg), Abgeordneter: Es muß doch dem Redner, wenn ein Notetat vorgelegt wird, die Möglichkeit gegeben sein, die Argumente zu entwickeln, welche ihn bestimmen, den Notetat abzulehnen oder anzunehmen. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. Glocke des Präsidenten.) Präsident: Dabei brauchen Sie aber nicht überzugreifen auf die Generaldiskussion im allgemeinen in einem Umfange, wie Sie es getan haben. (Sehr richtig!) Haase (Königsberg), Abgeordneter: Herr Präsident, ich habe durchaus die Absicht, mich sehr kurz zu fassen, werde aber die einzelnen Gründe wenigstens streifen müssen. Meine Herren, wir haben besondere Beschwerden erhoben wegen der Haltung, die die Regierung eingenommen hat gegenüber dem freien Wort. Das freie Wort ist geknebelt worden wie nie zuvor. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. – Lebhafte Zurufe.) Alle Versuche, wenigstens die Zensur einzuschränken auf Nachrichten und Mitteilungen und Ausführungen rein militärischen Inhalts, sind gescheitert. Ich erinnere daran, daß der kommandierende General der Mark Brandenburg und unsere Regierung bei Ausbruch des Krieges die Zusicherung gegeben haben, daß der Belagerungszustand nur aufrechterhalten werden sollte bis zur Vollendung der Mobilmachung. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Diese Zusage ist nicht erfüllt worden. (Erregte Zurufe) Es ist nichts geschehen, nur den großen Beschwerden, die immer wieder erhoben worden sind, auch nur irgendwie abzuhelfen. Und während die Regierung hier an dieser Stelle und sonst rühmend die Tätigkeit hervorgehoben hat, die die Gewerkschaften in diesem Kriege entwickelt haben, hat sie bis heute noch nicht die Zeit gefunden, diejenigen Bestimmungen des Vereinsrechts aufzuheben, welche einen Ausnahmecharakter gegen die Gewerkschaften enthalten. Meine Herren, das Vereinsgesetz ist hier in diesem Hause angenommen worden, die Regierung konnte durch ihre bloße Zustimmung das Gesetz, das bereits alle drei Lesungen passiert hatte, zur Verabschiedung bringen – sie hat sich auch dazu nicht verstanden. Wenn sie erklärt, daß sie wegen dieses Gesetzes nicht habe Kämpfe unter den Parteien entfesseln wollen, so kann dieser Grund nicht maßgebend sein. Hat sie doch ein Steuergesetz eingebracht, das wahrlich die Parteien, wie schon die letzten Tage bewiesen haben, in scharfe Kampfstellung gegeneinander bringen und das Volk mehr aufregen wird, als sie etwa durch das Vereinsgesetz kleine Kreise bevorzugter Schichten hätte aufbringen können. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)
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Meine Herren, die Gleichberechtigung der Staatsbürger ist wahrhaftig eine Forderung, die durchgesetzt werden konnte und durchgesetzt werden mußte; denn wenn man von Millionen verlangt, daß sie die gleichen Pflichten erfüllen, wenn man die Gleichheit im Schützengraben verkündet, dann, glaube ich, muß man darauf sehen, daß, wenn diejenigen, die jetzt 20 Monate hindurch, soweit sie nicht schon dahingerafft sind, allen Entbehrungen getrotzt haben, aus dem Schützengraben zurückkehren, nicht als Staatsbürger minderen Rechtes hier angesehen werden. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.) Und, meine Herren: wohin steuert denn die auswärtige Politik der Regierung? Schon im März vorigen Jahres habe ich im Reichstag ausgeführt, daß bei der günstigen Position, in der sich Deutschland befindet, unsere Regierung die Verpflichtung habe, den anderen die Hand zum Frieden entgegenzustrecken. Seitdem ist ein volles Jahr verflossen, und noch ist das Ende des entsetzlichen, menschenmordenden Krieges nicht abzusehen. (Zurufe: Nicht durch unsere Schuld!) In allen Ländern haben die Massen den leidenschaftlichen Willen zum Frieden, (lebhafter Widerspruch) und wenn dieser Wille noch so sehr unterdrückt wird, schließlich bricht er durch. Die Volksvertretung würde ihre Aufgabe verkennen, wenn sie sich nicht zum Dolmetscher dieser starken Friedenssehnsucht machte, (sehr richtig! bei den Sozialdemokraten) wenn sie sich gar im kritischen Augenblick eine Binde vor die Augen legte und ihr Volk täuschte. Ein solches Verhalten, meine Herren, müßte sich schwer rächen. Auch die sanguinischen Politiker in den feindlichen Staaten werden durch die ehernen Tatsachen immer mehr zu der Überzeugung genötigt, daß der feste Wall unseres Heeres nicht durchbrochen, unserem Heere eine entscheidende Niederlage nicht bereitet werden wird. Aber nach den Erfahrungen dieses Krieges spricht alles dafür, daß auch unser Heer trotz großer militärischer Erfolge die Gegner nicht so schlagen wird, daß sie auf die Knie gezwungen werden können. (Zurufe.) Zwei mächtige Koalitionen stehen einander gegenüber, und am Schlusse des fürchterlichen Ringens wird es wahrscheinlich weder Sieger noch Besiegte, (lebhafte Rufe: Oho! – Glocke des Präsidenten. – Unruhe. – Rufe: Abwarten!) in Wahrheit wohl nur besiegte, aus Millionen Wunden blutende Völker geben. (Große Unruhe. – Glocke des Präsidenten.) Präsident: Herr Abgeordneter Haase, Sie haben mir vorhin zugesagt, die verschiedenen Gesichtspunkte nur streifen zu wollen. (Abgeordneter Haase (Königsberg): Das tue ich auch!) – Nein, davon sind Sie weit entfernt. Ich muß Sie bitten, sich an Ihr Versprechen zu halten. Derartige Generaldiskussionen bei einem Notetatsgesetz halte ich nicht für zulässig. Haase (Königsberg), Abgeordneter: Ich werde noch kürzer darauf eingehen und nur Stichworte geben. Meine Herren, es ist hier bereits von bürgerlicher Seite ausgeführt, und ich glaube, Sie alle werden deswegen wenigstens zugeben, daß die Darlegungen, die ich machte, sehr wohl begründet waren,
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(Lachen) daß, wie auch das Ringen ausgehen werde, (Unruhe – Glocke des Präsidenten) Europa einer Verarmung entgegengeht. (Hört! hört! bei den Sozialdemokraten. – Große Unruhe.) Es ist ebenfalls von bürgerlicher Seite erklärt worden, daß sich in Zukunft der Bürger unter allen Umständen darauf werde einrichten müssen, vier Monate allein zu arbeiten, um die Zinsen für die Kriegsanleihe aufzubringen und für die Aufwendungen, die wir für die Invaliden und für die Hinterbliebenen der Gefallenen werden machen müssen. Es ist gestern sogar in diesem Hause bemerkt worden, daß es dahin kommen könnte, daß wir bis zu sechs Monaten zu diesem Zwecke arbeiten müßten. Und da, meine Herren, wollen Sie bestreiten, daß nach diesem Kriege ein aus Millionen Wunden blutendes Volk diesseits und jenseits der Grenzen sich befinden wird? Immer wieder drängt sich bei dieser Aussicht die Frage auf: was hat auch vom Standpunkt der Befürworter und Anhänger des Krieges dessen Fortsetzung noch für einen Sinn? (Heftige Zurufe.) Wir Sozialisten, die wir den Krieg verabscheuen und mit aller Kraft ihn zu verhindern uns bemüht haben, widersetzen uns selbstverständlich seiner Verlängerung. (Große Unruhe. – Glocke des Präsidenten.) Präsident: Herr Abgeordneter Haase, ich muß Sie wiederholt darauf aufmerksam machen, daß diese Ausdehnung der Generaldiskussion bei dem Notetatsgesetze nicht zulässig ist. Ich bitte Sie, sich daran zu halten. Haase (Königsberg), Abgeordneter: Herr Präsident, ich halte mich schon in der Tat an Ihre Weisungen. (Glocke des Präsidenten.) Präsident: Nein, Sie halten sich nicht daran. Haase (Königsberg), Abgeordneter: Meine Herren, es wird ja gar nicht in manchen Kreisen verhehlt, daß, wenn es sich nur darum handelte, die Unversehrtheit des Reichs und die Unabhängigkeit unseres Volkes aufrecht zu erhalten, wir wahrscheinlich schon den Frieden hätten erzielen können. (Oho!) So wächst in den proletarischen Massen das Gefühl, daß sie für Interessen kämpfen sollen, die nicht die ihrigen sind. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Für die sozialistischen Arbeiter – das werden Sie begreifen – ist es ohnehin die herbste Tragik, gegen diejenigen die Waffen zu erheben, mit denen sie durch die Gemeinsamkeit der Leiden und durch die Solidarität des Strebens verbunden sind. (Glocke des Präsidenten.) Präsident: Herr Abgeordneter, ich bitte Sie wiederholt, sich daran zu halten, daß es bei dem Notetatsgesetz nicht möglich ist, eine derartige allgemeine Diskussion zu führen. Haase (Königsberg), Abgeordneter: Gut, ich werde mich noch kürzer fassen. (Unruhe.) Hören Sie doch erst die Ausführungen!
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(Stürmische Zurufe: Nein, die wollen wir nicht hören!) – Das glaube ich, daß Sie sie nicht hören wollen, weil Sie gern die Ansichten knebeln, die Ihnen nicht passen. (Zuruf: Ihre Hetzrede wollen wir nicht hören! – Zuruf von den Sozialdemokraten: Wenn Sie sie nicht hören wollen, gehen Sie doch hinaus! – Zuruf rechts: Überlassen Sie das doch uns!) Sie werden doch nicht bestreiten, daß selbst in den Kreisen der Kapitalisten, soweit sie nicht Nutznießer des Krieges sind, (erregte Zurufe) und zwar in allen Ländern, man längst glaubt: dieser Krieg ist eine falsche Rechnung gewesen. Auf der anderen Seite erheben sich immer lauter Stimmen, die als Ziel des Krieges die Ausdehnung unserer Weltmacht, die Erringung der Weltherrschaft fordern, und zu diesem Zwecke die ausschweifendsten Eroberungspläne verfolgen. Man sollte annehmen, daß nur komplette Narren oder gewissenlose Verbrecher solche Pläne verfolgen können. (Wiederholte Pfui-Rufe. – Stürmische Unruhe. – Glocke des Präsidenten.) Präsident: Herr Abgeordneter Haase, ich muß Sie zur Sache rufen. Es ist ganz unmöglich, in dieser Weise das Notetatsgesetz zur Erledigung zu bringen. Sie können nicht bei dem Notetatsgesetz allgemeine Ausführungen machen, wie Sie sie gemacht haben und weiter zu machen beabsichtigen, wie es scheint. Ich muß Sie bitten, bei dem Notetatsgesetz zu bleiben! (Zurufe von den Sozialdemokraten: Belagerungszustand!) Haase (Königsberg), Abgeordneter: Herr Präsident, ich glaube zwar, daß ich durch keine Regel der Geschäftsordnung, die ich kenne, behindert werden kann, meinen Standpunkt zu begründen; (sehr richtig! bei den Sozialdemokraten) aber ich will mich Ihrem Wunsche so weit als möglich fügen. (Zuruf von den Sozialdemokraten: Sie haben die Zustimmung des Hauses! – Lebhafter Widerspruch bei der Mehrheit der Sozialdemokraten. – Stürmische Zustimmung und Händeklatschen. – Glocke des Präsidenten. – Fortdauernde Erregung. – Glocke des Präsidenten. – Zuruf von den Sozialdemokraten: Liebknecht Nummer 2! – Beifall und Händeklatschen.) – Meine Herren, der Zwischenruf meines Fraktionskollegen beruht auf einem Irrtum. (Lebhafte Rufe: ah!) Aber er hat durch Ihr Händeklatschen den Lohn für seine Tat schon dahin. (Zuruf von den Sozialdemokraten: Eine Unehrlichkeit bleibt eine Unehrlichkeit! – Lebhafte Zustimmung. – Glocke des Präsidenten.) Präsident: Herr Abgeordneter Haase, ich rufe Sie zum zweiten Mal zur Sache! Haase (Königsberg), Abgeordneter: Ich habe zur Sache gesprochen! (Andauernde große Unruhe.) Meine Herren, da es mir nicht gestattet wird, auch nur in Kürze darzulegen, wie zurzeit die äußere politische Lage ist, und welchen Einfluß gewisse Kreise zu gewinnen suchen, so werde ich bei einer anderen Gelegenheit darauf eingehen. Es
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wäre für das Haus aber, glaube ich, zur Beurteilung der Lage sehr wichtig, zu erfahren, was einem großen Teil von Ihnen noch nicht bekannt ist, welche Treibereien – ich spreche jetzt nicht von den Frondeuren in der Wilhelmstraße – zurzeit wieder am Werke sind. (Glocke des Präsidenten. – Lebhafte Rufe: Unerhört !) Präsident: Herr Abgeordneter Haase, ich rufe Sie zum dritten Mal zur Sache und mache Sie darauf aufmerksam, daß ich das Haus befragen werde, ob es Ihnen das Wort weiter gestatten will, wenn Sie sich jetzt nicht an die Sache halten! (Zustimmung. – Zuruf von den Sozialdemokraten: Belagerungspräsident! – Große Unruhe.) – Herr Abgeordneter Kunert, wegen dieses Ausdrucks rufe ich Sie zur Ordnung! (Bravo!) Haase (Königsberg), Abgeordneter: Ich muß in Folge dieser Beschränkung der Redefreiheit, (Lachen) zu der nach der Sachlichkeit meiner Ausführungen kein Grund vorlag, (sehr wahr! bei den Sozialdemokraten) zum Schlusse eilen und das Wichtigste übergehen. Nur das will ich Ihnen sagen, daß die kapitalistische Wirtschaftsordnung sich selbst das Urteil gesprochen hat, weil sie es nicht hat verhindern können, nicht nur, daß in ihrem Schoße die Kriegsfurien geboren wurden – – – (Lebhafte Rufe: Oho! – Rufe: Die Internationale erst recht nicht! – Glocke des Präsidenten. – Abgeordneter Haase (Königsberg) spricht weiter.) Präsident: Herr Abgeordneter Haase, Sie haben zu schweigen, wenn die Glocke des Präsidenten ertönt! Ich rufe Sie nochmals zur Sache, und nunmehr bitte ich die Herren, Platz zu nehmen. (Geschieht. – Zurufe von den Sozialdemokraten.) Ich frage nunmehr das Haus, ob es dem Herrn Abgeordneten Haase das Wort weiter gestatten will. Ich bitte die Herren, die es ihm nicht weiter gestatten wollen, sich von ihren Plätzen zu erheben. (Geschieht. – Rufe: auch Sozialdemokraten! – Lebhaftes Bravo.) Das ist die Mehrheit. (Mehrfache Rufe von den Sozialdemokraten: Gegenprobe! – Andauernde Bewegung.) Das Wort hat der Staatssekretär des Reichsschatzamts. Quelle: Verhandlungen des Reichstags. XIII Legislaturperiode, II. Session, Bd. 307, Stenographische Berichte. Berlin 1916, Sitzung vom 24.3.1916, S. 842–844
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QUELLE 5 Friedensmanifest, verfaßt von Karl Kautsky, angenommen auf der Reichskonferenz der Opposition, Januar 1917 Genossen! Die Internationale fordert gemäß der Kongreßbeschlüsse von Stuttgart, Kopenhagen und Basel die sozialistischen Parteien auf, bei dem Ausbruch eines Krieges für dessen schnelle Beendigung einzutreten. Dementsprechend hat die Opposition in der deutsche Sozialdemokratie sich stets der Parole des Durchhaltens bis zum Siege widersetzt und stets von der Regierung verlangt, daß sie ihre Friedensbereitschaft bekennt. Die Opposition hat ihre Friedenspropaganda nicht erst mit dem Moment begonnen, wo eine solche von der Regierung gutgeheißen wurde. Was die Opposition fordert, war nicht die Bereitschaft zum Frieden um jeden Preis, aber auch nicht die bloße Bereitschaft zu einem Frieden an sich ohne jede nähere Angabe seiner Bedingungen. Was sie fordert, war die Bereitschaft zu einem Frieden, in dem es weder Sieger noch Besiegte gibt, zu einem Frieden der Verständigung ohne Vergewaltigung. Die Opposition innerhalb der deutschen Sozialdemokratie betrachtet die Friedensbereitschaft, die der Reichkanzler am 12. Dezember v. J. kundgab, als Symptom aufkeimenden Friedenswunsches in den regierenden Kreisen. Sie kann aber die Art der Ankündigung dieser Bereitschaft nicht als taugliches Mittel zur Erreichung des Friedenszieles anerkennen. Der Reichskanzler proklamiert das Deutsche Reich als Sieger im Weltkriege. Und doch erschwert das Pochen auf erfochtene Siege den Friedensschluß ebenso sehr wie die Ankündigung kommender Siege. Ferner unterließ der Reichkanzler jede genaue Darlegung der Kriegsziele. Keine der beiden Mächtegruppen hat bisher Kriegsziele erkennen lassen, die der anderen Seite das Eingehen auf Verhandlungen erleichtern. Diese verhängnisvolle Unterlassung ist eine Folge der Macht, welche die Kriegsparteien in den herrschenden Klassen noch besitzen. Deren Einfluß muß gebrochen werden, ehe wir zum Frieden kommen können. Das ist nicht zu erreichen durch diplomatische Transaktionen hinter den Kulissen, sondern nur durch die Einwirkung der Volksmassen auf ihre Regierungen. Nur aus diesem politischen Kampf, nicht aus dem Burgfrieden kann die wirkliche Friedensbereitschaft hervorgehen. Sie erheischt die Aufhebung des Kriegszustandes, erheischt die Freiheit der Presse und der Versammlungen. Aber auch nur als internationaler Kampf ist das Ringen um den Frieden zu gewinnen. Es darf nicht einseitig bleiben. Mehr als je bedürfen wir in der neuen Situation, die durch das Friedensangebot des Reichskanzlers und die Intervention Wilsons geschaffen worden ist, des internationalen Zusammenhanges der Parteien des proletarischen Sozialismus, der berufenen Vorkämpfer des Friedens. Mag die
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Kundgebung dieses Zusammenhanges heute durch äußere Gewalten oder durch die Haltung mancher Mehrheiten noch gehemmt werden, umso notwendiger ist es, daß diejenigen, die den internationalen Zusammenhang geistig nie aufgegeben haben und bisher schon – wie es auch in Zimmerwald und Kienthal geschah – jede Gelegenheit benutzten, ihn zu betonen, ihre innere Übereinstimmung auf das Unzweideutigste bekunden. Wir halten dafür, daß in allen kriegsführenden Ländern für die sozialistischen Parteien die Zeit gekommen ist, von ihren Regierungen eindringlich die genaue Mitteilung der Ziele zu fordern, für die sie den Krieg führen; zu fordern, daß diese Ziele derart sind, daß sie für keines der betreffenden Völker eine Demütigung oder eine Schädigung ihrer Existenzbedingungen bedeuten, daß die Sozialisten überall den Kampf gegen alle Parteien aufnehmen, die den Krieg über diese Ziele hinaus fortsetzen wollen. Als demokratische und internationale Partei steht die Sozialdemokratie auf dem Boden des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Aber die Opposition innerhalb der deutschen Sozialdemokratie hat zu keiner der bürgerlichen Regierungen genügendes Vertrauen, um einer von ihnen die Mission der Befreiung der Nationalitäten durch den Krieg zuzuerkennen. Diese Aufgabe allseitig zu lösen, kann nur das Werk des siegreichen Proletariats sein. Doch stehen wir der Freiheit und Selbstbestimmung der Nationen in der bürgerlichen Gesellschaft keineswegs gleichgültig gegenüber. Wir müssen uns entschieden dagegen wehren, daß der Zustand, wie er vor dem Kriege bestand, durch diesen noch verschlechtert wird. Wir lehnen jede Gebietsveränderung ab, die nicht die Zustimmung der betreffenden Bevölkerung hat. Was die Internationale vor allem gemäß den Beschlüssen ihrer Kongresse zu fordern hat, sind internationale Abkommen über die Entscheidung aller Konflikte zwischen den Staaten durch Schiedsgerichte und über eine allseitige Einschränkung der Kriegsrüstungen. Im Wettrüsten liegt eine der stärksten Wurzeln des jetzigen Krieges. Sie auszurotten, ist die erste Vorbedingung dafür, künftigen Kriegen vorzubeugen. Hier ist die Möglichkeit vorhanden, über den Status quo vor dem Kriege hinauszugehen, einen Fortschritt zu erzielen für alle, ohne Benachteiligung irgendeines der kriegführenden Teile. Hier wird in besserer Form an materiellen Vorteilen das gegeben, was man vergeblich durch Kriegsentschädigung zu erreichen sucht: jede Milliarde im Jahre, die durch eine Verminderung der Rüstungskosten erspart wird, entspricht der Verzinsung einer Kriegsentschädigung von 20 Milliarden. Mit dem Abkommen über Abrüstung und Schiedsgerichte wird auch das Maximum an materiellen Garantien gegen künftige Überfälle gegeben, das in der kapitalistischen Gesellschaft durch bestimmte Friedensbedingungen überhaupt erreichbar ist. Den sichersten Schutzwall des Friedens bildet freilich nur ein politisch machtvolles, geistig selbstständiges Proletariat, bildet dessen intensivste Teilnahme an der äußeren Politik, die im vollsten Licht der Öffentlichkeit zu führen ist. Macht und Selbstständigkeit des Proletariats, Offenheit und Klarheit in der Politik, Einheit im Inneren, internationale Solidarität nach außen bringen den Frieden, sichern den Frieden.
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Quelle: Leipziger Volkszeitung, 24. Jg., Nr. 5 (8. Januar 1917), S. 1, entnommen bei: Krause, Hartfried: USPD. Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Frankfurt a. M. 1975. S. 282 –284. QUELLE 6 Die von Genossen Borchardt im Auftrag der Gruppe Internationale Sozialisten Deutschlands eingebrachte Resolution auf der Reichskonferenz der Opposition, Januar 1917 (gegen 7 Stimmen abgelehnt) 1. Die Opposition verbleibt in der Partei, um die Politik der parlamentarischen Mehrheit auf Schritt und Tritt zu bekämpfen und zu durchkreuzen, die Massen vor der unter dem Deckmantel der Sozialdemokratie betriebenen imperialistischen Politik zu schützen und die Partei als Rekrutierungsfeld für den proletarischen, antiimperialistischen Klassenkampf zu benutzen. 2. Gemeinsame Maßregeln sämtlicher oppositioneller Gruppen, Genossen und Organisationen zur Abwehr der Übergriffe und Gewaltstreiche der Parteiinstanzen. Anmerkung: Dadurch darf sowohl die gesonderte selbstständige Existenz der einzelnen Oppositionsrichtungen, wie ihre Aktionsfreiheit, eigene Presse und Freiheit der Kritik in keiner Weise beeinträchtigt werden. 3. Dem Parteivorstand ist der ihm zukommende Teil der Beiträge zu sperren. Doch darf dieser Beschluß nur von Wahlreisverbänden oder einzelnen Wahlkreisen gefaßt und durchgeführt werden. Die einzelnen Mitglieder bleiben verpflichtet, ihre Beiträge an ihre Organisation zu zahlen. 4. Da, wo die Opposition das Übergewicht hat, ist den Reichstags- und Landtagsabgeordneten der parlamentarischen Mehrheit das Recht, die Mandate weiter auszuüben, durch die zuständigen Wahlkreise öffentlich abzusprechen. 5. Der wichtigste Zweck der parlamentarischen Tätigkeit ist jetzt die Benutzung der Parlamentstribüne, um über den kapitalistischen Ursprung, Charakter und Zweck des Krieges volle rücksichtslose Klarheit zu verbreiten. Die Abgeordneten haben demgemäß nicht den Wahn zu stärken, als ob der Reichstag helfen wolle und könne, sondern sowohl gegen die Regierung wie gegen den Reichstag immer wieder die Arbeitermassen auf ihre eigene Kraft zu verweisen. 6. Friedensaktionen durch selbstständigen Kampf und Massenaktionen des Proletariats. Aufgeben der bisherigen parlamentarischen Friedensaktionen, die in gütlichem Zureden der Regierung und Anrufung der bürgerlichen Diplomatie besteht. 7. Verleugnung der Schwerpunkte der ganzen politischen Tätigkeit der Opposition in die Selbstbetätigung und Aktion der Massen. 8. Systematischer Kampf gegen die Politik der Gewerkschaftsinstanzen innerhalb der Gewerkschaften. Zu diesem Zweck Organisierung der auf Seiten der Oppo-
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sition stehenden Gewerkschaftsmitglieder und Schaffung eines speziellen Gewerkschaftsblattes. Quelle: Leipziger Volkszeitung, Jg 24, Nr. 6 (9. Januar 1917), S. 2, entnommen bei: Krause, Hartfried: USPD. Zur Geschichte der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Frankfurt a. M. 1975, S. 284–285. QUELLE 7 Einladungsschreiben zur Oppositionskonferenz in Gotha, März 1917 Die Einladung. Mitte März 1917 erging an alle oppositionellen Kreise in der Sozialdemokratie folgende Einladung: Hierdurch laden wir ein zu einer nicht öffentlichen Oppositionskonferenz in G o t h a (Volkshaus) in den Ostertagen vom Freitag, den 6. April, früh 10 Uhr, an. Die Dauer der Konferenz ist auf mindestens drei Tage berechnet. T e i l n a h m e b e r e c h t i g t sind nur geladene Personen, und zwar entsprechend den Statutenbestimmungen der Sozialdemokratischen Partei für Parteitage: I. Die auf oppositionellem Boden stehenden Mitglieder des Parteivorstandes der Sozialdemokratischen Partei. II. Die auf oppositionellem Boden stehenden Mitglieder der Kontrollkommission. III. Die auf oppositionellem Boden stehenden sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten. IV. Die Delegierten der auf oppositionellem Boden stehenden Organisation eines jeden Wahlkreises. Wir empfehlen, die Zahl der Delegierten nach den Bestimmungen des Organisationsstatuts der Partei zu bemessen. – In denjenigen Wahlkreisen, in denen noch keine einheitliche Oppositionsorganisation besteht, müssen sich die oppositionellen Genossen über eine gemeinsame Delegation verständigen. Tagesordnung: I. Die Kämpfe innerhalb der Partei. II. Beschlußfassung über die Organisation der Opposition. III. Unsere Aufgaben.
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Die Anmeldungen der Delegierten sowie etwaige Anträge müssen bis zum 2. April in unserem Besitz sein. Der Vorstand der Fraktion der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft. Dittmann.
Haase.
Ledebour.
Vogtherr.
Quelle: Protokoll über die Verhandlungen des Gründungs-Parteitags der U.S.P.D. vom 6. bis 8. April 1917 in Gotha, hg. von Emil Eichhorn, Berlin 1921, S. 7. QUELLE 8 Auszüge aus dem „Gothaer Manifest“ vom April 1917 Genossen und Genossinnen! Das Sehnen vieler Tausender von Kämpfern in den Reihen des Proletariats ist erfüllt. Die auf dem Boden der Opposition stehenden Kreisvereine und Gruppen der deutschen Sozialdemokratie haben sich Ostern 1917 in Gotha eine einheitliche Organisation geschaffen, um ihre Kräfte nicht zu verzetteln, sondern sie zu wuchtiger Beteiligung im Dienste des proletarischen Befreiungskampfes zusammenzufassen. Dieser Kampf ist durch die Politik der Regierungssozialisten, des Parteivorstandes, der Generalkommission der Gewerkschaften und der sozialdemokratischen Fraktion des Reichstages aufs schwerste geschädigt worden. Schon vor dem Kriege waren in unserer Partei scharfe Gegensätze aufgetaucht zwischen den Genossen, die an dem alten Charakter der Sozialdemokratie festhielten, und neuauftretenden Elementen, die dem Gedanken der internationalen Solidarität der Proletarier nationalsoziale Zwecke und die der Taktik unversöhnlicher Opposition die Taktik des Nationalliberalismus entgegenzusetzen suchten. Der Weltkrieg hat diese Gegensätze ungemein vertieft und die nationalsozialen und nationalliberalen Bestrebungen in den offiziellen Vertretungen und Organen der deutschen Sozialdemokratie zur Herrschaft gebracht. Als Lohn für das Aufgeben der sozialdemokratischen Politik wurden den Massen große materielle Errungenschaften in Aussicht gestellt. Alle diese vorgegaukelten Hoffnungen enden in grausamer Enttäuschung. Die neue Politik sollte wachsenden Einfluß der Sozialdemokratie auf die Reichsregierung und damit Abkürzung des Krieges bringen. Sie hat in Wirklichkeit in der äußeren Politik nichts geändert und die Verschlechterung der inneren Politik nicht verhindert. Die neue Ära wird gekennzeichnet durch die ungeheuerlichsten und ungerechtesten Steuerlasten, deren Druck am härtesten die breiten Massen trifft; durch politische Beschränkungen und Verfolgungen, unter denen die zielbewußten Arbeiter und ihre Vertreter am meisten leiden.
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Die elementarsten Rechte, das Recht auf Freizügigkeit und Freiheit der Berufswahl, haben die Regierungssozialisten unter Vorantritt der Generalkommission der Gewerkschaften selbst preisgegeben, indem sie dem Hilfsdienstgesetz ihre Zustimmung gaben und bei seiner Durchführung ihre Unterstützung gewährten. Sie täuschten die Massen, als sie nach Einberufung ihrer Vertrauensmänner in das Regierungsamt den Glauben zu erwecken suchten, daß die Ernährung von da ab besser geregelt werden würde. Wie sie sich in Wirklichkeit gestaltete, haben wir alle nur zu sehr am eigenen Leibe erfahren. Den Ruf nach dem gleichen Wahlrecht in Preußen beantwortete der Reichskanzler v. Bethmann Hollweg mit der Weigerung, irgendetwas zur Demokratisierung Deutschlands und insbesondere Preußens vor Beendigung des Krieges zu tun. Das ist der Lohn für die nicht mehr zu übertreffende Dienstbeflissenheit des Parteivorstandes und der Generalkommission. Das Proletariat kann aber nicht warten. Der Krieg bringt rascheste Konzentration des Kapitals, rapides Schwinden des Mittelstandes, ungeheure Vermehrung des Proletariats, das nach dem Kriege einen Kampf gegen Teuerung und Arbeitslosigkeit, gegen übermächtige Unternehmerverbände und erdrückende Steuerlasten aufs schärfste zu führen haben wird. Einen Kampf, der heute schon einsetzt. Es gilt, sich zu wappnen für die großen Kämpfe der Zukunft, es gilt, Kraft zu gewinnen, um der Not der Gegenwart zu steuern. Das erheischt gründliche Umgestaltung des herrschenden Regierungssystems. Sache der Massen ist es, nicht nachzulassen, bis sie das erreicht haben. Der Volkeswille muß oberstes Gesetz werden. Dringend geboten ist eine Amnestie für alle aus politischen Gründen Verhafteten und Verurteilten. Erforderlich ist die Aufhebung der Zensur, unbeschränkte Freiheit des Vereins- und Versammlungsrechtes sowie der Presse, Sicherung des Koalitionsrechtes, Aufhebung aller Ausnahmegesetze, insbesondere gegenüber den Landarbeitern, den Staatsarbeitern und dem Gesinde, weitgehender Arbeiterschutz, namentlich. Achtstundentag. Unaufschiebbar ist ferner die Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts aller Erwachsenen vom 20. Jahre an für den Reichstag, die Parlamente der Einzelstaaten, der Gemeindevertretungen und für die sonstigen Körperschaften der Selbstverwaltung. Wir fordern das Wahlrecht für die Frauen ebensowohl wie für die Männer. Der Krieg hat den Frauen die Hauptarbeit an der Produktion aufgebürdet, die Not der Zeit zwingt jetzt die Frauen hinein in die Vorderreihen des politischen Kampfes, in den Kampf um Schutzbestimmungen, aber auch um politische Rechte und um die Neugestaltung von Staat und Gesellschaft. Die Frauen des Proletariats, deren Herzen als Gattinnen und Mütter von dem Massenelend doppelt zerrissen werden, die sozialistischen Frauen sind es denn auch, die das Gebot der Zeit untrüglich erkennend, sich mit Leidenschaft hineinstürzen in den Kampf für Recht, für Freiheit, für Brot und für den Frieden. Für Frauen und Männer in gleicher Weise gilt heute mehr als je der Satz, daß die Befreiung der Arbeiterklasse nur durch die Arbeiter selbst errungen werden kann. Genossinnen und Genossen, ans Werk! Ihr habt große Aufgaben zu erfüllen!
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Die oppositionellen Abgeordneten in den Parlamenten, namentlich die der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft im Reichstag, haben zunächst innerhalb ihrer Fraktion, dann öffentlich im Parlament selbst eine selbständige sozialdemokratische Politik getrieben. Wenn auch viele Berichte über ihre Tätigkeit nur verstümmelt und entstellt an die Öffentlichkeit gekommen sind, so werdet Ihr doch gefühlt haben, daß hier der alte Geist lebt, auf den ihr stolz wart, der Geist des internationalen Sozialismus, der allein eure Befreiung von den Fesseln der wirtschaftlichen Ausbeutung und der politischen Unterdrückung bringen kann. Eure oppositionellen Abgeordneten werden nach wie vor ihre sozialdemokratische Pflicht tun. Aber nur dann, wenn sie sich auf die sozialdemokratischen Massen stützen können, vermögen sie ihre volle Kraft zu entfalten. Gegenüber den Erschwerungen des Belagerungszustandes müßt ihr eure Kraft verdoppeln. Von den Regierungssozialisten ist nichts Durchgreifendes zu erwarten. Während heute in Rußland sich selbst das Bürgertum für die demokratische Republik erklärt, hat der „Vorwärts“, das Organ des Parteivorstandes, diesen Zeitpunkt für den geeigneten erachtet, ein Bekenntnis zur Monarchie abzulegen. Nicht Stärkung und Anfeuerung des Proletariats, sondern Schwächung seiner Aktionskraft und Minderung seines Einflusses müssen die Folgen dieser Politik sein, die von Mißerfolg zu Mißerfolg schreitet. Demgegenüber haben jetzt die Arbeiter Rußlands ein leuchtendes Beispiel der entgegengesetzten Politik gegeben. Die sozialistischen Arbeiter Rußlands, die Träger der gewaltigsten Revolution Rußlands, haben, durchdrungen von ihrer großen geschichtlichen Aufgabe, selbständige sozialistische und demokratische Politik getrieben. Ihnen danken wir es, daß das stärkste Bollwerk der Reaktion, der Zarismus, zusammengebrochen ist. Jedem von uns muß ihr machtvolles Auftreten stolze Zuversicht einflößen. Wir bringen ihnen unsere begeisterte Huldigung dar. Die Proletarier Rußlands haben für die Demokratie gekämpft für die Eröffnung der Bahn zum Sozialismus, aber auch für den Frieden, für die baldigste Beendigung des furchtbarsten aller Kriege durch einen Friedensschluß auf der Grundlage unserer gemeinsamen sozialdemokratischen Grundsätze. Kein Zweife, die Arbeiter Rußlands werden auch in dieser Beziehung ihre Pflicht erfüllen. Aber der Erfolg ihrer Friedensarbeit hängt nicht von ihnen allein ab. Er hat zur Vorbedingung das Zusammenwirken der Arbeiter aller Länder in gleichem Sinne, das erneute Aufleben der Internationale und die Betätigung der Arbeiter in ihrem Rahmen. Für die oppositionellen Sozialdemokraten Deutschlands ist die Verständigung über den Frieden mit den Sozialdemokraten der anderen Nationen keine unüberwindliche Schwierigkeit. Das bezeugen die Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal, auf denen Vertreter der deutschen Opposition mit französischen und russischen Sozialdemokraten zusammengewirkt haben. Wir können uns nicht damit zufrieden stellen, wie der Parteivorstand und seine Richtung, daß die Regierung ihre Friedensbereitschaft kundgibt, dabei aber die Bedingungen nicht nennt, unter denen sie bereit ist, Frieden zu schließen. – Wir ver-
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langen einen Frieden durch Verständigung der Völker, ohne direkte oder versteckte Annexionen, auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, mit internationaler Beschränkung der Rüstungen und obligatorischen Schiedsgerichten. Wir sehen in diesen Einrichtungen nicht Zaubermittel, den ewigen Frieden zu sichern, wohl aber die kräftigsten Stützpunkte für den proletarischen Kampf um Erhaltung des Friedens, unsere wichtigste Aufgabe nach dem Kriege. – Nicht auf die Regierungen bauen wir, weder in Bezug auf Herbeiführung noch auf Erhaltung des Friedens. Auch hier vertrauen wir bloß auf die Kraft des Proletariats, das am stärksten ist in seiner internationalen Zusammenfassung. Der nationalen Solidarität der Klassen setzen wir entgegen die internationale Solidarität des Proletariats, den internationalen Kampf der Arbeiterklasse. Im Sinne dieser Grundsätze haben wir den Kampf weiterzuführen. Ohne Ruhe, ohne Rast müssen wir der Verschärfung der Verfolgungen die Verdoppelung unserer Anstrengungen entgegensetzen, bis unser Ziel erreicht ist. Brot und Wissen für alle! Frieden und Freiheit allen Völkern! Quelle: Protokoll über die Verhandlungen des Gründungs-Parteitags der U.S.P.D. vom 6. bis 8. April 1917 in Gotha, hg. von Emil Eichhorn, Berlin 1921, S. 79–82 (Nachdruck: Protokoll der Parteitage der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Bd. 1: 1917–1919, Glashütten im Taunus 1975). QUELLE 9 Aufruf der USPD-Parteileitung „An das werktätige Volk Deutschlands“ vom 5. Oktober 1918 An das werktätige Volk Deutschlands! Das System des Militarismus hat einen Schlag erhalten, von dem es sich nicht mehr erholen wird. Der Imperialismus ist bei uns zusammengebrochen. Die Idee des Sozialismus und der Demokratie ist siegreich auf dem Marsche. Die deutsche Regierung hat ein Waffenstillstandsangebot gemacht und das Programm des amerikanischen Präsidenten Wilson als Grundlage für Friedensverhandlungen angenommen. Dieser Schritt war beschlossen, bevor die neue Regierung ans Ruder kam. Das Friedensangebot kommt unsern unausgesetzten Friedensbestrebungen entgegen. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei hat von Anfang an die Katastrophe des Imperialismus vorausgesehen. Sie ist den Grundsätzen des Sozialismus und der Demokratie treu geblieben. Sie hat als einzige Partei gegen die Verträge von Brest-Litowsk und den Vertrag von Bukarest gestimmt, die jetzt auch die anderen Parteien nicht mehr zu verteidigen wagen. Getreu unserer Überzeugung
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als internationale Sozialisten haben wir in jeder Kriegslage gegen die Vergewaltigung irgendeines Volkes gekämpft. Diese gibt uns das moralische Recht, auch jeden Versuch der Unterdrückung des deutschen Volkes zurückzuweisen. Alle anderen Parteien sind durch den ehernen Gang der Ereignisse gezwungen, ihre Kriegsziele abzuändern. Sie müssen abermals umlernen, und sie haben bereits umgelernt. Nur die Unabhängige Sozialdemokratische Partei braucht nichts von ihrem Friedensprogramm aufzugeben. Das von ihr im Juli 1917 in Stockholm verfaßte Memorandum, das die Zensur damals unterdrückte und das von den übrigen Parteien, auch von der Sozialdemokratischen Partei angegriffen wurde, kommt jetzt zur Geltung. Die Politik der Sozialdemokratischen Partei, der Scheidemann und Ebert, der David und Lensch, ist ebenso zusammengebrochen wie die der herrschenden Klassen. Die Sozialdemokratische Partei war ohnmächtig und einflußlos, solange das Kriegsglück den Imperialisten günstig war, obwohl sie, oder richtiger: weil sie jede kapitalistische Regierung in ihrer Kriegspolitik unterstützte und ihr die Kriegskredite bewilligte. Nicht das geringste hat sie während der langen Kriegszeit für den Frieden, für die Freiheit, für den Schutz der Arbeiter und Arbeiterinnen gegen Ausbeutung erreicht. In dem Moment, da die bürgerliche Gesellschaft in allen Fugen kracht, sind mehrere Sozialdemokraten, so Scheidemann und Bauer, zu Ministern gemacht worden. Die Sozialdemokraten sind damit auch offiziell zu Regierungssozialisten gestempelt. Die Sozialdemokratische Partei ist in die Regierung berufen, um nach dem Zusammenbruch des Imperialismus die bürgerliche Gesellschaft zu stützen. Sie hat die Aufgabe übernommen, die „nationale Verteidigung“ zu organisieren und die bürgerliche „Ordnung“ zu schützen. Sie hat die Forderung der internationalen Kongresse preisgegeben, daß die Katastrophe des Weltkrieges von der Sozialdemokratie ausgenützt werden müsse, an Stelle des kapitalistischen Systems das sozialistische zu setzen. Das Programm, das die Sozialdemokratische Partei als Bedingung für ihren Eintritt in die Regierung aufstellte, war so bescheiden, daß es sogar verschiedenen bürgerlichen Zeitungen nicht weit genug ging. Nicht die Amnestie für politische Delikte, nicht einmal die Aufhebung des Belagerungszustandes werden verlangt, nicht die geringste sozialpolitische Forderung ist in ihm enthalten. Und obwohl die Sozialdemokratische Partei ihr Programm als Mindestprogramm bezeichnete, von dem sie nicht abhandeln lassen werde, hat sie den bürgerlichen Parteien und der Regierung doch in mehreren Punkten noch nachgegeben. So schwächlich zeigt sich die Sozialdemokratische Partei schon bei ihrem Eintritt in die Regierung. Selbst eine vorgeschrittene bürgerliche Regierung müßte mindestens folgende Forderungen ohne Aufschub verwirklichen: „Sofortige Räumung der von den deutschen Truppen besetzten Gebiete des ehemaligen russischen Reichs, Finnlands, der Ostseeprovinzen, Polens, der Ukraine, ferner Rumäniens und Bulgariens. Abänderung der bereits geschlossenen Friedensverträge nach den Grundsätzen der Demokratie.
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Amnestie für alle wegen politischer Vergehen und Verbrechen verurteilter Zivilpersonen, Soldaten und Matrosen, Öffnung der Gefängnisse und Zuchthäuser, namentlich für alle aus Anlaß von Streiks wegen angeblichen Landesverrats Verurteilter, Niederschlagung der wegen politischer Vergehen und Verbrechen schwebenden Strafverfahren. Sofortige Freilassung aller wegen politischer Vergehen zum Heere Eingezogenen. Löschung aller politischen Vermerke in den militärischen und polizeilichen Akten, insbesondere des Vermerks „B 18“. Aufhebung der Schutzhaft und Entlassung aller Internierten. Aufhebung des Belagerungszustandes. Freies Vereins- und Versammlungsrecht. Freiheit der Presse. Beseitigung aller Schranken für die Herausgabe neuer Zeitungen. Strenge Durchführung des Postgeheimnisses. Beseitigung der selbst nach dem bestehenden Rechtszustande völlig unzulässigen öffentlichen und geheimen Briefkontrolle. Einführung des Proportionalwahlrechts. Ausdehnung des Wahlrechts auf die Frauen. Übertragung des gleichen, allgemeinen und direkten Wahlrechts durch Reichsgesetz auf alle Bundesstaaten. Aufhebung des Hilfsdienstgesetzes. Wiederherstellung und Ausbau der Schutzbestimmungen für Frauen und Jugendliche. Einführung des achtstündigen Maximalarbeitstages. Sofortige Abänderung der Verfassung in folgenden Punkten: Staatsverträge sind nur mit Zustimmung der Volksvertretung gültig. Ohne solche Zustimmung darf kein Krieg erklärt, kein Friede geschlossen werden. Jeder Minister ist zu entlassen, wenn dieses durch einen Mehrheitsbeschluss der Volksvertretung verlangt wird.“ Als internationale Sozialisten erheben wir viel weitgehendere Forderungen. Unser Ziel ist die sozialistische Republik. Sie allein ermöglicht es, die Welt von den Verwüstungen des Krieges zu erlösen. Tiefe Umwälzungen gehen in allen Staaten vor sich. Die Welt erhält ein völlig anderes Antlitz. Aber es sieht nicht so aus, wie Cunow und Lensch, wie David und Renner jahrelang mit Selbstsicherheit gepredigt haben. Bei diesem Umgestaltungsprozeß eine führende Rolle zu übernehmen, ist die historische Aufgabe des internationalen Proletariats. Begeisterung, Opferfreudigkeit und Geschlossenheit sind unbedingt zu ihrer Lösung erforderlich. Die Methoden des Regierungssozialismus führen nur zur Lähmung der selbständigen Betätigung der Arbeiterklassen und zur Stärkung der bürgerlichen Gesellschaft. Die Einigkeit des Proletariats kann sich aber ebensowenig unter dem Banner des Zentrums, der Fortschrittlichen Volkspartei, der Nationalliberalen wie der Regierungssozialisten vollziehen. Einigkeit unter dem unbefleckten Banner der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei, des internationalen Sozialismus, muß die Parole des deutschen Proletariats sein. Nur dann ist auch der Friede gesichert, nur dann ist die Zukunft des Proletariats und der Menschheit verbürgt. Auf! Sammelt euch! Schließt die Reihen. Das Höchste gilt es zu erringen. Die Befreiung der Menschheit!
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Ber1in, den 5. Oktober 1918. Die Parteileitung und die Reichstagsfraktion der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Quelle: Prager, Eugen: Geschichte der USPD. Entstehung und Entwicklung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Berlin 1921, S. 172–174. QUELLE 10 Programmatische Kundgebung der USPD. Beschlossen vom Parteitag der USPD Anfang März 1919 Unter Aufrechterhaltung der leitenden Gedanken des grundsätzlichen Teils des Erfurter Programms erklärt der Parteitag: Im November 1918 haben die revolutionären Arbeiter und Soldaten Deutschlands die Staatsgewalt erobert. Sie haben aber ihre Macht nicht befestigt und die kapitalistische Klassenherrschaft nicht überwunden. Die 192 Führer der Rechtssozialisten haben den Pakt mit den bürgerlichen Klassen erneuert und die Interessen des Proletariats preisgegeben. Sie treiben eine Verwirrungspolitik mit den Worten „Demokratie“ und „Sozialismus“. In der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sind demokratische Rechtsformen Truggebilde. Solange der politischen Befreiung nicht auch die wirtschaftliche Befreiung und Unabhängigkeit gefolgt ist, besteht keine wahre Demokratie. Die Sozialisierung, wie die Rechtssozialisten sie betreiben, ist ein Gaukelspiel. Sie begnügten sich, unter Schonung der kapitalistischen Interessen, mit einer „gemischtwirtschaftlichen“ Bewirtschaftung und sogar nur mit der „öffentlichen Kontrolle“ der nach ihrem eigenen Urteil für die sofortige Vergesellschaftung reifen Betriebe. Das klassenbewußte Proletariat hat erkannt, daß sein Befreiungskampf nur von ihm allein und nicht nur mit den bisherigen Organisationen durchgeführt werden kann, sondern daß dazu auch eine neue proletarische Kampforganisation erforderlich ist. Im Rätesystem hat sich die proletarische Revolution diese Kampforganisation geschaffen. Sie faßt die Arbeitermassen in den Betrieben zu revolutionärem Handeln zusammen. Sie schafft dem Proletariat das Recht der Selbstverwaltung in den Betrieben, in den Gemeinden und im Staate. Sie führt die Umwandlung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in die sozialistische durch. In allen kapitalistischen Ländern entwickelt sich das Rätesystem aus den gleichen wirtschaftlichen Bedingungen und wird zum Träger der proletarischen Weltrevolution. Die geschichtliche Aufgabe der U. S. P. ist es, die Bannerträgerin des klassenbewußten Proletariats in seinem revolutionären Befreiungskampf zu sein.
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Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei stellt sich auf den Boden des Rätesystems. Sie unterstützt die Räte in ihrem Ringen um die wirtschaftliche und politische Macht. Sie erstrebt die Diktatur des Proletariats, des Vertreters der großen Volksmehrheit, als notwendige Vorbedingung für die Verwirklichung des Sozialismus. Erst der Sozialismus bringt die Beseitigung jeder Klassenherrschaft, die Beseitigung jeder Diktatur, die wahre Demokratie. Um dieses Ziel zu erreichen, bedient sich die U. S. P. aller politischen und wirtschaftlichen Kampfmittel, einschließlich der Parlamente. Sie verwirft planlose Gewalttätigkeiten. Ihr Ziel ist nicht die Vernichtung von Personen, sondern die Beseitigung des kapitalistischen Systems. Die nächsten Forderungen der U. S. P. D. sind: 1. Einordnung des Rätesystems in die Verfassung. Entscheidende Mitwirkung der Räte bei der Gesetzgebung, Staats- und Gemeindeverwaltung und in den Betrieben. 2. Völlige Auflösung des alten Heeres. Sofortige Auflösung des durch Freiwilligenkorps gebildeten Söldnerheeres. Entwaffnung des Bürgertums. Errichtung einer Volkswehr aus den Reihen der klassenbewußten Arbeiterschaft. Selbstverwaltung der Volkswehr und Wahl der Führer durch die Mannschaft. Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit. 3. Die Vergesellschaftung der kapitalistischen Unternehmungen ist sofort zu beginnen. Sie ist unverzüglich durchzuführen auf den Gebieten des Bergbaues und der Energie-Erzeugung (Kohle, Wasser, Kraft, Elektrizität), der konzentrierten Eisen- und Stahlproduktion, sowie anderer hochentwickelter Industrien und des Bank- und Versicherungswesens. Großgrundbesitz und große Forste sind sofort in gesellschaftliches Eigentum zu überführen. Die Gesellschaft hat die Aufgabe, die gesamten wirtschaftlichen Betriebe durch Bereitstellung aller technischen und wirtschaftlichen Hilfsmittel, sowie Förderung der Genossenschaft zur höchsten Leistungsfähigkeit zu bringen. In den Städten ist das private Eigentum an Grund und Boden in Gemeindeeigentum zu überführen und ausreichende Wohnungen sind von der Gemeinde auf eigene Rechnung herzustellen. 4. Wahl der Behörden und der Richter durch das Volk. Sofortige Einsetzung eines Staatsgerichtshofes, der die Schuldigen am Weltkriege und an der Verhinderung eines zeitigeren Friedens zur Verantwortung zu ziehen hat. 5. Der während des Krieges geschaffene Vermögenszuwachs ist voll wegzusteuern. Von allen größeren Vermögen ist ein Teil an den Staat abzuführen. Im Übrigen sind die öffentlichen Ausgaben durch stufenweis steigende Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuern zu decken. Die Kriegsanleihen sind zu annullieren unter Entschädigung der Bedürftigen, der gemeinnützigen Vereine, Anstalten und der Gemeinden. 6. Ausbau der sozialen Gesetzgebung. Schutz und Fürsorge für Mutter und Kind. Den Kriegerwitwen und -waisen und den Verletzten ist eine sorgenfreie Existenz sicherzustellen. Den Wohnungsbedürftigen sind überflüssige Räume
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der Besitzenden zur Benutzung zu übergeben. Grundlegende Neuordnung des öffentlichen Gesundheitswesens. 7. Trennung von Staat und Kirche und Trennung von Kirche und Schule. Öffentliche Einheitsschule mit weltlichem Charakter, die nach sozialistisch-pädagogischen Grundsätzen auszugestalten ist. Anspruch jedes Kindes auf die seinen Fähigkeiten entsprechende Ausbildung und die Bereitstellung der hierzu erforderlichen Mittel. 8. Einführung eines öffentlich-rechtlichen Monopols für Inserate und Übertragung an die Kommunalverbände. 9. Herstellung freundschaftlicher Beziehungen zu allen Nationen. Sofortige Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zur russischen Räterepublik und zu Polen. Wiederherstellung der Arbeiter-Internationale auf dem Boden der revolutionären sozialistischen Politik im Geiste der internationalen Konferenzen von Zimmerwald und Kiental. Die U. S. P. D. ist der Überzeugung, daß durch die Zusammenfassung aller proletarischen Kräfte, die sie erstrebt, der vollständige und dauernde Sieg des Proletariats beschleunigt und gesichert wird. Das Bekenntnis in Wort und Tat zu den Grundsätzen und Forderungen dieser Kundgebung ist aber die notwendige Voraussetzung der Einigung der Arbeiterklasse. Quelle: Prager, Eugen: Geschichte der USPD. Entstehung und Entwicklung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Berlin 1921, S. 192–194. QUELLE 11 Richtlinien der USPD für den Aufbau des Rätesystems, vorgelegt auf dem 2. Reichsrätekongreß vom 8. bis 14. April 1919 in Berlin 1. Die Vertretung der werktätigen Bevölkerung sind auf politischem Gebiete die Arbeiterräte, auf wirtschaftlichem Gebiete die Betriebsräte. Die Wahlen der Arbeiterräte und die Wahlen der Betriebsräte erfolgen auf Grund des Betriebsund Berufswahlsystems. Wahlberechtigt und wählbar sind ohne Unterschied des Geschlechts diejenigen, welche ohne Ausbeutung fremder Arbeitskraft gesellschaftlich notwendige und nützliche Arbeit leisten, ihren Lebensunterhalt durch die Arbeit ihrer Hand oder ihres Kopfes erwerben und das 18. Lebensjahr vollendet haben. Die Wahlen der Arbeiter- und Betriebsräte erfolgen nicht auf bestimmte Zeit, sondern auf jederzeitigen Widerruf. 2. Die Organisation der auf politischem Gebiete tätigen Arbeiterräte beruht auf den Arbeiterräten der Gemeinden. Diese Arbeiterräte haben bis zum vollen Ausbau der Räteverfassung die Kontrolle der Gemeindeverwaltung auszuüben. Aus den kommunalen Arbeiterräten sind nach Kreis, Bezirk und Provinz Kreis-, Bezirks- und Provinzial-Arbeiterräte zu wählen, welche die zuständigen
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Verwaltungsbehörden zu kontrollieren haben. Solange die einheitliche deutsche Republik noch nicht verwirklicht ist, werden in den einzelnen deutschen Republiken Landeszentralräte gebildet. Die gesamte politische Macht hat der Rätekongreß. Dieser setzt sich aus den Vertretern der Arbeiterräte zusammen. Mindestens alle drei Monate tritt der Rätekongreß zusammen. Er wählt den Zentralrat, der die Volksbeauftragten einsetzt und kontrolliert. 3. Die Organisation der auf wirtschaftlichem Gebiete tätigen Betriebsräte beruht auf den Betrieben und Berufen. Jeder Betrieb wählt einen Betriebsrat, der sich aus den Betriebsvertrauensleuten zusammensetzt, welche die Unterabteilungen des Betriebes vertreten. Kleine Betriebe und Berufe, die nicht nach Betrieben erfaßt werden können, werden zu Wahlkörpern zusammengeschlossen. Die Betriebsräte haben die Interessen der Arbeiter, Angestellten und Beamten beider Geschlechter in Privatunternehmungen, kommunalen und Staatsbetrieben wahrzunehmen und eine eingehende Kontrolle der Betriebe auszuüben. Sie wirken bei der Sozialisierung der Betriebe mit. Das gesamte Reichsgebiet wird in Wirtschaftsbezirke gegliedert, wobei die Industrie-, Gewerbe-, Handels- und landwirtschaftlichen Verhältnisse zu berücksichtigen sind. In jedem Wirtschaftsgebiete wählen die Betriebsräte jeder Industrie-, Gewerbe-, Handelsund Landwirtschaftsgruppe sowie die Gruppe der freien Berufe die Bezirksgruppenräte. Die Bezirksgruppenräte eines Bezirks wählen den Bezirkswirtschaftsrat. Die Bezirksgruppenräte einer jeden Gruppe im Reich wählen die Reichsgruppenräte. Die Reichsgruppenräte wählen den Reichswirtschaftsrat. Die Bezirksgruppenräte, der Bezirkswirtschaftsrat, die Reichsgruppenräte, der Reichswirtschaftsrat können Sachverständige zuziehen. Der Reichswirtschaftsrat überwacht das gesamte wirtschaftliche Leben des Reiches und setzt gemeinsam mit dem Zentralrat die Verwaltungsnormen zur Aufrechterhaltung der Produktion und zur Überleitung der privatkapitalistischen Produktion in die sozialistische fest. Quelle: „II. Kongreß der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte Deutschlands am 8. bis 14. April 1919 im Herrenhaus zu Berlin“, Stenographisches Protokoll, Berlin 1919, S. 269–270. QUELLE 12 Aktionsprogramm der USPD. Beschlossen vom Parteitag der USPD Dezember 1919 Die proletarische Revolution hat zwei große Epochen: den Kampf um die Eroberung der politischen Macht und ihre Behauptung für die Übergangszeit von Kapitalismus zum Sozialismus. Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein, weil alle anderen Klassen, trotz der Interessengegensätze untereinander,
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auf dem Boden des Privateigentums an Produktionsmitteln stehen und die Erhaltung der Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft zum gemeinsamen Ziel haben. Die Interessen der Arbeiterklasse sind in allen Ländern gleich. Mit der Ausdehnung der kapitalistischen Weltwirtschaft wird die Lage der Arbeiter eines jeden Landes immer abhängiger von der Lage der Arbeiter in den anderen Ländern. Die Befreiung der Arbeiterklasse erfordert also den internationalen Zusammenschluß und den gemeinsamen Kampf der Arbeiter der ganzen Welt. In dieser Erkenntnis fühlt und erklärt die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands sich eins mit den klassenbewußten Arbeitern aller Länder. Dem imperialistischen Kapitalismus setzt das klassenbewußte Proletariat aller Länder den internationalen Sozialismus entgegen. Die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat leitet die Befreiung der Arbeiterklasse ein. Zur Durchführung dieses Kampfes bedarf die Arbeiterklasse der Unabhängigen Sozialdemokratie, die rückhaltlos auf dem Boden des revolutionären Sozialismus steht, der Gewerkschaften, die sich zum unverfälschten Klassenkampf bekennen und zu Kampforganisationen der sozialen Revolution umzugestalten sind, und des revolutionären Rätesystems, das die Arbeiter zum revolutionären Handeln zusammenfaßt. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei steht auf dem Boden des Rätesystems. Sie unterstützt alle Bestrebungen, die Räteorganisation schon vor der Eroberung der politischen Macht als proletarische Kampforganisation für den Sozialismus auszubauen und in ihr alle Hand- und Kopfarbeiter zusammenzufassen und sie zu schulen für die Diktatur des Proletariats. Die politische Herrschaftsorganisation des kapitalistischen Staates wird mit der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat zertrümmert. An ihre Stelle treten die politischen Arbeiterräte als Herrschaftsorganisation des Proletariats. Sie vereinigen in sich Gesetzgebung und Verwaltung. Ihre Wirksamkeit bedeutet die Umwandlung und Neugestaltung des kapitalistischen staatlichen Verwaltungsapparates, einschließlich der Gemeinden; sie bedeutet aber auch die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der Arbeiterklasse und ihren Zusammenschluß zwecks Abschaffung jeglicher Klassenherrschaft. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei setzt der Herrschaftsorganisation des kapitalistischen Staates die proletarische Herrschaftsorganisation auf der Grundlage des politischen Rätesystems entgegen, dem bürgerlichen Parlament, als dem Ausdruck des Machtwillens der Bourgeoisie, den revolutionären Rätekongreß. Die Umwandlung der kapitalistischen Wirtschaftsanarchie in die planmäßige sozialistische Wirtschaft erfolgt durch das wirtschaftliche Rätesystem. Zur Überwindung des Kapitalismus und zur Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft sind folgende Maßnahmen zu treffen: 1. Die Auflösung jedes konterrevolutionären Söldnerheeres, Auflösung aller militärischen Zivil- und Polizeiformationen, Einwohnerwehren in Stadt und Land, Technischen Nothilfe, Polizeitruppen, Entwaffnung des Bürgertums und der Grundbesitzer. Errichtung einer revolutionären Wehr.
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2. Umwandlung des Privateigentums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum. Die Vergesellschaftung ist unverzüglich durchzuführen auf den Gebieten des Bank- und Versicherungswesens, des Bergbaues und der Energieerzeugung – Kohle, Wasser, Kraft, Elektrizität –, der konzentrierten Eisen- und Stahlproduktion, des Transport- und Verkehrswesens sowie anderer hochentwickelter Industrien. 3. Großgrundbesitz und große Forste sind sofort in gesellschaftliches Eigentum zu überführen. Die gesamten landwirtschaftlichen Betriebe sind durch Bereitstellung aller technischen und wirtschaftlichen Hilfsmittel, durch Förderung der Genossenschaft zur höchsten Leistungsfähigkeit zu bringen. Urbarmachung von Ödland. 4. In den Städten und vorwiegend industriellen Gemeinden ist das Privateigentum an Grund und Boden in Gemeindeeigentum zu überführen; ausreichende Wohnungen sind von den Gemeinden herzustellen. 5. Planmäßige Regelung des Ernährungswesens. 6. Vergesellschaftung des gesamten öffentlichen Gesundheitswesens. 7. Vergesellschaftung aller öffentlichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen. Öffentliche Einheitsschule mit weltlichem Charakter. Die Schule ist nach sozialistisch-pädagogischen Grundsätzen auszugestalten, die Erziehung mit der materiellen Produktion zu verbinden. 8. Erklärung der Religion zur Privatsache. Völlige Trennung von Staat und Kirche. Erklärung der kirchlichen und religiösen Gemeinschaften zu privaten Vereinigungen, die ihre Angelegenheiten selbständig ordnen. 9. Sozialistische Steuerpolitik durch progressive Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuer zur Bestreitung aller öffentlichen Ausgaben, soweit diese durch Steuern zu decken sind. Abschaffung aller indirekten Steuern, Zölle und sonstigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, welche die Interessen des Proletariats den Interessen einer bevorzugten Minderheit opfern. 10. Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlicher und privatrechtlicher Beziehung dem Manne gegenüber benachteiligen. 11. Einführung eines öffentlich-rechtlichen Monopols für das Anzeigen- und Werbewesen und Übertragung an die Kommunalverbände. 12. Umgestaltung des gesamten öffentlichen Rechtswesens nach sozialistischen Grundsätzen. 13. Arbeitspflicht für alle Arbeitsfähigen. Schutzmaßnahmen zur Erhaltung der Arbeitskraft. 14. Herstellung freundschaftlicher Beziehungen zu allen Völkern. Sofortige Anbahnung von Bündnissen mit sozialistischen Republiken. Die Diktatur des Proletariats ist ein revolutionäres Mittel zur Beseitigung aller Klassen und Aufhebung jeder Klassenherrschaft, zur Erringung der sozialistischen Demokratie. Mit der Sicherung der sozialistischen Gesellschaft hört die Diktatur des Proletariats auf, und die sozialistische Demokratie kommt zur vollen Entfaltung.
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Die Organisation der sozialistischen Gesellschaft erfolgt nach dem Rätesystem. In der sozialistischen Gesellschaft kommt auch das Rätesystem in seinem tiefsten Sinn zur höchsten Geltung. Der tiefste Sinn des Rätesystems ist, daß die Arbeiter, die Träger der Wirtschaft, die Erzeuger des gesellschaftlichen Reichtums, die Förderer der Kultur, auch die verantwortlichen Träger aller rechtlichen Einrichtungen und politischen Gewalten sein müssen. Um dieses Ziel zu erreichen, bedient sich die Unabhängige Sozialdemokratische Partei planmäßig und systematisch gemeinsam mit den revolutionären Gewerkschaften und der proletarischen Räteorganisation aller politischen, parlamentarischen und wirtschaftlichen Kampfmittel. Das vornehmste und entscheidende Kampfmittel ist die Aktion der Masse. Die Unabhängige Sozialdemokratie verwirft gewaltsames Vorgehen einzelner Gruppen und Personen. Ihr Ziel ist nicht die Vernichtung von Produktionsinstrumenten, sondern die Beseitigung des kapitalistischen Systems. Die geschichtliche Aufgabe der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei ist es, der Arbeiterbewegung Inhalt, Richtung und Ziel zu geben und dem revolutionären Proletariat in seinem Kampfe für den Sozialismus Führerin und Bannerträgerin zu sein. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei ist der Überzeugung, daß durch die Zusammenfassung der proletarischen Massen, die sie erstrebt, der vollständige und dauernde Sieg des Proletariats beschleunigt und gesichert wird. In diesem Sinne erstrebt die Unabhängige Sozialdemokratische Partei auch die Schaffung einer revolutionären aktionsfähigen Internationale der Arbeiter aller Länder. Das Bekenntnis in Wort und Tat zu den Grundsätzen und Forderungen dieses Programms ist die Voraussetzung zur Einigung der Arbeiterklasse. Nur durch die proletarische Revolution kann der Kapitalismus überwunden, der Sozialismus verwirklicht und damit die Befreiung der Arbeiterklasse durchgeführt werden. Quelle: Prager, Eugen: Geschichte der USPD. Entstehung und Entwicklung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Berlin 1921. S. 209–211. QUELLE 13 Aufruf des Zentralkomitees der USPD vom 14. März 1920 an das arbeitende Volk für die Fortsetzung des Generalstreiks zur Niederringung der Militärdiktatur Männer und Frauen des arbeitenden Volkes! Der Kampf gegen die Diktatur der Offiziere und Monarchisten hat begonnen. Wir wissen, daß es ein schweres, opfervolles Ringen ist, der Preis des Kampfes erfordert es aber, daß wir alles einsetzen, die Diktatur der Militaristen niederzuringen. Sie muß niedergerungen werden.
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Setzt den Generalstreik mit aller Entschiedenheit fort und steigert die Kräfte der Abwehr zum Äußersten! Man will in eure Reihen Verwirrung hineintragen und verbreitet die Lügennachrichten über angebliche Verhandlungen mit der Unabhängigen Sozialdemokratie. Man wagt es sogar zu behaupten, daß unser Genosse Däumig bereit sei, in die Regierung einzutreten. Männer und Frauen! Glaubt nicht diesen Lügen! Die Unabhängige Sozialdemokratie Deutschlands hält fest an ihrer unabhängigen proletarischen Klassenkampfpolitik. Sie verhandelt mit einer Regierung Kapp-Lüttwitz ebensowenig, wie sie mit der Regierung Ebert-Noske je verhandelte. Die alte Regierung, die selbst durch ihre Politik dem Militarismus in den Sattel geholfen hat, trägt die volle Verantwortung für den frevelhaften Putsch und alle seine Folgen. Das Beginnen der Kapp-Lüttwitz bedeutet den Versuch einer noch schwereren Fesselung und Verfolgung der Arbeiterbewegung als jemals. Die Niederringung dieser Diktatur ist eine notwendige Etappe in dem Kampfe um die völlige Befreiung der Arbeiterklasse und den Sieg des revolutionären Sozialismus. Nieder mit der Säbeldiktatur! Es lebe die Solidarität des klassenbewußten Proletariats! Das Zentralkomitee der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Artur Crispien, Ernst Däumig, Wilhelm Dittmann, Adolph Hoffmann, Wilhelm Koenen, Franz Künstler, Julius Moses, Anna Nemitz, Hermann Radtke, Kurt Rosenfeld, Walter Stoecker, Luise Zietz Quelle: Leipziger Volkszeitung, Nr. 34 vom 15. März 1920. QUELLE 14 Erklärung des Zentralkomitees der USPD vom 24. März 1920 zu den Aufgaben einer Arbeiterregierung Der Militarismus, das mörderische Werkzeug des Kapitalismus, hat seine Volksfeindlichkeit erwiesen sowohl unter der kaiserlichen Regierung wie unter der ihrer bürgerlich-rechtssozialistischen Nachfolger. Durch den entschlossenen Gegenstoß der sozialistischen Arbeiterschaft aller Parteirichtungen wurde der Versuch der Machtergreifung durch Junker und Militaristen abgeschlagen. Nur die Übernahme der Regierung durch die organisierte Arbeiterschaft verbürgt die restlose Überwindung jeder militaristischen Gewaltherrschaft. Eine solche Regierung müßte sofort damit beginnen, folgende erste Maßnahmen durchzuführen:
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1. Entwaffnung und Auflösung aller konterrevolutionären Formationen. Mannschaftsersatz aus Reihen der organisierten Arbeiterschaft; politisch zuverlässige Führer. 2. Aufhebung des Ausnahmezustandes. Freilassung aller verhafteten Revolutionskämpfer und umfassende Amnestie. 3. Bestrafung aller an dem Kappschen Umsturz beteiligten Gegenrevolutionäre und der für das Hinmorden von revolutionären Kämpfern Verantwortlichen. 4. Durchführung der Sozialisierung, beginnend auf dem Gebiete des Bergbaus und der Energieerzeugung – Kohle, Wasser, Kraft, Elektrizität –, Weiterführung der Sozialisierung der konzentrierten Eisen- und Stahlproduktion, des Transport- und Verkehrswesens sowie anderer hochentwickelter Industrie. Umfassende Kommunalisierung. 5. Überführung des Großgrundbesitzes und der großen Forsten in gesellschaftliches Eigentum. Die gesamten landwirtschaftlichen Betriebe sind durch Bereitstellung aller technischen und wirtschaftlichen Hilfsmittel, durch Förderung der Genossenschaft zur höchsten Leistungsfähigkeit zu bringen. 6. Sicherung der Lebensmittelversorgung der städtischen Bevölkerung. Schärfste Bekämpfung des Lebensmittelwuchers. 7. Ausbau der Sozialgesetzgebung. Anpassung der Löhne, Gehälter, Renten und Unterstützungen an die Kosten der Lebenserhaltung. Wirksame Schutzmaßnahmen zur Erhaltung der Arbeitskraft. 8. Freundschaftliche Beziehungen zu allen Völkern. Frieden mit Rußland. Erfüllung der sich aus dem Friedensvertrag ergebenden Verpflichtungen. Nur eine Regierung, die diese Maßnahmen durchführt, wird bei der Arbeiterschaft das Vertrauen finden, das ihr ermöglicht, Deutschland aus dem wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch herauszuführen. Berlin, den 24. März 1920 Das Zentralkomitee der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Quelle: Freiheit, Nr. 88/A 48 vom 25. März 1920. QUELLE 15 Leitsätze über die Bedingungen der Aufnahme in die Kommunistische Internationale [vom 6. August 1920] Der erste Kongreß der Kommunistischen Internationale hat keine genauen Bedingungen für die Aufnahme in die III. Internationale aufgestellt. Bis zum Augenblick
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der Einberufung des I. Kongresses existierten in den meisten Ländern bloß kommunistische Richtungen und Gruppen. Unter anderen Verhältnissen tritt der II. Kongreß der Kommunistischen Internationale zusammen. Zur Zeit gibt es in den meisten Ländern nicht nur kommunistische Strömungen und Richtungen, sondern kommunistische Parteien und Organisationen. An die Kommunistische Internationale wenden sich nun oft Parteien und Gruppen, die noch vor kurzem zur II. Internationale gehörten, die jetzt in die III. Internationale eintreten wollen, die aber nicht in der Tat kommunistisch geworden sind. Die II. Internationale ist endgültig zerschlagen. Die Zwischenparteien und die Gruppen des „Zentrums“, die die völlige Aussichtslosigkeit der II. Internationale einsehen, versuchen sich an die immer kräftiger werdende Kommunistische Internationale anzulehnen. Sie hoffen jedoch dabei eine solche „Autonomie“ zu bewahren, die ihnen die Möglichkeit gewährt, ihre frühere opportunistische oder „Zentrumspolitik“ weiterzuführen. Die Kommunistische Internationale wird gewissermaßen Mode. Das Verlangen einiger führender Gruppen des „Zentrums“, in die III. Internationale einzutreten, ist eine indirekte Bestätigung dessen, daß die Kommunistische Internationale die Sympathien der überwiegenden Mehrheit der klassenbewußten Arbeiter der ganzen Welt erobert hat und daß sie eine mit jedem Tage immer mehr wachsende Macht wird. Der Kommunistischen Internationale droht die Gefahr, durch wankelmütige und durch Halbheit sich auszeichnende Elemente verwässert zu werden, welche die Ideologie der II. Internationale noch nicht endgültig abgestreift haben. Außerdem verbleibt in einigen großen Parteien (Italien, Schweden, Norwegen, Jugoslavien u. a.), deren Mehrheit auf dem Standpunkt des Kommunismus steht, bis zum heutigen Tage ein bedeutender reformistischer und sozialpazifistischer Flügel der, nur auf den Augenblick wartet, wieder das Haupt zu erheben, mit der aktiven Sabotage der proletarischen Revolution zu beginnen und dadurch der Bourgeoisie und der II. Internationale zu helfen. Kein einziger Kommunist darf die Lehren der ungarischen Räterepublik vergessen. Die Verschmelzung der ungarischen Kommunisten mit den sogenannten „linken“ Sozialdemokraten ist dem ungarischen Proletariat teuer zu stehen gekommen. Infolgedessen erachtet es der II. Kongreß der Kommunistischen Internationale für notwendig, die Bedingungen der Aufnahme von neuen Parteien ganz genau festzulegen, und diejenigen Parteien, die in die Kommunistische Internationale aufgenommen sind, auf die ihnen auferlegten Pflichten hinzuweisen. Der II. Kongreß der Kommunistischen Internationale stellt folgende Bedingungen der Zugehörigkeit zur Kommunistischen Internationale auf: 1. Die gesamte Propaganda und Agitation muß einen wirklich kommunistischen Charakter tragen und dem Programm und den Beschlüssen der Kommunistischen Internationale entsprechen. Alle Preßorgane der Partei müssen von zuverlässigen Kommunisten geleitet werden, die ihre Hingebung für die Sache
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des Proletariats bewiesen haben. Von der Diktatur des Proletariats darf nicht einfach wie von einer landläufigen eingepaukten Formel gesprochen werden, sondern sie muß so propagiert werden, daß ihre Notwendigkeit jedem einfachen Arbeiter, Arbeiterin, Soldaten und Bauern verständlich wird aus den Tatsachen des täglichen Lebens, die von unserer Presse systematisch beobachtet und Tag für Tag ausgenutzt werden müssen. Die periodische und nicht-periodische Presse und alle Parteiverlage müssen völlig dem Parteivorstand unterstellt werden, ohne Rücksicht darauf, ob die Partei in ihrer Gesamtheit in dem betreffenden Augenblick legal oder illegal ist. Es ist unzulässig, daß die Verlage ihre Selbständigkeit mißbrauchen und eine Politik führen, die der Politik der Partei nicht ganz entspricht. In den Spalten der Presse, in den Volksversammlungen, in den Gewerkschaften, in den Konsumvereinen – überall, wohin sich die Anhänger der III. Internationale Eingang verschaffen, ist es notwendig, nicht nur die Bourgeoisie, sondern auch ihre Helfershelfer, die Reformisten aller Schattierungen, systematisch und unbarmherzig zu brandmarken. Jede Organisation, die sich der Kommunistischen Internationale anschließen will, muß regelrecht und planmäßig aus allen mehr oder weniger verantwortlichen Posten der Arbeiterbewegung (Parteiorganisationen, Redaktionen, Gewerkschaften, Parlamentsfraktionen, Genossenschaften, Kommunalverwaltungen) die reformistischen und Zentrumsleute entfernen und sie durch bewährte Kommunisten ersetzen, ohne sich daran zu stoßen, daß besonders im Anfang an die Stelle von „erfahrenen“ Opportunisten einfache Arbeiter aus der Masse gelangen. Fast in allen Ländern Europas und Amerikas tritt der Klassenkampf in die Phase des Bürgerkrieges ein. Unter derartigen Verhältnissen können die Kommunisten kein Vertrauen zu der bürgerlichen Legalität haben. Sie sind verpflichtet, überall einen parallelen illegalen Organisationsapparat zu schaffen, der im entscheidenden Moment der Partei behilflich sein wird, ihre Pflicht gegenüber der Revolution zu erfüllen. In all den Ländern, wo die Kommunisten infolge des Belagerungszustandes und der Ausnahmegesetze nicht die Möglichkeit haben, ihre gesamte Arbeit legal zu führen, ist die Kombinierung der legalen mit der illegalen Tätigkeit unbedingt notwendig. Die Pflicht zur Verbreitung der Kommunistischen Ideen schließt die besondere Verpflichtung zu einer nachdrücklichen systematischen Propaganda im Heere in sich. Wo diese Agitation durch Ausnahmegesetze unterbunden wird, ist sie illegal zu führen. Der Verzicht auf eine solche Arbeit würde einem Verrat an der revolutionären Pflicht gleichen und mit der Zugehörigkeit zur III. Internationale unvereinbar sein. Es ist eine systematische und planmäßige Agitation auf dem flachen Lande notwendig. Die Arbeiterklasse vermag nicht zu siegen, wenn sie nicht die Landproletarier und wenigstens einen Teil der ärmsten Bauern hinter sich und die Neutralität eines Teiles der übrigen Dorfbevölkerung durch ihre Politik gesichert hat. Die kommunistische Arbeit auf dem flachen Lande gewinnt gegenwärtig hervorragende Bedeutung. Sie muß vornehmlich mit Hilfe der revolutio-
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nären, kommunistischen Arbeiter der Stadt und des Landes geführt werden, die mit dem flachen Lande Verbindung haben. Der Verzicht auf diese Arbeit oder deren Uebergabe in unzuverlässige, halbreformistische Hände gleicht einem Verzicht auf die proletarische Revolution. Jede Partei, die der III. Internationale anzugehören wünscht, ist verpflichtet, nicht nur den offenen Sozialpatriotismus, sondern auch die Unaufrichtigkeit und Heuchelei des Sozialpazifismus zu entlarven: den Arbeitern systematisch vor Augen zu führen, daß ohne revolutionären Sturz des Kapitalismus keinerlei internationale Schiedsgerichte, keinerlei Abkommen über Einschränkung der Kriegsrüstungen, keinerlei „demokratische“ Erneuerung des Völkerbundes imstande sein werden, neue imperialistische Kriege zu verhüten. Die Parteien, die der Kommunistischen Internationale anzugehören wünschen, sind verpflichtet, den vollen Bruch mit dem Reformismus und mit der Politik des ,,Zentrums“ anzuerkennen und diesen Bruch in den weitesten Kreisen der Parteimitglieder zu propagieren. Ohne das ist eine konsequente kommunistische Politik nicht möglich. Die Kommunistische Internationale fordert unbedingt und ultimativ die Durchführung dieses Bruches in kürzester Frist. Die Kommunistische Internationale vermag sich nicht damit abzufinden, daß notorische Opportunisten, wie sie jetzt durch Turati, Kautsky, Hilferding, Hillquit, Longuet, Macdonald, Modigliani u. a. repräsentiert werden, das Recht haben sollen, als Angehörige der III. Internationale zu gelten. Das könnte nur dazu fuhren, daß die III. Internationale in hohem Maße der zugrundegegangenen II. Internationale ähnlich werden würde. In der Frage der Kolonien und der unterdrückten Nationen ist eine besonders ausgeprägte und klare Stellung der Parteien in denjenigen Ländern notwendig, deren Bourgeoisie im Besitze von Kolonien ist und andere Nationen unterdrückt. Jede Partei, die der III. Internationale anzugehören wünscht, ist verpflichtet, die Kniffe „ihrer“ Imperialisten in den Kolonien zu entlarven, jede Freiheitsbewegung in den Kolonien nicht nur in Worten, sondern durch Taten zu unterstützen, die Verjagung ihrer einheimischen Imperialisten aus den Kolonien zu fordern, in den Herzen der Arbeiter ihres Landes ein wirklich brüderliches Verhältnis zu der arbeitenden Bevölkerung der Kolonien und zu den unterdrückten Nationen zu erziehen und in den Truppen ihres Landes eine systematische Agitation gegen jegliche Unterdrückung der kolonialen Völker zu führen. Jede Partei, die der Kommunistischen Internationale anzugehören wünscht, muß systematisch und beharrlich eine kommunistische Tätigkeit innerhalb der Gewerkschaften, der Arbeiter- und Betriebsräte, der Konsumgenossenschaften und anderer Massenorganisationen der Arbeiter entfalten. Innerhalb dieser Organisationen ist es notwendig, kommunistische Zellen zu organisieren, die durch andauernde und beharrliche Arbeit die Gewerkschaften usw. für die Sache des Kommunismus gewinnen sollen. Die Zellen sind verpflichtet, in ihrer täglichen Arbeit überall den Verrat der Sozialpatrioten und die Wankelmütig-
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keit des „Zentrums“ zu entlarven. Die Kommunistischen Zellen müssen der Gesamtpartei vollständig untergeordnet sein. Jede der Kommunistischen Internationaleꞏangehörende Partei ist verpflichtet, einen hartnäckigen Kampf gegen die Amsterdamer „Internationale“ der gelben Gewerkschaftsverbände zu führen. Sie muß unter den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern die Notwendigkeit des Bruches mit der gelben Amsterdamer Internationale nachdrückliehst propagieren. Mit allen Mitteln hat sie die entstehende internationale Vereinigung der roten Gewerkschaften, die sich der Kommunistischen Internationale anschließen, zu unterstützen. Parteien, die der III. Internationale angehören wollen, sind verpflichtet den persönlichen Bestand der Parlamentsfraktionen einer Revision zu unterwerfen, alle unzuverlässigen Elemente aus ihnen zu beseitigen, diese Fraktionen nicht nur in Worten, sondern in der Tat den Parteivorständen unterzuordnen, indem von jedem einzelnen Parlamentsmitglied gefordert wird, seine gesamte Tätigkeit den Interessen einer wirklich revolutionären Propaganda und Agitation zu unterwerfen. Die der Kommunistischen Internationale angehörenden Parteien müssen auf der Grundlage des Prinzips des demokratischen Zentralismus aufgebaut werden. In der gegenwärtigen Epoche des verschärften Bürgerkrieges wird die Kommunistische Partei nur dann imstande sein, ihrer Pflicht zu genügen, wenn sie auf möglichst zentralistische Weise organisiert ist, wenn eiserne Disziplin in ihr herrscht, und wenn ihr Parteizentrum, getragen von dem Vertrauen der Parteimitgliedschaft, mit der Fülle der Macht, Autorität und den weitgehendsten Befugnissen ausgestattet wird. Die kommunistischen Parteien derjenigen Länder, in denen die Kommunisten ihre Arbeit legal führen, müssen von Zeit zu Zeit Säuberungen (neue Registrierungen) des Bestandes ihrer Parteiorganisation vornehmen, um die Partei von den sich in sie einschleichenden kleinbürgerlichen Elementen systematisch zu säubern. Jede Partei, die der Kommunistischen Internationale anzugehören wünscht, ist verpflichtet, einer jeden Sowjetrepublik in ihrem Kampfe gegen die konterrevolutionären Kräfte rückhaltlosen Beistand zu leisten. Die kommunistischen Parteien müssen eine unzweideutige Propaganda führen zur Verhinderung des Transports von Kriegsmunition an Feinde der Sowjetrepubliken; ferner müssen sie unter den zur Erdrosselung von Arbeiterrepubliken entsandten Truppen mit allen Mitteln, legal oder illegal, Propaganda treiben usw. Parteien, die bisher noch ihre alten sozialdemokratischen Programme beibehalten haben , sind nun verpflichtet , in möglichst kurzer Zeit diese Programme zu ändern und entsprechend den besonderen Verhältnissen ihres Landes ein neues kommunistisches Programm im Sinne der Beschlüsse der Kommunistischen Internationale auszuarbeiten. In der Regel muß das Programm jeder zur Kommunistischen Internationale gehörenden Partei von dem ordentlichen Kongreß der Kommunistischen Internationale oder dem Exekutivkomitee bestätigt werden. Im Fall der Nichtbestätigung des Programms einer Partei durch das Exeku-
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tivkomitee der Kommunistischen Internationale hat die betreffende Partei das Berufungsrecht an den Kongreß der Kommunistischen Internationale. Alle Beschlüsse der Kongresse der Kommunistischen Internationale, wie auch die Beschlüsse ihres Exekutivkomitees sind für alle der Kommunistischen Internationale angehörenden Parteien bindend. Die unter den Bedingungen des schärfsten Bürgerkrieges tätige Kommunistische Internationale muß bei weitem zentralisierter aufgebaut werden, als das in der II. Internationale der Fall war. Dabei müssen selbstverständlich die Kommunistische Internationale und ihr Exekutivkomitee in ihrer gesamten Tätigkeit den verschiedenartigen Verhältnissen Rechnung tragen, unter denen die einzelnen Parteien zu kämpfen und zu arbeiten haben, und Beschlüsse von allgemeiner Gültigkeit nur in solchen fragen fassen, in denen solche Beschlüsse möglich sind. Im Zusammenhang damit müssen alle Parteien, die der Kommunistischen Internationale angehören wollen, ihre Benennung ändern. Jede Partei, die der Kommunistischen Internationale angehören will, hat den Namen zu tragen: „Kommunistische Partei“ des und des Landes (Sektion der III. Kommunistischen Internationale). Die Frage der Benennung ist nicht nur eine formelle, sondern in hohem Maße eine politische Frage von großer Wichtigkeit. Die Kommunistische Internationale hat der ganzen bürgerlichen Welt und allen gelben sozialdemokratischen Parteien den Krieg erklärt. Es ist notwendig, daß jedem einfachen Werktätigen der Unterschied zwischen den kommunistischen Parteien und den alten offiziellen „sozialdemokratischen“ und „sozialistischen“ Parteien, die das Banner der Arbeiterklasse verraten haben, klar ist. Alle führenden Preßorgane der Parteien aller Länder sind verpflichtet, alle wichtigen offiziellen Dokumente der Exekutive der Kommunistischen Internationale abzudrucken. Alle Parteien, die der Kommunistischen Internationale angehören oder einen Antrag auf Beitritt gestellt haben, sind verpflichtet, möglichst schnell, aber spätestens 4 Monate nach dem II. Kongreß der Kommunistischen Internationale einen außerordentlichen Kongreß einzuberufen, um alle diese Bedingungen zu prüfen. Dabei müssen die Zentralen dafür sorgen, daß allen Lokalorganisationen die Beschlüsse des II. Kongresses der Kommunistischen Internationale bekannt werden. Diejenigen Parteien, die jetzt in die III. Internationale eintreten wollen, aber ihre bisherige Taktik nicht radikal geändert haben, müssen vor ihrem Eintritt in die Kommunistische Internationale dafür sorgen, daß nicht weniger als zwei Drittel der Mitglieder ihrer Zentralkomitees und aller wichtigsten Zentralinstitutionen aus Genossen bestehen, die sich noch vor dem II. Kongreß der Kommunistischen Internationale unzweideutig für den Eintritt der Partei in die III. Internationale öffentlich ausgesprochen haben. Ausnahmen sind zulässig mit Zustimmung der Exekutive der III. Internationale. Die Exekutive der Kommunistischen Internationale hat das Recht, auch für die im § 7 genannten Vertreter der Zentrumsrichtung Ausnahmen zu machen.
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21. Diejenigen Parteiangehörigen, welche die von der Kommunistischen Internationale aufgestellten Bedingungen und Leitsätze grundsätzlich ablehnen, sind aus der Partei auszuschließen. Dasselbe gilt namentlich von Delegierten zum außerordentlichen Parteitage. Quelle: Leitsätze und Statuten der Kommunistischen Internationale. Beschlossen vom II. Kongress der Kommunistischen Internationale, Moskau, vom 17. Juli – 7. August 1920, [Moskau] 1920, S. 25–30. QUELLE 16 Aufruf an die Mitglieder der USPD [Aufruf der USPD-Linken vom Oktober 1920] Der Parteitag der Unabhängigen Sozialdemokratie hat mit großer Mehrheit den Anschluß der USPD an die Kommunistische Internationale beschlossen. Eine Entscheidung getragen von der großen Mehrheit der Beauftragten der Partei, ist gefallen, so gefallen, wie die aktiven revolutionären Arbeiter der Partei sie stürmisch gefordert haben. Die Partei tritt ein in die internationale Kampffront des revolutionären Proletariats der Welt, um zu kämpfen gegen den Kapitalismus in Deutschland wie in der ganzen Welt. Nach dieser Entscheidung hat eine rechts stehende Gruppe, die sich der Entscheidung nicht fügen wollte, den Parteitag verlassen, um die einheitliche Kampffront der Arbeiterschaft der USPD zu zerreißen. Dasselbe Verbrechen, das in der Zeit des Krieges von den Rechtssozialisten, von den Ebert und Konsorten, am Proletariat begangen wurde, wird heute von Hilferding, Dißmann und Crispien wiederholt. In dem Augenblick, wo die feste Geschlossenheit des klassenbewußten revolutionären Proletariats nötiger ist denn je zuvor, fällt diese Gruppe dem kämpfenden Proletariat in den Rücken und fügt sich in die Front der Parteien ein, die das Proletariat zurückhalten und im Kampfe hemmen. Die Wahl der Delegierten zum Parteitag, die Urabstimmung, die mit der Delegiertenwahl verbunden war, hat mit übergroßer Mehrheit entschieden gegen den rechten Flügel der Partei. 237 Delegierte von 395 haben sich für die III. Internationale entschieden, die Urabstimmung hat 144000 Stimmen für, 91000 Stimmen gegen die Dritte Internationale ergeben. Nach allen Regeln der Demokratie in der Arbeiterbewegung, die vom rechten Flügel der Partei immer im Munde geführt wurde, hat der Parteitag gesprochen. Trotzdem hat die Minderheit der Delegierten den Parteitag verlassen. Nun zeigt sich, was die Rechten unter der Demokratie in der Arbeiterbewegung verstehen. Sie gebrauchen schlimmere Methoden als die Rechtssozialisten, die Ebert und Konsorten. Sie wollen die große Mehrheit der Partei als außerhalb der Partei stehend erklären. Sie betrachten sich als die persönlichen Eigentümer der Partei und ihrer Einrichtungen, über die sie allein und nicht die Arbeiter der Partei zu bestimmen haben.
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Mit allen Mitteln hat diese rechte Gruppe schon vor dem Parteitag versucht, die aktiven, revolutionären Elemente aus der Partei hinauszudrängen. Sie hat bereits auf dem Parteitag in Leipzig mit der Spaltung gedroht, sie hat nach der Rückkehr der Delegation aus Moskau durch die heimtückische Vorverlegung des Parteitages eine sachliche Aufklärung und Aussprache unserer Parteigenossen verhindern wollen. Sie hat mit der überstürzten Urwahl in Verbindung mit der demagogischen Ausnützung der Parteipresse sich eine Parteitagsmehrheit zu erschleichen versucht. Sie wollte die Spaltung, weil sie gegen den Anschluß an die Dritte Internationale ist, sie wollte die Spaltung, weil sie keine aktive, revolutionäre Politik gegen die bürgerliche Herrschaft in Deutschland treiben will, sie wollte die Spaltung, weil sie wußte, daß sie nicht mehr das Vertrauen der revolutionären Arbeiter der USPD besaß. Parteigenossen, Parteigenossinnen! Die politische Situation erfordert das größte Maß von Disziplin und Geschlossenheit in der revolutionären Arbeiterschaft. In diesem Augenblick unternimmt es eine Gruppe rechtsstehender Führer, die die revolutionären Grundsätze der Partei durch die Tat nicht anerkennen will, die auf dem Parteitag in der Minderheit geblieben ist, unter Bruch der Disziplin, unter Bruch der Demokratie, innerhalb der Partei die Front der revolutionären Arbeiter zu spalten, sich der Organe der Partei unter frechem Mißbrauch des Namens der Partei zu bemächtigen. Genossen und Genossinnen! Der Parteitag wie die Urabstimmung der Mitglieder haben klar und eindeutig mit großer Mehrheit entschieden. Wir sind die Partei! Diejenigen, die jetzt die Reihen der Partei verlassen, haben weder das Recht, im Namen der Partei zu sprechen noch ihren Namen zu gebrauchen. Sie stehen außerhalb der Partei. Die Partei bewahrt ihre Geschlossenheit, gestützt auf den Mehrheitswillen des Parteitages. Sie wird den Weg einer aktiven revolutionären Kampfpolitik betreten. Der Weg zur Vereinigung des revolutionären, klassenbewußten Proletariats in Deutschland, der Weg zur Schaffung einer machtvollen deutschen Sektion der Dritten, der Kommunistischen Internationale ist frei und wird gegangen werden. Laßt euch nicht beirren und verführen von den rechten Führern, die nicht mehr zur Partei gehören! Wahrt die Geschlossenheit der Partei! Fordert überall Rechenschaft von euren Delegierten, wacht darüber, daß die Organe der Partei nicht mißbraucht werden! Laßt euch nicht aus Erbitterung über die Provokation der Rechten zu Disziplinlosigkeiten und Unbesonnenheiten hinreißen! Die Anerkennung der 21 Punkte verpflichtet zu einem Höchstmaß von Disziplin. Sie muß geübt werden, um die Partei als ein starkes und brauchbares Kampfinstrument der Arbeiterklasse zusammenzuhalten, das gegen den Todfeind des Proletariats, gegen den Kapitalismus, gebraucht werden kann. Das Gebot der Stunde ist es, die Reihen der Partei fest zusammenzuschließen, um den Kampf gegen die Herrschaft des Bürgertums und gegen das kapitalistische System mit aller Kraft und mit allen Mitteln aufnehmen zu können. Voraussetzung des Kampfes aber ist die Bewahrung der Geschlossenheit der Partei. Schließt euch zusammen! Haltet Disziplin! Es lebe der revolutionäre Klassenkampf!
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Es lebe die Kommunistische Internationale! Es lebe die Weltrevolution! Der Parteitag der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Das Büro des Parteitages: i. A. Otto Brass, Vorsitzender Das Zentralkomitee: Ernst Däumig, Adolph Hoffmann, Walter Stoecker, Wilhelm Koenen, Otto Gäbel, Bertha Braunthal, Emil Eichhorn, Gurt Geyer, Richard Müller, Martha Arendsee, Paul Schindler Der Beirat: Otto Brass, Remscheid; Hermann Reminele, Stuttgart; Alfred Oelßner, Halle; Joseph Herzfeld, Berlin; Ernst Thälmann, Hamburg; Paul Noack, Offenbach; Johann Baier; Nürnberg Die Kontrollkommission: Philipp Fries, Köln; Friedrich Geyer, Leipzig; Minna Reichert, Berlin; Hans Plettner, Hannover; Guido Heym, Suhl; Heydemann, Königsberg; Teubner, Bochum Quelle: Protokoll über die Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages in Halle. Vom 12. bis 17. Oktober 1920, Berlin o. J., S. 267–268. QUELLE 17 Manifest der Unabhängigen Sozialdemokratie an das deutsche Proletariat [Manifest der USPD-Rechten vom Oktober 1920] Die Entscheidung ist gefallen. Ein Teil der Delegierten zu dem vom Zentralkomitee der U. S. P. D. einberufenen Parteitag hat seinen Austritt aus der Partei vollzogen und ist in das kommunistische Lager übergegangen. Die revolutionäre Arbeiterbewegung ist durch diese Spaltung für den Augenblick geschwächt worden. Statt Zusammenfassung aller Kräfte im Kampf für die Eroberung der Macht und für die Verwirklichung des Sozialismus haben die Kommunisten unter dem Druck von außen die revolutionäre Massenpartei des deutschen Proletariats zerfetzt und ihre Kraft zersplittert. Die U. S. P. D. hat stets unerschütterlich und unter großen Opfern den Kampf für die Grundsätze des revolutionären internationalen Sozialismus geführt. Sie ist entstanden im Kampfe gegen die Preisgabe der sozialistischen Prinzipien durch die Reformsozialisten, und sie hat schon während des Krieges in Zimmerwald und Kienthal für eine Internationale der revolutionären Tat zur Beendigung des imperialistischen Krieges und zur Niederringung des Kapitalismus gewirkt.
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Während der Revolution setzte sich die Partei ein für die Diktatur des Proletariats bis zur endgültigen Sicherung der proletarischen Herrschaft und der Beseitigung aller politischen und ökonomischen Machtpositionen der Bourgeoisie. Die Politik der U. S. P. D. wurde vereitelt durch die Rechtssozialisten. Sie hielten an der Koalition mit dem Bürgertum fest, politisch, indem sie ihnen die Ministerien überließen, die sofortige Einberufung der Nationalversammlung forderten und der Ablösung der proletarischen Diktatur durch den bürgerlichen Parlamentarismus die Wege ebneten; ökonomisch, indem sie an Stelle der sofortigen Verwirklichung des Sozialismus in den entscheidensten Wirtschaftszweigen die Politik der Arbeitsgemeinschaft mit dem kapitalistischen Unternehmertum fortsetzten. Auf der anderen Seite haben die Kommunisten in dieser Entwicklungszeit die gemeinsamen Aktionen des revolutionären Proletariats aus Eigensüchtelei durch die sklavische Nachahmung russischer Methoden durchkreuzt und geschwächt. Die U. S. P. D. hat solchen sinnlosen Putschereien, hat konfusen syndikalistischen und antiparlamentarischen Parolen stets ihre Politik der Sammlung aller Energien der Arbeiterklasse zum Kampf für die Eroberung der politischen Macht entgegengestellt. Erfüllt von dem Bewußtsein, daß die Krise des Kapitalismus von der Arbeiterklasse zum revolutionären Vorstoß ausgenutzt werden muß, aber auch im Besitz der marxistischen Einsicht in die ökonomischen Bedingungen des Kampfes, vertrat sie in jeder Phase der revolutionären Entwicklung das Gesamtinteresse der Bewegung gegenüber der rechtssozialistischen Kompromißpolitik wie gegenüber der kommunistischen Revolutionsmache. In diesem Kampfe wurde die U. S. P. zur revolutionären Massenpartei und die Hoffnung war begründet, unter ihrer Fahne das gesamte Proletariat zu sammeln, zu einigen, und es so bereit zu machen für den Entscheidungskampf gegen den Kapitalismus. In diesem Augenblick wurde die Partei überfallen. Die russischen Kommunisten fordern zu ihrer Unterstützung die sofortige Entfachung des Bürgerkrieges und der Revolution in allen Ländern, ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der ökonomischen und politischen Voraussetzungen für das Proletariat und ohne Rücksicht auf die Folgen. Die deutschen Kommunisten sind infolge ihrer Politik eine einflußlose Sekte geblieben, zu schwach, um als revolutionärer Stoßtrupp gebraucht zu werden. Deshalb sollten die Massen der U. S. P. D. unter die kommunistische Diktatur kommen. Damit aber diese Diktatur widerstandslos ausgeübt werden könne, mußte die U. S. P. gespalten werden. Alle, die den kommunistischen Wahn erkannt hatten, die russischen Methoden auf Deutschland uneingeschränkt zu übertragen, mußten ferngehalten werden. Daher die Bedingungen und Thesen der Moskauer Internationale, die die Spaltung der Arbeiterparteien fordert, um über den verbleibenden Rest uneingeschränkt herrschen zu können. Die U. S. P. D. hätte mit der Annahme der 21 Bedingungen nicht nur ihr Wesen geopfert, sondern auch die Zukunft der revolutionären Arbeiterbewegung in Deutschland. Diese wäre rettungslos ausgeliefert worden den Bedürfnissen der russischen kommunistischen Partei. Die deutsche Arbeiterbewegung wäre das Objekt einer Hasardpolitik geworden, auf die sie keinen selbständigen Einfluß mehr gehabt hätte.
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Das durfte nicht geschehen und das wird nicht geschehen. Die U.S P.D. bleibt bestehen als die deutsche revolutionäre, sozialistische Partei! Sie muß bestehen bleiben, weil nur sie imstande ist, die Aufgaben zu lösen, die die revolutionäre Situation der Arbeiterklasse stellt. Wir halten fest an unserem Leipziger Aktionsprogramm. Wir erstreben mit allen Mitteln die Eroberung der politischen Macht und ihre Behauptung durch die Diktatur des Proletariats. Wir führen den Kampf weiter gegen die rechtssozialistische Politik des Reformismus, der Koalition mit den bürgerlichen Parteien und den Arbeitsgemeinschaften mit dem Unternehmertum. Wir lehnen es aber ab, die Arbeiterschaft mit täglich wechselnden Parolen in neue Putsche hineinzuhetzen und durch Täuschung über die wirklichen Machtverhältnisse unerfüllbare Illusionen zu wecken. Das Proletariat führt in Deutschland einen harten und schweren Kampf gegen einen gutgerüsteten, gutorganisierten, starken Gegner, der ihm einig und geschlossen entgegentritt. In diesem Kampf kann die deutsche Arbeiterklasse nur den Sieg in einem zähen Ringen erobern, wenn sie selbst einig ist. Geeint kann das Proletariat nicht werden durch Einigungszentralen, voreilige Schaffung politischer Arbeiterräte und andere Organisationsspielereien oder durch ausgeklügelte Parolen. Einig kann das Proletariat nur werden im revolutionären Kampf um Ziele, die aus seiner Klassenlage, aus seinem Klassenbewußtsein sich mit Notwendigkeit ergeben. Deshalb muß das Proletariat in den Kampf um konkrete Ziele, die ihm reale Machterweiterung bringen, geführt werden. Nur in diesen Kämpfen, die mit zunehmender Energie, zunehmender Geschlossenheit und Einigkeit geführt werden müssen, werden die Massen zum Entscheidungskampf um die Eroberung der politischen Macht gesammelt werden. Im Vordergrund dieser Kämpfe muß aber immer die Verwirklichung des Sozialismus stehen. Deshalb fordern wir in der gegenwärtigen Situation die proletarische Massenaktion zur sofortigen Inangriffnahme der Sozia1isierung in den entscheidenden Wirtschaftszweigen, insbesondere den Kampf um die sofortige Sozialisierung im Bergbau. Wir fordern angesichts der schweren ökonomischen Krise die Arbeiter und Angestellten auf zum Kampf um die Erweiterung der Rechte der Betriebsräte zur Erringung der Produktionskontrolle. Die wichtigste Aufgabe ist gegenwärtig der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Da die Arbeitslosigkeit die untrennbare Begleiterscheinung des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist, so ist die Verwirklichung des Sozialismus die wirksamste Hilfe für die Arbeitslosen. Wir fordern das Verbot der Stillegung der Betriebe, ihre Fortführung zur Herstellung von Bedarfsgegenständen des Massenkonsums. Wir fordern zur Linderung der augenblicklichen Not ausreichende Arbeitsgelegenheit für die Arbeitslosen und durchgreifende Erhöhung der Unterstützung bis zur Garantie des Existenzminimums, das unter Mitwirkung der Gewerkschaften und Betriebsräte festzusetzen ist. Unsere Vertreter in den Gemeinden müssen eine energische Kommunalisierungspolitik betreiben, insbesondere eine sozialistische Wohnungs-
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politik, unterstützt durch eine Sozialisierung des Baugewerbes und der Bauhilfsindustrien und der Forsten. Wir fordern die sofortige rücksichtslose Erhebung der Besitz- und Vermögenssteuern, die Durchbrechung der bürgerlichen Finanzpolitik durch die sofortige Sozialisierung der entscheidenden Produktionszweige. Wir fordern ausreichende soziale Fürsorge, Insbesondere für die Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen, Arbeitsinvaliden und Altersrentner. Die Partei ist sich bewußt, daß die Erfüllung aller dieser Forderungen des Proletariats eine Machtfrage ist, die nicht durch parlamentarische Entscheidungen gelöst werden kann. Die gesamte politische und ökonomische Macht der Arbeiterklasse muß in diesen Kämpfen zur Anwendung gelangen. Deshalb müssen auch die ökonomischen Organisationen der Hand- und Kopfarbeiter mit revolutionärem Geist erfüllt werden. Deshalb verpflichtet die Partei ihre Vertreter in den Gewerkschaften und Betriebsräten, unablässig die Politik der Arbeitsgemeinschaften zu bekämpfen. Sie lehnt alle paritätischen Selbstverwaltungskörper ab und erblickt in einer von diesen getragenen „Planwirtschaft“ auf kapitalistischer Grundlage eine schädliche Illusion, die die Arbeiterklasse von dem Kampf um den Sozialismus ablenkt. Gewerkschaften und Betriebsräte müssen sich vor allem als Organisation zur Verwirklichung des Sozialismus betrachten. Die Gewerkschaften werden diese Aufgabe umso besser erfüllen, je mehr sie sich auch organisatorisch für die Kämpfe stärken. Deshalb unterstützen wir die Umwandlung der Gewerkschaften in Industrieorganisationen und lehnen jede Zersplitterung und Spaltung der Gewerkschaften auf nationaler oder internationaler Basis mit aller Entschiedenheit ab. Getreu ihrer bisherigen Haltung ruft die U.S.P.D. alle Arbeiter auf, sich im Kampf um sie zu scharen! Die Entwicklung seit dem 9. November hat den Bankrott des Reformsozialismus besiegelt Seine Politik hat der Bourgeoisie zur Herrschaft geholfen, das Proletariat gelähmt. Die kommunistische Partei aber hat ebenfalls die Politik des wissenschaftlichen Sozialismus aufgegeben und verfällt immer mehr dem Abenteurertum durch putschistische Aktionen von Minderheiten, die Revolution erzwingen zu wollen. Diese Politik führt nur zur neuen Zersplitterung und zu gefährlichen Niederlagen. Die U. S. P. D. ruft die Arbeiterklasse auf gegen den Opportunismus rechts und den Putschimismus links zur Führung einer energischen Politik, die den Kampf um konkrete Ziele der Arbeiterklasse steigert bis zur Entscheidung um den Besitz der politischen Macht. Es lebe die Unabhängige Sozialdemokratie Deutschlands! Es lebe der internationale revolutionäre Sozialismus! Quelle: Prager, Eugen: Geschichte der USPD. Entstehung und Entwicklung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Berlin 1921, S. 226–229.
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QUELLE 18 Manifest des Parteitages der USPD vom 8. bis 12. Januar 1922 in Leipzig an das deutsche Proletariat An das Proletariat! I Je höher der Stand der kapitalistischen Entwicklung, desto mehr nimmt der Kampf der kapitalistischen Klasse gegen das Proletariat national und international an Energie und Gewalttätigkeit zu. Die Unterdrückung der Völker, die Ausbeutung der Besitzlosen für die privaten Profitinteressen bis zur ungeheuerlichen Bereicherung einer verhältnismäßig winzigen Zahl mächtiger Kapitalmagnaten steht im schroffsten Gegensatz zu den Lebensinteressen der ungeheuren Mehrheit der Menschen. Die imperialistische Phase des Kapitalismus sucht die Menschheit mit fortgesetzten Konflikten, Krisen und Katastrophen aller Art heim. Massenausbeutung, Spekulation, Wucher, Massenplünderung, Unterernährung, Hunger, Volksseuchen und Massenmord vernichten Millionen von Menschen und Milliarden an Kulturwerten. Der Krieg des Imperialismus trennte die weltwirtschaftlich auf das innigste miteinander verbundenen und aufeinander angewiesenen Völker, erschütterte schwer das kapitalistische Wirtschaftssystem, löste tiefgehende politische und ökonomische Krisen aus und revolutionierte die Völker. Wirtschaftlich hat der Krieg nach einer kurzen Wiederaufbauperiode die Weltkrise hinterlassen. Die Produktions- und Konsumtionskraft der am Krieg beteiligten europäischen Staaten wurde aufs äußerste herabgedrückt: Osteuropa ist fast vollständig, Mitteleuropa zum großen Teil als Konsument auf dem Weltmarkt ausgeschaltet. Die durch den Krieg verursachte Verschiebung der Handelswege, die Zerrüttung der internationalen Währungsverhältnisse mit ihren außerordentlichen Valutaschwankungen steigerten die Störungen in den internationalen Handelsbeziehungen. Durch die Gewaltpolitik nach dem Kriege haben die siegreichen Imperialisten die Weltkrise noch verschärft. Die Bedingungen des Versailler Friedens und das Londoner Ultimatum wirken verhängnisvoll auf alle beteiligten Staaten. Deutschland wird zur Schleuderkonkurrenz auf dem Weltmarkte gezwungen, unter gleichzeitigen finanziellen und wirtschaftlichen Belastungen von unerträglicher Schwere. Das bedeutet Verelendung der Wirtschaft in Deutschland, insbesondere für die deutsche Arbeiterklasse: Hungerlöhne und die Niederhaltung ihrer Lebenslage. Gewaltfrieden und Ultimatum brachten aber auch den siegreichen Staaten schwere Krisen, Arbeitslosigkeit, Betriebseinstellungen, Produktionsstockungen, Überfluß an Handelstonnage, Anhäufung unverkäuflicher, in den besiegten Staaten fehlender Rohstoffe. Die Folgen dieser Zerstörungen in der Weltwirtschaft lasten in erster Linie auf dem internationalen Proletariat, das, durch sie geschwächt, dem Kapitalismus nicht den erforderlichen starken Widerstand entgegenzusetzen ver-
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mag. Krieg, Wirtschaftskrise und Friedensvertrag haben die Proletarier aller Länder zu Besiegten des Imperialismus gemacht. II In Deutschland rüttelten Weltkrieg und Zusammenbruch das arbeitende Volk zur revolutionären Tat auf. Es ergriff die politische Macht. Statt aber alle proletarischen Kräfte zusammenzufassen zu einem konsequenten Kampfe um den Sozialismus, haben die Rechtssozialisten Koalitionspolitik mit dem Bürgertum getrieben und dadurch die Kluft in der Arbeiterschaft verbreitert. Das mangelnde Selbstvertrauen und der fehlende revolutionäre Wille im rechtssozialistischen Lager, das Paktieren mit dem Bürgertum, die dadurch verursachte Wiederaufrichtung eines reaktionären Militarismus und das Abwürgen revolutionärer Errungenschaften stärkten das Selbstbewußtsein der Bourgeoisie, trieben schwankende Elemente des Kleinbürgertums zurück in die Arme des Kapitalismus, lähmten den proletarischen Klassenkampf, verschärften die Zersplitterung der Arbeiterklasse und führten zu dem Erstarken der Konterrevolution. Ähnlich verhängnisvolle Wirkungen wurden ausgelöst durch die von der Moskauer Kommunistischen Internationale ausgehende Politik der Spaltung der politischen und gewerkschaftlichen Kampforganisationen des Proletariats und die von der gleichen Stelle genährte planlose Putschtaktik, die der deutschen Arbeiterklasse schwere Wunden schlug. Die verderblichen Folgen der Schwächung des Proletariats und der Wiedererstarkung der Bourgeoisie treten immer deutlicher hervor. Das im Kriege begonnene System der Deckung der Staatsausgaben durch Anleihen und Notendruck wurde auch von allen Koalitionsregierungen der Nachkriegszeit fortgesetzt. Die Schonung des Besitzes hat diesem die Mittel in die Hand gegeben, die Entwertung der Mark durch eine beispiellose Valutaspekulation ins unerträgliche zu steigern und ungeheure Konjunktur- und Auslandsgewinne einzuheimsen. Zugleich vollzieht sich der kapitalistische Zusammenschluß in Riesenkonzernen und damit eine weitere Erstarkung der wirtschaftlichen und politischen Macht der Kapitalistenklasse. Während die kapitalistischen Kreise rücksichtslos ihre Profitinteressen durchsetzen, führt die allgemeine Krise eine zunehmende Verelendung der Arbeiter, Angestellten, Beamten, Kleingewerbetreibenden, Kleinrentner, Sozial- und Kriegsrentner herbei. Ohnmacht und Rücksicht auf die kapitalistischen Interessen lassen die Regierung zurückschrecken vor dem Zugriff auf den Besitz, um den Staatshaushalt ins Gleichgewicht zu bringen und Mittel für die erzwungenen Reparationsverpflichtungen zu gewinnen. Diese Haltung der Regierung stärkt Selbstbewußtsein und Rücksichtslosigkeit der Industriellen, die ihren krassesten Ausdruck fanden in den unverschämten Forderungen des Reichsverbands der Deutschen Industrie nach Entstaatlichung der Reichsbetriebe, Forderungen, die die beabsichtigten Attentate auf die Grundrechte der Arbeiterschaft und gleichzeitig die Diktatur des Kapitalismus offen enthüllten. All diesen Erfahrungen zum Trotz haben die Rechtssozialisten in Görlitz ihre Bereitwilligkeit bekundet, durch Aufnahme der Deutschen Volkspartei die Basis ihrer Koalitionspolitik nach rechts zu erweitern.
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III Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei, die sich erneut zu den Grundsätzen der in Leipzig und Halle gefaßten Beschlüsse bekennt, gewinnt aus den Ereignissen des letzten Jahres erneut die Überzeugung, daß auf diesem Wege die proletarischen Massen zusammenzuführen sind und der Sieg der Arbeiterklasse zu verwirklichen ist. In der kapitalistischen Gesellschaft steht das klassenbewußte Proletariat im unüberbrückbaren Gegensatz zu der Kapitalistenklasse im Produktionsprozeß, im Staat zu den bürgerlichen Parteien. Gegenüber dem System des Kapitalismus, das in seiner Konsequenz zu immer schärferer Ausbeutung, zu verstärkten Angriffen auf alle sozialpolitischen Errungenschaften, zur unerträglichen Belastung aller nichtbesitzenden Schichten führt, muß deshalb die schärfste Kampfesstellung eingenommen werden. Indem die Unabhängige Sozialdemokratische Partei ihre klare Klassenkampfpolitik fortsetzt, frei von jedweder Regierungskoalition mit bürgerlichen Parteien, ermöglicht sie den baldigen Zusammenschluß aller Arbeiterparteien für den siegreichen Endkampf des Proletariats. Denn die soziale Revolution kann nur zum Sieg geführt, der Sozialismus nur verwirklicht werden von einem Proletariat, das erfüllt ist mit sozialistischem Klassenbewußtsein und zusammengefaßt ist zu einer unabhängigen Führung des Klassenkampfes. Der Klassenkampf muß geführt werden um alle aus der jeweiligen Situation sich ergebenden Forderungen und Reformen. Ihre Durchsetzung bedeutet ständige Machterweiterung und Erhaltung der Kampfkraft, die das Proletariat befähigt zur Eroberung der politischen Macht und zur Durchführung des Sozialismus. Im Gegensatz zu den Sozialreformisten, denen die Reformen immer mehr Selbstzweck werden, sieht die Unabhängige Sozialdemokratische Partei den Wert der Reformen darin, die Arbeiterklasse in ihrem Kampf für die soziale Umwälzung zu stärken. Von den Putschisten trennt uns dabei die Erkenntnis, daß die Kampfmittel den jeweiligen Machtverhältnissen der Klassen angepaßt sein müssen. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei begeht weder den Fehler, das sozialistische Ziel um augenblicklicher Reformen willen aus dem Auge zu verlieren, noch vernachlässigt sie den Kampf des Tages in dem Irrtum, ohne diesen das Ziel sofort erreichen zu können. In Deutschland ist bei der Stärke des Proletariats die Erringung und Behauptung der Macht durch die Arbeiterschaft die oberste Aufgabe. Dazu bedarf es vor allem der Zusammenfassung und Einigung aller proletarischen Kräfte. Diese Zusammenfassung und Einigung wird erwachsen aus dem Ringen des Proletariats um seine Lebensinteressen. Politische Notwendigkeiten, die weitere Entwicklung der sozialen Revolution haben die proletarischen Massen schon wiederholt zu gemeinsamen Aktionen gezwungen und werden es in Zukunft in immer erhöhtem Maße tun. Die Arbeiterparteien haben dabei die Pflicht, jeweils das Maximum an Einheit des Proletariats herbeizuführen. Dazu ist notwendig, daß eine Verständigung gesucht wird über die dem Gesamtinteresse des Proletariats dienenden Forderungen und über Art, Umfang und Ziel der gemeinsamen Aktion. Diese Verständigung zu gemeinsa-
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men Kämpfen kann verschiedene Formen annehmen: Aufstellung gemeinsamer Forderungen und, wenn notwendig, ihre gemeinschaftliche Vertretung in den Parlamenten des Reichs, der Länder und der Gemeinden, gemeinsame Kundgebungen, Demonstrationen und andere Aktionen. Aus diesen gemeinsamen Kämpfen wird sich der Weg ergeben, der schließlich zur Vereinigung führt auf dem Boden des Kampfes für die Verwirklichung des Sozialismus. IV Von vorstehenden Grundsätzen ausgehend, stellt die Unabhängige Sozialdemokratische Partei die nachfolgenden wirtschafts- und sozialpolitischen Kampfziele in den Vordergrund: 1. 2. 3. 4. 5.
Fortführung der sozialen Gesetzgebung. Bekämpfung jeder Verlängerung der Arbeitszeit. Ablehnung jeder Beschränkung der Koalitionsfreiheit und des Streikrechts. Erweiterung der Rechte der Betriebsräte. Verwirklichung des Grundsatzes, daß der Staat die Pflicht zur Erhaltung bedürftiger, arbeitsunfähiger oder arbeitsloser Mitglieder der Gesellschaft hat. 6. Schaffung eines einheitlichen Arbeitsrechtes. Eine den Klassenforderungen des Proletariats entsprechende Führung der Reichsgeschäfte setzt eine Finanz- und Steuerpolitik voraus, die an Stelle der weiteren einseitigen Belastung der Lohn- und Gehaltsempfänger endlich Ernst macht mit der wirksamen Heranziehung des Besitzes zu den Staatslasten. Die von der Regierung vorgelegten Steuerentwürfe erreichen das Ziel der Ordnung der Reichsfinanzen nicht und widersprechen den Interessen der Arbeiterklasse. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei lehnt jede weitere Belastung der arbeitenden Massen ab und bekämpft auf das entschiedenste neue indirekte und Verbrauchssteuern. Dagegen fordern wir die Heranziehung des Besitzes mit solchen Methoden, die eine rasche Einziehung gewährleisten, die Steuerhinterziehung verhindern und die Besteuerung nach der wirklichen Leistungsfähigkeit garantieren. Leistungsfähig aber sind die Besitzer der Produktionsmittel, für die die Geldentwertung eine Quelle der Bereicherung geworden ist. Als Grundlage der Finanzreform verlangen wir deshalb die Erfassung der Sachwerte. Wir fordern weiter: Unverzügliche Einziehung aller rückständigen Einkommen- und Vermögenssteuern der besitzenden Klasse für die Jahre 1919, 1920 und 1921. Erhebung der letzten zwei Drittel des Reichsnotopfers. Schärfste Besteuerung der Spekulationsgewinne, insbesondere der Gratisaktien und Bezugsrechte.
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Erhöhung der Ausfuhrabgaben zur Erfassung der Valutagewinne, verschärfte Erfassung der Auslandsdevisen durch wirksame Kontrolle der Ausfuhrhandelsstellen. Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei erhebt von neuem mit allem Nachdruck die Forderung nach Sozialisierung der Schlüsselindustrien, insbesondere des Kohlenbergbaues. Mit fortschreitender Sozialisierung werden auch die Schranken jeder im Kapitalismus möglichen Steuerpolitik überwunden und eine sozialistische Steuerpolitik ermöglicht, die die Beseitigung der großen Vermögen und der großen Einkommen zum Endziel hat. Diese von uns erneut erhobenen Forderungen stehen im Einklang mit den im November 1921 vom Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund und der Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände aufgestellten 10 Forderungen. Der Parteitag betont mit allem Nachdruck, daß diese Forderungen zur Grundlage des gemeinsamen proletarischen Kampfes sämtlicher gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der deutschen Arbeiterklasse gemacht werden müssen. Dieser Kampf muß zum verheißungsvollen Ausgangspunkt der einheitlichen Kampfesfront werden, die sich im gemeinsamen Ringen bildet und zur dauernden Einigung des Proletariats führt. V Diese Einigung mit allen Kräften anzustreben und durchzuführen ist eine der bedeutsamsten historischen Aufgaben der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die in den schwersten Zeiten des Weltkrieges das internationale Banner hochgehalten hat. Diese Zusammenfassung der Kräfte ist nicht nur für Deutschland zu erstreben. Der Endsieg des Sozialismus kann nur international errungen werden. Dazu bedarf es der Überwindung der Zersplitterung innerhalb der internationalen Arbeiterschaft, der Zusammenführung aller proletarisch-sozialistischen Kräfte der Welt auf dem Boden revolutionären Kampfes, Aufgaben, die die Internationale Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien zu den ihrigen gemacht hat. Der Parteitag der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands heißt daher die im Februar 1921 auf der Gründungskonferenz der Internationalen Arbeitsgemeinschaft in Wien gefaßten Beschlüsse gut und beschließt: Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands bestätigt den Anschluß an die Internationale Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien und verpflichtet sich, für die gefaßten Beschlüsse mit aller Kraft einzutreten. Proletarier Deutschlands, Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Zentralkomitee: Brühl, Crispien, Dittmann, Künstler, Ledebour, Ludwig, Moses, Nemitz, Rosenfeld, Schneider, Wurm, Zietz Beirat: Dißmann, Donalies, Henke, Knauf, Kürbs, Lipinski, Simon
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Kontrollkommission: Agnes, Bock, Fuchs, Güth, Karsten, Schwarz, Wengels Quelle: USPD. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages in Leipzig vom 8. bis 12. Januar 1922, Leipzig o. J., S. 5–7.
Michael Dreyer / Andreas Braune (Hg.)
Weimar als Herausforderung Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert
Weimarer Schriften zur republik – band 1 die herauSgeber Michael Dreyer ist Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der FriedrichSchillerUniversität Jena, Vorstandsvorsitzender des Weimarer Republik e.V. und Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik. Andreas Braune ist Politikwis senschaftler und stellvertreten der Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der FriedrichSchillerUniversität Jena.
Die deutsche Demokratie steht im 21. Jahrhundert vor neuen und vielfältigen Herausforderungen: Sinkende Wahlbeteiligung und steigende Politikverdrossenheit, neue Parteien und Protest bewegungen (zum Teil mit sehr alten Ideen), Terror in der Welt und die Rückkehr des Krieges nach Europa, soziale Ungleich gewichte in Europa und in Deutschland – die Liste ließe sich verlängern. Soll ausgerechnet die Weimarer Republik, die „überforderte Republik“ (Ursula Büttner), Antworten auf diese Fragen parat haben? Mit dem näher rückenden Zentenarium der ersten deut schen Demokratie untersuchen die Autorinnen und Autoren, welche Herausforderungen „Weimar“ heute an Wissenschaft und museale Vermittlung, an politische Bildung und politische Praxis stellt – und wie „Weimar“ helfen kann, unsere Demokratie heute zu beleben. mit beiträgen von Heiko Maas, Alexander Gallus, Andreas Braune, Marcus Llanque, Tim B. Müller, Ursula Büttner, Detlef Lehnert, Christoph Gusy, Franz Josef Düwell, Walter Mühlhausen, Torsten Oppelland, Martin Sabrow, Arnulf Scriba, Alf Rößner, Thomas Schleper, Stephan Zänker, Christian Faludi, Moritz Kilger, Michael Dreyer
2016 XVI, 310 Seiten mit 11 s/w-Fotos, 10 s/w-Abbildungen und 3 Tabellen 978-3-515-11591-9 kart. 978-3-515-11592-6 e-book
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Andreas Braune / Michael Dreyer (Hg.)
Republikanischer Alltag Die Weimarer Demokratie und die Suche nach Normalität
Weimarer schriften zur republik - band 2 die herausgeber Andreas Braune ist Politikwissenschaftler und stellvertretender Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Michael Dreyer ist Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Vorstandsvorsitzender des Weimarer Republik e.V. und Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik.
2017 XVIII, 353 Seiten mit s/w-4 Fotos, 4 s/w-Abbildungen und 3 Tabellen 978-3-515-11952-8 kart. 978-3-515-11954-2 e-book
Die Jahre von 1918/19 bis 1933 sind eine turbulente Zeit in der deutschen Geschichte. Zwischen Putschversuchen und Wirtschaftskrisen, Straßenkämpfen und einem „Staatsstreich auf Raten“ kannte die Weimarer Republik nur eine kurze Phase der Stabilität. Für die Zeitgenossen war sie aber das politische System, das das Kaiserreich abgelöst hatte und nun das politische und gesellschaftliche Leben der Bürgerinnen und Bürger prägte – und zwar vermeintlich auf Dauer. Überall deuteten sich ein neues republikanisches Selbstverständnis, neue demokratische Spielregeln und Handlungsformen an. Die Republik wurde mehr und mehr zur Normalität. Einen selbstverständlichen und unangefochtenen republikanischen Alltag gab es in der Weimarer Republik jedoch nicht. „Weimar“ war eine Transformationsgesellschaft, die nach dem Alltag der Republik suchte und um ihn rang. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes bieten mit den hier vereinten aktuellen Forschungen ein Kaleidoskop der Normalitäten, mit allen Anfeindungen und Erfolgen, die die Weimarer Republik kennzeichneten. mit beiträgen von Marcel Böhles, Andreas Braune & Michael Dreyer, Albert Dikovich, Sebastian Elsbach, Christian Faludi, Reiner Fenske, Anne Gnausch, Oded Heilbronner, Dominik Herzner, Florian Heßdörfer, Friederike Höhn, Volker Köhler, Paul Köppen, Daniel Münzner, Ronny Noak, Martin Platt, Sebastian Schäfer, Antonia Schilling, Rebecca Schröder, Thomas Schubert, Alexander Wierzock, Verena Wirtz
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Die Spaltung der Arbeiterbewegung zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie prägte die verhängnisvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts in Deutschland entscheidend mit. In Vergessenheit gerät dabei oft, dass sich zu Beginn nicht KPD und SPD gegenüberstanden. Vielmehr hatte sich im April 1917 die USPD in Opposition zur Burgfriedenspolitik der SPD gegründet. Sie war an den Protesten und Massenstreiks gegen den Krieg beteiligt und trat in der Revolution 1918/19 für einen radikaleren Schnitt mit der alten Ordnung ein. Zwischen einer an Stabilität orientierten SPD und dem zur Weltbewegung strebendem Kommunismus war für die USPD als radikalem Flügel der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung jedoch bald kein Platz mehr. Die kurze Phase der USPD als Massenpartei von 1917 bis 1922 veranschaulicht, dass es in den Vorstellungen der Zeitgenossen viele Wege zu Frieden, Demokratie und Sozialismus gab – in jedem Fall mehr als zwei. Der Blick auf die USPD lädt dazu ein, den offenen Zukunftshorizont der Akteure des demokratischen Aufbruchs seit 1918 ernster zu nehmen.
ISBN 978-3-515-12142-2
9
7835 1 5 1 2 1 422
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag