Handbuch für den Religionsunterricht in den oberen Klassen: Teil 3 Glaubens- und Sittenlehre [Reprint 2021 ed.] 9783112394960, 9783112394953


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Handbuch für den Religionsunterricht in den oberen Klassen: Teil 3 Glaubens- und Sittenlehre [Reprint 2021 ed.]
 9783112394960, 9783112394953

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Kcrnööuch für den

Religionsunterricht in den oberen Klaffen. Dritter Teil:

Glaubens- und Sittenlehre. Zweite, nach dem neuen Lehrplan umgearbeitete und erweiterte Auflage der „Glaubenslehre." von

Professor A. Heidrich. Direktor des Königlichen Gymnasiums zu Rakel.

Berlin \900. 3- 3. Heines Verlag.

Vorwort M ersten Auflage. Den letzten Band meines „Handbuchs für den Religionsunterricht", welcher die Glaubenslehre enthält, übergebe ich der Öffentlichkeit mit

besonderem Dank gegen Gott, der es mir hat gelingen laffen, trotz der Arbeiten eines neuen Amtes, diesen Band so schnell, wie ich wünschte, auf den zweiten folgen zu laffen. Möge Gott mir auch nun für diesen schwierigsten Band meines Werkes so wohlwollende Leser schenken, wie die beiden ersten Bände sie gefunden haben; möge die Erwartung der­ jenigen nicht ganz getäuscht werden, welche schon vor dem Erscheinen dieses Bandes nach demselben freundlich gefragt und verlangt habm! Hoffentlich kann ich nun auch recht bald das in Aussicht gestellte Hülfsbuch für den Schüler dem vollendeten Handbuche für den Lehrer nachfolgen lassen. Auch dieser Band ist natürlich kein „Kompendium der Dogmatik", sondern ein „Handbuch für den Religionsunterricht". Auch hier beruht zwar das, was ich biete, natürlich auf dem Studium wissenschaftlicher Werke; aber die Form, in der es geboten wird, verdanke ich auch hier dem ost wiederholten Unterricht; ich hätte diesen Band natürlich nicht so schnell auf den zweiten folgen lassen können, wenn er nicht, schon seit längerer Zeit in den Grundzügen fertig und immer wieder bei neuer Darstellllng der Sache aufs neue durchgearbeitet, nur noch der abschließenden Arbeit zu seiner Herausgabe bedurft hätte. Mer nicht in der zu suchenden Form des Gebotenen liegt in diesem Bande die Hauptschwierigkeit, sondern im Inhalt. Der christ­ liche Glaube war hier darzustellen; aber welchem Theologen soll der Religionslehrer folgen, und nach welchem Buche soll er sich richten? Wer auch nur eine Ahnung davon hat, wie groß noch heute der Gegensatz unter den Theologen ist, und wie feindselig eine Richtung der Theologie die andere bekämpft, der wird begreifen, daß es mir nicht leicht ge­ worden ist, den Mut zu finden, mit einem Handbuche für den Unterricht im christlichen Glauben hervorzutreten. Ich habe es dennoch gewagt,

IV und zwar in der Hoffnung, gerade hiermit manchem Amtsgenoffen einen Dienst erweisen zu können, und in dem Bewußtsein, daß ich mich nach Kräften bemüht habe, der schwierigen Aufgabe gerecht zn werden. Am leichtesten ist natürlich diese Aufgabe für denjenigen zu lösen, welcher einfach das altkirchliche „System" in einem „Kompendium" reproduciert. Aber selbst das ist heute nicht so einfach, da selbst die streng­ gläubigen Theologen im einzelnen oft recht weit auseinandergehen. Ein solches Kompendium ist aber für die Schule nicht zu brauchen; hier gilt es, andere Wege einzuschlagen, und dadurch wird allerdings die Schwierig­ keit der Sache etwas verringert. Ich bin natürlich nicht im stände, ein „Handbuch der Dogmatik" zu schreiben, welches den Streit der Theologen schlichtet; aber das ist auch nicht die Aufgabe des Religionslehrers; der­ selbe soll „den von den Vätern ererbten, in den Bekenntnisschriften nieder­ gelegten Heilsglauben in Herz und Geist der Jugend pflanzen," wie cs das Programm der Religionszeitschrift vom Religionslehrer mit Recht fordert. Und diese Aufgabe ist ja für den Religionslehrer in der Schule und auch für den Pastor in der Kirche leichter zu lösen, als für den Professor an der Universität, der seine Zuhörer natürlich ebenfalls zum Glauben der evangelischen Kirche führen sott. „Milch und nicht starke Speise" hat der Religionslehrer auch den oberen Klassen darzubieten; dadurch fällt manche Frage weg, welche besondere Schwierigkeiten darbietet. Ja, selbst wenn der Schüler nach manchem fragt, was der Lehrer absichtlich bei Seite läßt, so wird von dem Schüler der oberen Klaffen schon gefordert werden dürfen, daß er selber einsehe, daß es uns nicht beschieden ist, alle Fragen in befriedigender Weise zu be­ antworten. Und „Suchende" hat der Lehrer in der Schule vor sich; solche sind aber leichter zu befriedigen, als ein System begehrende Theologen und auf Einzelftagen mehr des Wissens, als des Glaubens, versessene Erwachsene. Wie dankbar ist ein von Zweifeln geplagter Schüler der oberen Klassen, wenn er auch nur etwas Licht durch den Lehrer gewinnt. Hier gilt es aber auch für den Lehrer, den glimmenden Docht nicht auszulöschen, und ja nicht den zn verdammen, der nicht alles glauben will! Heißt es doch im A. T., daß Gott nicht den Zweifler Hiob, sondern seine eigenen Verteidiger gescholten habe, und hat nicht Jesus mit seinen Jüngern, ja sogar mit einem Judas, große Geduld gehabt?*) Für solche Suchende habe auch ich geschrieben, und zwar im Geiste des Glaubens; ich würde mich fteuen, wenn mein Buch als ein brauch­ bares Hülfsmittel für den Unterricht von allen denen anerkannt würde, welche mit mir im Sinne der bibclgläubigen Theologie unserer Zeit in den Reformatoren ihre Führer zu Christus erkennen, auch wenn sie nicht mehr auf den Buchstaben der alten Dogmatik sich verpflichten lassen. Aber, nicht zu der Menschen Füßen, nicht einmal der Reformatoren, l) Ein Beispiel solcher echt christlichen Geduld mit dem Zweifel enthält auch Roseggers köstlicher „Waldschulmeister" (vergl. die Scene am Sterbebette einer

Zweiflerin!).

V sollen Lehrer und Schüler sich setzen, sondern zu den Füßen besten, der auch der Reformatoren Meister war; zu Jüngern Jesu Christi, zu gläubigen Hörern des Wortes Gottes in der heiligen Schrift die Schüler zu machen — das ist die Aufgabe, welcher mein Buch dienen soll; möge es dazu brauchbar erfunden werden! Rakel, den 22. Juli 1891.

U. Keidnch.

Vorwort inr iwcitrn Auflage. Das Handbuch der „Glaubenslehre", welches vor dem neuen Lehr­ plan vom 6. Januar 1892 erschienen war, erscheint nunmehr in einer zweiten, nach dem neuen Lehrplan unbearbeiteten und erweiterten Auflage. Schon der Titel weist auf eine Änderung hin, indem auf demselben ausdrücklich angegeben ist, daß in dem Buche auch die im neuen Lehrplan geforderte „Sittenlehre" enthalten, oder vielmehr, da sie auch schon in der ersten Auflage enthalten war, nunmehr noch gründlicher und ausführlicher behandelt ist. Für den Römerbrief, dessen Lektüre im Lehrplan gefordert wird, hatte schon die erste Auflage eine Bearbeitung dargeboten, welche für die Behandlung dieses Briefes in der Schule von einem Recensenten des Buches ausdrücklich als wohlgelungen bezeichnet worden ist. Auch sie ist natürlich im einzelnen verbessert und durch einige für den Lehrer be­ rechnete Abschnitte ergänzt worden. Wenn nun der neue Lehrplan als neue Forderung vornehmlich hin­ gestellt hat, daß die Glaubenslehre nicht nach einem „System", sondern im Anschluß an die Augsb. Konfession behandelt werde, so ist die neue Auflage dieser Forderung des Lehrplans gerecht geworden, und zwar in folgender Weise. Zunächst ist bei jedem einzelnen Abschnitt der Glaubenslehre, wie in der ersten Auflage auf den Katechismus, so nunmehr auf den Katechismus und auf die Augsb. Konfession hingewiesen und der Inhalt der betr. Artikel derselben dargestellt. Aber vornehmlich ist nun, wie schon im Hülfsbuch geschehen (vgl. Seite VI—VIII und Seite 184—194) eine zusammenhängende Behandlung der Augsb.Konfession dargeboten, welche, indem sie die einzelnen Artikel der Augsb. Konfession nach ihrem Inhalt abschnittweise zusammenfaßt, den Lehrer dazu anleitet, die Augsb. Konfession dem Schüler auch als ein Ganzes darzubieten. Warum nun dem Römerbriefe und der Augsb. Konfession auch in dieser Auflage, wie schon in der ersten, noch einige Abschnitte vorangeschickt

V sollen Lehrer und Schüler sich setzen, sondern zu den Füßen besten, der auch der Reformatoren Meister war; zu Jüngern Jesu Christi, zu gläubigen Hörern des Wortes Gottes in der heiligen Schrift die Schüler zu machen — das ist die Aufgabe, welcher mein Buch dienen soll; möge es dazu brauchbar erfunden werden! Rakel, den 22. Juli 1891.

U. Keidnch.

Vorwort inr iwcitrn Auflage. Das Handbuch der „Glaubenslehre", welches vor dem neuen Lehr­ plan vom 6. Januar 1892 erschienen war, erscheint nunmehr in einer zweiten, nach dem neuen Lehrplan unbearbeiteten und erweiterten Auflage. Schon der Titel weist auf eine Änderung hin, indem auf demselben ausdrücklich angegeben ist, daß in dem Buche auch die im neuen Lehrplan geforderte „Sittenlehre" enthalten, oder vielmehr, da sie auch schon in der ersten Auflage enthalten war, nunmehr noch gründlicher und ausführlicher behandelt ist. Für den Römerbrief, dessen Lektüre im Lehrplan gefordert wird, hatte schon die erste Auflage eine Bearbeitung dargeboten, welche für die Behandlung dieses Briefes in der Schule von einem Recensenten des Buches ausdrücklich als wohlgelungen bezeichnet worden ist. Auch sie ist natürlich im einzelnen verbessert und durch einige für den Lehrer be­ rechnete Abschnitte ergänzt worden. Wenn nun der neue Lehrplan als neue Forderung vornehmlich hin­ gestellt hat, daß die Glaubenslehre nicht nach einem „System", sondern im Anschluß an die Augsb. Konfession behandelt werde, so ist die neue Auflage dieser Forderung des Lehrplans gerecht geworden, und zwar in folgender Weise. Zunächst ist bei jedem einzelnen Abschnitt der Glaubenslehre, wie in der ersten Auflage auf den Katechismus, so nunmehr auf den Katechismus und auf die Augsb. Konfession hingewiesen und der Inhalt der betr. Artikel derselben dargestellt. Aber vornehmlich ist nun, wie schon im Hülfsbuch geschehen (vgl. Seite VI—VIII und Seite 184—194) eine zusammenhängende Behandlung der Augsb.Konfession dargeboten, welche, indem sie die einzelnen Artikel der Augsb. Konfession nach ihrem Inhalt abschnittweise zusammenfaßt, den Lehrer dazu anleitet, die Augsb. Konfession dem Schüler auch als ein Ganzes darzubieten. Warum nun dem Römerbriefe und der Augsb. Konfession auch in dieser Auflage, wie schon in der ersten, noch einige Abschnitte vorangeschickt

VI find, ist im Buche selbst dargelegt; die Abschnitte weisen auf die Grund­ lagen des im Römerbriefe und in der Augsb. Konfession dargestellten Glaubens hin, und sie sind dazu bestimmt, den Schüler zu dem im Römer­ briefe nnd in der Augsb. Konfession dargestellten Glauben hinzuführen. Der Lehrer wird auf diese Grundlagen des christlichen Glaubens jedenfalls so weit eingehen müssen, daß der im Römerbriefe und in der Augsb. Konfession dargestellte christliche Glaube für den Schüler des Fundamentes nicht entbehrt. So liegt denn nunmehr ein „Werk des Lebens", wie ein freund­ licher Vorgesetzter mir einmal sagte, mein „Handbuch für den Religions­ unterricht", in allen drei Bänden in zweiter Auflage vor, und ich kann nur immer wieder mit Dank gegen Gott bekennen, wie viele Freude ich aus dieser Arbeit gewonnen habe, sowohl aus der Arbeit selbst, als auch dadurch, daß von so vielen und so verschiedenen Seiten her meine Arbeiten als für den Religionsunterricht förderlich anerkannt worden sind. Rakel, den 5. Juli 1899.

A. Mkiörich

Inhaltsverzeichnis. Seite Vorwort zur ersten Auflage............................................................................................

DI

Vorwort zur zweiten Auflage............................................................................................

V

Inhaltsverzeichnis........................................................................................................ . . VII Übersicht der erklärten Bibelabschnitte...............................................................................XIH

Übersicht der besprochenen einzelnen Artikel der Augsb. Konfession. Alphabetische Übersicht über Personen und Sachen,

.

.

.

UV

welche im Inhaltsver­

zeichnis nicht erwähnt sind...................................................................................... UV

Druckfehler.....................................................................................................................................XVI

1. Die Entwickelung der christlichen Glaubenslehre. A. Die Bedeutung des Glaubens für die christliche Kirche.............................. 1

B. Die Entwickelung des Glaubens in der christlichen Kirche; die Ver­

schiedenheit der Konfessionskirchen....................................................................... 2 C. Die

Bekenntnisschristen der christlichen Kirchen.............................................. 4

D. Die

evangelische Glaubenslehre........................................................................... 5

E. Die

Gliederung der Glaubenslehre......................................................................7

A—E (Einleitung für den Schüler): 3 Stunden?) F. Die katholische Glaubenslehre.................................................................................. 9

G. Die Entwickelung der evangelischen Glaubenslehre.................................. 10 H. Die verschiedenen Richtungen der Theologie in der Gegenwart

.

.

23

I. Die evangelische Theologie und die Bibel................................................... 26

K. Die evangelische Theologie und die Mflenschaft........................................35

II. Der Unterricht in der Glaubenslehre............................................40

III. Der Bücherschatz des Neligionslehrers für den Unterricht in

der Glaubens- und Sittenlehre.................................................... 49 *) Die Wiederholung ist bei diesen Angaben in der Stundenzahl stets mit eingeschloffen.

vni Seite

Glaubenslehre. Erster Abschnitt. „Wo findet die Seele die Heimat der Ruh?" „Du hast uns zu Dir geschaffen, o Herr, und unserHerz ist unruhig, bis es Ruhe findet in Dir!" „Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erden." Vorbemerkung für den Lehrer....................................................................................... 54

I. Ursprung und Wesen der Religion. 1. Einleitung...................................................................................................... 54 2. A. Die Religion in der Welt................................................................... 55 3—8. B. Das Verlangen des Menschen nach Gott. 3. Einleitung.......................................................................................................58 4. ä. Die Herleitung der Religion ans der Phantasie.................................58 5. b. Die Herleitung der Religion aus dem Verstände.................................60 6. c. Die Herleitung der Religion aus dem Willen..................................... 61 7—8. d. Die Herleitung der Religion aus dem Gemüt. 7. Darstellung für den Schüler........................................................................ 62 8. Darstellung für den Lehrer.........................................................................66 9. C. Die Offenbarung Gottes an den Menschen.......................................... 74

II. Aber ist der Glaube an Gott auch kein leerer Wahn? Das Unrecht des Materialismus; die Beweise für das Dasein Gottes; das Recht des Glaubens. 10. Das Unrecht des Materialismus.............................................................. 77 11. Die Beweise für das Dasein Gottes......................................................... 81 12. Das Recht des Glaubens.........................................................................87

Nr. I und II: 5 Stunden.

III. Was ist Gott ? A. Gottes Wesen und Eigenschaften. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19.

Einleitung.................................................................................................. 88 Gott ist Leben und Geist.........................................................................89 Gott ist der Heilige...................................................................................91 Gott ist die Liebe........................................................................................92 Ursprung und Wahrheitdes christlichen Gottesglaubens .... 94 B. Die Einheit Gottes..............................................................................98 (18.) C. Die Bedeutung der Erkenntnis Gottes für die Gemein­ schaft des Menschen mit Gott.................................................. . 100

Nr. III: 3 Stunden.

IX Seite-

IV. „Ich glaube an Gott den Schöpfer Himmels und der Erden." Vorbemerkung für den Lehrer.................................................................103 20. (19.) Die Offenbarung Gottes in der Welt......................................103 21. (20.) Die Schöpfung der Welt............................................................... 104 22. (21.) Tie Gestaltung der Welt und die Geschöpfe auf Erden . . 105

V. Gott und die Welt. 23. (22.) Deismus, Pantheismus und Theismus......................... . 115 24. (23.) Die Erhaltung und Regierung der Welt.................................. 119 25. Der erste Artikel..................................................................................... 123 Nr. IV—V: 5 Stunden.

Zweiter Abschnitt. „Du bist zwar Gottes Sohn, Doch ach, nur der verlorne." 26.

27 28. 29. 30. 31. 32.

Vorbemerkung für den Lehrer................................................................. 127 (24). „Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, Zum Bilde Gottes schuf er ihn"................................................. 128 (25.) Die Frage nach dem Ursprung der Sünde............................ 130 (26.) Tie Erzählung der Bibel vom Sündenfall............................... 132 (27.) Die Sünde in der Welt................................................................. 139 Die Lehre von der Sünde in den evangelischen Katechismen und in der Augsb. Konfession (Art. 2. 19. 18)................................... 147 Die neuere Entwickelung der Lehre von der Sünde........................ 149 (28). Die Rückkehr des verlorenen Sohnes zum Vater .... 152 Nr. 26—32: 5 Stunden.

Dritter Abschnitt. „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen ein­ geborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben." Joh. 3, 16. Vorbemerkung für den Lehrer...................................................... 155

I. Das Christentum. 33. 34. 35. 36.

II—IV.

(29.) (30.) (31.) (32.)

Einleitung................................................................................. 156 Das Christentum als die vollkommenste Religion.... 157 Das Christentum als geoffenbarte Religion................... 158 Das Christentum als die Vollendung der Offenbarung . . 165

Die Gründung des vollkommenen Gottesreiches durch

Jesus Christus. 37. Einleitung.................................................................................................... 172

X Seite

II. Wie ist durch das Wirken und Leiden Jesu Christi

die Gemeinschaft der Menschen mit Gott wiederhergestellt und vollendet worden? 38. (37.) Das dreifache Wett Jesu Christi...................................................173 39. (38.) Jesus als Prophet...................................................................... 175 40. (39.) Jesus als König........................................................................... 177 41—44. (40—43.) Der Tod Jesu; Jesus als Priester. 41. (40.) Einleitung und Vorbemerkung für den Lehrer......................... 178 42. (41.) Die Weissagung des A.T..................................................................179 43. (42.) Der Tod Jesu und der Glaube an den Gekreuzigten . . . 180 44. (43.) Die Heilsbedeutung des Todes Jesu nach der Predigt Jesu und der Apostel.................................................................................181 45. (44.) Die Lehre von der Heilsbedeutung des Todes Jesu in ihrer geschichtlichen Entwickelung............................................................ 195

III. 46. (35.) Wie hat Jesus in seinem Leben das Werk der

Erlösung vollbracht?...........................................................................205 IV. Wie hat sich in der Person Jesu Christt die Gemeinschaft

der Menschheit mit Gott dargestellt? 47. 48. 49. 50.

(33.) Einleitung..........................................................................................209 (34.) Die Person Jesu...........................................................................211 (36.) Die Lehre von der Person Jesu in der Dogmatik .... 221 Unser Glaube an Christus nach dem zweiten Artikel in Luthers Katechismus und dem brüten Artikel der Augsb. Konfession 228 51. Der Weg zum Glauben an Christus.................................................. 231

V. 52. (46.) Der heilige Geist............................................................ 236 VI. 53. (47.) Unser Glaube an den dreieinigen Gott ....

239

Nr. I—VI: 9 Stunden.

VII. Wie der heilige Geist durch die Gnadenmittel, die Predigt

und die Sakramente, die Menschen zu Christus führt und bei Christus erhält. (48.) (49.) (50.) (51.)

Einleitung.......................................................................................... 244 A. Die Einsetzung der Gnadenmittel........................................247 B. Die Bedeutung der Predigt und der Sakramente . . 255 C. „Wie können Predigt und Sakramente solche große Dinge thun?"........................................................................... 257 58. (52.) v. Der gesegnete Empfang der Gnadenmittel, die Kinder­ taufe und die Beichte...................................................................... 261 59—61. (53.) Die Predigt und die Sakramente; Wesen und Zahl der Sakramente; die heiligen Handlungen im Leben des Christen.

54. 55. 56. 57.

XI Seite

69. Die Predigt und die Sakramente...........................................................268 60. Wesen und Zahl der Sakramente............................................................272 61. Die heiligen Handlungen im Leben des Christen..............................275 Nr. VN: 4 Stunden.

Vierter Abschnitt. Wie wird der Mensch vor Gott gerecht? 62. Vorbemerkung für den Lehrer und Einleitung für den Schüler . 287 A. Der Römerbrief. 63. (54.) I Die Christengemeinde in Rom; der Römerbrief; Einleitung und Schluß des Briefes; Inhalt und Gliederung des Briefes.......................................................................................... 289 H. Das Thema des Briefes: Die Gerechtigkeit aus dem Glauben. 64. (55.) Die Nothwendigkeit der Glaubensgerechtigkeit .... 296 65. (56.) Das Wesen der Glaubensgerechtigkeit........................................ 301 66. (57.) Das neue Leben des Christen, die Folge der Glaubens­ gerechtigkeit ......................................................................................307 67. (58.) Adam, Moses und Christus; die Glaubensgerechtigkeit in ihrer geschichtlichen Verwirklichung. Die Lehre von der Prädestination........................................................................... 318 68. (60.) B. Die Heilsordnung............................................................ 324 69. (59.) C. Lektüre im Anschluß an den Römerbries: Luthers Vor­ rede zum Römerbries; Luthers Sendschreiben vom Dolmetschen; Augsb. Konfession, Art. 4, 6, 20 .............................................. 331 70. (61.) D. Die Lehre des Apostels Paulus von der Rechtfettigung . 339 71. (61.) E. Die Lehre von der Rechtfertigung in der christlichen Kirche................................................................................................... 347

Nr. 62—69: 16 Stunden.

F. Die christliche Sittlichkeit. 72. Einleitung für den Schüler und Vorbemerkung für den Lehrer . 349 73. (62.) Das geistige Leben deS Menschen................................................... 350 74—78. Die Grundlagen der Sittlichkeit. 74. Überblick.....................................................................................................352 75. (63.) Das Gewissen................................................................................ 353 76. (64.) Das sittliche Idealdes Christentums.......................................... 360 77. DaS sittliche Ideal deS Christentums in seiner geschichtlichen Ent­ wickelung ...........................................................................................363 78. Die Verwirklichung des sittlichenIdeals............................................. 368 79. (66.) Sittlichkeit und Religion............................................................. 372 80—83. (65.) Die Aufgabe der christlichen Sittlichkeit. 80. Überblick.................................................................................................... 377



XU



Seite 81. Die Liebe des Christen zu Gott; das religiöse und kirchliche Leben des Christen............................................................................................ 378 82. Die Bewährung der christlichen Sittlichkeit im Leben des einzelnen Menschen..................................................................................................384 83. Die Pflichten des Christen gegen den einzelnen Mitmenschen . . 392 84. Die Pflichten des Christen gegenüber der Gemeinschaft .... 395

Nr. 72—84: 8 Stunden.

Fünfter Abschnitt. Das Reich Gottes auf Erden und im Himmel. 85. (67.) Einleitung................................................................................................. 401 86. (68.) Das israelitische Gottesreich.................................................................401 87. (69.) Das christliche Gottesreich................................................................. 402 88—89. 88. Die 89. Die 90. Der

(70.) Das vollkommene Gottesreich. Vollendung des Gottesreiches........................................................... 413 Vollendung des einzelnen Menschen................................................ 421 dritte Artikel............................................................................................427 Nr. 85—90: 4 Stunden.

Schluß. 91—95. Die Augsburgische Konfession. 91. Einleitung............................................................................................................430 92. Entstehung und Übersicht der Bekenntnisschriften................................ 432 93. Die Bedeutung der Bekenntnisschristen...................................................... 438 94. Inhalt und Gliederung der Augsb. Konfession...................................... 441 95. Die Augsburgische Konfession.......................................................................444 Nr. 91—95: 8 Stunden.')

') Für die ganze Glaubenslehre sind also etwa 70 Stunden erforderlich.

XTTT

Übersicht der erklärten Bibelabschnitte?) 1. Mose 1, 1: Nr. 21 und S. 111, Anm. 1. 1. Mose 1 und 2: Nr. 21. 22. 26. 28. 1. Mose 3: Nr. 28. 3. Mose 11, 6: S. 37a. Psalm 8: Nr. 26. „ 42 und 43: Nr. 7. „ 51: Nr. 29. „ 90: Nr. 29. „ 104: Nr. 22. „ 110: Nr. 48. Hiob 3: S. 29c. Jesaias 52, 13—53, 12: Nr. 44 c. Daniel 2 und 7: Nr. 48. 88. Matth. 11, 25-30: Nr. 47. 48. „ 16, 13-17: Nr. 48. „ 16, 18—19: L. 407 e. „ 22, 15- 22: Nr. 66 c. „ 22, 41-46: Nr. 48. „ 26, 26—28: Nr. 55 c. „ 26, 63-64: Nr. 48 und S. 418-5. „ 28, 19-20: Nr. 55b und S. 275, Anm. 2 und S. 277d. Luk. 15, 11—32: Nr. 7. 32. Joh. 1, 1—18: Nr. 48des. „ 3, 1-18: Nr. 32. Römerbrief: Nr. 62—67. Röm. 1, 17: S. 293, Anm. 2. „ 3, 21-31: S. 185. „ 5, 12—21: Nr. 28. 47. 67. Röm. 7, 7—25: Nr. 29. 63 e. „ 8, 30: Nr. 68. 1. Kor. 1, 30: Nr. 38b. „ 15: S 425 s. Gal. 6, 6: S. 275, Anm. 3. Phil. 2, 5-11: Nr. 46. 1. Petr. 2, 13-17: Nr. 66 c. 1. Joh. 5, 7: S. 240, Anm. 1. Jakob. 2, 14—26: Nr. 65 d. Off. Joh. 13: S. 315, Anm. 1.

’) Von den einzelnen, kurz erwähnten Bibelversen ist hier meistens ab gesehen worden.



XIV —

Übersicht der besprochenen einzelnen Artikel der Augsb. Konfession. Borrede: S. 444. 1: S. 243e und 447. 2: S. 147 B und 448. 3: S. 230II und 449. 4. 6. 20: S. 336, 3 und 453-456. 5: S. 245c und 238 y und 458. 6: siehe 4. 7 und 8: S. 405—406 und 467. 9: S. 252y und 458. 10: S. 260de und 458. 12. 11. 13: S. 266f, 273d und 459-—461. 14 und 15: S. 468. 16: S. 386c und 410k und 469. 17: S. 415 e und 476. 18 und 19: S. 147 B und 448-449. 20: siehe 4. 21: S. 449. 22: S. 458. 23: S. 468, Anm. 4. 24: S. 459. 25: S. 460. 26: S. 469. 27: S. 470. 28: S. 468 Anm. 2 und 5. Beschluß: S. 478.

Alphabetische Übersicht über Personen und Sachen, welche im Inhaltsverzeichnis nicht ermahnt find. Abba S. 312. Abendmahlsseier, Formen der: S. 284 d. Abendmahlsworte Nr. 55 c. Abhängigkeitsgefühl S. 71. Adam S. 112, Anm. 1. Apfelbaum des Paradieses: S. 134, Anm. 1. apostolica ecclesia S. 412 n. Beichte S. 266 f. und S. 281B. Bewußtsein S. 352, Anm. 1. Buddhismus Nr. 35h.

Christenmensch S. 362, vor d. Christianus non est in facto sed in fieri S. 49, Anm. 2.



XIV —

Übersicht der besprochenen einzelnen Artikel der Augsb. Konfession. Borrede: S. 444. 1: S. 243e und 447. 2: S. 147 B und 448. 3: S. 230II und 449. 4. 6. 20: S. 336, 3 und 453-456. 5: S. 245c und 238 y und 458. 6: siehe 4. 7 und 8: S. 405—406 und 467. 9: S. 252y und 458. 10: S. 260de und 458. 12. 11. 13: S. 266f, 273d und 459-—461. 14 und 15: S. 468. 16: S. 386c und 410k und 469. 17: S. 415 e und 476. 18 und 19: S. 147 B und 448-449. 20: siehe 4. 21: S. 449. 22: S. 458. 23: S. 468, Anm. 4. 24: S. 459. 25: S. 460. 26: S. 469. 27: S. 470. 28: S. 468 Anm. 2 und 5. Beschluß: S. 478.

Alphabetische Übersicht über Personen und Sachen, welche im Inhaltsverzeichnis nicht ermahnt find. Abba S. 312. Abendmahlsseier, Formen der: S. 284 d. Abendmahlsworte Nr. 55 c. Abhängigkeitsgefühl S. 71. Adam S. 112, Anm. 1. Apfelbaum des Paradieses: S. 134, Anm. 1. apostolica ecclesia S. 412 n. Beichte S. 266 f. und S. 281B. Bewußtsein S. 352, Anm. 1. Buddhismus Nr. 35h.

Christenmensch S. 362, vor d. Christianus non est in facto sed in fieri S. 49, Anm. 2.

XV DLmonium des Sokrates S. 358, Anm. 1. Disciplina arcani S. 276, Anm. 2. Engel Nr. 23 d e. Euhemeros Nr. 4y.

Fastengebote S. 387. Fecisti nos ad te Nr. 7. Fußwaschung S. 274, Anm. 3. Gewissen S. 352, Anm. 1.

S. 358, Anm. 2.

Hebräische Sprache S. 340, Anm. 1. Henotheismus S. 98, Anm. 2.

Jesus Maria S. 94, Anm. 1.

Karfreitag S. 464. Katechumenen Nr. 61 Ala. Kategorischer Imperativ S. 370d. Kinderkommunion Nr. 61 Alb. Kindertaufe Nr. 58 c. Konfirmation S. 279 g. S. 280 b.

malum (Apfel und Böses) S. 134, Anm. 1. Maria S. 57 f. S. 94, Anm. 1. S. 99. Anm. 1. Mystik Nr. 19 a.

Not lehrt beten Nr. 7 und 8. Pate Nr. 61AIc. Pessimismus Nr. 82 k. Prädestination Nr. 67 c. primus in orbe deos fecit timor S. 68, Anm. 1.

Quasimodogeniti, Sonntag: S. 276, Anm. 1. ßacrificio dell’ intelletto S. 366 a. Schabriri, böser Geist, S. 143. Schluß der Gebote in Luther’s Gr. Katech. S. 471. 666: S. 419(5. Socinianer S. 199, Anm. 1. solam per fidem im Mittelalter S. 347 b. Sonntag S. 468, Anm. 5. Taufe, Wirkung der: S. 280. Taufformen S. 277 d ß. S. 279, Anm. 2. tausendjähriges Reich S. 4158. Teufel Nr. 23 e. Nr. 29 d. den Teufel wollt’ er fangen S. 199 b. der Teufel ist los S. 415, Anm. 3.

una ecclesia S. 409, Anm. 2. Unitarier S. 199, Anm. 1.

Druckfehler. 34, Abs. 2 lies g statt e. 56, Z. 5 v. u. lies: der Glaube an Gott 158, Z 12—11 v. u. lies: den Sinn und die Empfänglichkeil 162, Z. 2 v. u. lies: oben Nr. I, D und J 203 fin. — 204, Z. 12: Den Unterschied . ... zu erstrebenden Heiligung — dieser Passus (aus der ersten Auflage durch ein Versehen herübergenommen) ist zu streichen. S. 209, Z. 3: Das A ist zu streichen. S. 227, Z. 10 lies: richtigerer S. 240, Z. 1 fehlt: a S. 241, Z. 4 vor c muß das Wort also gesperrt gedruckt werden. S- 244 a, Z. 4 lies: ist Gottes Gnade S. 291, Z. 2 v. u. lies: Nr. 69. S. 302, Anm. 3 Z. 5 lies: Nr. 69, 2. S. 308, Z. 9 v. u. lies: Nr. 72—81. S. 312, Z. 2 v. u. lies: für den Verstand S. 314 vor c und Z. 3 und 2 v. u. lies: Nr. 72—84 S. 314 Anm. 2 Z. 2 lies: Nr. 67 S. 315 vor a lies: Nr. 72 —84 S- 330 Z. 4 v. u. lies: Nr. 77 S. 338 Z. 11 lies: ohne des Gesetzes Werke S. 340 Text, Z. 9 v. u. lies: Aber das eigene Leiden S. 421 Text, Z 13 v. u. lies: an demselben

S. S. S. S. S.

I. Die Entwickelung

der christlichen Glaubenslehre.') A. Die Bedeutung des Glaubens für die christliche Kirche. **)

Wenn wir die geschichtliche Entwickelung der christlichen Kirche über­ blicken, so tritt uns in derselben als besonders wichtig die Entwickelung des christlichen Glaubens entgegen; auf der Verschiedenheit des Glaubens beruht es ja vornehmlich, daß in der Gegenwart nicht eine einige Kirche vorhanden ist, sondern eine Anzahl von Konfessionskirchen, welche hauptsächlich durch den Unterschied des Glaubens von einander getrennt finb.8) Dem Glauben gegenüber tritt die christliche Hoffnung in chrer Bedeutung für die christliche Kirche sehr zurück; jedenfalls hat die Ver­ schiedenheit der Hoffnung keine Spaltung der Kirche hervorgerufen, obwohl doch auch hier große Verschiedenheiten wahrzunehmen sind. Wenn die alte Kirche auf das tausendjährige Reich, in welchem die Kirche schon hier auf Erden einen herrlichen Abschluß ihrer Entwickelung sinken sollte, ein großes Gewicht gelegt hat, so spielt im Mittelalter das Fegfeuer eine große Rolle, ja, eine so große, daß dasselbe indirekt, durch den damit in Verbindung gebrachten Ablaß, zur Reformation, also zur Spaltung der Kirche, mit Veranlassung gegeben hat. Dagegen hat die Neuzeit auf 0 Bon den folgenden einleitenden Abschnitten zur Glaubenslehre sind nur A—E für den Schüler bestimmt. Als Borbereitung für diese Einleitung in die Glaubenslehre sind anzusehen die anderwärts behandelten Abschnitte: Kg- Nr. 60 und 61: Glaube und Konfessionskirchen (auch hier zu besprechen); Kg.- Nr. 62 und 63: Evangelischer und katholischer Glaube: Ka.- Nr. 64—70: Bekenntmsschriften, besonders: Apostolikum, Augsburger Konfession und Katechismus; Kg.' Nr. 71 und Heil. Gesch.- Nr. 15: Die Bibel. 5 Vgl. Kg. - Nr. 60. *) Zum Gegenstände des Glaubens sind für den Katholiken auch der Gott eSdienst und die Berfassung der Kirche geworden, und so ist es kein Wunder, daß auch der Stteit um diese beiden Puntte zu Spaltungen in der Kirche geführt hat. Heidrich, Glaubenslehre.

1

2 die auch unter uns vorhandenen Verschiedenheiten in der Auffassung der christlichen Hoffnung kein so großes Gewicht gelegt, daß es darüber in der christlichen Kirche zu großen Streitigkeiten oder gar zu Spaltungen gekommen Ware. Wenn also der Hoffnung gegenüber der Glaube eine größere Bedeutung für die Entwickelung der Kirche hat, so scheint die dritte der christlichen Haupttugenden, die Liebe, selbst der Hoffnung noch nachzustehen in chrer Bedeutung für die Entwickelung der christlichen Kirche. Die Liebe scheint ja doch eben eine Tugend zu sein, welche den Streit der Parteien von vornherein ausschließt, oder wenn derselbe überhaupt entsteht, sogleich beilegt; in der Liebe müßten, so meint man zunächst, alle Parteien der christlichen Kirche mit einander übereinsttmmen. Das ist nun zwar insofern keine unrichtige Behauptung, als wirklich alle christlichen Parteien darin übereinstimmen, daß sie die Liebe als ein unentbehrliches Kennzeichen des wahren Christentums betrachten; aber wenn man nun genauer zusieht, wie sich die christliche Liebe im Laufe der Jahr­ hunderte und in den verschiedenen Kirchen geäußert hat, so ist doch auch auf diesem Gebiete eine interessante Entwickelung und infolge derselben eine nicht geringe Verschiedenheit in der Liebesthättgkeit der verschiedenen Zeiten und der verschiedenen Kirchen wahrzunehmen. Wenn nun die Liebe mit Recht „des Lebens Kern" genannt worden ist, so daß man also hier auch auf die Verschiedenheit des Lebens in bat verschiedenen Zeiten und in den verschiedenen Kirchen zu achten sich veranlaßt sehen wird, dann ergiebt sich eine so großeBerschiedenheit int Leben der verschiedenen Zetten und Kirchen, daß man diese Verschiedenheit für ausreichend halten uruß, um Spaltungen in der christlichen Kirche hervorzurufen; und in der That sind ja solche Spaltungen in der Kirche auf Grund der Verschiedenheit des christlichen Lebens in alter und in neuer Zeit erfolgt. Aber diese Verschiedenheiten in der Gestaltung des christlichen Lebens hängen doch auch mit der Verschiedenheit des G l a u b e n s zusammen, und wenn daher im folgenden die einzelnen Konfessionskirchen nach ihrer Eigen­ tümlichkeit dargestellt werden sollen, so wird hauptsächlich die Verschiedenheit des Glaubens der einzelnen Kirchen darzustellen sein. Das soll nun im folgenden geschehen.

B. Die Entwickelung des Glaubens in der christlichen Kirche; die Verschiedenheit der Koufesfionskirchen?)

a. Die Grundlage und Norm alles christlichen Glaubens und alles Kirchentums ist das Evangelium, d. h. die Botschaft von dem Leben und Lehren Jesu, wie sie uns in der heiligen Schrift vorliegt (vorbereitet im A. T., verkündigt im N. T.), und alle Kirchen betrachten es als ihre Aufgabe, mit dem Evangelium übereinzusttmmen. Aber wie die Offenbarung selber eine Entwickelung aufweist, deren Stufen wir aus der heiligen Geschichte erkennen, so hat auch die christliche *) Bgl. Kg.- Nr. 61.

3 Kirche eine Entwickelung durchgemacht, und aus der altchristlichen Kirche hat sich eine morgenländische, eine römische und eine evangelische Kirche entwickelt, welche geschichtlich nach einander auftreten, aber jetzt neben einander bestehen. Diese drei Kirchen beruhen sämtlich auf der Predigt des Evangeliums, aber das Verständnis des Evangeliums hat sich in denselben in verschiedener Weise entwickelt. Tie niedrigste Stufe der Ent­ wickelung zeigt die morgenländische Kirche, eine höhere die römische Kirche, die höchste die evangelische Kirche. b. Was das Evangelium von Jesus verkündet und das schon am Anfänge des zweiten Jahrhunderts (in seiner älteren Form) vorhandene apostolische Symbol kurz zusammenfaßt, das ist im Laufe der Entwickelung der Kirche durch drei große Männer gedeutet worden, und ihre Auffaffung des Christentums ist zum Eigentum dreier Kirchen geworden. Was die morgenländische Kirche vom wahren Christentum erfaßt hat, das beruht auf der Predigt des Athanasius; über dieselbe ist diese Kirche nicht hinausgekommen. Die römische Kirche hat die Errungenschaft des Athanasius festgehalten, aber ihr Verständnis des Christentums ist vertieft worden durch Augustinus, deffen tiefere Erfassung des Christentums dem Morgenlande fremd geblieben ist. Was Athanasius und Augustinus der Kirche gebracht haben, hat eine weitere Vertiefung und Ergänzung erhalten vornehmlich durch Luther, den Begründer der evangelischen Kirche, deffen gründlicheres Verständnis des Christentums sowohl der römischen wie auch (in noch höherem Grade) der morgenländischen Kirche fremd geblieben ist. So ist also Luther nicht ausgeschieden aus der christlichen Kirche, sondern er bezeichnet den bisherigen Höhepunkt der Entwickelung der christlichen Kirche, den die anderen Kirchen nicht erreicht haben; ihr Christen­ tum ist mangelhaft, aber es ist doch Christentum; auch bei Luther und seinen Nachfolgern ist natürlich noch nicht das vollkommene Christentum zu finden, aber wohl die höchste Stufe in der bisherigen Erfassung des Christentums. c. Daß wir durch Christus mit dem wahren Gott in Gemeinschaft treten — das ist die richtige Erkenntnis des Athanasius und der griechischen Kirche. Daß aber der Mensch von Natur ein Sünder ist und erst durch Christus gerecht werden muß, um mit Gott in Gemeinschaft zu treten — das ist die richtige Erkenntnis des Augustinus und der römischen Kirche. Daß aber die römische Kirche die Menschen auf einen falschen Weg zur Gerechtigkeit hinweist, und daß der richtige Weg zur Gerechtigkeit der von Paulus gewiesene Weg des Glaubens ist — das ist die alleinige Erkenntnis Luther's und der evangelischen Kirche. Diese richtige Antwort Luthers auf die auch von ihr gestellte Frage nach dem Wege zur Gerechtigkeit hat die römische Kirche zurückgewiesen, und damit zwar nicht das Christentum preisgegebm, aber doch das wahre Christentum verkannt; die griechische Kirche konnte Luther's Werk vollends nicht würdigen, da sie bisher nicht einmal so weit entwickelt ist, daß sie die von chm gestellte Frage versteht, geschweige denn seine Antwort. d. Wenn nun die evangelische Kirche noch vielfach gespalten ist, so darf uns das nicht Wunder nehmen; auch die katholische Kirche hat viele

4 Jahrhunderte gebraucht, ehe sie ihre heutige (noch dazu auch nicht ganz vollkommene) Einheit erreicht hat, um die sie aber nicht einmal zu beneiden ist. Wer alle Evangelischen sind doch einig in der Anerkennung Luthers und der von ihm gepredigten Hauptgrundsätze des Christentums, und wir Evangelischen können gar wohl in manchen Dingen über Luther hinaus­ kommen, und unsere Kirche ist ja in der That in manchen Punkten über Luther hinausgekommen (Mission, Union), aber wir werden nicht von Luther abkommen. e. Aber das Ziel der Kirche ist nicht das dauernde Nebeneinander­ bestehen der verschiedenen Konfessionskirchen, sondern die eine christliche Kirche, in welcher alle Christen zu derselben Höhe der Entwickelung des Christentums sich erhoben und das Evangelium sich vollkommen ungeeignet haben.

€. Die Bekenntnisschriften der christlichen Kirchen.

a. Ihren Glauben haben nun die verschiedenen Kirchen ausgesprochen in den sogenannten Bekenntnisschriften, und wenn wir unseren evangelischen Glauben im Zusammenhänge kennen lernen, so lernen wir ihn zunächst ans einer Bekenntnisschrift, unserem Katechismus, kennen. b. Aber wenn nun auch der evangelische Christ seinen Glauben aus­ gesprochen findet in den Bekenntnisschriften seiner Kirche, so wäre es doch unrichtig, wenn die evangelische Glaubenslehre sich darauf beschränken wollte, den Inhalt der Bekenntnisschristen zusammenzufaffen und zusammenhängend darzustellen — das ist der Standpunkt der katholischen Kirche. Für den Katholiken ist das, was in den Bekenntnisschristen steht und was die Konzilien und die Päpste gelehrt haben, unzweifelhaft richtig, da ja die Kirche unfehlbar ist; es kann also von dem Gelehrten nichts unrichtig sein. Aber es kann allerdings noch manche Lehre zu dem bisher Gelehrten hinzukommen, welche bisher noch gar nicht oder nicht allgemein für richtig gehalten wurde, wie z. B. die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes im Jahre 1870 erst festgestellt worden ist. Aber solche Lehren kann eben auch nur die unfehlbare Kirche hinzufügen, und dann sind sie unzweifelhaft richtig und für immer gültig. c. Diesem katholischen Standpunkte gegenüber, der die in den Bekenntnis­ schriften ausgesprochene Lehre der Kirche für richtig hält, weil diese Schriften von der unfehlbaren Kirche aufgestellt oder anerkannt worden sind, behauptet die evangelische Kirche — und unsere Glaubensbekenntnisse sprechen das ausdrücklich aus — daß die in den Bekenntnisschristen ausgesprochene Lehre der Kirche nur darum und nur so weit richtig ist, als sie mit der heiligen Schrift übereinstimmt. So hat denn die evangelische Glaubens­ lehre die Aufgabe, die von ihr aufgestellten Lehren nicht bloß als mit den evangelischen Bekenntnisschristen, sondern auch als mit der heiligen Schrift übereinstimmend zu erweisen. Wenn es nun schon vorkommen kann, daß man über den Inhalt der Bekenntnisschriften im einzelnen verschiedener Meinung ist, so ist es noch weniger wunderbar, daß die Gelehrten über den Inhalt der heiligen Schrift nicht durchweg derselben Meinung sind, da ja die heilige Schrift nicht ein Lehrbuch oder auch nur eine Bekenntnisschrist der

5 christlichen Kirche ist, sondern eine Sammlung von Urkunden der Offen­ barung Gottes int Alten und Neuen Bunde, und da ja nach unserer Meinung ein unfehlbarer Ausleger der heiligen Schrift nicht vorhanden ist. Vornehmlich auf der verschiedenen Betrachtung und Auslegung der heiligen Schrift beruht nun die verschiedene Gestaltung der evangelischen Glaubenslehre, auf welche im folgenden hingewiesen werden soll.

D. Die evangelische Glaubenslehre.

a. Da in unserer Kirche kein unfehlbares Lehramt vorhanden ist, welches den christlichen Glauben in einer allen Irrtum ausschließenden Weise feststellt und weiterbildet, und da infolgedeffen die heilige Schrift, welche wir für die Norm unseres Glaubens halten, verschieden ausgelegt werden kann, so war es kein Wunder, daß sich schon unter den Reformatoren eine Verschiedenheit in der Auffassung mancher Lehren des christlichen Glaubens zeigte, und daß sich infolge deffen sehr bald eine besondere lutherische und eine reformierte Glaubenslehre entwickelte; aber es war zu beklagen, daß in dem aus das Zeitalter der Reformation alsbald folgenden Zeitalter der Orthodoxie, wo man auf den rechten Glauben ein allzu großes Gewicht legte, beide Parteien der evangelischen Kirche einander so feindselig gegenüberstanden, daß an eine Verständigung und Vereinigung zunächst nicht zu denken war. Eine solche wurde aber angebahnt in dem auf das Zeitalter der Orthodoxie folgenden Zeitalter des Pietismus, welcher, zunächst mit Recht, darauf hinwies, daß es doch nicht allein auf den Besitz des rechten Glaubens ankomme, sondern auch darauf, daß man den Glauben in einem frommen Leben bewähre. Als nun vollends der auf den Pietismus fol­ gende Rationalismus lehrte, daß es überhaupt nur darauf ankomme, daß man fromm lebe, und als nun fast alle christlichen Glaubenssätze zurückgestellt oder sogar bestritten wurden, da war der Gegensatz des lutherischen und des reformierten Glaubens völlig zurückgetreten hinter den im 18. Jahrhundert allgemein herrschenden Rationalismus. Wenn aber dem damals herrschenden Rationalismns allerdings der Supranaturalismus gegenüberstand, welcher nicht bloß die christliche Sittlichkeit, sondern auch den christlichen Glauben auftechterhalten wollte, so war doch derselbe sehr verschieden von der alten Orthodoxie, und jedenfalls weder streng lutherisch noch streng reformiert. Wenn nun die neuere Theologie, namentlich von Schleiermacher angeregt, den Gegensatz des Rationalismus und des Supranaturalismus überwindend, zum Glauben der Reformatoren zurückgekehrt ist, so ist dieselbe doch nicht zurückgekehrt zu der scharfen Betonung des Gegensatzes von Luthertum und Calvinismus, wie er das 16. und 17. Jahrhundert beherrscht hat, sondern zu dem evangelischen Christentum, zu welchem sich die Re­ formatoren im Gegensatz zum Katholicismus gemeinsam bekennen; die Glaubenslehre der gegenwärtigen Theologie will weder lutherisch noch reformiert, sondern eine evangelische Glaubenslehre sein — eine Glaubens­ lehre, welche im wesentlichen übereinsttmmt mit den Anschauungen der Re­ formationszeit, und welche gegründet ist auf die heilige Schrift.

6 b. Aber wenn nun die evangelische Glaubenslehre sich gründet nicht auf die unfehlbare Lehre der Kirche — wie das in der katholischen Kirche der Fall ist— sondern auf die heilige Schrift — worin alle evangelischen Parteien mit einander übereinstimmen — so hat doch die neuere Theologie erkannt, daß der Beweis aus der heiligen Schrift anders geführt werden müsse, als er in der älteren Zeit geführt worden ist, und als ihn manche Laien und namentlich die Sekten noch heute führen, und aus dieser ver­ änderten Schristbettachtung hat sich auch eine Aenderung in der Dar­ stellung des christlichen Glaubens ergeben. Zunächst ist nach unserer Meinung nicht jedes e i n z e l n e Bibelwort, welches von religiösen Dingen handelt, für den Christen maßgebend, sondern nur die ganze Bibel. Wer in seiner Bibel liest (Phil. 2,13): „Gott ist's, der in euch wirket beides, das Wollen und Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen", der könnte glauben, daß Calvin recht habe mit seiner Behauptung, daß des Menschen Heil allein auf Gott beruhe, und daß daher die Lehre von der Erwählung der einen zum ewigen Heil und von der Bestimmung der andern zur ewigen Verdammnis richtig sei. Aber wer nicht ein einzelnes Bibel­ wort, sondern die ganze Bibel als für seinen Glauben maßgebend betrachtet, der findet bei dieser Frage besonders leicht den Ausweg aus dieser bedenk­ lichen Sache, denn im vorhergehenden Verse (Phil. 2, 12) sagt derselbe Apostel: „Schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern!" Wenn man diesen Vers wieder für sich allein betrachtete, so würde des Menschen Heil nur auf ihm selber beruhen, nicht auf Gott. Dieser Widerspruch der beiden Verse verschwindet, wenn man erkennt, daß des Menschen Heil sowohl auf Gott als auch auf dem Menschen beruhe. Sodann aber ist auch erst in der neueren Theologie deutlich erkannt worden, daß für den Christen nicht das Alte Testament maßgebend sein könne, sondern nur das Neue Testament. Wenn der Psalmist betet (Ps. 137), daß Gott die Zerstörung Jerusalems nicht bloß an den schul­ digen Edomitcrn selber, sondern auch noch an ihren unschuldigen Kindern rächen möge, so hat dagegen Jesus gebetet: „Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!" Das Alte Testament enthält nur die noch unvollkommene Offenbarung; erst die im Neuen Testament enchaltene vollkommene Offenbarung ist maßgebend für des Christen Glauben und Leben. In dieser Weise die Bibel zu bettachten, hat aber erst die neuere Theologie gelernt, und nur das ist die richtige Weise, wie die Bibel von uns ausgelegt werden soll; in dieser Weise soll im Folgenden die Richtig keit des evangelischen Glaubens aus der heiligen Schrift erwiesen werden. c. Aber wenn nun von uns den Katholiken gegenüber mit Recht die Autorität der Bibel als allein maßgebend hingestellt wird, und wenn der Schriftauslegung der älteren Zeit und der Setten eine richtigere Schrift­ auslegung entgegengetteten ist, so ist endlich in der neueren Zeit noch eine Änderung in der Bettachtung der heiligen Schrift eingetteten, durch welche eine andere Schwierigkeit überwunden wird, deren man sich erst nach der Reformattonszeit mehr bewußt geworden ist. Das Denken des Menschen wird nämlich in der neueren Zeit mehr und mehr auch bestimmt durch die immer mehr hervortretende Wissen-

7 schäft. Wenn es nun zunächst schien, als wenn durch die Wissenschaft der christliche Glaube zurückgedrängt oder gar überhaupt verdrängt werden könnte, so hat man in der neueren Zeit immer deutlicher erkannt, daß diese Gefahr nur dann vorhanden ist, wenn man die Bibel in der Weise der älteren Theologie betrachtet, nämlich als eine Norm für alles Denken und Wissen; dann wäre allerdings ein Konflikt zwischen Bibel und Wissen­ schaft vorhanden, der niemals ausgeglichen werden könnte. Wenn der Christ durchaus glauben müßte, daß die Sonne sich um die Erde dreht, weil das in der Bibel steht, daß der Hase ein Wiederkäuer ist, weil das allerdings in der Bibel steht (3. Mose 11, 6), daß die Geisteskranken von bösen Geistern besessen sind und durch Austreibung der bösen Geister zu heilen sind, weil das in der Bibel steht — dann wäre ein Konflikt zwischen Glauben und Wissenschaft vorhanden, der niemals beseitigt werden könnte.

Aber selbst die katholische Kirche hat in unserm Jahrhundert den Widerspruch gegen die Lehre des Kopernikus aufgegeben, und wenn einmal ein allzu eifriger Mönch *) noch neuerdings einen Teufel ausgetrieben hat, so haben ihm — wie es scheint — seine Oberen eine weitere derartige Wirksamkeit untersagt. Die evangelische Kirche hat in dieser Frage eine einfachere Lösung gefunden.

Wenn die ältere Theologie daran festhielt, daß die Welt in sechsmal 24 Stunden geschaffen worden sei, weil das in der Bibel stehe, so hat die neuere Theologie erkannt, daß es mit der Religion nichts zu thun hat, ob die Welt in kürzerer oder längerer Zeit, in sechs oder mehr Abschnitten geschaffen worden ist; hier mag die Wissenschaft uns belehren; für die Religion ist es nur wichtig, daß wir von Gott geschaffen sind, nicht aber, wie wir geschaffen worden sind. Die Bibel ist nicht ein Buch der Wissenschaft, sondern der Religion; nur für religiöse Fragen dürfen und sollen wir in der Bibel Belehrung suchen. Infolge dieser Betrachtung der Bibel ist es möglich geworden, manchen Anstoß am christlichen Glauben zu beseitigen, welcher darauf beruhte, daß man früher manche Dinge als mit dem Christentum zusammenhängend ansah, welche nach unserer Meinung mit dem christlichen Glauben nichts zu thun haben. Wenn sich die Glaubenslehre darauf beschränkt, die That­ sachen des Glaubens darzustellen, so hat sie damit das ihr eigentümliche Gebiet gewonnen, für welches allein die Bibel maßgebend ist.

E. Die Gliederung der Glaubenslehre. Wenn nun, wie Luther mit Recht meint, als die Hauptftage für den Christen die Frage anzusehen ist: „Wie wird der Mensch vor Gott gerecht?" — diejenige Frage,' welche vornehmlich im Römerbrief und auf Grund desselben auch als die wichtigste Frage in der Augsb. Kon­ fession behandelt und als erste Frage im Heidelberger Katechismus be­ antwortet wird — so bildet diese Frage auch den Mittelpunkt der Glau­ benslehre. *) In Wemdingen.

8

Aber diese Frage hat zur Voraussetzung psychologische und ge­ schichtliche Thatsachen, welche dem Menschen zum Bewußtsein gebracht werden muffen, wenn die Frage, wie der Mensch gerecht werde, an sein Herz dringen soll?) Diese Voraussetzungen, welche im Anschluß an die heilige Schrift darzulegen und der Hauptsache vorauszuschicken find, lassen fich kurz bezeichnm durch die drei Sätze: 1.

2. 3.

„Du hast uns zu Dir geschaffen, o Herr, und unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in Dir!" „Du bist zwar Gottes Sohn, Doch ach, nur der verlorne!" „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben."

Wenn nämlich der Mensch gerecht wird, wie Luther erfahren hat, durch den Glauben an die Gnade Gottes in Christus, so muß dem Ab­ schnitt von der Rechtferttgung zunächst vorangeschickt werden ein Abschnitt, welcher die Bedeutung Jesu Christi für das Heil des Menschen darlegt. Aber wenn das Heil des Menschen von Christus abhängen soll, so muß der Mensch selber nicht im stände sein, sein Heil zu schaffen; darum muß dem Abschnitt von Christus ein anderer Abschnitt vorangehen, welcher von des Menschen Sünde handelt. Aber wenn nun der Mensch allerdings ein sündiger Mensch ist, so ist er doch ein Geschöpf Gottes, und so muß denn schließlich noch ein Abschnitt vorangestellt werden, welcher von der ursprünglichen und rechten Beschaffen­ heit des Menschen handelt. Hiernach ergeben sich die drei oben genannten Abschnitte der christlichen Glaubenslehre, welche dem Mittelpuntt derselben, der Lehre von der Recht­ ferttgung, vorangehen: die Lehre von Gott als dem Schöpfer der Welt und des Menschen, die Lehre vom Menschen und der Sünde, die Lehre von Jesus Christus. Auf die nunmehr darzustellende Lehre von der Rechtferttgung — den Mittelpuntt der evangelischen Glaubenslehre — folgt endlich noch ein fünfter Abschnitt, welcher - vom einzelnen Menschen zur Gemein­ schaft fortschreitend — die Lehre vom Reiche Gottes auf Erden und im Himmel darstellt. Wenn man nun das Ganze der christlichen Glaubenslehre überblickt, wie es in den genannten fünf Abschnitten zusammengefaßt ist, so findet man in demselben einen Gedankengang, welcher der geschichtlichen Ent­ wickelung der Religion in der Welt entspricht. Ich glaube an einen allmächtigen Gott — das bekennt einiger­ maßen schon das Heidentum, und mit ihm glauben Jude und Christ an den allmächttgen Gott, den Schöpfer Himmels und der Erde, den Schöpfer und Herrn auch des einzelnen Menschen. Dieser Gedanke ist im ersten Abschnitt der Glaubenslehre ausgeführt. Ich glaube an einen heiligen Gott — so spricht nicht der Heide, aber wohl der Israelit und mit ihm der Christ, aber ich bin ein sündiger *) Diese Darlegung stimmt sachlich überein mit Lobstein, Einl. in die Dogmattk (1897), S. 227—228.

9 Mensch, der Gottes Strafe verdient und fürchtet — das ist der Inhalt des zweiten Abschnitts der Glaubenslehre.

Ich glaube an einen gnädigen Gott — so spricht frohlockend nur der Christ, nicht der Heide und noch nicht mit völliger Zuversicht der Jude — an einen Gott, dessen Gnade sich in Christus geoffenbart hat, der mich durch den heiligen Geist zum Glauben an die Gnade Gottes in Christus führt, und der mich dereinst zu vollkommener Heiligkeit und Seligkeit führen wird. Tas ist der Inhalt der drei letzten Abschnitte der Glaubenslehre. Ich glaube an einen allmächtigen, heiligen, gnädigen Gott — in diesem Bekenntnis ist der ganze christliche Glaube zusammengefaßt. Wie nun diese Aufgabe in der Schule zu lösen ist, wird unten dar­ gelegt werden?) F. Die katholische Glaubenslehre.-)

Ein abgeschlossenes System einer Kirchenlehre hatte das Mittelalter trotz der Scholastik noch nicht gewonnen; feststehende Glaubenssätze hatte man nur in den Aussagen der in der Kirche des Abendlandes anerkannten Glaubensbekenntnisse, des apostolischen, des nicänischen und des athanasianischen, und in den Glaubensdekretcn der allgemeinen Konzilien; aber spezifisch-katholische Bekenntnisschristen, welche den katholischen Glauben von dem evangelischen deutlich sondern, sind erst durch das Tridentiner Konzil geschaffen worden, dessen Beschlüsse in dem kürzeren Bekenntnis des Tridentinischen Glaubens und in dem römischen Katechismus für prattische Zwecke kurz zusammengefaßt und durch das Vatikanische Konzil (1869—70) noch ergänzt worden sind.

Auf diesen für unzweifelhaft richtig anerkannten Bekenntnisschristen beruht die katholische Glaubenslehre, welche sich allmählich entwickelt hat. Wenn dieselbe nun zwar ebenfalls, wie die evangelische Glaubenslehre, im Laufe der Zeit manche Umgestaltung erfahren hat, so ist doch eine eigent­ liche Umgestaltung des katholischen Glaubens ausgeschlossen durch das Prinzip dieser Kirche, welche zwar eine weitere Entwickelung des Glaubens anerkennt, aber eine Umgestaltung desselben für ausge­ schlossen hält. Von diesem Grundsätze aus ist es auch begreiflich, daß durch Papst Leo XIII. im Jahre 1879 ein Scholastiker des Mittelalters, Thomas von Aquino, als derjenige Kirchenlehrer bezeichnet worden ist, an den sich die katholische Theologie in der Darstellung ihrer Lehre noch heute zu halten habe; die Lehre dieses Kirchenlehrers darzustellen und höchstens im Anschluß an die Beschlüsse der nach seiner Zeit gehaltenen Konzilien und publizierten Dekrete der Päpste weiter zu entwickeln — zu diesem Stillstände der Wissenschaft ist die katholische Theologie, chrem Prinzip entsprechend, auch auf dem Gebiete der Dogmatik verurteilt. 0 Byl. Nr. II. 2) Tie folgenden Abschnitte F—K, weitere Ausführungen der obigen Abschnitte, sind nur für den Lehrer bestimmt.

10 G. Die Entwickelung der evangelischen Glaubenslehre^) a. Wenn nun auch die evangelische Kirche ihren Glauben ausgesprochen findet in ihren Bekenntnisschriften, welche teils schon in der alten Kirche teils erst im Reformationszeitalter entstanden sind, so sind doch die Be­ kenntnisschriften (ebenso wie die Bibel) nicht wissenschaftliche Dar­ stellungen, sondern nur Urkunden unseres Glaubens, und die Wiffenschaft hatte nun die Aufgabe zu lösen, den in diesen Urkunden ausgesprochenen Glauben wisienschaftlich darzustellen. Diejenige Wiffenschaft, welche sich aber nur diese Aufgabe stellt, den in den Bekenntnisschriften enthaltenen Glauben wissenschaftlich darzulegen, nennen wir heute Symbolik; der Dogmatik weisen wir heute eine höhere Aufgabe zu.

Wenn nämlich auch die evangelische Kirche ihren Glauben ausgesprochen findet in ihren Bekenntnisschriften, so betrachtet doch der evangelische Christ alle diese Schriften nur als Bekenntnisse seines Glaubens, nicht aber als eine Norm für seinen Glauben, denn die einzige Regel und Richt­ schnur des christlichen Glaubens ist, wie die Concordienformel ausdrücklich sagt, die heilige Schrift. So wird denn nun in der Dogmatik der evangelische Glaube zwar dargestellt im Anschluß an die Bekenntnisschriften unseres Glaubens, aber die Dogmatik hat auch die Aufgabe, die Wahrheit des in dieser Weise dargestellten Glaubens darzulegen, indem sie nachweist, daß derselbe übereinsttmmt mit der heiligen Schrift. Wenn nun aber der „Schriftbeweis" für die Wahrheit des in den Be­ kenntnisschriften ausgesprochenen Glaubens nur in d e r Weise geführt würde, daß gezeigt würde, auf welche Bibelabschnitte die Reformatoren ihren Glauben gegründet haben, so wäre das wiederum nur eine historische Dar­ legung, mit welcher sich die Symbolik begnügen könnte, aber nicht die Dog­ matik, denn für den Dogmatiker handelt es sich nicht bloß darum, zu wissen, wie die Reformatoren ihren Glauben gewonnen und begriindet haben, sondern darum, darzulegen, daß und ob die Schriftauslegung der Reformatoren auch der heiligen Schrift völlig gerecht wird. Nach unserer Meinung ist ja die heilige Schrift im Laufe der Jahrhunderte nicht bloß im einzelnen immer richtiger verstanden und ausgelegt worden, sondern es ist auch die Bedeutung der heiligen Schrift im ganzen allmählich richtiger erkannt worden, als wenigstens die Nachfolger der Reformatoren sie erkannt haben. Die evangelische Glaubenslehre betrachtet es daher als ihre Pflicht, dem in der neueren Zeit gewonnenen richtigeren Verständnis der heiligen Schrift gerecht zu werden, und so kann es kommen, daß eine Lehrdarstellung der Bekenntnisschriften heute zunächst aus der heiligen Schrift anders begründet wird, als dies in der alten Zeit geschehen ist; aber es ist auch nicht ausgeschlossen, daß eine Lehre der Bekenntnisschriften nach der heiligen Schrift nm gestaltet werden muß, oder daß eine in den Bekenntnis-

*) Der für diese Wissenschaft übliche Titel Dogmatik, angebahnt durch den Jesuiten Petavius (1644) und den Protestanten Reinbart (1649), wurde seit dem Jahre 1720 allgemein üblich. Der Titel Glaubenslehre findet sich schon seit Spener (1688).

11 schriften gar nicht ober nicht ausreichend behandelte Lehre aus der heiligen Schrift hinzugefügt werden muß. So ist es schon von diesem Standpunkte aus zu begreifen, daß eine als Norm für alle Zeiten geltende Darstellung der evangelischen Glaubenslehre nicht vorhanden ist. Wenn nun die evangelische Theologie allmählich erkannt hat, daß die Wissenschaft berechtigt ist, die Welt und den Menschen selbständig zu erforschen, so war es kein Wunder, daß diese Forschungen auch auf die Darstellung des christlichen Glaubens eingewirkt haben. So ist denn die Darstellung des christlichen Glaubens seit der Reformation teils infolge der veränderten Betrachtung und Auslegung der heiligen Schrift, teils unter dem Einfluß der Wissenschaft, namentlich der Philosophie und der Naturwissenschaft, immer aufs neue umgestaltet worden. b. Wenn so durch die Jahrhunderte hindurch eine Reihe von Dog­ matikern aufgetreten ist, und wenn heute, wie auch ftüher, verschiedene Dogmatiker neben einander stehen, so kann der Religionslehrer der oberen Klaffen diese Entwickelung der Dogmatik nicht unbeachtet lassen, sondern er soll auch von diesen großen Männern (ebenso wie für andere Gebiete von den großen Männern der anderen Wissenschaften) lernen, wie er zu­ nächst für sein wissenschaftliches Bedürfnis, dann aber für das Bedürfnis der Schule den christlichen Glauben aufzufassen und dar­ zustellen hat. Es ist nun die Sache der wissenschaftlichen Handbücher, den Lehrer in die geschichtliche Entwickelung der Dogmatik vollständig einzuführen; hier sollen nur einige Grundzüge dieser Entwickelung dargelegt werden?) c. Die protestantische Glaubenslehre hat sich in folgender Weise entwickelt. a. In der ersten Periode, der reformatorischen, begegnet uns zwar bereits eine grundlegende Exposition des neuen Bewußtseins in lehrhafter Form, aber noch keine förmliche s y st e m a t i s ch e Dogmatik. Der Begründer der protestantischen Dogmatik war aber Philipp Melanchthon durch die Abfaffung seiner „Loci theologici“ (1521), von welchem Werke allmählich mehr als fünfzig lateinische und deutsche Ausgaben erschienen, die letzte von Melanchthon selbst besorgte im Jahre 1559.') Diesem Werke Melanchthons trat in der reformierten Kirche Calvins Institutio christianae religionis (1536) ebenbürtig zur Seite, deren letzte von Calvin selbst besorgte Ausgabe ebenfalls im Jahre 1559 erschien. Während diese beiden Werke zunächst noch mehr Bekenntnisschriften als Lehrschriften waren, gewannen doch beide bereits durch die Bearbeitung ihrer Verfasser und noch mehr durch die ihrer Nachfolger einen immer mehr lehrhaften Charakter, und allmählich bildete sich in der zweiten Periode der protestantischen Glaubenslehre eine Gestalt der Dogmatik aus, *) Für das Folgende mag der Lehrer, abgesehen von den ausführlichen (unten genannten) Werken, namentlich vergleichen bie Darstellung in dem dogmatischen Lehrbuch von Nitzsch (1889, 8 5 und 6). *) Genaueres über diese Schrift findet der Lehrer z. B. in der Kirchengeschichte von Möller-Kawerau III, S. 35—36.

12 welche man mit Recht als protestantische Scholastik bezeichnet hat. Es war das Zeitalter der Orthodoxie, welches diese Gestalt der Dogmatik hervorgebracht hat, das Zeitalter eines oft toten Buchstabenglaubens, bei welchem das Herz leer ausging. Die jetzt erscheinenden Dogmatiken tragen nämlich insofern einen scholastischen Charakter, als sie nicht mehr eine selbständige Reproduktion des christlichen Glaubens darstellen, sondern vielmehr die überlieferte Glaubenslehre (aber die lutherischen nicht mehr im Anschluß an Melanchthon, sondern, im Gegensatz zu Melanchthon, im Anschluß an die Concordienformel) so darstellen, als ob inhaltlich nichts mehr an ihr geändert werden dürfe, so daß es also nur noch einer genaueren Darstellung und begrifflichen Ausgestaltung der als unantastbar geltenden Satzungen der Bekenntnisschriften (bei den Lutheranern besonders der Concordienformel) bedürfe. Eine solche scholastische Dogmatik des 17. Jahrhunderts lernt der Lehrer kennen in der Neubearbeitung der Dogmatik eines im Jahre 1616 verstorbenen Dogmatikers durch einen Theologen der Neuzeit: Hase, Hutterus redivivus, wo von dem neueren Bearbeiter der Standpunkt der Scholastik festgehalten, aber auch die Ent­ wickelung der späteren Zeit unter Festhaltung des scholastischen Standpunktes berücksichtigt wird. Aus der evangelischen Glaubenslehre wurde nunmehr ein Kunststück des logischen Verstandes, ausgestattct mit dein Scheine einer tadellosen Wissenschaftlichkeit und einer tadellosen Schristgemäßheit, aber in Wahrheit nicht nur ohne religiöse Wärme, sondern auch ohne philosophische Tiefe, vor allem aber ohne eine gesunde und unbefangene Schristforschung, welche durch eine falsche Jnspirationslehre beherrscht tmirbe. ß. Das Ungenügende dieser neuen Scholastik kam den Theologen in der dritten Periode allmählich zum Bewußtsein, und die Scholastik wurde aufgelöst durch den P i e t i s m u s und den R a t i o n a l i s m u s. Wenn der Pietismus statt der von der Scholastik betonten „reinen Lehre" den „lebendigen Glauben" betonte, welcher sich in einem frommen Wandel bewähren müsse, so wurde dadurch die Darstellung der Glaubenslehre zwar beeinflußt, aber nicht um gestaltet. Dagegen wurde die Darstellung des christlichen Glaubens völlig umgestaltet durch den Rationalismus, in welchem statt der Bibel der Verstand den Inhalt des Glaubens zu bestimmen unternahm. Wenn die bisherige Dogmatik die Bibel als die von Gott buchstäblich diktierte Darstellung der Offenbarung betrachtet hatte, so war ja allerdings die Frage berechtigt, ob denn diese Behauptung richtig sei, und der Rationalismus hatte, wie wir meinen, recht, wenn er erklärte, daß die Lehre von der buchstäblichen Inspiration der Bibel eine unbegründete Behauptung sei. Aber der Rationalismus verwarf nun nicht bloß diese falsche Lehre, welche dazu erfunden worden war, um für den Glauben an die in der Bibel verkündete Offenbarung eine, wie man meinte, un­ entbehrliche Bürgschaft für die Wahrheit der Offenbarung zu gewinnen, sondern er verwarf auch die Offenbarung selber, indem er sich begnügen wollte mit derjenigen religiösen Erkenntnis, welche nach seiner Meinung jeder Mensch zu jeder Zeit von selbst erlangt, nämlich mit dem Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit. Diese Meinung, welche zuerst in England aufgekommen war, dann in Frankreich und etwas später auch in

13 Deutschland angenommen wurde, der sogenannte Deismus, beruhte auf der irrtümlichen Meinung, daß allen Religionen eine sogenannte natürliche Religion zu Grunde liege, welche als der allein berechtigte Kern aller historischen Religionen anzusehen sei, nämlich der Glaube an Gott, Tugend und Unsterblichkeit, und daß dieser Glaube ein unzweifelhaftes Ergebnis des sogenannten gesunden Menschenverstandes sei, während alle anderen Glaubenssätze als eitle Erfindungen der Phantasie oder als Irrtümer des Verstandes anzusehen seien. Da nun nach dieser Ansicht auch in der Religion dem Verstände (ratio) die entscheidende Stimme zukommt, so wurde diese Richtung, welche man in England zunächst als Deismus bezeichnet hatte, in Deutschland auch Rationalismus genannt, und da durch dieselbe die Menschheit über ihre bisherigen Irrtümer aufgeklärt werden sollte, so bezeichnete man diese ganze Denkweise, welche auch auf allen anderen Gebieten die lange gehegten Irrtümer beseittgen sollte, als Aufklärung. Es war ja nun zunächst ein durchaus berechtigtes Streben, wenn man das bisher Anerkannte der Prüfung des Verstandes unterwarf, und es war eine segensreiche Folge der Aufklärung, daß viele bisher geglaubte und geübte Dinge (Hexenglaube, Folter u. s. w.) beseitigt wurden — aber es war doch ein Irrtum, wenn man forderte, daß der Verstand allein über das Daseinsrecht jeder Einrichtung entscheide, und wenn man annahm, daß es einen gesunden Menschenverstand gebe, der zu allen Zeiten und bei allen Völkern dieselben Dinge als berechtigt und existterend anerkenne. Das erkennt man sofort, wenn man fragt, ob denn wirklich der vom Rationalismus festgehaltene Glaube an Gott, Tugend und Unsterblichkeit ein unzweifelhaftes Ergebnis des Verstandes sei. Wie viele Völker haben denn diesen Glauben? Warum enthalten denn die bestehenden Religionen noch so viele andere Dinge neben oder gar anstatt dieser drei Glaubens­ sätze? Ja, sogar schon die damalige Philosophie, wie sie durch Kant vertteten wurde, wies darauf hin, daß der menschliche Verstand nicht im stände sei, die Richtigkeit dieses Glaubens zu beweisen, und eine wenig spätere Richtung des Denkens, der Materialismus, hat ja auch diese drei Dinge als unrichtig verworfen. Trotzdem fand der Rationalismus damals eine allgemeine Anerkennung, und namentlich die Gebildeten stellten sich dieses angeblichen Fortschrittes, der sie von vielem Aberglauben befreit habe, und der „aufgeklärte Despotismus" suchte mit Gewalt die Völker von allem vermeintlichen Aberglauben zu befreien. Wie verhält sich nun der Rationalismus zum Christentum? Wenn Luther den Menschen frei gemacht hatte von der falschen Autorität der katholischen Kirche, aber dafür ihn gebunden hatte an die Autorität des in der heiligen Schrift vorhandenen wahren Christentums, so machte der Rattonalismus den Menschen von jeder Autorität frei und stellte ihn ganz auf sich selbst; jeder Mensch ist im Bösen und im Guten nur auf sich selber angewiesen; das Böse ist nur seine Schuld, und das Gute nur sein Verdienst. Diese Lehre ist nun aber gerade das Gegenteil der christlichen Lehre von der Sünde und der Gnade, nach welcher der Einzelne als Glied der Gemeinschaft nicht auf sich selbst sicht, sondern unter dem besttmmenden Einfluß der die Gemeinschaft besttmmenden

Mächte, sowohl des in ihr herrschenden Bösen, an welchem er teil hat durch die Erbsünde, als auch des in der Menschheit durch Gott gewirkten neuen Lebens, an welchem er Anteil erlangt durch den Glauben. So darf denn der Rationalismus einerseits als ein Kind der Re­ formation betrachtet werden, da er den Menschen, in Übereinstimmung mit Luther, auf sich selber stellt; aber der Rationalismus ist doch andrerseits auch als ein Abfall von der Reformation und vom Christentum anzusehen, weil er den Einzelnen nur auf sich selber stellt, statt ihn in die Gemein­ schaft einzugliedern und an dem Bösen und Guten derselben teilnehmen zu taffen. Der Mensch ist angeblich von Natur gut; wenn er irrt und fehlt, so geschieht das aus Thorheit; es bedarf nur der Belehrung, um ihn zu bessern, und das thut er aus eigener Kraft; er bedarf dazu nicht einer Erlösung, sondern nur einer Belehrung. Belehrung aber gewinnt er durch den Verstand, und daher spielt der Verstand beim Rationalismus eine so große Rolle; nur was der Verstand begreift, ist wirklich, und nur was dem Verstände als nützlich erscheint, ist wertvoll?) Ta nun jeder Mensch genug Verstand besitzt, um die Wahrheit zu erkennen, so bedarf er keiner Offenbarung, und alles, was die Religionen über die drei Glaubens­ sätze von Gott, Tugend und Unsterblichkeit hinaus enthalten, ist ein ent­ behrlicher oder sogar schädlicher Wahn, von dem sich der Mensch befreien kann und soll; jeder einzelne Mensch gelangt durch sich selber zur Wahr­ heit und zur Tugend. /. Aber wenn nun auch der Rationalismus mehr und mehr die herrschende Zeitrichtung wurde, so fehlte es doch nicht an Männern, welche eine andere Richtung vertraten, den SupraNaturalismus, welcher unter Preisgebung mancher einzelnen Lehre doch den Kern der alten Dogmatik zu erhalten suchte. Aber da cs dieser Richtung an einer festen Grundlage mangelte, so wurde sie zu immer neuen Zugeständnissen gedrängt, so daß schließlich beide Richtungen oft kaum noch von einander zu unter­ scheiden waren, und man von einem rationalen Supranaturalismus und von einem supranaturalen Rationalismus zu reden wußte. Da nun die alte Orthodoxie im Absterben begriffen war, und der Rationalismus die herrschende Zeitrichtung war, so war es vergeblich, daß unter Friedrich Wilhelm II. in Preußen durch das Wöllner'sche Religionsedikt (1788) den Geistlichen in ihrem Amte jede Ab­ weichung von der alten Kirchenlehre untersagt wurde; dasselbe wurde schon im Jahre 1797 durch Friedrich Wilhelm III. wieder aufgehoben, nachdem ein einziger Geistlicher, der sich besonders hartnäckig gezeigt hatte, seines Amtes entsetzt worden war. Es war auch vergeblich, daß der Hamburger Hauptpastor JohannMelchior Göze der neuen Zeitrichtung entgegen­ trat; sein Kampf mit Lessing wegen der Herausgabe der Wolfenbütteler Fragmente endete trotz des äußeren Sieges nicht zum Vorteil der Ortho­ doxie. Was Göze verteidigte, die alte Orthodoxie, war nicht mehr zu halten; was Lessing verteidigte, das Recht der freien Krittk, war nicht mehr zu unterdrücken; allerdings war auch Lessing noch nicht im stände. 9 Campe erklärte daher die Erfindung des Spinnrades für nützlicher als die Dichtung der Ilias und Odyssee.

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eine neue Theologie zu schaffen — das ist das Verdienst zweier Männer, Schleiermacher und Hegel, welche, obwohl von einander sehr ver­ schieden, doch in gleicher Weise dazu beigetragen haben, eine neue Theologie zu schaffen. 6. Mit Schleiermacher und Hegel beginnt nämlich die vierte Periode der protestantischen Dogmatik, auf welcher die Dogmatik der Gegenwart beruht. Es galt, die positiven Grundlagen der Reformation wieder zur Geltung zu bringen, aber in einer besseren Form, als in der Scholastik, und die Selbständigkeit des Menschen im Denken und Wollen festzuhalten, aber anders als im Rationalismus. War diesem schon der SupraNaturalismus entgegengetreten, welcher zwar nicht mehr die alte Jnspirationslehre, aber doch den Glauben an eine Offen­ barung Gottes festhielt, so hat doch erst Schleiermacher sowohl den Rationalismus als auch den das Wissen in der Religion allzu sehr betonenden Supranaturalismus überwunden, indem er für die Religion, welche damals das Gnadenbrot der Philosophie oder der Moral hatte effen müssen, wieder eine eigene Provinz im menschlichen Gemüte eroberte und das Gefühl als das alleinige Organ für das Unendliche betrachtete. Der christliche Glaube war ihm zunächst nicht ein System von meta­ physischen oder moralischen oder historischen Lehrsätzen, sondern ein Gemüts­ zustand, ein im unmittelbaren Bewußtsein gegebenes Leben, welches der Christ aus Christus zurückführt. Als Aufgabe der Dogmatik betrachtete Schleiermacher die Darstellung der Thatsachen des religiösen Gemütes in seiner positiv-christlichen Bestimmtheit und als Ausdruck des evangelischkirchlichen Gemeingeistes; damit hatte er sowohl das Recht des Einzelnen anerkannt, als auch die Bedeutung der Gemeinschaft wieder zur Geltung gebracht. Es war eine epochemachende That, als Schleiermacher im Jahre 1799 seine „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern" herausgab. Ten Irreligiösen, welche um ihrer Bildung willen vom Glauben sich abgewendet hatten, zeigte er, daß sie entweder dem Anspruch auf Bildung und Wiffen entsagen, oder die Religion anerkennen müßten als die höchste Blüte des Menschengeistes. Er zeigte ihnen, daß der Religion ein eigenes, selbständiges Gebiet im Geistesleben des Menschen zukomme, und zwar im Mittelpunkte des menschlichen Wesens; sie ist das Gefühl des im Gegensatze zu allem endlichen Leben unendlichen Lebens, nicht Wiffen oder Handeln, sondern zunächst nur Gefühl. Damit hat Schleier­ macher unzweifelhaft ein wesentliches Moment aller Religion zum Ausdruck gebracht, wenn er auch dabei vom Pantheismus ausgeht; man darf nämlich diese „Reden", um sie recht zu würdigen, nicht an dem Bollgehalt des Evangeliums meffen, sondern muß sie messen an der Flachheit und Armut der damaligen Zeitsttmmung, welcher Schleiermacher entgegentritt. Wenn nun auch Schleiermacher in seiner „Glaubenslehre" über diese Reden hinaus­ geschritten ist, so hat er doch schon durch seine „Reden" eine große Wirkung auf seine Zeitgenossen geübt; nicht bloß der Inhalt dieser „Sieben", sondern sogar die pantheistische Weltanschauung, die ihnen zu Grunde liegt, war für seine Zettgenoffen ein Fortschritt, indem sie durch dieselbe über den Deismus des damals herrschenden Rationalismus und über seine dürftige Auffassung der Religion emporgehoben wurden.

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Schleiermacher's Hauptwerk ist aber die im Jahre 1821 zuerst, im Jahre 1830 neu herausgegebene „Glaubenslehre". Dieselbe ruht zwar ebenfalls auf der pantheistischen Grundlage, welche seinen „Reden" zu Grunde liegt, steht aber doch dem christlichen Glauben viel näher als die „Reden". Wenn in der rationalistischen Dogmatik Christus nur als Lehrer und Vor­ bild dargestellt wurde, so wird er von Schleiermacher als der Erlöser dargestellt, und damit ist Schleiermacher dem evangelischen Christentum wieder nähergekommen. Sodann aber will Schleiermacher in seiner „Glaubenslehre" auch nicht bloß den Glauben eines einzelnen Christen, sondern den Glauben seiner Kirche darstellen, und auch in dieser Beziehung steht seine „Glaubenslehre" über der Glaubenslehre seiner Zeitgenoffen. Und endlich ist diese „Glaubenslehre" auch in formaler Beziehung über alle früheren Glaubenslehren hinausgeschritten, indem hier aus der Dar­ stellung einzelner Lehrstücke (loci) ein zusammenhängendes Ganze, ein System, geworden ist, indem die Erlösung durch Christus in den Mittel­ punkt gestellt und alles Einzelne zu diesem Mittelpunkte in Beziehung gesetzt ist. Seitdem betrachten alle Dogmatikers es als ihre Aufgabe, die Dogmatik als ein Ganzes darzustellen. Als ein solches vermochte aber Schleiermacher die Dogmatik zu erfassen, weil er nicht, wie die Supranatura­ listen und die Rationalisten, mehr oder weniger Lehren als Gegenstand des Glaubens ansah, welche von der Dogmatik darzustellen seien, sondern weil er in der Religion weder ein Wissen noch ein Thun sah, sondern ein besttmmtes Gefühl, so daß also die Glaubenslehre nicht Lehren für das Wiffen darstellt, sondern die Momente des religiösen Gefühls nach seinen realen Voraussetzungen, des religiösen Gefühls, welches in seiner Abhängigkeit von dem Urgründe alles Daseins seine Seligkeit begründet findet.

Wenn nun alle späteren Richtungen der Theologie (mit Ausnahme von Ritscht) auf Schleiermacher zurückgehen, so hat das darin seinen Grund, daß sie alle in der Dogmatik an Maßstäben festhalten, die sich nur auf Sttmmungen reduzieren lassen, da sie im letzten Grunde auf subjettive Eindrücke sich gründen. Die ganze Theologie der folgernden Zeit ist von der Glaubenslehre Schleiermacher's mehr oder weniger beeinflußt, aber eigentliche Schüler hat er nur wenige gehabt; als der bedeutendste derselben, der aber Schleier­ macher's Theologie zugleich selbständig weitergebildet hat, ist Schweizer zu nennen. (Christl. Glaubenslehre nach protestantischen Grundsätzen, 1863-1873, von Frank als eins der lesenswertesten Werke der neueren Zeit bezeichnet/-)) Neben dem Theologen Schleiermacher hat aber auch der Philosoph Hegel eine große Bedeutung für die Theologie gewonnen. Wenn diese beiden großen Zeitgenossen, die an derselben Universität wirkten (in Berlin), sich selber auch als fundamentale Gegner bettachteten, so waren sie doch von einander im wesentlichen nicht verschieden. Beide waren entschiedene

*) Ausgenommen die strengsten Lutheraner in Amerika, die Misjourier, welche bei den alten loci stehen bleiben wollen, weil ja Gott nur Stücke von seinen Geheimnissen offenbart habe. *) Geschichte und Kritik der neueren Theologie 1894, S. 149.

17 Gegner des Rationalismus, beide waren Pantheisten. Wenn freilich Schleiermacher die Religion für das schlechthinige Abhängigkeitsgefühl erklärte, so suchte Hegel dieselbe in der Vorstellung, und er war nun aller­ dings der Meinung, daß der Philosoph sich in seinem spekulativen Denken noch über das Gebiet der Vorstellung erhebe. Was nun für Hegel das spekulative Denken leistet, das leistet für Schleicrmacher das schlechthinige Abhängigkeitsgefühl — jeder gelangt auf seinem Wege zur Gemeinschaft deS Menschen mit der Gottheit, und zwar beide auf Grund einer pantheistischen Weltanschauung. Aber mit dieser pantheistischen Weltanschauung von Schleiermacher und Hegel war — und das ist als ein Fortschritt anzusehen — der deistische Standpunkt des Rationalismus wie auch des Supranaturalismus beseitigt, und der Pantheismus ermutigte die Theologen, im Christentum wieder eine ewige Idee und ein göttliches Leben zu erblicken.

Daß nun aber diese großen Männer mit ihrem Auftreten Erfolg hatten, das beruhte doch auch auf dem Charakter der Zeit, in welche ihr Wirkn fiel; es war die Zeit der Revolution, der Knechtung des Vaterlandes und der Erhebung zum Kampfe um die Frecheit; die Not lehrte auch hier wieder beten, was so mancher verlernt hatte. Unter diesen Umständen war es kein Wunder, daß auch das Reformationsfest des Jahres 1817 einen kräftigen Impuls zur Rückkehr zum alten Glauben gab — aber nicht etwa zum Luthertum oder zum Calvinismus, sondern zum evangelischen oder eigentlich nur zum christlichen Glauben, wobei der Unterschied der Konfessionen zunächst ganz zurücktrat, so daß die Union der getrennten evangelischen Kirchen als eine selbswerständliche Sache erschien. e. An Schleiermacher und an Hegel hat sich nun die neueste Entwickelung der protestanttschen Dogmatik, die fünfte Periode der­ selben, angeschlosien, allerdings in verschiedener Weise, teils die Anfichtm dieser beiden Theologen weiter entwickelnd und ergänzend, teils mehr zum älteren Standpunkte der Dogmatik zurücklenkend.

So tritt uns denn zunächst eine Richtung der Dogmattk entgegen, die spekulative Dogmatik, welche vornehmlich an Hegel anknüpst. Eine zweite Richtung der Dogmattk, die Dogmatik der Ber­ mittelungstheologie, knüpft vornehmlich an Schleiermacher an. Eine dritte Richtung, die konfessionelle Dogmatik, lenst zurück zur älteren Dogmattk. Diesen drei Richtungen der Dogmatik stehen dann noch zwei andere zur Seite, welche eine noch größere Selbständigkeit zeigen, eine biblische Dogmatik und die Dogmattk von Ritschl; der Stteit für und wider Nitschl ist der dogmattsche Hauptstreit der Gegenwart.

aa. Die erste Gruppe der neueren Dogmattker bilden die spekula­ tiven Dogmatiker, welche sich zwar auch an Schleiermacher, aber doch besonders an Hegel anschloffen, deffen Philosophie in der ersten Hälfte de- 19. Jahrhunderts eine ebenso große Anerkennung gefunden hatte, wie die von Kant in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Zwar das erwies sich als eine Selbsttäuschung, was manche Anhänger Hegel's (z. B. Marheineke) behaupteten, daß in der Hegel'schen Philosophie die voll­ ständige Versöhnung von Glauben und Wissen bereits gewonnen sei; es Heidrich, Glauben-lehre.

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trat vielmehr nach dem Tode des großen Philosophen (1831) unter seinen Anhängern eine Spaltung ein, und die beiden Parteien gingen immer weiter auseinander. Die eine derselben entfernte sich noch viel weiter vom Christentum, als der Rationalismus, so daß sie das Christentum eigentlich überhaupt beseitigte (Strauß), ja schließlich auch die Religion (Feuerbach) und sogar die Sittlichkeit (Stirner, der Einzige und sein Eigentum) aufgaben und beim Materialismus anlangten, der in Frankreich (von den Encyklopädisten) schon im 18. Jahrhundert vertteten worden war. Dagegen gelangte eine andere Partei von Hegel aus zu ganz anderen Ansichten, indem sie, zugleich an Schleiermacher sich anschließend, dem Christentum sich immer mehr näherten und dasselbe mit der Philosophie zu vereinigen suchten.

Wenn Ferdinand Christian Baur (f 1860), ein Schüler Hegels, das Haupt der sogenannten Tübinger Schule, zunächst als Kritiker der heiligen Schrift gegen Sttauß aufgetreten war (Paulus, der Apostel Jesu Christi, 1845; dre kanonischen Evangelien, 1847), in der Absicht, über dessen bloß negative Resultate hinauszukommen, so ist er später auch als Dogmenhistoriker aufgetreten (Die christliche Lehre von der Versöhnung, 1838; Die christliche Lehre von der Dreieinigkeit und Menschwerdung Gottes, 1841—43; Dogmengeschichte), und zuletzt als Kirchenhistoriker (1853—1860), und in seiner Kirchengeschichte hat er, mehr als in den dogmengeschichtlichen Werken, sich als einen Forscher gezeigt, der sich ernstlich bemüht hat, geleitet von der Philosophie, aber nicht von ihr beherrscht, das Christentum in seinem Wesen und in seiner Entwickelung zu begreifen. „Man kann auch jetzt von ihm noch viel lernen, und ein Moment der Wahrheit ist jedenfalls in seinen Kritischere Aufftellungen enthalten" — das hat ein Gegner von ihm anerkannt?) Wenn Baur namentlich als Kritiker Bedeutendes geleistet hat, so sind als Dogmatiker dieser Schule namentlich Biedermann, Pfleiderer und Lipsius zu nennen. ßß. Eine zweite Gruppe von Dogmatikern ist hervorgegangen aus der sogenannten Vermittelungstheologie, als deren Vertreter namentlich Nitzsch (der ältere), I. Müller, Dörner und Martensen zu nennen sind. Ihren Namen s verdankt diese Richtung zunächst dem Stteben, die im Jahre 1817 ins Leben getretene Union wissenschaftlich zu rechtfertigen, indem sie auf die wesentliche Einheit des lutherischen und des reformierten Glaubens hinwies. Ebenso suchte man aber auch zwischen Theologie und Philosophie zu vermitteln, und darin berührt sich die Bermittelungstheologie mit der spekulattven Theologie; während aber die spekulattve Theologie zunächst von der Philosophie ausgeht, geht die Ver­ mittelungstheologie zunächst vom Christentum aus, das in der Bibel gegeben und in den Bekenntnisschristen bezeugt vorliegt; aber das zunächst Gegebene auch als wissenschaftlich begründet zu erweisen und in seinem Wesen zu verstehen, das ist die zweite Aufgabe der Ber­ mittelungstheologie. *) Frank, Geschichte und Kritik der neueren Theologie (1894), S. 179. *) Den vielleicht Hagenbach zuerst gebraucht hat.

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Im Anschluß an die Vermittelungstheologen sei hier noch auf einen ganz selbständigen Dogmatiker hingewiesen, welcher ebenfalls sowohl den Inhalt der heiligen Schrift streng festhalten, als auch der Wissenschaft gerecht werden will, aber doch zu ganz anderen Resultaten kommt als die Vermittelungstheologie. Rothe (t 1867) giebt nämlich in seiner „Theologischen Ethik" eine Zusammenfassung des dogmatischen und ethischen Stoffes, welche beruht auf einer eigentümlichen theosophischen Spekulation, die sich verbindet mit strengem Glauben an den Inhalt der heiligen Schrift. Sein Streben war darauf gerichtet, das ganze Leben dem Christentum zu unterwerfen, aber in der Weise, daß die Kirche allmählich int Staate aufgeht, daß auch diejenigen, welche heute dem kirchlichen Christentum fremd gegenüberstehen, als Christen anerkannt werden und sich selber erkennen. Diesem Ziel sollte auch der unter Rothes Mitwirkung und ngch seinen Jdeeen im Jahre 1863 gestiftete Protestantenverein dienen. yy. Wenn man nun am Anfänge des 19. Jahrhunderts wie auf allen Gebieten des Lebens, so auch auf dem der Religion in der Rückkehr zum Alten das Heil erblickte, so geriet man in Gefahr, Zustände zurückführen zu wollen, welche für die neuere Zeit nicht mehr paßten, in die Gefahr einer ungesunden Reaktion, wie die Romantiker sie träumten. Dieser Ge­ fahr ist auch die Dogmatik nicht entgangen; auch hier hat man versucht, zur alten Orthodoxie einfach wieder zurückzukehren, und ein Buch, welches herausgegeben wurde, um die alte Dogmatik historisch darzustellen/) wurde von vielen als ein Lehrbuch ihres Glaubens angesehen.

Diese Wendung in der Theologie spiegelt sich besonders deutlich in der von Hemgstenberg (f 1869) seit dem Jahre 1827 herausgegebenen Evangelisch en Kirchenzeitung. Wenn dieselbe zunächst nur den Rattonalismus bekämpfte (allerdings seit dem Jahre 1830 auch schon in einer solchen Weise, daß Nean der und andere Theologen sich von Hengstenberg lossagten), so bekämpfte sie seit dem Jahre 1840 auch den bis dahin als berechtigt anerkannten Pietismus, und seit dem Jahre 1848 auch die bis dahin als berechtigt anerkannte Union, um fortan das strengste Luthertum als allein berechttgt anzuerkennen. Rückkehr zum Buchstaben der alten lutherischen Orthodoxie, das war fortan die Losung der Evange­ lischen Kirchenzeitung und ihres Anhangs. Aber daß eine Zeit von hundert Jahren, das Zeitalter des Ratio­ nalismus, aus der Geschichte einfach gestrichen wird, ist schwer auszuführen, und wenn es möglich gewesen wäre, den Rationalismus ganz zu beseitigen, mußte dann nicht auch manches mit beseitigt werden, was an der rattonalisttschen Theologie berechtigt war? Der Rationalismus hat eine Sette der heiligen Schrift ausschließlich hervorgehoben, nämlich ihre menschliche Seite, welche von der Orthodoxie gar nicht beachtet worden war, welche sie infolge ihrer Lehre von der buchstäblichen Inspiration der heüigen Schrift auch gar nicht beachten konnte. Daß es aber nicht möglich ist, zur alten Jnspirattonslehre, der Grundlage der alten Orthodoxie, zurückzukehren, wird unten genauer dargelegt werden,') und wenn nun,

Hutterus redivivna.

20 tote dort gezeigt wird, eine Wiederaufnahme dieser Lehre sich als nicht möglich erweist und von der neuen Orthodoxie auch nicht erreicht toorben ist, so ist es kein Wunder, daß nach Aufgebung der Grundlage der alten Glaubenslehre auch der Inhalt derselben nicht unverändert wieder ausgenommen worden ist. Wenn man nämlich meinte,1) daß die alte Dogmatik, wie sie nicht bloß in der evangelischen, sondern in der ganzen Kirche, wesentlich durch Athanasius, Augustinus und Luther, entwickelt worden war, unverändert aufrechtzuhalten und nur noch in den noch nicht in dieser Weise behandelten Lehrpunkten (Kirche, Sakramente und Eschatologie) noch weiter entwickelt werden könne, so erwies sich das — abgesehen davon, daß ein solcher Standpunkt nicht mehr evangelisch sondern katholisch ist — als eine Selbsttäuschung; denn als man von diesem Standpunkte aus nun dazu schritt, den alten Glauben für die Gegenwart darzustellen,*) da traten doch so bedeutende Abweichungen von demselben hervor, daß von einer bloßen Wiederherstellung des alten Glaubens nicht die Rede sein konnte, sondern ein neues Luthertum sich bildete, welches über das a l t e hinausging. So trat denn zunächst ein Alt­ luthertum dem Neuluthertum gegenüber, und innerhalb beider Richtungen und zwischen beiden Richtungen kam es zu argen Stteitigkeiten über einzelne Lehren. Wenn in der Lehre von der Person Christi nicht bloß die altortho­ doxe Lehre wiederhergestellt werden sollte, so mußte versucht werden, die­ jenige Aufgabe zu lösen, welche von der Orthodoxie nicht gelöst worden war, das in der heiligen Schrift gezeichnete echt menschliche Leben Jesu begreiflich zu machen. Das wurde nun versucht, indem man sich entweder der arianischen Christologie näherte (Kahnis), oder indem man die von der Concordienformel schon im voraus ausdrücklich verdammte Lehre von der Kenosis aufnahm und durchführte (Thomasius und Geß). Da die Anselm'sche Versöhnungslehre nicht auf dem Boden der heiligen Schrift erwachsen war, so versuchte Hofmann die Lehre vom Werke Christt neu zu gestalten. Sogar die Rechtfertigungslehre sollte umgestaltet werden, das Hauptdogma des evangelischen Christentums (H e n g st e n b e r g). Noch be­ denklicher war es, daß eine halb oder ganz katholische Lehre von den Sakramenten, der Kirche und dem geistlichen Amte aufgestellt wurde. Wie durfte man bei so wesentlichen Abweichungen von der alten Orthodoxie noch behaupten, die Aufgabe der Dogmatik sei gelöst, wenn man einfach zu den evangelischen Bekenntnisschriften zurückkehre'. So ist es kein Wunder, daß in der neueren Zeit immer aufs neue versucht worden ist, den von den Vätern ererbten in den Bekenntniffen niedergelegten Heilsglauben, wie er sich auf die heilige Schrift gründet, in einer wissenschaftlich mehr befriedigenden Weise zur Darstellung zu bringen. M Als von der alten Kirchenlehre ein Stück nach dem andern preis­ gegeben wurde, da zogen sich manche Theologen auf die Bibel zurück, als die Grundlage des rechten Glaubens, aber nicht, weil sie weniger glauben

x) Thomasius in seiner Dogmengeschichte. *) Das ist namentlich durch die Erlanger Theologen (Hofmann, Thomasius, Delitzsch) geschehen.

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wollten als die alten Orthodoxen, sondern weil fie in dem orthodoxen System nicht den ganzen Inhalt der Bibel fanden; fie sahen — mit Recht — in der Bibel eine zusammenhängende, sich immer weiter ent­ wickelnde Offenbarung, welche von der Orthodoxie nur zum Teil erfaßt wordm sei. Der Hauptvertreter dieser Richtung der Theologie war im vorigen Jahrhundert Johann Albrecht Bengel (f 1752). Wenn Bengel auch in manchen andern Punkten sich von der Ortho­ doxie entfernte, so spielte in seinem Christentum eine besonders große Rolle die Lehre von den letzten Dingen, welche er im Anschluß an den Buch­ staben der Bibel, namentlich auch des Alten Testaments, bis ins Einzelne hinein entwickelte. Er wollte aus der Bibel erkannt haben, daß da­ tausendjährige Reich vom Jahre 1836—2836 dauern werde; seine An­ hänger haben sich durch die Nichterfüllung dieser Hoffnung nicht irre machen laffen, sondern gemeint, daß in der Rechnung Bengels ein kleiner Fehler stecke; wir meinen, daß Bengel einen großen Fehler gemacht hat: er rechnet mit den sinnbildlichen Zahlen der Bibel, als wärm es wirkliche Zahlen; wenn Jesus erklärt hat, daß Tag und Stunde seiner Wiederkunft nur dem Vater bekannt sei, auch ihm selber nicht, so wird wohl bei solchen Rechnungen nichts herauskommen.

Wenn nun Bengel bei dem Bibelworte stehen blieb, so verbanden andere mit demselben naturwiffenschastliche und philosophische Gedanken, und stellten ein nicht mehr biblisches sondern theosophisches System auf, in welchem sie alles Wissen zusammenfassen wollten; das war namentlich das Streben von Letinger (f 1782). Was Bengel und Oetinger als Lehre der Bibel gewonnen haben, ist zwar in manchen Punkten beachtenswert, aber es enthielt doch auch gar vieles, was in die Bibel hineingetragen war; es bedurfte einer strengen Sichtung — und diese vorzunehmen, ver­ suchte ein Mann unseres Jahrhunderts, welcher ebenso wie Bengel — aber sich frei haltend von Oetinger's über die Bibel hinausgehenden Spekulationen — nur die Gedanken der Bibel zu einem Lehrsystem verarbeitm wollte; es ist dies Johann Tobias Beck (f 1878). Wenn Beck ein theologisches System aufftellt, welches angeblich nur der Bibel entstammt und den Inhalt derselben vollständig wiedergiebt (vollständiger und treuer, als die Bekenntnisschristm), so ist doch auch bei ihm, wie naturgemäß bei jedem Dogmatiker, seine eigentümliche Betrachtung der Bibel eine zweite Quelle der Darstellung. Beck steht nämlich allerdings aus dem Standpunkt des orthodoxesten Bibelglaubens, der jedes einzelne Wort der Bibel betonen zu müssen glaubt; aber er steht nun auch auf dem Standpunkte des entschiedensten Pietismus, der in der Welt und ihrer Entwickelung nur etwas sieht, was dem Reiche Gottes fremb oder feindlich gegenübersteht, so daß der Christ sich aller weltlichen Dinge gänzlich entschlagen muß, um ein wahrer Christ zu sein, während doch der Apostel sagt: „Alles ist euer", und nach unserer Meinung das weltliche Leben durch das Christentum schon jetzt (nicht erst im tausendjährigen Reiche, wie Beck meint) geheiligt werden soll?)

") Der bekannteste Schüler Beck's ist Kübel.

22 ee. Wenn nun den bisher genannten theologischen Schulen in der neueren Zeit noch eine neue zur Seite getreten ist, nämlich die von Ritschl (Rechtfertigung und Versöhnung; Unterricht in der christlichen Religion), als dessen Gesinnungsgenossen vornehmlich zu nennen sind Hermann (Der Verkehr des Christen mit Gott), Kaftan (Dogmattk) und Harnack (Dogmengeschichte), so ist mit dieser Richtung der Theologie diejenige Richtung bezeichnet, um deren Bedeutung in der Gegenwart hauptsächlich der Streit sich dreht. Ich lasse zur Charakterisierung dieser Richtung zwei Männer verschiedener Richtung reden?) „Soweit ich ^) mir die Bedeutung von Ritschl klar gemacht habe, ruht sie darin, daß er wirklich mit Schleiermacher's Methode völlig und glücklicher als irgend einer gebrochen hat, indem er nicht vom „frommen Bewußtsein" ausgeht, sondern vom „Evangelium"; die Dogmatik ist für ihn nicht Schilderung oder Ausdeutung eines Thatbestandes von Frömmigkeit, sondern Nachweis der Norm aller Frömmigkeit. Wenn nun Ritschl das Evangelium zum Ausgangspunkte der Dogmatik macht, so ist ihm dabei immer alles einheitlich zusammengefaßt in der „geschichtlichen Person Christt"; Christus ist ihn: der Erkenutnisgrund für alles an Gott. Aber wenn auch Ritschl vom Evangelium aus geht, so hindert ihn das nicht, die Dogmengeschichte und die Symbolik im weitesten Umfange zu benützen; es war ihm unverborgen, wie dringend der Dogmattker der Kenntnis von der Arbeit seiner Vorgänger bedarf, um seiner Aufgabe genügen zu können. Für ihn ist aber die Togmengeschichte nicht, wie für Hegel, ein von immanenter Notwendigkeit oder Sicherheit beherrschter Prozeß, auch nicht, wie für Thomasius, die successive Selbstexplikation des christlichen Bewußtseins in der Kirche, sondern die Geschichte der Bemühung der christlichen Theologen um die Wahrheit, oft auf Fehlwege hinaus­ geführt, oft auf Höhen geführt, am höchsten von Luther." Aber wenn nun diese Methode Ritschl's nicht zu verwerfen ist, so werden doch die Ergebnisse, zu denen er gekommen ist, von anderer Seite3) sehr ungünstig beurteilt. „Es gehört zunächst zu den Eigentümlichkeiten dieser theologischen Richtung, daß sie über manches, was sonst Gegenstand dogmatischer Aus­ sage ist, schweigt, weil es — nach ihrer Meinung — nicht Gegenstand der Erkenntnis sein könne, oder, wo sie sich ausspricht, durch schwebenden Ausdruck ihre Meinung eher verhüllt als verdeutlicht. Wenn diese Richtung noch dazu kommt, daß sie ein größeres dogmatisches Lehrganze aufzustellen sucht/) so wird dasselbe nur dazu beitragen, den prinzipiellen Bruch mit der gesamten christlichen und kirchlichen Anschauung ans Licht zu bringen. Durch eine mangelhafte Lehre von Gott, welche nur seine Liebe betont, wird die Lehre von dem Erlösungswerke linb auch die vom Erlöser ver­ derbt. Für den Gott, der nur die Liebe ist, bebarf es keiner Sühnung y Vgl. Kattenbusch, Bon Schleiermacher zu Ritschl, Geschichte und Krittk der neueren Theologie, 1894. 2) Kattenbusch. *) Frank. 4) Das ist im Jahre 1898 durch Kaftan geschehen.

1892;

Frank,

23 unserer Sünden ; ein Erlösungswerk, welches Jesus Christus vollbracht hätte, um den Menschen die Vergebung der Sünden zu verdienen, giebt es nicht. Christus ist der Dolmetscher des göttlichen Liebeswillens, der in diesem Berufe sich bis in den Tod bewährt hat. Da er Gottes Auftrag erfüllt hat, so darf er von der Gemeinde „als Gott beurteilt werden", aber der Sohn Gottes im Sinne der christlichen Kirche ist er nicht; die Kirchenlehre von Christus beruht auf alexandrinischen Vor­ stellungen, welche schon die Apostel mit der Person Christt verbunden haben. Für die ganze Dogmengeschichte zu zeigen, daß das Dogma in seiner Konzeption und in seinem Ausbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums sei, hat sich Harnack zur Aufgabe gemacht: „daher habe das Dogma auch nur für eine bestimmte Zeit der Kirche Gültigkeit". ff. „Es mag genug sein, um die Wandlungen zu charakterisieren, welche seit Schleiermacher mit der evangelischen Theologie vor sich gegangen sind. Es hat sich damit aufs neue erwiesen, was in analoger Weise auch die frühere Geschichte der Theologie zu erkennen giebt, durch wie mancherlei Hebungen und Senkungen, Anläufe und Rückgänge der Glaube und mit ihm die Glaubenserkenntnis hindurchgeht. Aber auch zu einer mangel­ haften Theologie sollen wir uns nicht einfach ablehnend verhalten; denn alle Kraft des Irrtums besteht in den Wahrheitselementen, die er sich angeeignet hat uud die er mißbraucht. Achten wir darauf, daß wir diese Wahrheitselemente nicht verkennen, sondern der kirchlichen Theologie zu Nutz und Frommen verwenden'."*)

H. Die verschiedenen Richtungen der Theologie in der Gegenwart, a. Die kirchliche Glaubenslehre ist zusammengesetzt aus drei Dingen, nämlich evangelischen Wahrheiten, religiösen Reflexionen und natürlicher Welterkenntnis. Die in der Bibel enthaltene evangelische Wahrheit ist der bleibende Kern, die religiösen Reflexionen über die biblischen Wahr­ heiten und die Welterkenntnis, auf welchen die Darstellung des christlichen Glaubens beruht, sind die veränderlichen Schalen dieses Kernes; insofern ist auch die christliche Glaubenslehre nicht unveränderlich. Das zeigt sich z. B. deutlich, wenn wir daran denken, daß das Kopernikanische System von beiden Kirchen zunächst als widerchristlich bekämpft worden ist; wer dasselbe noch heute aus diesem Grunde bekämpft, der macht den christlichen Glauben lächerlich; die christliche Theologie darf die gesicherten Er­ gebnisse der weltlichen Wissenschaft nicht unbeachtet lassen?) Und was von der weltlichen Wissenschaft gilt, das gilt auch von den religiösen Reflexionen über die biblischen Wahrheiten; auch sie sind der Veränderung unterworfen, und die oben dargelegte Entwickelung der Theologie hat gezeigt, in wie verschiedener Weise der evangelische Glaube dargestellt werden kann. F rank, Geschichte und Krittk der neueren Theologie^ Schluß. Genaueres über das Verhältnis der Theologie zur Wissenschaft siehe unten,

Nr. K.

24 Ja, auch die biblische Wahrheit, der bleibende Kern der Glaubens­ lehre, ist hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Darstellung nicht unverändert geblieben. Die Weise, wie unsere Väter die heilige Schrift betrachtet haben, ist mit der unseren doch nicht ganz übereinstimmend. Die Umgestaltung der Betrachtung der heiligen Schrift beruht aber vor allem darauf, daß die Jnspirationslehre der alten Dogmatiker heute allgemein aufgegeben worden ist. Sodann aber hat auch erst die neuere Theologie gelernt, auf die allmähliche Entwickelung der Offen­ barung ein größeres Gewicht zu legen. Endlich ist auch erst in der neueren Zeit die Kritik, die überall angewandt wird, auch auf die Bibel angewandt worden?) Infolge dieser veränderten Betrachtung der Bibel ist auch die Theologie eine andere geworden. b. Wenn nun manche Theologen in dieser Umgestaltung der Theologie nur einen Abfall vom Glauben der Väter sehen, so daß es also die Auf­ gabe unserer Zeit wäre, einfach wieder zum Glauben der Väter zurück­ zukehren, so sind andere bereit, die Notwendigkeit dieser Entwickelung zu­ zugestehen, aber sie fordern mit Recht, daß die Theologie nicht bei der Auflösung des alten Glaubens stehen bleibe, sondern in neuer Weise der Aufgabe gerecht werde, den in seinem innersten Wesen festgehaltenen Glauben der Reformatoren auf Grund der neueren Betrachtung der heiligen Schrift und unter Berücksichtigung der sicheren Ergebnisse der neueren Wissenschaft in einer den Anforderungen unserer Zeit entsprechenden Weise darzustellen. c. Wenn nun in dieser Forderung fast alle Richtungen der neueren Theologie mit einander übereinstimmen, so ist es doch kein Wunder, daß in der evangelischen Theologie der Gegenwart, wie schon des vorigen Jahrhunderts, zwei große, prinzipiell von einander verschiedene Richtungen einander gegenüber stehen; das ist nämlich gar wohl zu begreifen, wenn man bedenkt, daß in der evangelischen Theologie zwei Prinzipien zugleich anerkannt werden, nämlich einerseits die Gebundenheit der Theologie an die heilige Schrift, aber andererseits auch die Freiheit der Auslegung der heiligen Schrift. Wer nur von einer kirchlich gebundenen Theologie etwas wissen will, der kann sich allerdings nimmermehr verständigen mit demjenigen, der nur eine unbedingt freie Theologie anerkennen will; aber diese Extreme sind heute eigentlich nicht mehr vorhanden, sondern auch die freie Theologie be­ trachtet sich als an die heilige Schrift gebunden, und die an die Kirchen­ lehre gebundene Theologie bestreitet nicht die Freiheit der Theologie. d. So darf man denn wohl behaupten, daß die beiden Richtungen in der heutigen Theologie einander näher gekommen sind, als sie es im 18. Jahrhundert waren, und man darf hoffen, daß durch die Verschieden­ heit der Theologie nicht eine Spaltung unserer Kirche hervorgerufen werden wird. Daß trotz der Verschiedenheit der theologischen Ansichten ein gemein­ sames Wirken in der Kirche möglich ist, das hat sich deutlich bei den Verhandlungen der Generalsynode über die preußische Agende gezeigt, und das zeigt sich immer aufs neue bei den Verhandlungen auf dem sozialen Kongreß, wo die verschiedensten Richtungen der Theologie vertreten sind und doch im Frieden das Beste der Kirche zu erkennen und einzuführen sich bemühen. Darum ist es auch möglich, daß Pastoren von verschiedener *) Genaueres über diese Fragen ist unten dargelegt; vgl. Nr. J.

25 theologischer Richtung in der einen evangelischen Kirche, ja, in einer Gemeinde neben einander in Frieden und Segen wirken, wenn derjenige, welcher sich an die Kirchenlehre gebunden glaubt, doch die Frecheit der Bibelauslegung nicht prinzipiell verwirft, und derjenige, welcher sich zu einer freieren Richtung der Theologie bekennt, doch an die heilige Schrift sich gebunden erachtet und außerdem als dazu verpflichtet, das Bekenntnis seiner Kirche, wenn er es auch nicht für der Bibel ganz entsprechend hält, doch nicht ausdrücklich zu bekämpfen. Wenn beide Richtungen in dieser Weise wirken, dann haben sie beide eine gemeinsame Basis in der heiligen Schrift, und wenn in der heiligen Schrift selber doch ebenfalls verschiedene Standpunkte des Glaubens vertreten sind, nicht bloß im Unterschiede des Alten und des Neuen Bundes, sondern auch unter den Aposteln (z. B. Jakobus und Paulus), so wird diese Verschiedenheit der Predigt in der Kirche heute ebenso wenig die Einheit der Kirche zerstören, wie das in der apostolischen Zeit geschehen ist.

e. Es versieht sich nun von selbst, daß mit dieser Betrachtung der Entwickelung der protestantischen Theologie und mit der Anerkennung der Berechtigung verschiedener Standpunkte in unserer Theologie nicht alle Theologen einverstanden sind. Zwar ist ja noch heute „ein tiefer Graben zwischen alter und moderner Theologie", wie ein neuerer, strenggläubiger Theologe gesagt hat/) und der Lehrer findet den Unterschied der beiden Richtungen in dem Buche eines bibelgläubigen Theologen ausführlich dar­ gestellt;-) aber auch strenggläubige Theologen haben anerkannt, daß „auch die Theologie unserer Orthodoxesten ein durchaus anderes Antlitz hat, als die unserer Vorfahren vor 200 Jahren, daß es eine nach dem Wortlaut der symbolischen Schriften korrekte Orthodoxie heute gar nicht mehr giebt."8*)* *

Infolge dessen giebt es heute natürlich (wie auch ftüher, wo Ortho­ doxie und Pietismus, später Rationalismus und Supranaturalismus mit einander kämpften) die heftigsten Kämpfe zwischen den verschiedenen Richtungen in der Theologie, und es dürfte so bald nicht zum Frieden zwischen den verschiedenen theologischen Richtungen kommen. Gegenüber diesem Gewirr der Kampfesstimmen ertönen doch aber auch immer wieder Stimmen des Friedens, und zwar von beiden Seiten, und mit zwei Worten des Friedens aus den beiden getrennten Lagern soll meine Darstellung schließen.

„Daß es evangelische Theologen giebt, die mit ihrer Lehre jenseits befielt stehen, was christlich und evangelisch ist, kann ich nicht leugnen. Aber ich möchte doch behaupten, daß das Einigungsband, welches alle im Dienste der Kirche arbeitenden Theologen trotz ihrer reichlichen dogma­ tischen Differenzen verbindet, die Erkenntnis und Lehre von der Recht­ fertigung aus Gnaden ist, und zwar Rechtfertigung des Sünders, des von Natur sündhaften Menschen, der nicht aus eigner Kraft und Vernunft an Jesum Christum glauben oder zu ihm kommen kann, durch die freie Gnade unsers Vaters im Himmel. Diesen Grundgedanken *) Delitzsch, Der tiefe Graben zwischen alter und moderner Theologie. 8) Kübel, Uber den Unterschied zwischen der positiven und der liberalen Richtung in der Theologie. 8) Kähler in „Kirchl. Monatsschrift" (Organ der positiven Union) I, 1.

26 unseres reformatorischen Bekenntnisses finde ich bis tief in die Reihen einer vornehmlich kritisch, skeptisch oder spekulativ gerichteten Theologie lebendig. Ich behaupte das, trotzdem ich die großen dogmatischen Gegensätze, welche hinsichtlich der Lehre von der Erbsünde, von Christus, von der Versöhnung innerhalb unserer Theologie bestehen, sehr wohl kenne. Diese vorhandenen Minungsverschiedenheiten geben aber meines Erachtens kein Recht, den in der modernen Theologie dennoch weithin lebendigen evangeli­ schen Rechtfertigungsgedanken geringzuschätzen und ihr zu sagen, sie gehe von Vorurteilen aus, welche es ihr unmöglich machen, das von einem Paulus oder Luther Erlebte nachzuerleben." *) Das zweite dieser Friedensworte lautet: „Für uns ist der Gegensatz des alten und neuen Glaubens nicht ein Gegensatz von Glauben und Unglauben. Gegenüber dem alten Liberalismus, der überhaupt keine Religion, sondern nur Moral kannte und einen deistischen Gottesbegriff ohne Gottheit zur Schau trug, war die Anklage auf Un­ glauben vielfach berechtigt: die moderne Theologie will religiös sein, nicht moralistisch, sie will auch der Kirche dienen, nicht sie zerstören. So sehr wir ihren Einfluß beklagen und bekämpfen, gilt doch für das Verhältnis zwischen den kritischen Theologen und uns das Gebot der Bruderliebe. Wir mögen überhaupt das einfache Absprechen über den Glauben nicht leiden. Mancher kann in seinem theologischen Standpunkt, zumal wenn er Alttestamentliche Forschungen treibt, weit nach links stehen und die Neutestamentliche Wahrheit doch freudig bekennen. Solche Widersprüche zwischen Kopf und Herz sind sehr verbreitet, und Gott urteilt nicht nach der Theologie sondern nach dem Glauben. Philippus nannte Jesum Josephs Sohn von Nazareth: dennoch nahm ihn Jesus in die Schar seiner Jünger auf, daß er darin ausreife. Gewiß hätte Philippus nicht Apostel werden können, wenn er Christus nicht als eingeborenen Sohn Gottes bekannt und die Auferstehung geleugnet hätte; aber die einfache Thatsache, daß Jesus ihn mit seinem kleinen Anfangsglauben aufnahm, spricht ganze Bücher über die Duldsamkeit und Weitherzigkeit, die wir Christen unsern Glaubensgenossen schuldig sind. Wer Christum als seinen göttlichen Er­ löser und das Christentum als die absolute Wahrheit bekennt, den halten wir für einen Christen, auch wenn die Theologie eines solchen Bekenners viel zu schwach ist, um seinen Glauben zu tragen."-) Gott gebe, daß diese Mahnungen zu gegenseitiger Duldung von beiden Parteien immer mehr beherzigt werden!

J. Die evangelische Theologie und die Bibel. Wenn die ältere evangelische Theologie den christlichen Glauben dar­ stellte, so stützte sie ihre Sätze allerdings nicht mehr (wie die Katholiken) auf die Aussprüche der Concilien und die Erklärungen der Päpste, als der unfehlbaren Verkünder der Wahrheit; aber sie hatte, um dennoch eine x) Bgl. „Die christl. Welt" 1888, Nr. 41 (Recension der Schrift von Delitzsch, Der tiefe Graben zwischen alter und moderner Theologie). 2) Deutsche Evang. Kirchenzeitung 1895, Nr. 4.

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unfehlbare Stütze für ihre Glaubenssätze zu besitzen, die Lehre erdacht, daß die heiligen Schriften buchstäblich vom heiligen Geiste diktiert und darum in jedem Worte unfehlbar feien. Aber selbst wenn die heiligen Schriften buchstäbliche Diktate des heiligen Geistes wären, so sind diese Diktate doch weder buchstäblich erhalten noch vom heiligen Geiste selber zu einem Buche zusammengestellt worden; es können also nicht - inspirierte Bücher in der Bibel enthalten sein, und in die einzelnen Bücher sönnen sich Schreibfehler und Irrtümer eingeschlichen haben. Aber diese ganze Behauptung von der buchstäblichen Inspiration der heiligen Schriften be­ trachtet die neuere Theologie — und zwar mit Recht — als ein Menschenfündlcin, von welchem die Bibel selber nichts weiß, gegen welches die ganze Beschaffenheit der biblischen Bücher selber Zeugnis ablegt, welches nur erfunden ist als eine Stütze für einen Glauben, der nicht stark genug war, um an Gottes Offenbarung zu glauben, auch wenn die Kunde von der­ selben nicht von Gott selbst ausgezeichnet worden ist. Wenn nun die alte Jnspirationslehre, welche den Wert der heiligen Schrift durch ihre besondere Entstehung begründete, heute allgemein aufgegeben ist, so bedürfen wir nicht etwa einer neuen Jnspirationslehre, denn die Inspiration ist ein Begriff, der sich nur so deuten läßt, wie er früher gedeutet worden ist, der aber durch eine Abschwächung, wie man sie versucht hat, in Wahrheit aufgehoben wird. Ter besondere Wert der heiligen Schrift ist vielmehr, statt auf ihre Entstehung, auf ihren Inhalt zu gründen, nämlich auf die göttliche Offenbarung, welche in der heiligen Schrift verkündigt wird. Mit dieser Änderung der Lehre von der Bibel wird aber der heiligen Schrift nichts von ihrem Werte genommen, denn die Inspiration ist kein der biblischen Religion eigentümlicher, sondern ein ihr mit den heidnischen Religionen gemeinsamer Begriff; vielmehr wird dadurch erst der wahre Wert der Bibel anerkannt. Der wahre Wert der Bibel beruht nämlich auf ihrem Inhalt, auf der in chr dem Menschen verkündeten Offenbarung; an die in der heiligen Schrift ihm verkündigte Offenbarung Gottes glaubt also der heutige Christ, nicht an eine wunderbar entstandene heilige Schrift. Wenn also noch heute mancher fromme Laie die Bibel als ein von Gott buchstäblich diktiertes Buch ansieht, so ist das ein Irrtum, den die ganze neuere Theologie überwunden hat/) und welchen auch die Laien allmählich überwinden müsien, nm nicht in bedenkliche Irrtümer zu geraten und vielleicht sogar nicht bloß an der Bibel, sondern auch am Glauben irre zu werden. Aber es wäre nun nicht ein Fortschritt, sondern ein Abweg der Theologie, wenn man die biblischen Bücher als den späteren christlichen Büchern völlig gleichwertig betrachten wollte; man braucht nur beide Arten von Schriften miteinander zu vergleichen, so erkennt man sofort einen Unterschied zwischen den beiderlei Schriften, den wir etwa mit der Be­ zeichnung der Klassiker und der Epigonen verdeutlichen können; die Bibel ist das klassische Buch der christlichen Religion, und in ihr finden wir eine Darstellung der Offenbarung, welche mit Recht als die Richtschnur *) Die Schrift von Kölling wird den Lauf der Welt nicht rückgängig machen.

28 für unseren Glauben betrachtet wird, obwohl die Darstellung der Offen­ barung nicht von Gott dittiert ist, sondern von Menschen herrührt, welche nicht von jedem Irrtum frei geblieben sind. Aber mag auch mancher Irrtum in ihrer Darstellung der Offenbarung enchalten sein, die That­ sache der Offenbarung, von der sie sprechen, halten wir fest, und die in der Bibel enthaltene Darstellung der Offenbarung ist die Grundlage und die Norm für unsere Auffassung der Offenbarung. b. Wenn wir so die heilige Schrift nicht mehr als ein von Gott buchstäblich dikttertes Lrakelbuch ansehen, sondern als die Urkunde der göttlichen Offenbarung, so darf die Bibel zunächst nicht als ein Buch angesehen werden, aus welchem wir über weltliche Dinge und wissen­ schaftliche Fragen belehrt werden sollen. Wenn die Bibel uns erzählt von der Schöpfung der Welt, so betrachten wir diese Darstellung heute nicht mehr als eine die Wissenschaft bindende naturwissenschaftliche Darstellung, sondern als eine Predigt von der Allmacht und Weisheit Gottes, der alles geschaffen hat, und darum macht es uns keine Sorge, ob die Naturwissen­ schaft mit jedem Buchstaben der Schöpfungsgeschichte übereinstimmt oder nicht; in der Hauptsache stimmen Bibel und Wissenschaft überein. Allerdings für die Bibel ist offenbar die Erde der Mittelpunkt der Welt; für die Bibel bewegt sich die Sonne, nicht die Erde; trotzdem wird kein ver­ nünftiger Mensch an der Bibel irre werden oder auf einen Theologen hören, der uns einreden will, daß die Lehre des Kopernikus falsch sein müsse, weil sie mit der Bibel nicht übereinstimme; oder daß der Hase ein Wiederkäuer sei, was allerdings in der Bibel steht (3. Mose 11,6); die Bibel ist nach unserer Meinung nicht ein Lehrbuch der Natur­ geschichte, sondern ein Religionsbuch. Und die Bibel ist auch nicht ein Lehrbuch der Geschichte. Was sie von weltlichen Ereignissen erzählt, ist für uns sehr interessant, aber die Wissenschaft darf frei untersuchen, ob das Erzählte ganz richtig ist. Ja, selbst die Erzählungen der eigentlichen biblischen Geschichte können im einzelnen vielleicht nicht mit einander übereinsttmmen — darauf kommt gar nichts an; mag Jesus den Tempel von Jerusalem bei seinem ersten ober bei seinem letztenAufenthalt in Jerusalem gereinigt haben — darauf kommt nichts an; nur darauf kommt es an, daß er also gehandelt hat. Auch hier stehen wir heute dem Buchstaben der Bibel nicht mehr so ängstlich gegenüber, wie die ältere Theologie; unsere Betrachtung der Bibel hat uns dahin geführt, daß wir in ihr nicht mehr ein Buch aller weltlichen Wissenschaften erblicken, sondern ein Religionsbuch. Durch diese Bettachtung der Bibel kommt auch die Wissenschaft zu ihrem Rechte, und viele angebliche Widersprüche zwischen der Bibel und der Wissenschaft, welche schon manchen Menschen an der Bibel irre gemacht haben, sind durch diese Betrachtung der Bibel unschädlich gemacht. Aber wenn diese Betrachtung der Bibel auch theoretisch anerkannt wird, so wird sie doch bei der Auslegung der Bibel noch immer nicht gebührend zur Geltung gebracht. Wenn wir die Predigt Jesu und der Apostel wissenschaftlich verstehen und würdigen wollen, so dürfen wir nicht unbeachtet lassen, daß diese Predigt sich anschließt an die Gedanken der damaligen Zeit über weltliche Dinge, und daß es für uns von Wichtigkeit ist, die originellen Gedanken Jesu von den Gedanken

29 seiner Zeitgenossen zu sondern, um nicht etwas als einen Gedanken Jes« anzusehen, was, als ein Gedanke seiner Zeitgenossen, von ihm nur zur Darstellung seiner Gedanken benützt ist. Wer aus dem Gleichnis vom armen Lazarus erkennen wollte, wie es im Jenseits aussieht, der bedenkt nicht, daß Jesus wie der Sprache, so auch der Gedanken seiner Zeit sich bedient, um seine Gedanken darzustellen. In diesem Gleichnis will er uns aber nicht über das Jenseits belehren, sondern er mahnt dazu, das jetzige Lebm in rechter Weise zu benützen.

c. Wenn nun die Bibel nur ein R e l i g i o n s b u ch ist, so darf doch auch nicht, wie man früher that und noch heute mancher Laie thut, jedes einzelne Bibelwort als eine Norm für Glauben und Leben des Christen angesehen werden; nicht jedes einzelne Bibelwort, sondern die heilige Schrift als Ganzes ist die Norm für des Christen Glauben und Leben.

Wir werden nicht, wie der Engländer Swift') that, am Geburtstage als für diesen Tag geeignetes Gotteswort lesen das 3. Kapitel des Buches Hiob, wo Hiob den Tag seiner Geburt verflucht. Nach unserer Meinung war es nicht gerechtfertigt, wenn die Wiedertäufer, dem Buchstaben der Bibel entsprechend auf das Dach stiegen, um von da aus zu predigen, und wenn die Altgläubigen in Rußland das Tabakrauchen für eine Sünde er« Hären, weil geschrieben steht: „Was aus dem Munde ausgeht sder Tabak­ rauchs, verunreinigt den Menschen."

d. Aber namentlich darf nicht, wie das früher ebenfalls geschah, das Alte Testament als ebenso maßgebend für den Christen betrachtet werden, wie das Neue Testament; nur die vollendete Offenbarung ist die Norm für unser Glauben und Leben, nicht die noch unvollendete des Alten Testaments. Daß Elias die Baalspfaffen getötet hat, entsprach dem Alten Testament; aber als die Jünger Jesu auf seine Gegner Feuer vom Himmel herabfallen lassen wollten, da hat Jesus sie davon zurückgehalten mit dem Worte: „Wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid?" Mit diesem Worte Jesu verträgt es sich also nicht, daß die Ketzer verbrannt werden, und Cromwell durfte auch nicht aus dem Alten Testament die Hinrichtung des Königs rechtfertigen. Das Alte Testament ist nur die Vorstufe des Neuen Testaments; nur das Neue Testament ist für den Christen maßgebend. Mit dieser Erkenntnis hat sich die evangelische Theologie wieder zurückgewandt zu dem, was schon Luther klar erkannt und deutlich aus­ gesprochen hatte: „Das ist der wahre Prüfftein für die Beurteilung aller (biblischen) Bücher, indem man darauf sieht, ob sie Christum treiben oder nicht, denn die ganze heilige Schrift muß uns Christum zeigen (Röm. 3), und Paulus will nichts wissen, denn allein Christus (1. Kor. 2)."**) Darum ist für uns maßgebend das Neue, nicht das Alte Testament.

Mit dieser Erkenntnis hat aber die evangelische Theologie auch eine feste Grundlage wirklich gewonnen, welche die katholische Kirche in der Unfehlbarkeit der Kirche und des Papstes und die altprotestanttsche Theologie *) Der Verfasser von „Gulliver's Reisen". *) Luther, Vorrede auf die Epistel Jakobi.

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in der buchstäblichen Inspiration der Bibel mit Unrecht gesucht haben. Diese feste Grundlage ist das in der heiligen Schrift verkündigte Evangelium, die Botschaft von der Gnade Gottes in Christus. Dieser Botschaft giebt sich die Seele des Menschen hin, indem fie mit dem Apostel spricht (Joh. 6, 68—69): „Herr, wohin sollen wir gehen, du hast Worte des ewigen Lebens." Wer diesen Standpunkt nicht fest genug findet, sondern eine unfehlbare Kirche oder eine buchstäblich inspirierte Bibel als Stütze für den Glauben an Christus für nötig erklärt, der befindet sich im Wider­ sprüche mit Luther, der da sagt1): „So heben sie denn an und sprechen: „„Ja, wie können wir's wissen, was Gottes Wort ist, und was recht oder falsch ist? Wir müssen es lernen von dem Papst und den Konzilien."" Wohlan, laß sie beschließen und sagen, was sie wollen; so sage ich: Du kannst deine Zuversicht nicht daraus stellen, noch dein Gewissen befriedigen; du mußt selbst beschließen; es gilt dir deinen Hals, es gilt dir dein Leben. Darum muß dir's Gott ins Herz sagen: das ist Gottes Wort — sonst ist es ungeschlossen." Wenn aber das Evangelium in des Menschen Gesichtskreis eintritt, dann bewirtt es durch die ihm innewohnende Kraft den Glauben, und so gilt für jeden Menschen das, was Jesus zu Petrus gesagt hat: „Tas (daß ich der Messias bin) hat dir nicht Fleisch und Blut (nicht dein Verstand) geoffenbart, sondern mein Vater im Himmel" (der dir in dem von mir verkündeten Evangelium als der heilige und gnädige Gott entgegengetteten ist). e. Und auch noch in einer andern Beziehung hat sich die Stellung der neueren Theologie gegenüber der Bibel geändert, aber ebenfalls ohne Schädigung des Ansehens der Bibel. Wenn heute der Laie die Bibel liest, so liest er dieselbe vielfach noch in der Weise, wie früher auch die Männer der Wissenschaft sie gelesen haben: er bettachtet die Bibel als ein Ganzes, und seinen christlichen Glauben glaubt er überall zu finden. Aber wenn nun diese Bettachtung der Bibel nicht ganz unrichtig ist, so ist sic auch nicht ganz richtig, und sie ist auch nicht ganz ungefährlich. Es ist allerdings richtig, daß die Bibel im ganzen denselben Inhalt hat, und daß sie namentlich einen Zusammenhang der Gedanken aufweist, der cs uns gestattet, sie als ein Ganzes anzusehcn, obwohl doch ihre einzelnen Bücher zu sehr verschiedenen Zeiten und von ganz verschiedenen Männern geschrieben worden sind. Aber wenn es schon dem Laien nicht verborgen bleiben kann, daß doch der Inhalt des Alten Testaments ein anderer ist, als der des Neuen, so kann auch schon der Laie nicht verkennen, daß die Propheten des Alten Testaments anders predigten, als die Gesetzbücher des Alten Testaments, und die Briefe des Neuen Testaments anders als die Evangelien. Und diese Verschiedenheit der einzelnen Bücher und der einzelnen Perioden der Offenbarung ist nun in der neueren Zeit genauer untersucht und wiffenschaftlich dargestellt worden. Die heuttge Wissenschaft kann nicht mehr die Dreieinigkeit aus dem Alten Testament beweisen, nicht mehr den Inhalt der Augsburger Konfession ’) Kirchenpostille, 8. Sonntag nach Trin.

31 aus dem Alten Testament als richtig erweisen; die ATliche Offenbarung ist die Bor stufe des Christentums, aber noch nicht das Christentum selbst. Aber auch im Alten Testament und im Neuen Testament unter­ scheiden wir heute verschiedene Entwickelungsstufen des Glaubens, im Altm Testament namentlich Gesetz und Propheten, im Neuen Testament namentlich die Predigt des Paulus von der der andern Apostel. Alle diese einzelnen Formen der Predigt werden aber gemessen an der Predigt Jesu Christi, wie sie in der Bibel enthalten ist, und seine Predigt ist die Richtschnur zur Bestimmung dessen, was der Christ zu glauben und zu thun hat. Daß diese Unterscheidung der einzelnen Stufen der Offenbarung nicht gefährlich, ja, daß sie notwendig ist, wird auch der Laie einzu­ sehen vermögen, wenn er bedenkt, daß der Israelit sein Heil suchte in der Befolgung des mosaischen Gesetzes, daß auch die Propheten nicht über manche Schranken des israelitischen Glaubens hinweggekommen sind, daß Paulus und Jakobus in einer so verschiedenen Weise predigen, daß Luther (mit Unrecht) meinte, die Predigt beider nicht mit einander vereinigen zu können. Durch die wissenschaftliche Erforschung dieser Verschiedenheit der einzelnen Bücher wird nun der Wert der einzelnen Bücher der Bibel durchaus nicht herabgesetzt, sondern cs wird nur erkannt, was auch der Laie als richtig anerkennen muß, daß auch die Offenbarung sich all­ mählich entwickelt hat, und daß das Christentum nicht der Anfang, sondern das Ende der Offenbarung ist. Diese geschichtliche Entwickelung der Offenbarung darzulegen, das ist die Aufgabe 1>er biblischen Theologie, einer Wisienschaft, welche erst in der neueren Zeit entstanden ist und vielfach noch nicht zu allgemein anerkannten Resultaten geführt hat, so daß wichtige Fragen sowohl des Alten Testaments als auch des Neuen Testaments auch von Forschern der­ selben Richtung noch sehr verschieden beantwortet werden. Daß aber die Bibel nur von diesem geschichtlichen Standpunkte aus richtig verstanden werden könne, daß die biblische Theologie eine berechtigte Wisienschaft sei — darüber ist die neuere Theologie nicht mehr im Zweifel. f. Aber auch noch in einer anderen Beziehung hat sich die Stellung der evangelischen Theologie zur Bibel verändert. Wie alle Schriften aller Zeiten, so werden auch die biblischen Bücher von dem wiffenschaftlich gebildeten Leser nicht bloß gelesen, sondern auch der Kritik unterworfen, und auch das geschieht heute von allen Theologen, und zwar mit vollem Rechte. Was ist die Aufgabe der Kritik? a. Wenn der Laie sich auf seine Lutherbibel beschränkt, so muß der Gelehrte die Bibel im Grundtext lesen. Aber welches ist nun der ursprüng­ liche Text des Alten und des Neuen Testaments? Diese Aufgabe zu lösen, ist die Sache der Textkritik, welche zwar noch nicht überall zu allgemein anerkannten Resultaten geführt hat, aber doch manches festgestellt hat, was für die Wiffenschast bedeutend, ja, auch für den Laien intereffant ist. Wenn wir heute wissen, daß das Vaterunser ebenso in zwei ver­ schiedenen Formen überliefert worden ist, wie das Zehngebot, so ist das auch für den Laien nicht unintereffant; er wird daraus lernen, daß es also auf den Buchstaben des Vaterunsers nicht ankommt.

32 Wenn nicht einmal der Buchstabe des GrundtexteS der Bibel überall feststeht, so wird es chn nicht ärgern dürfen, wenn er sieht, daß die Luther­ bibel revidiert wird, und wenn er hört, daß man auch nicht auf jeden Buchstabender revidierten Bibel schwören könne. Er wird also davor gewarnt werden, den Buchstaben der Bibel allzu sehr zu betonen, und dazu ermahnt werden, vor allem danach zu streben, den Sinn eines Bibel­ abschnittes im ganzen zu erfassen. Das ist allerdings schwerer, aber auch lohnender, als das Verständnis eines vereinzelten schweren Bibelwortes. Wer verstanden hat, was Paulus von der Rechtfertigung sagt (Röm. 3, 21—30), der mag das in dieser Stelle vorkommende Wort vom „Gnaden­ stuhl" verstehen oder nicht — dm Kern der Sache hat er erfaßt. ß. Aber nicht bloß mit dem Texte jedes biblischen Buches hat es die Kritik zu thun, sondem auch mit dem ganzen Buche, indem sie nach dessen Entstehung und Bedeutung fragt. Zunächst handelt es sich um die Entstehung jedes biblischen Buches. Wenn der Laie meint, daß er über dieselbe durch die Überschrift und

die bisweilen am Ende stehende Unterschrift desselben genügende Auskunft erhalte, so hat er von seinem Standpuntte aus recht: die biblischen Bücher gewinnen an Wert für den Laien durch diese Frage eigentlich gar nichts; sie sind Religionsbücher, und dafür ist es, da sie einmal in der Bibel stehen,') gleichgültig, ob sie von diesem oder jenem Verfasser und aus dieser oder jener Zeit herstammen. Aber für den Gelehrten sind doch diese Fragen nicht bloß interessant, sondem ost auch bedeutend. Zunächst muß auch der Laie erfahren, daß die Unterschriften der biblischen Bücher, sogar in der revidierten Bibel, zum Teil nicht richtig, sondem irrtümlich sind und gar nicht von den Verfassern der Bücher herrühren. Aber auch die Überschriften der Bücher, soweit sie nicht dem

Texte der Bücher angehören, gehören nicht dem Verfasser der Bücher an, und sollen überdies meist nicht den Verfasser der Bücher, sondem den Inhalt der Bücher bezeichnen, z. B. das Buch der Richter, d. h. das Buch von den Richtern. Ja, selbst wenn eine Überschrift dem Texte des Buches angehört,

ist es noch nicht ausgemacht, daß dieselbe dem Verfasser des Buches angehört. „Ein Psalm Davids" — das kann auch ein Zusatz des Sammlers der Psalmen sein. Wenn aber dieselbe auch dem Verfasser des Buches angehört, so muß erst doch noch untersucht werden, ob der hier genannte Verfasser des Buches wirklich der Verfasser dieses Buches ist. Der Verfasser des zweiten Briefes Petri bezeichnet sich als den Apostel Petms; aber schon die alte Kirche war der Meinung, daß der Apostel Petms diesen Brief nicht ver­ faßt habe, sondem, daß der Verfasser desselben — nach der Sitte seiner Zeit — sein Buch dem Apostel Petms nur in den Mund gelegt habe, nicht um die Leser zu betrügen, sondem um damit zu sagen, daß er das, was er sage, nicht sich selber verdanke, sondem dem Apostel Petms. *) Auf dieß: Frage wird unten genauer eingegangen werden.

33 Wenn noch heute der Laie eS als selbstverständlich betrachtet, daß die fünf Bücher Mosis von Moses, Jes. 40—66 von Jesaias und das erste Evangelium von Matthäus geschriebm sind, so ist die neuere Theologie zu der Erkenntnis gekommen, daß nicht alles, was die Überlieferung von der Bibel sagt, der Wahrheit entspricht. Und dieser Erkenntnis kann sich auch der Laie nicht verschließen, wenn er anders für wissenschaftliches Denken befähigt ist; auch er hat ja in der Schule gehört, daß nicht jede geschichtliche Überlieferung Glauben verdient, und fast täglich bringt ihm

die Zeitung eine Berichtigung einer kurz vorher gemeldeten angeblichen Thatsache. Und daß auch nicht alle Bücher von denjenigm Verfaffern herstammen, deren Namen sie tragen, zeigt ihm sogar ein Blick in seine Bibel; die unter den Apokryphen befindliche Schrift der „Weisheit Salomos" würde ja nicht unter den Apokryphen stehen, wenn sie wirklich von Salomo herstammte. Was also auch der Laie nicht als verwerflich bezeichnen darf, das ist auch der Bibel gegenüber berechtigt, und von diesem Rechte hat die neuere Theologie Gebrauch gemacht. So hat man denn in der neueren Zeit immer aufs neue untersucht, aus welcher Zeit die einzelnen biblischen Bücher herstammen, und manche Ergebniffe dieser Forschungen werden heute von allen Forschern als richtig angesehen. Durch diese Forschungen ist aber das Ansehen der Bibel durchaus nicht erschüttert worden. Die einzelnen Bücher sind ja nicht deshalb in die Bibel ausgenommen worden, weil sie von einem bestimmten Verfasser herrühren, sondern weil sie den richtigen Glauben enthalten; der Inhalt der Bücher bleibt ja aber derselbe, auch wenn sie einem andern Verfaffer zugeschrieben werden. y. Ja, sogar dadurch wird der Wert der biblischen Bücher nicht herab­ gesetzt, daß die Kritik sich nun auch auf den Inhalt der biblischen Bücher richtet. Wenn manche in der Bibel erzählte Geschichte vom Geschichts­ forscher nicht als wirkliche Geschichte, wenn manche geschichtliche Person als

eine Person der Sage betrachtet wird, so wird dadurch der Wert dieser Geschichte oder die Bedeutung dieser Person nicht aufgehoben; Vorbilder des Glaubens und der Frömmigkeit will uns die Bibel in chren Personen vorführen; solche bleiben sie, auch wenn der Geschichtsforscher diese Personen anders betrachtet, als der Laie. Wie die Bibel nicht ein Lehrbuch der Naturwissenschaft ist, so daß es heute niemanden an der Bibel irre macht, wenn in derselben die Sonne als sich bewegend be­ trachtet wird, so ist sie eben auch kein Lehrbuch der Geschichte; mag der Historiker manche Erzählung der Bibel anders ansehen, als der Laie, ja auch als der Bersasier des biblischen Buches selber, so wird dadurch der Wert der Bibel nicht herabgesetzt; die Bibel erzählt uns, wie die Menschen zu Gott geführt werden; sie ist aber nicht dazu geschriebm, um uns über geschichtliche Fragen zu belehren. Ja, nicht einmal dazu ist die Bibel geschrieben, um uns in wissen­ schaftlicher Weise über die Geschichte des Volkes Israel und des Christentums zu belehrm; eine wissenschaftliche Darstellung der heiligen Geschichte uns zu geben, das ist die Aufgabe der Theologie; die Heidrich, Glaubendlehre.

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34 biblischen Bücher dienen dem Theologen als Urkunden und Quellen für die Lösung dieser Aufgabe; aber es ist wohl zu begreifen, daß die Lösung dieser Aufgabe zu verschiedenen Resultaten führt; der Wert der Bibel wird von dieser Verschiedenheit der neueren im Gegensatz zu den älteren Dar­ stellungen nicht berührt. 8. Endlich aber muß die Kritik auch danach fragen, ob ein Buch mit Recht in der Bibel stehe oder nicht. Danach hat bekanntlich schon Luther gefragt, der den Jakobusbrief und das Buch Esther eigentlich von der Bibel ausgeschlossen wissen wollte. Danach zu fragen, sind auch wir berechtigt. Die Bibel ist nicht gebunden vom Himmel gefallen, und die Kirche, welche die biblischen Bücher zusammengestellt hat, war doch — nach der Meinung des evangelischen Christen — nicht unfehlbar; die katholische und die evangelische Kirche gehen ja auch aus einander in der Beurteilung der Apokryphen des Alten Testamentes, welche die Katholiken der Bibel gleich stellen, was die Evangelischen bestreiten. So hat denn die Kritik das Recht und die Pflicht, auch diese Frage zu untersuchen. e. Wenn nun in der neueren Theologie die Bibel nicht mehr als buchstäblich inspiriert angesehen und wenn sie der Kritik unterworfen, also wie jedes andere Buch behandelt wurde, so schien damit ihre göttliche Seite in den Hintergrund gedrängt zu werden, und damit schien der Glaube eine Einbuße zu erleiden, in welche sich der Freund der Bibel ungern ergab. Während es nämlich als ein F o r t s ch r i t t im Verständnis der Bibel gepriesen wurde, daß auch sie der Kritik unterworfen wurde, so schien dieser Fortschritt mit einem Verluste an der Sicherheit des Glaubens verbunden zu sein; ein Fortschritt in der Erkenntnis sollte doch aber auch zu einem Fortschritt im Glauben führen. Nun ist es ja allerdings richtig, daß auf dem Gebiete des Glaubens der Fortschritt oft mit einem scheinbaren Verluste verbunden ist. Ter größte Fortschritt im Reiche Gottes war mit der Erscheinung Christi gegeben; aber wie weit stand doch scheinbar die Erscheinung des wirk­ lichen Messias hinter dem Bilde des verheißenen Messias zurück, welches sich die Zeitgenossen Jesu nach der Predigt der Propheten ent­ worfen hatten! Kein Messias in äußerer Herrlichkeit, kein glanzvolles Gottesreich, keine Erleichterung der irdischen Not! Und doch stand der Messias der Propheten in Wahrheit zurück hinter dem Messias der Wirklichkeit! Und was mußte im 16. Jahrhundert der Christ alles drangeben, um vom katholischen zum evangelischen Glauben zu gelangen! Und doch war der evangelische Glaube ein gewaltiger Fortschritt im christlichen Glauben! So ist auch jetzt der Fortschritt im Glauben verbunden mit einem scheinbaren Verluste des Glaubens, mit einem Ver­ luste der so angenehmen, aber nur leider bloß von Menschen gezimmerten Stütze des Glaubens, der Lehre von der buchstäblichen Inspiration der heiligen Schrift. Aber dieser Verlust bedeutet für den Glauben keinen Verlust, sondern einen Fortschritt, denn er führt zu einem Glauben, welcher sich nicht auf ein Menschenfündlein stützt, sondern auf die eigene Wahr*) Das Folgende nach Haupt, Die Bedeutung der heiligen Schrift (1891), S. 175.

35 nehmung und Erfahrung der göttlichen Lffenbarung, wie sie uns in der heiligen Schrift verkündigt wird. Unser Glaube an die in der Bibel enthaltene Lffenbarung beruht nämlich nicht auf der Anerkennung der Inspiration der Bibel — das ist eine Behauptung, die erst für den möglich ist, der bereits an den Inhalt der Bibel glaubt. Auch beruht unser Glaube nicht auf der Ueberzeugung, daß die Bibel eine historisch glaubwürdige Urkunde der in ihr verkündeten Offenbarung Gottes sei — dann wäre unser Glaube von einer historischen Untersuchung abhängig; aber eine solche ist ja für den Laien unmöglich. Unser Glaube an die Offenbarung Gottes, von der uns die Bibel Zeugnis ablegt, beruht vielmehr auf der von jedem Christen an sich selbst zu machenden Erfahrung von der Wirkung der ihm verkündeten Offenbarung Gottes auf sein eigenes Herz. Der Glaube hat es nicht mit Thatsachen der Vergangenheit zu thun, sondern mit Erfahrungen der Gegen­ wart; nicht daß ich anerkenne, Christus sei der Herr der W e l t, sondern daß ich erfahre, daß er mein Herr ist, ist eine Aussage des Glaubens; der Jesus der vergangenen Zeit wird durch den Glauben eine für mich gegenwärtige, an mir wirkende Person; in dieser Person tritt auch an mich Gott heran; in ihm hat sich Gott auch mir geoffenbart — nur wer das erfahren hat, hat Glauben an Jesus gewonnen. Wer nun aber in Christus eine Offenbarung Gottes auch für sich selber gefunden hat, der wird von diesem Centrum der Bibel aus auch ein Verständnis der ganzen heiligen Schrift gewinnen, und immer tiefer wird auch der einfachste Christ von dem Glauben an Christus aus in die heilige Schrift cindringen. Bei solcher Bettachtung der heiligen Schrift ist es aber für den Laien gleichgültig, ob ein Buch der Bibel von diesem oder jenem Berfaffer, zu dieser oder jener Zeit geschrieben worden ist; ob das Buch Hiob Geschichte oder Dichtung ist; ob ein Wunder Jesu eine Thatsache oder ein Gleichnis ist; die ganze Kritik hat für den Glauben keine Bedeutung. Daß die heilige Schrift ein menschliches Buch ist, ist ebenso richttg, wie die Thatsache, daß das Brot im heiligen Abendmahl irdisches Brot ist; aber wie wir es im heiligen Abendmahl nicht mit dem Brote, sondern mit Christus zu thun haben, so hat es der Glaube bei der heiligen Schrift nicht mit ihrer menschlichen Seite, sondern mit der in ihr verkündeten und auch für jeden Menschen gegenwärtigen Lffenbarung Gottes zu thun; zur Anerkennung dieser für jeden wirksamen Offenbarung Gottes kommt der Mensch aber nicht durch die Kritik, sondern durch den Glauben; nur für den Glauben giebt es eine Offenbarung Gottes, und auch nur für den Glauben ist die Bibel ein wahrhaft wertvolles Buch.

K. Die evangelische Theologie und die Wiffenschaft. 1. Theologie und Wissenschaft?)

Während das Mittelalter der Natur und ihren Mächten mit einer gewiffen ängstlichen Scheu gegenüberstand, verlieh das reformatorische

’) Luthardt, Geschichte der Ethik II, 342 s.

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Bewußtsein der Gotteskindschaft im rechtfertigenden Glauben dem Menschen die getroste Freudigkeit, durch Erkenntnis und Herrschaft sich die Natur Unterthan zu machen, um sie in den Dienst der Frömmigkeit zu stellen. Aber das war eine Aufgabe, welche nicht sofort gelöst worden ist. Zunächst blieb, wie die katholische Kirche, so auch die evangelische, doch noch auf das religiöse Gebiet beschränkt, uud der weite UmKeis des natürlichen Lebens stand der Kirche abgesondert gegenüber. Die katholische Kirche hat Galilei verdammt (1616), und erst im 19. Jahr­ hundert (1835) ist sein Name aus dem Index librorum probibitorum still­ schweigend entfernt worden. Auch Luther wollte nichts von Kopernikus wissen, weil seine Lehre der Bibel widerstreite.

Aber auf einem Gebiete hatte doch schon Luther die Anschauung des Mittelalters auch hinsichtlich der Weltbettachtung überwunden. Während die katholische Kirche im Mittelalter die Herrschaft auch über die Staaten verlangte und dieses Verlangen noch heute nicht aufgegeben hat, hat Luther bereits die weltliche Macht als eine selbständige Macht neben die Kirche gestellt und die Regelung des gesamten äußeren Lebens dem Staate übertragen?) Wenn aber die weltliche Macht als selbständig anerkannt wird, dann war es nicht zu umgehen, daß auch die weltliche Wissenschaft als selbständig anerkannt wurde, und wenn das auch von Luther noch nicht geschehen ist, so ist es doch von der evangelischen Kirche allmählich geschehen, während sich die katholische Kirche diesem Verlangen noch heute nur not­ gedrungen fügt. Es war nun ganz natürlich, daß sich zunächst ein Gegensatz zwischen der Religion und der Wissenschaft bemerkbar machte, und noch heute sind wir über diesen Gegensatz nicht ganz hinweggekommen. Die Naturwissen­ schaft betrachtet die Natur als ein Ganzes natürlicher Kräfte, die philosophische Ethik den Menschen als ein Wesen, welches sich nach seiner eigenen Natur entwickelt, die Weltgeschichte bettachtet die Menschheit als sich nach ihren eigenen Gesehen entwickelnd, die Philosophie sucht die Wahrheit aus eigener Kraft zu erforschen.

Diese einseitige Betrachtung der Welt und des Menschen, welche der einseitigen Weltbetrachtung des Mittelalters zunächst gegenübertrat und zum Teil noch heute gegenübersteht, zu überwinden, indem sowohl die selbständige wie auch die religiöse Weltbettachtung festgehalten werden — das ist die Aufgabe der Gegenwart und der Zukunft.

2 Theologie und Naturwissenschaft. - Zwei Wissenschaften sind es aber, die für die Frage nach der Berechtigung und der Wahrheit unseres Glaubens an Gott vornehmlich in Bettacht kommen, die Naturwissenschaft und die Philosophie, und Da Luther das weltliche Leben als selbständig anerkannte, so erkannte er auch die Berechtigung desselben in sittlicher Beziehung, und er war in dieser Beziehung dem späteren Pietismus überlegen.

37 der heutige Gebildete kann nicht umhin zu fragen: Wie verhält sich des Christen Glaube an Gott zu den Ergebnissen der Naturwiffenschast und der Philosophie? Wie steht zunächst die Naturwissenschaft dem christlichen Glauben gegenüber?

a. Wenn die alte Zeit glaubte, daß die Bibel auch eine Autorität für die Naturwiffenschast sei, so ist diese Zeit für den wiffenschaftlich Ge­ bildeten heute vorüber. Daß die Bibel auf den« Standpunkte der älteren Naturbetrachtung (oor Kopernikus) steht, versteht sich heute von selbst; für die Bibel geht die Sonne auf und unter; für die Wissenschaft steht die Sonne still. Wenn es 3. Mose 11, 6 heißt: „Der Hase wiederkäuet auch", so hat schon die griechische Bibelübersetzung, diesen naturwiffenschaftlichcn Irrtum erkennend, übersetzt: „Der Hase widerkäuet nicht", und kein Gebildeter wird erwarten, daß die heutige Naturwiffenschast, ihren Irrtum bekennend, aus Rücksicht auf die Bibel nächstens den Hasen zu den Wiederkäuern rechnen werde. Die Bibel betrachtet den Menschen teils als aus Leib und Seele, teils als aus Leib, Seele und Geist bestehend; die Wiffcnschast hat also um so mehr freie Hand in der Entscheidung der Frage, ob der Mensch aus zwei oder aus drei Teilen bestehe. Wer heute noch in alter Weise die Bibel als auch für die Natur­ wissenschaft maßgebend betrachtet, der wird zwar dadurch an seiner Frömmigkeit keinen Schaden erleiden, aber er darf sich nicht wundern, wenn die Gebildeten ihn verspotten und um seiner Thorheit willen auch vor seiner Frömmigkeit keinen Respekt haben, und von einer Bibel, die der Wiffenschaft ins Gesicht schlägt, nichts wissen wollen. Insofern ist diese alte Betrachtung der Bibel, als eines Lehrbuchs auch für den Natur­ forscher, heute doch nicht unschädlich, sondern sehr bedenklich und nachtellig.

b. Und nicht mit Unrecht fordert die in der neueren Zeit so bedeutend gewordene Naturwiffenschast Berücksichtigung bei der Darstellung des Inhalts unseres Glaubens. In derselben Zeit, in welcher Luther es unternahm die Kirche zu reformieren, sind auch zwei Männer ausgetreten, die auf chrem Gebiete ebenso Großes geleistet haben, wie Luther auf dem seinen: Kolumbus und Kopernikus. Diese beiden Männer haben die Weltanschauung ihrer Zeit nach anderer Richtung ebenso sehr umgestaltet, wie Luther auf seinem Gebiete, und seit jener Zeit sind die Naturwiffenschaftrn in ihrer Ent­ wickelung nicht znm Stillstände gekommen; ja, die neuere Zeit hat seit dem Auftreten Alexander von Humboldt's eine Wirksamkeit der Naturwiffenschaften auf unser ganzes Denken und Leben herbeigeführt, wie sie kaum noch größer gedacht werden kann. Die wissenschaftlichen Resultate der neueren Naturwiffenschast übersteigen an Bedeutung alles, was vorher erkannt worden war, und die Umgestaltung unseres äußeren Lebens, wie sie durch die auf der neueren Naturwiffenschast beruhende Technik bewirft worden ist, ist so bedeutend, daß früher Jahrhunderte nicht solche Umgestaltungen bewirft haben, wie heute Jahrzehnte. c. Es ist nun ganz natürlich, daß eine Wissenschaft, welche unser ganzes Denken und Leben so bedeutend umgestaltet hat, auch für das

38 religiöse Denken von Bedeutung geworden ist, und es war kein Wunder, daß man sich zunächst des Gegensatzes zwischen den beiden Weltanschauungen, der religiösen und der naturwisienschaftlichen, bewußt wurde. Denn zunächst scheint ja die heutige Naturwissenschaft mit der Bibel ganz unvereinbar zu feilt Die Bibel führt die Welt auf Gott zurück, die materialistische Richtung der heutigen Naturwissenschaft auf die von Ewigkeit her existierenden bewegten Atome. Und der Materialismus der neueren Zeit, wie er im Darwinismus vertreten ist, scheint ja nun geradezu darauf auszugehen, Gott für die Entwickelung der Welt entbehrlich zu machen. Daß aber die materialisttsche Weltanschauung nicht genügt, um die Rätsel der Welt zu erklären, wird immer mehr auch von den Männern der Wiffenschaft anerkannt; daß aber allerdings die Bibel nicht ein Lehrbuch weltlicher Wiffenschaft ist, hat zwar noch nicht Luther, aber die spätere Zeit mehr und mehr cingesehen und anerkannt. So mag uns denn die Naturwissenschaft immer besser belehren über das Wesen und die Gesetze der Welt und ihrer Erscheinungen; damit kommt sie nicht in Konflikt mit der Bibel, welche hineinführen will in das Reich Gottes, welches nicht von dieser Welt ist. Mag daher die Naturwissenschaft nur immer weiter forschen, die wahre Wissenschaft wird mit einem geläuterten Glauben nicht auf die Dauer in Konflitt geraten; die Naturwissenschaft führt von der sichtbaren Welt aus zu dem unsichtbaren Gott; der Glaube leitet uns von dem unsichtbaren Gott aus zur rechten Stellung gegenüber der sichtbaren Welt; Naturwissenschaft und Glaube werden auf die Dauer gewiß nicht einander feindlich gegenüberstehen; ja, man kann eher sagen, daß beide in der neueren Zeit einander näher gekommen sind, indem jede sich auf das ihr eigentümliche Gebiet beschränken geleimt hat. Die Naturwissenschaft führt alles Seiende auf die Bewegung der Atome zurück, aber sie kann nichts dagegen haben, daß von der Religion das Dasein und die Bewegung der Atome ebenfalls auf eine Ursache, auf Gott, zurückgeführt werden. Die Naturwissenschaft zeigt, aus welchen Stoffen die lebendigen Wesen bestehen, aber sie kann nicht leugnen, daß Lebendiges heute nur durch Lebendiges entsteht, und darum ist es doch nicht unwissenschaftlich, wenn die Religion das Leben in der Welt auf Gott zurückführt. Für den Naturforscher ist der Mensch hinsichtlich seines Körpers das vollkommenste Tier, und wenn die Bibel ihn in dieser Beziehung aus einem Erdenkloß gemacht sein läßt, so mag immerhin sein Leib auf den Affen zurückgeführt werden. Aber das eigentümliche Wesen des Menschen, wodurch er sich über alle andern Wesen emporhebt, ist aus dem, was das Tier besitzt, nicht zu erklären, und darum ist es nicht unwissenschaftlich, mit der Bibel zu sagen, daß dasselbe auf Gott zurückzuführen ist. Daß der Mensch leiblich und namentlich geistig entarten kann und entartet ist, kann der Naturforscher nicht für unmöglich erklären, und daß das in der That der Fall ist, zeigt dem einzelnen Menschen seine eigene Erfahrung und für die ganze Menschheit die Weltgeschichte. Daß aber für den entarteten Menschen ein neues Leben nur durch einen Erneuerer der Menschheit kommen konnte, durch Jesus Christus, das entspricht dem Gesetz der Naturwissenschaft, daß Leben nur vom Leben herstammt.

39 Daß nun dieses neue Leben des Menschen im Tode für immer ein Ende nehmen müßte, das kann die Naturwissenschaft nicht beweisen; der Darwinismus weist ja vielmehr auf eine immer höhere Entwickelung der lebendigen Wesen hin. So stehen Natunoissenschaft und Glaube in den Hauptpunkten nicht mit einander im Widerspruch, sondern haben sich einander eher genähert, und sie werden, wie wir hoffen, dereinst in Übereinstimmung den verherr­ lichen, von dem und durch den und zu dem alle Tinge sind.

3. Theologie und Philosophie.

Die zweite Wissenschaft, welche für die Gestaltung der Theologie von besonderer Bedeutung ist, ist die Philosophie, und daß das der Fall ist, ist kein Wunder. Die Religion predigt von dem Gott, der sich in der Welt offenbart hat, und die Philosophie forscht nach dem letzten Urgründe der Welt; was die Religion besitzt, wird von der Philosophie gesucht. In welchem Verhältnis steht nun die Philosophie zu unserer Religion? Wenn die evangelische Glaubenslehre die wissenschaftliche Darstellung des evangelischen Heilsglaubens ist, der Gegenstand dieses Glaubens aber die Offenbarung Gottes in Christus ist, so hat die Glaubenslehre mit der Philosophie zunächst nichts zu thun; der Glaube an die Offenbarung Gottes in Christus wird durch die Philosophie weder hervorgerufen noch gestützt, seine Motive ruhen nicht in der Philosophie, sondern in unserm sittlich religiösen Bewußtsein. Welches ist nun die Aufgabe der Philosophie? Was man im Altertum und im Mittelalter Philosophie nannte, war eine Summe von formalen und realen Erkenntnissen, welche den Umkreis der beobachteten Natur zu umspannen und zu deuten suchten, aber wesent­ lich nur die Vorstufe und ein Mittel für die abschließende Er­ kenntnis bildeten, welche die Offenbarung gewährte und die Theologie zu deuten berufen war. Ganz anders gestaltete sich die Sache in der Neu­ zeit, namentlich seit dem Auftreten von Cartesius (1596—1650). Es ist eine eigene und selbständige Weltanschauung, welche die Philosophie in ihrer Metaphysik jetzt aufzubauen suchte, nicht mehr, wie ftüher, durch die Theologie ergänzt und abgeschloffen. Jetzt trat die philosophische Meta­ physik an die Stelle der Theologie und schien diese überflüssig zu machen. Daß diese Philosophie mit der bisher das Wissen abschließenden Theologie zusammentraf, war unvermeidlich; cs kam darauf an, wie sich nunmehr das Verhältnis zwischen beiden Wiffenschaften gestalten würde. Wenn zunächst beide mit einander in Streit gerieten, so ist es die Auf­ gabe der Gegenwart und der Zukunft, die Einheit der Wissenschaft wieder­ zugewinnen — und damit sind wir auch auf diesem Gebiete heute be­ schäftigt. Noch giebt es keinen Philosophen, deffen System mit den christlichen Glaubenslehren ganz übereinsttmmte. Aber ist das ein Wunder? Hierüber kann sich nur derjenige wundern, welcher niemals selbständig nachgedacht und die Schwierigkeit dieser Aufgabe noch nicht erkannt hat. Es ist leicht.

40 die Natur zu betrachten und an ihrer Schönheit sich zu erfreuen! Aber noch giebt es keinen Naturforscher, der alle Naturgesetze ergründet hätte. So ist es auch nicht schwer für ein empfängliches Herz, sich dem christlichen Glauben zuzuwenden; aber noch ist es nicht einmal dm Theologen gelungm, über die wissenschaftliche Darstellung des Christentums sich zu ver­ einigen. Noch weniger ist es also zu verwundem, daß die Philosophen noch nicht vermocht haben, die Thatsachen des Christentums in Begriffe zu faffen und dieselben in einem System zusammenzustellen. Aber es darf trotzdem gesagt werden, daß die verschiedenen Philosophen von ihren ver­ schiedenen Standpunkten aus doch sich dem Christentum meist genähert haben, und es dürste von allen ernsten Forschem als das Ziel anerkannt werdm, dem sie zustreben, die Wiffenschaft und den Glauben zu versöhnen. Es ist thöricht, die Philosophie zu fürchten; über 1800 Jahre stehen die Artikel des christlichen Glaubens wie Felsen int Meere der sie umtosenden Wiffenschaft; manchmal schien es wohl, als wenn die Wiffenschaft den Glauben überflutet hätte; aber bald tauchte der Glaube wieder empor, und die Wogen der Philosophie glätteten sich und spiegelten das Bild des Felsens in ihrer Mitte wieder. So wird es auch weiter gehen, bis die Zeit kommen wird, wo unser Wissen nicht mehr Stückwerk ist, sondern wir Gott erkennen, gleichwie wir von ihm erkannt sind (1 Kor. 13, 9—12 ).

II. Der Unterricht in der Glaubenslehre. A. Anweisung zum Unterricht?) „Den von den Vätern ererbten in den Bekenntnissen niedergelegten Heilsglauben, wie er sich auf die heilige Schrift gründet, in Herz und Geist der Jugend zu einer wahrhaftigen Überzeugung, zu einer lebendigen Kraft zu

machen" — dieses hohe Ziel, welches die im Jahre 1889 ins Leben gerufene „Zeitschrift für den evangelischen Religionsunterricht" in ihrem Programm für ihre Aufgabe überhaupt erklärt hat, es ist besonders die Aufgabe des Unterrichts in der Glaubenslehre, und an der Lösung dieser Aufgabe hinsichtlich der Glaubenslehre mitzuwirken, das will auch der Verfaffer dieses Buches versuchen. Wie ist diese Aufgabe zu lösen? a. Schon in den unteren Klassen der höheren Schulen wird der Schüler (wie in der Volksschule) durch den Unterricht in der biblischen Geschichte zum christlichen Glauben geführt, denn die frommen Männer der heiligen Geschichte, welche er kennen lemt, lernt er ja nicht vomehmlich deshalb kennen, damit sich sein Wissen bereichere, sondern damit er in ihnen Vorbilder für seine Frömmigkeit gewinne, an denen sich seine eigene Frömmigkeit entwickelt und erhebt. Wenn nun die unteren Klaffen vornehmlich bei der biblischen Ge­ schichte verweilen und nur von ihr aus zum Katechismus fortschreiten, so *) Bgl. hierzu meinen Lehrplan für Sekunda und Prima: Programm von Rakel 1899, Nr. 169.

40 die Natur zu betrachten und an ihrer Schönheit sich zu erfreuen! Aber noch giebt es keinen Naturforscher, der alle Naturgesetze ergründet hätte. So ist es auch nicht schwer für ein empfängliches Herz, sich dem christlichen Glauben zuzuwenden; aber noch ist es nicht einmal dm Theologen gelungm, über die wissenschaftliche Darstellung des Christentums sich zu ver­ einigen. Noch weniger ist es also zu verwundem, daß die Philosophen noch nicht vermocht haben, die Thatsachen des Christentums in Begriffe zu faffen und dieselben in einem System zusammenzustellen. Aber es darf trotzdem gesagt werden, daß die verschiedenen Philosophen von ihren ver­ schiedenen Standpunkten aus doch sich dem Christentum meist genähert haben, und es dürste von allen ernsten Forschem als das Ziel anerkannt werdm, dem sie zustreben, die Wiffenschaft und den Glauben zu versöhnen. Es ist thöricht, die Philosophie zu fürchten; über 1800 Jahre stehen die Artikel des christlichen Glaubens wie Felsen int Meere der sie umtosenden Wiffenschaft; manchmal schien es wohl, als wenn die Wiffenschaft den Glauben überflutet hätte; aber bald tauchte der Glaube wieder empor, und die Wogen der Philosophie glätteten sich und spiegelten das Bild des Felsens in ihrer Mitte wieder. So wird es auch weiter gehen, bis die Zeit kommen wird, wo unser Wissen nicht mehr Stückwerk ist, sondern wir Gott erkennen, gleichwie wir von ihm erkannt sind (1 Kor. 13, 9—12 ).

II. Der Unterricht in der Glaubenslehre. A. Anweisung zum Unterricht?) „Den von den Vätern ererbten in den Bekenntnissen niedergelegten Heilsglauben, wie er sich auf die heilige Schrift gründet, in Herz und Geist der Jugend zu einer wahrhaftigen Überzeugung, zu einer lebendigen Kraft zu

machen" — dieses hohe Ziel, welches die im Jahre 1889 ins Leben gerufene „Zeitschrift für den evangelischen Religionsunterricht" in ihrem Programm für ihre Aufgabe überhaupt erklärt hat, es ist besonders die Aufgabe des Unterrichts in der Glaubenslehre, und an der Lösung dieser Aufgabe hinsichtlich der Glaubenslehre mitzuwirken, das will auch der Verfaffer dieses Buches versuchen. Wie ist diese Aufgabe zu lösen? a. Schon in den unteren Klassen der höheren Schulen wird der Schüler (wie in der Volksschule) durch den Unterricht in der biblischen Geschichte zum christlichen Glauben geführt, denn die frommen Männer der heiligen Geschichte, welche er kennen lemt, lernt er ja nicht vomehmlich deshalb kennen, damit sich sein Wissen bereichere, sondern damit er in ihnen Vorbilder für seine Frömmigkeit gewinne, an denen sich seine eigene Frömmigkeit entwickelt und erhebt. Wenn nun die unteren Klaffen vornehmlich bei der biblischen Ge­ schichte verweilen und nur von ihr aus zum Katechismus fortschreiten, so *) Bgl. hierzu meinen Lehrplan für Sekunda und Prima: Programm von Rakel 1899, Nr. 169.

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muß dagegen in den mittleren Klaffen (wie auf der Lberstufe der Lolksschule und im Konfirmanden-Unterricht) der Katechismus eine selbst­ ständige und zusammenhängende Behandlung erfahren, damit der Schüler ein ausreichendes Verständnis des christlichen Glaubens mit ins Leben hin­ einnehme, wie es durch die bloße Lektüre der Bibel, ohne eine Zusammenfaffung in der Art des Katechismus, nicht leicht gewonnen wird?) ß. Über diese Stufe des Konfirmanden- und des Unterrichts der Lberstufe der Volksschule hinaus führt nun der Religionsunterricht der oberen Klaffen der höheren Schulen. Wenn nämlich die Aufgabe des Unterrichts in der Glaubenslehre für die oberen Klaffen bezeichnet werden soll, so wäre es meines Erachtens ein großer Irrtum, dieselbe so zu be­ stimmen, daß der Lehrer vom Katechismus nunmehr zum „System der Dogmatik" vorschreiten muffe. Diesen Gedanken erwecken aber unwillkürlich die „Kompendien für den Unterricht in der Glaubenslehre", welche für Lehrer und Schüler vielfach geschrieben worden sind; ein „Kompendium der Dogmatik" mag für den Studenten und den Religionslehrer geschrieben werden, aber der Gang des Unterrichts in der Schule soll nicht vom „System der Dogmatik", wie es im „Kompendium" verkürzt vorliegt, be­ stimmt werden. Vom Katechismus nicht vorwärtszuschreiten zum System, sondern beim Katechismus zu bleiben, aber zugleich wieder zurückzuschreiten zur Bibel, als der Grund­ lage des Katechismus, und das Ergebnis dieses Unterrichts für den Schüler zusammenzufassen in einer Auslegung der Augsburgischen Konfession — das scheint mir der richtige Grund­ satz für den Unterricht in der Glaubenslehre in den oberen Klaffen der höheren Schulen zu sein. Ich erlaube mir, diesen Grundsatz, nach welchem das vorliegende Handbuch gearbeitet und in der neuen Auflage noch weiter ausgestaltet worden ist, etwas genauer zu erläutern. y. Nicht zum „System der Dogmatik" soll der Schüler der oberen Klaffen geführt werden; auch hier gilt es, immer noch mehr Ernst zu machen mit der so sehr beachtenswerten Forderung der Erläuterungen zu den Lehrplänen der höheren Schulen vom Jahre 1882 (S. 17), daß auch „die höhere Schule nicht Theologie lehre, sondern Religionsunterricht erteile", und mit der Forderung des Lehrplans vom 6. Januar 1892, daß der Unterricht in der Glaubenslehre nicht nach einem „System" erteilt werde (S. 11); das System gehört auf die Universität, nicht in den Schulunterricht. So mag also auch der Schüler der oberen Klaffen — das ist die erste Aufgabe, die hier zu lösen ist — um mit Luther zu reden, „beim Katechismus bleiben," und hoffentlich erreicht es der Lehrer, daß der Schüler „auch gerne beim Katechismus bleibt." Wenn der Bßl. v. Zezschwitz, Katechetik E, 2, 13 (Bibelunterricht) S. 222—223: „Der Ausschluß des Katechismusunterrichts von der Religionslehre der Schule hat die größten Bedenken gegen sich; einige Sicherheit in der Katechismuslehre und damit in dem erkenntnismäßigen Bewußtsein und Ausdruck der Heils- und Kirchen­ lehre kann bei den Kindern nicht erzeugt werden, wenn diese nicht schon früher und länger im Schulunterricht auch durch eigentlichen Katechismusunterricht fundamentiert wird."

42 Schüler der oberen klaffen, der in den mittleren Klaffen und im Kon-

firvumden-Unterricht den Katechismus genauer kennen gelernt hat, auch in den oberen Klassen aufs neue, wie es in meinem Handbuch der Kirchen­ geschichte ausgeführt ist1), in den Inhalt und Zusammenhang des Katechismus eingeführt wird, so wird für den Unterricht in der Glaubenslehre eine Grundlage gewonnen, welche bei diesem Unterricht in der Prima einen engen aber freien Anschluß an den Katechismus möglich und frucht­ bringend macht. Denn das soll ja in diesem Unterricht allerdings nicht geschehen, daß derselbe einfach eine neue Katechismus-Auslegung wird; damit wäre dem Schüler nach dem Konfirmanden-Unterricht zu wenig geboten; jetzt gilt cs, den Katechismns, der nunmehr hoffentlich „ihnen fest sitzt, den Schülern wieder lose zu machen, so daß sie frei darüber­ disponieren können und im Katechismus wirklich zu Hause sind."') Wenn nun der Katechismus das Fundament für die Glaubenslehre bildet, so sind die Bausteine derselben die biblischen Abschnitte, auf welchen der Bau der einzelnen Abschnitte der Glaubenslehre beruht. B o m K a t e ch i smus zurück zur Bibel, als der Grundlage des Katechismus — das ist die zweite Aufgabe, welche hier zu lösen ist. „Inhalt und Zusammenhang der heiligen Schrift" hat der Schüler in der Sekunda durch den Unterricht in der heiligen Geschichte kennen gelernt; wenn er dort die göttliche Offenbarung von Moses bis zu Christus und den Aposteln in ihrer Entwickelung kennen gelernt hat, so lernt er nunmehr hier den christlichen Glauben als Ganzes kennen, und so gewinnt er aus der heiligen Schrift im Anschluß an den Katechismus „eine zusammenfaffende und vertiefende Übersicht der religiösen, biblischen und christlichen Grund- und Heilsbegriffe", wie sie z. B. Frick") der Prima zuweist. Eine solche „Zusammenfassung der christlichen Grund­ begriffe" (wie sic der Schüler der mittleren Klassen durch den Katechismus gewinnt) soll nun endlich — und das ist die dritte Aufgabe des Unter­ richts in der Glaubenslehre — nach dem Lehrplan vom 6. Jan. 1892 (S. 11 li. 12—13) der Primaner noch durch die Einführung in die Augsburgische Konfession gewinnen; das Berständnis der Augsburger Konfession ist also in der Prima als das Ziel des Unterrichts in der Glaubenslehre zu bettachten. 8. Es wäre nun aber keine richtige Lösung dieser Aufgabe, wenn der Lehrer die Augsburgische Konfession mit den Schülern bloß hinter einander lesen und jeden Artikel von Wort zu Wort erklären wollte; dieses scholastische Verfahren ^) würde den Schüler einerseits zwar zum Verständnis des Einzelnen führen, aber nicht zum Verständnis des Ganzen, und andererseits würden dann doch wichtige grundlegende Fragen des christlichen Glaubens nicht zu gebührender Geltung kommen. Daß eine solche Be­ handlung der Augsburger Konfession aber nicht die Forderung des LehrBgl. Kirchengesch. Nr. 57 (2. Ausl. 69). -) Bgl. L. Schulze, Katechetische Bausteine (Wanderungen durch den Kate­ chismus). n) Lehrproben, Heft 28, Nr. 2 (Tabelle zum Lehrplan der Gymnasien). 4) So haben die Scholastiker des Mittelalters die Sentenzen des Petrus Lombardus behandelt.

43 Plans ist, zeigt die Erläuterung des Lehrplans (S. 12—13), wo es heißt, daß „die Glaubens- und Sittenlehre nicht nach einem System und Hülfsbuch, sondern im Anschluß an die evangelischen und apostolischen Schriften und an die Augustana gelehrt werden soll." Wie ist hiernach der Unterricht in der Glaubenslehre zu erteilen? Die Erläuterungen zum Lehrplan weisen (3. 12—13) darauf hin, daß dieser Unterricht an die heilige Schrift anzuschließen sei; in der Prima soll nun nach dem neuen Lehrplan (S. 11) vornehmlich der Römerbrief gelesen werden. Und wer könnte wohl eine geeignetere Lektüre finden zur Vorbereitung für die Augsburger Konfession? „Wie wird der Mensch vor Gott gerecht" ? — das ist die Hmlptfrage, die im Römerbriefe be­ handelt wird; das ist auch die Hauptsache in der Augsburger Konfession. Aber diese Frage, welche im Römerbrief und in der Augsburger Konfession den Mittelpunkt bildet, hat zur Voraussetzung psychologische und geschichtliche Thatsachen, welche dem Primaner zum Bewußtsein gebracht werden müssen, wenn die Frage an sein Herz dringen soll: „Wie wird der Mensch vor Gott gerecht?" Im Römer­ briefe geht dieser Frage voran die Darlegung, daß alle Menschen Sünder sind (Kap. 1—3); in der Augsburger Konfession wird außer dieser Lehre (Art. 2) auch noch die Lehre von Christus (Art. 3) und von der Drei­ einigkeit (Art. 1) dargestellt. Wenn nun auch Luther sagt (Schmält. Art. I): „Diese Artikel sind in keinem Zank noch Streit, weil wir zu beiden Teilen dieselbigen bekennen: darum nicht vonnöthen jetzt davon weiter zu handeln", so steht es für die Gegenwart und für die Schule nicht so, daß von diesen Artikeln „weiter zu haudeln" nicht nötig wäre; im Gegenteil, gerade diese Artikel sind heute sehr „in Zank und Streit", und jedenfalls muß doch der Schüler zu diesen Artikeln erst hingeführt werden — und dazu genügt nicht die kurze Darstellung der Augsburger Konfession. Zu diesen Artikeln hinzusühren habe ich versucht in den Abschnitten, welche ich der Auslegung des Römerbriefs vorangeschickt habe. Ich glaube diese Voraussetzungen für die Lektüre des Römerbriefes kurz bezeichnen zu können durch drei Sätze: 1) „Du hast uns zu Dir geschaffen, o Herr, und unsere Seele ist unruhig, bis sie Ruhe findet in Dir!" 2) „Du bist zwar Gottes Sohn, doch ach, nur der verlorene!" 3) „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben." Die beiden ersten Sätze bezeichnen zwei psychologische, der dritte eine geschichtliche Thatsache; diese Thatsachen bilden die Grundlage für die Frage: „Wie wird der Mensch vor Gott gerecht?" Über diese Grund­

lagen des Glaubens darf der Lehrer der oberen Klassen nicht rasch hinweg­ gehen; der Primaner fordert mit Recht vom Lehrer, daß er ihm zur Klarheit verhelfe über die Grundlagen seines Glaubens, welche ja in dieser Zeit der geistigen Entwickelung oft genug erschüttert werden. Andrerseits schließen sich an den Hauptinhalt des Römcrbricfs und der Augsburger Konfession die anderen Abschnitte des christlichen Glaubens ganz leicht an, die Bett-achtung der christlichen Sittlichkeit, der

44 Kirche und der Vollendung des Gottesreiches; auch diese Lehren dürfen nicht unbeachtet bleiben, wenn wirklich eine „Glaubenslehre" das Er­ gebnis des Unterrichts sein soll; auch hier wieder wird sich der Unterricht an die heilige Schrift und an die Augsburger Konfession anschließen können, wie der neue Lehrplan fordert (S. 12—13). So führt denn meine Darstellung, wie ich meine, den Schüler, von den Grundlagen des christlichen Glaubens ausgehend, zum Verständnis

des Römerbriefes und der Augsburgischen Konfession, und hoffentlich auch zur Aneignung des in diesen Schriften ihm entgegentretenden evangelischen Glaubens — und das ist ja, wie der Lehrplan mit Recht sagt, die Aufgabe des Unterrichts in der Glaubenslehre. Nachdem nun die Augsburger Konfession zuerst bei den einzelnen Abschnitten der Glaubenslehre dem Schüler nahegebracht worden ist, mag der Lehrer zuletzt dieselbe noch einmal als Ganzes lesen und besprechen, so daß der Schüler den Inhalt und Zusammenhang der ganzen Schrift erfaßt; wenn in den mittleren Klassen (und in der Volksschule) diese Zusammenfassung des christlichen Glaubens durch einen Überblick über den Katechismus erreicht werden kann, so wird diese Aufgabe in den oberen Klaffen durch die zusammensaffende Lektüre der Au g s b u r g e r K o n f e s si o n gelöst. Wenn die Augsburger Konfession in dieser Weise behandelt wird, dann wird der Schüler dieses Bekenntnis seiner Väter als in der heiligen Schrift wohlbegründet erkennen, und mit Gottes Hülfe wird dies Bekenntnis seiner Väter für den Schüler auch zum Bekenntnis seines Glaubens werden?) €. Der Gang des Unterrichts in der Glaubenslehre, für welchen nach dem neuen Lehrplan das zweite Jahr der Prima zu ver­ wenden ist (das für die einzelnen Abschnitte erforderliche Zeitmaß ist beim Inhaltsverzeichnis angegeben), wird sich also so gestalten, daß der Lehrer meist von der Lektüre des bezeichneten Bibelabschnittes ausgeht, denselben mit dem Katechismus und der Augsburger Konfession verknüpft und schließlich das dogmatische Resultat gewinnt. Dieser Gang ist aber in der Schule nicht immer möglich, und so muß denn der Lehrer manchen Abschnitt (namentlich auch aus Mangel an Zeit und an geeigneten zusammenhängenden Bibelabschnitten) mehr vortragend darstellen und zum Verständnis bringen; in diesem Falle ist es natürlich erst recht erwünscht, wenn sich die Darlegung an ein Wort des Katechismus oder an einen Artikel der Augsburger Konfession oder an ein anderes bedeut­ sames und inhaltteichcs Wort (vgl. z. B. den ersten Abschnitt mit seiner Anknüpsilng an ein Wort des Augustinus) ungezwungen anschließen kann. Den Abschluß des Ganzen bildet die zusammenhängende Lektüre der ganzen Augsburger Konfession. f. Die Abschnitte, in welche das Ganze zerfällt, stimmen im ganzen mit den Teilen des gewöhnlichen dogmatischen Systems überein.

*) In welcher Weise die Augsburger Konfession als Ganzes zu lesen sei, habe ich schon in der ersten Auflage des Hülfsbuchs (S. VI—VIII und S. 184—194) und danach auch unten (Nr. 94 u. 95) dargelegt.

45 aber ohne sich genau an dieselben zu binden; die Schule darf auch hier selbständig verfahren, wie es für ihre Aufgabe am geeignetsten zu sein scheint. Darum sind auch in diesem Bande meines Handbuchs die einzelnen Teile des Ganzen nicht mit gleichmäßiger Ausführlichkeit behandelt; das Wichtigere und Schwierigere ist auch hier sehr ausführlich behandelt (z. B. der Römerbrief), manches ziemlich kurz, da es als von früher her bekannt betrachtet werden darf, oder nicht so wichtig ist, daß es ausführlich be­ handelt werden muß; mancher Abschnitt könnte auch, wenn die Zeit nicht ausreicht, an einer anderen Stelle (z. B. bei der Kirchengeschichte) behandelt werden. Die Darstellung aller Abschnitte aber ist darauf berechnet, den Schüler in die Tiefen der Weisheit und Erkenntnis hineinzuführen, welche im Worte Gottes enthalten sind, und sie zu bewußten und gläubigen An­ hängern des evangelischen Glaubens zu machen, wie er im Katechismus und in der Augsburger Konfession enthalten ist?)

8.

Die Anforderungen an den Religionslehrer.

a. Wer nun aber in der Schule (wie auch im Hause und in der Kirche) die Jugend zum christlichen Glauben führen will, der muß natürlich vor allem selber im christlichen Glauben stehen — das ist die erste Voraussetzung bei diesem Unterricht. Man kann eine Periode der Kirchen­ geschichte wissenschaftlich darstcllen, z. B. die Periode der Reformation, und man kann als Katholik diese ganze Bewegung beklagen oder verdammen; aber man kann nicht den christlichen Glauben in der Schule in der rechten Weise darstellen, ohne denselben für wahr zu halten; denn wie könnte ein Lehrer — was doch hier das Ziel des Unterrichts ist — in seinem Zög­ linge Glauben erwecken, wenn er selber des Glaubens entbehrt! Ein Wissen um den Glauben würde vielleicht noch die Frucht solches Unterrichts sein, aber nicht der Glaube. So ist denn für die Darstellung des christlichen Glaubens in der Schule (wie sogar noch in der Wissenschaft) die Subjettivität des Lehrers, der eigene Glaube desselben, von großer Bedeutung; ein ungläubiger Lehrer wirkt anders als ein gläubiger; ein ungläubiger Lehrer kann und darf keinen Religionsunterricht erteilen. ß. Aber auch gläubige Lehrer wirken sehr verschieden; ein gläubiger Katholik und ein gläubiger Protestant werden sehr verschieden über den christlichen Glauben sprechen. Das beruht nun darauf, daß jeder eineranderen Kirche angehört. So ergiebt sich also als zweite Voraussetzung für den Lehrer, daß er auf dem Standpuntte seiner Kirche stehen muß, um die ihm anvertrautc Jugend int christlichen Glauben in rechter Weise unterrichten zu können. Zum katholischen Glauben wird der Schüler nur durch den Unterricht eines katholischen Lehrers gelangen, zum evangelischen x) Die Berteilung des Stoffes auf die beiden Halbjahre dürste die sein, daß der Lehrer im Sommer die drei ersten, im Winter die beiden letzten Abschnitte durchntmmt; was etwa im Sommer von dem dritten Abschnitt zurück­ bleibt, kann der Lehrer dem vierten oder fünften Abschnitt einfügen, da es wohl bester ist, nach Michaelis sofort mit dem vierten Abschnitte zu beginnen, damit für diesen besonders wichtigen Abschnitt keine Verkürzung erforderlich ist.

46 Glauben wird nur der Unterricht eines evangelischen Lehrers führen; nur wer selber die Rechtfertigung allein aus dem Glauben im Herzen erfahren hat, der wird auch seine Schüler zum alleinigen Vertrauen auf die Gnade Gottes in Christus führen können.

7. Wenn nun der katholische Religionslehrer sich damit begnügen kann, daß er selber ein gläubiger Christ ist und den Glauben seiner Kirche in der Schule darstellt, so kennt der evangelische Religionslehrer für seinen Unterricht noch eine dritte Voraussetzung, welche der Katholik zwar nicht bestreitet, aber doch weniger betont, nämlich daß sein Unterricht, den er mit gläubigem Herzen und im Sinne seiner Kirche erteilt, beruhen müsse auf der heiligen Schrift und derselben jedenfalls nicht widersprechen dürfe. Auf die heilige Schrift sind ja die Reformatoren zuückgegangen, um die in Irrtümer hineingeratene Kirche zu reformieren; auf die heilige Schrift muß darum auch heute der evangelische Religionsunterricht zurückgehen, um sich als wahrhaft christlich und als wirklich berechtigt dem Schüler zu erweisen, denn die heilige Schrift gilt ja mit Recht als die entscheidende Autorität in der evangelischen Kirche, und auch der Schüler hat das Recht, nach der heiligen Schrift zu prüfen, ob es sich also verhalte, wie der Lehrer sagt. Daß der Lehrer aber den Schüler in die heilige Schrift nur hincinführen kann, wenn sie für ihn selber ein Buch des Lebens ist, das versteht sich von selbst. C.

Die Schwierigkeit des Unterrichts

in der Glaubenslehre und der Weg zu ihrer Überwindung.

Aus den drei Forderungen, welche für den Unterricht im christ­ lichen Glauben an den Lehrer gestellt werden, ergeben sich nun große Schwierigkeiten, welche auch für den gläubigen und tüchtigen Lehrer nicht leicht zu überwinden sind. a. Zwar daß auch der Lehrer, wie jeder Christ, immer wieder von sich bekennen muß: „Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben! — diese Erfahrung, welche keinem Religionslehrer erspart bleibt, macht den Unterricht nicht unmöglich. Welcher Christ wäre im Leben und vollends im Glauben frei von jeder Anfechtung! Und welcher ehrliche und ver­ ständige Beurteiler, ja, selbst welcher erwachsene Schüler wird es nicht natürlich finden, daß auch der Lehrer Zweifel und Bedenken kennt und hat, die er ebensowenig völlig zu überwinden vermag, wie ein anderer Christ! Trotzdem muß es bei der Forderung bleiben, daß der Lehrer selber im Glauben stehe. ß. Was nun die zweite Forderung an den Religionslehrer betrifft, daß seinGlaube sich inübcreinstimmung mit demGlauben seiner Kirche befinden müsse, so ist diese Forderung leichter zu er­ füllen, als die erste. Der evangelische Glaube ist ja vom katholischen wesentlich verschieden, und der Religionslehrer wird kaum in die Versuchung geraten, in die Bahn des katholischen Glaubens einzulenken; er ist vielleicht eher geneigt — und das ist nicht zu billigen — den katholischen Glauben gar zu geringschätzig zu behandeln.

47 y. Aber um so schwerer ist die dritte Forderung zu erfüllendaß des Lehrers Glaube sich mit der heiligen Schrift in Über­

einstimmung befinden müsse. Zwar zunächst versteht es sich ja von selbst, daß der evangelische Glaube auf der heiligen Schrift beruht; dadurch unterscheidet sich ja die evangelische Kirche von der katholischen, daß sich ihr Glaube stützt nicht auf die Lehre einer unfehlbaren Kirche, sondern auf die heilige Schrift, und kein evangelischer Religionslehrer wird hier in katholische Bahnen einlenken. Aber die evangelische Kirche ist ja nicht eine unfehlbare und unver­ änderliche Kirche, sondern sie hat eine innere Entwickelung durchgemacht, und sie soll sich sogar immer weiter entwickeln, indem sie danach trachtet, die in der heiligen Schrift enthaltene Offenbarung immer mehr zu erfassen und immer besser zu verstehen, und indem sie immer aufs neue danach ringt, ihren Glauben auch mit den feststehenden Ergebnissen der Wissenschaft in Übereinstimmung zu bringen, da es ja für den Christen nicht eine doppelte Wahrheit giebt, eine Wahrheit des Glaubens und eine Wahrheit der Wissenschaft, sondern nur eine einzige Wahrheit, in welcher Bibel und Wissenschaft mit einander übereinsttmmen. Die Umgestaltung der Glaubenslehre in der neueren Zeit ist nun — wenn wir hier von ihrer Umgestaltung durch die Wissenschaft absehen *) — vornehmlich dadurch bewirkt worden, daß die alte Jnspirationslehre auf­ gegeben worden ist, daß man in der Offenbarung eine allmähliche Ent­ wickelung erkannt hat, daß man die Bibel der Kritik unterworfen hat.*2)* Wie soll sich der Lehrer dieser Umgestaltung der Theologie gegenüber in der Schule verhalten? Was ich in der heiligen Geschichte *) und ebenso oben4) ausführlicher über diese Frage gesagt habe, fasse ich hier kurz in folgenden zusammen. Wenn der Lehrer die alte Jnspirationslehre nicht mehr für richtig hält, wenn er in der Offenbarung eine Entwickelung anerkennt, wenn er die Krittk der Bibel für berechtigt hält — und die meisten Religions­ lehrer werden diese drei Behauptungen für richtig halten — dann wird auch sein Unterricht durch diese Ansichten beeinflußt werden. Zwar ist es nicht die Aufgabe des Religionslehrers, die Schüler über diese theologischen Fragen wissenschaftlich zu belehren — die Theologie gehört nicht in die Schule; aber wohl wird der Lehrer im Interesse der R e l i g i o n bei Gelegenheit, namentlich in den oberen Klaffen, auf diese Fragen eingehen müssen, und jedenfalls wird er seinen Unterricht von diesem Standpunkte aus erteilen, um die Religion nicht zu gefährden. Der Glaube des Schülers würde aber gefährdet, wenn ihm zugemutet würde, an eine buchstäbliche Inspiration der Bibel zu glauben, das Alte und das Neue Testament unter» Bgl. darüber Genaueres oben Nr. I J. — Daß der Lehrer der Wissenschaft giebt, was ihr zukommt, betrachte ich als selbstverständlich, und ebenso, daß trotzdem die Bibel weder in seinen Augen noch in denen der Schüler an Ansehen ver­ lieren wird. 2) Bgl. über diese Punkte Genaueres oben I, H. ’) Heil. Gesch. Nr. 11—15 (2. Ausl. Nr. I). *) Bgl. Nr. I, J.

48 schiedslos als das Buch der göttlichen Offenbarung anzusehen, die Bibel ohne alle Kritik zu lesen. Das ist vielleicht noch auf den niederm Stufen des Religionsunterrichts möglich, aber nicht mehr in den oberen klaffen der höheren Schulen, wo der Schüler in seiner Bildung so weit gefördert ist, daß ein Religionsunterricht dieser Art geradezu schädlich werden könnte. Im Jntereffe der Religion darf der Unterricht nicht in einer die heutige Bibelwisienschaft gänzlich vernachlässigenden Weise erteilt werden. Wenn sich nun gegen einen derartigen Religionsunterricht diejenigen Laien erheben, welche selber einen anderen Unterricht erhalten haben und der neueren Theologie ganz fremd gegenüberstehen, wenn die Religions­ lehrer und die Professoren, als die Lehrer derselben, als ungläubig ge­ scholten und verdammt werden, so müssen dieselben zunächst bedenken, was ein solches Urteil nicht-sachkundiger Beurteiler wert ist; aber ich erlaube mir doch auch noch Folgendes zu bemerken. Wenn der Laie zunächst einen festen Standpunkt in der Religion begehrt, so wird ja dieses Begehren am besten erfüllt in der katholischen Kirche; wer einen unfehlbaren Papst anerkennt, der hat ja einen wirklich festen Halt für seinen Glauben. Diesen Standpunkt hat Luther aufgegeben, und jeder evangelische Christ stimmt darin mit Luther überein. Aber Luther hat darum eines festen Standpunttes in der Religion nicht entbehrt: sein Glaube stützte sich aus die Bibel und auf „helle, Kare Gründe", d. h. auf Bemunst und Gewissen. Aber wenn nun der Laie meint, daß Luther an die Bibel so geglaubt hat, wie die Theologie des 17. Jahrhunderts, so ist das ein großer Irrtum; Luther's Glaube an die Bibel war ein freier Glaube an den Hauptinhalt der heiligen Schrift, nicht der Buchstabenglaube des 17. Jahrhunderts; die neuere Theologie stimmt in der grundsätzlichen Bettachttmg der Bibel mit Luther überein. Wenn nun der Laie glaubt, wenn man nicht buchstäblich an die Bibel glaube, dann werde ja der ganze Glaube zweifelhaft, dann könne man schließlich auch gar nichts mehr glauben, dann ist das eine Schwäche des Glaubens, die er überwinden muß. Der Glaube soll sich weder auf die unfehlbare Kirche noch auf eine von Gott buchstäblich diktierte Bibel stützen, sondern unser Glaube soll ein Glaube an die in der heiligen Schrift uns überlieferte Offenbarung sein; den Inhalt derselben wissenschaftlich 311 erforschen, das ist die Aufgabe der Theologie; an die in der heiligen Schrift enthaltene Offenbarung zu glauben, das ist die Aufgabe des Christen. Wenn nun allerdings in der Theologie heute die verschiedensten Richtungen einander gegenüberstehen, so wird auch die theologische Richtung der Religionslehrer nicht dieselbe sein; aber das ist bei den Pastoren auch nicht der Fall, und bei den Laien erst recht nicht. Wenn also der Unterschied der theologischen Richtungen auch bei den Religionslehrem sich bemerklich machen wird, so ist doch der Unterschied in der Theologie für den Religionsunterricht nicht so bedeutsam, wie mancher unkundige oder ängst­ liche Laie glaubt. Denn in der Schule handelt es sich ja nicht darum zu entscheiden, ob Ritscht recht hat oder nicht, ob dieKenosis-Lehre begründet ist oder nicht, ob die Anselmische Genugthuungslehre richtig ist oder nicht, sondem nur darum, den christlichen Glauben auf Grund der heiligen

49 Schrift und des Katechismus im Sinne der Reformatoren vom bibel­ gläubigen Standpunkte aus darzustellen. Die Schule soll nicht Theologie lehren, sondern Religionsunterricht erteilen; wer das beachtet, für den treten die theologischen Differenzen zurück, und es wird allen Religions­ lehrern, auch wenn sie verschiedenen theologischen Richtungen angehören, möglich sein, das zu leisten, was das Programm der Religionszeitschrift fordert, „den von den Vätern ererbten in den Bekenntnissen niedergelegten Heilsglauben, wie er sich auf die heilige Schrift gründet, in Herz und Geist der Jugend zu einer wahrhaftigen Überzeugung, zu einer lebendigen Kraft zu machen." Aber wenn nun der angehende Religionslehrer, welcher eben die Universität verlassen hat, im Gedränge des Zweifelns und Forschens vielen theologischen Problemen und mancken religiösen Fragen noch erst fragend und suchend gegenübersteht, wie soll er dann in der Schule Religions­ unterricht erteilen in der Freudigkeit imb Sicherheit eines Glaubens, der nicht sucht, sondern hat? Ich lasse auf diese Frage einen anerkannt bibelgläubigen Theologen der Gegenwart antwortend) „Jeder echte Theologe ist im Werdens) es ist eine Unnatur, schon von neu ins Amt tretenden Theologen ein Fertigsein im Sinne der positiven Anschauung zu verlangen. In der Hauptsache soll der ins Amt tretende Theologe fertig sein; aber wer will formulieren, was für die eigene Überzeugung jenes „„in der Hauptsache fertig sein"" ist? Wer selbst gekämpft hat und vielleicht noch kämpft, der wird bei Männern, die im Kämpfen stehen, zuftiedcn sein, wenn sie, ohne positive Verletzung der kirchlichen Lehre, zunächst auch nur eine Vorstufe des Heiligtums ernst und treu vertreten." So mag denn der Lehrer danach ringen, im heutigen Streite der Parteien für sein eigenes Herz und für die Schule den festen Standpunkt des Glaubens zu finden, den er für sich selber und für sein Wirken in der Schule braucht; auch an ihm wird sich, wenn er ernstlich kämpft und ringt, das Wort Christi erfüllen: „Mein Geist wird euch in alle Wahrheit leiten." Auch ein noch nicht fertiger, aber ernstlich suchender Religions­ lehrer wird int stände sein oder wenigstens ernstlich danach ringen, die ihm anvertraute Jugend im Sinne der evangelischen Kirche im christlichen Glauben zu unterrichten.

UI. Der Dücherschah des Ueligionslehrers für -en Unterricht in der Gtaubens- und Littentehre. a. „Sowohl der Prediger als der Katechet muß mehr besitzen, als er von sich giebt; im Hintergründe ihres öffentlichen praktischen Wirkens 9 Kübel, Unterschied der Richtungen in der modernen Theologie S. 184. 2) Das ist bekanntlich ein Wort von Luther (Anmerkungen zu Matth. 13 vom Jahre 1538): „Christianus non est in facto, sed in fieri. Heidrich, Glaubenslehre.

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49 Schrift und des Katechismus im Sinne der Reformatoren vom bibel­ gläubigen Standpunkte aus darzustellen. Die Schule soll nicht Theologie lehren, sondern Religionsunterricht erteilen; wer das beachtet, für den treten die theologischen Differenzen zurück, und es wird allen Religions­ lehrern, auch wenn sie verschiedenen theologischen Richtungen angehören, möglich sein, das zu leisten, was das Programm der Religionszeitschrift fordert, „den von den Vätern ererbten in den Bekenntnissen niedergelegten Heilsglauben, wie er sich auf die heilige Schrift gründet, in Herz und Geist der Jugend zu einer wahrhaftigen Überzeugung, zu einer lebendigen Kraft zu machen." Aber wenn nun der angehende Religionslehrer, welcher eben die Universität verlassen hat, im Gedränge des Zweifelns und Forschens vielen theologischen Problemen und mancken religiösen Fragen noch erst fragend und suchend gegenübersteht, wie soll er dann in der Schule Religions­ unterricht erteilen in der Freudigkeit imb Sicherheit eines Glaubens, der nicht sucht, sondern hat? Ich lasse auf diese Frage einen anerkannt bibelgläubigen Theologen der Gegenwart antwortend) „Jeder echte Theologe ist im Werdens) es ist eine Unnatur, schon von neu ins Amt tretenden Theologen ein Fertigsein im Sinne der positiven Anschauung zu verlangen. In der Hauptsache soll der ins Amt tretende Theologe fertig sein; aber wer will formulieren, was für die eigene Überzeugung jenes „„in der Hauptsache fertig sein"" ist? Wer selbst gekämpft hat und vielleicht noch kämpft, der wird bei Männern, die im Kämpfen stehen, zuftiedcn sein, wenn sie, ohne positive Verletzung der kirchlichen Lehre, zunächst auch nur eine Vorstufe des Heiligtums ernst und treu vertreten." So mag denn der Lehrer danach ringen, im heutigen Streite der Parteien für sein eigenes Herz und für die Schule den festen Standpunkt des Glaubens zu finden, den er für sich selber und für sein Wirken in der Schule braucht; auch an ihm wird sich, wenn er ernstlich kämpft und ringt, das Wort Christi erfüllen: „Mein Geist wird euch in alle Wahrheit leiten." Auch ein noch nicht fertiger, aber ernstlich suchender Religions­ lehrer wird int stände sein oder wenigstens ernstlich danach ringen, die ihm anvertraute Jugend im Sinne der evangelischen Kirche im christlichen Glauben zu unterrichten.

UI. Der Dücherschah des Ueligionslehrers für -en Unterricht in der Gtaubens- und Littentehre. a. „Sowohl der Prediger als der Katechet muß mehr besitzen, als er von sich giebt; im Hintergründe ihres öffentlichen praktischen Wirkens 9 Kübel, Unterschied der Richtungen in der modernen Theologie S. 184. 2) Das ist bekanntlich ein Wort von Luther (Anmerkungen zu Matth. 13 vom Jahre 1538): „Christianus non est in facto, sed in fieri. Heidrich, Glaubenslehre.

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50 müssen auch in betreff der Glaubenslehre klare Einsicht und Wissenschaftlich begründete Prinzipien vorhanden sein." *) Diese Einsicht und die Erkenntnis der Prinzipien kann der Religionslehrer, für den das vorliegende Buch bestimmt ist, nur gewinnen durch das Studium der Dogmatik und der Ethik; mein Buch kann und will ihm dies Studium nicht ersparen, sondern es will ihm nur zeigen, wie er die Dogmatik und Ghik, die er wissenschaftlich kennt, in der Schule darzustellen hat. Aber es scheint mir doch für den angehenden Religionslehrer von Wichtigkeit zu sein, chm nicht bloß zu zeigen, wie er den christlichen Glauben und das christliche Leben in der Schule darzustellen hat, sondern ihm auch einige Anleitung zu geben, wie er zu „klarer Einsicht und zur Erkenntnis wissenschaftlich begründeter Prinzipien" gelangen könne. Von diesem Standpunkte aus ist schon oben die Entwickelung der Glaubenslehre dargelegt worden; die Ent­ wickelung der Sittenlehre wird hier dargestellt. Nunmehr soll dem Religionslehrer für den Unterricht in der Glaubens- und Sittenlehre auch noch eine Übersicht über die für den Unterricht besonders geeigneten

Bücher gegeben werden. Einen solchen Bücherschatz für den Religionslehrer habe ich bereits im ersten Bande meines Handbuchs für die Kirchengeschichte, im zweiten Bande für die Heilige Geschichte zusammen­ gestellt; für die Glaubens- und Sittenlehre wird er hier dargeboten.

b. Hülfsmittel für den Unterricht in der Glaubenslehre. Um sich auf dem schwierigen Gebiete der Glaubenslehre zunächst im allgemeinen zu orientieren, dazu können dem Lehrer folgende Schriften empfohlen werden:

Luthardt, Die modernen Weltanschauungen. Eucken, Grundbegriffe der Gegenwart. ©liefen, Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. Baumann, Die grundlegenden Thatsachen der Naturwissenschaft. Lobstein, Einleitung in die Dogmatik. Sieb eck, Religionsphilosophie. P f l e i d e r e r, Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage. 2 Bde. Saussaye, Lehrbuch der Religionsgeschichte. Um sich über die Gegensätze in der Dogmatik der Gegenwart einiger­ maßen zu orientieren, dazu dürften für den Lehrer folgende Schriften brauchbar sein:

Nitz sch, Lehrbuch der evang. Dogmatik, zweite Aufl. 1896 (besonders Gnl. § 6—7). Länderer, Dogmengeschichte der neuesten Zeit. (Bgl. Theol. Jahres­ bericht I, S. 185: „Ein herrliches, reiches und tiefes Buch, das kein Theolog ungelesen laffen sollte.") Pfleiderer, Entwickelung der protestantischen Theologie. Frank, Geschichte und Kritik der neueren Theologie. 9 Nitzsch, Lehrbuch der ev. Dogmatik (1889) § 2 fin.

51 Kübel, Über den Unterschied zwischen der positiven und der liberalen Richtung in der modernen Theologie. Von den neueren Lehrbüchern der Dogmatik dürften dem Lehrer besonders zu empfehlen sein: Nitzsch, Lehrbuch der Dogmatik. 2. Ausl. 1896. (Ganz besonders zu empfehlen.) Kaftan, Dogmatik. Luthardt, Dogmatik. 1896. Runzc, Katechismus der Dogmatik. Borncmann, Unterricht im Christentum. Wincr, komparative Darstellung des Lehrbegriffs der christl. Kirchen­ parteien. 4. Aufl. 1882. H. Schmidt, Symbolik. 1890. Hase, Polemik. Kattenbusch, Konfcssionskunde. Bis jetzt nur Band I erschienen (Orientalische Kirche). Über die größeren dogmatischen Werke ist oben das Nötige gesagt. (Bgl. G.) Für einige besonders wichtige Abschnitte der Glaubenslehre dürften dem Lehrer noch folgende Bücher gute Dienste leisten. Über das Wesen der Religion mag der Lehrer außer der trefflichen Zusammensaffung bei Nitzsch (Ev. Dogm. § 8—18) und den Darstellungen von Kaftan (Wesen der Religion) und Ziegler (Zum Entscheidungs­ kampf um den christlichen Glauben) noch folgende besondere Schriften beachten: Schleicrmacher, Reden über die Religion. Herrmann, Die Religion im Verhältnis zum Welterkcnncn und zur Sittlichkeit. Herrmann, der Verkehr des Christen mit Gott. Max Müller, Einleitung in die Religionswiffenschaft. 1873. Fichte (der jüngere), Die theistische Weltansicht, 1873. Für die Christologie sei besonders hingewiesen auf: G cß, Christi Person und Werk, 3 Bde. Beyschlag, Leben Jesu, Bd. I. Kühl, Tie Heilsbedeutung des Todes Jesu, 1890. Für die Rechtfertigungslehre wird der Lehrer den Römerbrief studieren müssen; dazu braucht er natürlich einen wiffenschastlichen Kommentar (z. B. Meyer-Weiß); auch sei hier hingewiesen auf: Kögel, Der Brief an die Römer in Predigten. 1853. Eine Zusammen­ saffung der Resultate des Römerbriefs und der heiligen Schrift überhaupt bietet ihm die biblische Theologie, für das A. T. z. B. Dillmann, ATliche Theologie, für das N. T. z. B. Weiß, NTliche Theologie und Beyschlag, NTliche Theologie. Die Litteratur für die Augsburger Konfession und den Katechismus ist schon bei der Kirchengeschichte (Bd. I) angegebm. Daß der Lehrer für die auszulegendm Bibelabschnitte die Bibel­ kommentare zu beachten hat, versteht sich von selbst; auch in den Programmen wird der Lehrer manches Brauchbare finden. 4*

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c. Die Entwickelung der Ethik seit der Reformation?) In welche falschen Bahnen die christliche Sittlichkeit schon in der alten Kirche geraten war, und wie in der Kirche des Mittelalters diese Irrtümer nicht bloß beibehalten sondern noch verstärk worden sind, ist anderwärts dargelegt/-) Daß diese sittlichen Anschauungen der alten und der mittelalterlichen Kirche durch die Jesuiten noch weiter verkehrt worden, und daß die Moral der Jesuiten noch heute in der katholischen Kirche die herrschende und offiziell anerkannte Moral ist, ist ebenfalls anderwärts dargelegt?) Wer sich über die katholische und besonders über die jesuitische Moral unterrichten will, der wird etwa lesen: Pascal, Provinzialbriefe. Hase, Polemik. Huber, Der Jesuitenorden. Eine neue Periode auch für die christliche Ethik beginnt mit der Reformation. Daß die katholische Lehre von der rechten Sittlichkeit nicht die richtige sei, hatte Luther im Kloster erfahren: auf Grund dieser Erfahrung war er empfänglich geworden für die in der heiligen Schrift enthaltene richttge Lehre vom wahren Christentum. Seine Lehre von der wahren Sittlichkeit (von welcher anderwärts Genaueres gesagt ist)4) findet der Lehrer dargestellt in den Bekenntnisschriften, wie auch in Luthers Schriften, namentlich in der Schrift „Von der Freiheit eines Christen­ menschen" ; dazu sind dann auch die betreffenden Abschnitte in Melanchthons und Calvins Glaubenslehren zu vergleichen. Eine selbst­ ständige Darstellung der christlichen Ethik ist zuerst von dem Reformierten Danäus (t 1596) und von dem Lutheraner Calixtus (1634) gegeben worden. Nachdem die Ethik in der folgenden Zeit in pietistischem und in rationalistischem Sinne behandelt worden war, faßte der Supra­ naturalist Reinhard das bis dahin Gewonnene zusammen in seinem fünfbändigen Werke „System der christlichen Moral" (1788). Tie neuere Ethik ist vornehmlich durch Kant (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785: Kritik der prattischcn Vernunft, 1788; Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793)5) und Schleiermacher (Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, 1803; System der philosophischen Ethik, 1835; Grundriß der philo­ sophischen Ethik, 1841; die christliche Sitte, 1843) beeinflußt worden. Bon den neueren Darstellungen der Ethik dürften für den Lehrer vor­ nehmlich in Betracht kommen die kürzeren Werke: *) Die Geschichte der christlichen Ethik ist dargestellt in folgenden Werten: Gaß, Geschickte der christlichen Ethik; Luthardt, Geschichte der christlichen Ethik; Ziegler, Geschichte der christlichen Ethik. e) Vgl. unten Nr. 77. 3) Vgl. Kirchengeschichte Nr. 71. (2. Ausl.: Nr. 82.) 7 W Nr. 77. 6) Wie Schiller den bei Kant sich findenden Widerstreit zwischen Pflicht und Neigungin der „schönen Seele", d. h. durch die Kunst, lösen wollte, zeigt namentlich seine Schrift „Über Anmut nnd Würde" (1793).

53 Weiß, Einleitung in die Ethik. 1890. Carriere, Die sittliche Weltordnung. 2. Aufl., 1891. Luthardt, Vorträge über die Moral des Christentums. Luthardt, Kompendium der theologischen Ethik. Köstlin, christliche Ethik. Neben denselben sind zu beachten die größeren Werke: Wuttke, Handbuch der christlichen Sittenlehre. Martensen, Die christliche Ethik. A. Dörner «der jüngere), Das menschliche Handeln. Außerdem sind noch zu beachten: Ritscht, Geschichte des Pietismus, 3 Bde. Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung, bes. Band 3. v. Lettingen's Sozialethik, welche „auf der Grundlage der Moral­ statistik die christliche Sittenlehre als deduttive Entwickelung der Gesetze christlichen Heilslebens im Lrganismus der Menschheit" dar­ gestellt hat (3. Aufl. 1882). Auf das große Werk von Luthardt über die Geschichte der christ­ lichen Ethik ist schon oben hingewiesen worden. Von den neueren Schriften über philosophische Ethik dürften für d-en Lehrer vornehmlich in Betracht kommen: T r c n d e l e n b u r g, Naturrccht, 2. Aufl. 1868. Lohe, Mikrokosmus. Will mann, Geschichte des Idealismus, 3 Bde. Ziller, Allgemeine philosophische Ethik 1880 (auf Herbart be­ ruhend). Paulsen, Ethik. Wundt, Ethik. Baumann, Handbuch der Moral. Bon Einzclschriften dürften etwa folgende zu beachten sein: Gerok, Illusionen und Ideale. Ziegler, Sittliches Sein und sittliches Werden. Hilty, Glück. Drummond, Tas Beste in der Welt. Wir und das Beste in der Welt. Leipzig, Richter. Bartels, Die Sittenlehre der evangelisch-lutherischen Kirche. Ziegler, Tie sociale Frage, eine sittliche Frage. Nathusius, Tie Mitarbeit der Kirche an der Lösung der socialen Frage.

MaubensLeHre. Erster Abschnitt. ') „Wo findet die Seele die Heimat die Ruh'?" „Du hast uns zu Dir geschaffen, o Herr, und unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in Dir!" '» Vorbemerkung für den Lehrer. Bom Glauben des Menschen an Gott handelt der erste Abschnitt der Glaubens­ lehre; derselbe zerfällt aber in fünf Teile, von denen der erste das Wesen der Religion, der zweite das Recht des Glaubens, der dritte das Wesen Gottes, der vierte Gott als Schöpfer, der fünfte Gott als Erhalter und Leiter der Welt dar­ stellt. Tas Wesen Gottes (dritter Teil) wird hier aber nicht in dogmatischer Voll­ ständigkeit dargestellt, sondern nur soweit es hier in Betracht kommt; von der Dreieinigkeit ist erst die Rede, nachdem von Christus und dem Heiligen Geiste ge­ sprochen worden ist. So gewinnt der Schüler allmählich eine immer tiefere Er­ kenntnis von Gott, und dieser allmähliche Fortschritt in der Erkenntnis ist, wie ich glaube, für die Schule dem systematischen Gange der Wissenschaft

vorzuziehen. Bei diesem Teile (wie auch in andern Abschnitten des Buches- sind für den Lehrer einige Erläuterungen und Ausführungen beigefügt, wie sie mir für den Lehrer erwünscht schienen; dieselben sind durch kleineren Druck oder durch eine dar­ auf bezügliche Bemerkung, als nur für den Lehrer bestimmt, kenntlich gemacht.

I. Ursprung und Wesen der Ueligion. 1. Einleitung. Es ist die Aufgabe des vorliegenden Buches (des komnrenden Jahres im Schulleben), den christlichen Glauben darzustetten. Derselbe ist uns ja

’) Daß die drei ersten Abschnitte der Glaubenslehre als eine Einleitung für den Römerbries und die Hauptabschnitte der auf diesem Briese beruhenden Augsb. Konfession anzusehen sind — daraus ist oben (II) hingewiesen worden. 2) „Fecisti nos ad te, Domine, et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te.“ Augustinus.

55

nichts Fremdes, da wir ihn schon längst aus dem Katechismus kennen gelernt haben. Hier gilt es nun, denselben tiefer und gründlicher zu er­ fassen, ebenso wie wir auch die heilige Geschichte und die Geschichte der Kirche noch gründlicher kennen gelernt haben als in den unteren und mittleren Klassen. Wenn wir nun die christliche Religion genauer betrachten wollen, so werden wir zuerst nach der Religion überhaupt fragen und ihren Ursprung und ihr Wesen zu verstehen suchen müssen. Was ist Religion, und woher stammt die Religion — diese Frage müssen wir zunächst beantworten. Auf diese Frage werden wir die Antwort bekommen: die Religion erhalten wir durch die Überlieferung: aber die uns überlieferte Religion wird in uns nur darum lebendig, weil in uns selber das Verlangen nach Gott lebt; diesem Verlangen nach Gott kommt aber entgegen die Offen­ barung Gottes an den Menschen. Drei Gedanken sind es also, die wir hier zu betrachten haben: die Religion in der Welt, das Verlangen des Menschen nach Gott und die Offenbarung Gottes an den Menschen — auf diesen drei Dingen beruht des Menschen Glaube an Gott. 2.

A. Die Religion in der Welt.

a. Wenn wir heute an Gott glauben, so verdanken wir das unsern Eltern, Lehrern und Geistlichen, die uns von Jugend an zu Gott geführt haben, indem sie uns lehrten, betend die Hände falten, noch ehe wir sprechen konnten, und von dem Gott im Himmel erzählten, als wir ihre Worte noch kaum verstanden. Auch zu unsern Eltern und Voreltern war aber der Glaube an Gott durch Überlieferung gekommen. Denn nicht in jedem einzelnen Menschen entsteht die Religion aufs neue und ohne Zu­ sammenhang mit den andern Menschen: das ist so wenig bei der Religion der Fall, wie bei der Sprache und bei der geistigen Bildung. Von andern Menschen lernt der Mensch sprechen, und von andern empfängt er zunächst geistige Bildung; so empfängt er auch zunächst von anderen Menschen die Religion. Denn nicht in den einzelnen Menschen, sondern in den großen Gemeinschaften der Stämme oder Völker ist die Religion zunächst in der Welt vorhanden, und von den Gemeinschaften kommt sie erst zu den einzelnen Menschen. Jeder Mensch wird, wie in eine staat­ liche und sprachliche und geistige, so auch in eine religiöse Gemeinschaft hineingeboren, und durch die objektiv in der Gemeinschaft vorhandene Religion wird die subjektive Religion des einzelnen Menschen hervorgerufen. Diese objektiv vorhandene Religion wirkt nun auf den einzelnen Menschen ein; wer dieselbe aber nur äußerlich auftrimmt, der verfällt einem toten Ceremoniendienste, von welchem das Herz unberührt bleibt. Die objektive Religion soll also zum lebendigen Eigentum des Menschen werden; nur derjenige, in welchem das geschieht, hat in Wahrheit Religion. b.

Die in der Welt vorhandenen objektiven Religionen, die Religionsgemein­

schaften/) stellen sich aber dar in einer besonderen Stiftungsgeschichte, in einem Kultus, iii einem Dogma und in besonderen socialen Sitten.

9 Eine Übersicht über dieselben Nr. 90 (80).

findet der Lehrer in

meiner Kirchengesch.*

56 Jede bestimmte Religion (und es giebt nur solche — eine sogen, natürliche Religion giebt es ebensowenig, wie eine natürliche Sprache) hat ihre mündlich oder schriftlich überlieferte Stistungsgeschichte. Dem Stifter der Religion entstammen nun oder seiner Stiftung entsprechen wenigstens Kultusvorschriften und Glaubens­ sätze; je nach der Religion sind diese oder jene überwiegend. Die Hauptformen deS Kultus sind Gebet und Opfers) welche, von der niedrigsten Stufe aufwärts, sich immer weiter entwickeln, je mehr die Religion sich entwickelt. Endlich hängen auch bestimmte sociale Sitten mit der Religion zusammen.

Diese verschiedenen Dinge werden durch ein Band der Einheit im Menschen zusammengehalten; nicht eins dieser Elemente für sich, sondern erst alle mit ein­ ander machen die Religion aus; in der Religion sind diese einzelnen Elemente zu einer Einheit zusammengefaßt. c. Aber wie ist nun dieReligion zuerst entstanden? — So ftagt heute die Wissenschaft, die ja die Anfänge aller Dinge zu erforschen sucht. Schon frühzeitig haben die Menschen nach dem Ursprünge des Glaubens an Gott gefragt, und es ist nicht gleichgültig, was man auf diese Frage antwortet; wer sie unrichtig

beantwortet, der kann auch das Wesen der Religion leicht verkennen.

Die Entstehung der Religion ist aber ebenso schwer zu erforschen, wie die Ent­ stehung des ganzen geistigen Lebens der Menschen überhaupt, der Sprache, der Sitt­ lichkeit, des Rechtes u. s. w. Es ist daher kein Wunder, daß die Meinungen der Forscher über die Entstehung der Religion heute noch weit auseinandergehen. Für den Schüler ist aber gewiß richtig, was Kaftan über diese Frage überhaupt sagt: „Es fördert die Frage nach dem Wesen der Religion nicht, wenn sie mit der andern nach dem geschichtlichen Ursprünge derselben verbunden wird."-)

Es dürfte hier daher jedenfalls genügen, den Lehrer kurz auf den Haupt­ gegensatz bei der Beantwortung der Frage nach dem Ursprunges und der Ent­ wickelung der Religion hinzuweisen. Nach der einen Ansicht) hat sich die Religion allmählich von der niedrigsten'') bis zur höchsten Stufe, dem Monotheismus, entwickelt; diese Forscher stehen also

') In den niedrigsten Religionen geht denselben voran die Nachahmung des göttlichen Thuns durch den Menschen, welcher durch dieselbe das Wohlgefallen der Götter zu gewinnen hofft. Wenn der Samojede betet: „Liebe Sonne, mit dir zusammen stehe ich auf, und mit dir zusammen gehe ich schlafen" — so betrachtet er ein solches Thun als ein Zeichen von Frömmigkeit. -) Kaftan, Wesen des Christ., S. 20.

3) Über den Ursprung ergiebt sich auch noch manches aus dem, was unten über das Wesen der Religion gesagt wird. l) Tiele (Religionsgeschichte), Gerland, Duncker (Gesch. des Alt.), Preller lgriech. Myth.) u. a.

5) Als solche gilt aber einigen Forschern der Geisterglaube (Animismus), anderen der Glaube an N a t u r m ä ch te, welche die Menschen in den Naturerscheinungen wirksam zu sehen glaubten. Bei der letzteren Ansicht gehen aber die Meinungen der Forscher in d e r Weise auseinander, daß die einen annehmen, der Glaube von Gott sei vornehmlich durch die Wahrnehmung der regelmäßigen Naturerscheiungen entstanden (Sonne), die andern dagegen, daß vornehmlich durch die Furcht vor den unregelmäßigen Naturerscheinungen der Glaube an Gott hervorgerufen worden sei (Gewitter).

auf dem Standpunkte der Entwickelungstheorie. Wer es aber nicht für richtig hält, den Menschen aus dem Tiere, die Sprache aus den tierischen Lauten sich entwickeln

zu lasten, der wird auch die Religion nicht mit der uns heute entgegentretenden niedrigsten Stufe derselben, welche manche Forscher sogar schon beim Tiere finden wollten, beginnen lassen. Nach der andern Ansicht') bildet den Anfang der Religion zwar nicht eine vollkommene (wie man früher dachte), aber jedenfalls eine nicht unrichtige Erkenntnis Gottes, welchen der Mensch in den Naturerscheinungen wirksam glaubte (also die Naturanschauung) oder für die Not des Lebens als Helfer verlangte und wirksam glaubte (also die Lebenserfahrung).-) Diese Religion war aber, wenn auch nicht ein strenger Monotheismus, so doch Henotheismus d. h. Anbetung nur eines Gottes, ohne bewußte Ausschließung der Existenz anderer Götter, und von dieser ursprünglichen Religion aus ist einerseits eine Weiterentwickelung, andrer­ seits ein Verfall der Religion erfolgt. Einerseits ist aus dem Henotheismus ein bewußter Monotheismus geworden, vom Heidentum mehr erstrebt als erreicht, vom Judentum, Christentum und Islam wirklich erreicht. Andererseits ist die ursprünglich reinere Gottesfurcht allmählich verdunkelt worden, indem an die Stelle Gottes all­ mählich die Naturkräfte und Naturerscheinungen traten. Da nun aber in der Natur dem Menschen so verschiedene Erscheinungen und entgegengesetzte Kräfte entgegen­ treten, so wurde aus der Verehrung des einen Gottes die Verehrung vieler Götter (Polntheismus ooer wenigstens Dualismus). Wenn der Mensch ursprünglich int Himmel, int Sturm, im Feuer u. s. w. nur eine mannigfache Offenbarung der einen G ottheil erkannt hatte, so sah er später in diesen Erscheinungen, auch durch die Sprache, besonders die Poesie, dazu verleitet, verschiedene Götter. Wenn es sogar noch bei einem neueren Dichter (S. Dach) heißt:

„Dieser Monat ist ein Kuß, Den der Himmel giebt der Erde, Daß sie jetzo eine Braut, Künftig eine Mutter werde" — ohne daß doch dieser Dichter Himmel und Erde als persönliche Mächte betrachtet,

so ist es nicht zu verwundern, wenn in der alten Zeit, wo die Phantasie viel mäch­ tiger war als heute, aus Himmel und Erde zwei göttliche Personen wurden, die sich in einem „heiligen Ehebunde" mit einander verbanden?) Ties Herabsinkcn der Religion von einem ursprünglichen Monotheismus (oder wenigstens Henotheismus) zum Polytheismus haben die Gelehrten für verschiedene Religionen noch nachzuweisen vermocht, z. B. für die indische Religion (M. Müller), für die griechische (CurtiuS) u. s. w. Auch im Christentum ist ja ein solches Her­ absinken der Religion vom Monotheismus zum Polytheismus wahrzunehmen; der Heiligendienst vieler Katholiken, vollends die Spaltung der einen Maria in ver­

schiedene Mariecn, welche an verschiedenen Orten wirksam sind und sich mehr oder weniger hilfreich erweisen, ist offenbar ein Herabsinken zum Polytheismus. ') V. v. Strauß, M. Müller, Pfleiderer, Carriöre u. a. -) Über diesen Gegensatz in der Erklärung der Religion folgt unten Genaueres.

3) Von diesem „heiligen Ehebunde" spricht wohl auch Homer (Ilias 14), ohne sreilich von der Entstehung und Bedeutung dieses Mythus (wie auch der anderen Mythen) noch etwas zu wissen.

58 3-8.

L. Das Verlangen des Menschen nach Gott. 3. Einleitung.

Von seinen Mitmenschen empfängt der einzelne Mensch, wie die Sprache und andere Dinge, so auch die Religion. Aber er nimmt die Religion nur darum an, weil in ihm selber ein Verlangen nach Gott vorhanden ist, und die Religion wird in ihm nur soweit lebendig, als das Verlangen nach Gott in ihm erwacht; sonst bleibt sie ein toter Schatz für den Menschen. Worauf beruht nun das Verlangen des Menschen nach Gott ? Auf diese Frage geben die Gelehrten sehr verschiedene Antworten, indem sie das Verlangen nach Gott auf sehr verschiedene Weise aus dem Wesen des Menschen herleiten. Einige führen dasselbe auf die Phantasie, andere auf den Verstand, wieder andere auf den Willen, endlich noch andere auf das Gemüt zurück, und da das alles nun wieder in sehr verschiedener Weise geschehen kann, so ergiebt sich eine große Anzahl von Antworten auf die Frage, worauf das Verlangen des Menschen nach Gott beruhe, und wie demgemäß die Religion entstanden sei. Eine Übersicht über diese verschiedenen Antworten soll im folgenden so gegeben werden, daß für den Schüler nur die Hmrptansichten, für den Lehrer auch andere Ansichten vorgeführt werden?)

4. a. Die Herleitung der Religion aus der Phantasie. a. Auch von demjenigen, welcher die Religion nicht aus der Phantasie herleitet, wird anerkannt, daß die P h a n t a s i e in der Religion eine Rolle spielt. Die Mythen der heidnischen Religionen erhalten wenigstens ihre Gestalt durch die Phantasie, und auch in der Religion der Bibel iviclt die Phantasie eine berechtigte Rolle; die Schildenmgen der Propheten von dem zukünftigen Gottesreiche beruhen wenigstens in ihrer Form auf der Phantasie, und dieses Walten der Phantasie ist jedenfalls auch in der Religion als berechtigt anzusehen. Wenn man nun aber die Religion überhaupt aus der Phantasie herleitet, so kann das in sehr verschiedener Weise geschehen, nämlich entweder so, daß sie als ein eitles oder so, daß sie als ein berechtigtes Phantasiegebilde erscheint. Ob aber die Religion als ein berechtigtes Phantasiegebilde dem Menschen im Glauben an Gott, zu dem sie den Menschen führt, etwas der Wirklichkeit Entsprechendes darbietet, ist wiederum zweifelhaft. Diese verschiedene Erklärung der Religion aus der Phantasie soll nun im folgenden genauer dargelegt werden. ß. Es hat Zeiten gegeben, wo die Religion den Menschen verdächtigt wurde als eine (auf der Phantasie beruhende) eitle Erdichtung kluger Fürstens oder auch listiger Priester, welche durch diese Erfindung das gemeine Volk beherrschen und ausbeuten wollten; das hätten die Priester J) Wer eine vollständige Übersicht über diese Frage gewinnen will, mag z. B. die Dogmatik von Nitzsch § 8—18, vergleichen. 2) So zuerst der Sophist Kritias (vgl. Nitzsch, Dogmatik, § 9i.

59 für sich im Auge gehabt, oder die Könige in ihrem Interesse beabsichtigt, durch Benutzung der Priester, welche ihnen halfen, ihre Herrschaft auch dahin auszudehnen, wohin Gesetz und Richter, Polizei und Soldaten nicht reichen. — Es hat leider zu allen Zeiten und in allen Religionen solche Priester gegeben, denen die Religion bloß ein Mittel war, um Herrschaft und Reichtum zu gewinnen. Es hat auch zu allen Zeiten Herrscher ge­ geben, welche die Religion dazu benutzt haben, um ihr Volk noch mehr zu knechten. Aber wenn auch in der That die Religion in dieser Weise gemißbraucht worden ist, so ist es doch durchaus verkehrt, zu glauben, daß sie durch heuchlerische Priester und herrschsüchtige Könige erfunden worden sei. Wo es P r i e st e r gab, war die R e l i gi o n bereits vorhanden; die Religion ist also älter, als die Priester. Könige aber, die die Reli­ gion benützen wollten, mußten dieselbe doch ebenfalls schon kennen. Und wie wäre es denn möglich, der ganzen Menschheit etwas aufzubürden, wovon sie nur Schaden hätte, und wonach sie doch in ihrem eigenen Innern gar kein Verlangen trüge, was ihrer Natur ganz ftemd, und was ganz falsch und nur erdichtet wäre! Das ist ganz undenkbar, und heute glaubt kein Mensch mehr an einen derartigen Ursprung der Religion — die Religion ist nicht ein eitles Phantasiegebildc weniger Menschen; Priester und Fürsten haben zwar oft die vorhandene Religion gemiß­ braucht, aber sie nicht erfunden. y. Als die Griechen an ihrem Glauben irre wurden, da trat unter ihnen ein Philosoph auf, Namens E u h e m e r o s (c. 300 vor Chr ), welcher nachzuweisen unternahm, daß ihre Götter nur (durch die Phantasie) un­ willkürlich vergötterte Menschen seien. Hier sei ja Zeus geboren, dort gestorben und begraben, wie die Sage erzähle — daraus folge offenbar, daß Zeus und ebenso die anderen Götter nur Menschen gewesen und erst nach ihrem Tode vergöttert worden seien. Diese Entdeckung des Euhemeros fand damals großen Beifall — aber mit Unrecht. Zunächst erklärt ja Euhemeros gar nicht, woher denn die Griechen den Begriff eines Gottes gehabt haben, den sie auf Zeus übertrugen; er erklärt also gar nicht, was er erklären wollte, wie die Menschen zum Glauben an Gott gekommen seien. Sodann aber meint man heute, gerade das Gegenteil von dem, was Euhemeros gesagt habe, sei das Richtige: viele menschliche Helden der Griechen (und anderer Völker) seien ursprünglich Götter gewesen, und erst später seien sie vermenschlicht worden (z. B. Herakles und Siegfried). Auch die Ansicht des Euhemeros, daß die Religion ein unwillkürliches Gebilde der Phantasie sei, ist heute von der Wissenschaft gänzlich auf­ gegeben?) ebr. 2, 14—15); Luther hat uns gezeigt, worin die rechte Furcht vor Gott besteht, nicht in beständiger Angst vor einem uns feindlichen Gott und vor feindlichen Mächten, die uns auf Schritt und Tritt bedrohen, sondern in der Scheu vor der Über­ tretung des Gesetzes des heiligen Gottes.

ß. Und eine zweite Folge hat der Sündenfall nach sich gezogen: die Sünde wird fortan in der Menschheit die herrschende Macht. Wenn in der Bibel erzählt wird, daß schon unter den ersten Menschen ein Bruder den anderen getötet hat (1. Mose 4), und daß die Sünde so allgemein ge­ worden sei, daß Gott zu ihrer Besttafung ein schweres Strafgericht über die Menschen geschickt habe, die Sündflut, so wissen wir aus der Geschichte, daß die Sünde in allen Zeiten unter allen Völkern geherrscht hat, ja, daß noch heute die Christen, wie sehr auch bei ihnen die Sünde bekämpft wird, von der Sünde nicht frei sind; auch in der Christenheit giebt es keinen Menschen, der von der Sünde ganz frei ist. /. Und endlich erkennt der Sünder im Tode und in den Übeln der Welt die verdienten Strafen für seine Sünde. Nach der Erzählung der Bibel vom Sündenfall ist nämlich als Folge der durch Adam in die Welt gekommenen Sünde der Tod zu betrachten. Aber ist nicht, wie ja auch das A. T. an anderen Stellen sagt (1. Mose 18, 27; Hiob 5,7; Jes. 40, 5), der Tod das für alle Menschen, auch für die erstgeschaffenen, an sich unvcrmeidliche Ende des irdischen Lebens?1)2 Diese beiden Anschauungen stimmen darin überein, daß sie den Tod für den heutigen Menschen als eine göttliche Lrdnung betrachten, aber sie gehen aus einander in der Frage nach dem Ursprünge der Sterbens­ notwendigkeit für den Menschen. Zwar das behauptet ja auch die Bibel nicht, daß Adam an sich unsterblich war; sein irdisches Leben hätte wohl, wie es einen Anfang gehabt hat, auch einen Ausgang gehabt — aber freilich einen anderen, weniger schrecklichen, nicht so unnatürlichen, wie heute der Tod ist; das ewige Leben sollten die Menschen erst gewinnen durch den Genuß der Früchte des Lebensbaums, d. h. durch die dauernde innere Gemeinschaft mit Gott. Noch weniger aber darf behauptet werden, daß es ohne die Sünde Adams auch für die Tiere kein Sterben gegeben hätte: dieselben sind vor Adam (wie die heutige Naturwissenschaft unwiderleglich zeigt) nicht bloß als Einzelwesen, sondern in vielen Arten und Gattungen gestorben und sogar ausgestorben. Nur für den Menschen gilt die Ver­ bindung von Sünde und Tod, welche die Bibel namentlich in der Geschichte vom Sündenfall behauptet?) Und wie der Tod, so werden auch die 1) Die letztere Anschauung vertritt Pelagius, dem auch hier Augustinus gegenübersteht. 2) Aber die spätere jüdische Theologie behauptet (wie Röm. 5, 12 Ende), daß jeder nur aus Grund seines eigenen Sündigens sterbe. Vgl. Weber, jüd. Theo!. § 54 fin.

145

Übel

in

der Welt von

der

Bibel

auf

des Menschen Sünde

zurück­

geführt?) Der Mensch wird ja heute allerdings als Sünder geboren, aber leine sündigen Thaten sind doch trotzdem sein Werk und seine Schuld; darum ist es nicht ungerecht, wenn auf die Sünde Tod und Übel als Strafe folgen. Auch diejenigen Übel, welche mit des Menschen Sünde

nicht notwendig zusammenhängen, den Tod und die Krankheiten und die dem Menschen schädlichen Naturmächte, betrachtet nun die Bibel als Strafen, welche der Mensch erst durch seine Sünden in die Welt gebracht habe. Es ist nun jedenfalls wenigstens eine schöne Anschauung, daß der Mensch so sehr „seines Glückes Schmied" sei, daß er von allen Übeln frei sein würde und sogar nicht zu sterben brauchte, wenn er in ungestörter Gemeinschaft mit Gott stände; aber da den Menschen die Erfahrung über einen solchen Zustand aller Freiheit vom Übel fehlt, so ist es kein Wunder, daß mancher

zu einer so hohen Ansicht vom Menschen sich nicht zu erheben vermag. Aber auch wer Tod und Übel nicht von der Sünde herleitet, stimmt doch wenigstens darin mit der Bibel überein, daß auch er auf eine Zeit hofft, wo es kein Übel und keinen Tod mehr für den Menschen geben wird, e. Aber nicht ganz unglücklich wird der gefallene Mensch: das Paradies wird nicht vernichtet, und der Mensch darf hoffen, wieder in die Gemeinschaft mit Gott, nach der er auch als sündiger Mensch Verlangen trägt, zurückzukehren; er darf hoffen, die Sünde auch einmal zu über­ winden; die zunächst als Strafe der Sünde empfundenen Übel sind doch auch Erziehungsmittel zur Frömmigkeit.

a. Wie sehr auch die Religion infolge der Sünde der Menschen ent­ artet ist, so haben doch die Menschen die Religion, d. h. die Gemeinschaft mit Gott, nicht ganz verloren. Auch die niedrigsten Religionen, in denen die Furcht vor den bösen Geistern eine größere Rolle spielt als die Furcht vor Gott, haben doch den Glauben an Gott nicht ganz aufgegeben, und auch der nichtswürdigste Mensch, der ungescheut die schwersten Verbrechen begeht, muß doch erst immer aufs neue versuchen, die auch ihm innewohnende Furcht vor einem strafenden Gott zu unterdrücken. Was nun die Heiden immer mehr verloren haben, haben die Juden zunächst festgehalten, und später ist durch die ihnen zu teil gewordene Offenbarung ihre Religion immer mehr vervollkommnet worden, und endlich ist aus ihrer Religion das Christentum hervorgegangen. Wir Christen betrachten es nun als unsere Aufgabe, unsere armen heidnischen Mitmenschen, deren Religion so sehr verkümmert ist, zur rechten Religion hinzuführen. Das ist aber nur darum möglich, weil auch alle Heiden noch Religion haben, wie sehr dieselbe auch verkümmert ist.

ß. Wie sehr auch die Sünde in der Menschheit die herrschende Macht geworden ist, so ist doch auch im Sünder das Gewissen nicht erstorben. 9 Die spätere jüdische Theologie, für welche Joh. 9 2 (die angebliche Ursache für die Blindheit des Blindgeborenen) der älteste Beleg ist, führte sälschlichjedeS einzelne Übel auf eine einzelne Sünde zurück. Bai. Weber, jüo. Theol? § 52,1. Ja, man glaubte aus bestimmten Leideil auf bestimmte Sünden schließen zu können, z. B. aus Braune auf Verleumdung. W e b e r 1. e. § 52,3. Heidrich, Glaubenslehre.

10

146

Zwar oft genug hält der Mensch für gut, was nicht gut ist, und oft genug thut er nicht, was er für gut hält, aber auch derjenige, der das Gute nicht kennt, will doch wenigstens Gutes thun, und derjenige, welcher oft aus sein Gewissen nicht hört, besitzt doch noch ein Gewissen; auch der schlechteste Mensch ist noch immer nicht „jenseits von Gut und Böse", wie das Tier, sondern auch er fühlt sich im Gewissen an das Gute ge­ bunden, auch wenn er das Gute weder richtig erkennt noch wirklich thut. Auch der sündige Mensch hat noch Vernunft und Gewissen, und darum steht er über dem Tier und ist nicht zum Teufel geworden; auch unter den sündigen Menschen giebt es gute und böse Menschen; auch unter ihnen giebt es Menschen, welche nicht bloß den äußeren Forderungen des Gesetzes zu entsprechen sich bemühen, sondern auch der wahren Sittlichkeit nahe kommen. Aber der gewöhnliche Mensch bringt cs zunächst noch nicht einmal dahin, daß er das Gute will, geschweige denn dahin, daß er es thut; er sündigt, ohne zu wissen, daß er Sünde thut. Wenn aber das Be­ wußtsein der Sünde in ihm erwacht, hervorgerufen durch das in ihm erwachende Gewissen oder das ihm zum Bewußtsein kommende mosaische oder christliche Gesetz, so bringt ihn dasselbe durchaus nicht notwendig zum Kampf gegen die Sünde, sondern eher zum Trotz gegen das Gesetz. Wenn er aber wirklich gegen die Sünde ankämpft, dann bringt er es zwar zur Erkenntnis der Sünde aber nicht zur Überwindung der Sünde.

Wer sich aber als Sünder erkennt, der kann entweder verzweifeln, weil er sich trotz des besten Willens von der Sünde nicht freimachen kann, oder er gelangt im günstigeren Falle (wie der Apostel Paulus: Rom. 7) zur Sehnsucht nach Erlösung von der Sünde. 7. Wenn auch der Tod unb die Übel in der Welt von der Bibel zunächst als göttliche Strafen für die Sünde angesehen werden, so darf doch zunächst dieser Glaube nicht dahin ausgedehnt werden, daß jeder Mensch schon in diesem Leben empfängt, was seine Thaten wert sind. Dieser Glaube, der im A. T. so stark hervortritt, weil in demselben der Glaube an eine Vergeltung im Jenseits noch nicht vorhanden war, mußte zum Widerspruch reizen unb zum Nachdenken auffordern; daß diese Frage das Problem namentlich des Buches Hiob ist, ist anderwärts gezeigt worden;*) aber auch das Buch Hiob schließt noch damit, daß Hiob auch auf Erden wieder glücklich wird, obwohl die Reden Elihu's schon auf eine andere Bettachtung des Leidens Hinweisen. Schon das A. T. ist nämlich dazu fortgeschritten, im Übel ein Er­

ziehungsmittel zur Frömmigkeit zu erkennen, und dieser Betrachtungs­ weise des Übels stimmen auch diejenigen zu, welche das Übel als von Anfang an vorhanden bettachten. Diese Betrachtungsweise des Übels ist nun zwar auch dem A. T. nicht ftemd (Hiob 5, 17—26; 33, 13—30; 36, 5—12); aber hier tritt doch daneben meistens noch wieder der Gedanke auf, daß diese Prüfung schon auf Erden eine Ende haben müsse, wie ja auch im Buche Hiob dem leidenden Unschuldigen noch auf der Erde eine Befteiung vom Unglück zu teil wird. Jedoch auch schon im A. T.

Vgl. Heil. Gesch. Nr. 80. (2. Ausl. Nr. 84.)

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(besonders Jes. 53) ist die Erkenntnis gewonnen, daß der Gerechte auch im Leiden zu Grunde gehen könne, und das N. T. hat im Gleichnis vom armen Lazarus und in der G-schichte des Leidens Jesu es bestätigt, daß es ein Leiden des Gerechten giebt, welches auf Erden kein Ende nimmt. Und so soll denn der Christ nicht, wie Hiob, erwarten, daß er, wenn er an Gott sesthält, notwendig schon auf Erden von seinem Leiden erlöst werden müsse: der Christ soll vielmehr mit Paulus sprechen (Röm. 8, 28 und 35—39): „Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen. Was will uns scheiden von der Liebe Gottes?" DeS Christen Hoffnung ist zwar ebenfalls gerichtet auf eine Erlösung von dem Übel, ober erst, wenn der neue Himmel und die neue Erde erschienen sind, dann wird der Tod nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn erst dann ist der bisherige Zustand der Welt oer­ gangen, und es ist alles neu geworden (Lff. 21, 1—4).

30.

Die Lehre von der Sünde in den evangelischen Katechismen und in der Augsburger Confesfion (Art. 2. 19. 18). A. Die evangelischen Katechismen.

Wenn Luther im ersten Artikel daraus hinweist, daß Gott uns „vor allem Übel bewahrt", und im zweiten Artikel den Menschen als „verloren und verdammt" bezeichnet, und im dritten Arttkel sagt, daß der Mensch „nicht aus eigener Vernunft noch Kraft" selig werden kann, so weist er mit diesen Aussagen auf eine Thatsache hin, die er als bekannt voraussetzt, aber in seinem Katechismus nicht besonders behandelt, nämlich darauf, daß der von Gott geschaffene Mensch von Gott abgekommen ist, also ein „verlorener" Mensch geworden ist, der „verdammt" werden müßte, wenn er von diesem Wege nicht zurückkommt, und daß er von mancherlei Übeln

heimgcsucht wird. Aber wie ist denn der von Gott geschaffene Mensch ein Sünder ge­ worden, und woher stammen die ihn bedrohenden Übel? Diese Frage,

welche Luther in seinem Katechismus nicht besonders behandelt, wird besonders behandelt im Heidelberger Katechismus, welcher in seinem ersten Teile handelt „von des Menschen Elend", und diese Darlegung beruht natürlich auf der Bibel, in welcher zwar ebenfalls in der Regel — wie in Luthers Katechismus — nur vorausgesetzt wird, daß der Mensch ein Sünder sei und einer Erlösung bedürft, aber doch bisweilen — aller­ dings nur ausnahmsweise — auch auf den Ursprung der Sünde und deS Elends der Menschen hingewiesen wird, wie das im Heidelberger Katechismus geschieht. Dagegen wird in der Augsb. Konfession (und in den anderen Benntnisschristen) diese Frage ausdrücklich behandelt. B. Augsb. Konfession, Art. 2, 19 und 18.

Zwar auch für die Reformatoren ist die Hauptsache nicht die Er­ kenntnis, woher unsere Sündhaftigkeit stamme, sondern die Erkenntnis,

10*

148 daß wir Sünder sind; aber da nun doch die Frage nach dem Ursprünge der Sünde in einem großen Lehrstreite zur Verhandlung gekommen war und in demselben auch bedenkliche Irrtümer verteidigt worden waren, so konnten unsere Reformatoren nicht umhin, auf diese Frage einzugehen, und das ist in folgender Weise geschehen. a. (Art. 2.) Während die griechische Kirche den Begriff der Erb­ sünde nicht kennt und auch den heutigen Menschen als mit Freiheit begabt betrachtet, war die römische Kirche durch Augustinus im Kampfe gegen Pelagius zu einer tieferen Austastung der Sünde geführt worden, welche freilich im Mittelalter zum Teil wieder aufgegeben worden ist. Zurück­ kehrend zu der eigentlichen Lehre des Augusttnus, hat die evangelische Kirche, und zwar schon die Augsburgische Konfession, zunächst (Art. 2) die Pclagianische Lehre verworfen, weil dieselbe dem Menschen die Fähigkeit zuschreibe, auch ohne Christus zu wahrer Frömmigkeit zu gelangen, und damit verwarf unser Bekenntnis zugleich *) die damalige und heutige katholische Lehre, welche dem Menschen, wenn sie ihn auch mit der Erb­ sünde geboren werden ließ, doch ein gewisses Verdienst bei seiner Bekehrung zuschrieb und dadurch das Verdienst Christi schmälerte. Im Gegensatz zu den Pelagianern betrachtet nun die Augsb. Konfession alle Menschen, da sic von dem sündig gewordenen ersten Menschen her­ stammen, als von Geburt an sündig, d. h. als zur Sünde geneigt, mit der Erbsünde, d. h. mit der angeborenen Neigung zur Sünde, behaftet. Wenn nun Melanchthon auch diese dem Menschen angeborene Sünde schon für genügend zu erklären scheint, um den Menschen in die ewige Verdammnis zu stürzen, so wird doch diese Behauptung von ihm selber eingeschränkt, indem er zugiebt, daß kein Mensch um der Erbsünde willen verdammt werde, sondern daß nur diejenigen verdammt werden, „so nicht durch die Taufe und heiligen Geist wiedenim neu geboren werden ks wird also nur derjenige schließlich verdammt werden, welcher die ihm an­ gebotene Gnade Gottes zurückweist. Jedenfalls ist aber die angeborene Neigung zur Sünde als Sünde anzusehen, nicht als etwas sittlich Gleichgülttges (das will eben Melanchthon nicht zulasien), und so ergiebt sich allerdings, daß alle Menschen infolge der Erbsünde „keine lvahre Gottes­ furcht, keinen wahren Glauben an Gott von Natur haben können"; nur durch die Offenbarung wird der Mensch zur wahren Frömmigkeit geführt. b. (Art. 19.) Wenn nun um dieser Lehre willen, daß auch schon die Erbsünde Sünde sei, den Protestanten vorgeworfen wurde, daß ja Gott den Mmschen mit der Erbsünde geboren werden laste, daß danach also Gott der Urheber der Sünde im Menschen sei, so weist der 19. Art. der Augsb. Konfession -) daraus hin, daß die Erbsünde nicht durch Gott in die Welt gekommen sei, sondern nachdem „Gott die Hand abgethan" d. h. ohne Zuthun Gottes (non adiuvanto Deo — wie der lateinische Text sagt) durch den Sündenfall der ersten Menschen. Gott hat dem Menschen *) „Hieneben werden verworfen die Prlagianer und andere" d. h. zunächst die katholischen Kirchenlehrer des Mittelalters, aber wohl auch damalige Theologen, welche dieser Ansicht zu sein schienen. ’) Derselbe gehört zu den erst nachttäglich hinzugefügten Arttkeln (18—21), durch welche Melanchthon neueren Borwürfen der Katholiken entgegentrat.

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Freiheit gegeben, und wenn der Mensch seine Freiheit mißbraucht, zum Schaden für sich und für seine Nachkommen, so ist das nicht Gottes Schuld, sondern die That des Menschen. c. (Art. 18.) Wenn nun ferner den Protestanten wegen ihrer strengen Lehre von der Erbsünde vorgeworfen wurde, daß sie dem Menschen die Willensfreiheit ganz und gar absprächen, so weist Melanchthon in dem ebenfalls erst später hinzugefügten Art. 18 *) darauf hin, daß die Evangelischen dem Menschen allerdings die Fähigkeit absprächen, aus eigener Kraft sich zu wahrer Frömmigkeit zu entwickeln, daß aber auf dem Gebiete des äußeren und gewöhnlichen Lebens die Willensfteiheit des Menschen vor­ handen und wirksam sei, so daß der Mensch frei entscheide über die Weise seines Handelns (z. B. ob er heiraten wolle, oder nicht), und auch zwischen Erlaubten: und Verbotenem frei wähle (ob er stehlen wolle, oder nicht), so daß auch unter den nicht wiedergeborenen Menschen ein Unterschied von Guten und Bösen vorhanden ist. Nur zur wahren, vollkommenen Frömmigkeit kann der Mensch aus eigener Kraft sich nicht entwickeln — daran hält Melanchthon fest, und daran mußte er festhalten, wenn er den Glauben festhalten wollte, daß alle Menschen der Gnade Gottes bedürfen, um zur wahren Frömmigkeit zu gelangen; nur durch diese Lehre von der Sünde des Menschen war der katholischen Lehre von der Rechtfertigung durch eigene gute Werke der Boden entzogen.

31. Die neuere Entwickelung der Lehre von der Tünde.-)

a.1) Wenn wir, um das Wesen der Sünde festzuhalten, einerseits darauf beharren müssen, daß dieselbe ihren Ursprung in der kreatürlichen Freiheit haben muß, und nm ihre Allgemeinheit zu erklären, andrerseits zu der Annahme einer dem individuellen Willen ttansscendenten Macht ge­ drängt werden, so bleibt nur die Annahme einer geschichtlichen Kor­ ruptton des menschlichen Wesens übrig. Daß nun die Sünde als störendes Element in die menschheitliche Entwickelung erst eingetreten ist (dem Menschen also nicht von Natur angehört), das ist die Anschauung des Llpostels Paulus (Röm. 5, 12—19), der in Adam offenbar denjenigen sieht, welcher nicht bloß zuerst gesündigt, sondern auch die sündliche Entwickelung der ganzen Menschheit verursacht hat. Daß die heilige Schrift diese Überttagung der Sünde auf die Mensch­ heit mit der natürlichen Geburt in Zusammenhang bringt, dürfte kaum in Abrede zu stellen sein. Wenn Röm. 5, 12—19 diese Vermittelung durch die Zeugung nicht ausdrücklich behauptet ist, so ist dies doch nur daraus zu erklären, daß der Apostel diesen Zusammenhang als selbstverständlich voraussetzt; denn Adam hat keine andere Verbindung mit uns, als die durch Zeugung sich vermittelnde. Auch das sittliche Leben des Menschen hat sich in geschichtlichem Zusammenhänge entwickelt; die einzelnen Glieder des Geschlechts fangen ihre sittliche Entwickelung nicht rein von vorn an, sondern knüpfen an das väterliche Erbe an. ’) Bgl. die vorhergehende Anmerkung! -) Nur für den Lehrer. -') Nach H. Schmidt (Breslau), Theol. Eucytl. ß. v. „Sünde" Band 15, S. 28-33.

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b. 1) Aber wie in der alten Kirche der Lehre des Angnstinus die des Pelagins gegenübersteht, so ist auch in der treueren Theologie der altprotestantischen Lehre von der Sünde eine andere entgegengestellt worden. Der spezifische und ethisch tief greifende Unterschied der älteren (orthodoxen) von der neueren (liberalen) Anschauung hinsichtlich der Lehre von der Sünde ist nun der, daß die orthodoxe Anschauung den Schuldcharakter des Sündenelends in der Welt zu erweisen sucht. Freilich gehen hier die Anschauungen der Orthodoxen selber aus ein­ ander. Die erste, eigentlich orthodoxe Anschauung, bringt den Schuld­ charakter des Sündenelends der Menschheit dadurch zu stände, daß sie einerseits die Sünde aus dem bösen Willen ableitet, indem sie den Stamm­ vater aller Menschen nur kraft freien Willens seine erste böse That begehen läßt, und daß sie andrerseits seinen Nachkommen eine Mitschuld an dieser Willensthat ihres Stammvaters zuschreibt. Freilich gehen, was den letzteren Punkt betrifft, weitaus die meisten orthodoxen Theologen unserer Zeit höchstens noch mit einer gewissen Verschämtheit in dieser Bahn, und wir gestehen ehrlich, daß wir glauben, diese Bahn im wesentlichen verlassen zu müssen; wir sagen, daß der jetzt vorhandene böse Gcsamtzustand freilich Gesamtschuld ist, aber nicht That der ganzen Menschheit, wie sie war, ist und sein wird, sondern nur That der Menschheit, wie sie war und ist. Ein in diesem Augenblick geborenes Kind hat gar keine Mitschuld au dem Sündeuelcud der bei seiner Geburt vorhandenen Menschheit; später trägt auch das jetzt geborene Kind zur Gesamtschuld der Menschheit bei; aber alles das an seinem Thun, was auf Rechnung seiner angeerbten Natur und seiner Eltern und der Zeitverhältnisse kommt, ist nicht ihm als Schuld anzurechnen, sondern dem Stammvater der Menschheit und den Vorfahren des Kindes.

c. -) Aber die Konsequenz fordert auch noch an einem anderen Punkte eine von der alten Orthodoxie abweichende Darstellung. Mit der orthodoxen Lehre, daß die Sünde Sache des freien Wittens ist, muß ge­ rade für das wirkliche Sündigen voller Ernst gemacht toerben. Sünde im Vottsinil ist nur das, was ich nicht bloß hätte anders thun sollen, sondern was ich auch hätte anders thun k ö n n c n. Soll dieser Sah wirtlich gelten, so lnufc:r) gelehrt werden i trotz des Anscheins von Pelagianismus-, daß noch heute auch der natürliche, unwiedergeborene Mensch eine Fähigkeit zu wirklich gutem Thun hat; es muß nicht bloß die Möglichkeit einer sogen, bürgerlichen Gerechtigkeit, sondern auch einer wirtlichen Sitt­ lichkeit auch für den natürlichen Menschen zugegeben werden, eines Wollens, das Gott wohlgefällt (Apg. 10, 35) imb das eine Vorbereitung für das Christentum bildet. Was bei diesem Wollen herauskommt, ist allerdings im günstigsten Falle nur ein „Hungern und Dürsten nach Ge­ rechtigkeit", nicht die wirkliche Gerechtigkeit selber, die wir natürlich nur durch Christus erlangen.

*) Nach Kübel, Unterschied zwischen der positiven und der liberalen Richtung in der modernen Theologie. 2 Aufl. (1893), S. 234 s. -) Ebenfalls nach Kübel. 3) In Übereinstimmung nur mit Beck und einigen seiner Schüler.

151 d.1) Aber was sagt unsere Zeit und unsere Wissenschaft zu der Herleitung der jetzigen Sünde von der Sünde des Stammvaters der Menschheit? Wenn vom Apostel Paulus (Röm. 5, 12—19 und 1. Kor. 15, 45—49) die allgemein-menschliche Sündhaftigkeit und Sterblichkeit auf Adam zurück­ geführt wird, so kann diese Zurückführung kaum anders als durch die natürliche Zeugung vermittelt gedacht werden, so daß also von dieser Seite her das kirchliche Dogma von der Erbsünde ohne Zweifel biblisch be­ gründet ist. Freilich, für uns befriedigend ist diese Erklärung der allgemeinen Sündhaftigkeit nicht. Ein Urmensch, der in sich die Freiheit trüge, die ganze nachkommende Menschheit mit einem Schlage um die volle sittliche Freiheit zu bringen und durch Vererbung seiner Übelthat alle unentfliehbar mit Sünde und Tod zu behaften, ist uns eilt mit unsrer christlichen Vor­ stellung von der Macht, Weisheit und Güte des Schöpfers kaum ver­ einbarer und überhaupt unvollziehbarer Gedanke. Ihm gegenüber erinnern wir uns, daß der biblische Adam doch eigentlich eine mythische Person ist, eine Figur, die ihre Zeichnung nicht einer geschichtlichen Erinnentng, sondern erst nach Jahrtausenden der schöpferischen religiösen Idee und Phantasie in Israel verdankt, und daß auch die Geschichte seines Sündenfalls ursprünglich gar nicht als folgenreiche Entscheidung für das ganze Menschengeschlecht gedacht ist -) — nirgends im kanonischen A. T. wird in diesen: Sinne auf sic zurückgeblickt — sondern daß sie die Sündenfallsgeschichte des Menschen als solcher sein will, jedes Menschen, der zwischen Gottes Gebot und den Reiz der Sinnenwelt in die Entscheidung gestellt ist. Nun hat sich der Apostel nach der Schriftbetrachtung seiner Zeit den Adam allerdings als historische Person vorgestellt, aber in Wahrheit — was dieselbe Schrift­ betrachtung ihm erlaubte — ihn doch als mythische Figur behandelt. Denn es ist ganz unverkennbar — wenn cs auch in der Regel nicht beachtet wird — daß der paulinische Adam gar nicht der buchstäbliche Adam der Sündenfallsgeschichte ist. Nach der biblischen Urgeschichte geht Sünde und Tod gar nicht von einem Menschen aus, sondern von zweien, die mit einander von dem verbotenen Baume essen. Diese Zweiheit konnte der Apostel jedoch bei der beabsichtigten Gegenüberstellung von Adam und Christus nicht brauchen: darum greift er auf den Adam von 1. Mose 2 zurück, wie er vor der Erschaffung des Weibes gedacht ist — gedacht ist als die noch nicht in den Geschlechtsunterschied aus einander gelegte Einheit der menschlichen Natur. Aber dieser Adam existtert nach der Urgeschichte beim Sündenfalle gar nicht mehr; so ist also der paulinische Adam, welcher der Urheber der Sünde und des Todes ist, auch nicht einmal der schein­ geschichtliche Adam aus 1. Mose 3, sondern in der That ein paulinisches Gedankenbild, das vorgestellte Urbild der natürlichen Menschheit, d. h. der Mensch in seinem Urzustände, wie er aus der niederen Natur hervorgeht, indem Gott ein höheres Lebensprinzip in dieselbe hineinlegt. In diesem seinem Urzustände ist für ihn das Waltenlassen des Naturtriebes, der sinnlich-selbstischen Natur, das Nächstliegende: doch tritt von Anbeginn ein

*) Beyschlaa, NTliche Theologie II, S. 60—63. 2) Bgl. oben das Wort von Dillmann: Anm. 2 auf S. 140.

152 Höheres demselben entgegen, die Forderung der sittlichen Anlage, die sich als Gottesgebot in ihm geltend macht und die Bändigung des Naturtriebes durch das Gesetz des Geistes von chm fordert. So ist von Anbeginn der sinnlich-sittliche Widerstreit im Menschen vorhanden; die Herrschaft des Sinnlich- selbstischen ist dem aufdämmernden Bewußtsein als Nichtseinsollendes fühlbar, und als das zu verwirklichende Ideal die Herausbildung der sittlichen Persönlichkeit, des Geistesmenschen, der die Naturtriebe vollständig beherrschte, ihm vor­ gezeichnet — nur daß das Gesetz der Entwickelung des Höheren aus dem Niederen dem sinnlichen Faktor im Menschen einen Borsprung verleiht, der es schwer, wo nicht unmöglich macht, desselben von vornherein oder nach­ träglich Herr zu werden. Jedenfalls ist es Thatsache, daß die Menschheit seiner nicht Herr geworden ist, vielmehr trotz aller fortschreitenden Ent­ wickelung ihrer der Welt zugewandten Geistesfähigkeiten unter der Herr­ schaft der sinnlich-selbsttschen Natur geblieben ist. So ist die Umkehr des rechten Verhältnisses von Fleisch und Geist chr zur andern Natur geworden, obwohl Vernunft und Gewissen gegen dieselbe immerfort Einsprache thun und den inwendigen Menschen als von Rechtswegen freigeborenen für seine unwürdige Knechtschaft verantwortlich machell. Das ist, in unsere Denkformen überfefet, der Kern der paulinischen Vorstellung vom ersten Adam und seinem Sündenfall: die Feststellung der Thatsache, daß die Sünde einerseits in der erfahrungsmäßigen Natur des Menschen wurzelt, und andrerseits doch ihm als das Nichtseinsollende, dem Willen Gottes und der Idee des Menschen Widersprechende, im Schuld­ gefühl sich darstellt. Hierauf kommt im wesentlichen doch auch die kirchliche Lehre von der Erbsünde hinaus, und ob für die religiös-sittliche Betrachtung über­ haupt eine weitere Lösung des Rätsels vom Ursprung des Bösen in der Menschheit erreichbar ist, das steht dahin. Die allein vottbeftiedigende Lösung liegt vielmehr darin, daß Gott die Menschheit in dem widerspruchs­ vollen, unseligen Zustande nicht beläßt, sondern ihr die Verwirklichung ihres Ideals dennoch ermöglicht. e. So haben sich allerdings die orthodoxe, an Augustinus sich an­ schließende Lehre von der Sünde und die liberale, auf Pelagius benlhende Lehre einander genähert; aber es bleibt doch der Unterschied zwischen beiden Anschauungen bestehen, daß für den liberalen Theologen der ursprüng­ liche Zustand des Menschen wesentlich dem heutigen Zustande desselben entspricht, indem der Mensch zwar zur Frömmigkeit und Sittlichkeit be­ stimmt war, aber dieselbe auch am Anfänge der Geschichte nicht wirk­ lich besessen hat; dagegen ist nach der orthodoxen Auffassung der heutige Mensch von dem ursprünglichen verschieden, indem der heutige Mensch mit der Neigung zur Sünde geboren wird, von welcher der ursprüngliche Mensch frei war. 32. (28.) Die Rückkehr des verlorenen Sohnes zum Vater. „Ich armer, elender, sündiger Mensch bekenne dir alle meine Sünde und Missethat, womit ich dich jemals erzürnt und deine Sttafe zeitlich und ewiglich gar wohl verdient habe."

153 „Bergieb uns unsere Schuld!"

Thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen! Joh. 3,1-18.

Mr. 4,17.

Luk. 15,11-32.

a. „Du bist zwar Gottes Sohn" — das ist die Mahnung, die zu­ nächst an den Menschen ergeht. Und das ist ja eine Predigt, welche des Menschen Herz erhebt und erfreut, und welche besonders in der Gegen­ wart uns entgegentönt, wenn man immer wieder hinweist auf die hohe Stellung, welche der Mensch durch die großen Fortschritte der Neuzeit auf allen Gebieten des Lebens gemacht hat. Aber wir dürfen nicht vergeffen, was das oben genannte Wort uns ferner zürnst: „Doch ach, nur der verlorne." Dieser Gedanke liegt ja dem Menschen zunächst ferner, und es wäre verkehrt, zu fordern, was die Pietisten früher gefordert haben, daß auch das Kind schon wissen und reden müsse von seiner Sünde und der Notwendigkeit der WiedergeburtAber der Heranwachsende Knabe und Jüngling wird und soll allmählich lernen (und der Jüngling außer aus der Bibel namentlich auch aus der Lektüre der Schiller'schen Gedichte), daß er hinter dem Ideale zurück­ bleibt, und er wird allmählich von Herzen einstimmen in das Sünden­ bekenntnis, welches er vor dem Genusse des h. Abendmahls mit dem Munde ablegt: „Ich armer, elender, sündiger Mensch bekenne dir alle meine Sünde und Missethat, womit ich dich jemals erzürnt und deine Sttafe zeitlich und ewiglich gar wohl verdient habe", und immer mehr wird ihm auch von Herzen kommen, was er schon längst mit dem Munde gebetet hat: „Bergieb uns unsere Schuld!" b. Aber nicht bloß von der Schuld der Sünde wollen wir befreit sein, sondern auch von der Macht der Sünde, und daß das dereinst bcr Fall sein werde, das ist die Hoffnung, von welcher seit dem Sündenfall die Menschheit erfüllt ist *), und die Mahnung, welche an die Menschheit seit dem Sündenfall ergeht. Immer wieder forderten das Gesetz und die Propheten die Israeliten aus, von der Sünde sich zu bekehren und zu Gott sich hinzuwenden, und das ist ja auch die Mahnung der Predigt Jesu.

„Thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen" (Mt. 4, 17) — so lautet das erste Wort der Predigt Jesu, übereinstimmend mit der Predigt Johannes des Täufers. „Thut Buße" (juEiavouTE), d. h. ändert euren Sinn, das ist die Aufforderung, die von Jesus an den Sünder gerichtet wird. Der Inhalt dieser Forderung wird erläutert in dem Gespräch Jesu mit Nikodemus (Joh. 3,1—18). Ein Mitglied des Hohenrates (des Synedriums), der schon bald nach dem ersten Auftreten Jesu in Jerusalem auf denselben aufmerksam geworben war, aber erst später offen als Anhänger Jesu hervorttat, kam, um bei seinen Genossen keinen Anstoß zu erregen, des Nachts zu Jesu, um ihn und seine Lehre genauer kennen zu lernen. Auch an ihn richtet Jesus dieselbe Mahnung, wie an das Volk: „Thue Buße!" — denn das ist der Inhalt des Wortes, das er zu ihm spricht: „Du mußt von neuem geboren ’ ) Vgl. die messianische Weissagung!

154 Werden", d. h. ein anderer Mensch werden?) Und als Nikodemus (Joh. 3,4-as für ebenso unmöglich erklärt, wie eine abermalige leibliche Geburt, da bleibt Jesus trotzdem bei dieser Forderung stehen. Eine Wassertaufe (B. 5) hatte Johannes von seinen Anhängern gefordert, eine G e i st e s t a u f e ist die Forderung Jesu an seine Jünger; dieselbe ist nötig für den vom Fleisch als Fleisch geborenen Menschen (B. 6), und zwar äußerlich nicht wahrnehmbar, aber ttotzdem möglich (V. 7). Daß Nikodemus von einer Geistestaufe nichts weiß, ist an dem des A. T. kundigen „Meister in Israel" auffallend (V. 9—10); die Geistestaufe gehört zu den auf Erden sich vollziehenden Erfahrungen des Frommen, und sie wird bewirkt durch den zum König des Gottesreiches erhobenen Menschensohn (V. 11—15), der nicht gekommen ist, wie noch Johannes der Täufer glaubte (Mt. 3,12), um sofort das Gericht über Israel zu halten, fonbcm um zunächst das R e i ch G o t t e s zll begründen; das Gericht ist nicht der A n f a n g, sondern das Ende der Wege Gottes.

c. Ein anderer Mensch soll der Sünder werden — das ist die Forderung, welche an denselben gestellt wird. Ein anderer Mensch kann der Sünder werden, das zeigt uns Jesus in seinem Gleichnis vom ver­ lorenen Sohn lLuk. 15,11—32). Die göttliche Mitgift, welche Gott ihm ins Leben mitgegeben hat, hat der Sünder durch seinen Leichtsinn „verpraßt" (Luk. 15, 12—13), und ins tiefste Elend ist er infolge dessen geraten (V. 14—16). Da ging er in sich in Reue über seine Sünde und im Vertrauen zu der uner­ schöpflichen Liebe des Vaters, und er kehrte zum Vater zurück (V. 17—19). Und der Vater nahm ihn mit Freuden wieder als Sohn in sein Halls (B. 20—24); ja, er ward ihm noch lieber, als derjenige Sohn, der zwar nicht gesündigt hatte, aber des Vaters Liebe auch wenig zll schätzen wußte (V. 25—32.'.

Auch der verlorene Sohn kann wieder zum Vater zurückkehren. Wie nun der verlorene Sohn zum Vater zurückgeführt wird, das werden die folgenden Abschnitte des Buches zeigen. *) Dieselbe Forderung stellt bekanntlich auch Goethe an den Menschen in feinem schönen Worte: Und jo lang' du das nicht hast. Dieses „Stirb und Werde!" — Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunkeln Erde.

Dritter Abschnitt. „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht ver­ loren werden, sondern das ewige Leben haben. Joh. 3,18. Borbcincrkung für den Lehrer. Im Anschluß an den vorhergehenden Abschnitt, in welchem der Mensch als

der verlorene Lohn erscheint, zeigt dieser Abschnitt, was Gott gethan hat, damit

der Mensch nicht verloren bleibe, sondern das ewige Leben gewinne.

Die wahre

Gemeinschaft mit Gott erlangt nun der Mensch durch das Christentum, und

dessen Wesen wird deshalb hier zuerst dargestellt.

Tas Christentum beruht aber

auf Jesus Christus, und von diesem ist deshalb in den nächsten Teilen dieses Ab­

schnittes die Rede, und zwar zuerst von seinem Werke, durch welches das Christentum begründet worden ist, alsdann von seinem Leben, in welchem sein Werk vollbracht

worden ist, und zuletzt von seiner Person, als der Grundlage für die Ausführung seines Werkes.

Der durch den Tod von uns genommene Jesus ist aber als der

Auferstandene durch seinen Geist dennoch in uns gegenwärtig.

Durch

die Er­

kenntnis des Geistes, welcher den Lohn in uns lebendig macht, und des Sohnes,

in welchem sich der Bater offenbart hat,

gelangt aber der Christ zur ahnenden

Erkenntnis des durch die Offenbarung ihm erschlossenen Geheimnisses der Drei­ einigkeit Gottes.

Bom

heiligen

Geiste

und

handelt darum der folgende Teil dieses Abschnittes.

schnittes zeigt endlich, wie

der heilige Geist

durch

von der Dreieinigkeit Der letzte Teil dieses Ab­

die

Gnaden mittel

der

Predigt und der Sakramente die Menschen zu Christus führt. Dieser Abschnitt der Glaubenslehre ist für den Schüler schon vorbereitet durch den vorangegangenen Unterricht in der heiligen Geschichte,

in welcher die Ent­

wickelung der Offenbarung dargestellt wird, und wo, im Hinblick aus die Glaubens­

lehre, das Leben Jesu so behandelt ist, daß zuerst die Predigt Jesu, dann sein Leben und zuletzt sein Tod besprochen wird.

Wenn der Lehrer in einem kurzen Sommerhalbjahr diesen Abschnitt nicht ganz bewältigen kann, und doch, wie mir wünschenswert scheint, das Winterhalb­ jahr mit dem

„Vierten Abschnitt" beginnen will, so mag die Lehre von den

Gnadenmitteln zu anderer Zeit besprochen, bez. mit der zusammenhängenden

^abschließenden) Lektüre der Augsb. Konfession verbunden werden.

156

I. Vas Christenthum. 33. (29.) Einleitung. a. Ein verlorener Sohn ist der nach dem Bilde Gottes geschaffene Mensch infolge seiner Sünde geworden; aber der gnädige Gott toitl, daß die Menschen nicht verloren werden, sondern dennoch das ewige Leben gewinnen. Aber wenn auch alle Heilsveranstaltungen, welche Gott getroffen hat, um den Sünder nicht verloren gehen zu lasten, sondern zu sich zurückzuführen und sogar zur vollkommenen Gemeinschaft mit sich zu führen, auf seiner den Sündern unablässig zugewandten Liebe beruhen (Joh. 3,16), so mußte er doch die Heilsthatsachen so einrichten, daß auch seine Heiligkeit gewahrt wurde. Der Mensch war ein Sünder, und er fühlte sich zunächst mit Schuld belastet; so mußte denn erst das Schuldbewußtsein aufgehoben werden. Tas geschah aber, indem der gnädige Gott dem Menschen Bergebung der Sünden verkündigte. Aber der Mensch war auch beherrscht von der Macht der Sünde, und so mußte er auch von der Macht der Sünde befreit werden; nur wenn der Mensch geheiligt wird, kommt neben der Liebe auch die Heiligkeit Gottes zur Geltung. Wie geschieht das?

b. Wenn der Mensch noch heute so wäre, wie er aus Gottes Hand hervorgegangen ist, so würde die Erhaltung und Regierung der Welt genügen, um den Menschen sein Ziel, die vollkommene Gemeinschaft mit Gott, erreichen zu lasten. Aber der Mensch ist eben nicht mehr so, wie er ursprünglich war, und durch die natürliche Entwickelung gelangt weder der einzelne Mensch, wie die Erfahrung zeigt, noch die gesamte Menschheit, wie die Geschichte des Heidentums zeigt, zu dem ihm von Gott gesteckten und auch von ihm selber erstrebten Ziel. Darunl bedurfte es einer besonderen Thätigkeit Gottes, der £ f f c n b a r u n g, um die Menschheit zu ihrem Ziele zu führen. Aber nicht auf einmal hat Gott den Menschen zum Ziel geführt, sondern nachdem sich Gott zuerst durch Moses und die Propheten geoffen­ bart hatte, ist die Offenbarung zur Vollendung gekommen erst im Christen­ tum, welches erst den Menschen zur vollkommenen Gemeinschaft mit Gott führt.

c. Ein großes Weltreich, das römische Kaiserreich, war vorhanden, als Jesus von Nazareth auftrat, und alle Religionen der damaligen Welt waren in diesem Reiche vorhanden und zum Teil mit einander verschmolzen; aber aus keiner dieser Religionen und auch nicht aus ihrer Berschmelzung ist das Christentum hervorgegangcn. Neben den heidnischen Religionen existierte, als Jesus auftrat, auch die jüdische, wie sie nach dem Exil wieder hergestellt worden war; aber auch aus dem damaligen Judentum, welches alles Heil vom Gesetz und

157 seiner Erfüllung erwartete, ist das Christentum nicht hervorgegangen, sondern dasselbe ist eine eigentümliche Schöpfung, gegründet durch Jesus Christus. Was ist nun das Wesen des Christentums?

34. (30.) Das Christentum als die vollkommenste Religion. Im Christentum erblicken wir zunächst die v o l l k o m m e n st e Religion; inwiefern ist diese Behauptung richtig? a. Das Christentum ist zunächst deshalb eine vollkommene Religion, weil es eine monotheistische Religion ist. Aber auch eine monotheistische Religion kann eine unvollkommene Religion sein, wenn der in ihr verehrte Gott nicht ein vollkommener Gott ist, wie das beim Islam der Fall ist. Aber die vollkommenste Religion kann jedenfalls nur m o n o t h e i st i s ch sein, denn ein vollkommener Gott kann nur der eine Gott sein, und ein wirkliches Vertrauen auf Gott ist nur möglich, wo nur ein Gott verehrt wird, da ja sonst der eine Gott verhindern kann, was der andere für den Frommer! thun will. So streben denn selbst die heidnischen Religionen dem Monotheismus zu, wenn sie z. B. einen ihrer vielen Götter zum obersten Gotte machen; denn wirkliche Religion ist eben nur möglich, wenn man wirklich auf Gott unbedingt vertrauen kann, und das ist nur möglich beim Glauben an einen einzigen Gott. b. Sodann aber ist das Christentum auch darum eine vollkommene Religion, weil es für alle Völker besttmmt, eine universalistische Religion ist; denn ein unbedingtes Vertrauen auf Gott ist unmöglich, wenn derselbe in seiner Macht auf eine Nation beschränkt ist, so daß es neben ihm für die anderen Nationen auch andere Götter giebt; dann müßte man ja unter Umständen an diese anderen Götter sich wenden. Aber auch eine universalistische Religion braucht nicht eine vollkommene Religion zu sein; das zeigt sich bei der Bettachtung des Islam und des Buddhis­ mus, welche ebenfalls Weltreligionen sein wollen und doch weit hinter dem Christentum zurückstehen. c. Der Universalismus, der ihm zukommt, macht aber das Christentum ebensowenig zur vollkommensten Religion, wie der Monotheismus; beide Eigenschaften sind für die vollkommenste Religion zwar nicht zu entbehren; aber die vollkommenste Religion ist das Christentum im Gegensatz zum Islam und zum Buddhismus doch erst darum, weil es eine sittliche Religion ist. Eine sittliche Religion ist aber das Christentum zunächst insofern, als in ihm von der Gottheit nicht, wie in manchen heidnischen Religionen, bloß sinnliche Güter, teils nur für den einzelnen Menschen, teils für das ganze Volk, von der Gottheit erbeten werden. Zwar werden in mancher heidnischen Religion neben den sinnlichen auch geistige Güter ersttebt, aber nur int Christentum werden die geisttgen Güter und vornehmlich die Gemeinschaft mit Gott als die höchsten Güter bettachtet, um deretwillen der Mensch auf die sinnlichen Güter sogar zu verzichten bereit sein muß. Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes — damit ist der Charakter des Christentums bezeichnet. Wer dagegen nur sinnliche Güter begehrt, von dem wird auch Gott

158 nur als ein Spender sinnlicher Güter betrachtet werden. Die bloßen Naturkräste, welche in vielen heidnischen Religionen verehrt werden, haben sowohl selber mit der Sittlichkeit nichts zu thun (der Blitz erschlägt gleichmäßig den Frommen wie den Gottlosen), als auch sind sie nicht als Förderer der Sittlichkeit unter den Menschen anzusehen. Zwar werden ja nun auch bei den Heiden vielfach (z. B. bei den Griechen) aus den bloßen Naturmächten, welche sie als Götter verehren, auch einigermaßen sittliche Mächte; aber ein wirklich heiliger Gott ist doch nur der Gott der Bibel, und nur eine Religion, in welcher die Gottheit als eine heilige Macht gilt, kann als eine vollkommene Religion angesehen werden. Und wenn nnn Gott heilig ist, so muß auch der Mensch nicht bloß äußere Opfer bringen oder äußere Werke vollbringen, um seinem Gotte zu gefallen und von ihn: die begehrten Güter zu erlangen, sondern er muß auch seinerseits heilig zu werden suchen, und zur Heiligkeit wird nun der Mensch auch nur von einem heiligen Gotte geführt. So ist also das Christentum die vollkommenste Religion, weil es eine mono­ theistische, eine universalistische und besonders, weil es eine sitt­ liche Religion ist.

35. (31.) Das Christentum als geoffenbarte Religion. Aber das Christentum ist nicht bloß die vollkommenste unter allen Religionen, sondern wesentlich von denselben verschieden, indem es eine geoffenbarte Religion ist. Aber mit welchem Rechte betrachten wir das Christentum als eine geoffenbarte Religion, und worin be­ steht das Wesen der Offenbarung?')

a. Der Mensch ist nach dem Bilde Gottes geschaffen, und darum kann auch schon der natürliche Mensch Offenbarungen Gottes empfangen, wie sie ihm in der Natur, in der Geschichte und in seinem Innen: zu teil werden, mit) alle Religion beruht auf der Offenbarung Gottes an den Menschen. Auch das Heiden tum beruht auf Offenbarung, und was die Heiden in ihrer Religion von Wahrheit haben (Röm. 2, 15; Apg. 17, 23), beruht nach der Bibel auf göttlicher Offenbarung. Aber freilich ihre Gotteserkenntnis war doch nur eine mangelhafte, weil sie für die Offen­ barung Gottes zu wenig empfänglich waren, oder allmählich den Sinn der Empfänglichkeit für dieselbe verloren, und die Gotteserkenntnis der Heiden genügte bei keinem heidnischen Volke, um den Menschen wirklich zum Frieden mit Gott zu führen. Zwar auch das Heidentum begehrte nach Gemeinschaft mit Gott, aber es hat dieselbe nicht wirklich und nicht vollkommen gewonnen; ja, im Laufe der Zeit ist es immer weiter von Gott abgekommen, so daß es schließlich mit der Frage des Pilattis endet: „Was ist Wahrheit?" Ob es einen Gott giebt oder nicht, weiß das Heidentum in der späteren Zeit nicht mehr zu sagen; „wenn's Götter gäb', auf diesem Berg der Scherben vermöcht' ein Gott selbst nicht mehr Frucht zu ziehn" — so spricht Tiberius, der

’) Vgl. meine Heil. Gesch? Nr. 7—12.

159 Vorgesetzte des Pilatus, in dem bekannten Geibel'schen Gedichte?) Aber auch in dieser Zeit kann sich der Heide von Gott nicht gänzlich los­ sagen, und so hat G e i b e l mit Recht in andern Gedichten') auf das Ver­ langen der Heiden nach Gemeinschaft mit Gott hingewiesen. Aber das Heidentum hat zwar nach Wiedergewinnung der verlorenen Gemeinschaft mit Gott begehrt, aber es hat dieselbe nicht erlangt, sondern „das Heil kam auch für die Heiden von den Juden."^) b. Aber wenn von der Bibel auch im Heidentum Offenbarungen Gottes als vorhanden anerkannt werden, ist dann nicht vielleicht die sogen, besondere Offenbarung Gottes nur eine höhere Stufe, nur eine natür­ liche Weitercntwickclung dieser auch im Heidentum vorhandenen Offen­ barung, also ein Resultat der natürlichen menschlichen Entwickelung? Diesen Standpuntt vertritt der Rationalismus, der Gegensatz zunächst des Supranaturalismus, aber in Wirklichkeit des Christen­ tums überhaupt, welches der biblischen Offenbarung einen übernatürlichen Ursprung zuschreibt. Der Rationalismus führt das Christentum auf die menschliche Vernunft zurück und betrachtet es als die höchste Stufe der natürlichen Religion, indem er höchstens zugiebt/) daß durch die Offen­ barung dem Menschen dasjenige, was seine Vernunft auch allein hätte finden können, früher mitgeteilt worden sei, als sie es selbst gefunden hat. Der Rationalismus steht auf dem Standpunkte des Deismus, nach welchem Gott zwar die Welt geschaffen, aber von der geschaffenen Welt sich in den Himmel zurückgezogen hat, so daß die Welt sich ohne Gott entwickelt. Für den Deismus kann es also überhaupt keine Offen­ barung geben. Aber auch für den Pantheismus kann es wenigstens keine be­ sondere Offenbarung Gottes in der Welt geben, da sein Gott sich zwar in der Welt offenbart, aber überall in gleicher Weise, jedenfalls nicht in einer solchen Weise, wie die Bibel ihn wirken und sich offenbaren läßt. Wer dagegen mit dem Theismus an einen zwar über die Welt erhabenen, aber doch auch in der Welt wirkenden Gott glaubt, der wird auch die Möglichkeit der Offenbarung Gottes nicht bestreiten; für den Theismus ist die Welt nicht eine Maschine, welche Gott zwar geschaffen hat, aber dann sich selbst entwickeln läßt, sondern eine Schöpfung, in welcher er selber waltet, und welche er selber zu ihrem Ziele führt, indem er sich dem Menschen offenbart. 9 Geibel, Tiberius. -) Geibel, Sehnsucht des Weltweisen, Bildhauer des Hadrian. 3) Der Gymnasiast lernt das Heidentum zunächst aus der Lektüre der alten Klassiker und aus der Geschichte kennen; diese Erkenntnis wird erweitert im deutschen Unterricht, wo unsere Klassiker (von Lessing bis Geibel, der auch hier den Klassikern hinzuzufügen ist) den Schüler in da- Wesen deS Altertum-noch mehr hineinführen; endlich aber kommt im Religionsunterricht noch dazu besonders die Lettüre deS Römerbriefs, deffen erste- Kapitel den Schüler ebenfalls mit dem Heidentum bekannt macht. Alle diese verschiedenen Wege, auf welchen dem Schüler das Heidentum nahe gebracht wird, sollen übereinstimmend dahin führen, daß der Schüler neben den großen Schöpfungen des Heidentums auch seine Mängel kennen lernt. 4) Leasing, Erziehung de- Menschengeschlechts.

160 c. Aber wenn man nun auch die Offenbarung für möglich halten muß, ist dann ihre Wirklichkeit zugegeben? Die Offenbarung wäre ja doch ein Wunder, und ist denn das Wunder der geschehenen Offenbarung glaublich? Und sind denn alle ein­ zelnen Wunder der Bibel glaubwürdig? — Auf die letztere Frage ist schon in der Heiligen Geschichte eingegangen toorbcn;1) hier kommt hauptsächlich die erstere Frage nach der Glaubwürdigkeit des Wunders der Offenbarung im allgemeinen in Betracht. Wenn wir in der Welt Vorgänge wahrnehmen, welche uns als be­ sonders deutliche Machterweisungen Gottes zur Förderung seiner Zwecke erscheinen, so sprechen wir von einem „Singer Gottes", von „Wundern". Aber diese Wunder brauchen nicht gegen die Naturgesetze zu verstoßen; sie sind nur subjekttve Wunder, „des Glaubens liebste Kinder". Aber giebt es nun in der Natur und im Menschenleben auch Ereig­ nisse, welche aus den erfahrungsmäßigen Gesetzen des Naturlaufs und des Menschenlebens nicht erklärt werden können, sondern als schöpferische Atte Gottes anzusehen sind? Widerstreitet eine solche Annahme nicht denl Glauben an Gott, als an einen Gott der Ordnung, der die von ihm selbst gesetzte Weltordnung nicht willkürlich durchbrechen kann? Und hat denn Gott die Natur von vorn herein so mangelhaft eingerichtet, daß er der­ selben erst nachträglich hat zu Hilfe kommen müssen, um das seinem Willen Entsprechende hervorzubringen? Und kennen wir denn die Naturgesetze so vollständig, daß wir behaupten können, ein seltsamer Vorgang sei aus ihnen nicht zu erklären? Die Möglichkeit solcher Ereignisse kann man nicht bestreiten. Was nun aber nur selten oder gar nur einmal vorkommt, widerstreitet darum nicht notwendig der Ordnung, die wir ja allerdings in der Welt wahr­ nehmen; denn wenn ein Neues in die Welt eintritt, das aus dem bis­ herigen Weltlauf nicht zu erklären ist, so braucht dasselbe ja nicht der Schöpfung und Ordnung Gottes zu Widerstreiten, sondern es kann (und so ist es bei den biblischen Wunden:) dazu in die Welt eintreten, um die Schöpfung zur Vollendung zu führen; wenn die Schöpfung als möglich anerkannt wird, so ist auch die Vollendung der Schöpfung durch ein wunderbares Eingreifen Gottes nicht unmöglich. Wie die Schöpfung des Menschen gegenüber der Tierwelt als ein Wunder erscheint, so er­ scheint auch die Vollendung der Menschheit durch die in die Ge­ schichte eintretende Offenbarung zwar als ein Wunder, aber dieses Wunder kann nicht für unmöglich erklärt werden. d. Daß nun die Menschheit sich in Wirklichkeit nicht von selber zu ihrem höchsten Ziele, der vollkommenen Gemeinschaft mit Gott, entwickelt hat, zeigt die Betrachtung der Geschichte. „Ein Blick in die Religions­ geschichte lehrt, daß die natürliche, nicht durch Offenbarung bedingte Ent­ wickelung des religiösen Bewußtseins der Völker niemals und nirgends zu der Erkenntnis und Verehrung des einen persönlichen und heiligen Gottes geführt hat, daß vielmehr das sich selbst überlaffene religiöse Bewußtsein der Völker mit der Zeit immer mehr in polytheisttsche Naturvergötterung *) Bgl. Heil. Gesch. Nr. 99 und 13. (2. Aufl.: Nr. 104 und I, E.)

161 herabgesunken ist. Darum kann das Gottesbewußtsein des Volkes Israel und überhaupt sein ganzes religiöses Leben seinen Ursprung nur in der Selbstoffenbarung des persönlichen Gottes habens") ohne die Annahme einer Offenbarung bleibt die Thatsache der biblischen Geschichte ein ungelöstes Rätsel, denn in allen Menschen ist zwar die Anlage zur Religion vorhanden, aber eine sogen, natürliche oder Bernunftreligion als Gemeinbesitz der Menschheit hat sich daraus nicht entwickelt, sondern sehr verschiedene, aber durchweg heid­ nische Religionen, welche den Menschen nicht zur wahren Gemeinschaft mit Gott führten. „Wenn nämlich auch der menschliche Geist von Haus aus darauf angelegt ist, das Bewußtsein von dem Übersinnlichen und Unendlichen, also speziell die Gottesidee, so zu produzieren, daß er genötigt ist, den Objekten, auf welche dieses Bewußtsein sich richtet, auch Realität bei­ zulegen, so stellt sich doch gerade vom Standpuntte des vernünftigen Be­ wußtseins das Bedürfnis einer besonderen Offenbarung als unabweislich heraus, damit diesem Bewußtsein seine volle Sicherheit, Reinheit, Erweiterung und Erfüllung zu teil werbe."2) Noch weniger hat sich aus dem Gewissen, wie der Rationalismus meinte, die wahre Religion ent­ wickelt, denn aus demselben entwickelt sich überhaupt nicht die Religion, sondern die Sittlichkeit, und die Sittlichkeit wird zwar durch die Religion bestimmt, ist aber nicht notwendig mit Religion verbunden, da es unzweifel­ haft eine religionslose Sittlichkeit giebt. So hat denn der Mensch weder auf Grund seiner Anlage zur Religion noch vermöge des Gewisiens die vollkommene Religion überall und von selbst geschaffen, sondern dieselbe ist von einem besonderen Volke, und zwar nicht aus der Naturanlage dieses Volkes, sondern durch göttliche Offenbarung entstanden. Wenn nämlich die Offenbarung zwar in der religiösen Entwickelung der semitischen Völker Anknüpsiingspunkte fand, so erklärt sich hieraus doch nur, warum Gott sich gerade in einem semi­ tischen Volke geoffenbart hat; aber die Offenbarung selbst ist auch nicht ein Produtt der selbständigen semitischen Religionsentwickelung (die andern Semiten sind ja ebenfalls zu Heiden geworden), sondern sie be­ ruht auf einem nur im Volke Israel eingetretencn besonderen Thun Gottes, welcher durch die Offenbarung in Israel die ganze Menschheit zu einer höheren Stufe des religiösen Lebens emporheben wollte?)

e. Die Anschauung des Rationalismus (im Gegensatz zum Supranaturalismus), nach welchem sich aus der sogenanntm Bernunftreligion und aus dem Gewiffen das Christentum von selbst, ohne Offenbarung, ent­ wickelt haben sollte, ist nun heute (seit Schleiermacher, durch welchen der Gegensatz des Rationalismus und des Supranaturalismus in der Theologie überwunden worden ist) allgemein aufgegeben, und die gesamte neuere Theologie in allen ihren Richtungen ist einig in der Anerkennung des Christentums als einer geoffenbarten Religion. Wenn nun das Christentum heute (seit Schleiermacher) allgemein

*) dankens *) a)

Riehm, Eint, in das A. T. I, S. 360. — Eine Ausführung diese- Ge­ für den Lehrer siehe in meiner Heil. Gefch. Rr. 4 (2. Aufl.: Rr. 8). Weiß, Eint, in die Ethik § 6, S. 64. Bgl. meine H. Gefch. Nr. 5 (2. Aufl.: Nr. tij.

Heidrich, Glaubenslehre.

11

162 als eine geoffenbarte Religion betrachtet wird, so wird auch das das Christentum vorbereitende Judentum heute (gegen Schleiermacher) als geoffenbarte Religion betrachtet; die neuere Theologie betont aber mehr, als die ältere, die allmähliche Entwickelung der Offenbarung, so daß also im A. T. nicht schon alles das enthalten ist, was im N. T. vorhanden ist, wie man früher gemeint hatte (so z. B. auch noch Luther'). f. Wenn aber das Christentum als Offenbarung, und zwar als die vollkommene Offenbarung anerkannt wird, so bedarf es für die spätere Zeit nur einer Aneignung dieser Offenbarung, nicht neuer Offenbarungen, wie sie sowohl von der Mystik (z. B. den Zwickauer Schwärmern) als auch von der katholischen Kirche (in der Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche und des Papstes) als vorhanden behauptet werden. Die Christenheit soll fich nach unserer Meinung das in Christus angebotene Heil aneignen, und der Geist Gottes wird die Christen in alle Wahrheit leiten, aber über das Christentum hinaus wird die Menschheit in religiöser Beziehung niemals gelangen. g. Das Wunder der Offenbarung bestand aber in der immer größer werdenden Erleuchtung auserwählter Menschen, welche die Aufgabe hatten und erfüllten, ihre Mitmenschen in die zunächst in ihnen hervorgerufene Gottesgemeinschast hineinzuziehen, wie dies durch Moses, durch die Pro­ pheten und durch Jesus Christus geschehen ist; ihre Anhänger sind Gläubige, aber nicht Träger der Offenbarung; die Aufnahme der Offenbarung ist nicht eine That Gottes, sondern eine That der Menschen; nur die Offenbarung ist eine That Gottes. h. Darum ist nun auch die Bibel nicht, wie die alte Zeit annahm, eine von Gott buchstäblich diktierte Offenbarung (die Offenbarung ist nicht in dieser Weise den Menschen zu teil geworden), sondern nur die von Trägern der Offenbarung oder von ihren Gläubigen ausgezeichnete Urkunde der Offenbarung, welche uns davon Kunde giebt, wie Gott zu den Menschen durch Moses, durch die Propheten und durch Jesus Christus geredet hat, und wie die Menschen diese Offenbarung ausgenommen haben. Wie die evangelische Theologie heute die heilige Schrift bcttachtet, ist oben und anderwärts gezeigt worden?)

h.3) Das Christcntum und die andern Religionen. Wenn das Christentum eine geoffenbarte Religion ist, so ist es zwar in seinem Wesen gleichartig dem Judentum, welches ja ebenfalls eine geoffen­ barte Religion ist, aber wesentlich verschieden von den andern Religionen. Wie verhält sich das Christentum zu den nicht geoffenbarten Religionen? a. Wie hoch das von Jesus Christus gegründete Christentum über allen andern Religionen steht, das zu zeigen, ist die Aufgabe der ver­ gleichenden Religionswissenschaft, welche in der neueren Zett ge­ schaffen worden ist. Wenn diese Wissenschaft zunächst die einzelnen Re«

*) Vgl. seine Übersetzung der Bibel, z. B. Hiob 19; eine Ausführung dieses Bedankens findet der Lehrer tn der Heil. Gesch.2 Nr. 10—12. *) Soviel muß hier gesagt werden, wenn der Lehrer auf diese Frage hier nicht eingehen will. Bgsi oben D und J und Heil. Gesch. 2. Ausl. Nr. 16. •1) Nur für den Lehrer.

163

ligionen für sich betrachtet, um chr Wesen zu erkennen, so ist schon das keine leichte Aufgabe; wie verschieden wird doch z. B. das Christentum von den verschiedenen Confessionen imb von den verschiedenen Richtungen der Theologie aufgefaßt! Aber wenn man nun gar die einzelnen Religionen mit einander vergleicht, so macht sich erst recht der Standpunkt des Betrachters geltend, und jeder Forscher ist geneigt, seiner eigenen Religion die erste Stelle anzuweisen. Aber schon heute erscheint es auch ganz unbefangenen Forschern und selbst Angehörigen anderer Religionen nicht als eine Anmaßung, wenn man dem Christentum unter allen Religionen die höchste Stellung zu­ erkennt. ß. Jedenfalls aber ist das Christentum nicht aus den andern Religionen der damaligen Zeit hervorgegangen/) sondern eine selbständige Schöpfung. Als das Christentum entstand, da hatte die Religion der Griechen und der Römer, wenigstens der Gebildeten unter diesen Böllern, eine Richtung eingeschlagen, welche sich dem Christentum offenbar näherte und die Herzen der Menschen für die christliche Predigt empfänglich machte; aber daß aus dieser Entwickelungsstufe der griechisch-römischen Religion sich das Christentum entwickelt habe, ist eine heute völlig aufgegebene Behauptung. **) Als das Christentum entstand, da gab es bereits (seit dem I. 600 vor Chr.) eine Weltreligion, den in Indien gegründeten Buddhismus; dagegen ist die dritte Weltreligion, der Islam, erst 600 Jahre nach Christus gegründet worden. Daß nun der Islam auf das entstehende Christentum keinen Einfluß gehabt haben kann, versteht sich von selbst; dagegen ist von einem neueren Forscher behauptet und angeblich int einzelnen nachgewiesen worden, daß ein Einfluß des bereits längst bestehenden Buddhismus auf das entstehende Christentum stattgefunden habe?) Aber diese Behauptung ist von anderen Forschern entschieden bestritten worden/) Dagegen darf allerdings zugegeben werden, daß auch der Buddhismus (ebenso wie die griechische und die jüdische Religion) „in seinen innersten Intentionen nach der frohen Botschaft des armen und doch so reichen Menschen­ sohnes aus dem Stamme Juda gravitiert"^) und daß das spätere Christen­ tum allerdings, wie von anderen Religionen, so auch vom Buddhismus beeinflußt worden ist;0) aber in seiner Eigentümlichkeit ist es aus dem Buddhismus ebenso wenig zu erklären, wie aus einer der anderen Religionen; das Christentum ist eine selbständige Schöpfung. *) Bon seinem Verhältnis zum damaligen Judentum wird unten die Rede sein; vgl. Nr. 36. *) Da- war die Meinung von Bruno Bauer (Christus und die Cäsaren). *) Seydel, Das Evangelium von Jesu in seinem Verhältnis zur Buddha-

Sage und Buddha-Lehre. 1882. *) Vgl. Theol. Jahresbericht 1882, S. 249—251. 6) Theol. Jahresbericht 1887, S. 318. — Wer sich über den Buddhismus genauer unterrichten will, der sei hingewiesen auf daS klassische Buch von Olden­ berg: Buddha, 2. Aufi. 1890. ®) Vgl. Dheol. Jahresbericht 1893, S. 383 und 385, wo darauf bingewiesen ist, datz die mittelalterliche Legende von Barlaam und Josaphat buddhistische Mottve verarbeitet hat.

164

1. Die Lehre von der Offenbarung in der evangelischen Kirche. *) a. Da auch die Bibel eine allgemeine Offenbarung anerkennt, so ist es be­ greiflich, daß von denjenigen Theologen und Philosophen, welche in der Anerkennung des Übernatürlichen eine Bedrohung der von ihnen allein anerkannten selbst­

ständigen Entwickelung des menschlichen Geistes erblicken, der Versuch gemacht worden ist, das Christentum (und natürlich auch das Judentum) nicht aus einer besonderen Offenbarung herzuleiten, sondern auf eine Entfaltung der dem Menschengeschlechte ursprünglich anerschaffenen Geisteskraft zurückzuführen. Das ist die Anschauung des Rationalismus (welcher alle Religion, auch die christliche, auf die menschliche Vernunft — ratio — zurückführt) im Gegensatz zum Supranaturalismus (welcher den Ursprung des Christentums von der über der Natur — supra naturam — waltenden Gottheit herleitet). Schon dieSocinianer*2)3waren Rationalisten; aber der Name Rationalismus ist erst seit Kant allgemein üblich geworden. Wenn nun der strenge Rationalismus das Christentum allein aus der menschlichen Vernunft herleitet, so geben anderes zu, daß zwar der Inhalt des Christentums nicht über die Vernunft hinau-gehe, aber die Offenbarung dieses Inhalts durch Christus der Entwickelung der Ver­ nunft vorangegangen sei. ß. Über den Gegensatz des Rationalismus und des Supranaturalismus ist

die Theologie hinausgeführt worden durch Schleiermacher, und zwar auch in der Lehre von der Offenbarung, so daß seine Anschauungen heute als ein Gemein­ gut der ganzen neueren Theologie anzusehen sind. Aber es haben sich doch trotzdem ältere Gegensätze erhalten oder erneuert, und Schleiermacher's Darstellung wird ver­ schieden aufgesaßt und gedeutet. 7. Als allgemein anerkannt dürfen heute folgende Sätze über die Offen> barung gelten: aa. Der Begriff der Offenbarung ist aus das religiöse Gebiet zu beschränken, und auch hier werden uns von der Offenbarung nicht theologische Lehrsätze dar­ geboten, sondern nur solche Erkenntnisse, welche dazu bestimmt sind, uns zur Frömmig­ keit zu führen; die Offenbarung hatte nicht vornehmlich den Zweck der Belehrung (so der Supranaturalismus), sondern der Erneuerung des der Sünde anheim­ gefallenen Menschen. ßß. Die Bibel ist nicht ein Produkt der Offenbarung, sondern nur die Ur­ kunde der Offenbarung.

77. Die Offenbarung hat sich allmählich entwickelt, und die im A. T. noch unvollkommene Religion ist erst im Christentum zur Vollendung gekommen. d. Als allgemein anerkannt darf auch die erst in der neueren Zeit ge­ wonnene oder wenigstens mehr betonte Erkenntnis gelten, daß die göttliche Offen­ barung trotz ihres wunderbaren Ursprungs doch durchaus den Charakter der Geschichtlichkeit trägt, daß alles Mechanische und Magische von ihr ausge­ schlossen ist.

Auf dem Naturboden des Semitismus ist die Religion Israels ent') Nach Nitzsch, Lehrb. der ev. Dogmatik (1892) I, § 26-36. - Nur für den Lehrer. 2) Vgl. Kirchengesch. Nr. 55 (2. Aufl.: Nr. 59). 3) So Lessing, Erziehung des Menschengeschlechts.

165 standen. Wenn nun zwar auch die Semiten den ursprünglichen Monotheismus der

Menschheit nicht behauptet hatten, so waren sie doch, wie man annehmen zu dürfen glaubt, für die durch die Offenbarung bewirkte Zurückführung zum Monotheismus

empfänglicher als

die andern Stämme der Menschheit.

An diese Rückkehr zum

Monotheismus, welche durch Abraham erfolgte, schloß sich dann der Mosai-muS an; auf Moses' Schultern stehen die Propheten, und das Streben der Pro­

pheten hat seine Vollendung gefunden im Christentum.

So ist von der Offen­

barung das Neue stets an das Vorhandene angeknüpst worden, und das Neue selbst wurde wieder zur Grundlage für die nächste Stufe der Offenbarung.

€. Dagegen ist noch heute streitig die eigentliche Herleitung der Offenbarung. Schleiermacher hatte allerdings die Offenbarung für etwas Übernatürliches erklärt, aber doch nur in dem Sinne, daß sie nicht zu erklären sei aus dem Zustande des Kreises, in welchem sie hervorgetreten sei, nicht aber in dem Sinne, daß sie über­

haupt nicht aus der ursprünglichen Anlage der Schöpfung zu erklären sei: sie sei vielmehr als die höchste Stufe der menschlichen Entwickelung zu betrachten.

Diese

Behauptung, daß die Offenbarung zwar übernatürlich und doch auch natürlich sei, glauben manche neuere Theologen festhalten, andere ablehnen zu müssen, indem die

letzteren daran sesthalten

zu müffen glauben, daß

„mittels

der Offenbarung in

Christus und schon im Alten Bunde ein Novum setwas Neuest in die Entwickelung

des natürlichen menschlichen Geistes einströmte, welches nur durch ein nachschaffendes,

ergänzendes, höherbildendes unmittelbares Eingreifen Gottes zu erklären ist, welches auf physischem Gebiete eine Analogie hat an der göttlichen Hervorbringung von höheren Wesensgattungen, die

ja ebenfalls aus den

je niederen sich nicht ohne

weiteres entwickeln konnten."') Dieser Gegensatz in der Auffassung der Offenbarung ist auch heute noch nicht überwunden.

36, Das Christentum als die Vollendung der Offenbarung.

Tas Christentum ist zunächst die v o l l k o m m e n st c Religion, sodann ist es eine geoffenbarte Religion (und darum von den andern Reli­ gionen nicht herzulciten), und endlich ist es nun, im Gegensatz zum Juden­ tum, welches ja ebenfalls auf Offenbarung beruht, die Vollendung der Offenbarung, und auch nicht aus dem gleichzeitigen Judentum herzuleiten. Wie hat sich nun die geoffenbarte Religion entwickelt, wie verhält sich das Christentum zum Jlldentum, und inwiefern ist cs die Vollendung der Offenbarung? a. Die Entwickelung der Lffenbarungsreligion. Hebr. 1, 1—2.

Röm. 10, 2.

Mt. 28, 19.

Nicht von vorn herein vollkomnren war die geoffenbarte Religion, sondern dieselbe hat sich, wie alles in der Welt, allmählich entwickelt. Wie sich nun Gott allmählich den Menschen geoffenbart hat, zuerst durch Moses, dann durch die Propheten und zuletzt durch Jesus Christus, in welche Perioden also die Geschichte der Offenbarung zerfällt, das ist in der heiligen Geschichte dargelegt worden?) ') Nitzsch, Lehrb. der ev. Dogm. (1892) I, § 35 fin. ') Vgl. Heil. Gesch. Nr. 1 (2. Aust. Nr. 10-12).

166 Während nämlich die andern Völker dem Heidentum anheimfielen, bewahrten sich die Stammväter Israels den der Menschheit ursprünglich eigenen reineren Gottesglauben. Auf diesem Grunde errichtete Moses, mit welchem die eigentliche Offenbarung beginnt, das ATliche Gottesreich.

Hatten die Patriarchen vornehmlich den allmächtigen Gott verehrt, so lernten die Israeliten durch Moses den heiligen Gott kennen, und aus dem Gesetz Mosis lernten sie, wie auch der Mensch heilig werden könne. Wenn nun durch Moses ein auf vielen äußeren Ceremonien und Satzungen ruhendes Gottesreich begründet worden war, so wiesen die Propheten auf ein vollkommeneres Gottesreich der Zukunft hin, und, an ihre Predigt anknüpfend, hat I e s u s C h r i st u s dieses vollkommene Gottesreich gegründet, b. Der Anfang der eigentlichen Offenbarung ist nicht in die Anfänge des menschlichen Geschlechts zu verlegen, zumal da wir ja die ersten Kapitel der Bibel nicht als eigentliche Geschichtserzählungen ansehen können; was die ältesten Menschen von Gott erkannt haben, beruhte auch nicht auf der eigentlichen Offen­

barung, sondern auf der ursprünglichen Ausrüstung des Menschen, welcher empfänglich war für die aller Religion zu Grunde liegende Offenbarung. Im Anschluß an die Patriarchen, welche den ursprünglichen Glauben der Menschheit an den einen Gott festgehalten hatten, ist der feste Grund der wahren Religion ge­ legt worden durch Moses: wenn bis zu seiner Zeit der Gedanke der Gottesgcmeinschaft nur in der Frömmigkeit einzelner Menschen ausgeprägt gewesen war, so wurde derselbe durch Moses zum Eigentum eiues ganzen Volkes. Aber der Bund des Volkes Israel mit Gott war nicht ein menschliches Werk des Moses, sondern Gott selbst erwies sich dem Volke als der lebendige Gott durch die großen Thaten, die er am Volke Israel vollbrachte. Was nun Gott gethan hatte, das hat Moses dem Volke als Prophet gedeutet, und indem er über die Gotteserkenntnis der Patriarchen noch hinausging, lehrte er die Israeliten in dem allmächtigen Gotte der Väter auch den heiligen Gott des Volkes Israel erkennen. Wenn nun die mosaische Bundstistung mehr und mehr zur Gesetzesreligion wurde, so war das zwar eine naturgemäße Entwickelung, aber nicht das Ziel der Bundstiftung;

dieses Ziel wurde nicht durch die Priester, welche das Gesetz immer mehr aus­ bildeten und verschärften, sondern durch die Propheten ins Auge gefaßt, welche

den Mosaismus vergeistigten und vertieften.

An diese Thätigkeit der Propheten hat

dann Christ us angeknüpft, durch welchen das Werk des Moses zur Vollendung gebracht wurde. Keimartig vorhanden war das Christentum schon im Mosaismus, aber das Christentum ist trotzdem nicht eine bloß menschliche Weiterentwickelung des Judentums (das ist der Pharisäismus und das heutige Judentum), sondern die aus einer neuen Offenbarung Gottes beruhende Vollendung des Judentums. c.1 2) Der geschichtliche Zusammenhang des Christentums mit

dem Judentum. Daß das Christentum auf dem Judentum beruht, ist unzweifelhaft; aber wenn noch heute von manchen Menschen behauptet wird, daß das Christentum sich

aus dem Judentum der Zeit um Christi Geburt von selbst entwickelt habe. 1 Rach Ritzsch, Dogmatik I, 8 36. — Rur für den Lehrer. -) Nur für den Lehrer.

167 daß Jesus von Nazareth sich von den großen jüdischen Rabbinen seiner Zeit kaum

oder gar nicht unterschieden habe, so ist das eine irrige Behauptung. a. Wenn man früher, um diese Behauptung aufrechtzuerhalten, das Christen­ tum aus dem Essenismus hergeleitet hat, so ist diese Behauptung heute von der

Wer heute das Christentum von selbst aus

Bisienschast völlig aufgegeben worden.

dem Judentum entstanden sein läßt, der leitet dasselbe vom Pharisäismus her.

Wenn man nun das Christentum aus dem Pharisäismus herleitet, welcher damals

das Judentum beherrschte/) so

sieht man

in Jesus

einen (mehr

oder

weniger großen) Schriftgelehrten, wie sie uns im N. T. und im Talmud entgegen­ treten;-) einen noch

in Paulus,

größeren Schriftgelehrten sehen dann aber manche Forscher

völlig vom Judentum

der das Christentum erst

Christentum eigentlich erst gestiftet habe.

getrennt

und das

Diese Behauptungen werden noch heute

von manchen Forschern vertreten, aber nicht mit Recht, wie heute die meisten Forscher annehmen?) ß. In welchem Verhältnis steht nun wirklich das Christentum zu dem zeit­

genössischen Judentum? Durch Esra war das Judentum erst recht zur G e s e tz e s religion geworden, und der fromme Jude kannte seitdem nichts Höheres als das Gesetz; dadurch war auch die jüdische Religion erst recht zur Volks religion geworden, welche allen andern

Religionen durchaus ablehnend gegenüberstand.

Aber trotzdem war doch der Judaismus noch mehr, als er aus den ersten

Blick zu sein scheint; er war doch nicht bloß eine nur für das jüdische Volk be­ rechnete Gesetzesreligion, aus welcher das Judentum der Schriftgelehrten und des

Talmud

hervorgegangen

ist, sondern

er war doch auch

die Grundlage für das

Christentum. Wenn der Pharisäismus die große Menge seiner Anhänger dazu verführte,

die wahre Frömmigkeit in der strengen und buchstäblichen Erfüllung der einzelnen Gebote zu sehen, so gab es doch auch schon Schriftgelehrte, welche die Frömmigkeit

auf ein einfaches, höheres Princip zurückzuführen versuchten.

Der berühmte Ge­

setzeslehrer Hillel, ein Zeitgenosse des Herodes, gab einem Heiden, der ihn bat, ihm in wenigen Worten die Religion der Juden zu zeichnen, zur Antwort: „Was du nicht willst, daß man dir thue, das thue einem andern auch nicht!" Ähnliche

Worte werden uns auch von anderen Schristgelehrten überliefert, und Jesu- hat bekanntlich in der Bergpredigt das Wort seines Zeitgenossen Hillel ebenfalls zur

kurzen Darstellung des Wesens der Frömmigkeit verwendet, aber allerdings noch verbessert, indem er statt des negativen Wortes von Hillel die positive Forderung

aufstellt: „Alles, was ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen, das thut ihr ihnen — das ist das Gesetz und die Propheten."

In diesem Worte ist der Geist der

Propheten wieder lebendig geworden, deren Träger ja bereits gepredigt hatten: „Gerechtigkeit, nicht Opfer!'")

Aber diese Gesinnung hat den Pharisäismus doch

nicht über die Frömmigkeit des Gesetzes mit seinen 613 Geboten und Verboten

hinausgesührt; auch Hillel ist bei derselben geblieben, und erst Jesus hat diese ]) Mit dem SadducäiSmus hat das Christentum nichts gemein. *) Bal. Delitzsch, Jesus unb Hillel. 3) Üoer die Frage, warum da- hellenistische Judentum nicht als der Ur­ sprung des Christentums angesehen werden könne, vgl. Ku en en, Bolksreligion und Weltreligion (1883), S. 191 s. 4) Bgl. Micha 6, 6-8.

168 Schranke der Frömmigkeit für sich selber überwunden und seine Jünger über die gesetzliche Frömmigkeit emporgehoben zu der Freiheit der wahren Kinder Gottes. Wenn nun ferner Hillel gesagt hat: „Habe die Menschen lieb und führe sie zum Gesetz!" — so haben ja allerdings die Pharisäer versucht, alle Juden zu ihres­

Aber in wie geringem Maße ihnen dies gelungen ist, zeigt

gleichen zu machen.

sich daraus, daß das Pharisäertum eine Sette, und zwar eine nicht sehr zahlreiche, während die gewöhnlichen Juden diese Buchstaben­

des Judentums gewesen ist,

frömmigkeit sich anzueignen weder vermochten noch versuchten.

Und da nun auch

diese Leute anerkannten, daß sie nur dann fromm wären, wenn sie das Gesetz ebenso

gewisienhast hielten, wie die Pharisäer, so fehlte ihnen der Friede des guten Ge-

wiffenS, daß sie sich sagen dursten, sie seien zwar sündige Menschen, aber sie ver­ suchten doch wenigstens das zu thun, was sie für recht hielten. Mochte nun aber der Jude sich fromm glauben, weil er das Gesetz so be­

obachtete, wie die Schristgelehrten es auslegten, oder

über die Frömmigkeit der

Schristgelehrten sich innerlich erhoben haben zu der von den Propheten gepredigten

Frömmigkeit des Herzens, oder mochte er, zu diesem höheren Standpunkt noch nicht

sich erhebend, nur das Bewußtsein haben, daß seine Frömmigkeit dem von ihm der Frömmigkeit (sei es

erkannten Maßstab

der Pharisäer oder der Propheten)

nicht entspreche — jedenfalls hoffte er auf eine Zeit, wo die wahre Frömmigkeit

zur Herrschaft gelangen würde in dem vollkommenen Gottesreiche, welches die Propheten verheißen

hatten

und

an

welches

auch

die damalige Zeit glaubte; ein

Messias sollte kommen, und dann sollte die wahre Frömmigkeit auf Erden be­ gründet werden.

Und was man vom Messias erwartete, daß er auch die Heiden für das

Reich Gottes gewinnen werde — davon waren ja schon damals Anfänge wahr­ zunehmen in dem Proselytcntum,') welches überall sich an das Judentum anschloß,

teils vollständig, indem es — im Sinne der Pharisäer — das ganze Gesetz zu be­ folgen auf sich nahm, teils allerdings nur in dem Sinne, daß es — in Überein­ stimmung mit den über den Pharisäismus hinausgekommenen Juden — den sitt­ lichen Kern des Gesetzes zu erfüllen trachtete.

7. So hatte

sich innerhalb des

gesetzestreuen Judentums

selber eine Ent­

wickelung vollzogen, welche über den Pharisäismus hinauswies und dem Christentum zustrebte, eine Richtung der Frömmigkeit, welche über den Buchstaben des Ge­

setzes zum Kern desselben

vorgedrungen war, welche auf ein vollkommenes

Gottesreich hoffte, welche die Schranke des Judentums sogar schon überschritt in

dem

Proselytismus,

der

die

Heidenwelt

für

das

Gottesreich

zu

gewinnen

begann.

Aber wenn nun auch im Judentum (wie auch in dem gleichzeitigen Heiden­ tum) eine Entwickelung angebahnt war, welche dem Christentum zu strebte*2), so

ist doch weder aus dem damaligen Heidentum noch aus dem Judentum das Christen-

n Bal. Heil. Gesch. Nr. 94 (2. Ausl. Nr. 99). 2) „Kein einziaer NTlicher Begriff ist ohne Vorbildung in der Theoloaie der Synagoge (Schlatter)"; aber das Evangelium ist geschichtlich unverständlich, solange man ihm die Idee eines exklusiven, noch von keinem fremden, besonders hellenistischen Geiste betroffenen Judentums giebt" (Harnack): „das Christentum ward eingeleitet durch mannigfache Berührungen, wie sie schon lange zwischen den beiden nachhaltigst wirkenden Faktoren der bis dahin gediehenen Geistesentwickelung, dem Griechentum und dem Judentum, stattgehabt hatten. Nur wer diese Grundsätze

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tum von selber hervorgegangen, sondern nur durch das Auftreten Jesu Christi ist das Christentum sowohl als Theorie deutlich verkündigt als auch im Leben wirklich zur Herrschaft gebracht worden; ohne Christus kein Christentum, d. Das Christentum im Verhältnis zum Judentum?) a. Die Christen haben von je her in der Geschichte des Volkes Is­ rael eine Offenbarung Gottes erkannt, und die Propheten desselben gelten auch uns als vom Geiste Gottes erleuchtet. Aber eine vollkommene Offenbarung Gottes, wie sie in Christus geschehen ist, war im Alten Bunde noch nicht vorhanden. Zwar der Alte Bund war dem Christentum zugewandt; im Volke Israel hat sich die Erscheinung der vollkommenen Offenbarung Gottes vorbereitet, und namentlich die Propheten waren vom Geiste Gottes erleuchtet; aber doch ist auch für die Propheten die dem Volke Israel gezogene Schranke in der Gemeinschaft mit Gott und in der Erkenntnis Gottes nicht gefallen. „Gott hat ja vor Zeiten manchmal und mancherlei Weise zu den Vätern geredet durch die Propheten" (Hebr. 1,1); aber der Kleinste im Himmelreich ist größer als sie (Matth11, 11), denn er besitzt die Offenbarung Gottes in seinem Sohne, in welchem Gott zuletzt und am vollkommensten zu den Menschen geredet hat; das Christentum ist die Vollendung der Offenbarung. ß. Auch das Judentum ist also eine geoffenbarte Religion, aber erst das Christentum ist die vollkommene Offenbarung; wodurch unterscheidet sich nun das Christentum vom Judentum, so daß es diesem gegenüber die vollendete Offenbarung ist?

aa. Auch das Judentum ist noch, wie die heidnischen Religionen, eine Bolksreligion, dagegen ist das Christentum (wie der Islam und der Buddhismus) eine Weltreligion. Das israelitische Gottesreich fällt aber mit dem israelitischen Volkstum zusammen; infolge dessen ist Jehovah vor allem der Gott des Volkes; nicht der einzelne Israelit, sondern nur das ganze Volk oder der König, als Repräsentant des Volkes, bc* trachtet infolge dessen Gott als seinen Vater. Dagegen soll das christ­ liche Gottesreich alle Völker umfaffen; aber nicht schon durch die äußere Zugehörigkeit zu einem christlichen Volke wird der einzelne Mensch zum Kinde Gottes, sondern erst durch die Wiedergeburt. Auch der einzelne wiedergeborene Christ betrachtet aber Gott als seinen Vater. ßß. Die Offenbarung Gottes in Israel gilt sodann noch als gebunden an bestimmte einzelne Orte, die Stistshütte, den Tempel und Jerusalem; erst das Christentum hat dem Menschen gezeigt, daß die Gemeinschaft mit Gott weder „an Jerusalem noch an Garizim" gebunden ist, sondern daff Gott in Geist und Wahrheit anzubeten ist. Ferner ist die Gemeinschaft mit Gott für das Volk Israel noch ver­ mittelt durch besondere Priester und äußere Opfer; erst der Christ

anerkennt, wird im Christentum da- Centtale und Originale von der zeitgeschicht­ lichen Borstellungswelt unterscheiden können" (Holtzmann). Bgl. Schlatter, der Glaube im N. %.2 S. 7; Harnack, Dogmengeschichte I, 47; Holtzmann, NTliche Theol. I, S. 86 und 342 s. ’) Bgl. H. Gesch. Nr. 3—7 [2. Aust.: Nr. 7—12).

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steht, indem jeder selber ein Priester sein und selber sich Gott zum Opfer hingeben soll, in einer unmittelbaren Gemeinschaft mit Gott. Die Frömmigkeit Israels ist auch noch gebunden an die Beobachtung bestimmter äußerer Gebräuche und Sitten; erst das Christentum hat die Frömmigkeit vom Joche des äußeren Buchstabens freigemacht, und läßt aus dem dem Menschen mitgeteilten heiligen Geiste das fromme Leben sich frei entwickeln. yy. Endlich ist das Reich Gottes im Judentum noch ein Reich des Diesseits, sowohl in der Gegenwart wie in der Hoffnung der Zukunft bei den Propheten. Das Himmelreich des Christen beginnt zwar gleich­ falls auf Erden, aber seine Vollendung findet es erst im Jenseits; erst das Christentum hat eine gewisse Hoffnung des ewigen Lebens im Himmel. y. Daß nun das Christentum so hoch über dem Judentum steht, ver­ dankt es nicht einer von selbst eingetretenen inneren Entwickelung des Judentums (diese hat zum Pharisäismus und zum heutigen Juden­ tum geführt), sondern der vollkommenen Offenbarung Gottes in Jesus Christus, in welchem „zuletzt und am vollkommensten Gott zu den Menschen geredet hat".

e. Tas Wesen des Christentums. a. Nicht sofort haben aber die Christen das Wesen ihres Glaubens in ihrer Tiefe erfaßt, sondern die Christenheit hat sich nur allmählich zu einem immer tieferen Verständnis des Christentums entwickelt; die drei großen Kirchen, welche heute neben einander stehen, sind als die Ent­ wickelungsstufen der Chnstenheit in der Erfassung des Christentllms an­ zusehen?) Die m o r g e n l ä n d i s ch e Kirche, als deren Repräsentant Athanasius anzusehen ist, hat mit der Erfassung der Offenbarung des wahren Gottes in Jesus Christus, wie dieselbe im nicänischen Bekenntnis zum Ausdruck kommt, diejenige Aufgabe gelost, welche ihr durch den Ausbruch des arianischen Stteites zugcfallen war: daß Jesus Gottes Sohn sei, hat die morgenländische Kirche erkannt: aber ein Verständnis des menschlichen Lebens Jesu und die Erkenntnis der Bedeutung des Todes Jesu ist von dieser Kirche nicht gewonnen worden. Eine neue Auffassung des Christentums kam in der römischen Kirche des Mittelalters zum Durchbruch durch das Auftreten des A u g u st i n u s, durch welchen der Christenheit der G r u n d und der Zweck der in Jesus Christus geschehenen Offenbarung Gottes klar gemacht wurde. Der Grund der Offenbarung ist die S ü n de des Menschen, welche denselben aus eigener Kraft nicht zur wahren Frömmigkeit gelangen läßt, und der Zweck der Offenbarung Gottes ist die Bekehrung des Menschen, durch *) Bgl. meinettirchengejch.-Nr. 61. — Wenn Ritschl(Rechts, und B?I, 3—4) der folgenden Darstellung gegenüber darauf hinweist, daß in jeder theologisch frucht­ baren Periode der christlichen Kirche nicht einzelne Dogmen, sondern daS ganze Christentum unter dem Gesichtspunkt, daß es die erstrebte Seligkeit begründe, formuliert worden sei, so ist das gewiß richtig, aber damit wird, wie mir scheint, die folgende Darstellung nicht umgestoßen.

171 welche der sündige Mensch in einen frommen Menschen umge­ wandelt wird. Aber über den Weg der Bekehrung blieb die Kirche des Mittelalters im Dunkel; das Mittelalter betrat vornehmlich den Weg der guten Werke und vergaß den Glauben, und als Führer zum Glauben betrachtete das Mittelalter weniger Christus, als die Kirche und den Papst. Von diesen Irrwegen die Kirche zurückzuführen auf die rechte Bahn und das Christentum zu einer neuen Entwickelungsstufe emporzuheben — das war das Werk der Reformatoren, das Werk der evangelischen Kirche. Dieselbe zeigte dem Christen als den rechten Weg zur Bekehrung die Rechtfertigung aus dem Glauben, auf welchem die guten Werke beruhen, und als rechten Führer zum Glauben statt der Kirche und des Papstes die heilige Schrift, als die Urkunde der göttlichen Offenbarung. ß. Aber die vollständige Erkenntnis des wahren Christentums ist bis jetzt in der Kirche noch nicht gewonnen; weder die katholische, noch die evangelische Kirche ist schon im vollen Besitz der Wahrheit. Aber die evangelische Kirche hat jedenfalls eine tiefere Erkenntnis des Christentums gewonnen, als die katholische, und der weitere Fortschritt des Christentums wird sich nicht vollziehen durch unsere Rückkehr zur k a t h ol i s ch e n Kirche, font>ern durch eine immer tiefere Versenkung in die in der heiligen Schrift ausgezeichnete Offenbarung, also auf Grund der von der evangelischen Kirche gewonnenen Erkenntnis des Christentums. Darum bleiben wir evangelisch, aber allerdings in der Hoffnung, daß auch unsere Kirche dereinst noch besser verstehen und noch völliger sich aneignen wird, was in der Offenbarung Gottes der Menschheit zu teil geworden ist. y. Wenn man nun fragt, wie das Wesen des Christentums am treffendsten bezeichnet werde, so ist die richtigste Antwort wohl die, daß im Christentum das vollkommene Gottesreich dem Menschen dar­ geboten werde. Ein äußeres Gottesreich hatte Moses gestiftet, auf die Vergeistigung desselben war die Predigt der Propheten gerichtet gewesen, das von ihnen ersehnte vollkommene geistige Gottesreich ist durch Jesus in der Welt gegründet worden. Was verdanken wir nun der Wirksamkeit Jesu? In Gott uns unsern Vater erkennen zu lasten, uns zum Bewußtsein zu bringen, daß wir Gottes Kinder werden können und sollen — das ist die Aufgabe, die Jesus in seinem Wirkm und Leiden gelöst hat. Zwar auch die Natur läßt uns einen gütigen Gott ahnen; aber da neben den Gütern in dieser Welt auch so viele Übel vorhanden sind, so tritt doch der Gedanke an die Güte Gottes zurück gegenüber von dem Gedanken an die Macht Gottes, die wir in der Natur wahrnehmen. Auch das innere Leben des einzelnen Menschen und der Verlauf der Weltgeschichte läßt uns in Gott nicht mit Sicherheit dm Vater erkennen. Da wir Sünder sind, so tritt uns Gott in unserm Gewiffm zunächst als der Heilige entgegen, und die Weltgeschichte erscheint uns zunächst als ein Weltgericht, nicht als eine Offenbarung des gnädigen Gottes. Auch derjenige, welcher in Jesus (mit dem Rationalismus) nur den vollkommensten Lehrer der Sittlichkeit erblickt, wird durch Jesus zwar zu

172 einer tieferen Erkenntnis seiner sittlichen Pflichten, aber auch zu einer tieferm Erkenntnis seiner sittlichen Unvollkommenheit geführt werden, nicht aber zum Bewußtsein der väterlichen Gnade Gottes. Diese Gewißheit, daß Gott unser B a t e r ist, und daß wir Menschen seine Kinder werden können und sollen, verdanken wir nur der uns in der Person Jesu und in ihrem ganzen Wirken und Leiden entgegentretendrn Offerbarung der Liebe Gottes, der uns unsere Sünde vergeben und uns zu seinen Kindern annehmen will, wenn wir an seine Gnade glauben. Nur durch das Christentum ist der der alten Welt und dem natürlichen Menschen fremde Glaube an die Baterliebe Gottes so selbstverständlich geworden, daß ihn heute auch diejenigen für richttg halten, welche dem Christentum fernstehen. 8. Wenn nun das im Christentum dem Menschen dargebotene Gottes­ reich für den Menschen zunächst eine göttliche Gabe ist, indem der in dasselbe eintretende Mensch von Gott Vergebung der Sünden erhält und in die Gemeinschaft mit Gott wieder ausgenommen wird, so ist das Christentum Religion, denn in der Religion begehrt ja der Mensch von Gott Güter zu erhalten und als höchstes Gut die Gemeinschaft mit Gott. Wenn aber sodann die dem Menschen im Christentum dargebotene Gemein­ schaft mit Gott ihm die Aufgabe stellt, durch Heiligung seines Wandelsmit Gott in Gemeinschaft zu bleiben, so führt das Christentum zur Sittlichkeit. Wenn also im Christentum Religion und Sittlichkeit mit einander verknüpft sind, während sie in anderen Religionen auseinander liegen, so ist auch aus diesem Grunde das Christentum die vollkommenste, nämlich eine wahrhaft sittliche Religion. f. Wenn nun alle Christen darüber einig sind, daß sie das Bewußtsein ihrer Gotteskindschaft und den Glauben an die Vaterliebe Gottes nur Jesu Christo zu verdanken haben, so ist es nicht unbedingt nötig, daß wir wissenschaftlich ver­

stehen, wie dieser Glaube an die Vaterliebe Gottes in Jesus selbst entstanden und von ihm unter den Menschen erweckt worden ist. In den Fragen dieses Wissens gehen die Ansichten der Theologen in alter und in neuer Zeit weit auseinander, und die wissenschaftliche Behandlung dieser Fragen ist für den Laien nur darum wichtig, weil dadurch manche bedenkliche Irrtümer abgewehrt werden können. Aber die Hauptsache ist nicht das Wissen und Verstehen des Werkes Jesu, sondern der Glaube an die in seinem Wirken und in seiner Person uns sich offenbarende Parerliebe Gottes: au diesem Glauben wollen wir einmütig sesthalten.

n—IV. Die Gründung des vollkommenen Gottes­ reiches durch Jesus Christus. 37. Einleitung.

Das Christentum, in welchem die Gemeinschaft der sündigen Menschen mit Gott wieder hergestellt und eine vollkommene Gemeinschaft des Menschen mit Gott begründet wird, ist aber durch Jesus Christus gegründet worden. Wenn

173 nun dargelegt werden soll, wie durch Jesus Christus das Christentum gegründet worden ist, so ist zunächst vom Werke Jesu Christi zu sprechen, durch welches ja zunächst das Christentum begründet worden ist. Das Werk Jesu faßt man aber gewöhnlich zusammen, indem man ihn als Propheten, als König und als Priester betrachtet, und in dieser Weise soll im folgenden das Werk Jesu als das Mittel der Begründung des Christen­ tums dargestellt werben. Sein Werk hat aber Jesus vollbracht in seinem Leben, und darum ist nach seinem Werke sein Leben zu besprechen. In seinem Leben unterscheidet man nun einen Stand der Erniedrigung und der Erhöhung. In dieser Weise soll im folgenden das Leben Jesu besprochen werden. Das Werk der Vollendung des Gottesreiches konnte aber von Jesus in seinem Leben nur darum vollbracht werden, weil in der Person Jesu die vollkommene Offenbarung Gottes in der Welt erschienm ist. Bon der Person Jesu, als der vollkommenen Offenbarung Gottes in der Welt, werden wir also schließlich noch zu sprechen haben. Das Werk Jesu, das Leben Jesu, die Person Jesu — nach diesen drei Beziehungen wird also im folgenden von Jesus Christus gesprochen werden. Wenn bei dieser Besprechung vom Werke Jesu ausgegangen wird, so ist das derjenige Gang der Besprechung, welchen Melanchthon in seiner im I. 1521 erschienenen, der ersten evangelischen Glaubenslehre empfohlen hat, wenn er sagt: Christum cognoscere est beneficia eins cognoscere, d. h. Christus erkennen, das heißt seine Wohlthatcn erkennen. Dieser Gang der Besprechung cntpricht auch der Bibel, in welcher uns zunächst das Werk Jesu entgegentritt (Predigt und Wunder), dann erst auf die Bedeutung der Person Jesu hingewiesen wird (PetrusBekenntnis), nur daß natürlich in der Bibel vom Tode Jesu erst zuletzt gesprochen werden konnte. Diese Aufeinanderfolge der Abschnitte der Christologie (Stert, Leben, Person) ist auch darum nicht unangemessen, weil sich dann ein guter Zusammenhang der Gedanken auch in der Hinsicht «giebt, daß an die Besprechung des Todes Jesu (Werk Jesu) sich die Besprechung des Standes der Erniedrigung, und an die Besprechung der Erhöhung die Besprechung der P e r s o n Jesu anschließt, deren Wesen ja erst auf Grund der Erhöhung, namentlich der Auferstehung, von den Aposteln tiefer erkannt worden ist.

II. Wie ist durch das Wirken und Leiden Jesu Christi die Gemeinschaft -er Menschen mit Gott wie-erher-estellt und vollendet worden? 38. (37.) Das dreifache Werk Jesu Christi. a.1) Wenn dargelegt werden soll, wie die sündige Menschheit durch Jesus Christus zur vollkommenen Gemeinschaft mit Gott geführt worden

*) Beyschlag, L. I., Bd. I, Absch». HI, 7.

174 ist, so ist zunächst vom Werke Jesu Christi zu sprechen. Wenn wir nun nach den Mitteln fragen, deren sich Jesus zur Ausführung seines Werkes bedient hat, so ist in dieser Beziehung eine höchst denkwürdige allmähliche Entwickelung wahrzunehmen. Der ursprüngliche Gedanke Jesu ist offenbar kein anderer, als daß das Wort Gottes, so wie allerdings nur Er eS reden konnte, alles allein ausrichten müsse und könne. Im „Evangelium", d. h. der frohen Botschaft, ist der Welt das Himmelreich selbst nahe gekommen; über alle Wunder geht Jesu das Wort. Zum Gegenstände dieses Wortes macht aber Jesus bei den Synoptikern niemals *) seine Person, sondern das Himmelreich, welches der Vater den Menschen durch ihn anbieten läßt. Sogar bei Johannes, welcher doch bereits nach der Weise der späteren Predigt der Apostel die Person Jesu in den Mittelpuntt der Heilsprcdigt stellt, ist doch auch die ursprüngliche Form der Predigt Jesu daneben noch erhalten, so daß selbst noch im hohenpriestcrlichen Gebet (Joh. 17) Jesus seine Sendung darein setzt, daß er den Menschen den Namen des Vaters geoffenbart und ihnen die Worte mitgeteilt hat, welche Gott ihm gegeben hat. Aber die Erfahrung mußte Jesum selber zu einer Fortbildung seiner Lehrweise sühren, welche der späteren apostolischen Lehrweise entspricht. In das Wort der frohen Botschaft gefaßt, ttat die Vaterliebe Gottes den Menschen entgegen als hohe, herrliche Idee; aber die Idee als solche ergreift zwar den Menschen, aber sie wandelt ihn nicht um; das thut nur die Thatsache, die Erfahrung. Eine erfahrbare Thatsache war aber die Baterlicbe Gottes nur in Jesu, der sie verkündigte; Jesus allein war der Bürge für die Wahrheit seines Wortes, und er war dies dadurch, daß die väterliche Liebe Gottes, die er predigte, in ihm selbst lebte, in seinem Erbarmen gegen die Sünder sich offenbarte. So wurde der Glaube an sein Wort zum Glauben an seine Person. Diesen Übergang in der Predigt Jesu bezeichnet das Wort: „Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand kennt den Vater, denn nur der Sohn, und wem der Sohn es offenbaren will" (Matth. 11,27 s). Die ganze Sache des Gottes­ reichs zeigte sich gebunden an seine Person und an das persönliche Ver­ hältnis zu ihm. So ruft er denn nunmehr die Sünder nicht mehr bloß zum Hören seines Wortes, sondern zu seiner Person herzu: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid!" Nicht sein Wort, sondern er selber ist das Brot des Lebens (Joh. 6). Wenn die Synoptiker fast überall die ursprüngliche Form der Heilslehre Jesu festgehalten haben (doch vgl. Matth. 11, 27—30), so hat Johannes vornehmlich die spätere Form seiner Predigt dargcstellt, ohne aber die ursprüngliche ganz zu verdrängen. Die Predigt von der Bedeutung seiner Person führte aber Jesum auch noch über sein Erdenleben hinaus; er erkannte, daß sein Erdenleben noch die letzte Weihe, die Weihe des Opfers, empfangen müsse, um fein Werk ganz zu vollenden. Er ist ja das Brot des Lebens; aber dies Brot muß gebrochen werden, um von vielen zum ewigen Leben gegessen zu

*) Matth. 18( 6 steht so vereinzelt da, daß der Ausdruck wohl der späteren Sprache der Gemeinde zugeschrieben werden muß.

175 werden. Der vollkommene Erlöser für die Seinen wird Jesus erst durch seinen Tod, welcher für sie das Unterpfand der Gnade Gottes ist und ihnen die Kraft zu einem neuen Leben darbietet. So ist also der Tod Jesu für die Menschen der Grund sowohl der Rechtferttgung, als auch der Heiligung. b. Indem nun Jesus zunächst durch das Wort wirkt, ist er ein Prophet; der Glaube an seine Person beruht auf dem Glauben an seine messianische Würde, an sein Königtum; in seinem Tode zeigt er sich als Priester. Man faßt also die ganze Wirksamkeit Jesu richtig zusammen, wenn man ihn als Propheten, als König und als Priester betrachtet: ja, das R. T. faßt einmal selber (1. Kor. 1, 30) die Wirk­ samkeit Jesu so zusammen, daß man in diesem Worte die drei Ämter Christt wenigstens finden kann, indem es heißt: „Christus ist uns gemacht von Gott zur Weisheit (Prophet) und zur Gerechtigkeit (Priester) und zur Heiligung (König) und zur Älösung" (Erweiterung des dritten Begriffs).

Diese mehrfache Thättgkeit Christi ist aber dennoch eine einige Thätig­ keit, da das prophetische und das priesterliche Amt dem königlichen Amte insofern dienen, als der Prophet verkündet, was der König schafft (Gründung des Gottesreiches), und der Priester in seinem Tode besiegelt und vollendet, was der König erringt. Schon das A. T. zeigt diese drei Ämter als im Volke Gottes vor­ handen, und die Zukunft des Gottesreiches wird in demselben abhängig gemacht von dem Wirken eines vollkommenen Propheten, Priesters und Königs, obwohl freilich das A. T. nichts davon weiß, daß alle Weis­ sagungen in dem einen Jesus von Nazareth in Erfüllung gehen. c. In unserm Katechismus tritt allerdings das prophetische Amt Jesu gänzlich zurück hinter dem priesterlichen („der mich verlorenen . . . Leiden und Sterben") und dem königlichen Amte („Ich glaube.. . unsern Herrn"; „auf daß ich in seinem Reiche ... Unschuld und Seligkeit"). „Trotzdenr ist die Lehre vom dreifachen Amte dem Katechismus-Unterrichte zu erhalten; von ihm als Propheten verkündigt und mit priesterlichem Leiden erstritten, hat Jesus sein Königtum in der Himmelfahrt angetteten, um es durch den heiligen Geist der vollendeten Erfüllung entgegenzuführen."')

39. (38.) Jesus als Prophet'). a. Wenn Jesus zunächst durch die Predigt das vollkommene Gottes­ reich zu gründen unternommen hat, so ist er ein Prophet gewesen. Seine Landsleute „hielten ihn für einen Propheten" (Matth. 21, 46); „ein großer Prophet ist unter uns auferstanden" (Luk. 7, 16), sagen die Leute bei der Auferweckung des Jünglings von Rain; „das ist Jesus, der Prophet von Nazareth aus Galiläa" (Matth. 21, 11), sagen die Menschen, als er in Jerusalem einzieht. Und Jesus mußte ihnen ja zunächst für *) Bgl. v. Zezschwitz, der Katechismus,* S. 495. Bei diesem Abschnitte wird der Lehrer auf die Lektüre bibl. Abschnitte ver­ zichten müssen (aus Mangel an Zeit) und verzichten können, da in der heil. Geschichte die Wirksamkeit Jesu als Prophet den Schülern durch umfassende Bibel­ lektüre bekannt geworden ist.

176 einen Propheten gelten. Bom Messias erwartete man die Aufrichtung des Gottesreiches, Jesus schien doch das Gottesreich nur zu verkündigen, wenn er, des Täufers Wort aufnehmend, predigte: „Thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen"; daß mit der Predigt des Himmel­ reichs auch die Gründung desselben verbunden sei, haben seine Jünger erst später erkannt. Was nun Jesus als Prophet vorn Reiche Gottes gepredigt hat, darf hier als bekannt vorausgesetzt werden. Zu der P r e d i g t vom Reiche Gottes gehört natürlich auch die W e i ssagung, die ja auch in der Predigt Jesu nicht fehlt. Jesus schaut als Prophet auch in die Zukunft der Wege Gottes, aber freilich auch er nicht uls ein Allwissender, sondern in der Weise aller Propheten; auch ihm steht die ganze Zukunft nur in einem Bilde vor Augen (der Untergang Jerusalems und das Ende der Welt liegen auch für Jesus mehr neben einander, als nach einander, nicht durch Jahrtausende von einander geschieden), und Zeit und Stunde der Vollendung der Welt bekennt er nicht zu wissen — eine Warnung für die Ausleger der Offenbarung Johannis, die aber nicht beachtet worden ist. Und eine Predigt Jesu sind auch seine Wunder — Thaten der Liebe und Verkünder der neuen Ordnung der Welt in dem vollkommenen Gottesreiche, welches aufzurichten ja die Aufgabe Jesu war, wo „der Tod nicht mehr sein wird und kein Leid noch Geschrei noch Schmerzen mehr sein werden" (Off. Joh. 21, 4). Und endlich gehörte zur Predigt Jesu auch sein Leben und Leiden, ein Leben in ungetrübter Gemeinschaft mit Gott, ohne Sünde, aber doch im Kampfe mit der Sünde, im Gehorsam gegen Gott, aber in lernendem Gehorsam (Hebr. 5, 8), ein Leiden ohne Murren, in Ergebung an Gott — ein Vorbild für seine Jünger und für alle Völker und Zeiten, herr­ licher als das Leben aller anderen Religionsstister. Fürwahr, ein großer Prophet ist in Jesus unter den Menschen erstanden, ein Prophet, mächtig in Worten nnd Thaten (Luk. 24, 19), ein Prophet, dessen Leben mit seiner Lehre vollständig übereinstimmte, und dessen Worte waren „Worte des ewigen Lebens" (Joh. 6, 68), gerichtet rmf die Wiederherstellung der Gemeinschaft des Menschen mit Gott. b. Wenn aber Jesus durch die Predigt das Gottesreich zu gründen unternimmt, so verzichtet er nicht bloß auf die Anwendung von Gewalt, sondern er verzichtet auch darauf, dasselbe mit einem Schlage zu gründen; dann kann sich das Gottesreich nur langsam und allmählich tntwicfeln, wie er das in den acht Gleichnissen darlegt, die wir Mt. 13 und Mark. 4, 26—29 lesen. Aber ans dem kleinen Senfkorn ist all­ mählich doch ein großer Baum geworden, und der wenige Sauerteig hat die große Welt durchdrungen und umgestaltet, und es wird, wie wir hoffen, dereinst erfüllt werden, was Jesus befohlen hat, daß das Evangelium allen Völkern gepredigt wird, und daß alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Jesu prophettsche Thätigkeit findet aber ihre Fortsetzung in der Lehrthättgkeit seiner Jünger, und wie einst von Jesus durch die Predigt die Kirche gegründet worden ist, so wird sie auch noch heute weiter aus­ gebreitet durch die Predigt seiner Anhänger, und die bestehende Kirche wird erhalten und geleitet durch die auf der Predigt Jesu

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beruhende Predigt seiner Nachfolger. Zwar haben wir Evangelischen nicht ein unfehlbares kirchliches Lehramt, wie es der Katholik in seiner Kirche angeblich an den Konzilien und dem Papste besitzt; unsere Kirche ist nicht unfehlbar, aber sie hält sich an die Predigt Jesu und seiner Jünger, mehr als die Kirche des unfehlbaren „Nachfolgers Christi", und bemüht sich, die durch Jesus der Menschheit zu teil gewordene Offenbarung sich immer mehr anzueignen.

40. (39.) Jesus als König?) a. Jesus ist zunächst als Prophet aufgetreten und hat vom Reiche Gottes gepredigt. Aber nicht bloß darum ist Jesus größer als die Propheten der Juden und die Philosophen der Heiden, weil er von dem Reiche Gottes besser als sie gepredigt hat, sondern weil er, als der König des Gottesreiches, der Messias, dasselbe gegründet hat. Auch die Philo­ sophen der Heiden haben mehr oder weniger ähnliche Grundsätze für die Frömmigkeit aufgestellt, wie Jesus; aber eine Gemeinde von frommen Menschen haben sie nicht zu stiften vermocht. Die Propheten der Juden haben noch deutlicher, als die heidnischen Philosophen, das Wesen der wahren Frömmigkeit erkannt, und Moses hat auch ein Gottesreich im Volke Israel begründet. Aber das israelitische Gottesreich war doch nur eine Vorbereitung für das ch r i st l i ch e, vollkommene Gottes­ reich. Erst Jesus hat sowohl das wahre Wesen des vollkommenen Gottes­ reiches einerseits richtig erkannt und verkündet, und andrerseits das Gottesreich in der Menschheit so begründet, daß es nicht mehr zu Grunde gegangen ist. b. Daß nun Jesus schon auf Erden der König des Gottesreiches war, welches er durch seine Predigt gründete, das haben allerdings zunächst nicht einmal seine Jünger erkannt; für sie war er zunächst nur ein Prophet, der auf das kommende Gottesreich hinwies. Aber Petrus rang sich doch allmählich zu der Erkenntnis empor (Matth. 16), daß Jesus der Messias d. h. der gottgesalbte König des Gottesreiches sei, und Jesus selbst zog zuletzt in Jerusalem in der Weise ein, wie sie der Verheißung des Propheten Sacharja (K. 9,9) entsprach, um sich als der Messias zu erkennen zu geben, und er erklärte vor dem Hohenpriester, daß man des Menschen Sohn von nun an werde sitzen sehen zur Rechten der Kraft und kommen auf den Wolken des Himmels (Matth. 26,64); zur Rechten Gottes sollte aber der Messias als der König des Gottesreiches erhoben werden (Ps. 110, 1). Aber allerdings nicht im Sinne des A. T. ist Jesus der messianische König gewesen, wenigstens nicht int Sinne seiner Zeitgenoffen; auch ihnen gilt, was er dem Pilatus sagt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt" (Joh. 18, 36). Sie erwarteten, daß der Messias alsbald bei seinem Auftreten das vollkommene Gottesreich und zwar mit dem Schwerte aufrichten werde, und das hat Jesus nicht gethan; denn ein derartiges Reich wäre auch nur ein irdisches Reich gewesen, größer als *) Auch hier wird aus Mangel an Zeit auf die Lettüre biblischer Abschnitte verzichtet. Heidrich, Glaubenslehre.

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Davids Reich, aber nicht ein Himmelreich; das Reich Jesu sollte aber ein inneres, geistiges Reich werden, in welchem Gott wirklich in dm Herzen der Menschen herrschte. Ein solches Reich konnte nur allmählich und nur durch die Predigt gegründet werden; das Ziel seiner Predigt war allerdings die Aufrichtung des vollendeten Gottesreiches, aber mit der Aufrichtung desselben hat seine Wirksamkeit nicht begonnen, sondem sie wird damit enden. c. So war also Jesus ein König, aber ein König in unscheinbarer Gestalt, in Niedrigkeit, mehr einem Propheten gleichend als einem König; aber er war dennoch ein König, und er gründete ein Reich, aber ein Reich, welches aus einem kleinen Senfkorn nur allmählich zum großen Baum erlvuchs. Freilich aus Erden konnte er nicht bleiben, um sein voll­ kommenes Reich selber aufzurichten und als sichtbarer König zu regieren; er mußte sterben, um viele Frucht zu gewinnen (Joh. 12, 24). Aber nachdem er sich nun erniedrigt hat zum Tode, ja zum Tode am Kreuz, da hat ihn Gott auferweckt und erhöht und zum Herrn gemacht über alles (Phil. 2, 9—11), so daß er bei der letzten Trennung von seinen Jüngern sagen konnte: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden, siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende" (Matth. 28, 18—20). Und er ist seitdem bei seinen Jüngern in dem Tröster, den er ihnen als seinen Stellvertreter verheißen hatte (Joh. 16, 12—15), im heiligen Geiste, welcher das Reich Gottes auf Erden leitet und (besser als der Papst, der sich mit Unrecht als den Stellvertreter Christi auf Erden betrachtet) die Christen mehr und mehr in alle Wahrheit leiten wird (Joh. 16, 13). Und dereinst wird nun dies unscheinbare Gottesreich allerdings verwandelt werden in das herrliche Gottesreich (Off. 21, 1—4), von welchem die Propheten gcweissagt haben, und dann werden in Christus alle Verheißungen des A. T. erfüllt sein. Aber das vollkommene Gottesreich ist nicht der Anfang, wie noch Johannes der Täufer erwartete, sondern das Ende der Wege Gottes. 41—44. (40—43.) Der Tod Jesu; Jesus als Priester.

41. (40.) Einleitung und Vorbemerkung für den Lehrer. a. Zum himmlischen Königsthron ist aber Jesus nur durch den Tod gelangt; warum mußte Jesus sterben, und welche Bedeutung haben wir dem Tode Jesu zuzuschreiben? — Die Beantwortung dieser Fragen führt uns aus eine neue Seite der Wirksamkeit Jesu, auf die Erkenntnis seines Priesteramts.

b. Zunächst als eine That der Liebe Gottes zu den Menschen ist auch der Tod Jesu zu betrachten, da ja das ganze Erlösungswerk Jesu auf der Liebe Gottes beruht (Joh. 3, 16); ja, gerade in seinem Tode hat ja der gute Hirte die höchste Liebe zu den ©einigen erwiesen. So ist es denn gewiß richtig, den Tod Jesu auf die Liebe Gottes zu den Sündern zurückzuführen. Und die Bibel sieht nun im Tode Jesu, als einer That der Liebe Gottes, auch das kräftigste Mittel unserer Versöhnung

179 mit Gott. Aber mit der Liebe Gottes mußte zugleich auch seine Heilig­ keit gewahrt werden, und die Apostel zeigen uns auch, in welcher Weise durch den Tod Jesu auch die Heiligkeit Gottes gewahrt wird. Wie nach der Lehre der heiligen Schrift beides geschieht, wird uns das Folgende zeigen. c. Die Schule wird sich bei der Behandlung dieser Frage zunächst, natürlich

in engerem Kreise, dieselbe Aufgabe stellen, welche die Wissenschaft zu lösen hat, „die verschiedenen Deutungsversuche des Heilstodes Christi, welche im N. T. vor­ liegen, zur Darstellung zu bringen".')

Wenn nun die Wissenschaft erklärt, daß es

„kaum bei einem andern Dogma so unmöglich sein wird, wie bei diesem, durch

reine Reproduktion der biblischen Aussagen zu einer einheitlichen Anschauung zu gelangen",2) so wird es also auch der Schule nicht verargt werden können, wenn sie das Hauptgewicht auf die Darstellung der einzelnen biblischen Gedankenkreise

legt, und die Zusammenfaflung derselben zu einem Ganzen nur in zweiter Linie als

ihre Aufgabe bettachtet.

Der Schüler soll auch hier

vor

allem die

wert­

vollen biblischen Gedanken kennen lernen, wenn auch die wissenschaftliche Zusammenfassung

dem Lehrer nicht ganz gelingen sollte.

Lehrer beachten, was Wiese sagt3):

Sodann aber soll der

„Die geheimnisvolle Tiefe der Lehre von der

Rechtfertigung durch den Glauben und von der stellvertretenden Genugthuung zu fassen, ist der natürliche Mensch unfähig; es gehört so viel inneres Erleben dazu, sie sich anzueignen, daß in der Jugend nur ein ahnendes Verständnis möglich ist".

Wenn es dem Lehrer zunächst auch nur gelingt, den Schüler im Tode Jesu eine

That der Liebe Gottes zu den Menschen erkennen zu lassen, so ist schon damit ein guter Grund gelegt, aus welchem sich allmählich wohl auch noch eine tiefere Er­

kenntnis der Bedeutung des Todes Jesu entwickelt.

42. (41.) Die Weissagung des A. T.

Hebr. 9, 12; Jes. 43, 21—25; Jer. 23, 5—6.

a. Das Volk Israel war zwar bereits das Volk Gottes, aber doch nur in unvollkommener Weise; noch bedurfte es auch für Israel eines Priestertums, welches durch stets wiederholte Opfer die gestörte Gemein­ schaft zwischen Gott und Volk wiederherstellen sollte und doch nur in sinnbildlicher Weise herstellen konnte, denn „durch der Böcke und der Kälber Blut konnte nicht eine ewige Erlösung erfunden werden" (Hebr. 9, 12). b. Nun haben allerdings schon die Propheten erkannt, daß die Opfer als äußerliche Handlungen nicht in Wahrheit Gottes Zorn füllen können; aber wie sollte dem Sünder geholfen werden? Die Weissagung des A. T. weiß nichts von einem leidenden und sterbenden Messias; der Messias erscheint im A. T. überall nur als König, und das messianische Heil ist durch diesen König vermittelt hin­ sichtlich aller Segnungen, welche dem Volke Gottes durch die vollständige Übernahme des königlichen Regimentes und die volle Geltendmachung des königlichen Willens Jehovah's zu teil werden; aber eine die Sündenver') Kühl, Heilsbedeutung des Todes Christi (1890), S. 1. *) H. Schmidt, Theol. Encykl. Bd. 16, S. 395. *) Bildung des Willens, 5. Aust., S. 52.

180 gebung vermittelnde und die sittlich-religiöse Erneuerung der Herzen wirkende Berufsthätigkeit wird dem Messias nirgends zugeschrieän. Aber das A. T. seines Alten welche

verkündet allerdings, daß Gott im Neuen Bunde die Entsündigung Volkes auf eine vollkommenere Weise, als sie durch die Opfer des Bundes bewirk wurde, Herstellen und durch eine Erlösungsthat, herrlicher sein werde als die Ausführung aus Ägypten, die voll­

kommene Gemeinschaft zwischen Gott und der Menschheit zu stände bringen werde. Dann wird Gott selber sein Volk in den Zustand vollendeter Gerechttgkeit versetzen (Jes. 43, 21—25), und das Volk wird Gott preisen als den Herrn, der seine Gerechtigkeit ist (Jer. 23, 5—6). c. In welcher Weise aber diese Gerechtmachung (Jes. 53, 11) des ganzen Volkes erfolgen werde, das konnten die Israeliten höchstens aus Jes. 53 ahnen, wonach das Volk Israel um eines gerechten, die Schuld der Gesamtheit tragenden Gottesknechtes willen die Gerechtigkeit erlangen sollte. Aber dieser Abschnitt der Weissagungsbücher des A. T. hat in den: jüdischen Messiasbilde keine Rolle gespielt, und seine Jünger haben erst nach dem Tode Jesu in demselben eine Erklärung für den Tod Jesu gefunden. 43. (42.) Der Tod Jesu und der Glaube an den Gekreuzigten.

Mt. 16, 21.

Luk. 24, 19—21.

Apg. 2, 22—24.

a. Nicht mit dem Gedanken, daß er sterben müsse, hat Jesns sein Werk auf Erden begonnen, sondern mit der Hoffnung, das vollkommene Gottesreich auf Erden herstellen zu können. Aber je mehr Jesus die Feindschaft seines Volkes erfuhr, desto deutlicher erkannte er, daß auch ihm, wie den früheren Gesandten Gottes, der Tod bevorstehe (Mt. 21, 37—39). Wenn er auch bis zuletzt hoffen konnte, daß des Vaters Macht und Weis­ heit im stände sei, andere Wege für die Verwirklichung seiner Heilszwecke zu finden (Mark. 14, 35—36), so wurde es ihm doch, besonders seit dein Bekenntnis des Petrus, immer deutlicher, daß der Tod für ihn eine Not­ wendigkeit sei, und als eine unvermeidliche Notwendigkeit hat Jesus seit dieser Zeit seinen Tod seinen Jüngern immer aufs neue vorausgesagt (Mt. 16, 21), während dieselben erwarteten, daß er in der nächsten Zeit das vollkommene Gottesreich aufrichten werde. Da diese Verkündigung mit ihren Erwartungen gar nicht übereinsttmmte, so waren sie trotz derselben bei seinem Tode bestürzt und verzagt, und als nun vollends schon der dritte Tag war, seit er gestorben war, da wagten sie nicht mehr zu Hoffell, daß er als Messias das Volk Israel erlösen werde (Luk. 24, 19—21). Von diesem Zweifel wurden sie aber befreit durch die Auferstehung Jcsll und durch die daran geknüpfte Hoffnung auf seine baldige Wiederkunft zur Aufrichtung seines Reiches. b. Als nun die Jünger am Pfingstfeste anfingen von Jesu zu predigen, da hatten sie natürlich vor allem den Gnwand der Juden zu bekämpfen, daß ein Gekreuzigter unmöglich der Messias sein könne; für die Juden war der Gekreuzigte ein Ärgernis (1. Kor. 1, 23). Dem gegenüber wiesen

die Apostel bei ihren Predigten immer wieder darauf hin, daß der Tod

181 Jesu schon im A. T. vorherverkündct sei (Apg. 2, 23; 3, 18; 4, 28), wie ja auch Jesus selbst seine durch seinen Tod erschreckten Jünger auf dem Wege nach Emmaus auf die Weissagung hingewiesen hatte. Aber daß der Tod Jesu nicht bloß eine vorhergesagte Zulassung oder Fügung Gottes sei, welche bei dem irdischen Sinne der einen anderen Messias ermattenden Juden unvermeidlich war, sondern daß der Tod Jesu auch eine Heilsbedeutung habe, dieser Gedanke tritt in der ältesten Predigt der Apostel noch nicht hervor; „der ganze ihre teuersten Hoffnungen durchkreuzende Eindruck seines Leidens und Sterbens war noch zu frisch und zu stark, um alsbald einer ganz entgegengesetzten Bettachtung, der Betrachtung seines Todes als eines besonderen Trostquells, Raum zu geben." **) Tie Apostel wiesen daher zunächst nur darauf hin, daß der Tod Jesu den Glauben an Jesum nicht zu hindern brauche, denn durch die Auferstehung und durch die Geistesausgießung sei Jesus dennoch aller Welt als der Messias erwiesen (Apg. 3,15; 4, 10; 5,30), und seine bald zu erwartende Wiederkunft zur Aufrichtung des messianischen Reiches werde alle Zweifel an seiner Mcssiaswürdc zerstreuen (Apg. 3, 20—21; 10, 42-43). c. So ist also nach der ältesten Predigt der Apostel für Jesum „sein Hcilandsbmif Ursache aller Leiden geworden; die Übel, in welchem sich Gottes Zorn wider die sündige Menschheit vollzieht, hat er in der mit seinem Heilandsbcruf gesetzten Weise erlitten." ') Durch die Auferstehung Jesu ist der Tod für ihn selber überwunden und der Anstoß für seine Jünger beseitigt worden; aber eine besondere Heilsbedeutung wird dem Tode Jesu in den ältesten Predigten der Apostel allerdings noch nicht bcigelegt.

44. (43.) Die Heilsbedeutung des Todes Jesu nach der Predigt Jesu und der Apostel. ') Aber der Tod Jesu ist nicht bloß eine göttliche Zulaffung oder Fügung, beruhend auf den geschichtlichen Verhältnissen, indem Jesus der Feindschaft der Juden und der Gottlosigkeit der Heiden erlag, sondern der Tod Jesu entspricht auch einem göttlichen Ratschluß und hat auch eine Bedeutung für unser Heil; denn wenn Jesus sterben mußte, so mußte sein Tod auch den Heilsabsichtcn Gottes mit der Menschheit dienen. Auf das tiefere Verständnis der Bedeutung des Todes Jesu sind nun die Apostel allerdings erst nach und nach, durch das allmählich ihnen ausgehende Ver­ ständnis der Wottc Jesu, geführt worden. Welches ist nun die Heilsbedeutung des Todes Jesu?

a. 2. Mose 24, 3—8. (Hebr. 9, 19—22). Mt. 26,28. 1. Petr. 1,2. Hebr. 9, 15—28. Röm. 3, 21—26. a. Den Aposteln lag es unzweifelhaft am nächsten, den Heilswcrt des Todes Jesu nach der Idee des ATlichen ') Beyschlag, NTl. Theol. I, S. 307. r) So v. Hofmann, Schutzschrist 2, 103. (Zunächst ist diese Darstellung Hosmann'S unzweifelhaft richtig.) *) Vgl. Kühl, Die Heilsbedeutung des Todes Christi. 1890. — Wie verschieden bei diesem Abschnitt die Deutung der bett. Bibelstellen ist, sieht der Leser aus den dem Texte beigegebenen klein gedruckten Ausführungen und au- den Anmerkungen.

182 Sühnopfers zu bestimmen. Wenn also die Apostel Jesum für uns (t’7T££ qpcbv) gestorben sein lassen, so haben sie sich wohl immer die Wirkung des Todes Jesu nach dem Borbilde des ATlichen Sühnopfers gedeutet. Aber meistens bleiben die Apostel nicht beim Sühnopfer im allgemeinen, wie es immer aufs neue dargebracht wurde, stehen, sondern sie ziehen zur Deutung des Heilswertes des Todes Jesu die Analogie des nur einmal dargebrachten sinaitischen Bundesopfers oder des alljährlich dar­ gebrachten großen Verföhnungsopfers, beide als Sühnopfer gedacht, heran/) in der Erkenntnis, daß einerseits durch den Tod Jesu ein neuer Bund Gottes mit den Menschen geschlossen worden ist, und daß andrerseits im Versöhnungsopfer Jesu das Bersöhnungsopfer des Alten Bundes erst zur Erfüllung gekommen ist, so daß durch das Sühnopfer des Todes Jesu der Mensch nun wirklich von der Schuld der Sünde befreit wird, was durch die ATlichen Opfer doch in Wahrheit nicht erreicht wurde. ß. Auf diese Deutung des Todes Jesu, zunächst als des Bundes­ opfers des Neuen Bundes, wurden aber die Apostel geführt durch die Einsetzungsworte des heiligen Abendmahls, aus welchen sie wohl zuer-st die Bedeutung des Todes Jesu erkannt haben. Besonders deutlich hat nämlich Jesus selber bei der Einsetzung des heiligen Abendmahls auf die Notwendigkeit und die Bedeutung seines Todes hingewiesen (Mt. 26, 28). Wenn sein Leib für uns gebrochen und sein Blut für uns vergossen wird, so wird nach diesen Worten das Blut Jesu, als Blut des (neuen — vielleicht nur Zusatz, aber richtig) Bundes, für viele vergossen. Wie Gott mit dem Volke Israel am Berge Sinai den Alten Bund geschlossen hat, nachdem dasselbe zum Gehorsam verpflichtet und durch das sühnende Blut eines Bundesopfers, mit welchem sie von Moses besprengt wurden, von der Sündenschuld gereinigt worden war (2. Mose 24, 7—8; vgl. Hebr. 9, 19—22), so wird durch den Tod Jesu unsere Sündenschuld von uns genommen, und durch das Blut des Neuen Bundes, „zur Vergebung der Sünde vergossen" (Mt. 26, 28), treten wir in den Neuen Bund ein, so daß wir nunmehr der vergebenden Liebe Gottes gewiß sein können. So sind nunmehr die Christen „erwählte Fremdlinge zur Besprengung des Blutes Jesu Christi" (1. Petri 1, 2), d. h. erwählt zum Eigentumsvolke des Neuen Bundes (Jer. 31, 31—34;. Diesen Gedanken hat besonders der Verfasser des Hebräerbriefes weiter ausgeführt. Wenn nämlich das Christentunl als der 9teue Bund betrachtet wurde, so lag nichts näher, als in dem Opfer, worauf derselbe beruhte, das Stiftungsopfer des Neuen Bundes zu sehen. Mit dieser An­ schauung schließt sich ja der Hebräerbrief an die Stiftungsworte Jesu beim h. Abendmahl an, die er offenbar als bekannt voraussetzt: „Das ist mein Blut des Bundes, welches für viele vergoffen wird" (Mark. 14, 24 Urtext). In der hier besonders in Betracht kommenden Stelle (Hebr. 9, 15—28) erörtert der Vers, zunächst die Frage, weshalb der Tod Jesu notwendig war, um ihn zum Bundesmittler zu machen, und indem er an die Doppel­ bedeutung des Wortes &iafhpcri (Bund und Vermächtnis) anknüpft, betrachtet

9 Born Passahopfer, an welches ebenfalls bisweilen gedacht wird (1. Kor. 5, 6—8; 1 Petr. 1, 18—19; Tit. 2, 14), kann hier abgesehen werden.

183 er den Neuen Bund als ein Vermächtnis, welches Jesus den Seinen hinterlassen hat. Ein Vermächtnis tritt aber erst in Kraft beim Tode des Erblassers; so mußte auch Jesus sterben, um uns zu Erben seines Ver­ mächtnisses zu machen (9, 16—17). Den tieferen Grund aber der Not­ wendigkeit des Todes Jesu findet der Hebräerbrief in der Borbildlichkeit der Stiftung des Alten Bundes, wobei das Bundesbuch, das Bundesvolk und das Bundeszelt mit Opferblut besprengt wurden (9, 18—21), wie in der allgemeinen Ordnung des A. T., wonach nur durch Opferblut die Reinigung von der Sündenschuld gewonnen werden konnte (9, 22). Was das Tieropfer niemals vermocht hat, das bewirkte das Opfer Jesu, nämlich die wirkliche Tilgung der Sündenschuld und die Bundesgemeinschaft mit dem Vater im Himmel.

Wiederherstellung der Durch dieses Opfer,

welches ebenso, wie das Opfer bei der ATlichen Bundschließung, nur einmal gebracht zu werden brauchte (9, 26—28), sind die Christen vollendet und geheiligt (10, 14), d. h., um mit Paulus zu sprechen, zunächst gerecht­ fertigt, von der Sündenschuld freigesprochen (vgl. Hebr. 10, 11 u. 18), aber zugleich auch (was der Hebräerbrief damit, abweichend von Paulus,

unzertrennlich verbindet) auf Grund der durch den Tod Jesu gewonnenen Sündenvergebung geheiligt oder, wie der Hebräerbricf sagt, vollendet (9,28). Im Hebräerbriefe wird nämlich das Bersöhnungswerk Christi in folgender

Weise dargestellt: Der Kern der levitischen Gesetzgebung ist die Idee der Sühne; aber gerade an diesem Kernpunkt der ATlichen Religion zeigt sich auch ihre Unzulänglichkeit (Hebr. 7, 18); sie kann die Sühne, die Aufhebung der Sünde, die Reinigung des

Gewissens wohl sinnbildlich darstellen, aber nicht wirklich vollbringen; die ATlichen Sühneanstalten haben zwar einen geistlichen Sinn, aber keine geist­ liche Kraft. Wie könnte der Kälber, Stiere oder Böcke Blut Sünde wegnehmen und menschliche Gewissen reinigen (Hebr. 10, 4 u. 11); wie können Priester, die

als Sünder selbst der Sühne bedürfen, ihresgleichen mit Gott versöhnen (Hebr. 7, 27 u. 28)? Selbst die jährliche Reinigung des Volkes durch den Hohenpriester ist

doch nur eine sinnbildliche Reinigung (Hebr. 9, 13), nicht eine wirkliche Hinführung des Menschen an das Ziel seiner Bestimmung (Hebr. 7, 19; 9, 9). Die ATliche Sühneordnung ist also nur eine vorläufige (Hebr. 7, 18), welche über sich selbst aus eine vollkommnere und erst wirklich wirkungskrästige hinausweist, wie das ja auch in der Prophetie deS A. T. geschieht. Was nun im A. T. nur sinnbildlich vorhanden war, eine Sühne der Sünde und eine Befreiung von der Sünde, das ist in Christus verwirklicht worden. Wie das geschieht, legt aber der Hebräerbrief in folgender Weise dar. Der Verfasser des Hebräerbriefes bettachtet Christus fast ausschließlich als Hohenpriester, so daß das prophetische und das königliche Amt daneben kaum in Bettacht kommen; das prophetische Amt ist allerdings die Voraussetzung des Hohen­ priesteramtes; das königliche Amt aber geht in diesem Briese eigentlich in dem hohenpriesterlichen unter, indem es als die himmlische Fortsetzung des hohenpriesterlichen Amtes betrachtet wird; das doch eigentlich dem königlichen Amte zugehörige „Sitzen zur Rechten Gottes" wird hier dem hohenpriesterlichen Amte zugerechnet. Dem ATlichen Hohenpriester gegenüber wird nun Christus als der voll­

kommene Hohepriester bettachtet: Christus ist der alleinige und bleibende Vermittler wahrer Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen.

184 Natürlich hat

der Verfasser die Idee

des Hohenpriestertums

als der Be­

zeichnung dessen, was Jesum wesentlich zu unserm Heilande macht, dem A. T. ent­ nommen, und indem er die Erfordernisse des Hohenpriestertums nachweist, stellt er durch Hervorhebung der Unterschiede zwischen Jesus und dem ATlichen Hohenpriester

die Einzigkeit und Vollkommenheit ins Licht, in der Jesus diese Idee verwirklicht hat;

Jesu- ist der Stifter eines neuen Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen geworden,

welches über das ATliche erhaben und erst das vollkommene und beseligende ist. Wenn nun die Wirksamkeit Jesu vornehmlich mit der des Hohenpriesters beim

großen Bersöhnungsopfer verglichen wird, aber sein Werk

doch auch der Bund­

schließung am Sinai zur Seite gestellt wird, so ist doch die Bedeutung des Todes

Jesu, welcher als Sühnopfer bettachtet wird, in beiden Darstellungen die, daß durch denselben nicht bloß die Schuld der Sünde, sondern auch die Macht der Sünde

aufgehoben wird.

Der Hebräerbries verlegt niemals den Schwerpunkt des Hohen-

prieftertums Christi einseitig in das Opfer aus Golgatha, wo es nach der her­ kömmlichen (Anselm'schen) Genugthuungslehre

abgeschlossen

sein müßte,

sondern

(wie auch Paulus, wenn derselbe die Versöhnung auf Jesu Tod und Auferstehung gründet) vielmehr in das ewige Bollendungsleben des Gekreuzigten im Himmel, in

welchem

er erst der lebendige Bürge für die Heiligung seiner Brüder ist:

ja,

dieser Brief konnte auch den Tod Jesu nicht einseitig auf die Rechtfertigung des Sünders beziehen und die sittliche Umwandlung desselben erst aus der Rechtfertigung ableiten, wenn durch diesen Tod, wie er erklärt, der neue Bund zu stände gebracht

sein sollte, weil derselbe ja dem Volke „das Gesetz ins Herz geben und in den Sinn schreiben", also die Menschen nicht bloß von der Schuld, sondern vor allem von der

Macht der Sünde befreien sollte. Beides ist also durch den Tod Jesu bewirkt worden. Wenn nun in der angedeuteten Weise der Tod Jesu im N. T. als ein Cofer

betrachtet wird, so ist doch dies Cpser nicht im Sinne der Anselm'schen Lehre als

ein stellvertretendes Strasleiden anzusehen: Stellvertretung im Sinne einer Ableitung der eigenen Schuld

Sinn des ATlichen Opfers.

und Strafe auf das Opfertier war nicht der

Tas ATliche Opfer bezweckte nicht Gottes Zorn um--

zustimmen, sondern es beruhte aus der fortdauernden Gnade Gottes gegen die

Bundesgemeinde.

Das Opfer war nicht

Abwendung der Strafe; so

eine

Strafe, sondern ein Mittel zur

ist auch der Tod

Jesu nicht (als stellvertretendes

Sttafleiden, wie die alte Dogmatik lehrte) die Ursache der gnädigen Gesinnung

Gottes, sondern eine Folge der auch dem Sünder fortdauernd zugewandten Liebe Gottes, denn „also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab", und zwar sogar in den Tod, ja in den Tod am Kreuze, „auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben."-')

J) Nach Beyschlags NTlicher Theologie II, 297 s und 311 s. -) Vgl. Nitzsch, Doam.II, § 46. — Die gewöhnliche Auslegung findet nämlich Röm. 3, 21—26 (nach Anselm — vgl. unten Nr. 45 c) den Gedanken aus­ gedrückt, daß die Strafgerechtigkeit Gottes ihre Befriedigung darin gesunden habe, daß die vom Gesetze geforderte Strafe an dem unschuldigen Christus statt an den schuldigen Menschen vollzogen worden sei, wie an dem Opsertier im Alten Bunde die vom Sünder verdiente Strafe vollzogen worden sei. Gegen diese Fassung der int Tode Jesu geschehenen Versöhnung bemerken andere (Ritschl, Weiß, Frank): „Es war eine Verirrung, wenn man Christus die Strafe erduldet haben ließ, welche der gefallene Mensch als unerlöster zu erdulden gehabt haben würde" (Frank, chr. Wahrheit n, 188). „Wie im ATlichen Sühmnstitut nicht daran gedacht ist, daß am Opfertter die vom Sünder verdiente Strafe vollstreckt werde, so ist auch hier nicht daran zu denken, daß Gott seine Gerechttgkeit erwiesen

185

y. Andrerseits gehen die Apostel, um die Bedeutung des Todes Jesu zu erklären, vom großen Bersöhnungsopfer aus; so wiederum der Hebräerbrief und besonders auch Paulus (Röm. 3, 21—26). Nachdem nämlich Paulus im Römerbriefe gezeigt hat (1, 18—3, 20), daß alle Menschen, Heiden und Juden, gleichmäßig unter der Zünde stehen und aus Gesetzeswerken nicht gerecht werden können (3, 23), weist er (3, 21—26) auf eine in der Gegenwart (wv() eingetretene Kundgebung Gottes hin, durch welche für die Menschen Gerechtigkeit gewonnen werde. Nicht vom Gesetz wird diese Gerechtigkeit bewirkt, obwohl sie im Gesetz (d. h. in der Weissagung der h. Schrift) schon verheißen war, sondern sie beruht auf dem Glauben an Jesus Christus (dreimal wird in V. 22 auf den Glauben hingewiesen, um den Unterschied der Glaub ensgerechtigkeit von der G e s e tz e s gerechtigkeit recht hervorzuheben). Gott hatte nämlich bis dahin infolge seiner Langmut die Sünden der Menschheit ungestraft gelassen (tiuoeois B. 25), und es konnte so scheinen, als ob er auf die (volle) Ausübung seiner Gerechtigkeit verzichtet habe, also eigentlich nicht mehr gerecht sei; gar mancher ließ sich (damals wie heute: 2, 4) durch diese Langmut Gottes nicht zur Buße, sondern zur Sünde verlocken. Nun gab es aber zur Erweisung seiner Gerechtigkeit’) einen doppelten Weg. Gott konnte entweder alte Sünder dem verdienten Tode überliefern, so daß niemand gerecht geworden wäre. Oder er konnte zwar seine Gerechtigkeit ebenfalls erweisen, aber so, daß die Menschen trotz ihrer Sünde nicht verdammt wurden. Wie hat Gott beides zugleich erreicht, die Erweisung seiner Gerechtigkeit und die Errettung der Sünder? Tas hat Gott erreicht, indem er auf Grund seiner Gnade die Menschen ohne Verdienst (dcot^dy) für gerecht erklärte, d. h. ihnen Vergebung der Sünde schenkte (so die evang. Auslegung des öixatovv gegenüber der katholischen: gerecht mache n), und zur Offenbarung seiner Gerechtigkeit (V. 26) in dem Tode Jesu der Welt ein (durch den Glauben) wirksames Sühnmittel hinstellte. Um nämlich die Menschen von der Sünde zu erlösen, stellte Gott Jesum vor aller Augen (.-rooeüeto) als tta), sondern er entäußerte sich selbst (eavzov fzevcooev).“ Was will der Apostel hiermit sagen? Christus, als der erschienene Messias und als der sündlose Gottessohn, der er innerlich war, hätte ein Recht darauf gehabt, in einer Weise der Welt sich auch äußerlich zu zeigen, daß er als derjenige von allen und sofort erkannt wurde, der er war. Der 110. Psalm hatte ja vom Messias verheißen, daß er „sitzen werde zur Rechten Gottes", also an der Ehre Gottes Anteil haben werde; einen Messias in göttlicher Herrlichkeit erwarteten darum auch die Juden. AberJesus weist in der Versuchung (Matth. 4) den Teufel zurück, der ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit, also göttliche Ehre, sofort verschaffen will, wenn er ein Reich nach seinem Willen gründen wolle, durch äußere Wunder und mit der Gewalt des Schwertes; die äußere göttliche Ehre und Herrlichkeit will sich Jesus „erwerben und gewinnen" (2. Artikel) durch ein Leben in Niedrigkeit, ja durch den Tod am Kreuze; er will sie nicht, wie Adam die Gottgleichhcit, in unrechter Weise an sich reißen, ob­ wohl sie ihm eigentlich gebührte, da er innerlich in göttlicher Gestalt war. Äußerlich trat er deshalb auf nicht in göttlicher Gestalt, aber innerlich

war er göttlichen Wesens, das Ebenbild Gottes, der Sohn Gottes, und diese innere Gottähnlichkeit (uogcp] hätte auch das äußere Gottgleichsein (rfrcu Toa dap) zur Folge haben können; aber der Ratschluß des Vaters, dem Jesus sich willig unterwarf, war ein anderer. Dem Vater in $cmut gehorsam — ein Vorbild für uns — verzichtete Jesus daraus, seinem inneren Wesen entsprechend in der Welt äußerlich auf­ zutreten: er erschien in Niedrigkeit, nicht als der zur Rechten des Vaters sitzende Messias, nicht in gottgeschenkter äußerer Herrlichkeit, sondern er entäußerte sich selbst (earrdr Ixivcoaw). Wenn wir daran festhalten, daß in B. 5 Jesus Christus als historische Person uns als Vorbild hingestellt wird, so ist auch bei der Entäußerung von der historischen Person Jesu *), nicht von dem himmlischen (präexisticrenden) Menschensohn oder Gottessohn die Rede, und der Apostel sagt danach, daß Jesus auf die ihm schon auf Erden gebührende göttliche Ehre verzichtet habe; innerlich gottgleich, erschien er wie ein gewöhnlicher Mensch, der göttlichen Herrlichkeit entbehrend; ja, er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am

*) So fassen die Stelle mit Luther und Calvin auch viele neuere Forscher.

207 Kreuze; am Kreuze konnte man den Sünder zu sehen glauben, der von Gott verlassen war, wie er ja selber gebetet hatte. Und er starb den schmählichsten Tod; sein Leib wurde begraben, seine Seele ging hinab in die Unterwelt, in beitem den gewöhnlichen Menschen völlig gleich; so weit hat sich Christus erniedrigt. b. 1) Andere aber lassen, indem sie als Subjekt der Entäußerung nicht die historische Person Jesu Christi

(wie doch B. 5 zu fordern scheint), ioiitern den

himmlischen Gottessohn vor der Menschwerdung bettachten, die Entäußerung in

der Berzichtleistung aus die göttliche Gestalt (jiootprj Orov) bestehen.

Aber hierbei

stellte sich eine Schwierigkeit in den Weg, welche zu einer zweifachen Darstellung

geführt hat.

Die älteren lutherischen Dogmatiker glaubten durchaus daran sesthalten zu müssen, daß auch der menschgewordene Gottessohn alle göttlichen Eigen­ schaften besessen habe; sonst meinte man in ihm nicht mehr den Gottessohn zu

haben.

Nach ihrer Meinung war und blieb der Mensch Jesus, ja schon das Jesus­

kind in der Wiege, allgegenwärtig, allmächtig und allwissend und der Regent der

Welt; aber — und nur darin besteht nach dieser Deutung die Entäußerung — die menschliche Natur hat teilweise auf den G e b r a u ch der göttlichen Eigen­

schaften verzichtet (in den Wundern Jesu dagegen traten sie wieder hervor), aber

im Besitze derselben ist der Mensch Jesus stets gewesen.

Wenn das gelehrt wird,

so ergiebt sich für unser Denken die unüberwindliche Schwierigkeit einer Person Jesu, der zugleich allwissend ist (als Gott), und der doch von sich sagt, daß er nicht allwissend ist; eine solche Person nämlich, die zugleichallwissend und nicht allwissend

ist, ist undenkbar.

Darum haben nun neuere Dogmatiker, welche den himmlischen Gottessohn

als das Subjekt der Entäußerung fassen, mit der Entäußerung von der göttlichen

Gestalt Ernst gemacht,-) und die Lehre aufgestellt, daß der Sohn Gottes, um ein wahrer Mensch werden zu können, auf diejenigen specifisch göttlichen Eigenschaften,

welche ein Mensch

nicht

besitzt (Allgegenwatt, Allmacht, Allwissenheit), verzichtet

habe, oder, wie entere3) es darstellen, daß der Sohn Gottes bei der Menschwerdung zu einer menschlichen Seele geworden sei, uns in allem gleich, außer der Sünde. Diese Auffassungen

lassen

ja allerdings das Leben Jesu

in seiner allmählichen

Entwicklung begreiflich erscheinen: dann ist Jesus, der die Allwissenheit von sich ablehnt, in der That auch nicht allwissend gewesen.

c. So stehen in der Frage nach der Bedeutung der Entäußerung (xtvcootg) die verschiedenen Deutungen der Theologen einander noch unvermittelt gegenüber; die einfachste Erklärung ist wohl die zuerst angeführte, nach welcher das Subjekt der Entäußerung der historische Jesus Christus ist, der in B. 5 uns als Borbild

hingestellt war; derselbe hat sich entäußett d. h. während seines irdischen Leben­

auf die ihm als Messias und Gottessohn eigentlich gebührende und nach dem A. T.

von den Juden von ihm erwartete göttliche Herrlichkeit und Ehre verzichtet.

’) Die nun folgende Darlegung (b) ist für den Lehrer unentbehrlich, für den Schüler wäre dieselbe nur dann nötig, wenn der Lehrer die erste Auslegung (a) der Bibelstelle nicht für richtig hält. 2) Thomasius, Luthardt, Frank. 3) Geh.

208 Es ist also hier derselbe Gedanke ausgedrückt, den wir 2. Lor. 8, 9 lesen:

„Ihr wisset die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, daß, ob er wohl reich war,

ward er doch arm um euretwillen, auf daß ihr durch seine Armut reich würbet."1) Christus ist aber arm geworden und hat sich entäußert, indem er, Mensch werdend, ein Knecht ward, nicht ein Herr, wozu er doch bestimmt war (B. 11), sondern in Wahrheit „ein Knecht der Knechte Gottes" (wie der Papst sich nur nennt), der

da von sich selber gesagt hat, er sei nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen (Matth. 20, 25—28), und der sogar soweit sich Herabgelasien hat im Dienste seiner Brüder, daß er den Kreuzestod für sie erlitten hat.

d. Wenn nun das Leben Jesu, äußerlich angesehen, in der tiefsten Erniedrigung endete, so schien das Werk seines Lebens, die Gründung des Reiches Gottes, vereitelt zu sein. Aber gerade durch seine tiefste Er­ niedrigung, durch sein Leiden und Sterben, hat Jesus das Werk der Erlösung vollbracht. Wenn nun auch der Glaube seiner Jünger (Joh. 1,14) durch den ihnen unerwartet kommenden Tod Jesu erschüttert wurde, so wurde derselbe doch bald wieder erneuert und befestigt durch die Auferstehung Jesu von den Toten. Durch dieselbe wurde Jesus zum Lohne für seine Erniedrigung (&6 Phil. 2, 9) zum Herrn des Reiches Gottes erhoben, welchem der Vater (im Laufe der Zeiten) alle Menschen Unterthan machen wird; seitdem kommt der Menschensohn auf den Wolken des Himmels, d. h. in göttlicher Kraft, fortwährend herab zur Erde, um das Reich Gottes unter den Menschen zu gründen (Matth. 26, 64), und wenn seine ersten Jünger die Herrlichkeit Gottes in seiner Person geschaut, aber sein Reich vermißt hatten, so sahen sie- nunmehr in dem Auferstandenen den verheißenen Gründer des vollkommenen Gottesreiches. e. Dieser Entwickelungsgang im Leben Jesu von der Niedrigkeit zur Hoheit wird auch im Katechismus dargestellt, indem der Text des 2. Art. das Leben Jesu nach den beiden Ständen der Erniedrigung („der empfangen ist . . . niedergefahren zur Hölle") und der Erhöhung („am dritten Tage . . . und die Toten") darstellt. Diesen Lebensgang Jesu hält aber Paulus uns zur Mahnung vor, damit „wir gesinnt seien, wie Jesus Christus auch war." f. „Der am Kreuz ist meine Liebe" — so sprachen wir mit dem frommen Dichter, indem wir, das ganze Werk Jesu betrachtend, in seinem Tode den höchsten Beweis seiner Liebe zu den Menschen erkannten. Aber daß wir nun in seinem Tode nicht das Ende seiner Wirksam­ keit, sondern den Grund unseres Heils sehen, das verdanken wir der Auferstehung Jesu, „welcher ist um unsrer Sünden willen dahingegeben und um unserer Gerechtigkeit willen auferwecket" (Röm. 4, 25). Indem wir zu dem Glauben gelangen, daß er nicht im Tode geblieben ist, erkennen wir in ihm den Quell des neuen Lebens der Menschheit und den Grund des Heils, auch für die nach ihm lebenden Menschen, und sprechen mit dem frommen Dichter: „Jesus lebt, sein Heil ist mein."

*) Die Auslegung von Phil. 2.

dieser

Stelle

ist

natürlich

ebenso

verschieden,

wie

die

209

iv. Wie hat stch in -er Person Jesu Christi seine Gemeinschaft mit Gott -argestellt? A. 47. (33.) Einleitung.

Röm. ö, 12—21 (excl. B. 13—17); Mt. 11, 27—30; Joh. 6. a. Das Werk der Zurückführung der verlorenen Menschheit zum Vater konnte von Jesus in seinem Leben darum vollbracht werden, und das Leben Jesu konnte von der Niedrigkeit des Gekreuzigten zur Hoheit des Auferstandenen darum emporsteigen, weil in der Person Jesu Christt die vollkommene Offenbarung Gottes in der Welt erschienen ist. Wenn wir nämlich fragen, worauf es beruhe, daß die Versöhnung der Menschen mit Gott durch Jesus Christus vollbracht worden ist, so muß die Person Christt eine Bedeutung haben, welche über die Bedeutung aller anderen Menschen hinausgeht. Wenn Jesus nur ein eben solcher Mensch gewesen wäre, wie wir es sind, so konnte er auch keine anderen Quellen der Gotteserkenntnis haben, als wir, und wenn er dennoch von einer durch ihn geschehenen Gottesoffenbarung redet, so könnte das nur in d e rn Sinne gemeint sein, daß er eine in uns selbst schon vorhandene Erkenntnis aufgeweckt habe aus dem Schlummer, in dem sie bei uns selbst bis dahin gelegen habe. Der Wert, den uns das Zeugnis Jesu für unseren eigenen Gottesglauben geben kann, wäre dann nur der, daß das­ selbe zuerst eine Wahrheit zum Ausdruck gebracht hätte, die sich uns doch schließlich auch aus unserer eigenen Erfahrung heraus oder aus unserem eigenen Nachdenken bestätigen muß?) Dagegen hat nun Jesus dem Herzen der Menschen, die sich im Suchen Gottes vergeblich -erarbeiteten, eine Kunde gebracht von einem Gotte der Liebe, der weder in den Ahnungen des Menschenherzens noch in der Welt­ geschichte und Welterfahrung sich vollkommen aufgeschloffen hat, sondern erst in Jesus, weil derselbe, wie kein anderer, aus dem Wesen Gottes hcrstammt. Jesus ist also nicht bloß, wie es der Rationalismus ansieht, der erste Begründer des Christentums, dessen Person für uns hinter seiner Predigt zurücktritt, so daß das Christentum nur in der Annahme und Befolgung der Predigt Jesu besteht. Auch ist Jesus nicht, wie die eigentliche Mystik lehrt, nur als der erste Gottessohn anzusehen, sodaß jeder Mensch nicht bloß ein Christ, sondern ein Christus werden muß, inbcni Gott sich in jedem Menschen so offenbaren muß, wie in Christus. Sowohl der Rattonalismus als der Mysticismus laffen die Person Christt nicht zu ihrem Rechte kommen; Christus ist nach der Bibel nicht bloß

v) So Lessing, Erziehung des Menschengeschlechts. Heidrich, Glaubenslehre.

210

der erste Begründer des Christentums, der Stifter der vollkommensten Religion, sondern in seiner Person war die Gemeinschaft mit Gott in einer Weise vorhanden, wie in keinem entbeut Menschen, und nur durch ihn gelangen wir zur wahren Gemeinschaft tnit Gott. So müssen wir denn nicht bloß das Werk iinb das Leben Jesu, sondern auch das Wesen der Person Jesu zu erforschen suchen, um zu erkennen, wie sich in der Person Jesu seine Gemeinschaft mit Gott darstellt, und erst auf Grund dieser Erkenntnis werden lvir einsehen, warum wir durch Jesus Christtts zur wahren Gemeinschaft mit Gott geführt werden können. b. Wenn nämlich durch das Werk Jesu Christi der Menschheit das Heil gebracht worden tiitb das Leben Jesu von der Niedrigkeit des Gekreuzigten zur Hoheit des Auferstandenen emporgestiegen ist, so muß auch die Person Jesu Christi hoch über der Person aller andern Menschen stehen, und der Apostel Paulus führt im besonderett aus, wie hoch Christus über Adatn und Moses steht; Adam verdanken wir Sünde und Tod, das Gegenteil von dem, was Christus den Menschen gebracht hat, nämlich Gerechtigkeit und Leben; Moses verdankte zwar das Volk Israel sein Gesetz, aber durch das Gesetz kommt nicht die Befreiung von der Sünde. (Röm. 5, 12—21)?) Und wie Jesus über Moses steht, so steht er auch über den andern Religionsstiftern, auch über beit bedeutendsten derselben, über Buddha undMohammed, sowohl in religiöser als auch in sittlicher Beziehung, itnd wir Christen glauben, daß auch seine Religion die vollkommenste Religion ist.

c. Aber Jesus hat nun die Menschen nicht bloß aufgefordert, die von ihm gepredigte Religion anzunehmen, sondern erruft zu seiner Person herzu alle diejenigen, welche mühselig iinb beladen sind, und verheißt ihnen Erquickung nicht durch seine Lehre, sondern durch die Gemeinschaft mit ihm selber (Mt. 11, 28—30), und er ruft ihnen zu: „Ich bin das Brot des Lebens" (Joh. 6). „Wie auch Johannes dies Thema johanneisch variiert haben möge, das Thema selbst muß von Jesus herstammett. Und nicht bloß diese Rede vom Lebensbrot — die ganze christologische Eigenart des vierten Evangeliums (in welchem die Person Jesu, nicht seine Heils­ lehre, wie in den Synoptikern, zum Mittelpunkte der frohen Botschaft vom Himmelreiche gemacht ist) erweist sich als in der echten Lehrentwicketung Jesu gewurzelt"-). Diese Lehrweise Jesu hat offenbar an eine wunderbare Speisung des Volkes angeknüpft. Wemt er unlängst ihnen irdisches Brot verschafft hat, so ist er, wie er behauptet, nicht bloß als ein zweiter Moses anznsehen, der ihnen Manna vom Himmel kommen läßt, oder als ein Messias nach ihrer Erwartung, welcher ein irdisches Gottesreich aufrichtet, sondern er bietet ihnen ein besseres Brot in seiner Person dar, das Brot des Lebens für ihre Seele. Aber das war eine harte Rede für das Volk, ja, selbst für seine Jünger, und als er nun diese von ihrem Anstoß befreien wollte, indem er darauf hinwies, daß seine irdische Person nicht das Lebensbrot *) Dieser Abschnitt, der hier gelesen werden kann, wird unten genauer er­ klärt (Nr. 66). 2) Beyschlag L. Jesu I, 344—345.

211 sei, da dieselbe ja den: Tode anheimfallen werde, da wurde ihr Anstoß noch größer, denn nun konnte er unmöglich der Messias sein, der doch auf Erden bleiben und das Gottesreich aufrichten sollte. Als ihn deshalb viele seiner bisherigen Anhänger verließen, da blieben die Zwölf ihm treu, und als Jesus sie fragte, ob sie gleichfalls weggehen wollten, da erwiderte Petrus: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens." Auch wir wollen bei Jesu bleiben, um in der Gemeinschaft mit ihm das Brot des Lebens zu gewinnen?)

48. (34.) Die Person Jesu. Dan. 2, 27—45. 7, 1—18 u. V. 27. Matth. 26, 62—64. Matth. 16, 13—17. Ps. 110. Matth. 22, 41—46. Joh. 8, 46. Matth. 11, 25 — 30. Joh. 10, 22—39. Joh. 1, 1—18. Kat. II, 2. „Ich glaube an Jesum . . . Herrn." „Ich glaube, daß Jesus Christus . . . sei mein Herr." Ps. 8, 5.

Wenn die Erhabenheit des Christentums über die anderen Religionen schließlich darauf beruht, daß sein Stifter nicht bloß besser gepredigt hat, als die anderen Religionsstifter, sondern auch nach seiner Person über allen Menschen und auch über allen Religionsstiftern steht, so müssen wir nunmehr das Wesen der Person Jesu zu erkennen suchen. „Was dünket euch um Christus?" — auf diese Frage soll uns also jetzt die heilige Schrift die Antwort geben.

a. Im Volke Israel lebte, als Jesus auftrat, die Hoffnung auf das Erscheinen des Messias, eines gottgesandten Königs, welcher das voll­ kommene Gottesreich aufrichten werde. Wenn sich nun Jesus sogleich bei seinem Auftreten für den erwarteten Messias erklärt hätte, so hätte er gewiß sofort viele Anhänger gefunden, welche bereit gewesen wären, unter seiner Führung mit dem Schwerte das Gottesreich aufzurichten. Aber dann wäre doch nur ein weltliches Reich gegründet worden, nicht das Himmelreich, und darum hatte ja Jesus bei seinem Auftreten, wie wir aus der Versuchungsgeschichte erkennen, diesen Weg zur Gründung des Gottesreiches verworfen. Er hat sich als den verheißenen Messias betrachtet, aber wenn er von sich selber sprach, so bezeichnete er sich nur selten als den Messias, um nicht sofort auch die Mißverständnisse zu erwecken, welche mit diesem Namen damals verknüpft waren; erst kurz vor seinem Tode ist er öffentlich als Messias ausgetreten (beim Einzuge in Jerusalem), und 0 Vgl. Beyschlag, NTliche Theologie II, 267—268: Die große Rede vom Brote oes Lebens (Joh. 6), in dieser Form natürlich eine Schöpfung des Evangelisten, umfaßt gewissermaßen alle drei Stufen der Heilslehre Jesu, die wir bei den Synoptikern gesondert finden. Sie geht aus von dem Gedanken des Wortes als des wesentlichen Heilsmittels, denn sie redet zuerst nur von dem Lebensbrot, welches der Menschensohn giebt. Dann aber schreitet sie fort zu dem „Ich bin das Brot des Lebens"; seine Person ist das Himmelsbrot. Endlich aber sagt Jesus: „Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, das ich geben werde für das Leben der Welt," und damit weist er auf seinen Tod hin, durch welchen er erst für alle Menschen zum Lebensbrote wird.

212 erst damals hat er sich vor dem Hohenpriester für den Messias erklärt, als ein Mißverständnis seiner Aufgabe nicht mehr zu fürchten war. Noch seltener bezeichnete er sich als den Sohn Gottes in dem Sinne, welchen wir damit verbinden; dieser Glaube konnte und sollte sich erst allmählich in den Jüngern entwickeln. Jesus nennt sich selber vornehmlich (über 50 mal, die Parallelstetten nicht gerechnet; von seinen Jüngern wird er, abgesehen von Apg. 7, 56, niemals so genannt) den Menschensohn (6 vios tov ävdQ(ojiov); wie ist Jesus zu dieser Bezeichnung seiner Person gekommen, und in welchem Sinne hat er sie gebraucht? Schon im 8. Psalm, welcher schon oben erklärt worden ist,1) findet sich, wie in vielen anderen Stellen des dl. T., der Name „Menschensohn" (bei Luther: des Menschen Kind), und es unterliegt keinem Zweifel, in welchem Sinne dies Wort gebraucht rst. Dasselbe ist ja eigentlich nicht verschieden von dem Worte „Mensch", und kann darum auch im Parallelismus des hebräischen Verses mit diesem Worte wechseln, wie es ja eben auch im Pf. 8, 5 geschieht: „Was ist der Mensch, daß du sein gedenkst, und der Menschensohn, daß du dich seiner annimmst?" Aber in der Bezeichnung Menschensohn ist doch noch etwas Besonderes enthalten. Der Ausdruck bezeichnet den Menschen als von Menschen herstammend, und nicht von Gott, und so weist er auf die Niedrigkeit und Vergänglichkeit des Menschen im Gegensatz zu Gott hin. Wenn sich nun Jesus so gern den Menschensohn genannt hat, so werden seine Zuhörer bei diesem Worte wohl zunächst an den gewöhnlichen Sinn dieses Wortes im A. T. gedacht haben; Jesus stand ja auch zunächst vor ihnen nicht als der von ihnen erwartete und begehrte messianische König und Gottessohn, sondern als ein unscheinbares Menschenkind, in welchem sie zwar einen Lehrer, von Gott gesandt, erblickten, groß in Wort und That, aber doch eben auch nur einen Menschen. Und Jesus ist in der That nach der Darstellung der heil. Schrift ein voller und ein ganzer Mensch gewesen.-') Von einer menschlichen Mutter geboren, durchlebt er ein Kindesalter, wie alle Menschen, wo er der leiblichen Hülfe und der geistigen Leitung der Eltern bedarf und unter dem Einfluß seiner Zeit und seiner Umgebung sich allmählich zu selb­ ständigem Denken und Wollen entwickelt. Als Knabe von zwölf Jahren überrascht er zwar seine Eltern durch ein merkwürdiges Wort, aber er ist doch noch immer ein lernendes und gehorsames Kind. Als Mann muß er in seinem Beruf wirken bis zur Ermattung des Leibes und der Seele, Freude und Leid erfahren, denken und forschen, prüfen und überlegen, sich versuchen lassen und dagegen ankämpfen, ja endlich den schmerzlichsten Tod erleiden. Es ist eine falsche Vorstellung vom Menschensohne laber in der älteren Zeit weit verbreitet), daß er alles von vorn herein ohneL erneu gewußt habe (er hat lernen müssen wie wir alle), und daß er alles gewußt habe (Tag und Stunde des Weltgerichts war auch i h m verborgen), daß er keinen Schmerz wirklich empfunden habe (vgl. dagegen sein Ver-

1) Pal. Nr. 26. 2) Uber den Zweifel daran bei den Gnostikern siehe meine Kirchengesch.

213 halten am Kreuz), und daß sein Wollen keiner Entwickelung bedurft habe (er hat Gehorsam gelernt, wie die Bibel sagt). So steht denn in Jesus in der That ein Menschensohn vor uns, der in Niedrigkeit dem Vater im Himmel gegenübersteht, der zum Vater betet und ihm seine Sache und sein Schicksal betend in die Hand legt. Aber Jesus nennt sich nicht einen Menschensohn, und auf Ps. 8, 5 spielt kein einziges Wort der Reden Jesu über seine Person an, sondern Jesus nennt sich stets den Menschensohn, und so weist dieser Name doch auf einen tieferen Sinn hin, den Jesus mit dieser Selbstbezeichnung verbunden hat, ivcnn auch seine Zuhörer diesen tieferen Sinn des Wortes zunächst nicht erfaßt haben. Diese Selbstbezeichnung Jesu beruht nämlich auf einer Stelle des A. welche den Juden weniger bekannt und geläufig war, nämlich auf einer Weissagung des Propheten Daniel, aus welcher Jesus offenbar diesen Namen für sich entnommen hat, wie seine zweimalige Hinweisung auf sein „Kommen in den Wolken des Himmels" unzweifelhaft erkennen läßt (vgl. Dan. 7, 13 mit Mt. 24, 30 und 26, 64). Im A. T. ist nämlich an einer Stelle (Dan 7, 13) von einem „Menschensohn" die Rede, wie das sonst nicht geschieht. Um diese Be­ zeichnung zu verstehen, ist es aber nötig, auf die hierher gehörigen Abschnitte des Propheten Daniel es Menschen abhängig macht. -) Bgl. v. Ze z sch w i tz. Der Katechismus (Katechetik II, 1, z w e i t e Anst.) S. 393. Heidrich, Glaubenslehre. 16

242 der Erlösung zusammenwirken, offenbar gleichen Wesens, und Athanasius hat mit Recht gegen Arius Christus dem Vater gleichgestellt, und seine Nachfolger haben mit Recht auch den heiligen Geist als wahrhaft göttlichen Wesens betrachtet. Wenn sodann der sich offenbarende Gott sich als ein dreieiniger darstellt, so wird dieser Offenbarung allerdings auch eine Dreieinigkeit des göttlichenWesenszu Grunde liegen müssen. Zwar darf in der Gottheit nicht ein Unterschied von drei Personen im gewöhnlichen Sinne, als wenn drei menschliche Personen neben einander ständen, angenommen werden (dann predigte das Christentum von drei Göttern), sondern nur ein Unter­ schied von Existenzformen, indem wir vom Vater sprechen als dem Urheber der Offenbarung, welcher trotz der Offenbarung nicht (wie der Pantheismus meint) in der Welt aufgeht, vom Sohne, als von demjenigen, in welchem das Prinzip der Offenbarung vorhanden ist, und vom heiligen Geiste als von demjenigen, in welchem das Prinzip der Mitteilung Gottes an die Welt vorhanden ist. Die Offenbarungstrinität muß ihren Grund haben in der Wesenstrinität, indem in Christus der ewige Gottessohn sich auf Erden geoffenbart hat, und im heiligen Geiste der ewige Gottes­ geist sich an die Menschheit mitteilt, um das Werk des vom Vater gesandten Sohnes den Menschen anzueignen?) d. Um nun das Geheimnis der heiligen Dreieinigkeit für unsern Verstand einigermaßen begreiflich zu machen, hat man darauf hingewiesen, daß Gott Geist und Liebe ist, und die Gelehrten haben versucht, von diesen Wesensbestimmungen Gottes ausgehend, eine Ahnung von der Dreieinigkeit zu gewinnen. Vom Geiste ausgehend, weist man darauf hin, daß in dem einen Geiste eine Dreiheit vorhanden sei, ein vorstellendes Ich, ein vor­ gestelltes Ich und das Bewußtsein um die Identität beider. Von der Liebe ausgehend, weist man darauf hin, daß in der Liebe ein Liebender, ein Geliebter und die beide verbindende Liebe vorhanden seien. Auch hat man darauf hingewiesen, daß wir nicht bloß an einen Gott über der Welt glauben, von dem alles herstammt, sondern auch an einen Gott in der Welt, und daß der Gott in der Welt auch der Gott über der Welt sei. Aber „keine dieser spekulativen Deduktionen führt völlig zum Ziel, weil es keine zum Nachweis einer dreifachen persönlichen Existenzweise Gottes bringt. Wir können es auch nicht zu einer eigentlichen Er­ kenntnis der Wesenstrinität Gottes bringen, weil wir damit ein Gebiet betreten, welches jenseits unsrer Erfahrung liegt und nur durch Rückschlüsse von den Thatsachen der Erfahrung aus erschlossen werden sann."*2) „Wenn nun auch alle Versuche, die Dreieinigkeit in einer Weise zu verstehen, wie sie uns durch den christlichen Glauben aufgegeben ist, nicht ganz zum Ziele führen, so wird sich doch die Wissenschaft des christlichen Glaubens nicht veranlaßt sehen, auf die trinitarische Spekulation ganz zu verzichten. Diese Spekulation hat ihren Wert schon darin, daß sie es uns erleichtert, den persönlichen Gott in seiner Transscendenz und Immanenz d. h. in seinem göttlichen Fürsichsein und in seinem Eingehen in die Welt„ 0 Nach Nitzsch, Dogmatik (1892) II, § 39. 2) Vgl. Luthardt, Kompendium d. D. § 32, 3.

243 zu erfassen; überdies wird ohne die immanente Trinität (b. h. die Drei­ einigkeit des göttlichen Wesens) auch die ökonomische (b. h. bie Offenbarungs­ Dreieinigkeit) auf bie Dauer nicht zu halten sein. Wenn bie Fäben bes Lebens unb Wesens bes geschichtlichen Gottessohnes nicht ihre Anknüpfungs­ punkte im innergöttlichen Leben selbst finben, so wirb bie Gewißheit, baß wir im Sohne ben Vater vollkommen unb wirlich haben, sich nicht recht­ fertigen lassen für bie, welche ein wissenschaftliches Bedürfnis haben. Unb wenn biese Fäben sich auch eine Strecke weit vor unseren Augen im Dunkel verlieren — wir glauben boch, baß in bem von ber h. Schrift bezeugten Wesen Gottes als Geist unb als Liebe biese Anknüpfungspunkte liegen. So werben benn bie Versuche nicht aufhören, von ber Erfahrung ber trinitarischen Offenbarung aus in bie Erkenntnis besinnerenLebens ber Gottheit einzubringen, um auch bie Offenbarung bes breieinigen Gottes tiefer erfassen zu können."^ Dieser Glaube beruht nicht auf bem wissenschaftlichen Denken bes Menschen, sonbern hat seine Grunblage in ber Offenbarung Gottes in Christus unb im heiligen Geiste, welcher uns zu Christus führt. Aber keine bieser spekulativen Debuktionen kann unb barf bie Grunblage bes trinitarischen Glaubens feilt;*2)3 4bas 5 Christentum beruht nicht, wie man früher meinte, auf bem Glauben an ben brei­ einigen Gott, sonbern es führt zum Glauben an ben breieinigen Gott. Das Christentum beruht nämlich auf bem Glauben an bie vollkommene Offenbarung Gottes in Christus unb an bie burch ben heiligen Geist be­ wirkte Gemeinschaft bes Gläubigen mit Christus; wer aber in Christus bie Offenbarung Gottes wahrnimmt unb burch ben h. Geist sich zu Christus geführt sieht, ber wirb burch biesen Glauben dahin geführt, baß er an einen breieinigen Gott glaubt, nämlich an Gott als ben Vater, ber seinen Sohn in bie von ihm geschaffene Welt gesanbt hat, an Gott als ben Er­ löser, ber ihm in Christus entgegentritt, an Gott als bie ihn heiligenbe Macht, beten Kraft er im heiligen Geiste erfährt. Wenn Gott sich in breifacher Weise offenbart, so barf man allerbings annehmen, baß biese breifache Offenbarung in seinem Wesen begrünbet ist, unb so führt ber Glaube an bie Offenbarung Gottes in Christus auch zum Glauben an ben breieinigen Gott — aber bieser Glaube ist nicht bie Grunblage, sonbern bas Ergebnis bes Christentums. e. In Übereinstimmung mit ber alten Kirche bekennt sich nun auch bie evangelische Kirche (vgl. bie Augsb. Konfession, Art. 1) zu bem Glauben an ben breieinigen Gott, unb es werben in unserm Bekenntnis ausbrücklich biejenigen Parteien namhaft gemacht, welche in ber alten unb in ber bamaligen Zeit bie Lehre von ber Dreieinigkeit verworfen haben?) Heute sinb als eine solche Partei noch vorhanben bie sogen. Unitarier?) welche namentlich in Amerika noch zahlreiche Gemeinben toben?) J) Vgl. H. Schmidt (Breslau) in Herzog, Theol. Enc.2 s. v. Trinität, Bd. 16, S. 43. 2) Vgl. Luthardt, Kompendium der D. § 32, 3. 3) Vgl. die Erklärung dieser Namen unten, Nr. 95. 4) Vgl. oben S. 199, Anm. 1. 5) Daß der Rationalismus die Lehre von der Dreieinigkeit verwarf, versteht sich von selbst.

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Wenn nun zwar in der Anerkennung dieser Lehre alle Kirchen einig sind, so besteht dennoch gerade hier eine und zwar fast die einzige dog­ matische Differenz zwischen der griechischen und der römischen Kirche, indem jene Kirche, an dem Wortlaut des nicänischen Bekenntnisses fest­ haltend, lehrt, daß der heilige Geist nur vom Vater ausgehe, während die römische und (in Übereinstimmung mit ihr auch) die evangelische Kirche lehren, daß der heilige Geist vom Vater und vom Sohne ausgehe, indem beide Kirchen diesen späteren Zusatz zum nicänischen Bekenntnis (filioque)1) als sachlich berechtigt anerkennen. Indes ist diese Differenz nicht bedeutend genug, um die Trennung der Kirchen (die ja einen ganz anderen Grund hat) zu rechtfertigen oder auch nur zu erklären; in der Hauptsache, in der Anerkennung der Dreieinigkeit Gottes, stimmen alle Kirchen mit einander überein.

VII. Mit -er heilige Geist durch die Gnadenmittel, die Predigt und die Sakramente, die Menschen M Christus führt und bei Christus erhalt?) Kat. IV und V. Augsb. Konf. Art. 5. 9. 10. (24. 22.) 12. (25.) 11. 13.

54. (48.)

Einleitung.

a. Nachdem vor Zeiten Gott manchmal und mancherlei Weise zu den Israeliten geredet hatte durch die Propheten, hat er zuletzt zu allen Menschen geredet durch seinen Sohn, und erst durch Jesus Christus ist Gnade und Wahrheit den Menschen vollkommen geoffenbart worden. Als nun Jesus von seinen Jüngern scheiden wollte, da verhieß er den­ selben als seinen Stellvertreter auf Erden den heiligen Geist, der sie in alle Wahrheit führen werde, und seine Verheißung hat sich erfüllt; seit dem ersten Pfingsttage, wo der heilige Geist zuerst über die Jünger Jesu kam, waltet derselbe in der christlichen Kirche, und sowohl im Leben des einzelnen Christen wie in der Geschichte der ganzen Kirche können wir das Walten des Geistes Gottes wahrnehmen. *) Vgl. meine Kirchengesch. Nr. 17 e. 2) Wenn man gewöhnlich Predigt, Taufe und Abendmahl nach einander behandelt, so ist hier (wie schon in meinem Hülfsbuch) eine zusammenfassende Besprechung der Gnadenmittel dargeboten. — Wenn es für die Besprechung dieses Abschnitts rm Sommer an Zeit fehlt, so kann derselbe entweder nach dem Römer­ briefe durchgenommen werden, an welchen er sich bequem anschließt (vgl. Augsb. Konf. Art. 4 und 5), oder bei der zusammenfassenden Lektüre der Augsb. Konf. nachträglich besprochen werden.

245

b. Aber der heilige Geist wirkt nicht unmittelbar in der Welt, wie in alter und neuer Zeit die sogen. „Schwärmer" meinten (zu Luther's Zeit die Zwickauer Schwärmer, noch heute die Quäker), sondern derselbe wirkt ebenso, wie Christus gewirkt hat, durch das Wort, durch die Predigt — und eine Art von Predigt sind auch die Sakramente — so daß also der Mensch nicht unmittelbar durch Gott, vom Himmel her, bekehrt wird, sondern durch andere, vom Geiste Gottes bereits erleuchtete Menschen, durch die christliche Kirche. Wie nämlich der Mensch auf anderen Gebieten des Lebens von seinen Mitmenschen gefördert wird, so auch auf dem Gebiete der Religion. Es war daher eine irrige Meinung der Schwärmer, daß der Mensch den Geist Gottes ohne die Predigt d. h. ohne Vermittelung anderer Menschen erhalte, und es war ebenso eine unrichtige Meinung des in seinem Denken der Schwärmerei gerade entgegengesetzten Zeitalters der Aufklärung, daß jeder Mensch vermittelst seiner Vernunft und seines Ge­ wissens von selbst, ohne Hülfe seiner Mitmenschen und ohne die Offen­ barung Gottes, zur wahren Religion und zur vollkommenen Sittlichkeit gelangen könne; die Geschichte zeigt uns als Frucht der natürlichen Entwickelung der Menschheit das Heidentum; Judentum und Christentum beruhen auf einer den Menschen zu teil gewordenen und den späteren Geschlechtern durch die Vermittelung der Vorfahren überlieferten Offen­ barung. c. Zum Glauben an die Offenbarung gelangt nun der Mensch, wie die Augsb. Konfession mit Recht sagt, durch die Predigt und durch die Taufe und das h. Abendmahl, die sogen. Sakramente, heilige Handlungen, welche Christus ebenso, wie die Predigt, zu dem Zwecke eingesetzt hat, damit der Mensch durch sie zum Glauben an die Gnade Gottes in Christus geführt werde. „Solchen Glauben [an die Gnade Gottes in Christus^ zu er­ langen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, Evangelium und Sakramente gegeben, dadurch er, als durch Mittel, den heiligen Geist giebt, welcher den Glauben, wo und wenn er will, in denen, so das Evangelium hören fund die Sakra­ mente empfangens wirket" — mit diesen Worten weist die Augsb. Kons. (Art. 5) darauf hin, woran die Wirksamkeit des an die Stelle Christi auf Erden getretenen heiligen Geistes gebunden ist. Nicht unvermittelt wirkt der heilige Geist auf Erden, was der Schluß des 5. Artikels ausdrücklich bestreitet, indem er sagt: „Und werden verdammet die ) und andere?), so lehren, daß wir ohne das leibliche Wort des Evangelii den heiligen Geist durch eigene Bereitung, Gedanken und Werke erlangen." Die Mittel also zur Aneignung der Gnade, die Gnadenmittel, sind die Predigt und die Sakramente, welche den Glauben wirken, freilich nicht überall und sofort, sondern „wo und wenn Gott will", wie die Augsb. 2) Melanchthon denkt an die Zwickauer Schwärmer, und Luther meinte (Schmalkald. Art. III, 8), daß des Papstes angebliche göttliche Erleuchtung eine eben solche „Schwarmgeisterei" sei; die heutigen Wiedertäufer betrachten aber das Wort Gottes als unentbehrliches Gnadenmittel; die Sakramente dagegen sind nach ihrer Meinung allerdings nur Sinnbilder der Gnade Gottes, nicht Gnadenmittel. -) So lehren heute die Quäker.

246 Konf. sagt (Art. 5), bei dem einen früher, bei dem andern später, ohne daß der Mensch die Wirksamkeit der Gnadenmittel in der Hand hat. Aber die Lehre von der Prädestination, welche die Reformatoren von Augustinus zunächst übernahmen, dann aber zum Teil verwarfen (Melanchthon), znm Teil noch weiter entwickelten (Calvin), ist in der Augsb. Konfession nicht ausgesprochen und auch in den angeführten Worten nicht enthalten?) d. Wenn aber der Christ zum Glauben geführt wird durch die Gnadenmittel, so müssen dieselben ihm nahegebracht werden, das Wort muß ihm gepredigt, die Taufe erteilt und das h. Abendmahl gereicht werden. Das zu thun, ist die Aufgabe der christlichen Kirche, und das hat sie von je her gethan und thut es noch heute. Wenn nun aber der Katholik behauptet, daß in der christlichen Kirche, wie im Alten Bunde, zu diesem Zwecke von Christus ein besonderes Amt eingesetzt worden sei, dessen Aufgabe es sei, das Wort Gottes zu verkündigen und die Sakramente zu spenden, so daß die rechte Lehre nur bei diesen Amtsträgern sicher zu finden sei, und die Sakramente in wirksamer Weise nur von ihnen gespendet werden können, ?) so bestreitet die evangelische Kirche diese Be­ hauptung, indem sie lehrt, daß es nur eine Sache heilsamer aber mensch­ licher Ordnung sei, daß die Lehrthätigkeit in der Gemeinde und die Verwaltung der Sakramente bestimmten Personen zugewiesen sei, und daß die Predigt und die Sakramente von ihrer Kraft nichts verlieren, wenn sie durch einen gewöhnlichen Christen verwaltet werden; die Kraft und der Segen der Predigt und der Sakramente ist nicht gebunden an eine bestimmte Person, wie im Judentum und in der katholischen Kirche. e. Von den Gnadenmitteln soll nun im folgenden genauer gesprochen werden, und zwar auf Grund der heiligen Schrift und der Augsburgischen Konfession, wie auch im Anschluß an den Lutherischen Katechismus. Die im Lutherischen Katechismus gegebene Lehre von den Gnaden­ mitteln ist allerdings nicht ganz vollständig, da Luther zwar von den Sakramenten handelt, aber nicht von der Predigt, weil er für dieselbe in'der alten Kirche kein Lehrstück vorfand?) Diese Lücke wird durch das dem Katechismus später beigegebene Hauptstück von der Beichte nurunvollständig ausgefüllt, da der Mensch das Wort von der Gnade Gottes in Christus nicht bloß bei der Beichte vernimmt, sondern auch in der Predigt. Im folgenden soll trotzdem im Anschluß an die beiden letzten Haupt­ stücke des Lutherischen Katechismus nicht bloß die Taufe und das Abendmahl, sondern auch die Predigt behandelt werden, indem das, was von der Predigt zu sagen ist, nach der heiligen Schrift und der Augsb. Konfession zur Darlegung des Katechismus hinzugefügt wird. Wenn nun im Katechismus die beiden daselbst behandelten Gnaden­ mittel jedes für sich behandelt sind, und der erste Unterricht sich wohl an diesen Gang anschließen wird, so sind dieselben hier, unter Hinzufügung der Predigt, zusammenfassend behandelt, und durch diese Darstellung wird, wie ich glaube, die Sache nicht etwa erschwert, sondern eher erleichtert. J) Von 2) Nur 3) Die lieferung der

derselben wird unten im Anschluß an Röm. 9—11 gesprochen werden. die Nottaufe darf auch von einem Laien gespendet werden. von Luther gegebenen Hauptstücke beruhen bekanntlich auf der Überalten Kirche.

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55. (49.) Die Einsetzung der Gnadenmittel. Kat. IV, 1. V, 1/ Augsb. Sons. Art. 5. 9. 10. 22.

Luther handelt von den Gnadenmitteln in vier Abschnitten, und es soll nun im folgenden im Anschluß an diese Abschnitte unter Heranziehung der betr. Artikel der Augsb. Konfession, in welcher auch von der Predigt das Nötige gesagt ist, die Lehre von den Gnadenmitteln dargestellt werden. Die erste Frage, welche Luther in den beiden letzten Hauptstücken behandelt, ist aber die von der Einsetzung der Gnadenmittel. Indem wir uns an den Katechismus anschließen, fragen wir ebenfalls zuerst nach der Einsetzung der Predigt und der Sakramente.

a. Die Einsetzung der Predigt.

a. Niemand kann ein Christ werden, ohne daß ihm durch die Predigt die Gnade Gottes in Christus verkündet wird. „Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft (noch Kraft) an Jesum Christum, meinen Herrn, glauben (oder zu ihm kommen) kann, sondern der heilige Geist hat mich durch das (mir gepredigte) Evangelium berufen" — so heißt es mit Recht in unserm Katechismus. Denn zwar manches kann der Mensch durch seinen Verstand ersinnen und erfinden, aber nichts, was geschehen ist, kann man mit dem Verstände sich selber erdenken; alle Geschichte beruht auf Überlieferung; so kann auch das Christentum, d. h. die Kunde von der in Christus geoffenbarten Gnade Gottes, nur durch Überlieferung zu uns gebracht werden. Es ist also ganz richtig, wenn der Apostel Paulus sagt: „So kommt der Glaube aus der Predigt (Röm. 10, 17); wie sollen die Menschen an etwas glauben, wovon sie nichts gehört haben?" (Röm. 10, 14). Die Predigt ist also für die Gründung des Gottesreiches unentbehrlich, und sie wird erst dann entbehrt werden können, wenn das vollkommene Gottesreich gekommen sein wird, wo der Geist Gottes über alle Menschen in vollkommener Weise ausgegossen ist (Joel 3, 1—2), und wo sie alle den Herrn erkennen werden, ohne noch der Belehrung durch andere zu bedürfen. Da nun dies Ziel noch lange nicht erreicht ist, so gilt auch für uns noch das Wort Jesu, in welchem er die Predigt eingesetzt hat: „Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium aller Kreatur" (Mark. 16, 15), jeder in seiner Weise und jeder in feinem Kreise, je nachdem Gott ihm seine besondere Aufgabe gestellt hat.

ß. Seinem Auftrage entsprechend haben seine Jünger gepredigt und predigen noch heute, in der Christenheit und unter den Ungläubigen, unter den Jungen und den Alten, in Wort und Schrift, in Rede und im christ­ lichen Wandel ohne Wort. Die Predigt ist nämlich zunächst die Aufgabe der Missionare, welche in den nichtchristlichen Ländern wirken, und wie große Fortschritte das Christentum infolge der Predigt unter den Heiden in den drei großen

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Missionsperioden (der alten, der mittelalterlichen und der neueren Kirche) gemacht hat, wie viel aber auch noch zu thun übrig ist, zeigt die Kirchen­ geschichte; hier muß es genügen darauf hinzuweisen, daß es zwar bereits 400 Mill. Christen giebt, aber noch über 1000 Mill. Nichtchristen. Aber auch in der Christenheit muß gepredigt werden, um einerseits die Heranwachsende Jugend erst zu Gott zu führen, und andererseits um die Erwachsenen immer tiefer in das Wesen der christlichen Frömmigkeit hineinzuführen; denn der Geist Gottes wird zwar durch die Predigt dereinst die Christen in alle Wahrheit führen, aber das ist doch noch nicht geschehen, sondern es soll und wird nur allmählich geschehen. So giebt es denn heute überall in der Christenheit, wenn sie nicht in totem Ceremonien-Dienst erstarrt ist (was im Mittelalter der Fall war und noch heute in mancher Kirche der Fall ist), christliche Predigt in Haus und Schule, im Gottesdienst und in der christlichen Litteratur, und vom einfachen christlichen Hausvater bis zum Professor der Theologie giebt es in der Kirche eine große Anzahl von Predigern, deren Aufgabe es ist, die Menschen zum Glauben zu führen. y. Das erste Gnadenmittel ist also das in der Predigt verkündete Wort Gottes, von welchem ja im 5. Art. der Augsb. Kons, zunächst die Rede ist. Während die römische Kirche die Gnade ausschließlich durch die Sakramente dem Menschen zu teil werden läßt,*) hat erst die evangelische Kirche?) das Wort Gottes als Gnadenmittel, und zwar als den aus­ schließenden Träger der erleuchtenden und berufenden Macht des h. Geistes angesehen. Unter dem Worte versteht aber Luther das Evangelium, d. h. die Botschaft von der Gnade Gottes in Christus, „welches lehret, daß wir durch Christus Verdienst, nicht durch unser Verdienst, einen gnädigen Gott haben, so wir solches glauben" (Art. 5). Das Evangelium ist nun in der heiligen Schrift enthalten (als Verheißung im A. T., als Erfüllung im N. £.)B) und wird in der Kirche verkündigt, teils mündlich gepredigt, teils im Katechismus, Kirchenlied u. s. w. schriftlich dargeboten. So stimmt also die Augsb. Konfession überein mit dem Worte des Paulus (Röm. 10, 17): „Der Glaube kommt aus der Predigt"; der Glaube kann nur entstehen „in denen, so das Evangelium hören" (Augsb. Kons. Art. 5), sei es in der Kirche oder in der Schule oder im Hause, „nicht durch eigene Bereitung, Gedanken und Werke", wie die Schwärmer damals (und heute) meinten. 8. Aber freilich die Predigt von Christus wird auf Erden nicht allen Menschen zu teil — von ihnen wird Gott, wie wir hoffen, nach dem T o d e in vollkommener Weise erkannt werden. Andere aber, denen gepredigt wird, gelangen auf Erden nicht zum Glauben an das ihnen gepredigte 0 „Omnis vera justitia vel incipit vel coepta augetur vel amissa reparatur“ durch die Sakramente — so heißt es in der Einl. zu Sess. VI des Trident. Konzils. 2) Und zwar die lutherische Kirche in noch höherem Grade als die reformierte Kirche. 3) Daß also „Wort" oder „Evangelium" und „Bibel" nicht gleichzustellen seien, daß das „Wort" in der „Bibel" nur enthalten ist, hat Luther gewußt; aber seine Nachfolger haben es vergessen.

249 Evangelium — teils mit, teils ohne ihre Schuld; warum manche Menschen nicht glauben, und ob sie nicht doch noch im späteren Leben oder nach dem Tode glauben werden — das wissen wir nicht; Gott wird keinen von ihnen verdammen, der es nicht verdient hat. Wir wollen aber trotz dieser Hoffnung unsere Bekehrung nicht aufschieben, da wir ja nicht wissen, ob wir später noch zum Glauben kommen können. e. Wenn nun der Glaube zunächst auf der Predigt beruht, der Inhalt der Predigt aber d a s W o r t Gottes ist, so ist unter dem Worte Gottes zunächst das mündlich gepredigte Gotteswort zu verstehen. Aber wir besitzen nun allerdings nicht bloß das in der Kirche mündlich gepredigte Gotteswort, sondern dasselbe ist auch schriftlich ausgezeichnet worden und wird noch immer aufs neue schriftlich ausgezeichnet (Predigt­ bücher u. s. w.). Unter den schriftlichen Aufzeichnungen des Wortes Gottes ist aber nun besonders wichtig die heilige Schrift, in welcher ausgezeichnet ist, wie Gott durch Moses, durch die Propheten und durch Christus, die Träger der den Menschen zu teil gewordenen Offenbarung, zu den Menschen geredet hat, und wie die Menschen diese ihnen zu teil gewordenen Offenbarungen ausgenommen haben. Diese Aufzeichnung des Wortes Gottes in der heiligen Schrift ist zwar nicht, wie man früher meinte, von Gott buchstäblich diktiert, also auch nicht in jedem einzelnen Worte gleich wertvoll für uns, aber sie ist doch für uns maßgebend, wenn wir erkennen wollen, welches der rechte Inhalt der christlichen Predigt ist. £. Aber enthält denn die h. Schrift auch die vollständige und ausreichende Verkündigung der christlichen Wahrheit? — Das bestreitet die katholische Kirche; sie behauptet, daß auch die Apokryphen und die kirchliche Über­ lieferung zur Bibel hinzukommen müssen, damit die christliche Predigt vollständig sei, und daß nur durch die Auslegung der Kirche das rechte Verständnis der Predigt ermöglicht und auch gesichert werde, da die Konzilien und die Päpste unfehlbare Ausleger der in der Bibel überlieferten Predigt Jesu seien. Dagegen bestreitet die evangelische Kirche, daß die Bibel einer Ergänzung durch die Apokryphen und die Überlieferung bedürfe, und sie leugnet, daß in diesen Schriften eine Offenbarung Gottes enthalten sei, und noch mehr bestreitet sie, daß Konzilien und Päpste unfehlbare Aus­ leger der Offenbarung seien, da sie als irrtumsfähige Menschen oft genug geirrt und sich selber widersprochen und einander gegenseitig verketzert und verdammt haben. Die Kirche ist nach evangelischer Meinung zu keiner Zeit unfehlbar gewesen; aber wir vertrauen auf den in der Kirche waltenden Geist Gottes, daß er die Menschen dereinst in alle Wahrheit leiten werde, und daß dereinst alle Menschen Gott richtig erkennen werden. Aber heute giebt es keinen Menschen, der sich für unfehlbar ausgeben darf; auch die frommsten Christen sind und bleiben irrtumsfähige Menschen, ebenso wie sie von der Sünde nicht gänzlich frei werden. 1]. Da nun die Predigt das unentbehrliche Gnadenmittel ist, um zum Glauben zu kommen und im rechten Glauben zu bleiben, so wollen wir als Christen auch dafür sorgen, daß den noch nicht bekehrten Völkern das Evangelium gepredigt wird, indem wir das Werk der Mission nach Kräften unterstützen. Sodann müssen auch Haus und Schule und Kirche dafür sorgen, daß der Heranwachsenden Jugend der christliche Glaube nahegebracht

250 werde. Und endlich wollen wir Erwachsenen an den Gottesdiensten der Gemeinde auch darum fleißig teilnehmen, weil wir durch die Predigt, die wir in denselben vernehmen, im Glauben erhalten und gefördert werden. Aber nicht bloß in der Kirche durch den Pastor, durch die Predigt, wollen wir uns mit dem Worte Gottes bekannt machen lassen; die evangelische Kirche besitzt so schöne Predigtbücher, so herrliche Erbauungsbücher, so treffliche Lehrbücher des christlichen Glaubens und Lebens, daß es schade wäre, wenn wir von denselben gar keinen Gebrauch machten. Wir können sie aber trefflich brauchen für die Andacht im Hause, welche die Haus­ genossen jeden Tag zusammenführen soll zu gemeinsamer Erbauung und Stärkung durch das Wort Gottes, und wer für sich allein steht, der mag für sich allein aus einem christlichen Buche täglich einen Abschnitt lesen zu feiner Erbauung und Förderung; „nahet euch zu Gott, so nahet er sich zu euch!"

b. Die Einsetzung der Taufe. Aber nicht bloß die Predigt hat Jesus eingesetzt als Mittel der Begründung und Erhaltung seines Reiches, sondern auch noch zwei andere Handlungen hat Jesus selbst zu diesem Zwecke eingesetzt: die Taufe und das heilige Abendmahl; von der Taufe soll zunächst die Rede sein. a. Als Jesus kurz vor seiner Himmelfahrt seinen Jüngern gebot, in alle Welt zu gehen und alle Völker zn seinen Jüngern zu machen, da befahl er ihnen nicht bloß zu predigen, sondern er gebot ihnen auch, die Menschen durch die Taufe in das Gottesreich aufzunehmen. Durch die Beschneidung wurde der Israelit in das Gottesreich ausgenommen; eine Reinigung durch Waschungen war im Judentum erforderlich, um bestimmte Verunreinigungen abzuthun; eine einmalige Reinigung hatte Johannes der Täufer an denjenigen vollzogen, welche sich für das von ihm gepredigte Gottesreich würdig machen wollten. Im Anschluß an die JohannestaufeT) hat nun Jesus vor der Himmelfahrt für den Eintritt in die Kirche die Taufe eingesetzt, ebenfalls eine einmalige Handlung, wie die Beschneidung und die Johannestaufe, und ebenfalls, wie diese beiden Handlungen, auf eine Reinigung des Menschen von der Sünde hinweisend. Dem Worte Jesu gemäß wurden nun Juden wie Heiden von Anfang an durch die Taufe in die Kirche ausgenommen, wie wir am christlichen Pfingstfeste (Apg. 2) und bei der Taufe des ersten Heiden (Apg. 10) sehen. Seitdem giebt es auch in der Christenheit neben der Predigt eine finnbildliche Handlung, die Taufe, durch welche der Eintritt in die Kirche vermittelt wird und alle Christen -) werden seit alter Zeit getauft. ß. Das Wort nun, mit welchem Jesus die Taufe eingesetzt hat (Mt. 28, 19—20) lautet aber (abweichend vom Wortlaute des Katechismus 1) Über die bei den Juden übliche Proselytentaufe vgl. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi II, 569—573, besonders Anm. 308: Die johanneische und die christliche Taufe entsprechen zwar der damals bereits bei den Juden üblichen Proselytentaufe, aber sie sind doch etwas wesentlich anderes als diese, nämlich nicht ein Symbol levitischer, sondern sittlicher Reinigung. 2) Mit Ausnahme der Quäker.

251 und auch noch der r e v i d i e r t e n Bibel) also x): IIoqev&evte? /lafhjTE-voatE Tcdvra rd (Gehet hin*2)3 und 4 machet zu meinen Jüngern alle Völker), ßajtTiCovTEq avrov? ei? to övofia rov natQo? neu tov vlov neu tov aylov TtvEv/Lcaxo?, (indem ihr sie taufet in den Namens des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes,)^) dtödonetves? avxov? rtjqeiv nävxa öaa evetEikdjLiTjv v/juv (und indem ihr sie lehret halten alles, was ich

euch befohlen habe). Mit diesem Worte hat Jesus seine Jünger aufgefordert, alle Völker, nicht bloß die Juden, zu seinen Jüngern zu machen; seine Religion sollte nicht eine Volksreligion bleiben, wie das Judentum, sondern eine Welt­ religion werden. Und wenn nun die Jünger Jesu und ihre Nachfolger, diesem Worte Jesu gehorchend, hingegangen sind und noch immer hingehen in alle Welt, um alle Völker zu Jüngern Jesu zu machen, so wird den­ selben natürlich (was hier als selbstverständlich vorausgesetzt wird) zuerst der christliche Glaube gepredigt, und wenn sie sich dann bereit zeigen den­ selben anzunehmen, so werden sie getauft,5) und alsdann werden sie noch weiter über den christlichen Glauben und die christliche Frömmigkeit belehrt. Wenn nun die Menschen getauft werden, so werden sie getauft „in den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes", d. h. sie werden in Gemeinschaft geführt mit dem dreieinigen Gott. Da nämlich die christliche Kirche, in welche der Täufling durch die Taufe ausgenommen wird, an den dreieinigen Gott glaubt, so wird der Mensch durch die Taufe in diese Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott ausgenommen; er glaubt, wenn er als Erwachsener getauft wird, oder er soll glauben lernen, wenn er als Kind getauft wird, an den Vater, der uns geschaffen hat und erhält und regiert, an den Sohn, der uns von der Schuld und der Macht der Sünde freimacht, und an den heiligen Geist, der uns zu Christus führt und bei ihm erhält. Diese Deutung des Taufbefehls finden wir auch in dem Liede: *) Der Wortlaut des Spruches ist wichtig wegen der Wiedertäufer, welche auf Grund dieses Spruches mit Unrecht die Kindertause geradezu verbieten. 2) Die Worte des Katechismus „in alle Welt" sind hier ausgenommen aus Mark. 16,15. 3) So nach dem Grundtext, d. h. sie sollen eintreten in die Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott. — „In dem Namen" (was nicht dasteht) d. h. „im Auftrage"; so schon in der Vulgata: „in nomine.“ 4) Wenn die Taufe im N. T. stets nur als eine Taufe in den oder auch in dem Namen Christi erscheint (sv: Apg. 2, 38; 10,48; ek: Apg. 8,16; 19,5; Röm. 6, 3; Gal. 3, 27), so ist doch jedenfalls die Formel von Mt. 28, 19, wenn sie nicht den ursprünglichen Wortlaut enthielte sondern eine spätere Fassung des­ selben darböte (was manche Forscher annehmen), eine richtige Deutung des ursprünglichen Wortlauts. Dann besäßen wir allerdings nicht den ursprünglichen Wortlaut des Taufbefehls; aber das wäre ebenso wenig ein Unglück, wie der Umstand, daß wir auch nicht den Wortlaut des Zehngebots, des Vaterunsers und der Abendmahlsworte besitzen. Die Hauptsache ist bei der Taufe und beini heiligen Abendmahl die heilige Handlung, nicht das sie deutende Wort. 5) D. h. eigentlich untergetaucht, wie in der alten Kirche geschah und noch heute in der morgenländischen Kirche und bei den Wiedertäufern geschieht; aber es kommt natürlich nicht darauf an, wie viel oder wie wenig Wasser an den Körper kommt.

252 Ich bin getauft auf deinen Namen, Gott Vater, Sohn und heil'ger Geist. Ich bin gezählt zu deinem Samen, Zum Volk, das dir geheiligt heißt. Ich bin in Christum eingesenkt, Ich bin mit seinem Geist beschenkt. Daß wir aber an den dreieinigen Gott glauben, wird allerdings nicht durch die bloße Taufe bewirkt, sondern durch die mit der Taufe verbundene Predigt. Da nun die Taufe nicht bloß eine sinnbildliche Einrichtung ber christlichen Kirche ist, sondern von Christus selbst eingesetzt ist („in Gottes Gebot gefastet") und uns zur Gemeinschaft mit den: dreieinigen Gott führte so ist sie, wie der Katechismus sagt, nicht bloß „schlechtes" d. h. gewöhn­ liches Wasser, sondern „Wasser mit Gottes Wort verbunden", d. h. verknüpft mit der Verheißung eines himmlischen Gutes, nämlich. der Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott, in welche wir durch die Taufe eintreten. 7. Wenn die evangelische Kirche in der Lehre von der Taufe mit der katholischen Kirche darin übereinstimmt, daß sie erklärt, „daß die Taufe nötig sei" (Art. 9), so beruht diese Notwendigkeit darauf, daß die Taufe von Christus eingesetzt worden ist. Das wird nur von den Quäkern geradezu bestritten, welche des Menschen Bekehrung nur auf der un­ vermittelten Wirkung des heiligen Geistes beruhen lassen. Wenn nun die S 0 c i n i a n er und die M e nn 0 nit en die Taufe nicht als einGnadenmittel betrachten, sondern nur als eine Handlung, durch welche ber Eintritt in die christliche Kirche bezeichnet und die göttliche Gnade den Menschen in sinnbildlicher Weise zugesichert werde, so lehrt dagegen die Augsb. Konfession in Übereinstimmung mit der katholischen Kirche, „daß durch die Taufe Gnade angeboten werde", daß der Mensch durch die Taufe „Gott überantwortet und gefällig werde"; die Taufe ist also ein Gnaden­ mittel, nicht bloß eine sinnbildliche Handlung.

e. Die Einsetzung des heiligen Abendmahls. Endlich aber hat Jesus kurz vor seinem Tode (also ehe er noch die Taufe eingesetzt hatte) noch das heilige Abendmahl eingesetzt, um die Menschen in seine Gemeinschaft immer aufs neue aufzunehmen und darin zu erhalten. a. Als nämlich Jesus am letzten Abend vor seinem Tode mit seinen Jüngern das jüdische Passahmahl feierte/) da setzte er im Anschluß an dasselbe ein neues Mahl ein für seine Jünger, welches dieselben feiern sollen, wie Paulus sagt, „bis daß er kommt" (d. h. bis sie mit ihm wieder völlig vereinigt sein würden im vollkommenen Gottesreiche), nämlich das heilige Abendmahl. Von dieser Anordnung Jesu berichten uns die drei ersten Evangelien und außerdem der Apostel Paulus (1. Kor. 11), nicht aber das vierte ’) Allerdings wohl einen Tag vor dem jüdischen Festtage: vgl. Heil. Gesch. Nr. 124 (2. Ausl.: Nr. 131).

253 Evangeliumx), und wenn auch diese vier Berichte nicht buchstäblich überein­ stimmen,-) so stimmen sie doch im wesentlichen überein, und wenn auch die evangelischen Kirchen im einzelnen über die Bedeutung des heiligen Abendmahls verschieden lehren, so stimmen sie doch der katholischen Kirche gegenüber überein. Die Bedeutung dieses Mahles erkennen wir nun vor­ nehmlich aus denjenigen Worten, mit welchen Jesus dasselbe eingesetzt hat. Was sagen die Einsetzungsworte über das heilige Abendmahl?0) ß. Als Jesus „in der Nacht, da er verraten ward"/) mit seinen Jüngern beim Passahmahl saß, da „nahm er das (neben dem Osterlamm auf dem Tische stehende entweder gesäuerte oder, wenn es das richtige Passahmahl war, ungesäuerte Brot), dankte (d. h. sprach nach jüdischer Sitte eins der beim Passahmahl üblichen Gebete)'^) und brach es und gab es seinen Jüngern und sprach: Nehmet hin und esset; das (das gebrochene Brot, das ich euch darreiche) ist0) mein Leib, der (wie Jesus vorausweiß, A) Das Evang. Johannis erzählt von der sonst nicht berichteten Fußwaschung aber nicht vom h. Abendmahl, setzt aber in Kap. 6 die Bekanntschaft seiner Leser mit dem h. Abendmahl voraus. 2) Die kürzere Fassung bei Matth, und Markus ist bei Lukas und Paulus namentlich auch durch den Zusatz erweitert: „Solches thut zu meinem Gedächtnis." y) Die bei der Einsetzung des h. Abendmahls von Jesus gesprochenen Worte, welche ossenbar nicht buchstäblich festgehalten worden sind, sondern als die Handlung bloß erklärend (auch hier ist die Hauptsache die Handlung, nicht das dieselbe deutende Wort), freier behandelt wurden, lauten nach den vier Berichten (nach den neueren kritischen Ausgaben) also: Mk. Nehmet, Mt. Nehmet, esset, Pl. Luk. Mk. das ist mein Leib; Mt. das ist mein Leib; Pl. das ist mein Leib für euch; Luk. das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; Mk. Mt. Dl. das thut zu meinem Gedächtnis. Luk. das thut zu meinem Gedächtnis. Mk. Mt. Trinket alle daraus. PlLuk. Mk. Das ist mein Blut des Bundes, Mt. Denn das ist mein Blut des Bundes, Pl. Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, Luk. Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, Mk. das für euch vergossen wird, Mt. das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Luk. das für euch vergossen wird. Pl. (allein): Dies thut, so oft ihr trinket, zu meinem Gedächtnis. 4) Daher der Name „Nachtmahl" oder „Abendmahl." 6) Das Eröffnungsgebet des Passahmahls lautete: „Gelobt sei Gott, der das Brot aus der Erde bringt!" Es könnte daher sein, daß Jesus seinen Jüngern das Brot am Anfang, den Kelch am Ende des Passahmahls dargereicht hat. ti) Dieses so viel umstrittene Wort hat Jesus, da im Aramäischen dasselbe nicht ausgedrückt wird, gar nicht ausgesprochen, er hat nur gesagt: „Dies mein Leib."

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in der nächsten Zeit) für euch (in den Tod) gegeben (also, wie das Brot, gebrochen) wird^); solches (Essen) thut zu meinem Gedächtnis" (wenn ihr dieses Mahl wieder feiern werdet)?) „Desselbigen gleichen nahm er auch den (beim Passahmahl auf dem Tische stehenden und mehrmals im Kreise herumgereichten) Kelch (mit dem dort allein getrunkenen roten Wein, welcher nach damaliger Sitte mit Wasser gemischt war) nach dem Abendmahl (d. h. nach der Beendigung des eigentlichen Passahmahls, welches mit einem letzten Becher geschlossen wurde), dankte und gab ihnen den (diesen letzten Becher)^) und sprach: Nehmet hin und (indem ihr ihn herumreichet) trinket alle daraus; dieser Kelch ist das neue Testament in meinem Blut (wie es bei Paulus und Lukas heißt, oder nach Matthäus und Lukas: das ist mein Blut des neuen Testaments; d. h. dieser Kelch mit seinem Wein ist mein Blut, durch welches der neue Bund — so ist das Wort „Testament" hier zu verstehen — gestiftet wird, ebenso wie der alte Bund — vgl. 2. Mose 24 — durch eine Blutbesprengung gestiftet worden ist), das für euch (bei dem mir bevorstehenden Tode) vergossen wird zur Vergebung der Sünden; solches thut, so oft ihr's trinket, zu meinem Gedächtnis!" y. Aus einem Mahle zum Gedächtnis an die Erlösung aus Ägypten

und die Stiftung des alten Bundes/) das die Juden noch heute feiern, die Christen aber allmählich zu feiern aufhörten, ist also durch Jesus ein Mahl zum Gedächtnis an den Tod Jesu und den dadurch gestifteten neuen Bund geworden?) „Unter dem Brot und Wein uns Christen zu essen und zu trinken von Christo selbst eingesetzt" (d. h. bei dem Mahle, welches wir Christen feiern), ist für uns vorhanden, wie Luther sagt, „der wahre Leib und Blut unseres Herrn Jesu Christi", d. h. Jesus Christus, mit dem wir durch diese Feier immer aufs neue in Gemeinschaft treten. So ist das heilige Abendmahl, als eine Art der Predigt, welche natürlich ebenfalls Glauben fordert, ebenfalls ein Mittel der immer wieder zu erneuernden Gemeinschaft mit dem für uns erschienenen und gestorbenen Gottessohn, ebenso wie die Predigt. Aber da die Kopula doch dazugedacht werden muß, so bleibt natürlich die Frage nach der Bedeutung derselben bestehen. J) Dieses Brechen des Brotes zur Andeutung des Brechens seines Leibes war Jesu „letztes Gleichnis", aber in Form einer symbolischen Handlung. 2) An die Stelle des zuerst noch von den Judenchristen jährlich gefeierten Passahmabls ist bald das täglich gefeierte Liebesmahl getreten, mit welchem ebenfalls das Abendmahl verbunden wurde. 3) Vielleicht den dritten, da in der apostolischen Kirche (1. Kor. 10, 16) der Abendmahlskelch denselben Namen führte wie der dritte Becher des Passahmahls, nämlich: Kelch der Segnung. 4) „Nur an diesen Vorgang konnte Jesus denken, wenn ihm das Vergießen des eigenen Blutes im gewaltsamen Tode gleichfalls als Jnaugurationsakt eines Bundes erschien. Da mindestens beim Brot die Aufforderung an die Jünger, es zu essen, sicher bezeugt ist, so beabsichtigte er. zugleich nach Analogie des PassahOpfermahls einen Speisegenuß, wobei das Trinken des roten Weines als ein freigewähltes, aber sehr viel signifikanteres Ersatzbild für die Besprengung mit Blut eintrat." Holtzmann, NTliche Theol. I, 297. 5) Wenn die Christen das Abendmahl zunächst im Anschluß an das sogen. Liebesmahl feierten, so ist es allmählich auch von oiesem Mahle gesondert worden.

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56. (50.) B. Die Bedeutung der Predigt und der Sakramente. Kat. IV, 2 und V, 2.

Was n ätzen denn die Predigt, dieTaufe und das heilige Abendmahl? — So fragen wir nunmehr im Anschluß an die zweite Frage der beiden letzten Hauptstücke des Katechismus, und die Antwort lautet: Predigt und Taufe und heiliges Abendmahl sind die von Gott verordneten Gnadenmittel, durch welche wir, indem wir auf Grund des Glaubens an die Gnade Gottes in Christus Vergebung der Sünden er­ langen- zunächst in das Reich Gottes eintreten, sodann als Christen zur wahren Frömmigkeit geführt und endlich in der Gemeinschaft mit Jesus erhalten werden, oder, wie Luther sagt, mit der Vergebung der Sünden auch Leben und Seligkeit erhalten.

a. Zunächst gilt es in das Reich Gottes einzutreten. Wie vor Zeiten Moses und die Propheten, so hat Gott auch Jesus und feine Jünger nicht dazu in die Welt gesandt, daß sie die Welt richten und verdammen (wie das unser Gewissen thut), sondern daß die Welt durch sie selig werde (Joh. 3, 17). Zwar wird ja nun die Welt durch den in der Predigt wirksamen Geist Gottes ihrer Sünde überführt (Joh. 16, 8), und das ist eine Wirksamkeit der Predigt, welche fortdauert, so lange der Mensch der Predigt bedarf; aber der Zweck dieser Predigt von der Sünde ist doch nur der, daß im Menschen die Erkenntnis seiner Sünde und das Verlangen nach Vergebung der Sünden erweckt werde; nicht bloß durch das Gesetz (Röm. 3, 20), sondern durch alle Predigt, auch durch die Predigt Jesu, soll diese Erkenntnis und dieses Verlangen erweckt werden, so daß jeder Mensch mit Paulus ausrufen lernt: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?" (Röm. 7, 24.) Und diesem Verlangen nach Befreiung von der Sünde und nach Gemeinschaft mit Gott kommt nun die Predigt, auch schon im Gottesreiche des Alten Bundes, besonders aber im Neuen Bunde, entgegen mit der frohen Botschaft von der Vergebung der Sünden, welche ja schon bezeugt war durch das Gesetz und die Propheten (Röm. 3, 21), aber erst in Christus den Menschen in Wahrheit dargeboten wurde, welcher dazu in die Welt gekommen ist, daß die Welt durch ihn selig werde (Joh. 3, 17); durch .ihn sollen satt werden alle, welche nach Gerechtigkeit hungert und dürstet (Matth. 5, 6), da sie in ihm einen zuverlässigen Bürgen für die Vergebung ihrer Sünden erkennen; das Gesetz hatte nur den Schatten von der zukünftigen Gnade Gottes, dagegen hat Christus mit seinem einzigen Opfer wirklich vollendet, die geheiligt werden (Hebr. 10, 1 u. 14). So werden nun die Menschen gerecht durch den Glauben an die ihnen gepredigte Gnade Gottes in Christus (Röm. 3, 28); denn der Glaube beruht auf der Predigt (Röm. 10, 14). Den Eintritt in das Reich Gottes durch die uns geschenkte Vergebung der Sünden bewirkt also zunächst die Predigt von der Gnade Gottes in Christus. Dieselbe Wirkung hat auch die Taufe. Wenn Jesus auch zunächst nur gepredigt hatte, so setzte er doch zuletzt, ehe er von seinen Jüngern schied, noch die Taufe ein (Matth. 28, 18—20), durch deren

256 sinnbildliche Reinigung dem Menschen verkündigt wird, daß Christus Vergebung der Sünden erhalte. Und dasselbe predigt h. Abendmahl, in welchem uns die Sinnbilder von Leib und sür uns gestorbenen Heilandes dargereicht werden, so daß wir h. Abendmahl der Vergebung der Sünde vergewissert werden.

er durch uns das Blut des auch im

b. Wenn aber der Mensch durch die Predigt und die Taufe zunächst in das Gottesreich ein tritt, so gilt es nunmehr, auch zur wahren Frömmigkeit geführt zu werden, und auch das ist eine Wirkung der Predigt. Denn e i n t r e t e n in das Reich Gottes kann auch der S ü n d e r, aber bleiben im Reiche Gottes kann nur derjenige, der sich bemüht, den Willen Gottes zu thun (Matth. 7, 21). Welches aber der Wille Gottes sei, das zeigt Jesus im Anschluß an das Gesetz, aber im Gegensatz zu den Pharisäern, in seiner Predigt; der Inhalt derselben ist in der Heiligen Geschichte dargelegt worden. c. Wer aber der Predigt Jesu gehorsam ist, der wird auch an die Person Jesu sich gebunden fühlen; denn wenn auch Jesus zunächst nur als Prediger auftrat und für seine Predigt Gehorsam verlangte, so ist doch auch schon er selber dazu fortgeschritten, auch den Anschluß an seine Person zu fordern, indem er seinen Jüngern bei ihrer Rückkehr von ihrer ersten selbständigen Predigtreise zurief: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken!" (Matth. 11, 28). Und in diesem Sinne hat Jesus fortan das Heil an die Gemeinschaft mit seiner Person geknüpft?) In dieser Gemeinschaft mit Jesus werden wir nun erhalten wie durch die immer aufs neue gehörte Predigt, so auch durch das immer aufs neue empfangene heilige Abendmahl. Wenn nämlich die Taufe das Mittel der Wiedergeburt, d. h. der beginnenden Gemeinschaft mit Christus ist, so ist, wie die Predigt, so auch das h. Abendmahl ein Mittel zur Erhaltung unserer Gemein­ schaft mit Jesus. Aus den vier Berichten, welche wir über die Einsetzung des heiligen Abendmahls haben, ergiebt sich, daß Christus dasselbe eingesetzt hat als ein von seinen Jüngern immer aufs neue zu wiederholendes Gedächtnis­ mahl, welches dazu dienen sollte, denselben seinen Opfertod als das Siegel des neuen Bundes stets von neuem zu vergegenwärtigen und sie in der Gemeinschaft mit ihm zu erhalten. Wer aber in der Gemeinschaft mit Jesus steht, der hat das wahre Leben, er ist „erlöst von Tod und Teufel", die den Sünder beherrschen.

d. Wo nun Vergebung der Sünden und Leben ist, da ist auch Selig­ keit, wie Luther mit Recht sagt, d. h. ein den Menschen beglückendes Leben, welches schon auf Erden beginnt und durch den Tod nicht gestört sondern vervollkommnet wird. So hat Jesus seine Jünger zunächst darum selig gepriesen, weil sie seine Predigt vernahmen. Ebenso heißt es von der Taufe: „Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden." Und daß durch das heilige Abendmahl, in welchem wir mit Jesus

n Vgl. Heil. Gesch. Nr. 115 (2. Ausl. Nr. 121) und Glaubenslehre Nr. 47.

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in Gemeinschaft treten, den Menschen die Seligkeit gewährt werde, versteht sich von selbst.

e. Predigt, Taufe und Abendmahl wirken also dasselbe, nämlich Ver­ gebung der Sünden und Leben und Seligkeit, aber sie wirken in ver­ schiedener Weise, die Predigt durch das Ohr in gewöhnlicher Sprache, Taufe und Abendmahl für das Auge in sinnbildlicher Sprache. Sodann ist die.Predigt zunächst für die ganze Gemeinde bestimmt/) Taufe und Abendmahl dagegen für jeden einzelnen Christen, und darum können wir uns durch Taufe und Abendmahl in eine engere Gemeinschaft mit Christus versetzt fühlen, als durch die Predigt. Aber was alle drei Gnadenmittel an uns wirken können, das wirken sie nur an denen, welche glauben an die in denselben an sie herantretende Predigt; ohne Glauben nützt uns weder die Predigt des Wortes, noch die sinnbildliche Predigt der Taufe und des Abendmahls.

57. (51.) C. „Wie können Predigt und Sakramente solche große Dinge thun?" Kat. IV, 3 und V, 3.

Augsb. Konf. Art. 10. 24. Die katholische Lehre vom h. Abendmahl.

Wie können nun aber die Predigt, die doch nur aus Worten besteht, und Wasser in der Taufe und Brot und Wein beim heil. Abendmahl solche große Dinge thun, daß der Mensch dadurch in die Gemeinschaft mit Gott eingeführt, in derselben gefördert und erhalten wird? Das ist die dritte Frage, welche in den beiden letzten Hauptstücken des Katechismus beantwortet wird. a. Das ist am leichtesten zu begreifen bei der P r e d i g t. Zwar auch hier scheint es uns ja nur so einfach zu sein, daß durch das Wort Großes gewirkt wird; denn das Wort ist doch zunächst ein Hauch, der unser Ohr berührt; wer den Hauch Jesu im Handschuh auffängt?), der hat seine Predigt nicht aufbewahrt, und doch beruht die Predigt auf dem Hauch des Mundes, der zunächst äußerlich an des Menschen Ohr dringt und doch als Träger der Gedanken des Redenden den fremden Geist auf des Hörers Geist innerlich wirken läßt. Wenn nun ein Gesandter Gottes zu uns redet, so wirkt der in diesem Manne wohnende Gottesgeist auf unsern Geist, und eines solchen Mannes Wort ist lebendig und kräftig und schärfer denn kein zweischneidig Schwert (Hebr. 4, 12). Gottes Wort wirkt aber auf den Menschen nur dann, wenn es in des Menschen Herzen Anklang findet; wo dagegen des Menschen Herz dem hartgetretenen Wege gleicht (Matth. 13, 4), da kann das Gotteswort zunächst nichts wirken, bis durch 0 Dagegen tritt das Wort Gottes in der Privatabsolution (welche aber heute in der evangelischen Kirche fast verschwunden ist) an den einzelnen Menschen ebenso heran, wie die Sakramente. -) Wie das von einem Heiligen (Nikodemus) angeblich mit dem Atem des h- Joseph geschehen ist. Heidrich, Glaubenslehre.

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258 Gottes Einwirkung der harte Weg für den Samen des Wortes Gottes empfänglich gemacht wird. b. Nicht so leicht ist die Kraft der S a k r a m e n t e zu begreifen. Daß im Wasser nicht eine besondere Wunderkraft enthalten sei, und daß in Brot und Wein nicht Himmelskräfte hineinkommen, wird im Katechismus deutlich ausgesprochen, indem Luther sagt: Wasser thut's freilich nichts sondern der Geist Gottes (so wäre deutlicher zu sagen), der mit und bei dem Wasser ist (und der durch das Wort der Erwachsenen auf das Heran­ wachsende Kind allmählich einwirkt), und: Essen und Trinken thut's freilich nicht. Hinsichtlich der Taufe sind ja auch die christlichen Kirchen darüber einig, daß das Taufwasser an sich keine Veränderung erleidet, sondern dasselbe Wasser bleibt wie vorher. Nicht auf dem Wasser beruht die Veränderung, welche die Taufe im Menschen bewirkt, sondern auf dem Geiste Gottes, der den Menschen seit der Taufe mehr und mehr durch­ dringt. So ist also die Taufe, obwohl sie doch nur mit Wasser vollzogen wird, dennoch eine Taufe mit dem Geiste Gottes, dessen Besitz sie uns verbürgt und vermittelt. Aber freilich die Taufe allein macht nicht selig, wenn nicht der Mensch auch wirklich zum Gotteskinde wird; andrerseits aber wird derjenige nicht vom Himmel ausgeschlossen, wie der Katholik behauptet, welcher als Kind stirbt, ohne getauft zu sein; eine solche Unge­ rechtigkeit Gotte zuzutrauen, sind wir Evangelischen nicht im stände; nicht die Taufe schließt uns den Himmel auf, und nicht die mangelnde Taufe schließt uns den Himmel zu; nur wer nicht glaubt, der wird verdammt, wenn er glauben konnte und sollte, aber sich von Gott beharrlich abge­ wandt hat. c. Aber am schwersten zu begreifen und am meisten streitig ist die Kraft des heiligen Abendmahls; dies Mahl der Gemeinschaft der Christenheit ist ja gerade vornehmlich zum Anlaß der Trennung der Christenheit geworden. Am einfachsten scheint die katholische Deutung zu sein. Durch den Priester wird, wie der Katholik glaubt, Brot und Wein verwandelt in Leib und Blut Christi, aber freilich nur so, daß bei dieser Wandelung (Transsubstantiation) die Eigenschaften der Elemente (Accidentien) unverwandelt bleiben. Dann tritt also der Katholik beim Abendmahlsgenuß in direkte Gemeinschaft mit Christus, der ohne ein irdisches Mittel (denn die Hostie ist ja nicht mehr Brot) in ihn eingeht. Wenn man diese Anschauung auf die Taufe anwendete, so wäre das Taufwasser als der heilige Geist, und bei der Predigt der Hauch Christi als seine Predigt anzusehen. Aber bas lehrt nicht die Bibel, auch nicht vom h. Abendmahl. Die Einsetzungsworte sind von den Aposteln gewiß nicht in katholischem Sinne ausgelegt worden, denn die Apostel sprechen von Brot und Wein auch bei der Feier des h. Mahls, und Brot und Wein bezeichnet Paulus (1. Kor. 10, 16) als die Gemeinschaft des Leibes und Blutes Christi, d. h. also, obwohl sie Brot und Wein bleiben, dennoch als Mittel, um mit Christus in Gemein­ schaft zu treten. Und ist es denn überhaupt denkbar, daß Jesus, als er mit seinem Leibe vor seinen Jüngern saß, denselben in dem Brot, das er in der Hand hielt, einen zweiten Leib gezeigt hätte, der ebenfalls sein

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Leib seiu sollte? Und neben dem Blute in seinem Leibe sollte er ein zweites Blut im Kelch als sein Blut bezeichnet haben? Und die Jünger sollten dies seltsamste aller Wunder als so ganz selbstverständlich betrachtet haben, daß sie danach gar nicht gefragt hätten, während sie doch sonst nicht so stumpfsinnig sind, sondern nach dem fragen, was sie nicht verstehen! Die katholische Lehre vom h. Abendmahl ist unstreitig falsch. Es wäre nun natürlich ebenso falsch, in Brot und Wein beim heiligen Abendmahl nur Irdisches sehen zu wollen; bei der Predigt ist der Menschenhauch der Vermittler des Gottesgeistes, wie bei der Taufe das Wasser; so sind auch hier die Elemente Träger eines himmlischen Gutes, wie ja Paulus sagt (1. Kor. 10, 16), daß sie die Gemeinschaft des Menschen mit Christus vermitteln. Es bleiben also auch hier die irdischen Dinge unverwandelt, aber sie werden zu Predigern und Vermittlern der Gemeinschaft mit dem für uns gestorbenen Heiland. Das Brot, welches gebrochen wird, der Wein, welcher uns dargereicht wird, sind eine Predigt von dem für uns gestorbenen Menschensohn, und durch eine sinnbildliche Handlung treten wir auch hier, wie bei der Taufe, in Gemeinschaft mit Jesus Christus; aber der Katechismus sagt mit Recht: Essen und Trinken thut's freilich nicht. Wenn nun aber die lutherische Kirche über diese Anschauung noch hinausging und der katholischen Anschauung sich wieder näherte, indem sie Christus nicht bei der Abendmahlsfeier, sondern „in, mit und unter" den Elementen leiblich vorhanden dachte, so daß Leib und Blut von jedem Menschen, auch vom Ungläubigen, empfangen und zwar mit dem Munde empfangen und mit den Zähnen zerbissen würden, so daß das heil. Abendmahl durchaus nicht bloß ein „Seelenessen"/) sondern zunächst doch ein leibliches „Essen und Trinken" ist, so kann man zwar begreifen, wie Luther zu dieser Ansicht gekommen ist; aber unbedingte Anerkennung hat diese Lehre nicht einmal in der älteren Zeit gefunden, noch weniger in der Folgezeit; ja, selbst die Concordienformel erklärte sich bereit, auf diese Formel zu verzichten, wenn nur die Gegner zugeben wollten, daß i m Abendmahl Leib und Blut Christi ausgeteilt und empfangen werden — damit war ein besserer Ausdruck für diese Lehre gefunden. So mag denn der evangelische Christ in der Lehre vom h. Abend­ mahl mit Luther ganz übereinstimmen oder nicht — jedenfalls ist es unevangelisch, die Lehre vom h. Abendmahl zum Mittelpunkt des Christen­ tums machen zu wollen; das ist richtig für den Katholiken, aber nur darum, weil bei ihm auf dem h. Abendmahl die Messe beruht, und die Messe ist für ihn in der That die Hauptsache im Christentums) das gilt aber nicht vom Abendmahl in der evangelischen Kirche; der Mittelpunkt unseres Glaubens ist der Glaube an die Gnade Gottes in Christus; das h. Abendmahl ist ein Mittel, um in Gemeinschaft mit Christus zu treten, wie die Taufe und die Predigt, aber nicht der Mittelpunkt und die Hauptsache des Glaubens, so daß wegen einer Abweichung in der Wie der schöne Vers des bekannten Liedes (Schmücke dich, o liebe Seele) mit Recht sagt. 2) Vgl. Kirchengesch. Nr. 31A. (2. Aufl. Nr. 340.)

260 Lehre vom Abendmahl die Trennung einer Kirche von der anderen berechtigt wäre. d. Wenn Melanchthon im 10. Artikel der Augsb. Konfession, welcher vom h. Abendmahl handelt, die katholische Lehre nicht bekämpft, die doch von den Reformatoren längst nicht mehr anerkannt wurde, so hatte das seinen Grund darin, daß Melanchthon im I. 1530 noch hoffte, daß die evangelische Lehre vom Abend­ mahl neben der katholischen vom Papste geduldet werden könnte. Als sich diese Hoffnung aber nicht erfüllte, da hat Luther in den Schmalkaldischen Artikeln den Gegensatz gegen die katholische Lehre vom h. Abendmahl deutlich und scharf aus­ gesprochen. Zwar auch die Augsb. Konfession verwirft die katholische Sitte, daß dem Laien beim h. Abendmahl nur das Brot, nicht der Wein gereicht werde (Art. 22). Dagegen ist die Lehre von der Trans substantiation, d. h. der Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi, in der Augsb. Konf. nicht aus­ drücklich verworfen, aber natürlich auch nicht anerkannt. Daß diese Lehre aber von den Evangelischen verworfen wurde, ergab sich aus der ausdrücklichen Verwerfung der Messe (Art. 24), welche ja die Lehre von der Transsubstantiation zur Voraus­ setzung hat. Indem nämlich der Katholik lehrt, daß Christus nur für die Erbsünde gestorben sei, nicht für die Thatsünden, glaubt er, daß die Thatsünden durch ein stets erneuertes Opfer gesühnt werden müssen. Als ein solches betrachtet er aber die sogen. Messe, d. h. diejenige heilige Handlung, bei welcher der Priester die von ihm in Leib und Blut Christi verwandelten Abendmahlselemente Gott stets aufs neue als Opfer darbringt zur Sühnung der Thatsünden der Menschen. Der evangelische Christ fordert, daß der Mensch sich das Opfer Christi im Glauben immer aufs neue an eigne, aber eine Wiederholung dieses Opfers hält er weder für möglich noch für nötig. e. Während nun der Gegensatz gegen die katholische Lehre in der Augsb. Konfession nicht betont wird, ist ein anderer Gegensatz hinsichtlich dieser Lehre ausdrücklich hervorgehoben, nämlich der gegen die reformierte Kirche?) Während nämlich beide evangelische Kirchen darüber einig sind, daß bei der Feier des h. Abendmahls Brot und Wein nicht verwandelt werden (wie der Katholik behauptet), und auch darüber einig sind, daß durch die Feier des h. Abendmahls der Mensch mit Christus in Gemeinschaft trete und dadurch, wie Luther's Katechis­ mus sagt, „Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit" erhalte, gehen die beiden Kirchen darin aus einander, daß die reformierte Kirche lehrt, daß nur der Gläubige mit Christus in Gemeinschaft trete, während die lutherische Kirche lehrt (Art. 10), daß „wahrer Leib und Blut Christi wahrhaftiglich unter der Gestalt^ des Brotes und Weines im Abendmahl gegenwärtig sei und da ausgeteilt und genommen wird;" danach empfängt also bei der Abendmahlsfeier jeder Mensch Leib und Blut Christi, nicht bloß der Gläubige. Wenn nun im I. 1530 in der Augsb. Konf. diese „Gegenlehre" ausdrücklich „verworfen" wurde (entsprechend

dem Ergebnis des im

I. 1529 abgehaltenen

*) Daß die Quäker das h. Abendmahl nicht feiern, beruht auf ihrer Meinung, daß der h. Geist ohne Gnadenmittel unmittelbar auf den Menschen wirke. Für die Socinianer und die Mennoniten ist das Abendmahl (wie die Taufe) kein Gnadenmittel, sondern nur eine sinnbildliche Handlung.

261 Religionsgesprächs zu Marburg), so wurde dagegen im I. 1536 durch berger Concordie festgestellt, daß, wiewohl sich beide Teile über die h. Abendmahl noch nicht verglichen hätten, so solle doch ein Teil gegen christliche Liebe erzeigen, und beide Teile Gott fleißig bitten, daß er

die Witten­ Lehre vom den andern ihnen durch

seinen Geist das rechte Verständnis schenken wolle. Diesem Zugeständnis Luthers entsprechend änderte Melanchthon den 10. Artikel der Augsb. Kons, im Jahre 1540 dahin ab, daß er den Schlußsatz (von der Verwerfung der Gegner) wegließ und den Artikel so faßte: Vom Abendmahl des Herrn wird also gelehrt, daß mit Brot und Wein den beim Abendmahl Essenden Leib und Blut Christi wahrhaft dargereicht werde. Wegen dieser Änderung ist Melanchthon später aufs heftigste angegriffen

worden, obwohl sie doch den lutherischen Glauben nicht verleugnet; denn der Reformierte lehrt: Nicht den Essenden, sondern nur den Glaubenden werden Leib und Blut Christi dargereicht; die Ungläubigen empfangen nur Brot und Wein. Die Neuzeit hat anerkannt (Union 1817), daß beide Auffassungen der Lehre vom h. Abendmahl in der evangelischen Kirche berechtigt sind.

58. I). Der gesegnete Empfang der Gnadennnttel, die linder­ taufe und die Beichte. Kat. IV, 4 und V, 4. Augsb. Kons. Art. 9. 12. 11. 13. 22.

a. Die Darbietung der Gnaden mittel.

Daß Predigt, Taufe und Abendmahl als die von Christus selbst ein­ gesetzten Gnadenmittel dem Christen darzubieten seien — die Taufe nur einmal, die Predigt und das Abendmahl immer aufs neue — wird (in Übereinstimmung mit der Augsb. Konf.: Art. 5, 9 und 10) von allen christlichen Parteien (mit Ausnahme der Quäker, welche, wie die alten Wiedertäufer, den h. Geist auch ohne Gnadenmittel wirken lassen) anerkannt. Allerdings wird ja in manchen Kirchen die Predigt sehr vernachlässigt und dadurch die Kenntnis des wahren Christentums gefährdet. Hinsichtlich des h. Abendmahls weist aber die Augsb. Konfession noch darauf hin (Art. 22), daß bei der katholischen Abendmahlsfeier dem Feiernden (auch dem das Abendmahl nur genießenden Priester) gegen das Wort Christi („Trinket alle daraus") der Kelch vorenthalten wird. Es ist eine un­ genügende Ausrede der Katholiken, daß im Leibe Jesu schon das Blut enthalten sei; in Wahrheit soll auch bei dieser Feier, wie die Augsb. Konfession (Art. 22) mit Recht sagt, der Laie dem Priester untergeordnet erscheinen. Gegen diese erst im Mittelalter aufgekommene katholische Sitte richtete sich zunächst die Opposition der Hussiten („Utraquisten" — „sub utraque forma“, unter beiderlei Gestalt feierten sie wieder — nach alter Sitte — das h. Abendmahl), und die evangelische Kirche reicht — in Übereinstimmung mit der alten und mit der morgenländischen Kirche — mit Recht auch dem Laien den Kelch beim Abendmahl. Aber wenn wir hiervon absehen, so stimmen alle großen Kirchen und

262 auch fast alle kleineren Parteien darin überein, daß Predigt und Taufe und Abendmahl dem Christen dargeboten werden sollen. Allerdings feiern wir das Abendmahl nicht mehr täglich oder auch nur sonntäglich wie die alten Christen, welche dasselbe im Anschluß an das von ihnen gefeierte Liebesmahl feierten, aber doch wenigstens einmal im Jahres; aber dafür

hält wenigstens die evangelische Kirche die Predigt für ein wesentliches Stück jedes Gottesdienstes, und die Predigt ist ja in der That das vor­ nehmste und allein unentbehrliche Gnadenmittel. So wollen denn auch wir die Gnadenmittel fleißig gebrauchen, in der Hoffnung, daß sie uns auch zum Segen gereichen werden. b. Wodurch ist nun der S e g e n der uns dargebotenen Gnadenmittel bedingt? Das ist die vierte Frage, welche in den beiden letzten Hauptstücken des Katechismus beantwortet wird. Wir sind schon als Kinder durch die Taufe in die christliche Kirche ausgenommen worden, und wir glauben, daß dies mit Recht geschehen ist?) Aber es wird kein Christenkind deshalb vom Himmel ausgeschlossen, wie die katholische Kirche lehrt, weil es ungetauft gestorben ist; nur „wer nicht glaubt, wird verdammet werden", wie es in der Bibel heißt, nicht aber, wer nicht getauft ist. Aber die Taufe gereicht nicht jedem Menschen zum Segen; wenn uns unsere Taufe zum Segen gereichen soll, so muß das geschehen, was Luther im Katechismus sagt, daß „der alte Adam", d. h. der alte, sündige Mensch, der in uns von Geburt an lebt und auch nach der Taufe weiterlebt, „durch tägliche Reue und Buße ersäuft werde, und täglich herauskomme und auferstehe ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinigkeit vor Gott ewiglich lebe." So stellt uns die Taufe eine Aufgabe für unser ganzes Leben, nämlich die Aufgabe einer täglichen Erneuerung, indem wir täglich uns bemühen sollen, mit Gottes Hilfe dem Bösen abzusterben und dem Guten uns zuzuwenden. Diese tägliche Erneuerung des Menschen in Buße und Glaube, das ist die gesunde Lehre von der Bekehrung, inr Gegensatz zu dem thörichten Wahn von der einmal in einem bestimmten Momente (den man wo möglich kennen muß) vollzogenen Bekehrung, der heute viele Menschen bethört und gefährdet?) Uns täglich zu bekehren vermögen wir allerdings noch nicht als Kinder, aber wohl, wenn wir heranwachsen, und das zu thun versprechen wir bei der Konfirmation, und wenn wir Gott täglich darum bitten, so wird er uns auch helfen, unser Versprechen zu erfüllen.

c. Die Kindertaufe. a. Aber thun wir denn überhaupt recht daran, wenn wir die Kinder taufen? Das ist bekanntlich eine Frage, die seit der Reformationszeit immer wieder verhandelt wird, und in welcher die ververschiedenen Parteien noch heute nicht zur Übereinstimmung gelangt sind. Wenn nämlich die Taufe, wie die Predigt und das h. Abendmahl, x) Und im Anschluß an das jährlich einmal zu feiernde Passahmahl ist ja das heilige Abendmahl eingesetzt worden. 2) Vgl. unten c! ") Kaftan, Katechismus*2 S. 321.

263 dem Menschen nur dann zum Segen gereichen kann, „wenn man sie im Glauben empfängt und den Glauben dadurch stärket", wie es im 13. Art. der Augsb. Konfession heißt, so könnte es ja scheinen, daß die Evangelischen den Wiedertäufern beistimmen müßten, welche die Kindertaufe verwarfen, weil ja die Kinder noch keinen Glauben haben können. Trotzdem sagt die Augsb. Konfession (Art. 9), „daß man auch die Kinder taufen soll, welche durch solche Taufe Gott überantwortet und gefällig werdens; derhalben werden die Wiedertäufer verworfen, welche lehren, daß die Kinder­ taufe nicht recht sei." Während nämlich im allgemeinen schon die Kinder getauft werden, bestreiten die Wiedertäufer die Rechtmäßigkeit der Kindertaufe, und fordern daß erst erwachsene Menschen getauft werden. Da nun Jesus darüber keine Bestimmung getroffen hat, wann die Taufe erfolgen soll, so könnte die Bestimmung über die Zeit der Taufe freigestellt werden, und es wäre jedenfalls unangemessen, deshalb eine Spaltung der Kirche eintreten zu lassen. Aber diese Spaltung ist dennoch eingetreten, da die Wiedertäufer durchaus verlangen, daß ihre Meinung allgemein anerkannt werde, und da sie die Berechtigung der Kindertaufe bestreiten. Wenn ja nun auch unstreitig ein Erwachsener von der Taufe einen größeren Segen empfangen kann, als ihn zunächst das bewußtlose Kind empfangen kann, so ist es doch eine höchst bedenkliche Praxis der Wiedertäufer, daß sie die Taufe nur an demjenigen vollziehen, welcher durch die Abstimmung der Gemeinde für einen wahren Gläubigen erklärt wird. Eine solche Abstimmung hätte doch nur dann einen Sinn, wenn die Gemeinde unfehlbar wäre, und sie birgt eine große Gefahr in sich, indem sie demjenigen großen Schaden bringen kann, welcher für einen wahren Gläubigen erklärt wird, während er doch vielleicht ein Heuchler ist. Da nun die Kindertaufe von Jesus nicht geboten, aber auch nicht verboten ist, und da es schwer ist zu sagen, wann der Mensch so weit im Glauben entwickelt ist, daß er den höchsten Segen von der Taufe sofort empfängt, so ist es am besten, bei der Kindertaufe zu bleiben, zumal da ja eine andere Handlung, die Konfirmation, den Mangel der Kinder­ taufe, das fehlende Bewußtsein der empfangenen göttlichen Gnade, aus­ zugleichen vermag; bei ihrer Konfirmation sollen ja die Kinder, welche einst, ohne daß sie es wußten, in die Kirche ausgenommen worden sind, mit Bewußtsein in die Gemeinschaft mit Christus eintreten. Aber dürfen wir etwa glauben, daß alle Konfirmierten, und selbst wenn sie zehn Jahre später konfirmiert würden, bewußte Christen sind? Das ist eben­ sowenig der Fall, wie das, daß die erwachsenen Täuflinge der Wieder­ täufer sämtlich rechte Christen sind; Christen werden wir nicht auf einmal, sondern nur durch die fortdauernde Arbeit des Geistes Gottes an unserem Herzen. ß. Wenn aber Luther den Einwürfen der Wiedertäufer gegen die Berechtigung der Kindertaufe entgegengetreten war mit dem Satze, daß die Kinder infolge der Fürbitte der Kirche bereits vor der Taufe glauben, so ist diese Vorstellung eines

*) Aber daß ein ungetanst gestorbenes Kind nicht in den Himmel kommt, sondern in eine Art von Vorhölle, ist nur Lehre der katholischen Kirche.

264 Glaubens der Säuglinge allerdings ebenso unpsychologisch wie unbiblisch; wenn die Kindertaufe nur in dieser Weise gerechtfertigt werden könnte, dann müßte sie fallen, wie ja auch das in der alten und noch heute in der morgenländischen Kirche übliche Abendmahl der Kinder in der römischen und in der evangelischen Kirche verworfen worden ist. Wenn nach der Lehre der h. Schrift der Glaube auf der Predigt beruht, die Predigt aber doch vom Kinde noch nicht vernommen oder wenigstens nicht verstanden werden kann, so kann auch im Kinde noch kein Glaube entstehen; die Kinder können daher in den Genuß der ihnen durch die Taufe zugesagten Güter erst dann eintreten, wenn durch das ihnen gepredigte Wort Gottes der Glaube in ihnen erweckt worden ist. 7.1) In allen denjenigen, von deren Taufe die Bibel uns berichtet, haben wir Personen vor uns, deren sittliches Bewußtsein und Leben schon voll entwickelt war, als der Ruf zur Umkehr an sie erging. Derselbe traf bei ihnen ein Gewissen, das — wenn auch in verschiedener Weise bei den Juden und den Heiden — ihnen schon längst von eigenen Verpflichtungen und eigenen Verschuldungen gezeugt hatte; sie sollten nunmehr von einem schon thatsächlich betretenen Sündenwege sich abwenden. Dagegen sind diejenigen, welche heute getauft werden, auch als Kinder bereits, wie Paulus sagt, „heilig" d. h. Gott geweiht (1. Kor. 7, 14); sie befinden sich bereits in einer Christenheit, in welcher das neue Leben einen festen Bestand gewonnen hat und auch vom Beginn ihrer geistigen Entwickelung an in Erziehung, Vorbild und Lehre an sie herantritt. Dafür sind nun aber Kinder — mehr als erwachsene Nichtchristen, die unter uns leben — in besonderem Grade empfänglich; sie sind, wie Jesus sagt, besonders empfänglich für das Himmelreich (Mt. 18, 3 und 19,14). Wenn nun schon die Apostel bei der Taufe Erwachsener (z. B. am Pfingstfest) sich nicht erst dessen versichert haben, ob auch jeder einzelne schon innerlich so weit sei, um in der Taufe vollends „ein neuer Mensch" zu werden, indem sie meinten, daß bei den Getauften die Taufe selbst das Erforderliche noch nach wirken werde, so brauchte auch die heutige Kirche nicht -- wie die Wiedertäufer — die Taufe erst in einem Moment vorzunehmen, wo schon ein fertiges Ergebnis der sittlichen Erneuerung vorliegen kann; einen solchen Moment sicher zu erkennen, ist für uns Menschen unmöglich, und wenn die Wiedertäufer dem Täufling durch die Taufe die Versicherung geben, daß dieser Moment bei ihm eingetreten sei, so gefährden sie des Täuflings sittliche Entwickelung, indem derselbe, obwohl vielleicht noch gar nicht erneuert, sich doch einbildet, bereits ein neuer Mensch geworden zu sein. So taufen wir denn die Kinder in der Hoffnung, daß Gott dieselben, da sie ja in der christlichen Kirche heranwachsen, durch den in der Kirche waltenden heiligen Geist allmählich zu neuen Menschen machen werde. Das allerdings glauben wir nicht mehr mit der älteren Dogmatik, daß die Kinder durch die Taufe bereits wirklich zu Wiedergeborenen werden, d. h. zu sittlich neuen Menschen, während doch sittliche Regungen und nur hiermit die Möglichkeit einer Abkehr vom Bösen und des Glaubens mi die Gnade Gottes dem Kinde überhaupt noch fehlen; diese Wirkungen des Geistes Gottes können erst eintreten, wenn das Kind sich geistig und sittlich entwickelt und zwar unter der Einwirkung des in der Kirche sich wirksam erweisenden heiligen Geistes. Wenn aber das Kind heranwächst, so kommt es bei vielen Kindern trotz der 3) Ausführung für den Lehrer, nach Köstlin, christl. Ethik (1898,) S. 149 s.

265 Taufe erst zu einer Entfaltung der aus ihrem Naturstande stammenden Sünden­ macht ; dann müssen sie später, ebenso, wie die außerhalb der Christenheit Geborenen, erst von dieser Bahn umkehren. Dagegen wird bei andern die auch in ihnen vor­ handene Sünde von Anfang an niedergehalten, so daß sie in geradem Fortschritt zum Leben in Gott gelangen; aber auch sie müssen in täglicher „Reue und Buße", wie Luther sagt, sich von der auch sie immer aufs neue versuchenden Sünde immer aufs neue abwenden und Gott zuwenden.

d. Die Aufgabe, welche uns die Taufe stellt und welche wir in der Konfirmation zu lösen versprochen haben, können wir aber nur dann lösen, wenn wir nicht bloß getauft werden, sondern wenn uns auch das Wort Gottes gepredigt wird. Und das wird ja nun — Gott sei Dank — den meisten Getauften zu teil. Den Heiden wird schon vor der Taufe ge­ predigt, aber natürlich auch nach der Taufe, den getauften Christenkindern natürlich nur nach der Taufe, und durch die Predigt wird uns nun gezeigt, wie wir die Sünde überwinden und Gott wohlgefällig werden können. Wie viel wird doch nun heute gepredigt, im Hause und in der Schule, in der Kirche und unter den Heiden, und wie wenig Frucht bringt doch oft auch die treuste und geschickteste Predigt! Das kann ja zunächst daran liegen, daß diejenigen, welchen gepredigt wird, für die ihnen dar­ gebotene Predigt noch zu wenig empfänglich sind. Wer noch nichts davon weiß, daß er ein Sünder ist, dem soll man nicht von Vergebung der Sünden predigen; wer noch nicht an Gott glaubt, dem soll man nicht oon der Dreieinigkeit predigen; der Mensch muß erst durch Gottes Führungen oder durch unseren Unterricht empfänglich gemacht werden für das, was ihm gepredigt wird, ehe man einen Segen von der Predigt er­ warten darf. Wer nun aber für das Wort Gottes empfänglich geworden ist, der soll dasselbe nicht bloß mit seinem Verstände billigen, sondern er muß glauben an die ihm im Worte Gottes verkündigte Gnade Gottes, denn nur „so man von Herzen glaubt, so wird man gerecht" (Röm. 10, 10). Aber der Mensch würde sich selber betrügen mit dem Wahnbilde eines angeblichen Glaubens, wenn er bloß ein Hörer und ein angeblich Gläubiger, aber nicht ein Thäter des Wortes würde (Jak, 1, 22); an den Früchten erkennt man den Baum; ein Glaube, der nicht in der Liebe thätig ist, ist kein rechter Glaube. Da nun die Predigt das unentbehrliche Gnadenmittel ist, um zum Glauben zu kommen, so wollen wir nach Kräften dafür sorgen, daß den noch nicht bekehrten Völkern das Evangelium gepredigt werde, indem wir das Werk der Mission nach Kräften unterstützen. Sodann müssen Haus und Schule und Kirche dafür sorgen, daß der Heranwachsenden Jugend der christliche Glaube nahegebracht werde. Und endlich sollen wir Er­ wachsenen an den Gottesdiensten der Gemeinde auch darum fleißig teil­ nehmen, weil wir durch die Predigt, die wir in denselben vernehmen, im Glauben erhalten und gefördert werden. Aber wir wollen uns das Wort Gottes nicht bloß mündlich darbieten lassen und darbieten, sondern auch von seiner schriftlichen Aufzeichnung Nutzen ziehen. Indem wir das Werk der Bibelgesellschaften unterstützen, fördern wir das Werk der Bibelverbreitung, und welchen Segen die Bibel

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den Menschen gebracht hat und bringen kann, ist bekannt. Aber vor allem wollen wir auch selber durch das Lesen der heiligen Schrift und anderer christlicher Bücher uns in der Erkenntnis des christlichen Glaubens zu fördern suchen, damit wir immer tiefer eindringen in das Verständnis der Wege Gottes zu unserm Heil und zum Heil der Menschheit, und mit dem Apostel sprechen lernen: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beide, der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Ge­ richte und unerforschlich seine Wege! Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen." (Röm. 11, 33 u. 36.) e. Wie Predigt und Taufe nicht jedem zum Segen gereichen, dem sie zu teil werden, so wird auch der Segen des h. Abendmahls nicht jedem zu teil, der dasselbe empfängt, auch nicht jedem, der sich durch „Fasten und leibliches sich Bereiten" (d. h. durch Anlegung einer festlichen Kleidung) darauf vorbereitet. Nur wer nach Vergebung der Sünden verlangt, ist für den Segen empfänglich, den ihm das h. Abendmahl gewähren kann. Darum sagt der Apostel Paulus mit Recht (1. Kor. 11, 28): „Der Mensch prüfe sich selbst, und also esse er von diesem Brot und trinke von diesem Kelch." Da man nun von einem Kinde eine solche Selbstprüfung noch nicht verlangen kann, so ist es nicht angemessen, wie es in der alten Kirche geschah und in der morgenländischen Kirche noch heute geschieht, daß auch die Kinder schon das h. Abendmahl empfangen, in der morgenländischen Kirche noch heute schon bei der Taufe. Aber die Erwachsenen können und sollen „sich prüfen", ehe sie das h. Abendmahl empfangen. Darum wird die Feier des h. Abendmahls durch die B e i ch t e vorbereitet. Wir verwerfen nun zwar die Ohrenbeichte, welche in der katholischen Kirche gefordert wird; wir glauben auch nicht an eine be­ sondere Gewalt des Priesters, ohne welche es keine Sündenvergebung gebe; über wir bekennen Gott unsere Sünden, und wir glauben an das Wort von der Vergebung Gottes für den reuigen Sünder, welche uns in der Beichte (wie in der Predigt) im Auftrage Jesu von dem Diener der Kirche verkündigt wird. Aber zur Reue muß auch hier der Glaube hinzukommen, wenn wir Vergebung der Sünden empfangen sollen. Dieser Glaube ist über nicht ein irgendwie formulierter Glaube an eine Lehre über das Abendmahl, sondern der Glaube an die Gnade Gottes in Christus. Wer diesen Glauben hat, der empfängt das heilige Abendmahl würdiglich, für den ist Jesus das Brot des Lebens (Joh. 6, 47—48). f. Auf die Frage des Lutherischen Katechismus: „Wer empfängt denn solch Sakrament würdiglich?" antworten auch die Art. 12, 11 und 13 der Augsb. Konfession. Wer das h. Abendmahl zum Segen empfangen will, der muß zunächst Reue über seine Sünden empfinden (von der Reue d. h. „Buße", wie Melanchthon sagt, handelt Art. 12); seine Reue über die Sünde bekennt aber der Sünder in der Beichte (von der Beichte handelt Art. 11); der Beichtende kann aber Vergebung der Sünden nur empfangen durch den Glauben (vom Glauben handeln Art. 12 und 13). Da Art. 11 sein richtiges Verständnis aus Art. 12 gewinnt, so wird der letztere hier zuerst besprochen werden, wie auch Melanchthon selber später Art. 12 vor Art. 11 gestellt hat. Daß auch der Christ noch sündigt, das versteht sich eigentlich von selbst, und

267 -och hielt es Melanchthon für nötig, die Behauptung *) ausdrücklich zu verwerfen, „daß diejenigen, so einst sind fromm worden, nicht wieder fallen mögen." Auch in der neueren Zeit hat es immer wieder Leute gegeben, welche sich dessen rühmten, daß sie „bekehrt" seien und darum nicht mehr sündigten; aber gar oft sind sie nicht bloß in einen widerwärtigen Hochmut gegenüber den Unbekehrten, sondern auch in äußere Sünde verfallen. Da nun auch der Christ doch noch sündigt, während er doch ein frommer Mensch sein sollte, so kamen die alten Christen zu der Meinung, es sei am besten, wenn man sich erst auf dem Totenbette taufen lasse; dann könne man dessen gewiß sein, daß einem alle Sünden vergeben seien; die alten Christen bedachten nicht, daß Jesus uns im Vaterunser aufgefordert hat, alle Tage um „Vergebung unsrer Schuld" zu beten, und daß wir alle Tage Vergebung erhalten können. Während sich nun die Kirche im ganzen weiterentwickelte und zu dieser Erkenntnis gelangte, blieb eine kleinere Partei, die Nova ti an er (c. 250), bei der alten Meinung stehen, und ihre Lehre wird in Art. 12 ausdrücklich verworfen?) Mit Recht lehrt heute die ganze Kirche, „daß diejenigen, so nach der Taufe gesündigt haben, zu aller Zeit, so sie zur Buße (Reue) kommen mögen, Vergebung der Sünden erlangen, und ihnen die Absolution von der Kirche nicht soll verweigert werden" (Art. 12). Aber wenn nun die katholische Kirche lehrt, daß für den Christen, um Ver­ gebung der Sünden zu erlangen, drei Dinge nötig seien, Reue des Herzens, Beichte des Mundes und Genugthuung durch Werke (contritio cordis, confessio oris, satisfactio operis),3*)* so lehrt dagegen die evangelische Kirche, daß der Mensch allerdings Reue über seine Sünden empfinden müsse (Art. 12); aber einer Beichte, in welcher man „alle Missethaten und Sünden erzähle", bedarf es nicht (Art. 11); geradezu verworfen wird aber die katholische Lehre, daß „wir durch unser Genugthun Ver­ gebung der Sünden erlangen" (Art. 12); Vergebung der Sünden erhält der Mensch in der Predigt, wie in der Beichte und durch die Sakramente, auf Grund seines Glaubens an die Gnade Gottes in Christus (Art. 12 u. 13). Wer aber Vergebung der Sünden erhalten hat, bei dem wird und „soll auch Besserung folgen, daß er von Sünden lasse" (Art. 12); aber die guten Werke verdienen nicht Vergebung der Sünden. Wenn also die evangelische Kirche die vor dem h. Abendmahl übliche Beichte mit Recht beibehalten hat, so ist doch unsere Beichte nicht eine von Gott eingesetzte und darum durchaus notwendige, sondern nur eine heilsame kirchliche Ordnung, „eine feine, äußerliche Zucht", wie das auch bei uns noch übliche Fasten vor dem Genusse des heiligen Abendmahls. Vornehmlich aber ist unsere Beichte nicht eine O h r e n b e i ch t e, in welcher wir dem Geistlichen alle unsere Sünden einzeln bekennen müssen, da das Nichtbekannte auch nicht vergeben wird; nur die Privatbeichte, in welcher jeder einzelne dem Geistlichen entweder im allgemeinen oder im einzelnen

sich als Sünder bekannte, wurde zunächst festgehalten. Später ist aus dieser Privatbeichte die heute übliche allgemeine Beichte geworden, indem manche Geistliche meinten, daß durch die mit der Privatbeichte verbundene Privat­ absolution die Leute gefährdet würden, da sie dieselbe als unbedingt für sie geltend ansähen, auch wenn sie weder Reue noch Glauben hätten. In manchen *) Dieselbe wurde von manchen Wiedertäufern der damaligen Zeit aufgestellt, welche ja darauf ausgingen, die wirkliche Gemeinde der Heiligen herzustellen. -) Genaueres über diese Frage siehe in meiner Kirchengesch? Nr. 21. 3) Genaueres siehe in meiner Kirchengesch? Nr. 21b und 34C b.

268 Gemeinden ist aber von der Privatbeichte noch die Privatabsolution erhalten geblieben,*) während an den meisten Orten heute auf die allgemeine Beichte auch

eine allgemeine Absolution folgt. In dieser Weise bereiten wir uns vor für den würdigen Empfang des heiligen Abendmahls. g. So führen uns also alle Gnadenmittel nur dann zu Gott, wenn wir nach der Gnade Gottes verlangen, an die Gnade Gottes glauben und durch den Glauben mit Gott in Gemeinschaft treten; sonst heißt es für uns: „Brot und Wein und Wasser ist kein nütze" (Joh. 6, 63).

59—61. Die Predigt und die Sakramente; Wesen und Zahl der Sakramente; die heiligen Handlungen im Leben des Christen.

59. Die Predigt und die Sakramente. a. Als Mittel, um die Menschen in das Gottesreich zu führen, hat Jesus zunächst die Predigt eingesetzt, und ohne die Predigt hätte ja das Gottesreich überhaupt nicht gegründet werden können. Wie sehr dasselbe verkümmert, wenn die Predigt in der Kirche zurücktritt, das sehen wir an manchen kleineren Kirchen in Afrika und Asiens und auch an der Kirche des Mittelalters, wo die Christen sich mit dem Kreuzeszeichen bezeichneten, aber den Wert des Todes Christi nicht kannten; wo zwar die Sakramente gefeiert wurden, aber ihre Bedeutung nicht richtig erkannt wurde; wo die Predigt einerseits so sehr zurücktrat und andererseits so verfälscht wurde, d)ß die Christenheit in die größten Irrtümer hineingeriet. Ja, ohne die Predigt können auch die Sakramente nicht zu einer gesegneten Wirksamkeit gelangen, denn wer Taufe und Abendmahl zum Segen empfangen will, der muß doch über die Bedeutung dieser Hand­ lungen belehrt werden; eine solche Belehrung gewährt ihm aber nur die Predigt.3) Aber gerade an dieser halten gewissenhafte Geistliche Anstoß genommen, nicht an der Privat beichte. -) Eine solche Kirche ist z. B. die Kirche von Abessinien. Dieselbe besitzt zwar die Bibel, aber nur in der vom Volke seit langer Zeit gar nicht mehr und von den Priestern fast gar nicht mehr verstandenen äthiopischen Sprache, so daß die Bibel auf die Predigt und den Glauben gar keinen Einfluß hat. Der Gottesdienst besteht aus dem Absingen von Psalmen, der Vorlesung von Bibelabschnitten, die kein Hörer versteht, und Gebeten vorzugsweise an Maria, Heilige und Engel. Die Taufe ist üblich, aber daß der Getaufte täglich der Sünde absterben und täglich ein neuer Mensch werden soll — das ist ihnen natürlich unbekannt; dafür ist es die Pflicht des Getauften, eine blauseidene Schnur um den Hals zu tragen. Das Abendmahl wird gefeiert, aber auch für den Gestorbenen, damit er schneller in den Himmel komme. Vergebung der Sünden erlangt man durch Fasten (das Kirchenjahr zählt gegen 200 Fasttage), Almosengeben, Kasteiungen, Mönchtum, Abbeten oder Ablesen von Stellen der Bibel und der anderen heiligen Bücher, welche die Leute gar nicht verstehen, da sie in der ihnen nicht verständlichen äthiopischen Sprache geschrieben sind. a) Diesen Vorrang der Predigt vor den Sakramenten hat auch Luther anerkannt, indem er sagt: „Wo du das Evangelium nicht siehst, da zweifle nicht, daß auch die Kirche nicht dort sei, auch wenn sie taufen und das Brot des Altars essen; denn das Evangelium ist noch vor Brot und Taufe das einige, gewisseste^ edelste Symbol und Kennzeichen der Kirche, da sie allein durch das Evangelium

269 Daher können auch im Notfall die Sakramente entbehrt werben, aber niemals die Predigt; denn schon durch die bloße Predigt kann der Mensch zum Glauben gelangen, aber nicht allein durch die Sakramente ohne die mit denselben verbundene Predigt. Daher ist es eine unrichtige Behauptung des Katholiken, daß ein ungetauftes Kind nicht in den Himmel kommen könne, sondern nur an eine Art von Zwischenort zwischen Himmel und Hölle. Und wenn wir dem sterbenden Kinde die Nottaufe erteilen, so glauben wir nicht, daß ohne dieselbe das Kind nicht in den Himmel kommen könne. Daß das h. Abendmahl nicht erforderlich sei, um in den Himmel zu kommen, giebt auch der Katholik zu.

b. Weiln so allerdings die Sakramente an Bedeutung zurückstehen hinter der Predigt, so haben doch auch sie eine große Bedeutung für den Menschen. Zwar zunächst könnte man glauben, daß dieselben dem Wesen der christlichen Religion Widerstreiten. Die christliche Religion unterscheidet sich bekanntlich auch dadurch von der jüdischen, daß in der jüdischen Religion die Frömmigkeit und die Sittlichkeit an äußere Dinge gebunden sind, welche für die wahre, die christliche Frömmigkeit und Sittlichkeit keine Bedeutung haben. Von diesen äußeren Dingen hat nun Jesus seine Jünger freigemacht und dieselben zu dem inneren Kern der Frömmigkeit und Sittlichkeit hingeführt. Zur jüdischen Frömluigkeit gehörten z. B. die Beschneidung und das Passahmahl, durch jene wurde der Mensch in das Gottesreich ausgenommen, und durch dieses wurde seine Gemeinschaft mit Gott in jedem Jahre erneuert. Beschneidung und Passahmahl sind für den Christen nicht mehr erforderlich, er tritt in das Gottesreich ein, wenn er durch die Predigt zum Glauben gelangt, und seine Gemeinschaft mit Gott wird erneuert, wenn er das durch die Sünde zerrissene Band der Gemeinschaft mit Gott im Glauben erneuert. Predigt und Glaube sind allein für den Christen notwendig, um mit Gott in Gemeinschaft zu treten und in Gemeinschaft zu bleiben. c. Wenn nun allerdings Taufe und Abendmahl für den Christen nicht so unentbehrlich sind, wie die Predigt, so sind sie dennoch, als von Christus selbst eingesetzt, für den Christen von großer Bedeutung. Zwar wird durch dieselben dem Christen nicht etwas dargeboten, was er durch die Predigt und den Glauben allein nicht erreichen könnte, aber Taufe und Abendmahl sind eine andere Art der Predigt und darum von einer besonderen Kraft und Wirksamkeit. Wenn die Predigt sich vornehmlich an die ganze Gemeinde wendet, so richten sich Taufe und Abendmahl an den einzelnen Christen, um diesen seines Heils zu vergewissern. Was aber jeder einzelne als ihm selber direkt zu teil werdend empfindet, das macht auf ihn einen noch größeren Eindruck als dasjenige, was ihm zugleich mit vielen andern als ein zu erlangendes Gut (durch die Predigt) vorgehalten wird. Einer solchen durch die Sinne vermittelten und ihm, als Einzelnem, direkt zu teil empfangen und gebildet wird, ernährt, erzeugt, erzogen, gestärkt, bewaffnet, bewahrt wird. Kurz das ganze Leben und das ganze Sein der Kirche ist im Worte Gottes." Vgl. Plitt, Augustana II, 2*28.

270 werdenden Vergewisserung der Gnade Gottes bedarf der Christ nicht weniger, als der Jude, und darum hat Jesus in diesen beiden Handlungen äußere Dinge eingesetzt, welche den zweifelnden und schwankenden Menschen dessen vergewissern sollen, daß auch ihm die Botschaft von der Gnade Gottes gilt, auch wenn er die schwersten Sünden begangen hat, auch ihm, auch wenn sein Glaube noch so schwach ist, daß er betet: „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben!"^) Wenn sodann die Predigt durch das Ohr in gewöhnlicher Sprache auf den Menschen wirkt, so verkündigen Taufe und Abendmahl in sinn­ bildlicher Sprache dem Menschen dasselbe, was die Predigt verkündigt. Der Inhalt der christlichen Predigt ist die Verkündigung, daß der Mensch durch Jesus von der Sünde befreit wird. Die leibliche Reinigung, welche in der Taufe dem Menschen zuteil wird, weist sinnbildlich auf die Reinigung seiner Seele von der Sünde hin. Und die sinnbildliche Speisung im Abendmahl wird von Jesus selbst gedeutet als ein Hinweis auf eine Speisung der Seele durch die stets erneuerte Gemeinschaft mit dem durch seinen Tod erworbenen Heil. d.*2) Indem Jesus darauf bedacht war, seiner Gemeinde die geschichtliche Gestalt seines Lebens und Wirkens unvergeßlich einzuprägen, hat er ihr zwar nicht eine schriftliche Übersicht seiner Lehre und seiner Wirksamkeit hinterlassen, aber wohl einerseits seinen auserwählten Jüngern einen besonderen Unterricht erteilt und ihnen aufgetragen, nach seiner Himmelfahrt als Prediger an seine Stelle zu treten und andrerseits seiner Gemeinde in den von ihm eingesetzten Handlungen der Taufe und des Abendmahls Haltpunkte für die richtige Erfassung seiner Bedeutung und seiner Predigt gegeben, welche durch den Fluß der Überlieferung noch weniger auf­

lösbar sind, als seine Predigt. Die von Anbeginn in der Kirche übliche Taufe läßt sich nicht wohl erklären ohne eine zu Grunde liegende Anordnung Jesu, und die Beweggründe einer solchen Anordnung lassen sich unschwer erkennen. Indem seine Gemeinde fzunächstj inner­ halb des Judentums leben und sich doch zugleich von demselben unterscheiden mußte, bedurfte sie eines Aufnahmezeichens, durch welches der Einzelne sich dieser Gemeinde einverleibte. Zu diesem Zwecke griff Jesus auf die sinnbildliche Handlung zurück, mit welcher der Täufer aus dem alten Israel ein neues hervorzubilden gesucht hatte, nur daß natürlich jetzt „auf den Namen Jesu" zu taufen nmr.3) Der Sinn der Handlung, Sinnesänderung und Vergebung, blieb natürlich derselbe, nur daß, was der Täufer mehr abgebildet als mitgeteilt hatte, jetzt als durch den Glauben an Jesum sich wirklich vollziehendes Erlebnis vorgehalten und besiegelt ward. So verkündet diese Handlung den ganzen Sinn der Erscheinung Jesu, daß er gekommen sei, um die Menschen von der Schuld und der Macht der Sünde zu befreien; auch die Taufe ist eine Predigt von Christus. Ebenso ist es nicht mit Grund zu bezweifeln, daß Jesus das heilige Abend0 Ju der Art der Sakramente wirkt auch die Predigt, wenn sie bei der Privatabsolution sich direkt an den einzelnen Menschen wendet. -) Beyschlag, NTliche Theol. I, 171s. 3) Dies könnte vielleicht die ursprüngliche Taufformel gewesen sein, von welcher dann die bei Matth. 28, 18 mitgeteilte (wenn sie, wie neuere Forscher meinen, nicht buchstäblich von Jesus herstammen sollte) als eine (sachlich angemessene) Erweiterung anzusehen wäre.

271 mahl als einen bleibenden Brauch seiner Jüngergemeinde habe stiften wollen. Daß das nur von Lukas und Paulus mitgeteilte Wort „Das thut zu meinem Gedächtnis" in den andern Evangelien (die ja jünger sind als der Korintherbrief> fehlt, thut nichts zur Sache. Wenn Jesus nicht die Absicht gehabt hätte, einen bleibenden Ritus zu stiften, so ist es unbegreiflich, warum er überhaupt nach einem sinnbildlichen Ausdruck für seinen Todesgedanken gegriffen hat, statt denselben einfach iu Worte zu fassen. Erst wenn wir in jener Handlung die Stiftung eines Denkmals erblicken, welches für die Zeit, in der er seinen Jüngern nicht mehr sichtbar vor Augen stehen werde (1. Kor. 11, 26: „Bis daß er kommt"),, ihnen sein Bild und sein Werk ins Gedächtnis zurückrufen solle, gewinnt der ganze Vorgang sein Licht. In der- einfachsten Form bildet Jesus aus Elementen der ATlichen Passahmahlzeit ein heiliges Opfermahl des Neuen Bundes hervor, welches für alle Zeit vergegenwärtigt, was er für die. Seinen gethan hat. Daß er alle seine Jünger als bedürftig der Befreiung von der Schuld und der Macht der Sünde betrachtet hat, sich selbst aber als das unschuldige Gotteslamm, welches sein Leben für sie hingebe zur Stiftung eines neuen Bundes, in welchem sie von der Schuld und von der Macht der Sünde befreit werden; daß er gewußt hat, er gebe sein Leben nicht dahin in den Untergang, sondern zu einer höheren Wiederherstellung, in der es Speise und Trank für die von ihm erworbenen Seelen sein werde — diesen Inbegriff und Höhepunkt seines Heilandsbewußtseins hat er in dieser schlichten Feier für alle Zeit bekundet. Und eben damit hat er seiner künftigen Gemeinde für ihre Versammlungen und Feiern einen Mittelpunkt geschaffen, wie er wirksamer nicht gedacht werden kann, einen Akt, der diese Gemeinde immer wieder lebendig hineinzieht in das Erlebnis der größten heilsgeschichtlichen Stunde, in die Geistes­ und Lebensgemeinschaft mit ihm, dem für sie Gestorbenen und Auferstandenen, und der mit den Liebesbanden dieser Gemeinschaft zugleich die brüderlichen Liebesbande knüpft, welche die Feiernden als Kinder eines Vaterhauses und Gäste einesGnadentisches unter einander verknüpfen muß. Wenn also durch die Taufe die neue Gemeinde von der alten und von derWelt geschieden wird, so ist das Abendmahl als der immer wieder aufzusuchende Sammelpunkt der Gemeinde anzusehen; der in der Welt vorhandenen sichtbaren Gemeinde stellen beide Handlungen den Heilsgedanken und die Heilsthat Jesu sicht­ bar vor Augen, unterscheiden sie von der Welt und lassen sie sich immer aufs neue in Jesus zusammenfinden. So sind auch Taufe und Abendmahl eine Predigt von Christus. e.1) So haben die äußeren Handlungen der Taufe und des Abendmahls für den Christen, obwohl sie ihm kein specifisches Heilsgut darbieten, das er nicht auch sonst durch den Glauben erhielte, dennoch eine große innere Bedeutung. Wenn man bedenkt, wie ganz und gar das Christenleben auf den Geist gestellt ist, und nun unvermeidlich hierbei fortwährend die Gefahr ist, durch Vermischung oder Verwechselung göttlichen und menschlichen Geistes von dem ein für alle Mal gelegten Grunde abzukommen, dann bewundert man immer aufs neue die göttliche Weisheit dieser beiden Stiftungen, deren eine das innere Erlebnis der ersten Zuwendung zu Christus, deren andere die immer neue Aneignung des christlichen Heilsgutes dem Christen auch in einer sinnlich-wahrnehmbaren Handlung

immer aufs neue vor Augen stellt.2) ') Beyschlag, NTl. Theol. H, 239. 2) Holtzmann NTl. Theol. II, 185: „Das Verhältnis beider die religiöse

272 60. Wesen und Zahl der Sakramente.

a. Wenn zunächst durch das Wort Gottes dem Meuschen das Heil nahegebracht wird, so wird dasselbe ihm auch noch in anderer Weise dargeboten, nämlich durch die Taufe und das h. Abendmahl, heilige Handlungen, bei welchen dem Menschen unter äußeren Zeichen die unsichtbaren Heilsgüter, Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit, dargeboten werden. Die Wirkung dieser heiligen Handlungen ist von der Wirkung des Wortes Gottes nicht verschieden, aber ihre Wirkungsweise ist verschieden. Während dem Menschen das Heil durch das Wort für das Ohr dar­ geboten wird, so wird durch Taufe und Abendmahl dem Menschen das Heil für das Auge dargeboten; und während in der Predigt das Heil der Gesamtheit dargeboten wird, so wird im Sakrament das Heil dem einzelnen Menschen dargeboten. Zum Unterschiede von andern heiligen Handlungen, welche ihnen an Wert nachstehen, werden nun seit alter Zeit Taufe und Abendmahl Sakramente genannt, indem man unter einem Sakrament (ohne daß in diesem Worte dieser Begriff enthalten ist)1) eine solche heilige Handlung versteht, welche von Christus selbst eingesetzt ist, und bei welcher dem Menschen unter sichtbaren Zeichen unsichtbare Gnadengüter dargereicht werden. Diese Definition paßt aber nicht auf die Predigt (weil bei der­ selben kein sichtbares Zeichen vorhanden ist), sondern nur auf Taufe und Abendmahl; die Predigt ist ein Gnadenmittel, aber kein Sakrament. b. Da nun der Name „Sakrament" der Bibel unbekannt ist, so könnte es als ein bloßer Wortstreit erscheinen, wenn die evangelische und die katholische Kirche sich über die Zahl der Sakramente streiten; die katholische Kirche könnte ja dies Wort in einem weiteren Sinne gebrauchen, als die evangelische Kirche, und man könnte ihr dann nicht das Recht be­ streiten, sieben (oder auch noch mehr) heilige Handlungen als Sakramente zu bezeichnen. Aber die katholische Kirche versteht das Wort „Sakrament" in demselben Sinne wie die evangelische Kirche, und sie behauptet dennoch, daß es sieben von Christus selber eingesetzte heilige Handlungen gebe, bei welchen unter sichtbaren Zeichen dem Menschen unsichtbare Gnadengüter dargereicht werden. Wenn das richtig wäre, dann müßten wir Evangelischen alle diese heiligen Handlungen vollziehen, bez. an uns vollziehen lassen, um uns des durch sie dargebotenen Segens nicht zu berauben. Welches sind nun die katholischen Sakramente? Nach der katholischen Lehre wird das ganze Leben des Menschen von einem Kranze heiliger Handlungen umschlossen und geweiht. Der neu­ geborene Mensch empfängt die Taufe; das herangewachsene Kind empfängt Gemeinschaft konstituierenden Akte entspricht jedenfalls der reformierten Formel: nascimur, pascimur; wenn die Taufe den Bundes schluß darstellt, so wird durch das Abendmahl die Bundesgemeinschaft erhalten." *) Das Wort sacramentum bedeutet eigentlich „heilige Handlung", dann besonders den Treueid des Soldaten. In der' Kirchensprache diente es aber zur Übersetzung des griechischen Wortes irvorrjotov d. h. Geheimnis, womit in der griechischen Kirche die geheimnisvollen Handlungen der Taufe und des Abendmahls und andere Einrichtungen und Lehren des Christentums bezeichnet wurden.

273 die Absolution (b. h. Sündenvergebung), die Firmelung und das heilige Abendmahl; der erwachsene Mensch empfängt die Ehe oder die Priester­ weihe; der Sterbende empfängt die letzte Ölung.

Aber sind das alles wirkliche Sakramente? Bei der Absolution fehlt das sichtbare Zeichen; sie ist also nur eine heilige Handlung, die wir ja ebenfalls haben und als berechtigt anerkennen, obwohl wir die Ohrenbeichte nicht haben und einen Priester nicht kennen, der eine absonderliche göttliche Gewalt hätte zur Vergebung der Sünden.

Die Firmelung ist von Christus nicht eingesetzt; ein Sakrament ist sie also nicht, aber auch von uns als eine berechtigte heilige Handlung (Konfirmation) anerkannt.

Die Ehe ist natürlich nicht von Christus eingesetzt, aber die Trauung ist eine heilige Handlung, wenn auch nicht ein Sakrament; ebensowenig ist ein Sakrament die Priesterweihe, zumal da es im Neuen Bunde nach unserer Meinung kein Priestertum mehr giebt, aber die Ordination und die Einführung des Geistlichen in sein Amt sind heilige Handlungen. Die letzte Ölung knüpft an eine Sitte der alten Kirche an „(Jak. 5, 14—15); aber die früher übliche Salbung der Kranken mit Öl sollte nicht für ein seliges Sterben vorbereiten, sondern dem Kranken Genesung verschaffen (natürlich nicht durch das bloße Salben mit Öl, wie durch ein Zaubermittel, sondern durch das mit der als heilsam betrachteten Salbung verbundene Gebet — welches natürlich auch damals nicht jeden gesund machte). Wir beten ebenfalls für den Kranken um Genesung, halten aber die Salbung mit Öl nicht für nötig, und dem Sterbenden geben wir, wenn er danach verlangt, das h. Abendmahl, nicht aber eine „letzte Ölung".

c. So bleiben also von den sieben angeblichen Sakramenten der Katholiken nur zwei übrig, Taufe und Abendmahl, welche wirklich von Christus eingesetzt sind, und bei welchen dem Menschen unter sichtbaren Zeichen unsichtbare Gnadengüter dargereicht werden. Die übrigen Hand­ lungen der katholischen Kirche werden von uns teils verworfen (letzte Ölung und Priesterweihe), teils nur als heilige Handlungen betrachtet (Absolution, Konfirmation und Ehe). Aber der Kreis der heiligen Hand­ lungen ist mit den genannten Handlungen nicht erschöpft; das Begräbnis ist z. B. ebenfalls eine heilige Handlung. Aber unter allen diesen heiligen Handlungen nehmen die beiden Sakramente und die Predigt nach unserer Meinung die erste Stelle ein, als die von Gott verordneten Gnadenmittel zur Gründung und Förderung und Erhaltung des Reiches Gottes auf Erden, und noch wichtiger, als die Sakramente, die ja im Notfall entbehrt werden können, ist die Predigt; die Predigt allein ist für den Menschen unentbehrlich, um zum Glauben an die Gnade Gottes in Christus gelangen zu können, und ohne die Predigt wären ja die Sakramente für den Menschen völlig unverständlich und darum unwirksam. d. Von den Sakramenten im allgemeinen handelt nun Artikel 13 der Augsb. Confession in folgender Weise. Zwar sind die Sakramente auch „Zeichen, dabei man äußerlich die Christen erkennt", aber sie sind das nicht allein, und sie sind nicht vor­ nehmlich dazu eingesetzt, um den bereits vorhandenen Glauben zu beHeidlich, Glaubenslehre. 18

274 zeugen,sondern sie sind, wie das Wort Gottes, ebenfalls Gnadenmittel, dazu eingesetzt, um „den Glauben dadurch zu erwecken und zu stärken." Wenn aber die Sakramente diese Wirkung haben sollen, so dürfen sie ebenso wenig, wie das Wort, bloß äußerlich ausgenommen werden, wie die katholische Kirche lehrt, sondern „sie werden dann r e ch t gebraucht, so man sie im Glauben empfähet und den Glauben dadurch stärket." Warum nun die Evangelischen die Zahl der Sakramente gegenüber der katholischen Kirche beschränkt haben, indem sie von den sieben katholischen Sakramenten nur zwei als wirkliche Sakramente anerkennen, ist oben genauer dargelegt worden; nur von diesen beiden Sakramenten handeln Luthers Katechismus und die Augsb. Confession. Zwar ursprünglich glaubten die Evangelischen in der Buße noch ein drittes Sakrament zu erkennen, aber diese Anschauung ist bald aufgegeben worden, so daß heute alle evangelischen Kirchen nur zwei Sakramente kennen. ^)

c. Wenn nun die lutherische und die reformierte Kirche von der katholischen Kirche in der Lehre von den Sakramenten erheblich abweichen^ und ebenso von den Sekten sich erheblich unterscheiden, welche die Sakramente teils für unnötig halten (so die Quäker, welche alles auf die unmittel­ bare Wirksamkeit des heiligen Geistes zurückführen), teils nur für Sinn­ bilder des Heils, aber nicht für Gnadenmittel halten (so die Socinianer und die Mennoniten), so weichen beide evangelischen Kirchen doch auch in dieser Lehre von einander ab. Der Unterschied ist zwar heute nicht mehr so groß, wie er ursprünglich zwischen Luther und Zwingli war, da die reformierte Kirche durch Calvin der lutherischen Kirche nähergebracht worden ist, aber er ist allerdings vorhanden; jedoch ist dieser Unterschiednach unserer Meinung nicht so bedeutend, daß um seinetwillen eine Trennung der beiden Kirchen notwendig war. Auch nach der Lehre der reformierten Kirche sind nämlich die Sakramente nicht bloß Sinnbilder, sondern wenn auch nicht Gnadenmittel im strengsten Sinne, so doch Zeichen dessen, was der heilige Geist bei ihrem Empfange im Menschen wirkt. 4*)2 3 Aber während bei den Lutheranern Zeichen und Sache schon im Element, wie Luther sagte, oder wenigstens bei der sakramentischen Hand­ lung, wie die Concordienformel noch treffender sagte, verbunden sind, so daß jeder Empfangende das Heilsgut empfängt, verbinden sich für den Reformierten Zeichen und Sache nur beim gläubigen Empfang des Sakramentes; das h. Abendmahl ist ein „Seelenessen" (wie es mit Recht auch in dem bekannten lutherischen Kirchenliede genannt wird), welches nur dem Gläubigen zu teil wird. Aber um dieses Unterschiedes willen x) Wie Zwingli lehrte und auch Calvin trotz seiner Annäherung an Lutherfesthielt; beiden erschienen die Sakramente nicht als Mittel, um den Glauben zu stärken, sondern nur als Mittel, um denselben zu üben und zu entfalten. 2) Das gilt auch für die Kindertaufe, indem der Segen der heiligen Handlung dem Kinde doch erst dann zu teil wird, wenn es zum Glauben gelangt.. 3) Nur von einigen Mennoniten 'toirt) denselben noch als ein von Christus voraeschriebener heiliger Gebrauch (wenn auch nicht als Sakrament) die Fuß­ waschung zur Seite gestellt, und dieselbe ist auch in der katholischen Kirche in. beschränkter Weise üblich. 4) Vgl. Winer-Ewald, Lehrbegriff4, S. 169.

275 brauchten beide Kirchen sich nicht von einander zu trennen, sondern die in der Neuzeit bewirkte Union beider Kirchen ist vollständig berechtigt.

61. Die heiligen Handlungen im Leben des Christen?) Wenn die katholische Kirche einen großen Wert darauf legt, daß das ganze Leben des katholischen Christen von heiligen Handlungen der Kirche getragen und verklärt werde, so ist diese Behauptung nicht unrichtig; aber auch das Leben des evangelischen Christen entbehrt nicht der kirchlichen Weihe und der christlichen Heiligung. Aber freilich der evangelische Christ vermag nicht alle heiligen Handlungen der katholischen Kirche für berechtigt zu erklären, und diejenigen, welche wir für berechtigt erklären, werden von uns zum Teil anders gewürdigt. Im folgenden soll nun dargelegt werden, von welchen heiligen Handlungen das Leben des Christen getragen und verklärt wird.

A. Der Eintritt in die christliche Kirche. I. Geschichtliche Darlegung.

a. Wenn in der alten Zeit Erwachsene (nicht Kinder) zum christlichen Glauben übertreten wollten, so mußten sie (wie das noch heute in den heidnischen Ländern geschieht) zunächst im christlichen Glauben unterwiesen werden, und wenn auch in der Bibel eine solche Unterweisung nicht aus­ drücklich gefordert würde,*2) so ist sie doch, als selbstverständlich und unent­ behrlich, gewiß jedem Heiden zu teil geworden. Solche Leute wurden nun in der alten Kirche „Katechumenen" genannt.3)4 Dieselben zerfielen nicht, wie man bisher annahm, in verschiedene Abteilungen/) aber wohl unter­ schied man von den eigentlichen Katechumenen diejenigen, welche demnächst getauft werden sollten, die Taufkandidaten. Während die Katechumenen in verschiedener Weise unterrichtet wurden, wurden die Taufkandidaten seit dem Beginn der Fastenzeit vor Ostern durch den Bischof oder einen Presbyter unterrichtet, um am Osterfeste, dem gewöhnlichen Tauftermin,5) getauft zu werden. Während der Osterwoche, *) Bei dieser zusammenfassenden Darlegung, welche die Sache auch noch vom geschichtlichen Standpunkte aus betrachtet, werden auch die Sakramente (mit Recht) als heilige Handlungen betrachtet. 2) Mt. 28, 19—20 enthält diesen Befehl vielleicht nicht, wie manche Forscher annehmen, denn wenn es hier nach dem Grundtext heißt, daß die Apostel alle Völker zu Jüngern Jesu machen sollen, indem sie dieselben taufen und unterrichten, so könnte unter dem hier geforderten Unterricht der weitere Unterricht der bereits Getauften gemeint sein, nicht der Anfangsunterricht, der dann als selbstverständlich hier mcht genannt wäre. 3) Zuerst im dritten Jahrhundert vorkommend (bei dem Kirchenlehrer Tertullianus); das griechische Wort, von dem diese Bezeichnung herstammt, ist schon im N. T. vorhanden; aber das Gal. 6,6 vorkommende griechische Wort (Katechumenos) bezeichnet nicht den späteren noch nicht getauften „Katechumenen", sondern den von einem anderen Christen unterrichteten bereits getauften Christen. 4) Die angeblichen Abteilungen der Katechumenen waren vielmehr Ab­ teilungen der Büßenden, aber nur in der morgenländischen Kirche. ß) Daneben wurde auch Pfingsten, zum Teil auch am Epiphanienfeste oder Weihnachten getauft.

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bis zum nächsten Sonntage, an welchem die Getauften zum ersten Mal nicht mehr in ihren weißen Taufkleidern in der Kirche erschienen/) wurden die Getauften erst über das Wesen der Taufe und des Abendmahls unter­ wiesen — man meinte fälschlich, daß diese heiligen Handlungen einen größeren Eindruck auf den Menschen machten, wenn er nichts davon ver­ stehe. Diese eigentümliche Anschauung hing aber damit zusammen, daß man — durch die heidnischen Mysterien dazu verleitet — im dritten Jahrhundert anfing (und diese Sitte hat sich etwa bis zum Jahre 500 erhalten), die christlichen „Mysterien", als welche man die Sakramente, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser betrachtete, vor den Heiden möglichst geheimzuhalten, das Christentum als die Vollendung der heidnischen Mysterien anzusehen, und die dort üblichen Sitten auf die christlichen Sakra­ mente zu übertragen?) b. Wenn nun in der alten Kirche (wie noch heute in den Heiden­ ländern) zunächst nur Erwachsene getauft wurden, so ist doch schon um das Jahr 2003*)4 2 auch 5 die Kindertaufe üblich, und etwa um das Jahr 500 ist dieselbe allgemein durchgeführt worden. Wenn aber die Kinder getauft wurden, so schien es angemessen, denselben auch schon das h. Abendmahl zu geben, und so entstand zugleich mit der Kinder taufe auch die Kinder­ kommunion/) und in der morgenländischen Kirche empfangen noch heute die Kinder alsbald nach der Taufe das h. Abendmahl, indem ihnen (ebenso wie den Erwachsenen) in einem Löffel Wein mit einem Stückchen der in den Wein hineingelegten Hostie dargereicht wird. Auch in der abendländischen Kirche galt diese Sitte als berechtigt, und zwei Päpste des fünften Jahr­ hunderts haben diejenigen Kinder, welche vor dem Genusse des h. Abend­ mahls sterben, sogar der Hölle zugewiesen — während doch nach heutiger katholischer Lehre nur diejenigen Kinder, welche vor der Taufe sterben, zwar nicht der Hölle, aber einer Art von Mittelort zwischen Himmel und Hölle zugewiesen werden. Schon um das Jahr 1200 begann zwar in der abendländischen Kirche der Kampf gegen die Kinderkommunion, aber erst durch das Concil von Trient ist dieselbe in der abendländischen Kirche abgeschafft worden. c. Wenn schon der alten Kirche, wo noch nur Erwachsene getauft wurden, denselben Patent zur Seite standen, welche für die Ehr­ lichkeit der Absicht des Täuflings bürgten und ihm ratend und leitend zur Seite standen, so wurde diese Einrichtung erst recht notwendig, seitdem die Kindertaufe allgemein wurde; nunmehr mußten die Paten versprechen, für die christliche Erziehung des Kindes zu sorgen. Bis zum Ende des *) Nach der gewöhnlichen Deutung erschienen an diesem Sonntage die Täuf­ linge zum letzten Male in ihren weißen Taufkleidern in der Kirche. Der Sonntag hieß aber eigentlich dominica post albas d. h. der Sonntag nach den weißen Taufkleidern. 2) Der für diese Geheimhaltung in den wissenschaftlichen Buchern übliche Ausdruck „Disciplina arcani" stammt von D alläus (1666). 3) Der älteste Zeuge für die Kindertaufe ist der Kirchenlehrer Irenäus (f c. 200). 4) Dieselbe ist schon von dem Kirchenlehrer Cyprianus als Sitte des 3. Jahr­ hunderts bezeugt. 5) Pate kommt her von pater —Vater; das Wort bezeichnet also dasselbe wie Gevatter, d. h. Mitvater.

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8. Jahrhunderts fungierten nun gewöhnlich die E l t e r n als die Paten des Kindes; erst im I. 813 wurde diese so naheliegende und natürliche Ein­ richtung ausdrücklich verboten, und dieses Verbot ist mit Unrecht auch in die evangelischen Kirchenordnungen ausgenommen worden, und da nun für die christliche Erziehung des Kindes doch zunächst nur die Eltern des Kindes sorgen können, so ist das Paten-Jnstitut eine ziemlich bedeutungslose Sache geworden. (1. Hinsichtlich des Vollzugs der Taufe ist folgendes zu bemerken?) a. Wenn die Taufe nach der richtigen Übersetzung des Grundtextes vollzogen wird „in den Namen des Vaters u. s. w.", so bedeutet das, daß durch die Taufe der Mensch ein Eigentum des dreieinigen Gottes werde?) Aber der Sinn dieser griechischen Formel, für welche es im Lateinischen keinen entsprechenden kurzen Ausdruck giebt, ist schon im 3. Jahrhundert nicht mehr verstanden worden, und es ist dafür in der abendländischen Kirche ^) eine Formel mit ganz anderem Sinne eingesetzt worden: „im Namen", welche gedeutet wurde: „im Auftrage", wodurch zwar der Täufer legitimiert, aber das Wesen der Taufe nicht bezeichnet wird. Zwar Zwingli hatte den Sinn der alten Formel richtig erkannt und für sein Reformations­ gebiet die richtige Formel wieder zur Geltung gebracht; aber die anderen evangelischen Kirchen, auch die Calvinischen, haben an der unrichtigen Formel sestgehalten?) ß. Auch in der evangelischen Kirche sind nicht überall alle katholischen Bräuche bei der Taufe beseitigt worden, sondern es stehen in Deutschland einander zwei Taufformen gegenüber, die sächsische und die schweizerische. Die in der lutherischen Kirche üblich gewordene Weise der Taufe (die sächsische Taufform) beruht auf Luthers „Taufbüchlein", welches zuerst im I. 1523 und dann in neuer Form im I. 1526 erschienen ist. Durch dasselbe ist zwar die allmählich in der katholischen Kirche üblich gewordene Taufweise vereinfacht und umgestaltet worden, aber es hat sich doch manches erhalten, was unserem Glauben nicht recht entspricht. Daß als Paten eigentlich die Eltern fungieren müßten, in deren Hand doch zunächst die christliche Erziehung des Kindes liegt, ist schon oben bemerkt worden. Daß der Täufling nicht einen Glauben bekennen kann, den er noch nicht hat (auch nicht durch die für ihn eintretenden Paten), versteht sich von selbst; diese Frage wäre also gar nicht erst an den Täufling zu richten, sondern an die Paten, wie in der schweizerischen Formel geschieht. Wenn der Apostel Paulus von den Christenkindern sagt, daß sie geheiligt sind (1. Kor. 7, 14), nämlich durch das Heranwachsen im christlichen Hause, so dürfte bei der Taufe nicht gesagt werden: „Fahre aus, du unreiner Geist!" Die Christenkinder sind nicht vom Teufel beJ) Die Frage nach der Berechtigung der Kindertaufe ist oben behandelt; vgl. Nr. 58 c. 2) Vgl. Achelis, Prakt. Theol? 1, § 99 nach Deißmann, Bibelstudien S. 145. 3) Die morgenländische Kirche hat an der richtigen Formel festgehalten. 4) Dagegen ist im Consistorialbezirk Kassel im I. 1896 die richtige Formel „In den Namen" wieder hergestellt worden; ich möchte aber glauben, daß, wenn man einmal ändert, es noch näher läge, im Anschluß an das bekannte Kirchenlied („Ich bin getauft auf deinen Namen") zu sagen: „Auf den Namen" — was wohl auch verständlicher wäre als: „In den Namen."

278 sessen; diese Formel hatte eine gewisse Berechtigung bei der Taufe der übertretenden Heiden, die ihre Götter, wenn sie Christen wurden, als böse Geister ansahen; aber die Weise, wie in der alten Kirche diese bösen Geister von den Täuflingen ausgehaucht und angespieen1)* und vom Taufenden aus­ getrieben wurden, hängt doch allzu sehr mit dem Aberglauben der alten Kirche zusammen, den zwar die katholische Kirche noch festhält, aber die evangelische Kirche nicht mehr als richtig anerkennt; wir wollen zwar, wie es in Luthers Katechismus heißt, frei werden „von der Gewalt des Teufels", aber unser Pastor ist kein Teufelsbeschwörer, wie die Exorcisten der alten Kirche, ?) und unsere Kinder können nicht einem Teufelsdienst entsagen, den sie nicht geübt haben, und noch weniger durch den in der lutherischen Kirche zum Teil noch üblichen Exorcismus von einem Teufel befreit werden, der nach unserer Meinung nicht in ihnen wohnt. Dieser Brauch ist deshalb mit Recht in der ganzen schweizerischen Kirche und auch in einem Teil der lutherischen Kirche beseitigt worden. y. Während das h. Abendmahl nach der Lehre der katholischen Kirche nur vom Priester gehalten werden kann, da nur ein solcher die Macht hat, Brot und Wein in Leib und Blut Christi zu verwandeln, darf nach der Lehre dieser Kirche die Taufe von jedem Menschen, selbst von einem Juden und einem Heiden, vollzogen werden, wenn nur der Täufling mit Wasser besprengt und die Taufformel gebraucht wird, und zwar in der Absicht, das zu thun, was die Kirche thut. In der evangelischen Kirche bricht sich allmählich die Ansicht Bahn, daß die Absicht, das zu thun, was die Kirche thut, doch wohl nur bei einem christlichen Täufer angenommen werden dürfe; aber eine Anordnung der Kirchenbehörden ist in dieser Frage, die wohl in Wirklichkeit nur selten zur Verhandlung kommt, bisher nicht erfolgt. e. Als die Kirche endlich — woran sie zunächst nicht gedacht hatte — daran dachte, daß mit der Einführung der Kindertaufe der früher der Taufe vorangehende Unterricht nunmehr derselben nachfolgen müsse, da galt es nun als Sache der Paten, für den christlichen Unterricht des Täuflings zu sorgen, für welchen zunächst weder Kirche noch Schule sorgten. Dieser Unterricht erstreckte sich allerdings nur darauf, den Kindern das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser einzuprägen;3) erst im späteren Mittelalter hat die Kirche einigermaßen für die Unterweisung der Kinder gesorgt, aber noch mehr einerseits die Zünfte, welche sich ihrer Lehrlinge annahmen, und andrerseits die von den Städten gegründeten Schulen, welche die Jugend auch im christlichen Glauben unterwiesen. f. Im letzten Drittel des Mittelalters wurde aber für die kirchliche Unterweisung der Jugend von Bedeutung auch eine erst allmählich üblich gewordene Einrichtung der Kirche, nämlich die Beichte, welche auch von der Jugend gefordert wurde. Die Privatbeichte ist im Abendlande bis ins x) Vgl. Achelis, Prakt. Theol? I, S. 444, Anm. 1. j Nach dem katholischen Brevier ist das auch noch heute der katholische Priester; daher war die bekannte Teufelsaustreibung in Wemdingen nicht unkirchlich, aber freilich auch nicht mehr gewöhnlich. 3) Daß der Dekalog noch nicht ein Hauptstück der christlichen Unterweisung war, ist anderwärts dargelegt worden; vgl. meine Kirchengesch. Nr. 57, 2. Aufl.: Nr. 69.

279 5. Jahrhundert nicht zu finden; allmählich ist sie durchgesetzt und im I. 1215 zum kirchlichen Gesetz gemacht worden. Indem nun die Beichte auch von den Kindern gefordert wurde, und zwar die erste Beichte frühestens mit dem siebenten, spätestens mit dem vierzehnten Lebensjahre, wurde das, was von jedem Beichtenden gefordert wurde, auch von den Kindern ge­ fordert, daß sie nämlich den Glauben und das Vaterunser aufsagen könnten, und wenn sie das nicht könnten, diese Hauptstücke erst lernen müßten, bevor sie die Absolution (die Lossprechung von den Sünden) empfingen. g. Wenn man nun danach fragt, womit die kirchliche Unterweisung der Kinder als beendet gelten könne, so hat erst die evangelische Kirche als das Ziel dieses Unterrichts den ersten Empfang des h. Abendmahls deutlich erkannt; „zum Sakrament zu gehen", „zum Sakrament zugelassen zu werden" — das ist das Ziel des kirchlichen Unterrichts für die Kinder. Aber diese Vorbereitung der Kinder für den Empfang des h. Abend­ mahls, zu welcher Geistliche und Küster, Paten, Eltern und Lehrer ermahnt wurden, blieb zunächst ein frommer Wunsch, da alle Verpflichteten ihrer Pflicht wenig genügten, in der reformierten Kirche allerdings mehr als in der lutherischen Kirche. Da kam allmählich eine neue Einrichtung auf, welche als eine Bürgschaft dafür gelten sollte, daß das Ziel des kirchlichen Unterrichts erreicht werde, nämlich die Konfirmation. Dieselbe ist nun zwar kein Sakrament, wie die katholische Firmelung, aber sie ist eine wohlberechtigte heilige Handlung, welche schon in der alten evangelischen Kirche allmählich aufgekommen aber doch erst durch den Pietismus allgemein geworden ist. In derselben erklärt der herangewachsene Christ, daß er das Gelübde, das einst seine Paten bei der Taufe für ihn abgelegt haben, selber als bindend anerkennen, daß er als Christ leben und sterben wolle. Wenn nun das Kind dies Gelübde in rechter Weise ablegen sollte, so mußte es durch einen geordneten und ausreichenden Unterricht mit dem christlichen Glauben bekannt gemacht werden, und so entstand der Konfirmanden-Unterricht, dem allmählich auch (seit der Durchführung des Schul­ zwangs) der Religionsunterricht in der Schule zur Seite getreten ist. Seitdem war das endlich erreicht, was die Kirche seit langer Zeit ver­ geblich erstrebt hatte: ein ausreichender Unterricht für die getauften Kinder.

II. Der Eintritt in die Kirche in der Gegenwart. a. Wenn heute christlichen Eltern ein Kind geboren wird, so wird dasselbe in fast allen Kirchen (mit Ausnahme der Wiedertäufer) x) nicht lange nach der Geburt getauft-) und damit in die christliche Kirche aus­ genommen, in der Hoffnung, daß dasselbe durch den in der Kirche wirkenden Geist Gottes (der ihm in seinen Eltern, Lehrern und Geistlichen wirksam entgegentritt) dereinst zum Glauben geführt werde und in die Gemeinschaft

*) Die Quäker halten allerdings die Taufe überhaupt nicht für nötig; die Socinianer halten dieselbe für Christenkinder nicht für nötig. 2) Dabei wird von den Protestanten und den Katholiken das Kind nur mit Wasser besprengt, von den Griechen (wie von den Wiedertäufern) dagegen nach altchristlicher Sitte untergetaucht.

280 des dreieinigen Gottes, auf den es getauft wird, eintreten werde. Dafür daß das Kind christlich erzogen werde, versprechen die Paten Sorge zu tragen; es kommt natürlich vornehmlich auf die Eltern an, ob das geschieht. Wenn nun etwa ein Kind stirbt, ehe es getauft wird, so wird es nicht, wie der Katholik lehrt, vom Himmel ausgeschlossen (so daß es in eine Art von Vorhof der Hölle gelangt)*); die Nottaufe ist daher nicht geboten; aber dieselbe darf doch auch nicht verboten werden, wenn die Eltern wünschen, daß das todkranke Kind noch getauft werde. Allerdings darin haben die Wiedertäufer recht, daß die Kindertaufe im N. T. weder geboten noch auch vorhanden ist; dieselbe ist erst später (etwa im 3. Jahrhundert) üblich geworden. Aber was die Wiedertäufer thun, ist noch weniger richtig. Wenn sie fordern, daß der zu taufende Christ schon Glauben haben müsse, so stellen sie damit eine Forderung auf, welche doch besser in der Kirche erfüllt wird, als außerhalb der Kirche. Wenn sie aber sogar durch Abstimmung darüber entscheiden wollen, ob jemand Glauben habe und getauft werden dürfe, so maßen sie sich etwas an, was kein Mensch leisten kann, nämlich ein sicheres Urteil zu fällen über den Herzensstand des Menschen. Daß sie das aber thun, beruht auf dem unrichtigen Begriff, den sie von der Kirche haben, daß die Kirche schon hier auf Erden eine wirkliche „Gemeinde der Heiligen" sein müsse, während doch Jesus seinen Jüngern geboten hat, Unkraut und Weizen neben einander wachsen zu lassen bis zur Ernte, wo Gott beides von einander scheiden werde. Da es nun unmöglich ist zu bestimmen, wann der Mensch für die Taufe bereits empfänglich oder am meisten empfänglich ist, so taufen wir schon die Kinder, und betrachten uns dadurch als erst recht verpflichtet, sie Gott Zuzuführen. Uber die Wirkung der Taufe denken allerdings die verschiedenen Kirchen sehr verschieden. Während die Socinianer in derselben nur eine Ceremonie erblicken, durch welche der Eintritt in die Kirche bezeichnet werde (was alle Parteien nicht für unrichtig halten) und die Mennoniten in ihr noch ein Sinnbild der Zusicherung der göttlichen Gnade sehen (was ebenfalls nicht unrichtig ist), legen Katholiken und Protestanten der Taufe eine göttliche Kraft zur Wiedergeburt bei, so daß sie also die Taufe als ein Gnadenmittel (und um des mit ihr verbundenen äußeren Zeichens willen als ein Sakrament) betrachten. Aber während die Katholiken (auch die Griechen) behaupten, daß durch die Taufe die Macht und die Schuld der Erbsünde zugleich aufgehoben werden, glauben die Protestanten (mit Recht), daß die Macht der Erbsünde auch in den Ge­ tauften bestehen bleibe, so daß nur die Schuld der Erbsünde aufge­ hoben werde. b. Wenn nun das getaufte Kind heranwächst, so entwickelt sich aller­ dings auch in ihm die Erbsünde zu wirklicher Sünde; aber es wird sich beim Kinde auch der Einfluß des in der Kirche waltenden Geistes Gottes geltend machen, allerdings nur dann, wenn derselbe durch Eltern, Lehrer und Geistliche an das Kind herantritt, nnd es ist das Ziel der Erziehung, daß das Kind zum bewußten Christen werde. Wenn nun 0 Winer-Ewald, Lehrbegr? S. 218.

281 das Kind einigermaßen herangewachsen ist (bei uns etwa dann, wenn es die Schule verläßt oder wenigstens verlassen könnte), dann wird es durch den ihm vom Pastor der Gemeinde erteilten Konfirmanden-Unterricht, dem seit der Einführung des Schulzwangs der Schulunterricht zur Seite steht, vorbereitet für eine heilige Handlung, welche allerdings in der evangelischen Kirche erst nach der Reformationszeit (im 17. Jahrh.) allgemein zur Sitte geworden, aber heute fast allgemein verbreitet ist, nämlich die Konfirmation, d. h. die eigene Bestätigung des Taufbundes seitens des Kindes, der einst durch die Paten statt des Kindes geschlossen worden ist. Wozu in der Taufe die Paten verpflichtet worden sind, das Kind zum Christen zu er­ ziehen, das verspricht das Kind nunmehr selbst werden zu wollen, ein Christ, der den Glauben der Kirche sich immer mehr aneignen, nach den Geboten Gottes leben und auch die ihm allmählich zukommenden kirchlichen Pflichten erfüllen will. Aber nicht ein Sakrament ist die Konfirmation, wie die katholische Kirche behauptet (welche dieses Sakrament der Firmelung sogar nur durch einen Bischof verwalten läßt), sondern nur eine heilige Handlung, denn die Konfirmation ist ja weder, was zum Sakramente gehört, von Christus selbst eingesetzt, noch gewährt sie unter einem von Christus selbst verordneten irdischen Zeichen himmlische Gnadengüter. Trotzdem aber spielt die Konfirmation in der evangelischen Kirche eine größere Rolle, als die Firmelung in der katholischen Kirche zn spielen scheint, und es ist nur zu wünschen, daß der Konfirmationstag sich überall frei halte von der Gefahr, zu einem weltlichen Festtage für das Kind und seine Angehörigen zu werden: er soll ein Tag ernster Sammlung und christlicher Vorsätze sein und bleiben. B. Beichte und Abendmah l. Tas erste Recht nun, das dem konfirmierten Christen zufällt und von dem er auch alsbald Gebrauch macht, ist das Recht, das h. Abendmahl zu empfangen. Dazu aber ist seitens der Kirche als Vorbereitung geordnet die Beichte. So geht denn der konfirmierte Christ im Anschluß an die Konfirmation alsbald zur Beichte und zum heiligen Abendmahl. Von der Beichte, welche dem h. Abendmahl vorangeht, soll nun zunächst gesprochen werden. a. Wenn der Mensch durch seine Taufe dahin gebracht werden soll, daß er täglich der Sünde stirbt und täglich als neuer Mensch aufersteht *), so wird sich derjenige, welcher sich ernstlich prüft, immer aufs neue sagen müssen, daß er hinter diesem Ziele gar sehr zurückbleibt. Wenn er nun zum heiligen Abendmahl gehen will, in welchem er aufs neue mit Christus in Gemeinschaft treten will, so fühlt er das Bedürfnis Gott seine Sünde zu bekennen und um Vergebung zu bitten, und zugleich zu bitten, daß ihm im h. Abendmahl neue Kraft geschenkt werde zur Überwindung der Sünde und zur Erneuerung des Lebens. Aus diesem Verlangen geht hervor die vor dem Abendmahl übliche r) „Die gesunde lutherische Lehre von der Bekehrung" — Kaftan, Katechis­ mus S. 321.

282 Beichte, die zwar in der evangelischen Kirche nicht geradezu geboten ist und noch weniger ein Sakrament ist (wie in der katholischen Kirche), aber eine mit Recht anerkannte und geübte kirchliche Ordnung. Wer nun im Segen zur Beichte gehen will, der muß natürlich Reue empfinden über die von ihm begangenen Sünden, und ebenso Glauben haben an die Gnade Gottes, der dem reuigen und gläubigen Sünder die Sünde vergiebt — darüber sind die Evangelischen und die Katholiken einig, wenn auch der Katholik nur die Reue ausdrücklich nennt, aber natürlich den Glauben nicht aus­ schließt. Aber nunmehr macht sich der Unterschied der beiden Kirchen geltend. Wenn der Katholik zur Beichte geht, so muß er, als reuiger Sünder, alle seine Sünden seinem Beichtvater einzeln bekennen, und nur was er bekennt, wird ihm vergeben, und zwar vergeben nur durch den Priester (nicht durch einen andern Christen), der dazu allein berechtigt ist. Dagegen braucht der Evangelische nicht seine Sünden einzeln zu bekennen, sondern er bekennt sich überhaupt nur als einen Sünder; wer sich aber von einzelnen Sünden besonders bedrückt fühlt, der hat natürlich das Recht, auch diese dem Geistlichen zu bekennen. Die Beichte geschah nun früher auch bei uns so, daß jeder Einzelne vor dem Geistlichen ein Sünden­ bekenntnis ablegte; heute bekennen die Abendmahlsgenossen gemeinsam sich als Sünder und bitten Gott um Vergebung. Damit hängt es auch zusammen, daß in den meisten Gemeinden auch für alle gemeinsam die Vergebung der Sünden verkündet wird; nur in kleineren Gemeinden hat sich noch die alte Sitte erhalten, daß jedem Einzelnen, indem er an den Altar herantritt, die Vergebung seiner Sünde einzeln zugesprochen wird. Aber mag die Vergebung der Sünden allen zusammen oder den Einzelnen zugesprochen werden — für uns ist der Geistliche, der sie uns zuspricht, nicht ein dazu allein berechtigter Priester, sondern der damit beauftragte Vertreter der Gemeinde, dessen Wort nicht mehr gilt, als das Wort jedes anderen Christen. b. Daß die katholische Ohrenbeichte nicht in der heiligen Schrift begründet sei, hatte Luther schon frühzeitig erkannt; aber er erkannte doch auch, wie segensreich diese Einrichtung wirken könne, wenn sie in rechter Weise gehandhabt würde. Zwar darf ja jeder Christ seine Sünden auch Gott allein bekennen, und er darf glauben, daß Gott ihm seine Sünden vergiebt; aber für angefochtene Seelen ist es doch von großem Werte, wenn sie einem andern Christen, sei es einem Laien oder einem Geistlichen, ihre Sünden bekennen, weil sie durch die ihnen speziell zu­ gesprochene Vergebung leichter zum Glauben cm die Gnade Gottes kommen, als durch die an alle gerichtete Predigt. So sollte denn nach Luthers Meinung die Privatbeichte und die Privat­ absolution aufrechterhalten werden als eine Wohlthat für diejenigen, welche danach begehrten; sie wurde aber zu einem Zwange, als man sie zur Bedingung für die Teilnahme aller am h. Abendmahl machte. Da man annahm, daß nicht jeder

wisse, welche Bedeutung das h. Abendnlahl habe, so sollte die Beichte benützt werden, um sie zu einem würdigen Genuß desselben zu befähigen; das sollte aber nur für diejenigen gelten, von denen man annehmen müsse, daß sie einer solchen Belehrung bedürften; für die übrigen Abendmahlsgäste wurde ein gemeinsames Sünden­ bekenntnis mit nachfolgender allgemeiner Absolution eingesetzt. Dagegen wurde im I. 1535 in Pommern und seitdem auch in anderen Ländern die Privatbeichte für

283 alle obligatorisch gemacht. Allmählich hörte die seelsorgcrliche Besprechung auf, und im 17. Jahrhundert bestand die Beichte darin, daß jeder einzelne ein Sünden­ bekenntnis hersagte und die Absolution empfing. Damit war aus der Beichte eine Ceremonie geworden, in welcher ernste Geistliche eine Gefahr für die Frömmigkeit erblickten, da die gemeinen Leute sich auf die ihnen zugesprochene Absolution ver­ ließen, auch wenn sie weder Glauben hatten noch den Vorsatz ihre Sünden ab­ zulegen. Nachdem andere nur vor dieser Form der Absolution gewarnt hatten, schritt der Berliner Pastor Schade (1697) zur That, indem er sich weigerte, in der bisherigen Weise die Privatabsolution zu erteilen; er versammelte fortan alle Abendmahlsgäste in der Sakristei, sprach im Namen aller ein Sündenbekenntnis und erteilte allen zugleich die Absolution. Der Kurfürst Friedrich III. genehmigte diese Neuerung, aber es sollte auch ferner jedem die Möglichkeit der Privatbeichte und der Privatabsolution gewährt werden. Seitdem ist die Privatbeichte allmählich verschwunden, und sie wird wohl niemals wieder hergestellt werden, da der mündige Christ nicht eines Priesters bedarf, der sich zwischen ihn und Gott stellt; auch der letzte Rest dieser Einrichtung, die in manchen kleinen Gemeinden noch bestehende Privatabsolution nach vorangegangener allgemeiner Beichte, wird wohl allmählich verschwindend)

c. Aber wenn mit der vom Geistlichen uns verkündeten Vergebung bei uns die Beichte beendet und die Vergebung der Sünden gewährt ist, so werden dem Katholiken, welcher beichtet, von seinem Priester noch für seine Sünden zeitliche Strafen auferlegt, welchen er sich unterziehen muß, um wirklich Vergebung der Sünden zu erhalten; mit denselben muß der Sünder selber genugthun für seine Sünde, denn nur die ewige Strafe und die Schuld der Sünde wird ihm bei der Beichte erlassen, nicht aber die zeitlichen Strafen, welche er durch seine Sünden verdient hat; für diese muß er auf Erden büßen durch Strafen, welche ihm der Priester auferlegt, oder, wenn er sie hier nicht abgebüßt hat, eine längere oder kürzere Pein des Fegfeuers erdulden. Aber von diesen zeitlichen Strafen oder der Pein des Fegfeuers kann der Mensch ganz oder zum Teil befreit werden durch Anrechnung der über­ schüssigen guten Werke der Heiligen, was im Ablaß geschieht; die Pein des Fegfeuers kann auch abgekürzt werden durch Totenmessen oder durch Gebete und gute Werke der Lebenden, welche für die Verstorbenen ver­ richtet werden. Diese ganze Lehre von der Genugthuung mit allen ihren Folgerungen (Fegfeuer, Ablaß u. s. w.) wird von der evangelischen Kirche aufs ent­ schiedenste verworfen; ja, gerade der Kampf gegen den Ablaß war in Deutschland der nächste Anlaß zur Reformation der Kirche. Zwar auch wir glauben, daß dem Menschen für die Sünde auch zeitliche Strafen auf­ erlegt werden — aber das ist nicht die Sache eines Priesters, sondern die Sache Gottes, und wenn sie uns von Gott auferlegt werden, dann sollen wir sie geduldig ertragen; jedenfalls kann uns kein Mensch diese Strafen abnehmen. Wenn aber Gott es für nötig hält, uns auch noch im Jenseits zu läutern, so wissen wir doch nichts darüber, wie das geschieht, und eine *) Gerade an der Privatabsolution, nicht an der Privat beichte, hatte man Anstoß genommen.

284 Verkürzung der jenseitigen Läuterung herbeizuführen, das steht vollends nicht in unserer Macht. So bleibt es denn für uns Evangelische dabei, daß wir vom Beichtenden Reue und Glauben fordern, nicht aber ein Bekenntnis der einzelnen Sünden vor einem besonderen Priester, und noch weniger eine Genugthuung durch gute Werkes) d. Die Beichte ist aber die Vorbereitung für die Feier des h. Abend­ mahls, über dessen Bedeutung schon oben das Nötige gesagt worden ist. Hinsichtlich der äußeren Form der Abendmahlsfeier ist noch folgendes zu bemerken. Zunächst sind die Elemente des h. Abendmahls in den ver­ schiedenen Kirchen verschieden. Die morgenländische Kirche verwendet gewöhnliches (ge­ säuertes) Brot, weil nach dem Evang. Joh. Jesus vor dem jüdischen Osterfeste gestorben sei, also das h. Abendmahl gestiftet habe,' ehe das ungesäuerte Brot gegessen wurde. Die römische Kirche, welche mit den Synoptikern annimmt, daß Jesus am Passahfeste gestorben sei, also beim h. Abendmahl ungesäuertes Brot genossen habe, verwendet deshalb (seit dem 9. Jahrh.) ungesäuertes Brot, und zwar Weizenbrot (seit dem 15. Jahrh, vorgeschrieben). In Zürich werden nach Zwinglis Vorgang noch heute ungesäuerte Oblaten gebraucht; ebenso in der lutherischen Kirche^ die von Calvin beeinflußten Kirchen nehmen gesäuertes Brot. Der Wein wird in der morgenländischen und in der römischen Kirche mit Wasser gemischt, wie es in der Zeit Jesu üblich war; ob weißer oderroter Wein genommen werde, ist in beiden Kirchen freigestellt; in der römischen Kirche wird aber jetzt nur weißer Wein gebraucht; die evangelische Kirche verwendet nur ungemischten weißen Wein.*2) Auch die Weise der Austeilung des h. Abendmahls ist sehr ver­ schieden. In der morgenländischen Kirche empfängt der Laie (auch schon das Kind) das in den Wein gebrockte Brot vermittels eines Löffels. In der römischen Kirche empfing der Laie bis zum Concil von Konstanz neben dem Brot auch den Wein (gesondert), seitdem nur die sogen. Hostie.3) In der reformierten Kirche nehmen die Empfänger Brot und Kelch in die Hand und führen beides selbst zum Munde. In der lutherischen Kirche werden Brot und Wein vom Geistlichen dem Empfänger direkt in den Mund gereicht. C. Das christliche Leben des Erwachsenen.

Auch das Leben des Erwachsenen wird, wie der Katholik behauptet^ geweiht durch dazu geordnete Sakramente. r) Bon den drei Stücken, welche zum katholischen Sakrament der Buße gehören (contritio cordis, Reue des Herzens, confessio oris, Bekenntnis des Mundes vor dem Priester, und satisfactio operis, Genugthuung des Werkes) werden also von uns die beiden letzten verworfen. 2) Jesus selbst hat seinen Jüngern mit Wasser gemischten roten Wein dar­ gereicht. *) Das lat. Wort Hostia heißt „Sühnopfer" — also eine nur im Munde des Katholiken richtige Bezeichnung des Brotes beim h. Abendmahl.

285a. Wenn nämlich der Erwachsene sich verheiratet, so empfängt er nach katholischer Meinung das Sakrament der Ehe. Die evangelische Kirche betrachtet zwar die Trauung als eine heilige Handlung, und sie fordert dieselbe auch heute von ihren Gliedern, wo doch die Rechtsgültigkeit der Ehe durch die Erklärung der Brautleute vor dem Standesbeamten bewirkt wird. Aber als ein Sakrament kann unsere Kirche die Trauung nicht betrachten, da ja die Ehe weder von Christus selbst eingesetzt ist, noch unter einem irdischen, von Christus dazu geordneten Zeichen überirdische Gnadengüter gewährt.

b. Aber es giebt nach der Meinung des Katholiken für den Er­ wachsenen auch noch ein zweites Sakrament, nämlich das der Priesterweihe, welche allerdings ein Verheirateter und eine Frau nicht empfangen können. Die katholische Kirche braucht nämlich allerdings einen besonderen Priester­ stand, da nur durch den Priester das in der Messe darzubringende Opfer gebracht werden kann. Die evangelische Kirche glaubt nicht, daß in der Messe ein Opfer dargebracht werde, und sie bestreitet überhaupt, daß ein solches Opfer nötig sei, da sich Christus in seinem Tode für alle Sünden geopfert habe, und darum braucht unsere Kirche auch keine Priester; unsere Pastoren haben die Gnadenmittel zu verwalten, zu predigen, zu laufen und das heilige Abendmahl auszuteilen, aber sie sind keine Priester. Mit ihrem Amte werden sie beauftragt durch die Ordination, aber die Ordination ist nur eine heilige Handlung, nicht ein Sakrament.

c. Endlich aber hat die katholische Kirche auch noch ein Sakrament für den Sterbenden, um ihn zu einem seligen Ende vorzubereiten, nämlich die letzte Ölung. Wenn nun der Katholik behauptet, daß dieselbe von Christus selbst eingesetzt worden sei (Mark. 6, 13), und daß Jakobus (Kap. 5, 14 s) dieselbe als in der apostolischen Zeit vorhanden anerkenne, so weist die evangelische Kirche darauf hin, daß nach den angeführten Stellen des Neuen Testaments diese Salbung mit Öl nicht bestimmt sei, um Sterbende für ein seliges Ende vorzubereiten, sondern um Kranken zur Genesung zu verhelfen. Wenn zu diesem Zwecke dieselben damals mit Öl gesalbt wurden, so galt das damals als ein Heilmittel; aber Jakobus weiß sehr wohl, daß das Christentum nicht ein besonderes Heilmittel für leibliche Krankheit besitzt, sondern er ermahnt nur die Leser seines Briefes, wenn sie ihre Kranken mit Öl salben (wie sie das damals zu thun pflegten), zu Gott zu beten, damit der Kranke wieder gesund werde. Daß aber nicht jeder Christ durch das Gebet wieder gesund wird, versteht sich von selbst. So ist denn die damals übliche Salbung mit Ol weder ein Sakrament (denn sie gewährt ja nicht himmlische Güter), noch auch nur eine heilige Handlung, die wir üben müßten; auch wir beten für den Kranken, daß er gesund werde, aber wir salben ihn nicht mit Öl; wenn der Sterbende nach geistlichem Troste verlangt, so beten wir mit ihm und für ihn und lassen ihm das h. Abendmahl reichen. d. Dagegen ist nun wirklich eine heilige Handlung (und zwar für alle Christen) das Begräbnis, und es ist nur zu bedauern, daß es nicht an allen Orten möglich ist, jedem gestorbenen Christen ein feierliches Begräbnis zu veranstalten, an welchem der Geistliche teilnimmt und, sei

— es im darauf rascher, daß sie

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Hause oder am Grabe, die Trauernden tröstet und sie zugleich hinweist, daß auch sie sich dazu bereit halten sollen, vielleicht als sie denken, zu sterben und deshalb ihr Leben so zu gestalten, den Tod nicht zu fürchten brauchen.

e. So ist auch das Leben des evangelischen Christen geweiht durch heilige Handlungen, welche dasselbe über diese Welt erheben zu einem Leben in der ihn beseligenden Gemeinschaft mit Gott dem Vater, der durch Christus auch unser Vater geworden ist.

Vierter Abschnitt?)

Wie wir- der Mensch vor Gott gerecht? 62. Vorbemerkung für den Lehrer und Einleitung für den Schüler. a. Bei der Behandlung dieses Abschnittes wird der Lehrer wohl am besten den Römerbrief zu Grunde legen, und er mag denselben hier (mit einigen Aus­ lassungen und dafür einigen Zusätzen aus anderen Briefen) ganz lesend) Daß dadurch der systematische Gang des Unterrichts etwas unterbrochen wird, kommt für die Schule gar nicht in Betracht; daß vorhergegangene Abschnitte nochmals zur Sprache kommen, ist sogar für den Unterricht sehr angenehm. Das dogmatische Resultat der ganzen Lektüre wird am Schlüsse der Lektüre (Heilsordnung) zu­ sammengefaßt, und diese Zusammenfassung ist dann für Schüler und Lehrer infolge der vorangegangenen Lektüre bei diesem Gegenstände auch nicht besonders schwer. b. Der Gang der Lektüre, wie sie hierher am besten paßt, dürfte aber folgender sein?)

I.

Die Christengemeinde in Rom; der Römerbrief. Einleitung und Schluß des Briefes (zu verbinden und aus der Lektüre das Resultat zu gewinnen!). Röm. 1,1—7; 8—17; 15, 14—33; 16,1—20; 21—27. (Gruß, Danksagung, Beruf des Apostels, Thema; Reiseplan, Grüße; Schluß.) ') Mit diesem Abschnitt wird wohl am besten der Unterricht im Winter­ halbjahr begonnen; der Römerbries ist aber für diesen Anfang besonders geeignet, da er mit der in seinen ersten Kapiteln vorgetragenen Lehre von der allgemeinen Sündhaftigkeit der Menschen noch einmal in den „Zweiten Abschnitt" und mit K. 3, 21—30 in den „Dritten Abschnitt" zurückgreift. Wie die H a u p tg e g e n st ä n d e dieses Abschnittes (Rechtfertigung und Heiligung) darzustellen sind, zeigt die folgende Darlegung. 2) Im Gymnasium wird der Lehrer, wenn die Zeit es gestattet, die Haupt­ abschnitte dieses. Briefes im Grundtexte lesen. 8) Diese Übersicht gewinnt der Schüler natürlich erst nach der Lektüre des Briefes.

288 II. Das Thema des Briefes: die Glaubensgerechtigkeit. 1. Die Notwendigkeit der Glaubensgerechtigkeit: 1, 18—3,20. a. Die Heiden sind Sünder: 1,18—32. b. Die Juden sind Sünder: 2,1—3,20. 2. Das a. b. c. d.

Wesen der Glaubensgerechtigkeit: 3, 21—5,11; Jakob. 2,14—26. Das Wesen der Glaubensgerechtigkeit: 3, 21—31. Die Gerechtigkeit der Frommen vor Christus: K. 4. Die Heilsgewißheit des Gerechtfertigten: 5,1—11. Jakobus und Paulus: Jak. 2, 14—26.

3. Das neue Leben des Christen, die Folge der Glaubensgerechtigkeit: Röm. 6—8 (nur ausgewählte Abschnitte zu lesen) und 12,1—15,13. a. Das neue Leben des Christen in Freiheit vom Gesetz: Röm. 6, 1—2 und 12—14; 7, 7—25; Gal. 3, 10-14 und 19—29. Röm. 10, 4. b. Das neue Leben des Christen im Geiste: Röm. 8. c. Mahnung st. an die allgemeinen christlichen Pflichten in Gemeinde und Haus: Röm. 12; vgl. Matth. 22,34—40; 1. Kor. 13; Röm. 13,7-14ß. an die Pflichten gegen den Staat: Röm. 13,1—7; vgl. 1. Petr. 2,13—17; Matth. 22,15—22; Off. Joh. 13; Apg. 4,19—20 u. 5,28—29. y. zum Frieden im Streite der Parteien innerhalb der christlichen Kirche: Röm. 14,1—15,13. 4. Adam und Christus; die Glaubensgerechtigkeit in ihrer geschichtlichen Ver­ wirklichung: K. 5,12—21; K. 9—11.

III.1)

Zuletzt zu lesen: Augsb. Konf. Art. 4. 6. 20. Luther's Vorrede zum Römerbrief. Luthers Sendschreiben vom Dolmetschen?)

c, Einleitung für den Schüler. Nur in Gott findet die Seele die Heimat der Ruh' — darauf hat uns der erste Abschnitt der Glaubenslehre hingewiesen; aber der Mensch ist leider ein verlorener Sohn geworden — das hat uns der zweite Abschnitt gezeigt. Um die verlorenen Menschen zu retten, hat Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt — das war der Inhalt des dritten Abschnitts. Wie wird nun der 'verlorene Mensch gerettet und vor Gott gerecht? — Diese Frage soll uns jetzt beschäftigen. Die Antwort auf diese Frage erhalten wir vornehmlich durch den Römerbrief des Apostels Paulus. Dieser Brief soll daher im folgenden gelesen und besprochen werden. *) Genaueres siehe unten Nr. 69. 2) Wenn diese Schrift schon bei anderer Gelegenheit gelesen worden ist, so mag hier nur der Abschnitt über Röm. 3, 28 gelesen werden.

289 Wir werden aus demselben zuerst erkennen, wie der Mensch die Vei> gebung der Sünden oder die Rechtfertigung erlangt. Wer aber durch den Glauben an die Liebe Gottes (die uns im Leben Jesu entgegentritt) Ver­ gebung der Sünden erlangt hat, in dem wird auch Liebe zu Gott erweckt werden, und die Liebe zu Gott führt auch zur Liebe der Mitmenschen als unserer Brüder. Vergebung der Sünden, Seligkeit in der Gemeinschaft mit Gott und Gemeinschaft mit den Mitmenschen — diese drei Punkte werden im Römerbriefe und auf Grund desselben im folgenden behandelt.

A. Der Römerbrief/)

63. (54.) I. Die Christengemeinde in Nom; der Römer­ brief; Einleitung und Schluß -es Grieses; Inhalt und Gliederung des Grieses. a. In der schon seit der Makkabäerzeit in Rom bestehenden Juden­ gemeinde ist schon in früher Zeit eine Christengemeinde entstanden. Die­ selbe ist aber schwerlich durch besonders ausgeschickte Sendboten gegründet worden (wie der Katholik sich das denkt), sondern sie ist infolge des regen Verkehrs der in Rom besonders zahlreichen Judengemeinde mit Jerusalem (Apg. 2, 10) und den andern Judengemeinden im Römerreich wie von selbst entstanden?) So werden denn Juden den Grundstock der Gemeinde gebildet haben; aber sicherlich sind auch hier bald, wie anderwärts, zahl­ reiche jüdische Proselyten und gewiß auch bisherige Heiden der Gemeinde beigetreten?) so daß ihre Zusammensetzung von der der Paulinischen Ge­ meinden sich kaum unterschied. Die römische Gemeinde ist also nicht von Petrus gestiftet und auch nicht von ihm als Bischof geleitet worden; ^) schon der Römerbrief allein ist ein unwiderlegliches Zeugnis gegen diese Behauptung; er wäre nicht geschrieben worden, wenn Petrus in Rom Bischof war, oder wenn er doch geschrieben wurde, so konnte unmöglich der Bischof von dem Briefschreiber gänzlich unbeachtet gelassen werden. Einen Bischof hat nach unserer Meinung damals weder die Gemeinde in Rom, noch eine andere Gemeinde gehabt, wie man gleichfalls aus dem Römerbriefe erkennt, da doch sonst vom Bischof der Gemeinde die Rede sein müßte/"') Aber allerdings schon in früher Zeit ist die römische Christengemeinde entstanden und bekannt geworden. Schon der Kaiser ’) Vgl. Heil. Gesch. Nr. 136 (2. Aufl.: Nr. 146). -) So ist ja z. B. auch die Gemeinde in Antiochia entstanden (Apg. 11,19 s). 3) Dafür spricht z. B. auch das int Kaiserpalast gefundene Crucifix mit dem Eselskopf. 4) Vgl. meine Heil. Gesch. Nr. 137 (2. Aust.: Nr. 147). 6) Vgl. Heil. Gesch. Nr. 142 (2. Aufl.: Nr. 153). Heidrich, Glaubenslehre.

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Claudius hat die Juden aus Rom vertrieben, weil sie auf Grund der Messiasfrage mit einander fortwährend in Streit gerieten (Iudaeos impulsore Chresto1) assidue tumultuantes Roma expulit — Suet. Claud. 25 — doch wohl übereinstimmend mit Apg. 18, 2), und die Christengemeinde, welche sich doch bald nachher in Rom wieder sammelte, hat sich gewiß alsbald definitiv von der Judengemeinde getrennt, um nicht durch neuen Zwist die Aufmerksamkeit der römischen Polizei wiederum auf sich zu ziehen. In der Folgezeit wird sich nun die Gemeinde namentlich durch übertretende Proselyten und Heiden verstärkt haben, so daß sie von Paulus als eine wesentlich heidenchristliche Gemeinde betrachtet werden konnte, wie er ja in seinem Briefe sie wiederholt zu den Heiden rechnet (1, 6 und 13) und sich, als den Heidenapostel (Gal. 2, 7—9), auch ihr gegenüber mit einer Aufgabe betraut betrachtet (Röm. 1, 5; 15, 15 s). Aber die Weise, wie Paulus zu den Römern spricht, läßt uns erkennen, daß auch in dieser Gemeinde das Judentum doch noch stark vertreten war; der ganze Römerbrief ist ja durchzogen von der Bekämpfung des Juden­ tums. Wie ist nun Paulus dazu gekommen, an diese von ihm nicht gegründete Gemeinde einen Brief zu schreiben?

b. Von Jerusalem bis Illyrien (Röm. 15, 19) hatte Paulus auf seinen Missionsreisen das Evangelium gepredigt und im Osten des Römer­ reiches zahlreiche Gemeinden gestiftet, von denen aus allmählich die christ­ liche Predigt das ganze Gebiet durchdringen sollte und durchdrungen hat. Nunmehr konnte Paulus daran denken, auch im Westen des römischen Reiches das Christentum zu verbreiten; denn er betrachtete sich ja als den Apostel aller Heiden, und so hatte er schon längst daran gedacht, auch nach dem Westen zu gehen, und, da in Italien das Christentum bereits begründet war, alsbald in Spanien den neuen Glauben zu verbreiten (1, 13—15; 15, 23—24). Aber ehe er dem Osten, vielleicht für immer, den Rücken kehrte, wollte er noch einmal nach Jerusalem ziehen und der dortigen, sehr armen Christengemeinde eine von ihm in seinen Gemeinden gesammelte Kollekte überbringen, in der Hoffnung, durch dieses Zeichen der Liebe der Heidenchristen zu den Judenchristen den Zwiespalt zwischen beiden, den die Frage wegen der Beobachtung des mosaischen Gesetzes erregt hatte, und die Abneigung gegen ihn, als einen Feind des Gesetzes, durch Liebe zu überwinden. Es ist anders gekommen, als Paulus ge­ wünscht hatte; er ist in Jerusalem gefangen genommen und als Gefan­ gener allerdings nach Rom gebracht worden; nach Spanien ist er gewiß nicht gekommen.

c. Ehe nun Paulus nach Jerusalem reiste, schrieb er um das I. 58 von Korinth aus, wohin ihn seine dritte Missionsreise wieder geführt hatte, oder vielleicht schon von Kenchreä aus, dem östlichen Hafen von Korinth, von wo er eben über Macedonien nach Jerusalem abreisen wollte (Röm. 15, 25; 16, 1), den Brief an die Römer. Er wollte fortan im Westen wirken; da war es sehr wichtig, daß die Christengemeinde der Hauptstadt des Westens, die ja zugleich die Hauptstadt der Welt war,

0 Mißverständnis des Schriftstellers und der Zeitgenossen.

291 ihm nicht fremd oder gar feindlich gegenüberstand; sonst konnten ihm im Westen Schwierigkeiten entstehen, wie er sie im Osten z. B. in Galatien gefunden hatte. So benützte er denn eine sich ihm darbietende Gelegenheit, die Reise der Diakonissin Phöbe aus Korinth nach Rom (16, 1—2), wie man wohl mit Recht annimmt, um einen Brief nach Rom zu schreiben, oder, genauer gesagt, einem uns unbekannten Manne Tertius zu diktieren (16, 22), wie er seine Briefe wohl meist nicht eigenhändig geschrieben, sondern vielleicht stets nur (Gal. 6, 11) mit einem eigenhändig geschriebenen Schlüsse versehen hat. Eine eigenhändige Unterschrift schien ihm nötig, um Fälschungen zu verhüten, die schon damals, auch gegen Paulus, verübt worden sind.

In diesem Briefe kündigte er der Gemeinde seine beabsichtigte Reise an und legte ihr sein Evangelium dar, wie er es gewiß überall in den Gemeinden mündlich zu predigen pflegte, in der Hoffnung, daß die römische Gemeinde mit seiner Predigt einverstanden sein werde. Das hat aber Paulus dadurch erzielt und erreicht, daß er darlegte, wie im Christentum dem Menschen das gewährt werde, was er als Jude nicht erlange, den Frieden mit Gott. In diesem Briefe haben wir infolge dieser Absicht des Apostels ein Schreiben vor uns, welches uns etwas erkennen läßt, was keiner seiner anderen Briefe bietet: eine zusammenhängende Predigt seines Evangeliums. Die anderen Briefe setzen diese mündliche, zusammenhängende Predigt stets schon voraus und beantworten nur neu auftauchende Fragen; dieser Brief giebt das, was der Katholik nicht mit Unrecht als die den Briefen voraufgegangene mündliche Unterweisung bezeichnet, und der Katholik will bekanntlich aus der mündlichen Unterweisung, welche später mündlich und schriftlich weiter überliefert worden ist, der sogen. Tradition, seine katholischen Lehren zur heil. Schrift hinzufügen. Aber der Römerbrief ist die schlechteste Stütze für die katholische Tradition; an ihn hat ja gerade Melanchthon angeknüpft, als er die erste evangelische Glaubens­ lehre schrieb, und aus ihm ist ja recht eigentlich Luthers Glaube in seiner eigentümlichen Form erwachsen; es ist bekannt, wie hoch Luther diesen Brief in seiner Vorrede gepriesen hat?) d. Als nun später Paulus nach Rom kam, nahm die christliche Ge­ meinde den Apostel, wie er das durch seinen Brief zu erreichen gewünscht hatte, freundlich auf (Apg. 28, 14s); die christliche Gemeinde war von der jüdischen bereits ganz getrennt (Apg. 28, 22). Im I. 64 ist sodann die römische Christengemeinde vom Kaiser Nero, wie bekannt, grausam verfolgt worden, während den Juden nichts zu leide geschah;?) man darf daher wohl mit Recht die römische Gemeinde in dieser Zeit als eine vor­ wiegend heidenchristliche Gemeinde betrachten. Auch ein von Rom aus

J) „Diese Epistel ist das rechte Hauptstück des N. T. und das allerlauterste Evangelium, welche wohl würdig und wert ist, daß sie ein Christenmensch nicht allein von Wort zu Wort auswendig wisse, sondern täglich damit umgehe, als mit täglichem Brot der Seele; denn sie nimmer kann zu viel und zu wohl gelesen oder betrachtet werden, und je mehr sie gehandelt wird, je köstlicher sie wird und baß schmecket." Vgl. unten Nr. 68. 2) Vgl. meine H. Gesch. Nr. 137 (2. Aust.: Nr. 147).

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geschriebener Brief an die Korinther, geschrieben um das I. 100 von Clemens, angeblichem Bischof von Rom, der freilich der Geschichte unbekannt ist, zeigt noch damals in Rom ein Christentum, welches zwar nicht ausgeprägt paulinischen Charakter trägt, aber doch noch weniger als Judenchristentum gelten darf. Merkwürdiger Weise war aber in dieser Gemeinde das Griechische die Sprache vielleicht des Umgangs und jedenfalls des Gottesdienstes, wie das auch aus anderen kirchlichen und weltlichen Schriften aus diesem Zeitalter geschlossen werden darf;^) erst später ist in der römischen Christengemeinde die lateinische Sprache zur Herrschaft ge­ kommen; es ist also, auch abgesehen von der allgemeinen Verbreitung der griechischen Sprache, gar nicht wunderbar, daß Paulus an die Römer in griechischer Sprache geschrieben hat. e. Daß dieser Brief ein echter Brief des Paulus ist, wird von niemand bezweifelt; die Unterschrift des Briefes, welche nach alten Handschriften in manchen Ausgaben darunter steht, wäre freilich kein Beweis für seine Echtheit, da sie ja nur unserm Briefe entnommen ist; aber der Brief selbst hat sich allen Forschern, auch den freisinnigsten, durch seinen Inhalt als echt erwiesen. Nur ein einziger Abschnitt desselben (16, 1—20) scheint vielen Gelehrten nicht in einen Brief nach Rom zu passen, wo ja Paulus noch niemals gewesen war, sondern besser für Ephesus, wo Paulus lange gewirkt hatte, und wo die vielen von ihm gegrüßten Bekannten (28 einzelne Personen und noch andere, die zu ihnen gehören) eher zu erwarten sind. Dann wäre also Phöbe über Ephesus nach Rom gereist, und durch ein Versehen wäre der für sie bestimmte Empfehlungsbrief nach Ephesus (16, 1—20) in den Brief nach Rom eingefügt worden. An der Abfassung auch dieses Stückes durch Paulus wird also ebenfalls nicht gezweifelt.

f. Einleitung, Thema und Schluß des Römerbriefes: 1, 1—7; 8—17; 15, 14—33; 16, 1—20; 21-27. a. Mit dem Worte „Paulus" beginnen alle 13 Paulinischen Briefe; schon dadurch erweist sich der Hebräerbrief als nicht von Paulus geschrieben. Mit diesem Worte beginnt aber stets der Gruß, welcher jeden Brief anfängt. Der kurze Gruß des jüdischen Volkes (z. B. Luk. 24, 26: „Friede sei mit euch!") und des griechischen Briefstils (IlavXo? naoiv toi? ovotv lv Poopfl dyajiTjTot? fteov yaiQEw [seil, leyei]} vgl. Jak. 1, 1; Apg. 15, 23), ist aber vom Apostel hier ganz besonders erweitert worden (1, 1—7), indem derselbe nicht nur ausdrückt, daß Paulus sich mit seinem Briefe an die Christen in Rom wende und diesen Gutes wünsche, sondern auch hervorhebt, daß sich der Apostel der Heiden an eine Gemeinde der Heiden wende und damit seinen Beruf erfülle. Auf den Gruß folgt die Einleitung des Briefes, welche (wie überall, außer im Galaterbr.) mit einer Danksagung für das Gute beginnt, das der Apostel an der Gemeinde zu loben hat, um sodann fortzufahren

0 Auch das apost. Glaubensbekenntnis ist in griechischer Sprache gerade aus Rom überliefert; vgl. meine Kircheng. Nr. 16b (2. Aufl. Nr. 66).

293 mit der Versicherung, wie gern er schon längst zu ihnen gekommen wäre, da er auch ihre Stadt, als eine Stadt, ja die Hauptstadt der Heid en Welt, zu seinem, des Heidenapostels, Arbeitsgebiete rechne. Zwar gehörten sie ja zu den Weisen, nicht zu den Unverständigen (V. 14), aber er schäme sich doch nicht, mit der Predigt des Evangeliums zu ihnen zu kommen (V. 16), und indem er nun den Inhalt des Evangeliums kurz ausspricht, giebt er damit in kurzen Worten das Thema seines Briefes an: Das Evangelium ist eine Gotteskraft zur Errettung (beim Weltgericht), aber freilich nur für den Gläubigen, mag er ein Jude sein oder ein Heide, denn in dem Evangelium wird geoffenbart die Gerechtigkeit Gottes, aber nicht wie im A. T., wo derjenige von Gott für gerecht erklärt wird, welcher das Gesetz erfüllt (diese Predigt bringt uns nicht das Heil), sondern eine Gerechtigkeit Gottes, welche für gerecht erklärt „aus Glauben (auf Grund der Überzeugung von der Wahrheit des Evangeliums) für Glauben (zur Erweckung des Glaubens, d. h. des Vertrauens auf die Gnade Gottes in Christus, auf Grund dessen der Mensch von Gott für gerecht erklärt wird)/) wie schon im A. T. von den Propheten geweissagt worden sei?) Der Glaube als der alleinige Weg zur Ge­ rechtigkeit — das ist der Grundgedanke der Paulinischen Predigt, be­ sonders auch dieses Briefes. v) Über diesen Unterschied in der Bedeutung des Wortes „Glaube" vgl. Weiß, NTliche Theol. § 82d. 2) Der hier (1,17) zuerst vorkommende Begriff Öixatoovvt] tisou kann entweder eine Eigenschaft Gottes oder eine Eigenschaft des Menschen bezeichnen. Gewöhn­ lich versteht man nun darunter eine Eigenschaft des Menschen, und so wurde dieser Begriff von Luther aufgefaßt als „die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt". Diese Erklärung wird von den neueren Theologen meist nicht mehr für richtig gehalten, sondern dieselben verstehen, indem auch sie unter „der Gerechtigkeit Gottes" eine Eigenschaft des Mensche n verstehen, „die Gerechtigkeit, die von Gott herrührt", welche Paulus selber (Röm. 10, 3) der „eigenen Gerechtigkeit" entgegenstellt (Phil. 3,9). Eine „eigene Gerechtigkeit" hat weder der Heide noch der Jude durch seine Werke sich erworben, wie Paulus zeigt; wenn also der Mensch vor Gott gerecht werden sollte, so mußte dies durch eine göttliche Veranstaltung geschehen, durch welche dem Sünder Gnade und Versöhnung zu teil wird, so daß er vor Gott als ein Gerechter erscheint. Diese Veranstaltung Gottes ist in der Sendung des Sohnes verwirklicht worden, und so steht denn jetzt an der Stelle des Gesetzes, welches den Sünder verdammt, ein „Gesetz der Gerechtigkeit", wie Paulus sagt (Röm. 9, 31), nach welchem der Sünder vor Gott gerecht wird. Vgl. Cremer, Wörterbuch der NTlichen Gräcität, 1893. Zu demselben Resultat führt die andere Deutung des Begriffes der „Gerechtigkeit Gottes" (Kühl, Heilsbedeutung des Todes Christi, 1890), nach welcher auch bei Paulus, wie in der ganzen heiligen Schrift, die Gerechtigkeit Gottes als diejenige Eigenschaft Gottes anzusehen ist, welche sich in ihrer Offenbarung als das einer bestimmten Norm konsequent entsprechende Verhalten erweist. Zwar darf dann die Aussage des Paulus nicht so gedeutet werden, daß erst durch Christus den Menschen geoffenbart worden sei, daß Gott gerecht sei (das wußten bekanntlich schon die Israeliten), sondern int Evangelium wurde den Menschen geoffenbart, daß, während bisher derjenige von Gott für gerecht erklärt wurde, welcher dem vöfios tut eq^cop (dem Gesetz der Werke) genügte, jetzt derjenige von Gott für gerecht erklärt wird, welcher dem v6p,og ougteox; (dem Gesetz des Glaubens) genügt. Beide Auslegungen („Gerechtigkeit des Menschen, die von Gott herrührt" und „Gerechtigkeit Gottes als Norm für sein Urteil") führen schließlich zu dem­ selben Resultat: Gott erklärt jetzt infolge des Auftretens Christi denjenigen für

294

ß. Der Schluß des Briefes wiederholt zunächst in größerer Aus­ führlichkeit die Gedanken der Einleitung. Obwohl die Römer seiner Ermahnung eigentlich nicht bedürfen, habe er doch an sie geschrieben, da er als Heidenapostel auch sie zu einem Gott wohlgefälligen Opfer machen wolle (15, 14—21). Darauf spricht Paulus genauer über seinen Reise­ plan (15, 22—32); nachdem er den Osten des römischen Reiches mit seiner Predigt erfüllt hat, will er nach dem Westen ziehen; über Rom reisend, wo das Christentum bereits begründet ist, will er nach Spanien gehen. Aber vorher muß er noch nach Jerusalem. Wie er im Westen durch seinen Brief die Römer für sich günstig stimmen will, so will er im Osten die Gemeinde in Jerusalem durch die unter den Heiden für sie gesammelte Kollekte für seine Predigt günstig stimmen, damit nicht ferner, wie es in Galatien geschehen war, die von ihm gegründeten Gemeinden durch jüdische Eiferer beunruhigt würden. Die Kollekte hat dem Paulus nichts genützt, und die Reise nach Spanien ist ihm nicht beschieden gewesen; er ist in Jerusalem gefangen genommen worden und in Rom gestorben. Ein erster Schluß (15, 33) beendet dies Kapitel, aber noch nicht den ganzen Brief. Es folgt nunmehr (16, 1—20) eine Empfehlung der Diakonissin Phöbe in Kenchreä, welche vermutlich den Brief nach Rom überbringen sollte, und daran sich anschließend eine Menge von Grüßen an Leute, die man eher in Ephesus als in Rom finden zu können glaubt, so daß man diesen Abschnitt (16, 1—20) heute meist für ein dem Römerbriefe nur eingefügtes Schreiben nach Ephesus hält, wie schon oben bemerkt worden ist, welches in V. 20 mit dem gewöhnlichen Briefschluß des Apostels (1. Kor. 16, 23; Gal. 6, 18) versehen und auch dadurch vom Römer­ briefe gesondert ist. Darauf folgt nun der eigentliche Schluß des Römerbriefs (16, 21—27), bestehend aus Grüßen1), einem kürzeren (vielleicht unechten) Segenswunsche (V. 24) und einem längeren Lobpreis Gottes (V. 25—27), welcher, wie schon die Einleitung, den Hauptgedanken des Briefes, daß das Heil auch für die Heiden bestimmt sei und durch den Glauben erlangt werde, noch­ mals zum Ausdruck bringt?)

gerecht, den er früher nicht als gerecht betrachtete; jedenfalls ist bei dem Begriffe

otxaioovvT] -Oeou nicht an eine dem Menschen innewohnende Gerechtigkeit vor Gott zu denken (dieselbe wäre dann = Heiligung), sondern an ein auf dem Gerecht­ sprechen durch Gott (dixcuwais) beruhendes Gerechtgelten. Der Lehrer vergleiche über diese Hauptbegriffe des Römerbriefe's wie über die ganze Rechtfertigungslehre des Paulus außer dem Wörterbuche der NTlichen Gräcität von Cremer auch das Programm von Bromberg 1892, Nr. 168: Krüger, Die Rechts, nach dem Lehrbegr. des Br. Pauli an die Römer. 0 Darunter auch ein Gruß von Tertius, dem Schreiber, welchem Paulus (nach seiner gewöhnlichen Art) den Brief diktiert hat; ob Paulus etwa die drei letzten Verse selber geschrieben hat (wie z. B. beim Galaterbriefe), muß dahin­ gestellt bleiben. 2) Die Doxologie, welche dem langen Hauptsatze zugedacht war (B. 25—27), ist im Grundtext dem Nebensätze beigegeben, so daß der Hauptsatz unvollendet bleibt.

295 g.1) Wenn wir nun von der Einleitung und dem Schlüsse absehen, so zerfällt der Römerbrief, wie die meisten Briefe des Apostels Paulus, in einen belehrenden und einen praktischen Teil. I. Der belehrende Teil des Briefes handelt von der Ge­ rechtigkeit aus dem Glauben (K. 1, 18—9 Schluß). Dieser Teil zerfällt aber in folgende Abschnitte:

1. Zuerst legt der Apostel die Notwendigkeit der Glaubens­ gerechtigkeit dar, sowohl für die Heiden (K. 1, 18—32), als auch für die Zudem (K. 2, 1—3, 20), welche trotz ihres Gesetzes dennoch nicht besser sind als die Heiden, aber durch ihr Gesetz wenigstens Erkenntnis der Sünde gewinnen konnten.

2. Sodann legt der Apostel das Wesen der Glaubens­ gerechtigkeit dar (K. 3, 21—5, 21). Kein Mensch wird durch die Erfüllung des Gesetzes gerecht, sondern nur durch den Glauben (K. 3, 21 —31). Durch den Glauben ist auch schon Abraham gerecht geworden (K. 4). Mit der Rechtfertigung ist dem Menschen auch Friede mit Gott in der Gegenwart und Hoffnung auf die Gnade Gottes in der Zukunft gegeben (K. 5, 1—11). So ist Christus als der Urheber von Gerechtigkeit und Leben das Gegenbild von Adam, dem Urheber der Sünde und des Todes (K. 5, 12—21). 3. Nunmehr weist der Apostel auf das neue Leben des Christen als die Folge der Glaubensgerechtigkeit hin (K. 6—8), welches nicht vom Gesetz (K. 6—7), sondern vom Geiste Gottes hervorgerufen wird (K. 8).

4. Endlich weist der Apostel auf die geschichtliche Verwirk­ lichung der Glaubensgerechtigkeit hin (K. 9—11). Die jetzige Verwerfung der Juden widerspricht nicht der Verheißung Gottes (K. 9, 1—29), sondern dieselbe beruht auf dem Unglauben der Juden (K. 9, 30—10, 21). Dereinst wird Gott nach den Heiden auch die Juden be­ kehren (K. 11). II. Auf den belehrenden folgt nun der praktische Teil des Briefes (K. 12, 1—15, 13), welcher Mahnungen für das christliche Leben enthält, und zwar zunächst Mahnungen für das christliche Leben überhaupt (K. 12 und K. 13, 7—14), sodann besonders die Mahnung zum Gehorsam gegen die Obrigkeit (K. 13, 1—6) und endlich die Mahnung zum Frieden im Streite der Parteien (K. 14, 1—15, 13).

0 Diese Übersicht gewinnt der Schüler natürlich durch die Lektüre.

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II. Das Thema -es Briefes: Die Gerechtigkeit aus -em Glauben. „Wie wird der Mensch vor Gott gerecht?" Katech. I—III.1)

64. (55.) Die Notwendigkeit der Glaubensgerechtigkeit. Röm. 1, 18—3, 20?)

„Nicht durch des Gesetzes Werke". (Heidelb. Katech.: „Von des Menschen Elend.") Die Gerechtigkeit aus dem Glauben — das ist das Thema des Römerbriefes; dasselbe wird in vier Teilen ausgeführt: Notwendig­ keit, Wesen, Folge und geschichtliche Verwirklichung der Glaubensgerechtigkeit. Zuerst zeigt nun der Apostel in seinem Briefe, daß die ganze Mensch­ heit der eigenen Gerechtigkeit entbehrt und darum der von Gott geschenkten Gerechtigkeit bedarf; er legt also zuerst die Notwendigkeit der Glaubensgerechtigkeit dar (1, 28—3, 20), und zwar zunächst für die Heiden (1, 18—32).

a. Die Heiden sind Sünder: 1, 18—32 (vgl. 1. Makk. 8, 1—16).

a. Auch der sündig gewordene Mensch ist noch im stände, Gott, wenn auch nicht vollständig, so doch zum Teil zu erkennen: das von Gott Erkennbare (t6 yvcoorov tov $eov V. 19), d. h. das aus der Offen­ barung Gottes in der Natur von Gott Erkennbare (oder Bekannte — nicht das im A. und N. T. Geoffenbarte) ist auch den Heiden bekannt; mit seinem Geiste (V. 20: voovpeva — von vov