Handbuch für den Religionsunterricht in den oberen Klassen: Teil 2 Heilige Geschichte [3., verb. und z. T. umgearb. Aufl. Reprint 2018] 9783111541105, 9783111172941


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German Pages 702 [704] Year 1911

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Table of contents :
Vorwort zur ersten Auflage
Vorwort zur zweiten und dritten Auflage
Inhaltsverzeichnis
Quellenftucke (und Hefestücke) in meinen Schriften )
Druckfehler und Berichtigungen
I. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie; die wissenschaftliche Darstellung der heiligen Geschichte in der neueren Zeit
II. Lehrstoff und Lehrplan für den Religionsunterricht, besonders in der heiligen Geschichte
III. Der Bücherschatz des Religionslehrers für den Unterricht in der heiligen Geschichte
Heilige Geschichte
Erster Hauptteil. Die Geschichte des Alten Kundes
Einleitung
Erster Abschnitt. Die Geschichte des Volkes Israel von Moses bis Esra
Zweiter Abschnitt. Glaube und Frömmigkeit des Volkes Israel nach „dem Gesetz, den Propheten und den Schriften."
Dritter Abschnitt. Das jüdische Volk von der Wiederherstellung bis zum Untergange des Staates
Zweiter Hauptteil. Die Geschichte des Denen Kundes
Vierter Abschnitt. Jesus Christus Wie Gott, als die Zeit erfüllet war, durch feinen Sohn zu den Menschen geredet hat
Fünfter Abschnitt. Das Christentum im Zeitalter der Apostel. Wie die Apostel hingegangen sind in alle Welt, um alle Menschen zu Jüngern Jesu Christi zu machen
Schluß
Zahlentabelle zur heiligen Geschichte
Register
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Handbuch für den Religionsunterricht in den oberen Klassen: Teil 2 Heilige Geschichte [3., verb. und z. T. umgearb. Aufl. Reprint 2018]
 9783111541105, 9783111172941

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»andbuch für den

in den oberen Klaffen.

Zweiter Teil:

Heilige Geschichte. Von

Professor K.Heidrrch, Geh. Regierungsrat, Röntgt. Gymnafial-Direttor a. D.

Litte, verbesserte und zum Teil umgearbeitete Auflage.

Berlin 191V 3. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, G. ttt. b. H.

Vorwort zur ersten Auflage. (ttrmutigt durch die fteundliche Aufnahme, welche der erste Teil meines ^ Handbuchs für den Religionsunterricht (Kirchengeschichte) gefunden hat, erlaube ich mir, nunmehr den zweiten Teil des Werkes, die Heilige Geschichte enthaltend, vorzulegen. Welche Aufgabe ich mir in diesem Bande gestellt und wie ich dieselbe zu lösen versucht habe, darüber erlaube ich mir folgendes zu bemerken. Die hiermit vorgelegte „Heilige Geschichte" ist ebensowenig, wie meine „Kirchengeschichte", ein Kompendium, welches alles in Kürze enthält, was ein Lehrbuch ausführlich darstellt. An Kompendien haben wir auch auf diesem Gebiete keinen Mangel. Ich habe mir vielmehr auch hierdieAufgabegestellt,demLehrervornehmlichdas darzubieten, was in den oberen Klassen der höheren Schulen dem Schüler vorzuführen ist. Dabei habe ich auch in diesem Bande nicht nach kompendienartiger Gleichmäßigkeit gestrebt, sondern die weniger wich­ tigen Dinge kurz, die wichtigen sehr ausführlich be­ händ e l t, mit Rücksicht auf die Zeit, welche auf die betreffenden Abschnitte nach meiner Meinung in den oberen Klassen verwandt werden kann. Wie im einzelnen der Swff auf die zwei Jahre der Sekunda zu verteilen und zu behandeln ist, ist auch in diesem Bande in einem besonderen Abschnitte des Buches (S. 1—7) *) angegeben. Dem Unterricht in der Heiligen Geschichte wird in den oberen Klassen die Heilige Schrift zu Gmnde gelegt, und den Schüler in die Bibel tiefet einzuführen, ist die Aufgabe des Unterrichts. MeinHandbuch zeigt nun dem Lehrer, wie er die Bibel in der Schule zu be­ handeln hat. Zunächst bezeichnet es dem Lehrer den Stoff, welchen er aus der Bibel für die oberen Klassen (int Unterschiede von den früheren Unterrichtsstufen) auszuwählen hat. Sodann zeigt es dem Lehrer, wie die ausgewählten Stoffe zu größeren Ganzen zu verbinden sind, welche vom Schüler leichter überschaut und festgehalten werden können, als lauter unverbundene Einzelheiten. End­ lich wird der ausgewählte und zu größeren Gruppen verbundene Swff in einer für die Schule angemessenen Weise dargestellt, und zwar, wo die Lektüre möglich ist, so, daß das Ergebnis der (vorangegangenen!) Bibellektüre für den Schüler kurz und übersichüich zusammengefaßt wird.

') 3. Aust.: Nr. II.

IV

Vorwort zur ersten Auflage.

Der Lehrer findet also in meinem Buche eine zusammenhängende Darstellung der heiligen Geschichte des Alten und Neuen Testaments, welche darauf hin­ zielt, den Schüler in den „Inhalt und Zusammenhang der heiligen Schrift" einzuführen, wie das von der Prüfungsordnung als Ziel für den Unterricht in der Heiligen Geschichte bezeichnet wird. Den Inhalt der Hefligen Schrift muß aber der Schüler der oberen Klassen in umfassenderer Weise kennen lernen, als dies in den unteren und mittleren Klassen geschehen kann; auch das mosaische Gesetz, die Weissagung und die Dichtung des Men Testaments, wie die Predigt Jesu und die Briefe der Apostel müssen dem Schüler der oberen Klassen nahegebracht werden. Ich habe mich bemüht, auch für diese schwierigen Abschnitte eine Form der Dar­ stellung zu finden, wie sie für den Schüler angemessen ist. Eine „Bibelkunde" ist in meinem Buche zwar für den L e h r e r zu finden, aber, wie im ersten Abschnitt des Buches dargelegt ist (S. 4—5)*), für den Schüler als be­ sonderer Unterrichtsgegenstand nicht vorhanden. DerLehrerfindetalsofürdenBibel -Unterrichtin den oberen Klassen in meinem Buche, wie ich hoffe, das zusammengefaßt und schulmäßig bearbeitet, was er aus der Bibel dem Schüler vornehmlich vorführen wird. Auch der Religionslehrer der höheren Schulen wird nun natürlich zur Vorbereitung auf seinen Unterricht noch eines Bibelkommentars bedürfen. Einen solchen für die Religionslehrer der höheren Schulen zu schreiben, hat der schon verstorbene Me z g e r (Ephorus in Schönthal in Württemberg) in dem trefflichen „Hilfsbuch zum Verständnis der Bibel" (Gotha, Perthes, 4 Hefte) begonnen, welches leider nur bis zur Richterzeit reicht. Mein Handbuch wandelt in den Bahnen des verstorbenen Verfassers, und es bietet in derjenigen Beschränkung, welche für einHandbuchfürdenUnterrichtgebotenist, denHauptinhaltder Bibelvoll st ändigdar, welchen dem Lehrer zu seinem Privat st udium in größerem Umfange darzubieten der verstorbene M e z g e r beabsichtigte. Bei dem Gegenstände, den das Buch behandelt (Heüige Geschichte), schien es mir nun nötig, dem Lehrer manche Darstellungen und Ausführungen darzubieten?), welche zwar beim Unterricht weder vorzutragen noch einzu­ prägen sind, aber mir dazu erforderlich erschienen, um dem Lehrer ein für den Unterricht in der Schule nötiges tieferes und wissenschaftlich begründetes Stoffen zu vermitteln, welches ihn einigermaßen befähigt, „bereit zu sein zur Verantwortung gegen jedermann (besonders den Schüler), der Gmnd fordert der Hoffnung (und des Glaubens), die in ihm ist." Diese Erweitemng und Vertiefung des Buches dürfte nach meiner Meinung das Buch auch für den reiferen Schüler und für den Gebildeten, wie auch für den angehenden Reli­ gionslehrer (zur Vorbereitung auf sein Examen) geeignet machen, um aus ihm über die Hauptpunkte der Helligen Geschichte und die wichtigeren Fragen ') 3. Ausl.: Nr. IIB, 3. *) Welche Abschnitte nur für den Lehrer bestimmt sind, darauf ist immer hingewiesen.

Vorwort zur ersten Auflage.

V

bet.Bibelwissenschaft eine noch gründlichere Belehrung zu gewinnen, als sie dem Schüler geboten werden kann. Der Unterricht in der Heiligen Geschichte ist nämlich in unserer Zeit ein besonders wichtiger, aber auch besonders schwieriger Unterricht. Es gilt den Schüler beim Glauben an die Bibel festzuhalten in einem Zeitalter, welches vielfach der Bibel gleichgültig oder gar feindlich gegenübersteht, und in einem Lebensalter, wo die erwachende Selbständigkeit des Geistes auch der Bibel gegenüber sich geltend macht. Hier gilt es also, den Schüler in der Bibel das wertvollste Buch erkennen zu lassen, aber ohne der Wissenschaft feindlich gegen­ überzutreten, die ihm in der Schule mit Recht als ein hohes Gut dargestellt wird. Die Lösung dieser Aufgabe wäre nun viel leichter, wenn die Theologie unserer Zeit eine größere Übereinstimmung in ihren Behauptungen zeigte. Aber davon sind wir bekanntlich noch ziemlich weit entfernt, obwohl ja in der Neuzeit eine Übereinstimmung der verschiedenen Richtungen in der An­ erkennung vieler Behauptungen eingetreten ist/ über welche noch vor kurzer Zeit die Meinungen weit auseinandergingen. Ich habe mich nach Kräften bemüht, diese schwierige Aufgabe zu lösen; ich weiß ebenso wie Mezger, daß man hei der Lösung derselben „leicht nach rechts und links anstößt". In welchem Sinne ich die Lösung dieser Aufgabe versucht habe, zeigt besonders auch der Abschnitt des Buches: „Die Kritik im Verhältnis zur Bibel und zur Offenbarung" (Nr. 11-15)1). Was nun diese „Hellige Geschichte" dem Lehrer darbietet, beruht seinem Inhalte nach ebenso, wie die Darstellungen in meiner „Kirchengeschichte", vomehmlich auf den wissenschafllichen Handbüchern der betreffenden Gebiete, vornehmlich also der Helligen Geschichte, der biblischen Einleitung und der bMschen Theologie, wie auch auf den wissenschafllichen Kommentaren der biblischen Bücher und auf Spezialschriften über die wichtigeren Abschnitte der Bibelwissenschaften; eigentliche Schulbücher habe ich fast gar nicht benützt. Dagegen beruht die Gestaltung des Ganzen und der einzelnen Ab­ schnitte, wie sie für den Unterricht dargeboten wird, zwar ebenfalls zum Teil auf Anregungen, welche ich durch wissenschaftliche Bücher erhalten habe; aber die Gestaltung des Einzelnen ist doch vomehmlich eine Fmcht meines langjährigen Religionsunterrichts. Denn das erfährt ja jeder Lehrer immer aufs neue an sich selber, was G e i b e l von sich bekennt2): „Das ist die Wirkung edler Geister: Des Schülers Kraft entzündet sich am M e i st e r; Doch schürt sein jugendlicher Hauch Zum Dank des Meisters Feuer auch." Auch für dieses Buch verdanke ich außerordentlich viel dem Unterricht; die angemessene Darstellung der Sache und die angemessene Gmppiemng der Gedanken ist oft nur durch den Unterricht gewonnen, denn die wissenschaflliche Darstellung bedarf für die Schule oft einer gänzlichen Umgestaltung, und diese hat sich mir an vielen Stellen erst aus dem oft wiederholten Unterricht ergeben. Daß der Religionslehrer für seinen Unterricht jetzt eine große Fördemng erhält durch die unlängst ins Leben gemfene für den Religionslehrer sehr

») 3. Stuft.: Nr. I. *) Ges. Werke IV, 88.

VI

Vorwort zur zweiten und dritten Auflage.

wertvolle und beachtenswerte „Zeitschrift für den Religionsunterricht"l), wie auch durch den „Jahresbericht für die höheren Schulen", welcher seit dem Jahre 1888 auch einen Bericht über den Religionsunterricht enthält, darf ich auch hinsichtlich meines Buches nicht unerwähnt lassen. Mit dem drittenBande (Glaubenslehre) soll mein „Handbuch für den Religionsunterricht" hoffenllich im nächsten Jahre seinen Abschluß erhalten?); ein für den Schüler bestimmtes Hilfsbuch soll, wie ich hoffe, dem voll­ endeten Werke alsbald nachfolgena). Rakel, den 10. August 1890.

R. Heidrich.

Vorwort zur zweiten und dritten Auflage. YjAie die neue Auflage der K i r ch e n g e s ch i ch t e, so ist auch die neue ^ Auflage dieses Bandes in der Anlage im ganzen unverändert geblieben; ich habe nur, well mir das für den Lehrer angemessener schien, (schon in der zweiten Auflage) die Frömmigkeit nach dem Gesetz mit der Weissagung und den lyrisch-didaktischen Büchern zu e i n e m großen Abschnitt verbunden, so daß nunmehr Glaube und Frömmigkeit des Men Bundes in einem Mschnitte im Zusammenhange dargestellt sind — eine Änderung, die für den Unterricht keine Bedeutung hat, da sie ja dem Lehrer freie Hand läßt. wie er die Swffe gruppieren will. Dagegen ist allerdings (wie schon in der zweiten, so auch in der brüten Auflage) im einzelnen überall nicht bloß die bessernde Hand angelegt, sondern es sind auch manche Mschnitte erheblich umgestaltet worden — aber nicht um den Lehrstoff zu erweitern, sondern um den Lehrer noch tiefer in das B e r st ä n d n i s der Sache einzuführen und ihn noch mehr zu befähigen „zur Verantwortung gegen jedermann, der Grund fordert der Hoffnung und des Glaubens, die in ihm sind". Dazu habe ich natürlich für die brüte Auflage die seit dem Erscheinen der beiden ersten Auflagen erschienene neue Litteratur zu Rate gezogen, und ich hoffe, nichts Wesentliches übersehen zu haben. So übergebe ich denn auch dieses Buch aufs neue der Öffentlichkeit, einer­ seits mit dem herzlichen Danke für die freundliche Aufnahme, die meine Schriften gefunden haben, und andererseits mit dem Wunsche, daß es mir beschieden sein möge, dieselben auch noch weiter vervollkommnen zu können. Rakel, den 10. August 1896. Berlin W. 15, den 22. Juli 1911.

R. Heidrich. x) Ich führe dieselbe an mit dem Zeichen: ZRU. 2) Erschienen 1891, in 2 Ausl, im Jahre 1899. 8) Erschienen 1893, in 3. Ausl, im Jahre 1904.

Inhaltsverzeichnis. Sette Vorwort.................................................................................................................. III Inhaltsverzeichnis....................................................................................................... VII Quellenstücke (und Lesestücke)in meinen Schriften.......................................... XVI Druckfehler und Berichtigungen............................................................................... XX I. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie; die wissenschaft­ liche Darstellung der heiligen Geschichte in der neueren Zeit ............ XXI II. Lehrstoff und Lehrplan für den Religionsunterricht, besonders in der Heiligen Geschichte. A. Lehrstoff und Lehrplan des Religionsunterrichts in ihrer geschicht­ lichen Entwickelung. 1. Der Religionsunterricht in der alten Kirche und in der Zeit der Reformation.................................................................................... XLIV 2. Der Lehrstoff des Religionsunterrichts...................................... XLVII 3. Der Lehrplan für den Religionsunterricht in Preußen von 1816—1901...................................................................................... Lü B. Der Unterricht in der Heiligen Geschichte. 1. Biblische Geschichte........................................................................ LIV 2. Das Bibellesen in der Schule...................................................... LXII 3. Die Bibelkunde................................................................................ LXV €. Zur Methodik des Bibelunterrichts; die Herbart'schenFormalstufen LXV D. Der Bibelunterricht in den oberen Klassen der höheren Schulen LXVHI E. Lehrplan für den Religionsunterricht in den höheren Schulen LXXIII F. Die Schulbücher für den Religionsunterricht.................................... LXXIII III. Der Bücherschatz des Religionslehrers für den Unterricht in der heiligen Geschichte........................................................................................................ LXXV Biblische Bücher.................................................................................................... 619 Zahlen der heiligen Geschichte............................................................................ 621 Register .................................................................................................................. 623

Heilige Geschichte'). Erster Hauptteil. Die Geschichte de» Alte« Hunde». Einleitung. 1. Hie Geschichtschreibung im Kolke Israel. A- Die Entstehung der Geschichtschreibung des Men Testaments .................... B. Der Charakter der Geschichtschreibung des Mten Testaments........................

1 9

*) Die den einzelnen Mschnitten des Buches beigegebenen Stundenzahlen (im ganzen c. 129—160 Stunden) zeigen, wie der Lehrstoff der heiligen Geschichte

vm

Inhaltsverzeichnis. Seite

C. Der Charakter der einzelnen Geschichtsbücher des Alten Testaments...........

12

2« 3. 4. 5.

14 15 17 23

Die Stellung der neueren Theologie ;um Alten Testament........................ Die Wissenschaftliche Zearbeituuy der Geschichte des Kolkes Israel.......... Die Wellhausen'sche Hypothese........ .......................................................... Das Alte Testament in der Schule............................................................ Erster Abschnitt.

Die Geschichte des Dolkes Israel von Moses bis Gsra. Vorbemerkung....................................................................................... .

27

Erste Periode.

Das DolK Israel in der Wrreit und im Zeitalter des Moses. Wie Gott die Israeliten aus Ägypten geführt und durch Moses zu ihnen geredet hat. Vorbemerkung für den Lehrer..................................................................................

28

L DaS Bott der Offenbarung; die Religion -er Offenbarung; die heilige Schrift, die Urkunde der Offenbarung. A. Das Volk der Offenbarung. 6. Abstammung (und Sprache) des Volkes Israel..........................................

29

B. Die Religion der Offenbarung. 7. Die Religion des Volkes Israel und die weltgeschichtliche Bedeutung Israels................................................................................................................. 8. Die israelitische Religion im Verhältnis zu den andern Religionen des Wertums .......................................................................................................... 9. Die Offenbarung Gottes in der Geschichte der Menschheit...................... 10. „Inhalt und Zusammenhang der heiligen Geschichte" .............................. 11. Die Entwickelung der israelitischen Religion .............................................. 12. Die Vollendung der israelitischen Religion im Christentum......................

30 32 33 36 37 39

C. Die heilige Schrift, die Urkunde der Offenbarung. 13. Unsere Bibel....................................................................................................... 40 14. Die Entstehung der heiligen Schrift; die Grundsprachen der h. Schrift; der Text der Bibel. A. Das Alte Testament. I. Die Entstehung des Alten Testaments.......................................... 42 in zwei Jahren (Sekunda) durchgenommen werden kann. Wie derselbe gruppiert werden kann, ist in meinem „Lehrplan für den evang. Religionsunterricht", dritte Auflage (Rakel 1903, Progr. Nr. 191) dargelegt. Wenn nun für das A. T. mit seinen 929 + 150 = 1079 Kapiteln (einschl. der Apokryphen) 62—82 Stunden, für das R. T. mit seinen 260 Kapiteln 66—84 Stunden angesetzt sind, so ist also für das A. T., obwohl dasselbe viermal so groß ist, als das N. T., nur d i e s e l b e Zeit beansprucht, wie für das R. T. Wenn also die D a r st e l l u n g meines Buches ein a n d e r e s Verhältnis des A. D zum R. T. zeigt (drei Fünftel gegen z w e i Fünftel), so hat das einen ande­ ren Grund. Während nämlich beim A. T. dem Schüler vieles vom Lehrer dar­ geboten wird, was in der Bibel zu lesen nicht möglich ist, soll und kann beim R. T. die Lektüre der Bibel viel stärker hervortreten; aus diesem Grunde konnte die Dar­ stellung des R. T. in meinem Buche kürzer gefaßt werden.

Inhaltsverzeichnis.

IX Seite

II. Die Sprachen des Men Testaments.............................................. III. Der Text des Alten Testaments......................................................

47 51

B. Das Neue Testament. I. Die Entstehung des Neuen Testaments........................................

53

II. Die Sprache des griechischen Alten und des Neuen Testaments 57 III. Der Text des Neuen Testaments .................................................. 59 15. l Übersetzung, Verbreitung und) Bedeutung der Bibel.............. ................ Nr. 6—15: 6 oder mehr Stunden *).

61

IL Die Geschichte -es vormosaischen und des mosaischen Zeitalters. 16. Urgeschichte des Volkes Israel; das altbabylonische Reich; Abraham in der Weltgeschichte.............................................................................................. 17. Ägypten im Wertum; das Volk Israel in Ägypten................................ 18. Moses' Geburt unb Berufung........................................................................ 19. Die Erlösung des Volkes Israel aus Ägypten .......................................... 20. Der Zug zum Sinai; die Sinai-Halbinsel; die Bundschließung am Sinai 21. Vom Sinai zum heiligen Lande; Moses' Tod .......................................... 22. Moses' Bedeutung und Charakter ................................................................ 23. Die Eroberung Kanaans durch Josua.......................................................... Nr. 16—23: 4—6 Stunden. 24. Land und Leute von Kanaan; die Ansiedelung der Israeliten; die Nach­ barvölker ............................................................................................................. Nr. 24: 2—4 Stunden.

67 72 75 76 81 84 85 86

88

HL Die Geschichtsbücher des mosaischen Zeitalters. 25. 26. 27. 28.

Der Pentateuch und das Buch Josua.......................................................... 98 Die Frage nach der Entstehung des Pentateuchs...................................... 99 Die Quellenschriften des Pentateuchs.......................................................... 102 Die Geschichtserzählung der Quellenschriften des Pentateuchs; das Buch Josua.................................................................................................................... 105 29. Das Ergebnis der Kritik über die Entstehung des Pentateuchs und des Buches Josua....................................................................................................... 108

Zweite Periode. Das Doik Israel im Zeitatter des Königtums, der Untergang der beiden Deiche und die Wiederherstellung des Deiches Juda. Wre Gott das Königtum in Israel begründet und manchmal und mancherlei Weise durch die Propheten zu seinem Volke geredet hat. Vorbemerkung für den Lehrer.................................................................................. 111

A. Bon den Richtern bis zum Untergange der beiden Reiche. 30. Die Geschichtsbücher vom Zeitalter der Richter bis zum Untergange der beiden Reiche: die Bücher der Richter, Ruth, Samuels und der Könige 112 31. Dne Zeit der Richter........................................................................................ 116 32. Der Prophet Samuel; das Königtum im Volke Israel............................ 118 *) Die angegebene Stundenzahl ist natürlich nicht bloß für den Vortrag, sondern auch füE die Wiederholung bestimmt.

X

Inhaltsverzeichnis.

Sette 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44.

Der König Saul ............................................................................................... 121 Die Könige David und Salomo..................................................................... 123 Jerusalem und der Tempel............................................................................. 130 Bon der Teilung des Reiches bis zur Berührung der beiden Reiche mit der assyrischen Weltmacht; der Bilderdienst und der Götzendienst.......... 132 Assyrien als Weltmacht..................................................................................... 136 Das Reich Israel von der ersten Berührung mit der assyrischen Weltmacht bis zu seinem Untergange ............................................................................... 137 Das Reich Juda vom Tode der Athalja bis zum Tode des Königs Hiskia 139 Die Propheten der assyrischen Zeit; der Prophet Jesaias ...................... 141 Der König Josia und die Reform des Gottesdienstes.............................. 145 Das neubabylonische Reich ............................................................................. 148 Der Untergang des Reiches Juda ................................................................ 148 Der Prophet Jeremias.................................................................................... 150 B. DaS Exil und die Rückkehr.

45. 46. 47. 48. 49.

Die Geschichtsbücher der Zeit nach dem Exil ............................................ Die Juden im Exil.......................................................................................... Die Weissagung des zweiten Jesaias .......................................................... Das persische Weltreich..................................................................................... Die Rückkehr aus dem Exil und das neue Gottesreich; Esra und Nehemia; die Propheten Haggai, Sacharja (Kap. 1—8) und Maleachi .................. Nr. 30—49: 8—12 Stunden.

163 159 161 163 164

Zweiter Abschnitt. Glaube und Frömmigkeit des Kolkes Israel nach „dem Gesetz, den Pro­ pheten und den Schriften". 50. Einleitung............................................................................................................. 169 L Die Gesetzesreligion nach ihrer Begründung und in ihrem Wesen. Vorbemerkung für den Lehrer................................................................................... 171 A. Die Begründung und Entwickelung der Gesetzes­ religion. 51. Die Person des Moses; das Gesetz Mosis; die Bücher Mosis und das Buch Josua.................................................................................................................... 172 52. Moses' Bedeutung für die israelitische Religion.......................................... 174 53. Die Entstehung und Entwickelung des mosaischen Gesetzes...................... 178 54. Die älteste Gesetzgebung des Volkes Israel................................................ 179 55. Die Gesetzgebung des Deuteronomiums....................................................... 182 56. Das Priestergesetz.............................................................................................. 185 B 0 v. 57. DasWesender Gesetzesreligion ...................................188 B. Die Begründung der Gemeinschaft mitGott. 58. 59. 60. 61.

Der Der Das Der

Gott Israels und sein Name........................................................... 189 Bund Gottes mit dem Volke Israel .................................................... 192 Gesetz Gottes...............................................................................................195 Dekalog, das Grundgesetz des Volkes Israel...................................... 197

Inhaltsverzeichnis.

XI Seite

C. Die Gemeinschaft Gottes mit dem Volke Israel. 62. Gottes Gegenwart im Volke Israel ............................................................ 203 63. Die Bundeslade, die Stiftshütte und der Tempel.................................... 204 64. Der Höhendienst, der Bilderdienst und der Götzendienst; Jerusalem und der Tempel........................................................................................................ 208 65. Die heiligen Zeiten.............................................................................................213 D. Die Gemeinschaft des Volkes mit Gott. 66. Die Heiligkeit des Volkes Gottes............................................ ..................... 67. Das Priestertum int Volke Gottes................................................................ 68. Das Opfer im Volke Gottes.......................................................................... E. 69. Frömmigkeit und Gottesdienst des Men Bundes in ihrer Ent­ wickelung und im Verhältnis zum Christentum............................. Nr. 50—69: 8—12 Stunden.

n. Die Hoffnung

220 222 226 233

der Frommen des Alten Bundes; die Propheten und die Weissagung.

Wie Gott vor Zeiten manchmal und mancherlei Weise zu den Israeliten durch die Propheten geredet hat. Vorbemerkung für den Lehrer.................................................................................... 238 70. Einleitung............................................................................................................ 239 71. Die Weissagung im Volke Israel ................................................................ 240 72. Die Propheten des Volkes Israel................................................................ 243 73. Die prophetischen Bücher des Alten Testamentes...................................... 247 74—77. Die messianische Weissagung (die Weissagung von dem vollkommenen Gottesreich). 74. Die Entstehung und Entwickelung der messianischen Weissagung .............. 248 75. Weissagung und Erfüllung ............................................................................ 256 76. Die Bedeutung der messianischen Weissagung für dieisraelitische Religion 260 77. Der Inhalt der messianischen Weissagung. 1. Einleitung........................................................................................................ 261 2. Die messianische Weissagung; Übersicht für die Lektüre und zum Aus­ wendiglernen .................................................................................................. 263 3. Die messianische Weissagung. A. Das Reich Gottes im VolkeIsrael .................................................. 265 B. Die Hoffnung auf die Gründung eines vollkommenen Gottesreiches.............................................................................. 268 C. Die Erfüllung der Weissagung.................................................. 282 Nr. 70—77: 14—18 Stunden.

HL Glaube und Frömmigkeit deS Alten Bundes nach den Psalmen, den Sprüchen SalomoS und dem Buche Hiob. Vorbemerkung für den Lehrer.................................................................................. 284 78. Einleitung............................................................................................................ 285 79. Die hebräische Poesie; die lyrischen Dichtungen des A. T........................ 286 80. Der Psalter.

xn

Inhaltsverzeichnis. Seite

A. Die Entstehung des Psalters .................................................................... 289 B. Der Psalter im Volke Israel und in der christlichen Kirche .............. 294 C. Luthers (zweite) Vorrede auf den Psalter. 1526................................... 295 81. Die Weisheit im Volke Israel und die didaktischen Bücher des Alten Testamentes.......................................................................................................... 296 82. Der Glaube der Frommen des Men Bundes nach denPsalmen..........301 83. Der Wandel des Frommen nach den SprüchenSalomos ........................ 305 84. Der Kampf um den Glauben; das Buch Hiob........................................ 307 85. Der Glaube an eine Seligkeit im Himmel................................................. 318 Nr. 78—85: 12—16 Stunden (Buch Hiob: 8 Stunden).

Dritter Abschnitt. Das jüdische Kolk von der Wiederherstellung dis zum Untergange des Staates. 432 vor Ehr. dis 70 nach Ehr. Wie die ausdem Exil zurückgekehrten Juden um Gott eiferten, aber mit Unverstand.

L Äußere Geschichte des späteren Judentums. Vorbemerkung für den Lehrer.................................................................................. 86. Die Geschichtsbücher des späteren Judentums............................................ 87. Das Judentum in der Zeit von Esra bis zu der Religionsverfolgung unter Antiochus Epiphanes........................................................................................ 88. Das jüdische Volk unter den Makkabäern, das Eingreifen der Römer, der Untergang der Makkabäer .............................................................................. 89. Der König Herodes der Große...................................................................... 90. Die Söhne des Herodes itnb die römischen Statthalter; Herodes Agrippa I. 91. Die späteren römischen Statthalter; der Ausbruch des Krieges gegen Rom 92. Der Krieg in Galiläa........................................................................................ 93. Der Krieg in Judäa........................................................................................

321 321 323 325 334 338 343 346 349

II. Die Frömmigkeit deS jüdischen Volkes in der Zeit nach dem Exil. „Sie eifernum Gott, aber mit Unverstand." Vorbemerkung für den Lehrer.................................................................................. 358 94. Die geistigen Führer der Juden in der Zeit nach dem ($£Ü* Priester und Schriftgelehrte, Pharisäer und Sadducäer. Die Essener ........................ 358 95. Die Frömmigkeit des nachexilischen Judentums .......................................... 362 96. Die Apokalhptik und die messianische Hoffnung in der Zeit nach dem Exil 365 97. Die innere Entwickelung des Judentums nach der Zerstörung Jerusalems 371 III. Die Stellung deS Judentums in der Welt von der Zeit deS Exils biS zur Gegenwart. 98. Das Judentum in der Zeit nach dem Exil; Judentum und Heidentum; die Oberen des jüdischen Volkes.................................................................... 374 99. Das Judentum in der Zerstreuung (Diaspora) und die Proselyten — 376 100. Das Judentum von der Zerstörung Jerusalems bis zur Gegenwart ... 378 Nr. 86—100: 6 Stunden für I und III und 2 Stunden für II --- 8 Stunden.

Inhaltsverzeichnis.

XTTT Sette

Zweiter Hauptteil. Die Geschichte des Ueuen Hundes.

Vierter Abschnitt. Jesus Christus. WieGott,alsdieZeiterfülletwar,durchseinenSohn zu den Menschen geredet hat. Vorbemerkung für den Lehrer.................................................................................. 382 I. Einleitung. DaS Christentum in der Weltgeschichte; die Überlieferung vom Leben Jesu; die Überlieferung und die Kritik. 101. „Inhalt und Zusammenhang der heiligen Schrift"; Christentum und Judentum; das Christentum in der Weltgeschichte .................................. 383 102. Die Überlieferung vom Leben Jesu. I. Darstellung für die Schule........................................................................ 386 II. Ausführungen für den Lehrer.................................................................. 389 a) Berichte von Jesus außer den Evangelien...................................... 389 b) Die Entstehung der drei ersten Evangelien .................................... 390 c) Die synoptischen Evangelien................................................................ 392 d) Das Evangelium Johannis.................................................................. 395 e) Die apokryphischen Evangelien.......................................................... 398 103—105. Die Überlieferung und die Kritik. A. 103. Die Glaubwürdigkeit der Überlieferung vom Leben Jesu.......... 401 B. 104. Die Wunder im Leben Jesu............................................................ 406 C. 105. Das Wunder der Person Jesu ........................................................ 408 106. Die wissenschaftliche Darstellung des Lebens Jesu in der neueren Zeit 411 Nr. 101—106: 4—6 Stunden.

BL Der Verlaus deS Lebens Jesu bis zum Bekenntnis des Petrus. Vorbemerkung für den Lehrer.................................................................................. A. Das Leben Jesu bis zu seinem öffentlichen Auftreten. 107. Die Geburt und die Jugend Jesu.................................. .......................... 108. Jesu Leben im stillen Hause von Nazareth .............................................. 109. Die Jugend Jesu nach den kanonischen und den apokryphischen Evangelien B. Das Auftreten Jesu. 110. „Der Anfang des Evangeliums von Jesu Christo" (Mark. 1,1): Johannes der Täufer......................................................................................................... 111. Die Taufe Jesu............................................................................................... 112. Der Beruf Jesu und die Versuchung ........................................................ C. Das Leben und Wirken Jesu bis zum Bekenntnis des Petrus. 113. Überblick über das öffentliche Leben Jesu ................................................ 114. Der Beginn der Wirksamkeit Jesu.............................................................. 115. Jesu Wirksamkeit in Galiläa bis zum Bekenntnis des Petms.............. Nr. 107—115: 6-8 Stunden.

414 415 419 421

424 427 429 432 436 438

XIV

Inhaltsverzeichnis.

Sette HI. Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit. Vorbemerkung für den Lehrer................................................................................... 116. Die Predigt Jesu 117. Jesu Predigt von der Gnade Gottes gegen die Sünder................... 118. Jesu Predigt vom Reiche Gottes............................................................... 119. Jesu Predigt von der Gerechtigkeit............................................................. 120. Das Vaterunser.................................................................................................. Nr. 116—120: 14—20 Stunden.

443 444 448 450 457 477

IV. Die Person Jesu. 121. 122. 123. 124. 125.

Die Predigt Jesu und die Person Jesu......................................................... 484 Hoheit und Niedrigkeit im Leben und in der Person Jesu .................... 485 Jesus als der Messias; der Menschensohn und Gottessohn......................487 Jesu Liebe zu den Leidenden, den Armen und den Kindern — ... 493 Jesus ein Vorbild für seine Jünger ................................................................498 Nr. 121—125: 4 Stunden. V. Der AuSgang des LebenS Jesu.

Vorbemerkung für den Lehrer..........................................................................................501 126. (127.) Jesus und seine Gegner...........................................................................502 127. (126.) Jesu Predigt von seinem Ausgang; die Verklärung......................604 128. Jesu letzte Wirksamkeit in Jerusalem und in Peräa .................................508 129. Die letzte Wirksamkeit Jesu vor seinem Einzuge in Jerusalem; die Salbung Jesu in Bethanien und sein Einzug in Jerusalem............. 612 Nr. 126—129: 4 Stunden. 130. Jesu letzte Wirksamkeit in Jerusalem (Montag, Dienstag und Mittwoch); der Verrat des Judas (Mittwoch)....................................................... 516 131. Der letzte Tag vor dem Tode (Donnerstag) ................................................ 617 132. Der Tod Jesu (Freitag). a. Der Todestag Jesu.............................................................................................. 622 b. Die jüdischen und die heidnischen Oberen des jüdischen Volkes beim Tode Jesu............. ::............................................................................................. 524 c. Die Gefangennehmung Jesu................................................................................524 d. Jesus vor bet jüdischen Obrigkeit.......................................................................525 e. Die- Verleugnung des Petrus und das' Ende des Judas .........................526 f. Jesus vor der heidnischen Obrigkeit.................................................................. 627 g. Die Strafe der Kreuzigung........................................................... 530 h. Der Gang rad) Golgatha ....................................................................................531 i. Jesus am Kreuze.................................................................................................. 632 k. Das Begräbnis Jesu............................................................................................. 534 133. Die via dolorosa; das heilige Grab...................................................................634 134. Das Leiden des Herm in der Sage.................................................................... 536 135. Der Eindruck des Todes Jesu auf seine Jünger..............................................641 136. Die Tatsächlichkeit der Auferstehung Jesu.......................................... 541 137. Die Erscheinungen des Auferstandenen;dieHimmelfahrt..............................646 Nr. 126-137 : 8—12 Stunden.

Inhaltsverzeichnis.

XV Seite

Fünfter Abschnitt. Das Christentum im Zeitalter der Kpostel. Wie die Apostel hingegangen sind in alle Welt, um alle Menschen zu Jüngern Jesu Christi zu machen. Vorbemerkung für den Lehrer................................................................................... 548

Einleitung 138. (139.) Die zwölf Apostel ............................................................................... 548 139. (140.) Die Apostelgeschichte .......................................................................... 550 140. Apokrhphische Apostelgeschichten, Briefe und Lehrschriften, Kirchen­ ordnungen und Apokalypsen ........................................................................... 552 141. Die neuere Darstellung der Entwickelung des apostolischen Zeitalters und der Entstehung der altkatholischen Kirche .................................... ............. 556

I. Nutzere Geschichte deS Christentums im apostolischen Zeitalter. A.

142. Die Begründung des Christentums unter den Juden durch den Apostel Pe 1 rus; die Verfolgung der Gemeinde; die Ausbreitung des Christen­ 559 tums Nr. 138—142: 6 Stunden. B. 143—147. Die Verbreitung des Christentums unter den Heiden durch den Apostel Paulus. 143. Die Bekehrung des Saulus, die Christengemeinde in Antiochia und die erste Missionsreise des Paulus.................................................................... 663 144. Judenchristen und Heidenchristen; die Vereinigung von Jerusalem (das Apostelconcil) und der Streit in Antiochia; der Galaterbrief................ 567 145. Die zweite und die dritte Missionsreise des Paulus...............................573 146. Rückblick und Ausblick; die Briefe des Paulus; der Hebräerbrief und der Barnabasbrief ........................................................................................... 578 147. Paulus in Jerusalem und in Cäsarea; Paulus und Petrus in Rom 686 C. 148. Das Judenchristentum in der späteren Zeit; Jakobus, Petrus und Judas und ihre Briefe ............................................................................................... 590 D. 149. Das Zeitalter des Johannes; die Schriften des Johannes.......... 595 E. 150. Die Sagen von den andern Aposteln; die Apostelfeste im Kalender— 598 Nr. 143-150: 14—18 Stunden.

TL DaS innere Leben der Kirche im apostolischen Zeitalter. 151. 152. 153. 154. 155.

Der heilige Geist und die Gnadenmittel.................................................. 600 Die Gemeinde des Herrn............................................................................... 601 Die Verfassung der Kirche im apostolischen Zeitalter............................ 602 Glaube, Gottesdienst und Leben der ersten Christen ...............................604 Die Hoffnung der Gemeinde.........................................................................611 Nr. 151—155: 8-12 Stunden. Schluß...............................................................................................................................619 Die Bücher der heiligen Schrift .................................................................................619 Zahlentabelle zur heiligen Geschichte...........................................................................621 Register.......................................................................................................... 623

dXuellenftücFe (und Hefestücke) in meinen Schriften ^). I. Jesutz und seine Jünger. Die Jugend Jesu nach den apokrhphischen Evangelien. HG 109. Worte Jesu aus den apokrhphischen Evangelien. HG 102 e. Das Leiden des Herrn in der Sage. HG 134. Sagen von den Aposteln nach den apokrhphischen Apostelgeschichten. (und 150). Paulus und Petrus in Rom. HG 147. Petrus. Von Kinkel. Johannes in der Sage. HG 149. Der gerettete Jüngling. Von Herder. Aus jüdischen und christlichen Apokalypsen. HG 155 c.

HG 140 a

IL Die alte Kirche. Tacitus* Bericht über Nerves Christenverfolgung. KG 6 c. Ave Caesar, morituri te salutant. Von Gerok. Plinius und Trajanus. KG 10 b. (Sin libellus. KG 10 k. Märtyrer-Geschichten. KG 11. Die Bekehrung des Kaisers Constantinus in der Sage. KG 32 d. Klagegesang auf den Fall von Konstantinopel. KG 25 e. Der alte Bischof. Von Bube. KG 99 B.

m. Die Kirche deS Mittelalters. Gregorys VII. Bannspruch über Hnnrich IV. KG' 33 d. Der Mönch vor Heinrichs IV. Leiche. Bon Wolfgang Müller (1816—1873). Ave Maria. KG 35 A. Die fünf Kirchengebote der katholischen Kirche. KG 36 c. Die Kirchengebote der morgenländischen Kirche. KG 36 c, Anm. Die drei evangelischen Ratschläge. KG 37 b. Selbstkasteiung eines Mönches. KG 37 d, Anm. Benedikt XIII. Bon Geibel. KG 41 b. . Volkslied auf Johannes Huß. KG 42 c, Anm. Gans und Schwan. KG 42 c. 1) Es ist auch auf weitere, für den Schüler leicht erreichbare (in meinen Schriften nicht abgedruckte) Quellenstücke hingewiesen. — KG ---- Kirchengeschichte. HG — Hei­ lige Geschichte. GL—Glaubenslehre.

xvn

Quellenstücke (und Lesestücke) in meinen Schriften. IV. Die evangelische Kirche.

Luthers Leben bis zum Jahre 1517. Quell. I, 2. Luther im I. 1517. KG 44 sin. Mykonius und Tetzei. Quell. I, 3 b. KG 45 d. Drei Ablaßzettel. Quell. I, 3 c. KG 45 e. Der Anfang des Lutherschen Lärms. Quell. I, 3. KG 46 a. Luthers Thesen. KG 46 c. Luther in Augsburg vor Cajetan, 1518. Quell. I, 4. Luther in Altenburg vor Miltitz, 1519. Quell. I, 5. Das Religionsgespräch in Leipzig und die Bannbulle, 1519/20. Quell. 1, 6. Der Hofnarr bei der Leipziger Disputation. KG 47 a. Der Reichstag zu Worms, 1521. Quell. I, 7. Luther auf der Wartburg; die Rückkehr nach Wittenberg, 1521/22. Quell. I, 8. „Lebt Luther noch, oder haben sie ihn gemördert?" (Dürer.) Hilfsb. 160 a. Luthers Brief an den Kurfürsten von Sachsen, 1522. Quell. I, 8. Luther und die Schweizer Studenten in Jena, 1522. Quell. I, 8. Luther und die Schwärmer. KG 48 i. Der Reichstag zu Augsburg, der Schmalkaldische Bund und der Nürnberger Reli­ gionsfriede. 1530/32. Quell. I, 10. Wie Luther in Coburg seinen Freunden in Augsburg zur Seite gestanden hat. Quell. I. 11. KG 49 B. Luthers „Vermahnung an die Geistlichen in Augsburg". Quell. II, 2. Luther und die Seinen. Quell. I, 12. „Von Dr. Luthers täglichem Wandel und Wesen." Quell. I, 13. Aus Luthers Tischreden. Quell. I, 14. Luthers Tod. Quell. I, 15. Luthers Beruf und Bedeutung. Quell. I, 16. KG 50 D. Zwinglis Urteil über Luther. KG 52 c. Die wunderbare Führung Gottes an einer Salzburgischen Dirne. Hilfsb. 168 a. „Ich bin ein armer Exulant." Hilfsb. 168 b. Schönherr, Glaube und Heimat. 1910. 2,00.

V. Die neuere Zeit. „Erhalt uns Herr bei deinem Wort." KG 80 b. Aus Johann Arndts „Wahrem Christentum". KG 81 a. Aus Speners „Pia desideria“. KG 81b.. Botschaft Kaiser Wilhelms an den Deutschen Reichstag vom 17. Nov. 1881. KG 82 c. Joachim II. und Eck, nach Mathesius. KG 83 A. Edikt des Großen Kurfürsten 1664. KG 83 C. Die Unions-Urkunde 1817. KG 83 D. Der Deutsch-evangelische Kirchenausschuß an die evangelischen Gemeinden Deutsch­ lands 1903. KG 83 E. Aufhebung des Jesuitenordens. KG 86 c. Brief des Bischofs Hefele nach der Unfehlbarkeits-Erklärung. KG 89 b. Bulle des Papstes Bonifatius' VIII. „Unam sanctam“ 1302. KG 90 a. Protest des Papstes gegen den Westfälischen Frieden. KG 90 b. Protest des Papstes gegen die Annahme der preußischen Königskrone 1701. KG 90 c. Heidrich, Heilige Geschichte.

3. Ausl.

b

xvm

Quellenstücke (und Lesestücke) in meinen Schriften.

Briefwechsel Kaiser Wilhelms I. im Streite mit Papst Pius IX. KG 90 e. Brief des Kronprinzen von Preußen an Papst Leo XIII. 1878. KG 90 e. Brief des Papstes an den Fürsten Bismarck 1885. KG 90 e. Ansprache des Papstes an die Kardinäle über die Beendigung des Kirchenstreites 1886. KG 90 e. Die Lehninsche Weissagung. KG 99 C, c. Die Weissagung des Malachias. KG 99 6, d.

VI. Kirchenbuch. A. Die heilige Schrift. Die Entstehung des A. T. nach der Esrasage: HG 3 S. 47, d. Die griechische Bibel: der Aristeasbrief. Vgl. Kautzsch, Apokr. und Pseudepigraphen, Bd. II. Die lateinische Bibel. KG 71 C, 1. Die Revision der Lutherbibel. Quell. II, 5. Die Sprache der Lutherbibel. Quell. II, 4. KG 71E. Luthers „Sendbrief vom Dolmetschen". Quell. II, 6. Summarien über die Psalmen und von Ursachen des Dolmetschens. 1533. Die Lutherbibel in ihrer äußeren Gestalt. KG 71 C, 3 e. Luthers Vorrede zum Psalter. HG 80 C. Luthers Vorrede zum Römerbrief. Hilfsb. 137. Was Luther vom Bibellesen sagt. Quell. II, 6. Vorrede Luthers über den ersten Teil seiner deutschen Bücher, im 1.1539 ausgegangen. „Vom Nutzen der alten Sprachen." Aus Luthers Schrift „An die Rathsherren aller Städte deutsches Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen." 1524. — Reclams Universalbibliothek Nr. 2373 (20 Pfennig). „Wo keine Bibel ist im Haus." Die Bilderbibel. Von Freiligrath (1876). The Gospel in Many Tongues. (Das Evangelium in vielen Sprachen.) Festschrift der britischen Bibelgesellschaft zum 7. März 1904. (Joh. 3,16 in 403 Sprachen oder Formen. — 20 Pfennig). Gratis wird von derselben Bibelgesellschaft geliefert ein Auszug aus dieser Schrift: „Proben von denjenigen (26) Sprachen, welche in den deutschen Kolonieen gesprochen werden." Wie die Gegner über Luthers Bibel urteilen: a. Epistolae obscurorum virorum II, 33. b. Cochläus, Professor in Leipzig, f 1552. KG 71 C, 3 c. c. Pius VII. 1816. KG 71, D d. B. Die Bekenntnisschriften. Das Apostolikum. KG 16 und 66. Das Nicänum. KG 17. Das Konstantinopolitanum. KG 67. Die Augsburgische Konfession. Hilfsb. 141. Das Tridentmische Glaubensbekenntnis.

GL 91—95.

XIX

Quellenstücke (und Lesestücke) in meinen Schriften.

Die Entstehung von Luthers Katechismus. Quell. II, 7. Die Vorreden zu Luthers Katechismen. Quell. II, 8. Der Wert des Katechismus. Quell. II, 19. Luthers Katechismus. Hilfsb. 154. Luthers Katechismus-Lieder: a. Dies sind die heil'gen zehn Gebot. b. Wir glauben all' an einen Gott. c. Vater unser im Himmelreich. Das Baterrmser in verschiedenen Sprachen. Hilfsb. 154. HG 120 b. Luthers Auslegung des Vaterunsers im Großen Katechismus. Matthias Claudius, Vom Vaterunser. Ludwig Richter, Das Vaterunser in Bildern. 1856. — Vgl. Ludwig Richter, Lebens­ erinnerungen (1902), Anhang, S. 29. C. Das Gesangbuch. Griechische und lateinische Lieder im Hilfsbuch und int Quell. II. Die Entstehung von Luthers Gesangbuch. Quell. II, 10 a. Luthers Vorrede zu seinem Gesangbuch. Qttell. II, 10 b. Der Wert von Luthers Gesangbuch. Quell. II, 10 c. Frau Musica. Bon Luther. 1538. Ein feste Burg. Quell. II, 11. Liederbuch. Hilfsb. Nr. 155. Gedichte zu den Kirchenliedern des Hilfsbuchs Nr. 41, 43 und 54: Zu Nr. 41 („Befiehl du d. W."): Paul Gerhardt. Von Schmidt von Lübeck, 1766—1849. Zu Nr. 43 („Wer nur den lieben Gott läßt walten"): Georg Neumark. Von Johann Friedrich Kind (Verfasser des Textes der Oper „Der Freischütz"), t 1843. Zu Nr. 54 („Nun danket alle Gott"): Der Choral von Leuthen. Von Hermann Besser, 1807—1895. D. Der Gottesdienst. Luther, Bon der Ordnung des Gottesdienstes in der Gemeinde. Quell. II, 3. Der Sonntags-Gottesdienst in der preußischen Landeskirche. Hilfsb. 148. KG 72. R. Heidrich, Christnachtsfeier und Christnachtsgesänge in der evangelischen Kirche. 1907. a. Verbot der Christnachtsfeier. Nr. 1. b. Erhaltung der Christnachtsfeier. Nr. 2. c. Gestaltung der Christnachtsfeier. Nr. 3. d. Entstehung und Entwickelung des Christnachtsgesanges. Nr. 4—14. e. Verbreitung und Gestaltung des Christnachtsgesanges. Nr. 15—33.

b

Druckfehler und Berichtigungen S. 44, Z. 9 lies: Nr. 88 h. S. 46, Sinnt. 4 lies: Buch Esra, welche aber (nebst dem Gebet Manasse's) nur als . . . S. 66, Anm. 2 lies: dieses Abschnittes oben in Nr. II und in meiner . . . S. 71, Z. 8 v. u. lies: (darunter damals noch Amraphel . . . S. 90 m lies: Kapernaum nur die Trümmer . . . S. 90, Anm. 5 lies: Vgl. Baedeker (1910), S. 239 und Nr. 113 d. S. 106 a, Zeile 11 lies: Priesterschrift S. 126, Zusatz lzu a: Ps. 51 wird aber von neueren Forschern (auch von Kittel in der Theol. Enzykl. ^ 16, S. 206—208) nicht als davidisch anerkannt. S. 152, Anm. 6 lies: Vgl. S. 488, Anm. 1 und Kautzsch ... 2, 402 s (Apo­ kalypsen des Baruch). S. 157, Z. 11 lies: Ahasveros 29 mal S. 166, Anm. 4 lies: vgl. Nr. 14A, Id. S. 204, Anm. 2 lies: 2. Makk. 2, 1—8, Nr. 44 d und S. 488, Anm. 1. S. 223c: vergl. aber hierzu Kautzschs zu 4. Mose 35. S. 246, Anm. 4 lies: . . . Vgl. Nr. 14 A, II2. S. 286, Z. 4 lies: du leitest mich nach . . . S. 311, Z. 1 lies: und als eine . . . S. 336, Anm. 1 füge hinzu: Eine solche Tafel ist unlängst in Jerusalem ge­ funden worden: Baedeker (1910), S. 48 m. S. 388, Anm. 1 lies: vgl. Nr. 102 e, 109 und 134. S. 427, Anm. 2 füge hinzu: Vgl. S. 339, Anm. 1. S. 435, Anm. 6 füge hinzu: Oben ist der hebräische Grundtext angegeben. S. 533 m lies: „Eli, eli, lama asabthani" (aber in aramäischer Sprache, nicht hebräisch) . . . S. 549, Anm. 2 füge hinzu: Von drei Aposteln, Andreas, Philippus und Simon dem Eiferer, kennen wir nur den heidnischen Namen, nicht den jüdischen, den sie gewiß ebenfalls gehabt haben. S. 622, Z. 2 v. u. lies: als eine ganz. . .

I.

Die Betrachtung

der Bibel in

der

neueren

Theologie; die wissenschaftliche Darstellung der heiligen Geschichte in der neueren Zeit*). A. Die alte Lehre von der Inspiration der heiligen Schrift"). a. Wie Gott vor Zeiten manchmal und mancherlei Weise zu den Israeliten durch die Propheten und wie er zuletzt zu den Menschen durch den Sohn geredet hat, das ist in der heiligenSchrift aufgezeichnet; die heilige Schrift ist die Urkunde der göttlichen Offenbarung — darin stimmen alle Theologen mit einander überein. Nun haben aber von jeher die Menschen den Wunsch gehabt, die für sie so wichtige Offenbarung wo möglich in einer ganz authentischen, alle Zweifel und Bedenken ausschließen­ den Form, die von Gott selbst herstammte und von ihm verbürgt wäre, zu be­ sitzen. Dieser Wunsch findet seine Erfüllung am besten in der katholischen Kirches). Hier wird dem Katholiken eine Garantte für die richttge Über­ lieferung der Offenbarung, ja, noch obendrein für ihre richttge Aus­ legung dargeboten in der Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche und des Papstes. Ja, diese Lehre läßt sogar den Zweifel an der Wahrheit der B i b e l als weniger bedeutend erscheinen; wenn man nur die Lehre der K i r ch e für­ wahr hält, so ist es eigentlich gleichgültig, wie man sich zur Bibel verhält. Aber wer bietet uns nun die Garantie für die Wahrheit dieser Garantte? „Da gehört auch Glaube zu"4), ja, nach unserer Meinung ein solcher Glaube, den der e v a n g e l i s ch e Christ aufs entschiedenste verwerfen muß. ' b. Den Glauben an die Unfehlbarkeit der Concilien und der Kirche hat ja nun Luther schon auf dem Leipziger Religionsgespräch preisgegeben, und an die Unfehlbarkeit des Papstes glaubte man damals überhaupt noch nicht. So stützte denn Luther seinen Glauben auf die B i b e l, aber freilich in einer freieren, die Krittk nicht ausschließenden Weise, so daß er danach fragen konnte, ob ein Buch auch in die Bibel gehöre (Brief Jakobi), und ob sein Inhalt auch glaubwürdig sei (Offenb. Joh.). Dagegen haben die lutherische und die refor­ mierte Kirche dernachreformatorischen Zeit (im 17. Jahrh.) wieder­ um nach einer sicheren Stütze für ihren Glauben gesucht, und dieselbe nicht in seiner beseligenden Kraft und einleuchtenden Wahrheit gefunden, sondem in *) Eine Zusammenfassung bet folgenden Darlegungen für den Schüler findet der Lehrer unten, Nr. 15, C, I. 2) Vgl. Glaubenslehre2 Nr. I, D und I. 8) Vgl. Kirchengesch.2 Nr. 62, d. *) Walther v. d. Bog. (In einen zwiveltichen wän.)

XXn

I. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc.

einer Lehre von der heiligen Schrift, welche in der heiligen Schrift selber nicht begründet ist. Man erfand damals oder nahm aus älteren Kirchenlehrern auf dieLehrevonderbuchstäblichenJnspirationderheilig e n S ch r i f t. Wer aber erst e i n e n Irrtum annimmt, der wird allmäh­ lich in immer größere Irrtümer hineingeführt, bis die Unwahrheit seiner Be­ hauptungen so stark und offenbar wird, daß die Irrtümlichkeit der zu Grunde liegenden Lehre eingesehen wird. Das einfachste wäre gewesen, wenn man die Lutherbibel für inspiriert angesehen hätte, wie ja die Vulgata für den Katho­ liken als die unzweifelhaft richtige Bibelübersetzung gilt. Da das nun aber doch nicht anging, so wurde wenigstens der Grundtext für buchstäblich inspiriert angesehen. Diese Annahme schien damals um so eher möglich zu sein, als ja von Textkritik im 17. Jahrhundert noch keine Rede war; als dieselbe aber auf­ kam, wurde sie verketzert, denn sie brachte ja den Glauben an den Buch­ st a b e n ins Wanken. Nun sind aber in der h e b r ä i s ch e n Bibel doch nur die Konsonanten von alters her überliefert; die Vokale sind erst später (c. 600 nach Chr.) hinzugefügt worden. Wie verschieden kann aber der Grundtext bei verschiedener Lokalisation gelesen werden! Dann schwand also doch die S i ch e r h e i t der Glaubensstütze für das A. T. dahin; folglich mußte man, wenn man diese Sicherheit nicht preisgeben wollte, derWahrheit entgegen behaupten, daß auch die hebräischen Vokale von Gott ein­ gegeben seien1). Und für die ganze Bibel mußte man annehmen, daß Gott sie auch durch die Jahrtausende hindurch ganz unverfälscht erhalten habe, damit man wirklich den von Gott diktierten Bibeltext buchstäblich vor sich habe! Aber welche der vielen Handschriften enthält denn den ur­ sprünglichen von Gott diktierten Bibeltext? Und damit nun nicht die von Gott wörtlich diktierte und bis auf den Buchstaben erhaltene Bibel anders aus­ gelegt würde, als man sie damals auslegte, legte man sienachdenBekenntnisschriften aus, statt die Bekenntnisse nach der Bibel auszulegen und nötigenfalls zu berichtigen. e. Wenn man nun jedes Wort der Bibel als von Gott diktiert betrachtete, so konnte natürlich die Darstellung der in der h. Schrift enthaltenen heiligen Geschichte den Anforderungen der Wissenschaft nicht entsprechen. Verschiedene Berichte über dieselbe Sache konnte es natürlich in der Bibel nicht geben'; so entstand die berüchtigte Harmonistik, welche es verstand, die Fünf auch gerade sein zu lassen, und dem Wahrheitssinn oft geradezu ins Gesicht schlug, um nur jeden Widerspruch in den Berichten zu beseitigen. Ja, nicht bloß was in der Bibel geschrieben war, daß z. B. Paulus den Römerbrief geschrieben hat, sondern auch was gar nicht dasteht, z. B. daß Moses den Penta­ teuch geschrieben hat, glaubte man vielfach festhalten zu müssen, teils aus Grün­ den, die wir nicht mehr für ausreichend halten, teils bloß aus Rücksicht auf die Überlieferung. Was aber geschrieben steht, das behandelte man mit einem Scharfsinn, der, in der Weise der Scholastik geübt, zu den seltsamsten Schlüssen gelangte, und mit einer Phantasie, welche allen ihren Launen folgte. Da Adams Name der hebräischen Sprache angehört, so war das Hebräische die Ursprache der 2) Diese Behauptung wird in einer reformierten Bekenntnisschrift aufgestellt, in der Formula Consensus ecclesiarum Helveticarum (1675).

I. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc.

XXIII

Menschen; da in der Bibel von der Schöpfung berichtet ist, so hat Adam viel­ leicht schon selber Bücher geschrieben *). Zu Noahs Zeit lebten 11,055 Mill. Menschen; Noah, der Chemie sehr kundig, erfand einen Likör, von dem wenige Tropfen genügten, um die Tiere in der Arche zu nähren und zu stärken. Der Satan, der den David zur Volkszählung reizte, war ein Geheimrat*2). Bei solchen Deutungen der Bibel ist natürlich alles in der Bibel zu finden; eine wissenschaftliche Auslegung der Bibel war nicht vorhanden. d. So war auch die evangelische Kirche in den katholischen Wahn verfallen, ihren Glauben durch eine Lehre stützen zu wollen, die doch ebenso, wie die Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche und des Papstes, nur ein „Menschenfündlein" ist. Aber der Glaube muß sich als wahr erweisen durch seine beseligende Kraft und durch seine einleuchtende Wahrheit; wenn er das nicht vermag, so ist er falsch, und trotz aller Stützen geht er zu Grunde. D i e alte Lehre von der buchstäblichen Inspiration der Bibel ist heute gefallen und auch von den ortho­ doxesten Theologen aufgegeben worden3); trotzdem istdieneuere Theologie des Glaubens, daßdieBibel nicht ein bloß menschliches, sondern ein göttliches Buch sei. Aber allerdings nicht jeder Buchstabe der Bibel ist von Gott diktiert, sondern Wort Gottes ist die in der Bibel uns verkündete Offenbarung. „Es ist aber eine anbetungswürdige Führung Gottes, daß er durch die Entwickelung der biblischen Kritik uns alle falschen Krücken mit Gewalt weg­ nimmt, mit denen wir unsern Glauben stützen wollen, und uns nur ben einen königlichen Weg freiläßt, nämlich den der Glaubenserfahrung. Wenn jemand, der schwimmen lernen soll, zuerst von der tragenden Angel losgelassen wird, so ist es ihm, als müßte er nun unfehlbar versinken und ertrinken. Aber der Meister, der ihn lehrt, weiß, was er tut und wann er es zu tun hat. Ähnlich ist es auch uns oft zu Sinn, wenn die Stützen unter uns fortgezogen werden, auf die wir bisher unser ganzes Christentum gebaut meinten. Auch wir haben das Gefühl, als müßten wir dabei versinken und ertrinken. Und doch gilt auch hier in seiner Weise das große Wort: „„Ob auch der irdische Bau dieser Hütte zerbrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott gebaut."" Die Gotteskraft, die von dem Evangelium ausgeht, die ist stärker und stützt besser." 4) e. An die Offenbarung Gottes, deren Urkunden uns in der heiligen Schrift vorliegen, glauben also die Theologen unserer Zeit, nicht *) So noch im 1.1863 Wimmer: „Die Erzählungen von der Schöpfung usw. sind keine Traditionen, sondern die schriftlichen Aufzeichnungen der Urväter." Vgl. D i e st e l, Das A. T. in der christl. Kirche, S. 738. 2) Diese Beispiele stammen aus Die st el, Das A. T. in der christl. Kirche (S. 489, 496, 498, 499 und 522). 3) Sogar in Mecklenburg, dessen Kirchenregiment doch gewiß als orthodox gelten darf. Daselbst hat unlängst ein Pastor (B r a u e r zu Dargun, 1889) sein Amt niedergelegt und seinen Austritt aus der Landeskirche erklärt, weil innerhalb der letzteren nicht mehr an der (auf der buchstäblichen Inspiration beruhenden) Untrüglichkeit der heiligen Schrift festgehalten werde. — Der Vorwurf des Pastors (gegen Prof. Di e ckh o f f in Rostock) ist ganz richtig; nur.hat nicht ein einzelner Professor diese Lehre ausgegeben, sondern die ganze neuere Theologie. 4) Haupt, Die Bedeutung der heiligen Schrift (1891), S. 48.

XXIV

I- Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc.

an jeden Buchstaben der Urkunden dieser Offenbarung. Ja, es darf sogar mit gutem Gewissen behauptet werden, daß „die neuere Theologie wieder inhöheremGrade zur Bibelwissenschaft geworden ist, als sie es unter dem Einfluß der alwrthodoxen Theologie und selbst noch Schleier­ machers gewesen war. Unsere Theologie hat aber allerdings zu den biblischen Schriften eine gesundere, der evangelischen Freiheit und dem Geiste Luthers mehr, als dies bei der älteren Theologie der Fall war, entsprechende Stellung eingenommen, obwohl kein bedeutender Theologe heute noch an der alten, aber durchaus nicht auf der Bibel selbst beruhenden buchstäblichen Jnspirationslehre festhält"*).

B. Die Bibel und die Kritik'). a. So lange die alte Jnspirationslehre als richtig galt, konnte man zu einer wahrhaft wissenschaftlichen Behandlung sowohl der biblischen Bücher als auch des Inhalts der Bibel nicht gelangen. Die Bücher der Bibel waren von Gott diktiert — da hatte es kein großes Interesse, noch nach der mensch­ lichen Entstehung der Bücher zu fragen. Auch der Inhalt dieser Bücher stammte direkt von Gott her; damit schien sich eine geschichtliche Entwickelung der Offen­ barung nicht zu vertragen; schon Adam glaubte an die Dreieinigkeit, und schon aus dem A. T. wollte man die Artikel der Augsb. Confession beweisen 3). All­ mählich aber erkannte man doch wenigstens, daß eine geschichtliche Ent­ wickelung der Offenbarung auch durch die buchstäbliche Inspiration der Bibel nicht ausgeschlossen sei, da ja Gott, als ein guter Lehrer, den Menschen nicht alles auf einmal geoffenbart haben werde. So gelangte man allmählich zu einer unbefangeneren Auffassung der Bibel, namentlich des Alten Testaments, und heute gilt es als selbstverständlich, daß auch der Offenbarung Gottes eine geschichtliche Entwickelung zukommt. b. Aber wenn nun eine geschichtliche Betrachtung der Offenbarung heute wohl überall für berechtigt gehalten wird, so gilt es doch noch vielfach für bedenklich, die Bibel in wissenschaftlicher Weise, wie jede andere Geschichtsurkunde, zu behandeln. Aber4) „wissenschaftliche Schriftbetrachtung und Glaube an die Bibel schließen sich nicht aus. Es handelt sich bei aller Wissenschaft lediglich um die Steigerung und Ausbildung der natürlichen Kräfte, die uns allen gegeben sind. Wie der Naturforscher in höherem Maße, als wir, ein S e h e n d e r ist, so gewährt uns die historische Wissenschaft eine methodische Schärfung und Erweiterung des H ö r e n s. Was die uns über­ lieferten Berichte enthalten, wie sie entstanden sind, und in welchem Verhältnis sie zum Lauf der Ereignisse stehen, dafür wird uns durch die wissenschaftliche Unterweisung und Übung das Ohr geschärft. Was könnte oder wollte die historische Bearbeitung der Bibel anders sein, als ein intensives Hören auf das, was die Bibel enthält! Darum kann es auf normale Weise zwischen der historischen Schrift forschung und dem Glauben an die Schrift zu keiner Reibung kommen. Dürfen wir denn das H ö r e n und das G l a u b e n

x) Vgl. Mezger, Hilfsbuch I, S. 21—22. 2) Vgl. Glaubensl.2 Nr. I v und I. — Theol. Encykl.8 Bd. 11: Kritik, biblische. 3) Vgl. Di e st el, Das A. T. in der christl. Kirche, S. 492 und 477. 4) Schlutter, Der Glaube an die Bibel (1893; M. 0,40), S. 19.

1. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc.

XXV

gegen einander setzen? Ist denn nicht gerade das H ö r e n der den G l a u den erzeugende Akt? So muß folgerichtig in der Kräftigung des H ö r e n s auch ein gesteigerter Impuls zum Glauben enthalten sein, wie wiederum jedes Wachstum des G l a u b e n s den starken Antrieb zu erneutem und ver­ tieftem H ö r e n in sich hat. Was bei der wissenschaftlichen Bearbeitung der Bibel ein methodisch entwickeltes und gekräfttgtes H ö r e n ist, das steht mit „„dem Gesetz des G l a u b e n s"" im schönsten Frieden und reicht ihm dienend die Hand". Wenn also die Bibel die Norm für unser Glauben und Leben bleiben soll, namentlich auch für die Gebildeten in der Gemeinde, so darf sie nicht in unwissenschaftlicher Weise ausgelegt werden; Wissenschaft und Glaube stehen nicht notwendig im Widerspruch mit einander; die wissenschaftliche Behandlung der biblischen Bücher und des Inhalts der Bibel, d. h. d i e K r i t i k der Bibel, ist durchaus berechtigt. Es ist heute unmöglich, wissenschaft­ lich zu arbeiten ohne Krittk, und auch eine wissenschaftliche Theologie ist un­ denkbar ohne Kritik. o. Was ist denn überhaupt die Aufgabe der Kritik? Unsere Kenntnis der geschichtlichen Ereignisse der Vergangenheit beruht auf den Dokumenten, welche über dieselben vorhanden sind. Die Dokumente sind aber entweder Urkunden der Ereignisse (z. B. In­ schriften, Münzen, Aktenstücke) oder Erzählungen über dieselben. Bei den Urkunden muß der Kritiker fragen, ob dieselben authentisch sind, oder wenigstens von wem und aus welcher Zeit sie herstammen; dies zu untersuchen, ist die Aufgabe der litterarischen Kritik. Bei den G e s ch i ch t s erzählungen muß ebenso gefragt werden nach Ursprung und Alter, also litterarische Kritik geübt werden, aber außerdem unterliegen sie noch der historischen Kritik, indem der Kritiker nach ihrer Glaubwürdigkeit, oder richtiger nach dem Verhältnis des Erzählers zu den von ihm dargestellten Tatsachen fragt. Wenn aber die litterarische und die historische Kritik nicht zum Ziel führen, dann sucht der Krittler durch eine Hypothese das richtige Bild von der Vergangenheit zu gewinnen, und die Richtigkeit seiner Hypothese erkennt er daraus, daß dieselbe sich als geeignet erweist, den Inhalt und die Art der Dokumente zu erklären. Da es nun natürlich möglich ist, daß die vorhande­ nen Dokumente durch verschiedene Hypothesen (wenn auch mehr oder weniger gut) erklärt werden, so ist es begreiflich, daß die Resultate der Kritik nicht sofort dieselben sind, sondern sich im Laufe der Zeit ändern können. Daraus folgt aber natürlich nicht, daß wir von der Kritik absehen müssen, sondern nur, daß dieselbe nicht unfehlbar ist — was ja auch noch niemals ein Kritiker behauptet hat. Aber es läßt sich nicht verkennen, daß eine immer größere Übereinstimmung der Kritiker, ja, oft eine völlige Übereinstimmung in wichtigen Fragen der Wissenschaft bereits erzielt ist. d. Was nun von der Kritik im allgemeinen gesagt ist, das gilt auch von der b i b l i s ch e n Kritik. Auch hier gilt es, durch litterarische und historische Krittk die Tatsachen in ihrer Wirklichkeit zu erkennen. Die litterarische Krittk prüft die U r k u n d e n der Geschichte, z. B. das Zehngebot, das Vaterunser, den Römerbttef, hinsichtlich ihrer Authentie, ihres Alters und Urspmngs. Die historische Krittk untersucht das Verhältnis der verschiedenen Berichterstatter

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I- Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc.

z. B. über das Leben Davids im Verhältnis zur Wirklichkeit. Das Ziel dieser zweifachen Kriük ist die Erkenntnis der Wirklichkeit. e. AberistdenndieKritikderBibelnotwendig? Wenn eine frühere Zeit diese Frage mit „Nein" beantwortet hat, so lag das zunächst an dem mangelnden Verständnis der Aufgabe des Historikers; später allerdings lehnte man die Kritik mitBewußtseinab, weil man durch dieselbe den Inhalt der Bibel gefährdet glaubte. Aber auch der­ jenige, welcher die Kritik zunächst ablehnt, kann sich derselben dennoch nicht völlig entschlagen; die KritikderBibelistfürdenBibelfor) cf) e r geradezu unentbehrlich. et. Der Christ übt ja Kritik, wenn er d i e B i b e l anerkennt, aber den Koran verwirft. Der Christ übt Kritik, wenn er fragt, welche Bücher zur Bibel gehören, und welche nicht; weder die Synagoge, noch die Kirche ist unfehlbar, so daß ihre Festsetzungen über den Umfang des Alten und des Neuen Testaments für uns unbedingt maßgebend wären. Mit Recht hat Luther die von der Kirche des Mittelalters den Büchern der hebräischen Bibel gleich­ gestellten Apokryphen vom A. T. wieder abgesondert. Ebenso war Luther durchaus im Rechte, als er fragte, ob das Buch Esther den ATlichen Schriften, ob. der Brief des Jakobus den NAichen Schriften zuzurechnen sei. Wenn also in der Neuzeit nicht bloß katholische Theologen (bei denen dies eher zu ent­ schuldigen ist), sondern auch evangelische Gelehrtex) behauptet haben, daß Angriffe auf den geschichtlichen, moralischen und religiösen Inhalt der biblischen Bücher erst von den rationalistischen Forschern des 18. Jahrhunderts gemacht worden seien, so ist das eine ganz unbegründete Behauptung; das hat schon Luther getan, und wer es heute tut, ist d a r u m noch kein Rationalist und kein Feind der Bibel. Wenn heute Luthers freiere Ansichten über manche biblische Bücher von evangelischen Forschern entschuldigt, aber nicht angenommen werden, so kann dies seinen Grund haben entweder in einer richtigeren Er­ kenntnis oder auch2) in einer Befangenheit des Urteils, von welcher Luther frei war. ß. Aber auch bei der Erforschung des Inhalts der biblischen Bücher kann der Bibelforscher die Kriük nicht entbehren. Zunächst gibt es in den mehrfach vorkommenden Stellen der h. Schrift Abweichungen, welche nur als Schreibfehler angesehen werden können — das wird wohl von niemandem bezweifelt werden; hier muß also die Kriük entscheiden, an welcher Stelle sich die richüge Lesart findet. Aber es finden sich doch auch sachlicheDifferenzen, welche nur als verschiedene Überlieferungen erklärt werden können. Wenn 1. Sam. 17, 55—58 vorausgesetzt wird, daß Saul den Sieger über Goliath noch nicht gekannt hat, so ist diese Überlieferung nicht zu vereinigen mit der Überlieferung in 1. Sam. 16,14—27 und 17, 3 s, daß Saul den David schon vor dem Siege über Goliath gekannt habe. Dieser Widerspruch ist nur dadurch zu erklären, daß die Bücher Samuels, wie die ganze ADiche Geschichtschreibung, in dem Bestreben, von dem Überlieferten nichts unbeachtet zu lassen, die verschiedenen Überlieferungen einfach neben einander stellten, und es dem Leser überließen,

*)Z. B. Keil, Einl. in das A. T. ^) So z. B. bei H e n g st e nb e r g: vgl. König, ATliche Kütik und Christenglaube (1893), S. 41, Anm. 2.

I. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc. XXVII dieselben zu einem einigenGanzenzu gestalten. Das ist aber die Auf­ gabe derhi st orischen Kritik, welche das Verhältnis der verschiedenen Berichte zur Wirklichkeit untersucht. Auch über die Offenbarungen Gottes gibt es verschiedene Berichte, und Gott hat nicht durch ein Wunder die Berichte über seine Offenbarungen vor jeder menschlichen Umgestaltung bewahrt. Das widerspricht ja auch geradezu den Tatsachen! Gott hat den Israeliten den Dekalog gegeben, aber er hat nicht dafür gesorgt, daß wir denselben in seiner Urform besitzen. Dasselbe gilt vom Vaterunser und von den Abendmahlsworten. Und was von den Reden der Gottesmänner gilt, das gilt ebenso von ihrem Leben; auch hier fehlt es, wie oben gezeigt, nicht an Umgestaltungen der Wirklichkeit, welche zur Kritik nötigen; die Entscheidung über die Richtigkeit der einen oder der andern Darstellung in der Bibel kann nur mit Hilfe der historischen Kritik gegeben werden. 7. Aber auch Anfänge der litterarischen Kritik liegen schon bei Luther vor, und dieselbe ist durchaus berechtigt, und auch von neueren anerkannt orthodoxen Theologen (z. B. D e l i tz s ch) ist dieselbe als berechtigt anerkannt und geübt worden. Es ist doch eine durchaus berechtigte Frage, ob der Römer­ brief auch wirklich von Paulus herstamme, und eine solche Frage kann nur von der Kritik beantwortet werden. Zwar kommt es ja in der Regel nur auf den I n h a l t des Gotteswortes an, das wir in der Bibel vernehmen; aber es ist doch jedenfalls auch nicht gleichgültig, zu untersuchen, von wem die einzelnen Schriften der Bibel herstammen; jedenfalls verstehen wir ihren Inhalt und ihre Bedeutung besser zu würdigen, wenn wir ihren Verfasser oder wenigstens die Zeit ihrer Entstehung kennen; über diese Fragen aber belehrt uns die litterarische Kritik. Die litterarische Kritik hat sich daher in der Neuzeit aufs eifrigste und mit Erfolg bemüht, das Zeitalter der Entstehung der einzelnen biblischen Schriften zu erkennen und auch dadurch das richtige Verständnis derselben zu sichern. f. Heute gibt es keinen einzigen Theologen mehr, der die Krittk der Bibel völlig und grundsätzlich verwirft; ja, es gibt heute schon viele Resultate der Kritik, welche von a l l e n Theologen anerkannt werden. Wir dürfen also wohl hoffen, daß es allmählich gelingen wird, zu einer allgemeinen Anerkennung der Notwendigkeit der Krittk auch auf dem Gebiete der Bibel­ forschung und zu einer immer größeren Übereinstimmung hinsichtlich der Er­ gebnisse der Kritik auch auf dem Gebiete der Bibelwissenschaft zu gelangen. C. Das Recht der Kritik. a. Das Verfahren und die Ergebnisse der modernen Krittk haben nun aber in den ttrchlichen Kreisen eine große Beunruhigung hervorgerufen, und Glaube und Wissenschaft erscheinen vielen gläubigen Christen als unvereinbare Gegensätze. Und dennoch dürfen Glaube und Wissenschaft nicht auf die Dauer auseinandergehen; „das für die Zukunft der Kirche entscheidungsvolle Strebe­ ziel muß es sein, das Gleichgewicht zwischen den unveräußerlichen Fundamenten der Offenbarungsreligion und den unleugbaren Befunden litterarischer und historischer Krittk herzustellen" — das ist eine Forderung eines gläubigen

XXVIII I. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc. Professors der Theologie (Delitzsch). Wie kann nun das Gleichgewicht zwischen Glaube und Wissenschaft hergestellt werden? Natürlich nicht dadurch, daß die kirchliche Oberbehörde den Männern der Wissenschaft vorschreibt, was sie lehren dürfen — dann wäre die Wissen­ schaft nicht mehr frei, und nur eine freie Wissenschaft ist überhaupt Wissenschaft. Mlerdings darf ja auch die Wissenschaft nicht vergessen, daß es ihre Aufgabe ist, die Religion nicht zu zerstören, sondern zu begreifen. b. Aber wenn nun Bibel und Religion der Kritik unterworfen werden, wird dann nicht aus beiden eine rein menschliche Sache, eine Religion, welche sich von selbst entwickelt, ohne daß es einer Offenbarung bedarf, eine Bibel, welche nur noch ein menschliches Buch ist, nicht mehr ein göttliches? Beides ist durchaus nicht der Fall. Die Bibel ist ja allerdings nicht buchstäblich von Gott diktiert, wie die ältere Theologie fälschlich meinte, aber sie ist dennoch ein göttliches Buch um ihres Inhaltes willen, denn sie enthält auch nach der Meinung der neueren Forscher die Urkunden der göttlichen Offenbarung. Wenn auch heute das A. T. vielfach anders betrachtet wird, als früher, so ist doch durch die Kritik des A. T., welche diese andere Betrachtung der ATlichen Geschichte zur Folge hat, der Kern des A. T. nicht geschädigt worden; in der Geschichte des Volkes Israel eine Offenbarung Gottes zum Heil der Menschheit zu erkennen, deren AbschlußimChristentumvorliegt — diese Stellung des Christen zum A. T. ist von der Kritik nicht erschüttert, sondern festgehalten worden *). Ob das Lied „Jesus meine Zuversicht" von der Kurfürstin Luise Henriette von Brandenburg herrührt oder nicht, das ist für diejenigen, die sich in diesem Liede Glaubenskraft und Sterbenskraft von Gott erbitten, gleichgültig. Ebenso verliert kein wertvolles Stück des A. T. das Geringste von seinem Werte für den, der es gläubig aufnimmt, auch wenn die Bestimmung der Abfassungszeit und die geschichtliche Einordnung desselben sich jetzt anders gestaltet haben als früher2). Sodann bleibt ja die in der Bibel enthaltene Offenbarung eine göttliche Offenbarung, auch wenn es immer mehr erstrebt und erreicht wird, zu be­ greifen, w i e Gott zu den Menschen geredet hat, und inwelcherStufenfolge die göttliche Offenbarung sich allmählich entwickelt hat. Daß Gott zu den Menschen geredet hat, bleibt anerkannt; w i e er zu ihnen geredet hat, ob er z. B. das Gesetz ihnen zuerst oder zuletzt gegeben hat, das zu erfor­ schen, ist eine Sache der Wissenschaft, die mit dem Glauben an die W i r k l i ch Jett der Offenbarung gar nichts zu tun hat. Auch dadurch wird der Glaube an die in der h. Schrift verkündete Offen­ barung nicht umgestoßen, daß wir zugeben, daß die biblischen Schriftsteller nicht von menschlichen Irrtümern frei sind. Nur „was in keines Menschen Herz gekommen ist", ist der Gegenstand der Offenbarung; was aber der Mensch durch eigenes Forschen fernen kann und lernen soll, und was er von anderen Menschen *) Vgl. z. B. Kautzsch, Anhang zum A. T., S. 160: „Die Inspiration der Propheten ist das Herz der ATlichen Offenbarung, ihre ganze Erscheinung über­ haupt die mächtigste Bürgschaft für die Erwählung und Erziehung Israels als eine besondere Veranstaltung [b. h. Offenbarung^ Gottes." 2) Flöring, Das A. T. im Religionsunterricht (1895), S. 25—26.

I. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc.

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erfährt, das ist nicht ein Gegenstand der Offenbarung; auf diesen Gebieten des menschlichen Wissens und Forschens sind die biblischen Schriftsteller irrtums­ fähige Menschen gewesen und geblieben; was sie über diese Dinge geschrieben haben, beruht nicht auf göttlicher Offenbarung, sondern auf menschlichem Wissen, und darum ist es dem Irrtum unterworfen. Ja, selbst das, was die Propheten und die biblischen Schriftsteller über die ihnen selber gewordene Offenbarung sagen, ist dann als eine menschliche Zutat zu der göttlichen Offenbarung anzusehen, wenn sie die göttliche Offenbarung erklären oder anwenden. Die Propheten schauen in die Zukunft — das beruht auf göttlicher Offenbarung; was sie g e s ch a u t haben, wird von ihnen a u s g e l e g t — das ist ein Produkt menschlichen Nachdenkens. Die Gesetzgebung Mosis beruhte auf göttlicher Offenbarung; die An­ wendung des Gesetzes zur Beurteilung der geschichtlichen Personen, wie sie uns in den biblischen Geschichtsbüchern überall entgegentritt, ist die mensch­ liche Anwendung des göttlichen Gesetzes1). c. So wird also der Glaube an die in der Bibel enthaltene Offenbarung durch die Kritik nicht umgestoßen, sondern vielmehr vor Irrtümern bewahrt und zu größerer Klarheit erhoben. D.

Die Kritik der Bibel in der Schule.

Aber ist denn die Kritik, die in den Hörsälen der Universität be­ rechtigt ist, auch in der S ch u l e berechtigt? Die Antwort auf diese Frage gebe ich mit den Worten eines Religionslehrers aus der evangelischen Kirche Württembergs, welche bekanntlich in gleicher Weise durch ihren frommen Glauben wie durch ernste Wissenschaftlichkeit hervorragt2). a. „Wenn der Lehrer keine andere Aufgabe hat, als die bei Kindern der Volksschule, so mag er immerhin sich von der mühsamen Arbeit kritischer Studien über die Entstehung der biblischen Bücher dispensieren, und er kann abwarten, bis die Forscher zu allgemein anerkannten und bequemer mitteil­ baren Resultaten gekommen sind, als dies heutzutage der Fall ist. Aber d i e Keckheit der Selbstüberhebung darf der Lehrer nicht begehen, daß er, wenn er Jünglinge, die dem Universitätsstudium entgegengehen, zu unterrichten hat, die treue und gewissenhafte Arbeit aller derjenigen Männer, welche die Er­ forschung der Bibel und die Lösung ihrer Rätsel zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben, einfach ignoriert und sich selbst von allem Zusammenhange mit aller theologischen Arbeit seiner Zeit losreißt. Wenn die Tatsachen, die er durch das Studium dieser Arbeiten findet, mit der t r a d i t i o n e l l e n Meinung vom Gange der heiligen Geschichte und von der litterarischen Ent­ stehung der heiligen Schriften im Widerspruch stehen, so korrigiert er nicht die Bibel durch die traditionelle Meinung, sondern er korrigiert umgekehrt die traditionelle Meinung durch die Bibel. Delitzsch sagt mit vollem Rechte (Neuer Kommentar über die Genesis S.35): Wahrheitsliebe, Beugung unter den Zwang der Wahrheit, Darangabe *) Vgl. Nathusius, Die Inspiration der h. Schrift und die historische Kritik (1895), 6. 30 s. 2) R. Schrnid, der alttestamentl. Religionsunterricht, seine Schwierigkeiten und der Weg zu ihrer Überwindung. Progr. von Schönthal, 1888, Nr. 549.

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I. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc.

traditioneller Ansichten, welche die Wahrheits­ probe nicht bestehen, ist eine heilige Pflicht, ein Stück der Gottesfurcht." b. „Allerdings könnte auch der Lehrer der h ö h e r e n Schulen die ganze Bibelkritik ignorieren, wenn er sie selbst durchstudiert hat und dadurch zu der Überzeugung gekommen ist, daß sich alle Krittler irren. Er muß dann also imstande sein, das entweder selbst zu beweisen, oder er muß auf eine Litteratur Hinweisen können, welche die Resultate der Bibelkritik als irrig erweist. Das kannaberheuteniemandmehr. Je mehr sich ein Theologe be­ sonders mit den Alttestamentlichen Fragen beschäftigt, desto mehr kommt er, wie die Erfahrung (vergleiche Delitzsch!) zeigt, von der ttaditionellen Meinung ab. Um die traditionelle Meinung zu behaupten, müßte man, wenn man sich an M e i st e r auf dem Mttestamentlichen Gebiete halten will, aus­ schließlich die Schriften älterer, heute nicht mehr lebender Theologen lesen, oder man müßte sich an die Schriften von Dilettanten halten, welche die Fragen, um die es sich handelt, und ihre Tragweite gar nicht zu bewälttgen wissen. Eine Schrifteines Meisters, welchenoch den traditionellen Standpunkt in der ATlichen Kritik vertritt, gibt es auf dem Gebiete der neueren deut­ schen Theologie nicht mehr. Die Umwandlung der kritischen Ansichten über das Alte Testament in der Theologie der Neuzeit läßt sich be­ sonders deutlich in den Schriften von Delitzsch, bekanntlich einem Zcheologen allerpositivster Richtung, erkennen. Derselbe hatte noch im Jahre 1860 geschrieben: Der Pentateuch ift ein einheitliches Geschichts­ werk aus dem 16. Jahrhundert vor Christus; die nachmosaische Litteratur legt für die Priorität des Pentateuchs ein vielstimmiges Zeugnis ab; die neuere Kritik hat sich kaum durch etwas schwerer an der Wahrheit ver­ sündigt, als durch die Geschichtsverdrehung, daß der Pentateuch oder wenig­ stens das Deuteronomium erst um das Jahr 600 an das Licht der Öffentlichkeit getreten sei. Und im Jahre 1887 erklärte derselbe Delitzsch, sich beugend unter den Zwang der Wahrheit und die traditionellen Ansichten darangebend, daß das Deuteronomium kurz vor dem Jahre 621 geschriebenund daß es älter sei als das Priestergesetz (d. h. das Gesetz der mittleren Bücher des Pentateuchs), unddaßdielegislatorische Arbeit bis über das Exil hinaus fortgedauert hab e.— Das hatte derselbe Delitzsch früher eine Geschichtsverdrehung und eine Versündigung an der Wahrheit genannt." „Wir dürfen wohl als ausgemacht ansehen, daß es weitaus der Mehrzahl der Religionslehrer am Obergymnasium feststeht, daß der Pentateuch nicht von Moses, Jesaias 40—66 nicht von Jesaias, das Buch Daniel nicht von Daniel herstammen"x), womit Delitzsch ebenfalls übereinstimmt. Trotzdem aber ist heute der Streit über das Me Testament heftiger entbrannt, als in früherer Zeit. Einfacher liegt heute die Sache beim Neuen Testament, wo der Gegensatz der Meinungen geringer geworden ist, als er vor etwa 30 Jahren gewesen ist.

') Mezger, Hilfsbuch I, 47.

I. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc.

XXXI

c. In jedem Falle muß der Religionslehrer der oberen Klassen sich mit den kritischen Fragen bekannt machen, und er kann auch beim Unterricht an ihnen nicht ganz vorübergehen — das ist eine Forderung der Wahrheit, welcher sich der Religionslehrer unter keinem Vorwände entziehen darf.

E. Maß und Schranke der Kritik in der Schule. a. „Wenn so allerdings der Lehrer die älteren Ansichten über die Bibel vielfach nicht mehr festhalten kann, nachdem alle Meister der For­ schung dieselben preisgegeben haben, so kommt es doch für die Schule nicht darauf an, die Entwickelung und die Re­ sultate der Kritik den Schülern vorzulegen oder gar zu beweisen, sondern für den Schüler ist die HauptsachediepositiveDarstellungdesJnhaltsderheiligen Schrift, wie sich derselbe auf Gmnd der positiven Ergebnisse der Bibel­ kritik ergibt; der Lehrer soll aufbauen, nicht zerstören; die Kritik ist nur eine Voraussetzung des Unterrichts, welcher dem Schüler in positiver Dar­ stellung zu zeigen hat, daß im Volke Israel eine göttliche Offenbarung vor­ handen ist, welche in Jesus Christus zu ihrem Ziel gekommen ist."x) Wenn also ein wissenschaftliches Lehrbuch der Geschichte bei jedem Abschnitte2) seine Darstellung durch kritische Bezugnahme auf die Quellen rechtfertigt, so wird die Darstellung in der Schule sich meist auf die einfache Darlegung der geschichtlichen Ereignisse beschränken, ohne den Schüler alle Schwierigkeiten der Kritik erkennen zu lassen und ohne auf die kritische Untersuchung jedesmal einzugehen. „Der Kritik darf im Religionsunterricht nur Raum gegönnt werden, wenn und soweit sie als Mittel zum klaren Ver­ ständnis des Sprachlichen und Sachlichen notwendig und schlechterdings un­ entbehrlich ist. Die Kritik hat zu schweigen, wo ihr Sprechen zum Verständnis der Bibel nicht als durchaus notwendig sich aufdrängt." 3) Das ist aber in großem Umfange der Fall. Der Unterricht kann sich ja nur auf eine Auswahl des biblischen Stoffes beschränken; mit dem betreffenden Stoffe fällt also auch die betreffende KÜtik weg. Aus wie vielen Teilen das Buch des Propheten Sacharja besteht, ob das Hohelied von Salomo, ob einer der nicht gelesenen NTlichen Briefe von dem durch die Tradition genannten Verfasser herstammt, das kommt für den Schüler kaum in Betracht; auch im Religionsunterrichte soll der Schüler nicht über Dinge reden lernen, von denen er nichts hört und versteht. Aber selbst bei dem ihm dargebotenen biblischen Stoffe soll die Kritik nicht immer mitsprechen. Ob ein bestimmter Psalm von David herrührt oder nicht, das ist für die Wissenschaft nicht gleichgültig, aber für die Schule kommt es kaum in Betracht; der I n h a l t des Psalms ist für die Schule die Haupt­ sache, nicht der V e r f a s s e r; mag der Schüler die Überschrift buchstäblich festhalten, ein Schade wird daraus kaum erwachsen können. Sodann darf der Lehrer dem Schüler nur s i ch e r e Resultate darbieten. Hier wird ja nun unzweifelhaft die Subjektivität tzes Lehrers sich geltend

*) R. Schmid, Programm von Schönthal, 1888. 2) Vgl. z. B. Ihnes römische Geschichte und Kittels Geschichte des Volkes Israel. 3) Mezger, Hilfsbuch zum Verständnis der Bibel I, 53—54.

XXXH I- Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc. machen; der eine hält für ausgemacht, was der andere noch nicht für ent­ schieden ansieht; ich bin nicht geneigt, über ein von meiner Darstellung ab­ weichendes Verfahren mich zum Richter auszuwerfen. So wird nun freilich manches dem Schüler in der traditionellen Form geboten, gegen welche der Lehrer vielleicht selber Bedenken auf dem Herzen hat; aber die traditionelle Form hat ja doch ebenfalls ihren Wert, und bei gar vielen Dingen bleibt aller Unterricht bewußt oder unbewußt bei der Traditton, ohne jedesmal die Krittk zu ihrem Rechte kommen zu lassen. b. Wann ist nun aber die Kritik für die Schule not­ wendig? Dem Unterricht in der heiligen Geschichte liegt in den oberen Klassen der höheren Schulen nicht, wie auf der Universität, der Grundtext der heiligen Schrift, auf den doch nur im Neuen Testament zum Teil zurückgegangen werden kann, sondern die Lutherbibel zu Grunde, und zwar nunmehr die revidierte Lutherbibel. Schon aus dieser Grundlage des Unterrichts ergibt sich bisweilen die Notwendigkeit der Krittk. Es darf wohl heute als allgemein zugestanden gelten, daß der Lehrer nicht verpflichtet ist, bei jeder Übersetzung einer Stelle der Lutherbibel, auch nicht der revidierten Bibel, stehen zu bleiben, sondern daß es ihm gestattet ist (und dazu wird sich allerdings fast nur in den Oberklassen der Anlaß finden), auf den Grundtext hinzuweisen, wenn die Lutherbibel (auch die revidierte) von demselben erheb­ lich abweicht. Es wird wohl kaum ein Lehrer bei der Besprechung von Hiob 19 sich auf die Lutherbibel beschränken, sondern er wird auf den Grundtext zurück­ gehen und auf die Möglichkeit oder Gewißheit hinweisen, daß der Grundtext einen anderen Sinn der berühmten Stelle ergebe als die Lutherbibel. Und das wird gewiß an mancher Stelle der dichterischen und prophettschen, ja, selbst der geschichtlichen Bücher dem Lehrer notwendig scheinen. Aber auch der Grundtext selbst nötigt zur Krittk auch in der Schule. Es gibt ja verschiedene Lesarten, und bisweilen ist denn doch der Unterschied derselben sehr bedeutend; auch hier darf unzweifelhaft der Lehrer Kritik üben. Wenn Ps. 22, 17 gelesen wird, so wird der Lehrer darauf Hinweisen dürfen, daß Luthers Übersetzung: „Sie haben meine Hände und Füße durchgraben" nicht unzweifelhaft richtig ist, weil bekanntlich die Lesart schwankt. Ebenso wird bei der Lektüre der Schöpfungsgeschichte darauf hinzuweisen sein, daß in 1. Mose 2, 4 auch im Grundtext die Kapitel- und Vers-Einteilung (die ja bekanntlich erst ein Werk der späteren Zeit ist) verfehlt ist. Ja, der Schüler wird sogar aus seinem griechischen Neuen Testament selbst erkennen, daß die Stelle 1. Joh. 5, 7 nicht als Beweis für die Dreieinigkeit angeführt werden darf — eine Stelle, welche sogar in der echten Lutherbibel nicht vorhanden war, sondem erst später aufgenommen worden ist. Aber die Kritik wird auch noch weiter gehen dürfen und müssen. Der Schüler kann nicht wohl übersehen, daß der Dekalog wie das Vaterunser in zweifacher, die Abendmahlsworte sogar in vierfacher Form überliefert sind. An diese Beobachtung klmpft sich der Schluß/daß wir also eine buchstäbliche Überlieferung selbst der wichtigeren Worte der Männer Gottes nicht besitzen.

I. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc.

XXXTTT

Was aber für die Reden gilt, gilt auch für die E r e i g n i s s e. Auch hier sieht der Schüler selbst, daß es vielfach eine mehrfache Überlieferung über die Ereignisse im Leben Jesu wie auch in der Mtestamentlichen Geschichte gibt, und daß es uns nicht immer möglich ist, die verschiedenen Berichte zu vereinigen. Und bei diesem Ergebnis wird sich der Schüler durchaus beruhigen; es stört ihn durchaus nicht in seinem Glauben, wenn er einsieht, daß nicht alle Darstellungen eines Ereignisses buchstäblich richtig sein können; die Advokatenkünste mancher Apologeten werden ihm dagegen geradezu schaden, da er ja leicht von der schlechten Verteidigung auf eine schlechte Sache schließen wird. Aber noch weiter wird die Kritik auch in der Schule gehen dürfen und müssen. Daß die Schöpfungsgeschichte in zwei Darstellungen vorliegt, kann dem Schüler der oberen Klassen nicht verheimlicht werden. Daß das nun nicht zwei Überlieferungen (dann wäre die Sache vielleicht noch einfacher), sondern zwei ganz verschiedene selbständige Darstellungen sind, ergibt sich bei genauerer Betrachtung. So wird der Schüler auf die Frage nach den Quellen der Bücher Mosis geführt, aber alsbald auch noch darüber hinaus zu der Frage, woher diese Darstellungen stammen und welchen Wert sie für uns haben. Hier wird also der Schüler lernen, daß die Bibel nicht ein Lehrbuch der Naturgeschichte ist; es stört ihn durchaus nicht in seinem Glauben, wenn er einsieht, daß die biblische Schöpfungsgeschichte mit der naturwissenschaftlichen nicht ganz übereinstimmt. Ja, er sieht hier auch noch selber, daß die Bibel auch nicht ein L e h r b u ch der Religion ist (denn dann müßte sie, wie die Wissenschaft das tut, beide Darstellungen meiner höheren Betrachtung vereinigen), sondem daß sie nur die Urkunden unseres Glaubens enthält. Dasselbe erkennt der Schüler bei der Lektüre des Römerbriefs, der zwar eine höchst wichtige Urkunde des Glaubens ist, aber nicht einKompendiumderDogmatik. Damit hängt auch die Erkenntnis zusammen, die der Schüler bei der Lektüre von Gal. 4, 21—31 und bei der Vergleichung der Neutestamentlichen Citate aus dem Alten Testa­ ment gewinnt, daß wir zu unterscheiden haben zwischen dem Glauben der Gottesmänner und derlehrhaftenDarstellung ihres Glaubens; nur ihr Glaube ist für uns maßgebend, nicht die D a r st e l l u n g ihres Glaubens. Und wenn nun der Schüler auf die Frage nach den Verfassem der heiligen Schriften geführt wird, so wird auch hier die Kritik berechtigt sein. Daß die Bücher Mosis dem Moses nicht im strengsten Sinne zugeschrieben werden können, zeigt ihm schon der Schluß des letzten Buches; daß überhaupt hier nur eine alte A n n a h m e vorliegt, nicht eineBehauptungderBibel selber, wird er leicht erkennen. Daß aber in Ps. 51 die Überschrift „Von David" jedenfalls nicht für den ganzen Psalm passe, erkennt er selbst, wenn er auf den Unterschied der beiden Schlußverse vom Vorhergehenden hin­ gewiesen wird. Daß zwar alle dreizehn Paulinischen Briese dem Paulus zugeschrieben werden, sieht der Schüler selbst; daß manche derselben von den Kritikern dem Paulus abgesprochen werden, wird ihn umsoweniger beunruhigen, wenn er erfährt, daß die vier Hauptbriefe, deren Kapitelzahl (51) allein schon

Heldrtch, Heilige Geschichte. 3. Ausl.

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XXXIV I- Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc. die der anbetn (42) überragt, als unzweifelhaft echt gelten. Daß aber auch ein Brief eines Apostelschülers in der Bibel stehen bars, wird er leicht einsehen. Ja, selbst auf die Frage nach dem Umfange der Bibel muß die Kritik ein­ gehen.^ Darauf führt ja schon bas Dasein der Apokryphen; aber ebenso die Vergleichung der Rechtfertigungslehre bei Paulus und bei Jakobus. Hat die „stroherne Epistel" ein Recht darauf, in der Bibel zu stehen? Luther würbe sie gern aus derselben hinausgewiesen haben; wir teilen nicht mehr seine Meinung; aber allerdings ist die Bibel ein Buch, dessen Umfang nicht Gott, sondern die Kirche, aber nicht eine unfehlbare Kirche, festgestellt hat; auch gegenüber dieser Festsetzung der Kirche ist natürlich die Kritik berechtigt. So ist also die Kritik der Bibel in weitem Umfange auch in der Schule berechtigt. c. Aber wenn die Kritik der Bibel als eines von Menschen ge­ schriebenen Buches in der Schule berechtigt ist, ist dann die Kritik der Bibel nicht doch wiederum deshalb auszuschließen, weil die Bibel nicht bloß ein menschliches, sondern ebenso sehr ein göttliches, von Gott ein­ gegebenes Buch ist? Und ist denn auch die Küük des I n h a l t s der Bibel, besonders der O f f e n b a t u n g, in bet Schule berechtigt? Ja, wird nicht der Schüler von selbst durch die Kritik des B u ch e s zur Kriük auch des I nh a l t s des Buches hingeführt? Und ist nicht der Glaube gefährdet, wenn die Kriük sich auch auf den Inhalt der Bibel, namentlich auf ihren Haupt­ inhalt, die Offenbarung Gottes in der Menschheit, erstreckt? — Auf diese be­ rechtigte Frage soll das Folgende die Antwort zu geben suchen. a. „Die heilige Schrift und Gottes Offenbarung sind nicht einund dasselbe"^; Gegenstand unseres Glaubens ist zunächst und vomehmlich die Offenbarung Gottes in der Menschheit; die heilige Schüft ist nur die Urkunde der Offenbarung. Die Kritik ist aber zunächst nur auf die Urkunde der Offenbarung gerichtet, nicht auf die Offenbarung selbst, und der Verfasser des vorliegenden Buches glaubt mit dem Verfasser des immer wieder ziüerten trefflichen Hilfsbuches zum Ver­ ständnis der Bibel, dem leider schon verstorbenen Ephorus Mezger zu Schönthal, auch von seinem Buche sagen zu dürfen: „Der Verfasser steht auf dem Boden des Glaubens an die Offenbarung, will aber ebenso bfer mensch­ lichen Seite der heiligen Schüft gerecht werden; er verfährt mit voller Pietät gegen das Wort Gottes in der Bibel, wie zugleich mit gebührender Achtung vor der Wissenschaft. Es gehört freilich zu den schwieügsten Aufgaben, den Anforderungen des ündlichen Glaubens wie der gesunden Wissenschaft zu entsprechen, Göttliches und Menschliches, Kern und Schale in der Bibel richtig zu scheiden" (Bd. IV, S. III-VII). Die Bibel, als die Urkunde der Offenbarung, ist ein göttliches Buch, in der Bibel ist Gottes Wort ent­ halt e n — das nmß also die Kritik in der Schule festhalten, in diesem Sinne ist der Unterricht zu erteilen. Eine Kritik, für welche die Bibel keingöttliches Bu chist,istinderSchulenichtberechtigt. So stimmt denn der Verfasser überein mit dem schönen Worte eines ange■) Mezger, Hilfsbuch I, 54.

I. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie re.

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sehenen Geistlichen1), welcher sich die Frage vorlegte: „Was geben wir unsern Kindern, daß sie Gottesmenschen werden?" Und die Antwort auf diese Frage lautete: „In der Bibel geben wir unsern Kindern 1) das beste Buch, welches Gottes Weisheit in der Erziehung des Menschengeschlechtes darlegt; zwar keine Naturwissenschaft bietet, aber den Schöpfer der Natur preisen lehrt; auch nicht die Weltgeschichte erzählt, aber Gottes Gericht in der Geschichte nachweist; 2) das herrlichste Bild, nämlich das Bild Jesu Christi, welches den Kindern in allen Stufen seiner Entwickelung als vollkommenes Ideal des Lebens, Leidens, Sterbens und Siegens tief ins Herz gegraben werden muß; 3) den kräftig st en Mut: den Glauben, damit die Jugend in unsrer glaubenslosen Zeit vom Sinnlichen zum Unsichtbaren erhoben, im Entbehren und Ertragen geübt werde und zu evangelischer Mannhaftigkeit heranwachse; 4) das fröhlich ste Leben : die Seligkeit, daß die Jugend sich der gegenwärtigen wie der zukünftigen Güter herzlich zu freuen vermöge. ß. Sodann aber hat auch diejenige Kritik in der Schule keine berechtigte Stätte, welche die Leugnung der Möglichkeit aller Wunder und Weissagungen zur Grundlage machtä). Wenn von der Weissagung an andrer Stelle ge­ handelt werden soll *), so scheint doch „die crux der Theologen, der Schule und Kirche, und darum so häufig das noli me tangere für die meisten Lehrer, Sprecher und Schriftsteller in Sachen der Kirche und Schule, die Erzählung von Wundern im Neuen Testamente und besonders im Men Testamente, dem Lehrer unauflösliche Schwierigkeiten zu bieten"4). Unsere Zeit ist eine Zeit der Wunderleugnung oder wenigstens der Wunder­ scheu, und wer dürfte glauben, daß das sich so bald ändem werde! Unsre heutige Naturwissenschaft sucht die Wunder der Natur zu begreifen und zu er­ klären, und je mehr die Naturgesetze erkannt werden, desto mehr schwindet, wie es scheint, die Möglichkeit der Wunder. Und hat nicht auch nach der Bibel Gott selbst gesagt: „Solange die Erde stehet, soll nicht aufhören Same und Emte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht?" Gott ist also auch nach der Bibel ein Gott, der nach Ordnung und Gesetz in der Welt waltet. Unsere Geschichtschreibung erllärt: „Die zahlreichen Wunder, welche in einer Geschichtsperiode geschehen sein sollen, schließen von selbst eine Auffassung derselben als wahre Geschichte aus." Und wo gibt es heute noch einen streng­ gläubigen Theologen, welcher alle Wunder der heiligen Schrift oder auch nur des Neuen Testaments wirllich buchstäblich glaubte? Und der Religions­ lehrer in der Schule und der gebildete Vater im Hause stehen doch ebenfalls mitten in chrer Zeit, welche den Wundem mindestens zweifelnd gegenübersteht. So besteht auch für die Schule in dieser Frage eine Schwierigkeit, welche jedem Lehrer entgegentritt, selbst wenn nicht für ihn selber, dann mindestens von seiten der Schüler. Zwar in den unteren Klassen ist diese Schwierigkeit ») Generalsuperintendent Baur (Predigt beim 5. evangel. Schulkongreß 1888). O Mezger, Hilfsbuch I, 30. *) Vgl. Nr. 71. *) Mezger I, 49.

XXXVI I- Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie re. kaum zu bemerken; die Jugend lebt in der Welt der Phantasie, und ihr ist das Wunder eigentlich ganz sympathisch. Aber mit dem Erwachen des Verstandes, in den mittleren Klassen, beginnt der Zweifel, und derselbe steigert sich in den obersten Klassen, wo nun die Resultate der Knttk in den Geschichtsstunden und die beginnende Kenntnis der Naturgesetze im naturwissenschaftlichen Unterricht einen Einfluß auch auf des Schülers Verhältnis zum Religions­ unterricht gewinnen. Hier hat der Pastor im Konfirmanden-Unterricht und der Lehrer im Religions-Unterricht oft einen schweren Stand. Es ist natürlich das leichteste, die ganze Wunderfrage einfach abzuweisen, indem der Lehrer erklärt, zwar in der Weltgeschichte und in der Naturwissen­ schaft gebe es keine Wunder, aber in der heiligen Geschichte müßten dieselben anerkannt werden, und nun sucht er dieselben als wahrscheinlich und möglich und notwendig hinzustellen. Aber wenn man das Gebiet der biblischen Ge­ schichte in dieser Weise von dem andern Leben gänzlich scheidet, dann kümmert sich eben auch kein Mensch mehr um die Ansichten der Theologen, wie es ja leider heute bei den Gebildeten vielfach der Fall ist. Es gibt heute eine theo­ logische Geschichtschreibung der Bibel und eine wissenschaftliche Geschichtsdarstellung Israels und des Christentums. Soll dieser Zwiespalt ewig bestehen? Aber wie soll eine Vermittelung gefunden werden? Es ist natürlich nicht die Sache der Schule, eine solche zu finden — damit ist die theologische Wissenschaft beschäftigt, und man kann von keinem Religionslehrer verlangen, daß er ein Problem gelöst habe, welches die Wissenschaft noch fort­ während erst zu lösen sucht. Aber wie soll sich nun der Religionslehrer der Sache gegenüber verhalten? — Eine zusammenfassende, systematische Be­ handlung dieser Frage halte ich beim Unterricht in der heiligen Geschichte kaum für nötig; sie wird bei Gelegenheit immer aufs neue wieder einmal mehr oder weniger vollständig besprochen; es gilt aber folgende Gedanken dem Schüler darzulegen, und zwar teils theoretisch, teils bei der Besprechung der H a u p t w u n d e r der heiligen Geschichte, auf welche die Schule ge­ nauer einzugehen verpflichtet ist1). Die heutige Geschichtswissenschaft beruht auf der Krittk, und die Krittk bestreitet allerdings die Wunder. — Aber die christliche Kirche steht ja der Kritik nicht etwa durchaus feindlich gegenüber. Die evangelische Kirche leugnet die meisten oder alle angeblichen Wunder der katholischen Heiligen; das ist Knttk; denn welcher Nichtkatholik glaubt es z. B. noch heute, daß der heilige Franciscus beim Gebet sich manchmal nicht bloß mit seinem Geiste (wie die andem Menschen), sondem auch mit seinem Leibe gen Himmel erhoben habe, manchmal so hoch, daß er nur noch so groß war, wie eine Lerche, die in der Luft schwebt? Die alte christliche Kirche hat die Wunder Jesu, welche in den upokryphischen Evangelien von ihm erzählt werden, geleugnet und diese Evangelien nicht in die heilige Schrift aufgenommen; das ist Knttk. Nun *) Eine genauere Behandlung dieser Frage in bezug auf das Leben Jesu, wo diese Frage nicht zu umgehen ist, findet der Leser unten, Nr. 104. — Der Lehrer ver­ gleiche zu dieser Frage den Artikel „Wunder" in Bd. 21 der Theol. Encykl. * und das Programm von Blaubeuren 1897, Nr. 604: Fischer, Die Frage nach dem Wesen des Wunders; Beiträge zur Behandlung der Frage im Religionsunterrichte der Prima.

I. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc. XXXVII beginnt allerdings die Schwierigkeit. Aber die Wunder in der Bibel, besonders in den in sie aufgenommenen Evangelien? Früher erllärte man einfach, alle Wunder der Bibel müßten geglaubt werden. Aber selbst die orthodoxesten Theologen (Hengstenberg usw.) haben diesen Glauben an alle bibli­ schen Wunder aufgegeben. Sie können ihr Verhalten rechtfertigen, indem sie darauf hinweisen, daß ja doch die Evangelien nicht deshalb von der alten Kirche teils verworfen, teils angenommen worden sind, weil dort unglaub­ würdige, hier glaubwürdige Wunder erzählt worden sind, sondern weil der Jesus, den die Apokryphen predigen, nicht der Jesus des Kirchenglaubens ist, sondern weil nur die Predigt von Jesu in unsern Evangelien dem kirchlichen Glauben entsprach1). Nicht um historische Kritik der Wunder handelte es sich bei der Sonderung der Evangelien in falsche und rechte, sondern um den Unterschied in der P r e d i g t von Jesu, wobei die Wunder keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielten. Unsre Evangelien wurden in den Kanon der heiligen Schrift aufgenommen, nicht um damit alle ihre Wunder für buchstäblich geschehen zu erllären, sondern um den von ihnen verkündeten Glauben für den rechten Glauben der Kirche zu erllären. Und wenn so der Sage in den Evangelien ein gewisser Raum zugewiesen wird, wie viel mehr darf das im Alten Testament geschehen? „Begebenheiten, die erst viele Jahrhunderte, nachdem ihre Überlieferung durch Mund und Hand einer Reihe von Generationen gegangen war, noch dazu oft in mehrfachen Berichten, der Bibel einverleibt wurden, erlauben doch wahrlich, nein, sie verlangen eine prüfende Scheidung von Inhalt und Form, von dem, was wir als Gottes Tat darin zu erkennen haben, und von demjenigen Schmuck, welchen die menschliche Fassung dem göttlichen Werke gegeben hat. Was der Christ, kraft seines an der Hand der Schrift und seines christlichen Bewußtseins gebildeten Begriffes vom Wesen und Wirken Gottes, als damit vereinbar erkennt, das gehört dem Gebiete der Geschichte, was damit nicht vereinbar ist, dem Gebiete der Sage cm."2) Wenn allerdings der heutige Religionslehrer nicht mehr alle Geschichts­ erzählungen des A. T., namentlich auch nicht alle im A. T. erzählten Wunder, für wirlliche Geschichten hält, so ist doch diese Schwierigkeit nicht so groß, wie sie oft dargestellt wird. Die göttliche Führung des Volkes Jsraelimganzenistder Gegenstand des Religionsunterrichts, nicht die Einzeltatsachen in ihrer Besonderung. Und ist denn etwa eine Erzähllmg wertlos darum, weil sie nicht eine wirlliche Geschichte ist? Sind nicht die Geschichte Hiobs und das Gleichnis vom armen Lazarus wert­ voller als viele wirkliche Geschichten? Wie der Religionslehrer das A. T. vor­ nehmlich ansehen soll, das zeigt ihm der Hebräerbrief (Kap. 11 und 12), wenn er die Frommen des A. T. als VorbilderdesGlaubens darstellt; das können sie aber auch für denjenigen sein, der in ihnen nicht durchweg ge­ schichtliche Personen erkennt. Auf diese positive Seite des Unterrichts ist also das Hauptgewicht zu legen; die Frage nach der Geschichtlich*) Weiß, Leben Jesu31,133: „Es ist kein Zweifel, daß die Auswahl unserer drei älteren Evangelien eben darum getroffen ward, weil ihre Auffassung der evan­ gelischen Geschichte dem Gesamtbewußtsein der Gemeinde entsprach." 3) Mezger, Hilfsbuch III, 44—45 und 53-55.

XXXVm I. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc. Ieit des Erzählten ist eine Frage des Verstandes, nicht der Re­ ligion. Bei dieser Darstellung der Sache kommt die allgemein anerkannte historische Kritik auch hier zum Recht, und es schwindet die höchst bedenkliche Verwerfung der Kritik für die Bibel, während die Kritik doch sonst allgemein anerkannt wird. Wenn die Bibel keine Kritik vertrüge, dann hätte auch die alte Kirche keine solche üben dürfen, und sie hat sie geübt, indem sie den Kanon zusammen­ gestellt hat. Es ist also der Wissenschaft nicht zu verwehren, daß sie auch der Bibel gegenüber Kritik übt; wer das nicht zugibt, gefährdet das Ansehen der Bibel viel mehr, als es zunächst scheint; diese Absonderung der Bibel von aller anderen historischen Litteratur bewirkt nämlich notwendig, daß die Bibel für den Gebildeten nicht mehr existiert; seine Weltanschauung gewinnt er anders­ woher, nicht aus der Bibel. Das ist die traurige Konsequenz der Absonderung der Bibel von der anderen Litteratur. So suche ich also für den Schüler die E i n h e i t des Denkens zu erhalten; es gibt keine doppelte Wahrheit, wie die Scholastik des späteren Mittelalters in ihrer Verzweiflung lehrte, und wie noch heute mancher Theologe glaubt lehren zu müssen; dann ist unsere Sache verloren. Aber wenn nun der Historiker alle Wunder der Bibel, besonders des Lebens Jesu bestreitet, und der Naturforscher ihm recht gibt, indem er alle Wunder für natürlich geschehend ansieht? — Dann weise ich den Schüler darauf hin, daß die Naturwissenschaft doch selber manches Wunder noch heute und wohl für immer stehen läßt. Woher der Stoff, woher die Ordnung in der Welt, woher das Leben, woher der Menschengeist? Diese Fragen hat noch kein Naturforscher beantwortet. Das Dasein des Stoffes und der Ordnung in der Welt, das Dasein des Lebens und des Geistes sind Wunder, die wir nicht zu leugnen vermögen; der Materialist sucht über diese Wunder uns ver­ geblich hinwegzuheben1). Und wenn nun auch in der bestehenden Welt alles nach Gesetz und Ordnung zugeht, ist denn das Natur gesetz nicht Gottes Ordnung? Und ist denn dieses Walten Gottes in der Natur nicht weniger wunderbar, wenn es in gesetzmäßiger Ordnung sich vollzieht? Sind wir nicht doch berechtigt zu sagen, daß Gott die Israeliten vor Pharao, die Engländer vor Philipp II., die neueren Völker vor Napoleon I. in gleicher Weise durch Wunder gerettet hat, obwohl dabei kein Naturgesetz verletzt worden ist? Und erlebt nicht auch der gewöhnliche Mensch in seinem Leben gar manches, was zunächst bloß als ein Zufall erscheint und doch für ihn später von großer Bedeutung wird? Erkennt er darin nicht mit Recht den Finger Gottes? Ja, sind, denn die Wunder Jesu, welche die Kritik anerkennt, nur darum Wunder, weil sie gegen die Naturordnung geschehen? Sind sie nicht vor allem Taten einer höheren Macht, welche den Naturverlauf nur anders gestaltet als gewöhnlich, aber ohne die Naturgesetze aufzuheben? Das gilt doch wohl für die Krankenheilungen Jesu unbedingt, vielleicht auch noch für manches andere seiner Wunder. Ja, gerade dadurch unterscheiden sich die biblischen Wunder von den oft gar zu seltsamen Mirakeln der katholischen Helligen, daß in diesen der Naturordnung geradezu ins Gesicht geschlagen wird. Jesus hat *) Vgl. Du Bois-Reymond, Die Grenzen des Naturerkennens. sieben Welträtsel.

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I. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc. XXXIX keine gebratenen Hühner vom Tische lebendig davonfliegen lassen, wie ein katholischer Heiliger, den Pius IX. heilig gesprochen hat. Jesus hat nicht, wie Mohammed, den Mond herabsteigen und auf der Spitze der Kaaba ruhen lassen. Mer selbst wenn wir von unserem Standpunkte aus in einem biblischen Wunder eine Verletzung der Naturordnung sehen, so wollen wir doch stets bedenken, daß für die Bibel diese wissenschaftliche Frage nach der Möglichkeit eines Wunders gar nicht vorhanden war, sondem daß für sie die erzählten Taten nur solche Taten sind, in denen sich G o t t in be­ sonderer Weise den Menschen geoffenbart hat— und so sollen auch w i r die Wunder betrachten. Und wann geschehen denn nun nach der Bibel Wunder? Mcht so be­ liebig, wie in der katholischen Legende und in der gewöhnlichen Sage. Sie geschehen fast nur dann, wenn große Männer auftreten oder Ereignisse sich vollziehen, welche für die ganze Welt von Bedeutung sind; dann werden durch Gottes wunderbares Walten Hindemisse beseitigt oder Wirkungen hervor­ gebracht, auf welche im gewöhnlichen Verlauf der Dinge nicht zu rechnen Wat. Ms durch den Tod Jesu der Glaube der Jünger an ihn zu erlöschen drohte, da mußte Jesus als der von den Toten Auferstandene den Jüngem erscheinen, damit sie den Glauben an ihn nicht aufgäben. Und die Auferweckung Jesu ist für die Jünger zugleich ein Zeichen dessen, was die Zukunft einst dem Men­ schen bringen soll: ein Leben frei vom Tode, in der Gemeinschaft mit Gott. Durch die Wunder wird also die Ordnung der Schöpfung durchaus nicht gestört, sondem sie dienen gerade dazu, die Schöpfung zu vollenden; sie stammen von demselben Gotte her, der die Welt geschaffen hat, und sie dienen demselben Zwecke, den die Schöpfung erstrebt. Und daß die wunderbaren Tatsachen selten sind oder gar nur e i n m a l in der Welt sich finden (wie die Person Jesu) — dadurch wird doch die Ordnung und Gesetzmäßigkeit der Welt nicht gestört. Große Männer sind ebenfalls selten, und auch große Ereignisse geschehen selten in der Welt; dämm sind sie aber doch vorhanden und verstoßen nicht gegen die Ordnung. Und ge­ schehen denn nicht seit alter Zeit und heute wieder mehr als früher auch vor unfern Augen wunderbare Dinge, welche die Wissenschaft als Tatsachen an­ erkennt, auch wenn sie zunächst nicht zu erllären wären? Aus diesem dunllen, noch wenig erforschten, aber dämm doch nicht ganz dem Aberglauben ange­ hörenden Gebiete der Natur wird nach meiner Meinung noch manche Tatsache sich als richtig erweisen und als brauchbar zur Erllämng manches biblischen Wunders. Und wenn nun auch manches Wunder uns nicht so unbegreiflich erscheint, wie den damaligen Menschen, ist es denn dämm wertlos? Die Bibel nennt die Wunder Jesu Zeichen, und sind sie das nicht auch dann, wenn sie uns zum Teil nicht so unbegreiflich erscheinen? Der Gedanke, welcher in ihnen enthalten ist, ist ja sogar für uns doch eigentlich die Hauptsache. Wenn heute der Pastor von dem Wunder der Speisung predigt, so predigt er ja nicht davon, daß aus dem einen Brote durch ein Wunder noch heute tausend Brote werden können, sondem davon, daß Gottes Gnade uns noch heute emährt und Jesus noch heute die Speise für die Seele aller Menschen ist.

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1- Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc.

Und hat nicht Jesus selber seine'Jünger von den Wundem abgelenkt auf seine Predigt und seine Person? Das Zeichen des Jonas, d. h. seine Predigt in Niniveh und dieser Leute Glauben, stellt er dem Unglauben und der Wundersucht der Pharisäer gegenüber. Und auf seine Person weist er besonders bei Johannes immer wieder hin, mehr als auf seine Wunder. Und seine Person ist und bleibt ein Wunder, ja, ein Wunder, welches auch die historische Kritik anerkennt,- keine Wissenschaft hat die weltgeschichtliche Be­ deutung dieser Person bestritten, und so bleibt denn schließlich auch für den Schüler die P e r s o n Jesu als das Wunder aller Wunder bestehen, auch wenn ihm manches einzelne Wunder zweifelhaft wird. Das nämlich ist schließlichnachmeinerMeinungdieHauptaufgabedes Religionslehrers, den Schüler bei der Verehrung der PersonJesufe st zuhalten; wenn der Schüler Liebe zu Jesu gewinnt und behält, dann hat er die Hauptsache im Christentum gewonnen und bewahrt, dann wird der Zweifel im einzelnen ihn doch nicht von der Haupt­ sache abziehen. „Wenn aber dem Lehrer das Hauptwunder Gottes, das Wunder der Erlösung der Menschheit durch Jesus Christus, feststeht, so wird er reiche Gelegenheit haben, seinen Schülem zu zeigen, daß Gott auch ein Gott der Wunder ist. Dagegen wird der Lehrer bei den e i n z e l n e n Wundem nicht viel verweilen, weder um ihre Geschichtlichkeit zu beweisen, noch um sie zu bestreiten; er wird mehr bei denjenigen Wundern Gottes verweilen, welche sich in der Fühmng der einzelnen Menschen und der Völker offenbaren; damit folgt der Lehrer der Anleitung der Bibel selber, welche alles zu den Wundem rechnet, wodurch Gott sein Walten in Natur und Geschichte offenbart."*1) Zum Schlüsse lasse ich noch einmal das treffliche Buch von M e z g e r reden: „Wenn der Religionslehrer aus falscher Ängstlichkeit oder aus Bequemlich­ keit alle Bedenken der Schüler einfach ignoriert, was werden bei den Schülem die unausbleiblichen Früchte solchen Verfahrens sein? Kann der Schüler es doch dem Lehrer selbst unmöglich zutrauen, daß er selbst die redende Schlange im Paradies, einen Stillstand der Sonne, einen Satan, der sinnlich erschienen und die Macht gehabt hat, dem Herrn alle Reiche der Welt zu zeigen, für bare, derbe Wirklichkeit halte! Aber daß Wunder Gottes auf dem Boden der Bibel geschehen sind, steht mir fest; nur ob und inwieweit jedesmal-die Erzählung davon der tatsächlichen Wirklichkeit entspricht, ist eine weitere Frage, deren Beantwortung auch noch durch andere Faktoren (als den Glauben an Wunder überhaupt, nämlich durch die Untersuchung des historischen Wertes der Überliefemng) bestimmt wird. Wenn man sich so bemüht, die Mittellinie zwischen ängstlichem Buchstaben­ glauben und übergroßer Scheu vor Wunderglauben zu finden und einzuhalten, so kann es natürlich ohne Mißgriffe nicht abgehen."2) Die Mißgriffe auch des vorliegenden Buches mag der Leser freundlich berichtigen! 7. Wer wenn derjenige, welcher in der Bibel auch nur ein m e n sch­ lich e s Buch sieht, und an v i e l e n Wundern zweifelt, doch noch aus diesem Buche seinen Schülem viel Schönes und Wertvolles darbieten kann, noch viel

-1) Schmid, Progr. von Schönthal, 1888, Nr. 549, S. 31. 2) Mezger, I, 19 u. 51. III, S. V.

I. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc.

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mehr, als aus Schiller und Goethe, soistdagegeneineKritikmit dem Religionsunterricht völlig unverträglich, welche von keinerOffenbarungGottes in der Welt etwas weiß undwissenwill. Das war aber der Standpunkt des Rattonalismus, der in der wissenschaftlichen Theologie heute keine Vertreter mehr hat; das ist der Standpunkt vieler Christen noch heuttges Tages. Wer mit dem Ratio­ nalismus nur einen Gott kennt, der zwar die Welt geschaffen hat, aber ihr nunmehr fern steht, wie der Maschinenbauer der von ihm geschaffenen Maschine, dessen Religion steht, wie S ch i l l e r mit Recht klagt *), hinter der der alten Griechen trotz ihres Polytheismus in der Tat zurück. Wenn auch die alten Rationalisten durchweg brave und fromme Menschen gewesen sind, so war doch ihr Glaube nicht der Glaube der Bibel, wie heute allgemein anerkannt ist; für diesen Glauben gibt es keine Offenbamng im Sinne der Bibel. Aber als nun der Deisnms der Rattonalisten vom Pantheismus abgelöst wurde, da war ja allerdings die Möglichkeit einer Offenbarung gegeben; es war nur leider der verschwunden, der sich offenbaren sollte, denn eine werdende Gottheit ist im Sinne der Bibel keine Gottheit. So hat denn die Neuzeit, oder wenigstens die neuere Theologie, den Deismus wie den Pantheismus zu ver­ einigen gesucht im Theismus, und von diesem Standpunkte aus ist erst eine wirkliche Offenbarung Gottes in der Welt möglich. Aber ist eine Offenbarung auch wirllich vorhanden?2) Das geben nun wohl alle Forscher zu, welche einen theistischen Gottesbegriff haben, für die­ jenige Offenbarung Gottes, welche in der Welt in Natur und Geschichte, wie beim einzelnenMenschenim Gewissen sich vollzieht. Aber wer nur diese allgemeine Offenbarung Gottes anerkennt, der wird der Bibel nicht gerecht; die Bibel spricht von einer besonderen Offenbarung Gottes, deren Stätte das Volk Israel war, deren Vollendung in Jesus Christus ge­ schehen ist: „Nachdem vor Zeiten Gott manchmal und mancherlei Weise zu den Vätern geredet hat durch die Propheten, hat er am letzten in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn." Diese Offenbarung. Gottes beruht, wie die Bibel unzweifelhaft sagt, nicht auf dem natürlichen Zusammenhange der menschlichen Verhältnisse, sondern ist nur aus einem unmittelbaren und außer­ ordentlichen Wirken Gottes zu erllären. Wie das Volk Israel im Men Testa­ ment, so steht Jesus Christus im Neuen Testament als ein Wunder Gottes unter den Menschen. Von dieser Offenbarung Gottes zeugen die geschicht­ lichen Bücher der ganzen Bibel, von Gott erleuchtet und erfüllt reden die Pro­ pheten, Gott selber wohnte in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber; von Gottes Geist erleuchtet haben die Dichter des Men Testamentes und die Verfasser der Briefe des Neuen Testamentes ihre Schriften geschrieben. Nur werandieseunmittelbareOffenbarungGottesinden ProphetenJsraelsundinJesusChristus,demSohne Gottes, glaubt, der kann als Lehrer der Predigt der Bibel in seinem Unterricht gerecht werden. *) „Die Götter Griechenlands" — der deutsche Unterricht wird dies Gedicht dem Schüler nahebttngen. a) Auf diese Frage wird genauer eingegangen unter Nr. 9 und in der Glaubenslehre 2. Aufl. Nr. 9 und 35.

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I. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie rc.

F. Die wissenschaftliche Darstellung der heiligm Geschichte in der neuerm Zeit. Nachdem sich die Stellung der Theologie zur heiligen Schrift in der neueren Zeit wesentlich geändert hatte, konnte auch die Darstellung der heiligen Ge­ schichte nicht dieselbe bleiben, wie sie früher gewesen war. Wenn nun im einzelnen erst unten gezeigt werden soll, wie die Darstellung der ATlichen Geschichte, des Lebens Jesu und des apostolischen Zeitalters in der neueren Zeit umgestaltet worden istl), so soll hier nur im allgemeinen dargelegt werden, wie sich infolge der neueren, wissenschaftlichen Betrachtung der heiligen Schrift die Darstellung der heiligen Geschichte geändert hat. a. Nicht auf dem Streben, eine freiere Auslegung der heiligen Schrift zu gewinnen und die Entwickelung der biblischen Religion besser zu verstehen, wie man bisweilen gemeint hat, bemhte die Reformation, sondern was Luther in seinem Leben an sich e r f a h r e n hatte, daß der Mensch nicht gerecht werde auf dem von der katholischen Kirche des Mittelalters gewiesenen Wege, das fand er in der Bibel b e st ä t i g t. So war es denn kein Wunder, daß man in der evangelischen Kirche die heilige Schrift zunächst vornehmlich von dem Standpunkte aus las, daß in ihr der Ratschluß Gottes zu unserer Seligkeit geoffenbart sei. Das ist ja nun auch für den gewöhnlichen Christen überhaupt der richtige Standpunkt bei der Lektüre der Bibel: die Bibel soll für ihn ein Buch sein, welches ihm den Weg zum Himmel weist, und in dieser Weise lesen wir alle noch heute die heilige Schrift, wenn wir sie zu unserer Erbauung lesen. b. Aber in der heiligen Schrift ist ja doch gar vieles enthalten, was nicht bloß oder gar nicht der Erbauung dient (z. B. die Geschlechtsregister, das Kultusgesetz der Israeliten, viele einzelne Geschichtstatsachen), aber trotzdem wertvoll und wichtig ist. Mit diesen Dingen beschäfttgt sich nun die Wissen­ schaft, und wenn dieselbe sich mit der Bibel beschäfttgt, so zieht sie natür­ lich die ganze Bibel in den Kreis ihrer Forschung. Das ist nun auch schon in der Reformationszeit geschehen; aber hier zeigte sich mehr und mehr die Schranke der Reformation, welche noch nicht dazu gelangt ist, von ihren Gmndsätzen aus auch die theologische Wissenschaft um­ zugestalten. Zwar an A n s ä tz e n dazu hat es im Reformattonszeitalter nicht gefehlt, und Luther hatte bereits int Prinzip die richtige, seinen Gmndsätzen entsprechende freiere Stellung zur Bibel gewonnen; aber seine Nachfolger folgten nicht den von ihm gegebenen Andeutungen, sondem glaubten, im Interesse der Festigkeit des Glaubens auch am B u ch st a b e n der h. Schnft mit aller Strenge festhalten zu müssen. So kam man zu der alten Jnspirationslehre, und von hier aus zu einer gar zu buchstäblichen, oft ganz verkehrten Aus­ legung der heiligen Schnft, und ein richtiges Verständnis der heiligen Ge­ schichte konnte von diesem Standpunkte aus nicht gewonnen werden. c. Als nun die Orthodoxie dem Piettsmus und dem Rattonalismus Platz machte, da kam auch für die Erforschung und das Verständnis der Bibel eine neue Zeit, aber noch nicht eine bessere. Wenn der P i e t i s m u s nur für dasjenige in der Bibel Interesse hatte, was der Erbauung diente, so bettachtete der R a t i o n a l i s m u s die Bibel als ein Lehrbuch seiner Veri) Vgl. Nr. 3—4 und 106 und 141.

I. Die Betrachtung der Bibel in der neueren Theologie re.

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standesreligion, und was der Aufklärung nicht entsprach — und dessen war in der Bibel gar viel — das wurde durch Umdeutung beseitigt. Die Religion und die Sittlichkeit wollte man festhalten, aber Wunder und Weissagungen und eine eigentliche Offenbarung wurden durch die Auslegung der Bibel beseitigt. Auch der Rattonalismus hat nicht, noch viel weniger als die Refor­ mation, zu einer unbefangenen Auslegung der heiligen Schrift und zu einem tieferen Verständnis der heiligen Geschichte geführt. d. Da kam im 19. Jahrhundert eine Zeit des neu erwachenden Glaubens, und damit auch ein Zeitalter neuer Bibelforschung und eines tteferen Ver­ ständnisses der heiligen Geschichte. Es war nun kein Wunder, daß auch in der neueren Zeit nicht sofort allgemein die richtige Stellung zur heiligen Schrift gefunden wurde; aber dieselbe ist doch allmählich gefunden worden, und wenig­ stens die Theologen sind mehr und mehr zur Klarheit darüber gelangt, wie vom wissenschaftlichen Standpunkte aus die heilige Schrift anzusehen und die in der Bibel enthaltene heilige Geschichte darzustellen sei. a. Wenn die frühere Orthodoxie eine buchstäbliche Jnspiratton der Bibel behauptet hatte, so ist diese Lehre zwar von allen Theologen, die in Betracht kommen, heute aufgegeben; aber der K e r n dieser Lehre, daß die Bibel nicht ein Buch menschlicher Weisheit, sondern göttlichen Inhalts sei, wird auch heute von allen Theologen festgehalten. ß. Wenn der Rationalismus die menschliche Seite der Bibel betont hatte, und zwar so sehr, daß für ihn die Bibel zu einem bloß menschlichen Buche wurde, so ist der Kern dieser Behandlungsweise auch heute in Geltung geblieben, daß an der Bibel auch eine menschliche Seite wahrzunehmen sei, und daß die Wissenschaft der Bibel und die Darstellung der in ihr ent­ haltenen heiligen Geschichte der K r i t i k nicht entbehren könne. 7. Daß die Offenbarung nicht auf einmal sondern in verschiedenen Stufen erfolgt ist und die vollkommene Offenbarung Gottes erst in Christus erfolgt ist, hatte man schon früher erkannt, und das ist heute all­ gemein anerkannt; nur über den Gang der Entwickelung der Offenbarung, namentlich im Alten Bunde, sind die Gelehrten heute noch nicht einig. e. Infolge dieser heute allgemein als berechtigt anerkannten wissen­ schaftlichen Erforschung der Bibel wird allerdings heute manches anders aufgefaßt und dargestellt als früher; aber ein wesentlich anderes Bild von dem I n h a l t der Bibel ist dadurch nicht gewonnen worden. Den Hauptinhalt der Bibel bildet, wie heute allgemein anerkannt ist, die Geschichte der Offenbarung. Daß nämlich die Religion der Bibel auf Offenbarung beruhe, und daß unsere Kunde von der Offenbarung vornehmlich auf der Bibel beruhe, ist allgemein anerkannt. Erst die neuere Theologie hat aber deutlicher erkannt, daß in der Offenbarung eine allmähliche, geschichtliche Entwickelung stattgefunden habe, und in welcher Weise diese Entwickelung sich vollzogen habe. Wenn aber über den Gang der Offenbarung, namentlich hinsichtlich des Alten Testaments, in der neueren Zeit schwierige Fragen zur Erörterung gekommen sind, welche noch heute nicht übereinstimmend beantwortet werden, so ist doch diese Verschiedenheit in der Betrachtung des A. T. zwar für dieWissenschaftvon großer Bedeutung, aber nicht so sehr für den G l a u b e n; für den G l a u b e n kommt es ja nicht auf die Ent-

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Lehrstoff und Lehrplan für den Religionsunterricht

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wickelungsstufen der Offenbarung an, sondern auf ihre Voll­ endung; daß aber die Vollendung der Offenbarung im Christentum zu finden sei, das ist allseitig anertannt. So wird die Geschichte der in der Bibel enthaltenen Offenbarung zwar von den verschiedenen Forschem der Gegenwart im einzelnen sehr verschieden dargestellt, aber die Verschiedenheit der Darstellung ist wichtiger für die Wissenschaft, als für den Glauben.

II. Lehrstoff und Lehrplan für den Religions­ unterricht, besonders Ln der heiligen Geschichte. A. Lehrstoff und Lehrplan des Religionsunterrichts in ihrer geschichtlichen Entwickelung. 1. Der Religionsunterricht in der alten Kirche und in der Zeit der Reformation. a. Daß eine Belehrung über den christlichen Glauben notwendig sei, um Juden und Heiden für das Christentum zu gewinnen, das verstand sich für die alten Christen von selbst, und ein solcher Unterricht ist in der a l t e n K i r ch e stets erteilt worden. b. Im Mittelalter ist es ja freilich oft genug vorgekommen, daß Heiden auf Befehl eines Fürsten getauft wurden, ohne daß sie vom Christentum etwas Rechtes wußten. Aber fast ebenso schlimm stand es im Mittelalter vielfach mit den getauften Christenkindern; sie sollten zwar nach der Taufe über den christlichen Glauben unterrichtet werden, aber das ist oft gar nicht, und wo es geschah, meist nicht in genü­ gender Weise geschehen. c. Eine Besserung in dieser Beziehung ist erst durch die Reformation bewirkt worden, und noch besser ist es geworden infolge der Einführn n'g des allgemeinen Schulzwangs, leider nur in einem Teil der europäischen Länder; wo derselbe noch nicht eingeführt ist, da steht es mit dem Unterricht im christ­ lichen Glauben noch immer mehr oder weniger schwach, da der Kirche meist nicht aus­ reichende Kräfte für einen genügenden Unterricht im christlichen Glauben zu Gebote stehen. In Deutschland wird heute überall durch die Schule dafür gesorgt, daß jedes Christenkind über seinen Glauben genügend unterrichtet wird. d. Im Mittelalter lernten nun zwar diejenigen Kinder, welche eine Schule besuchten, das Apostolikum und die kirchlichen Gebete, aber einen eigentlichen Unter­ richt über den christlichen Glauben erhielten sie nicht, und auch die heilige Schrift lernten sie nicht kennen. Erst durch die Reformation sind der Unterricht in der Glau­ benslehre und die Lektüre der Bibel in die Schule gebracht worden, und der Religions­ unterricht erschien den Reformatoren als eine Hauptaufgabe für jede Schule. „Vor allen Dingen" — so sagt Luther — „sollte in den hohen und niedrigen Schulen die fürnehmste und gemeinste Lektion sein die heilige Schrift, und den jungen Knaben das Evangelium. .Sollte nicht billig ein jeglicher Christenmensch bei seinem neunten oder zehnten Jahre wissen das ganze heilige Evangelium, da sein Namen oder Leben innen stehet? Lehret doch eine Spinnerin oder Nähterin ihrer Tochter dasselbe Handwerk in jungen Jahren! Wo die heilige Schrift nicht regieret, da rate

II. Lehrstoff und Lehrplan für den Religionsunterricht re.

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ich fürwahr niemand, daß er sein Kind hintue. Es muß verderben alles, was nicht Gottes Wort ohne Unterlaß treibet." — So hatte Luther gesagt, und die evangelische Schule, sowohl die niedere als die höhere, hat sein Wort beachtet. e. Aber obwohl die Religion im 16. Jahrhundert eine große Rolle spielte, auch in der Schule, so hat es doch damals einen ausreichenden Unterricht in der Religion im heutigen Sinne noch nicht gegeben; dem Hause und der Kirche glaubte die damalige Schule den größten Teil der Fürsorge für die Pflege des religiösen Sinnes der Jugend überlassen zu können; die wenigen Religionsstunden, die man ansetzte, wurden auf den Sonnabend und den Sonntag angesetzt. In diesen Stunden wurde mancherlei auswendiggelernt,ab er stets wurde dabei auch an die Förderung des Lateinischen gedacht, des Hauptgegenstandes der damaligen Schule. Der Luthersche Katechismus wurde gelernt, aber wenig erllärt, und zwar gelernt in deutscher, bald aber auch in lateinischer, ja, in Schulen, wo darin unterrichtet wurde, auch in griechischer Sprache; am Katechismus lernte man auch lesen. Biblische Bücher wurden gelesen, aber von den älteren Schülern lateinisch, und, wo möglich, griechisch; die biblischen Geschichten wurden nicht wegen ihrer Bedeutung für die Heilsgeschichte gelesen, sondern als Exempel, „wie Gott solche Leute gestraft und gesegnet hat." Der im „Unterricht der Visitatoren" veröffentlichte, von Melanchthon verfaßte „Sächsische Schulplan" (1528) verordnete für den auf zwei Wochenstunden beschränkten Religionsunterricht des „andren Haufens" *), der Mittelklasse der (dreillassigen) Latein­ schule, folgendes an: Einen Tag, als Sonnabend oder Mittwoch, soll man anlegen, daran die Kinder christliche Unterweisung lernen. Denn etliche lernen gar nichts aus der heiligen Schrift; etliche lehren die Kinder gar nichts denn die heilige Schrift; welche beide nicht zu leiden sind. So soll in dem also gehalten werden: Es soll der Schulmeister den ganzen Haufen hören, also, daß einer nach dem andern aufsage das Vaterunser, den Glauben und die zehn Gebote. Und so der Haufe zu groß ist, mag man eine Woche einen Teil, und die andere auch einen Teil hören. Darnach soll der Schulmeister auf eine Zeit das Vaterunser einfältig und richtig aus­ legen, auf eine andere Zeit den Glauben, auf eine andere Zeit die zehn Gebote. Und soll den Kindern die Stücke einbilden, die not sind, recht zu leben, als Gottesfurcht, Glauben, gute Werke, aber nicht von Hadersachen sagen, soll auch die Kinder nicht gewöhnen, Mönche oder andere zu schmähen, wie viele ungeschickte Schulmeister pflegen. Daneben soll der Schulmeister den Knaben etliche leichte Psalmen — 111, 34, 128, 125, 127, 133 — fürgeben auswendig zu lernen, in welchen begriffen ist eine Summa eines christlichen Lebens, als die von Gottesfurcht, von Glauben und von guten Werken lehren. Auch soll man Matthaeum grammatice exponieren, und wenn dieser vollendet, soll man ihn wieder anfangen; doch mag man, wenn die Knaben gewachsen, die zwo Episteln St. Pauli an Timotheum oder die erste Epistel St. Jo­ hannis oder die Sprüche Salomonis auslegen. Sonst sollen die Schulmeister kein Buch vornehmen zu lesen; denn es ist nicht fruchtbar, die Jugend mit schweren und hohen Büchern beladen, als etliche Jesaiam, Paulus zu den Römerna), St. Johannis Evangelium und andere dergleichen um ihres Ruhmes willen lehren. A) Die andern „Haufen" erhielten gar keinen Religionsunterricht. a) In seiner höheren Schule in Straßburg ließ Sturm den Römerbrief in der zweithöchsten Klasse lesen; vgl. Schmidt, Gesch. der Pädagogik Bd. 3,170.

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Der erste und der dritte „Haufen" erhielten keinen Religionsunterricht; aber überall waren — und dadurch wurde der Unterricht ergänzt — Gebet, Chor­ gesang und Besuch des Gottesdienstes vorgeschrieben; gesungen wurden aber auch im Gottesdienste neben den neuen deutschen zunächst noch die alten lateinischen, wie auch aus dem Deutschen übersetzte lateinische Lieder. In der im I. 1559 erschienenen „Württembergischen Schulord­ nung" wird schließlich noch gesagt: Damit nun die Eruditio nicht sei ohne gute Disciplin, Zucht und Gottesfurcht, soll Morgens vor dem Anfange der Lektion von der ganzen Schule das Veni sancte [Spiritus] und nach Mittag zu Anfang der Lektion der erste und letzte Vers aus dem Hymnus Veni Creator Spiritus neben den gewöhnlichen Kollekten [Gebeten] mit Andacht latine gesungen werden. Es soll auch stets zu Ende der letzten Lektion vor und nach Mittag, ehe man die Knaben heimgehen läßt, einer von ihnen ordentlich und deutlich ein Stück aus dem Katechismus, daß es die anderen alle hören, memoriter recitieren. Und alle Tage vor Essens um zehn, Nachmittag um zwei Uhr, ehe sie aus­ gelassen, soll ihnen außer dem Cisio Janus*) etwas fürgegeben, gesungen und der Jugend mit Fleiß eingebildet werden. Über die [Außer der] tägliche Übung des Catechismi in prima et secunda Classe [den beiden untersten Klassen] soll derselbe am Freitag zu gewisser Stunde durchaus in der ganzen Schule examiniert werden, in den zwei ersten [untersten] Classibus deutsch, in den anderen lateinisch. Samstags vor Mttag soll der Präceptor das sonntägliche Evangelium graece et latine nach Ge­ legenheit der Classium interpretieren. Am Samstag zur Vesper sollen alle Knaben in der Proceß (Procession] zu Chor mit einander gehen. Desgleichen soll am Sonntag und Feiertag, zu Morgen, Mittag oder Vesper bei der Predigt gehandelt werden. Es soll auch der Präceptor gut Acht haben, daß die Kinder in der Kirche züchtig seien und der Predigt fleißig zuhören, damit, so man sie nach der Predigt examinieren würde, was sie daraus behalten haben, wissen zu erzählen *). Als Gegenstände des Unterrichts werden der Katechismus und biblische Bücher angegeben, aber immer so bald als möglich lateinisch, ja sogar griechisch — die Hauptsache ist eben der Sprachunterricht, namentlich das Lateinische, dessen sich ja auch die Lehrer beim Unterricht und die Schüler unter einander bedienten; ja, sogar im Hause betet ein gewissenhafter Schüler lateinisch. Den morgens ankommenden Schüler fragt (in einem damaligen Schulbuch) der Lehrer: Unde venis tarn multo mane? — E cubiculo nostro. — An precatus es? — Quum primum me frater pexuit, precatus sum. — Qua lingua? — Latina. — 0 factum bene!*3) * f. Wenn nun in der Lateinschule des 16. Jahrhunderts auch der Religions­ unterricht, wie alle Unterrichtsgegenstände, sobald es möglich war, in lateini­ scher Sprache erteilt wurde, so drang im 17. Jahrhundert in diesen Unterricht die deutsche Sprache ein. Der Lateinschüler mußte ebenso wie der Volksschüler den Katechismus deutsch können; dazu gesellten sich die Perikopen, Sprüche, Gebete, ebenfalls in deutscher Sprache gelernt; auch die Bibel wurde in deutscher Sprache gelesen; aber in den oberen Klassen erhielt sich auch im Religionsunterricht zu*) 24 lateinische Merkverse zur Einprägung des Kalenders. a) Alle Montage um 7 Uhr soll der Rector in die Klassen gehen, und aus den Zeddeln diejenigen ab­ lesen, welche sich am Sonntage in der Kirche übel gehalten haben, und dieselben stäupen. — Nordhäuser Schulordnung von 1583 (Schmidt, Geschichte der Pädag. 3, 146). 3) Bender in Schmids Gesch. der Erziehung V, 1, 24.

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nächst noch die lateinische Sprache. Später ist auch in diesen Klassen die deutsche Sprache zur Unterrichtssprache geworden; wenn heute der Primaner etwa neben dem deutschen Texte der Augsb. Konfession auch den lateinischen Text kennen lernt, wenn er vielleicht auch noch den griechischen Text des Vaterunsers auswendig lernt, wenn er ausgewählte Abschnitte des N. T. in der Ursprache liest, so hat das alles trat dem Sprachunterricht nichts mehr zu tun. g. „Me Spener dem Religionsunterricht in der Volksschule und in der kirchlichen Kinderlehre fund Hübner für den Unterricht in der biblischen Ge­ schichte 1 eine wertvolle Grundlage gegeben hatte, so tat F r e y l i n g h a u s e n mit seiner „„Grundlegung der Theologie""(1703) denselben Dienst für höhere Lehr­ anstalten: sie ist das erste Religionsbuch für Gymnasien. Für den Standpunkt jener Zeit hat Frehlinghausen diese Aufgabe — den Mittelweg zwischen theologischer Wissenschaft und populärer Schrifterkenntnis zu finden — sehr befriedigend gelöst."2) 2. Der Lehrstoff deS Religionsunterrichts.

a. Als Luther erkannt hatte, wie unwissend die Laien und die Geistlichen zu seiner Zeit waren, da beschloß er, für eine bessere Unterweisung der Jugend im Christentum zu sorgen, indem er ein Buch schrieb, aus welchem sie über den rechten christlichen Glauben mit Erfolg belehrt werden könnte. Dies Buch erschien in seinem Kleinen Katechismus. Auch wir lernen den christlichen Glauben noch heute durch Luthers (oder einen anderen) Katechismus kennen, und keine Stufe des Religionsunterrichts auch in der höheren Schule entbehrt des an den Katechismus sich anschließenden Unterrichts im christlichen Glauben. b. Aber wie hoch man auch Luthers Katechismus schätzen muß, so darf man doch nicht übersehen, daß Luther den Katechismus mit Unrecht zum alleinigen Stoffe des Religionsunterrichts gemacht hatte; den Katechismus verstehen zu lernen, erschien ihm als die einzige Aufgabe des Religionsunterrichts. Wenn auch all­ mählich die biblische Geschichte beim Katechismus-Unterricht herangezogen ttmtbe, so blieb doch der Katechismus fast zwei Jahrhunderte lang der eigentliche Gegenstand des Religionsunterrichts. Daß die göttliche Offenbarung, auf welcher der Katechismus beruht, eine Geschichte habe, und daß dieselbe für den Schüler ebenfalls ein Gegenstand des Unterrichts sein müsse, wurde zuerst von dem reformierten Theologen Cocceji (f 1669) erkannt und durch den Pietismus in die lutherische Kirche übertragen; die erste eigentliche „b i b l i s ch e G e s ch i ch t e" für die Schule wurde im Jahre 1714 von dem Hamburgischen Rektor Hübner (f 1731) herausgegeben *). Nun wurde in Preußen im Jahre 1716 der Unterricht in der biblischen Geschichte neben dem Katechismus-Unterricht eingeführt, und diese Neuerung ist allmählich überall durch­ gedrungen. J) Theol. Encykl.8 6, 271 b. v., „Frehlinghausen". *) „2 x 52 auserlesene biblische Historien aus dem Alten und Neuen Testament." — Hübner gibt immer zuerst eine Erzählung aus der Bibel, dann „deutliche Fragen, nützliche Lehren und — in je sechs Versen — heilige oder gottselige Gedanken." Das Buch wurde in die meisten europäischen Sprachen übersetzt; vom A. T. erschien auch (aber nur die Erzählung enthaltend) eine Übersetzung ins Lateinische — das Lateinische war in der alten Schule in den oberen Klassen die Sprache des Unterrichts. Auch die dem Buche angehängten lateinischen Distichen zeigen, daß Hübner sein Buch als auch für die oberen Klassen geeignet ansah.

XLVm II. Lehrstoff und Lehrplan für den Religionsunterricht re. Schon im 18. Jahrhundert hat man aber erkannt (Seiler, 1775), daß der Reli­ gionsunterricht mitderbiblischenGeschichte beginnen müsse, nicht mit dem Katechismus, daß der Katechismus-Unterricht auf dem Grunde des biblischen Geschichtsunterrichts ruhen müsse, und bei dieser Meinung ist man seitdem mit Recht geblieben. So ist nun heute die Hauptaufgabe des Religionsunterrichts in den unteren Klassen die biblische Geschichte, und aus den einzelnen biblischen Geschichten werden zunächst die einzelnen Katechismusstücke gewonnen. In den m i t 1 l e r e n Klassen muß zwar der Katechismus zuletzt als ein Ganzes dem Schüler vorgeführt werden, aber der in ihm enthaltene Stoff ruht doch auch für den Schüler auf der biblischen Geschichte. Und die oberen Klassen führen den Schüler erst recht zurück auf die heilige Geschichte, als auf die Grundlage des im Katechismus zusammengefaßten christlichen Glaubens. Auf allen Stufen bildet also heute die biblische Geschichte die Grundlage des Religionsunterrichts, und mit Recht sagt deshalb der Lehrplan von 1901: „Im Mittel­ punkte des gesamten Religionsunterrichts steht die heilige Schrift; alle anderen Unter­ richtsstoffe sind als auf ihr beruhend oder als zu ihr hinführend zu behandeln". c. Zwar hat man schon inderaltenKirche, sowohl in der morgenländischen (die aposwlischen Konstitutionen) als auch in der abendländischen (Augustinus), für die Katechumenen einen Unterricht in der h. Schrift gefordert, aber nicht einen ge­ schichtlichen oder heilsgeschichtlichen, sondern einen von der Dogmatik oder von der Ethik bestimmten Unterricht. Das ganze M i t t e l a l t e r hat von einem Unterricht in der biblischen Geschichte gar nichts gewußt, obwohl doch z. B. der „Heliand" und der „Krist" das Leben Jesu und die Bilderbibeln die ganze biblische Geschichte darge­ stellt hatten. Erst kurz vor der Reformation haben die einer Reformation der Kirche zustrebenden Brüder des gemeinsamen Lebens auf einen Unterricht in der biblischen Geschichte hingewiesen und auch schon gefordert, daß das Volk die Bibel in der Mutter­ sprache lese. Inder evangelischen Kirche hat zuerst der Straßburger Braunfels auch bibelgeschichtlichen Unterricht für den Jugendunterricht gefordert und dazu zwei Schriften (1527 lateinisch, 1529 deutsch) heraus gegeben: Catalogi virorum illustrium Veteris et Novi Testaments; Lutherhat ebenfalls auf die Notwendigkeit dieses Unterrichts hingewiesen, aber für denselben kein seinem Katechismus ent­ sprechendes Werk geschaffen; in den oberen Klassen wurde aus einem Buche des Rektors Fabricius in Meißen (Historia sacra, 1564) die biblische Geschichte zwar vorgelesen, aber ein Gegenstand des Unterrichts war sie nicht. Auch die im Jahre 1557 von dem Frankfurter Prediger Beier herausgegebene Historienbibel mit 256 Holzschnitten (2 Bände) war nicht ein Schulbuch, sondern ein Volkslesebuch, und ähnliche Bücher sind derselben im 17. und 18. Jahrhundert gefolgt *). Ein eigent­ licher Unterricht in der biblischen Geschichte wurde in der Schule damals noch nicht erteilt. Den Unterricht in der biblischen Geschichte in die Schule eingeführt zu haben, ist das Verdienst von O st e r w a l d für die reformierte Kirche (1702) und von Hüb­ ner für die lutherische Kirche (1714: Biblische Historien). d. Wenn nun heute die Schule auf diesen Teil des Religionsunterrichts das Hauptgewicht legt (ja, manche Pädagogen neben demselben den Unterricht im Katex) Gesenius, Biblische Historien.

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chismus inderSchule nicht für nötig halten), so kommt das unstreitig dem Konfirmanden-Unterricht zu gute, der ja unmöglich alle Gegenstände des Religions­ unterrichts, welche für den Konfirmanden in Betracht kommen, in g l e i ch e r Weise behandeln kann; im Konsirmanden-Unterricht kann auf Grund des Schulunterrichts die Kenntnis der einzelnen biblischen Geschichten vorausgesetzt, dafür aber um so gründlicher auf den Zusammenhang der h. Schrift hingewiesen werden, so daß der Konfirmand erkennt, wie aus der israelitischen Religion durch Jesus Christus das Christentum geworden ist. Aber daß nun der Religionsunterricht in der Schule auf den geschicht­ lichen Unterricht (biblische Geschichte und Kirchengeschichte) beschränkt und der Kate­ chismus-Unterricht überhaupt (wie neuere Methodiker gefordert haben) dem Konfirmanden-Unterricht überwiesen werde — das halte ich nicht für richtig. Was die Bibel an Lehre darbietet, das muß auch in der Schule zu einem Ganzen zusammen­ gefaßt werden (und das geschieht im Katechismus-Unterricht), damit es ein sicheres Eigentum des Schülers werde, und der Konfirmand en-Unterricht würde vor eine unlösbare Aufgabe gestellt, wenn er gar nicht an einen schon vorher inderSchule erteilten Katechismus-Unterricht anknüpfen könnte. Der KatechismusUnterricht muß durchaus der Schule erhalten bleiben. e. Aber auch noch nach einer anderen Seite hin bedurfte der KatechismusUnterricht einer Ergänzung, und dieselbe ist ihm in der neueren Zeit ebenfalls zu teil geworden. Aus dem Katechismus lernt der Schüler den christlichen Glauben kennen; aber es kann und darf ja auch dem Schüler nicht verborgen bleiben, daß derjenige christliche Glaube, der ihm als der r e ch t e Glaube vorgeführt wird, nicht von allen Christen als der rechte Glaube anerkannt wird. Für uns ist Luther, dem wir den Kate­ chismus verdanken, ein rechter Lehrer des christlichen Glaubens; aber seine Lehre wird ja von anderen Christen verworfen, und eine andere Lehre der seinigen entgegengestellt. Woher das kommt, muß dem Schüler klargemacht werden, und bas geschieht durch den Unterricht in der K i r ch e n g e s ch i ch t e. Auch der Unterricht in der biblischen Geschichte bedarf einer Fortsetzung, die er ebenfalls in dem Unterricht in der Kirchengeschichte findet. Daß die Apostel hin­ gehen s o l l t e n in alle Welt, um alle Menschen zu Jüngern Jesu zu machen, das hat Jesus gefordert, und die Apostelgeschichte erzählt, wie die Apostel dieser Forderung entsprochen haben. Aber die Apostel haben das von Jesus ihnen gesteckte Ziel nicht erreicht; andere Männer sind an ihre Stelle getreten und haben die den Aposteln gestellte Aufgabe zu lösen unternommen. Wie das von den Nachfolgern der Apostel getan worden ist, zeigt uns die Kirchengeschichte. Aber wenn es nun schon i n t e r e s s a n t ist, zu hören, wie die von Jesus seinen Jüngern gestellte Aufgabe von diesen und von ihren Nachfolgern gelöst worden ist, fo ist es doch noch wichtiger, zu wissen, was w i r zu tun haben, um an den Seg­ nungen des Christentums teilzuhaben und die der Kirche gestellten Aufgaben zu lösen; so gewinnt die Kirchengeschichte für uns nicht bloß eine theoretische, sondern auch eine praktische Bedeutung, indem sie uns zur Teilnahme am kirchlichen Leben befähigt und über unsere kirchlichen Pflichten belehrt. So hat denn der Unter­ richt in der Kirchengeschichte auch einen selbständigen Wert für den Christen. Bei diesem Werte, den der Unterricht in der Kirchengeschichte für a l l e Christen besitzt, ist es durchaus erforderlich, daß kein Schüler die Anstalt verläßt, ohne eine für

Heidrlch, Heilige Geschichte. 3. Hust.

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seine sonstige Bildung und für seine spätere Stellung im Leben ausreichende Kenntnis der Kirchengeschichte in der Schule gewonnen zu haben, und darum muß auch dieser Unterricht auf allen drei Stufen der höheren Schule erteilt werden. f. Diese Forderung, daß sich auch der Unterricht in der Kirchengeschichte auf alle drei Stufen der höheren Schule erstrecke, geht nun freilich über die Forderung der Lehrpläne von 1892 unt> 1901 hinausl). „Nach den Lehrplänen für die höheren Schulen hat derjenige Schüler, welcher nach Absolvierung der Untersekunda eine höhere Schule verläßt, viel weniger von der Geschichte unserer Kirche gehört, als derjenige, welcher die Volksschule durchgemacht hat2). Er hat in der Obertertia die Reformationsgeschichte erzählen gehört — das ist alles. Für die Volksschule sind außer den wichtigsten Partien aus der ä l t e r e n Kirchengeschichte, von denen auf den höheren Schulen erst in Unterprima gesprochen wird, nach der Reformation noch folgende Abschnitte zu besprechen: 1. Von Luthers Tod bis 1648. 2. Paul Gerhardt und die Kirchenliederdichter. 3. Spener und Francke. 4. Zinzendorf und die Brüdergemeinde. 5. Die Union. 6. Der Gustav Wolf-Verein. 7. Die Bibelverbreitung. 8. Innere Mission. 9. Heidenmission. Me Schüler höhe­ rer Schulen hören von diesen Dingen erst in Unterprima sprechen. Da es aber nur wenige sind, die die Schule ganz absolvieren (20 %), so bleibt der weitaus größte Teil unserer Schüler über große Abschnitte der Kirchengeschichte ununterrichtet, die dem Volksschüler nicht unbekannt sind. Noch seltsamer berührt es uns, wenn wir erwägen, daß etwa 40 Prozent aller Schüler höherer Lehranstalten es nicht einmal bis zur Absolvierung der Untersekunda bringen. Der größte Teil jener 40 Prozent erfährt also von der .Kirchengeschichte überhaupt nichts. In ihrem Interesse würde ich es für erwünscht halten, daß man Lebensbilder aus der Kirchengeschichte8) schon in den unteren Klassen zu geben sich entschlösse, und der Schüler, welcher eine Anstalt bis zur Untersekunda einschließlich besucht, müßte auch [tote der Volksschüler 1 einiges aus der n e u e r e n Kirchengeschichte auf der Schule hören. Dies dürfte dazu bei­ tragen, daß er sich später lebendig am kirchlichen Gemeindeleben beteiligt" [was der Lehrplan als das Ziel des Religionsunterrichts mit Recht bezeichnet). g. Daß aber die Kirchengeschichte überhaupt in den Religionsunterricht gehört — das ist die Voraussetzung des Lehrplans vom Jahre 1901 nicht bloß für die o b e r e n Klassen, sondern auch für die m i t t l e r e n Klassen; allerdings n i ch t für die un­ ter e n Klassen; aber es wird doch wohl keinem Lehrer verwehrt sein, auch in Quinta oder in Quarta von Luther und der evangelischen Kirche zu sprechen. Auf diese dritte Aufgabe des Religionsunterrichts hatte schon Augustinus hingewiesen4), wenn er sagt: „Die Erzählung nennt man dann vollständig, wenn sie jeden, der solche Unterweisung empfängt, von den Worten der Schrift an „„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde"" bis zu den gegenwärtigenZeiten der Kirche führt." Im Mittelalter lernte das Volk zwar die Heiligen der Kirche kennen, aber von einem Unterricht in der eigentlichen Kirchengeschichte hören wir nichts. Auf diese dritte Aufgabe des Religionsunterrichts, auf welche *) Das Folgende, mit dem ich übereinstimme, nach: L ü n g e n, Progr. von Köln 1893, Nr. 494, S. 12—14. a) Auch weniger, als sein katholischer Mit­ schüler, dem in Obertertia „hervorragende kirchengeschichtliche Charakterbilder" vor­ geführt werden. 8) Wenigstens doch die Reformationsgeschichte und die Haupt­ abschnitte der neueren Kirchengeschichte — wie ich meine. 4) De catechizandis rudibus.

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schon Math esius in seinen Predigten über Luthers Leben hingewiesen hat2), von welcher aber die S ch u l e des 16. Jahrhunderts kaum etwas gewußt hat'2), war zwar schon im 18. Jahrhundert hingewiesen worden2), und in Preußen ist er im I. 1826 für die oberen Klassen der Gymnasien angeordnet worden; aber besonders nachdrücklich hat erst Palmer (Katechetik S. 154) darauf hingewiesen, daß es im Interesse des Schülers liege, „die kirchliche Gegenwart, die protestantische Form und den protestantischen Geist der kirchlichen Gemeinschaft genetisch zu begreifen", und er hat einen Lehrplan aufgestellt, der etwa mit demjenigen übereinstimmt, den ich für die mittleren Klassen aufgestellt habe (ohne daß ich an den von Palmer gedacht habe), und Z ezsch witz (Katechetik II, 2, 1, § I) hat ebenfalls auf diejenigen Stoffe aus der Kirchengeschichte hingewiesen, welche dem Schüler nicht vorenthalten werden dürfen. Und so sagt denn auch Zange (Evang. Religionsunterricht, 1897, S. 80): „Die Kirchengeschichte gehört notwendig in den Religionsunterricht, von der Dorfschule bis zum Gymnasium." h. Aber heute gilt es auch, wie i ch glaube, dafür zu sorgen, daß in den oberen Klassen (in den drei letzten Schuljahren) nicht bloß oder doch vornehmlich nur Kirchengeschichte getrieben werde, so daß die Bibel und die Glaubens­ lehre nicht mehr selbständig, sondern nur im Anschluß an die Kirchengeschichte be­ handelt werden. Wie ich nicht dafür bin, daß der Katechismus in der Schule nur im Anschluß an die biblische Geschichte behandelt werde, so bin ich auch der Meinung, daß auch die Glaubenslehre und die Bibel n e b e n der Kirchengeschichte auch weiter s e l b st ä n d i g behandelt werden müssen4). i. So ist denn, wie wir heute glauben, der Katechismus n i ch t der einzige Gegen­ stand des Religionsunterrichts, sondern der Unterricht in der biblischen Geschichte und in der Kirchengeschichte sind ihm zur Seite getreten; der Katechismus-Unterricht läßt den Schüler das W e s e n des Christentums erkennen, der Unterricht in der biblischen Geschichte die Entstehung des Christentums, der Unterricht in der Kirchen­ geschichte die E n t w i ck e l u n g des Christentums. An diese drei Gegenstände wird sich alles anschließen, was dem Schüler im Religionsunterricht dargeboten wird. An die biblische Geschichte schließt sich die Einführung in das Bibelbuch an, die jedem Schüler dargeboten wird, wenn er auch nur die Reihenfolge der biblischen Bücher lernt und das Titelblatt der Bibel verstehen lernt. An den Katechismus schließen sich die Bibelsprüche an, die er lernt, wie auch die Übersicht über die Unterscheidungslehren, die ihm dargeboten wird. Zum kirchengeschichtlichen Unterricht gehören die Ein­ führung in das Kirchenjahr und seine Feste, in die Gottesdienstordnung und in das Gesangbuch, wie auch die Belehrung über die Verfassung und die Aufgaben der evangelischen Kirche. Daß diese drei Gebiete des Religionsunterrichts auf allen drei Stufen der 2) „Wir Christen sollen und müssen auch wissen, wo, wann und durch wen uns Gott die reine Lehre des Evangelii offenbaret und bezeuget hat." Predigt 8. *) Nur in der Kirchenordnung von Lauingen (in Bayern) ist für das 16. Jahrhundert ein Unterricht in der Kirchengeschichte bezeugt; vgl. Theol. Jahresbericht Bd. 22, S. 637. a) Vgl. Schumann und Sperber, Geschichte des Religionsunterrichts (1890), § 7, 6. — Im Friedrich-Werderschen Gymnasium zu Berlin wurde um das Jahr 1700 Kirchengeschichte gelehrt; vgl. Schmid, Pädagog. Encykl.2 Bd. 2, 856—857. 4) Ich stimme also nicht überein mit dem sehr interessanten Aufsatze von M e l tz e r in der Zeitschrift für den RU Bd. 15, Heft 3: „Die Behandlung des Pietis­ mus, Methodismus und Quäkertums in höheren Schulen." d**

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höheren Schulen sich finden oder wenigstens finden sollten, ist schon oben bemerkt worden; wie sie auf den verschiedenen Stufen zur Geltung kommen, habe ich oben im allgemeinen gezeigt, und wird für die einzelnen Klassen im Lehrplan festgesetzt. 3. Der Lehrplan für den Religionsunterricht in Preußen von 1816—1901l)* a. Als Ostern 1789 in Preußen zum ersten Mal ein Abiturienten-Examen ab­ gehalten wurde, da war noch über das Maß der in den einzelnen Gegenständen zu fordernden Kenntnisse nichts festgesetzt. Ms im Jahre 1812 eine „Instruktion für die Entlassungsprüfungen" gegeben wurde, durch welche bestimmt wurde, was in den einzelnen Gegenständen von dem Abiturienten zu fordern sei, da wurde eine Prüfung in der Religion nicht angeordnet, weil die Prüfung ein Urteil über die wissenschaftliche Reife oder Unreife ergeben solle, und bei einer Berücksichtigung der Religionskenntnisse, die unterschieden seien von denen der weltlichen Wissenschaften, sich Schwierigkeiten für die Fällung jenes Urteils ergeben könnten; von ihnen könne aber das Urteil über die w i s s e n s ch a f t l i ch e Reife nicht abhängig sein; immerhin sei es gut, daß bei der Prüfung auch nach den Religionskenntnissen gefragt werde. Dagegen ist im Jahre 1834 eine Prüfung der Abiturienten auch in der Religion eingeführt und seitdem aufrechterhalten worden — mit Recht: ein gebildeter Mensch soll auch in der Religion ein seinem sonstigen Wissen entsprechendes Wissen besitzen, ganz abgesehen von dem Werte, welchen ein solches Wissen auch für die Frömmigkeit und Sittlichkeit des Menschen besitzt2). b. Dafür nun zu sorgen, daß ihre Abiturienten auch in der Religion ein ihrer sonstigen Bildung entsprechendes Wissen sich aneignen, ist also eine Aufgabe der x) Bergl. Rath, Lehrpläne und Prüfungsordnungen im höheren Schul­ wesen Preußens. Progr. des K. Luisenghmnasiums zu Berlin, 1900, Nr. 62. 2) Die Forderung für die Reifeprüfung in der Religion lautete aber in den auf einander folgenden Prüfungsordnungen so: 1834. Nachweis einer deutlichen und wohlbegründeten Kenntnis der christlichen Glaubens- und Sittenlehre, verbunden mit einer allgemeinen Übersicht der Geschichte der christlichen Religion. 1856. Sichere Kenntnis vom Inhalt und Zusammenhang der h. Schrift, sowie von den Grundtehren der kirchlichen Konfession, welcher die Abiturienten angehören. 1882. Genügende Kenntnis von dem Inhalt und dem Zusammenhang der h. Schrift, von den Grundlehren der kirchlichen Konfession, welcher der Schüler an­ gehört, und von den Hauptepochen der Kirchengeschichte. 1892 -- 1882. 1901. Den Gegenstand der Prüfung in der Religionslehre haben im wesent­ lichen diejenigen Gebiete zu bilden, welche in der Prima eingehender behandelt worden sind. — Das sind aber vornehmlich die Kirchengeschichte und die Glaubenslehre; da die letztere sich an die h. Schrift anschließt, so wird auch die Kenntnis „des Inhalts und Zusammenhangs der h. Schrift" (1856—1892) zu fordern sein. In der Religion wird bei der Reifeprüfung in den verschiedenen deutschen Staaten (und in Österreich) entweder garnicht geprüft, oder nur schriftlich {in Bayern) oder nurmündlich (wie in Preußen seit 1834). Die Forderungen für die Prüfung in der Religion sind in allen Prüfungsordnungen für die evangelische Religion wesentlich dieselben: Inhalt und Zusammenhang der h. Schrift, Kirchen­ geschichte, Glaubens- und Sittenlehre. Mit dieser Forderung stimmt wohl auch überein die Anordnung der neuen Prüfungsordnung für Preußen (1901), daß die Prüfung in der Religion sich im wesentlichen auf die Lehraufgaben der Prima zu beschränken habe.

II. Lehrstoff und Lehrplan für den Religionsunterricht re.

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höherer Schulen, und diese Aufgabe, welche ja die höhere Schule sich seit ihrer Stiftung schon selb ft gestellt hatte, ist derselben in Preußen schon vor dem Jahre 1834 auch vom Staate gestellt worden. Schon der im Jahre 1816 erschienene Lehrplan für die Gymnasien (wenn derselbe auch nicht als maßgebend, sondern nur als vorbildlich angesehen sein wollte) bezeichnete nämlich den Religionsunterricht als eine notwendige Ergänzung der übrigen FächerT); aber der Lehrplan warnte vor zwei Abwegen: dieser Unterricht dürfe erstens nicht zu einem allgemein- reli­ giösen Unterricht werden, sondern er müsse ein christlich- religiöser Unterricht sein, mb zweitens dürfe er nicht theologisch oder doktrinär sein. Beide Anforderungen waren damals fehr nötig, und sie sind mehr und mehr — das darf man wohl sagen — befolgt worden. Gn allgemein -religiöser Unterricht wird wohl heute nirgends mehr ge­ geben, sondern überall ein ch r i st l i ch - religiöser Unterricht, ja — und das geschieht mit Recht — ein evangelischer Religionsunterricht, der zwar das katholische Christentum nicht schmäht, sondern begreifen lehrt, aber doch auch dem evange­ lischen Christentum die ihm gebührende Stellung zuweist. Tie zweite Mahnung, daß der Unterricht nicht theologisch oder doktrinär sein solle, wird wohl immer nötig sein, und sie kehrte mit Recht auch im Lehrplan von 1882 (S. 17) wieder. Es ist gar zu natürlich, daß der angehende Religionslehrer Theologie vorbringt, und er wird es — trotz aller Bücher — nicht auf einmal lernen, daß er R e l ig i o n zu lehren habe, nicht Theologie. e. Der erste offizielle Lehrplan für die höheren'Schulen Preußens erschien im Jahre 1837; der Religion wurden in jeder Klasse je 2 Stunden zugewiesen; der im Jahre 1856 modificierte Lehrplan erhöhte die Stundenzahl für den Religions­ unterricht in Sexta und in Quinta auf je 3 Stunden. Ein im Jahre 1867 publicierter „spezieller Lehrpla n", der aber (ebenso wie der Lehrplan vom Jahre 1816) nur als ein vom Ministerium gebilligtes Beispiel, nicht als ein allgemein verpflichtender Normallehrplan gelten sollte, gab zum ersten Male eine genauere Anweisung für den Unterricht in den ein­ zelnen Klassen, während im Jahre 1816 nur Anweisungen für die stets mehrere Klassen umfassenden Stufen des Gymnasiums gegeben worden waren. Eine Feststellung der Lehrpläne (und der Ordnung für die Ent­ lassungsprüfung) für sämtliche höhere Schulen Preußens ist zum ersten Mal im Jahre 1882 erfolgt. Diese Lehrpläne (und Prüfungsordnungen) wurden in den Jahren 1892 und 1901 neu gestaltet, und im Jahre 1892 wurde nun, was in den Jahren 1867 und 1882 noch nicht geschehen war, einLehrplanfürjede einzelne Klasse als im ganzen bindend aufgestellt. Schon bei der Neuordnung von 1882 verlor aber der Religionsunterricht 1 Stunde in Quinta2), so daß jetzt nur noch in Sexta 3 Stunden für diesen Gegenstand an­ gesetzt sind, in allen andern Klassen nur 2 Stunden; es wäre zu wünschen, daß die Quinta die dritte Stunde zurückerhielte — zunächst aus d e m Grunde, damit die untere Stufe der höheren Schule der Volksschule in ihren Leistungen näher bleibe, sodann zu d e m Zwecke, damit für die Einprägung x) Demselben wurden in jeder Klasse 2 Stunden zugewiesen. 2) Im Jahre 1856 war, wie oben bemerkt, die Stundenzahl in Sexta und Quinta von 2 auf 3 er­ höht worden; der sächsische Lehrplan vom I. 1891 setzt ebenfalls für Sexta und Quinta je 3 Religionsstunden an.

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des unentbehrlichen Gedächtnisstoffes mehr Zeit bleibe, da derselbe doch am besten in den u n t e r e n Klassen angeeignet wird, und endlich auch deshalb, weil in nicht wenigen Anstalten Sexta und Quinta in der Religion kombiniert sind, und eine Kombination bei verschiedener Stundenzahl für den Unterricht Schwierigkeiten ergibt, die kaum ganz überwunden werden können. d. Für jede einzelne Klasse ist nun seit dem Jahre 1892 die Lehraufgabe im ganzen vorgeschrieben; für die beiden Primen ist aber im Jahre 1901 die Verteilung des Lehrstoffes auf die beiden einzelnen Jahre wieder dem Ermessen der einzelnen Anstalten anheimgegeben worden. e. Durch die im Jahre 1892 erfolgte Teilung der höheren Schule in drei Stufen von je drei Jahren ist auch der Lehrplan für den Religionsunterricht berührt worden, aber nicht so stark, wie z. B. der Geschichtsunterricht. Bei der Religion gehört doch eigentlich — nach dem Lehrplan — die Untersekunda auch noch heute zu der Oberstufe, und es ist auch gut, daß der sachliche Abschluß des Unterrichts für die Mittel­ stufe (die Kirchengeschichte) der Obertertia zugewiesen ist, da sonst, wenn die Sekunden kombiniert sind, mancher aus der Untersekunda abgehende Schüler von der Kirchen­ geschichte auf der Schule gar nichts gehört hätte. Die Quarta gehört — nach meinem Vorschlage *) — teils zur Unterstufe (Sommerhalbjahr), teils zur Mittel­ stufe (Winterhalbjahr).

B. Der Unterricht in der Heiligen Geschichte.

1. Biblische Geschichte. Daß die biblische Geschichte erst später als der Katechismus, aber früher als die Kirchengeschichte, als eine Unterrichtsaufgabe für die Schule erkannt worden ist, ist oben dargelegt worden. Welches ist die Aufgabe dieses Unterrichts, und wie ist derselbe zu erteilen? a. Die Aufgabe des Unterrichts in der biblischen Geschichte. aa. Wenn man den Inhalt der biblischen Geschichte überblickt, so gliedert sich derselbe in drei Hauptteile: die ATliche Geschichte, die Geschichte Jesu, die Geschichte der Apostel. Sind diese drei Teile sämtlich in der Schule zu behandeln? bb. Daß die Geschichte Jesu und die Geschichte der Apostel in der Schule zu behandeln seien, wird von niemand geleugnet. Aber ist auch die ATliche Geschichte in der Schule zu behandeln? ot. Das galt früher als selbstverständlich, heute nicht, namentlich seit dem Er­ scheinen des Buches von Katz er: Das Judenchristentum in der religiösen Volks­ erziehung des deutschen Protestantismus (1893). Wenn derselbe das Alte Testament aus dem Religionsunterrichte der Schule als unnötig und schädlich ganz verbannen will, so kann ich mich dieser Meinung nicht anschließen8). Das Me Testament könnte doch für das Christenkind nur dann schädlich sein, wenn man verlangte, daß das Kind diese niedere Stufe der Frömmigkeit nicht bloß kennen lerne, sondern sich auch in sie einlebe. Das soll aber nicht geschehen8), sondern das Alte Testament wird dem Kinde vorgeführt vom Standpunkte des Christentums aus; die Mängel der ATlichen Frömmigkeit werden auch dem Kinde nicht verschwiegen, *) Vgl. meinen Lehrplan für Quarta! die Herbartsche Kulturstufen-Theorie!

*) Vgl. unten Nr. 5.

8) G e g e n

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allerdings in einer Weise, die ihm das A. T. nicht verleidet, aber doch das Christentum als die höhere Religion erscheinen läßt. Aber nicht nur nicht schädlich für das Christentum ist der Unterricht im A. T., sondern vielmehr nützlich. Das Christentum kann zwar auch demjenigen verständlich gemacht werden, der das Judentum nicht kennt, wie das ja bei der Mssion in der alten Zeit der Fall war und auch heute der Fall sein kann; aber ein t i e f e r e s und gründlicheres Verständnis der Predigt Jesu gewinnt doch nur derjenige, der das A. T. kennt; ebenso wie nur derjenige Luthers Predigt völlig versteht, der die Lehre der katholischen Kirche kennt, so gehört auch zum rechten Verständnis der Predigt Jesu die Kenntnis des A. T. Wer aber die katholische Lehre kennt, der wird auch Luther mehr würdigen als derjenige, welcher jene nicht kennt; ebenso wird derjenige das Christentum besser würdigen, welcher das A. T. kennt. So bin ich denn der Meinung, daß das A. T. aus der Schule nicht hinaus­ zuweisen ist. ß. Auch damit bin ich ni ch t einverstanden, daß das A. T. zwar nicht ganz aus dem Unterricht hinausgewiesen, aber nur zur Erläuterung der NTlichen Geschichten und Lehren herangezogen, also ein zusammenhängender Unterricht über das A. T. in der Schule nicht mehr erteilt werde1). Das halte ich auch für kaum aus­ führbar: dann soll eine nicht verständliche Geschichte durch eine andere, die für den Schüler ganz in der Luft schwebt, erllärt werden! 7. Dagegen ist es richtig, daß der Religionsunterricht weder mit dem A. T. beginnen muß (das Kind hört wohl eher von Jesus, als von ATlichen Personen), daß das A. T. nicht seinem Umfange entsprechend 2) im Unterrichte behandelt werden darf, daß der Unterricht im A. T. vom ch r i st l i ch e n Standpunkt aus erteilt werden muß, so daß z. B. nicht etwa die Rachepsalmen gerechtfertigt werden. Nach meiner Meinung muß also das Alte Testament der Schule erhalten bleiben. cc. Wenn nun das Christentum besser gewürdigt wird, wenn man ihm das Judentum gegenüberstellt — wird nicht dann auch das Judentum besser gewürdigt werden, wenn man ihm das Heidentum und etwa auch den Materialismus gegenüber­ stellt? Das wird unzweifelhaft der Fall sein. Dann wäre es also wünschenswert, der Betrachtung des Judentums eine Betrachtung des Heidentums und des Materialis­ mus voranzuschicken. Das ist in der Tat eine richtige Forderung; aber ich würde diese Forderung nicht s 0 erfüllen, daß ich eine solche Betrachtung schon der unteren Stufe darbiete, sondern erst bet oberen, also nicht, wie die Herbartianer fordern, mit einer „Märchenstufe" und einer „Robinsonstufe" den ganzen Religionsunterricht b'eginnen, sondern erst auf der 0b eren Stufe durch eine solche ergänzen. Für die Unterstufe scheint mir ein so weites Zurückgehen nicht nötig und nicht fruchtbar genug zu sein; davon wird wohl erst die Oberstufe einen rechten Nutzen haben. So mag denn auf der Unterstufe der Religionsunterricht nicht über das A. T. zurückgehen, sondern wenn er auch mit der Person Jesu beginnt, doch auch den Personen des A l t e n Testaments sich zuwenden. dd. So hat es denn der Unterricht in der biblischen Geschichte in der Schule — von der Dorfschule bis zum Gymnasium — zu tun mit dem Men Testament, mit dem *) So Schwartz in der Zeitschr. für den Rel.-Unterricht 9, 249 s. A. T. (ohne Apokryphen) hat 929, das N. T. nur 260 Kapitel.

*) Das

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Leben und Wirken Jesu und mit der Wirksamkeit der Apostel — also mit der ganzen biblischen Geschichte. b1). Der Gang des Unterrichts im Religionsunterricht: die kulturhistorischen Stufen und die konzentrischen Kreise. aa. Der preußische Lehrplan für den Religionsunterricht in den höheren Schulen beruht auf der Annahme, daß es n i ch t wünschenswert sei, daß jeder Gegen­ stand in den neun Schuljahren nur einmal durchgenommen wird, sondern die höhere Schule zerfällt in drei Stufen, und auf jeder dieser drei Stufen wird ein ge­ wisser Abschluß des Unterrichts erreicht, so daß also auch derjenige Schüler, welcher die Schule nicht ganz durchmacht, für seine Bildung einen gewissen Abschluß erreicht. Hiernach wird nun auch der biblische Lehrstoff dem Schüler dreimal dargeboten, und ich bin mit dieser Weise des Unterrichts ganz einverstanden. bb. Dieser Gang des Unterrichts widerspricht nun allerdings der Forderung der Herbartschen Pädagogik, welche in der Volksschule wie auch in der höheren Schule nur einen einmaligen Gang durch den Unterrichtsstoff zuläßt, also in Sexta mit dem Alten Testament anfängt und in Prima, wie in der ersten Klasse der Volksschule, mit der Darstellung der Geschichte und des Glaubens der evangelischen Kirche endigt. Zur Abweichung von dem Herbartschen Lehrplan veranlassen mich — abgesehen von dem äußeren Zwange des amtlichen Lehrplans — folgende Erwägungen. a. Es liegt im Interesse sowohl der Kirche als auch des Schülers, daß kein Schüler, auch derjenige, welcher die erste Klasse nicht erreicht, die Schule verläßt, ohne einen seiner sonstigen Bildung entsprechenden Unterricht über alle Gebiete des Religions­ unterrichts erhalten zu haben, da er sonst nicht mit Verständnis und Interesse am kirchlichen Leben teilnehmen kann. ß. Der Unterschied zwischen dem neunjährigen Sextaner und dem achtzehn­ jährigen Primaner ist viel zu groß, als daß es möglich wäre, diejenigen Unterrichts­ stoffe, welche der Unterstufe, ja auch der Mittelstufe dargeboten werden, diesen Schülern in einer diesen Stoffen gerecht werdenden Weise so darzubieten, daß diese Stoffe wirklich recht gewürdigt werden. Die Propheten sind kein Lehrstoff für die Quinta, die Reden Jesu werden auch in den Mittelklassen noch nicht genügend verstanden. Ein solcher Lehrgang paßt nur für Schüler, bei denen die Altersdifferenz nicht mehr so sehr ins Gewicht fällt, für Seminaristen und Studenten. 7. Wenn den oberen Klassen die Kirchengeschichte in so umfassender Weise dar­ geboten wird, wie das bei diesem Lehrplan geschehen kann unb soll, also Luther der Untersekunda ein ganzes Jahr lang, so ist nach meiner Meinung auch der Untersekun­ daner für eine derartige Betrachtung Luthers noch nicht reif genug. 8. Wenn aber in der Herbartschen Schule eine kulturhistorische Anordnung der Unterrichtsstoffe gefordert und darum eine einmalige Wanderung durch das ganze Unterrichtsgebiet vorgezogen wird, so beruht diese Forderung auf folgender Erwägung. Es ist die Aufgabe der Erziehung, dem Zögling den Ertrag der geistigen Ent­ wickelung des Menschengeschlechts in einem verkürzten Gange zu vermitteln. Die Angemessenheit eines solchen Lehrgangs ergibt sich daraus, daß das Gewordene *) Dieser Abschnitt (b), schon in Band I dargeboten, ist um seiner Bedeutung willen auch h i e ^aufgenommen worden.

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nur aus dem Vorhergehenden zu erklären ist, und daß der einzelne Mensch im ganzen und großen dieselbe Entwickelung durchmacht, wie die Menschheit. Eine Entwickelung hat die Menschheit auch in der Religion durchgemacht; wenn also der Christ seine Religion verstehen und würdigen will, so muß er zurückschreiten zum Judentum und zum Heidentum, und der einzelne Christ macht ja noch heute eine Entwickelung durch: er i st nicht sofort ein Christ, sondern er w i r d ein Christ. So ist es denn naturgemäß, daß das Kind durch die verschiedenen Stufen der Religion hindurchgeführt wird, um schließlich beim evangelischen Christentum anzulangen. Dieser Erwägung wird wohl niemand seine Zustimmung versagen, aber nicht jeder, und auch i ch nicht, kann dem zustimmen, was die Herbartsche Schule weiter sagt, nämlich daß das Kind diesen Entwickelungsgang der Menschheit nicht bloß kennenlernt, sondern auch durchmacht, nicht bloß in seinem Wissen, sondern auch in seinem Leben. Was ist von dieser Behauptung zu halten? x) e. Ich will am Ende des Unterrichts anfangen. Hier stimmt diese Behauptung mit der Wirklichkeit überein, oder sie s o l l wenigstens mit ihr übereinstimmen. Wenn der evangelische Lehrer den Schülern Luthers Person und die evangelische Kirche vorführt, so wird er das in d e m Sinne tun, den Schüler zu einem Jünger Luthers und zu einem evangelischen Christen zu machen, selbst wenn er ihn auf die Schranken hinweist, welche Luthers Christentum aufweist. Aber wenn nun dem evangelischen Schüler die Kirchengeschichte vor Luther dargestellt wird, so wird doch wohl jeder evangelische Lehrer auch in der Schule das tun, was H a r n a ck zunächst von der Wissenschaft sagt2): „Neuere deutsche Geschichte vom preußischen Standpunkt zu schreiben, das ist die wahre Geschichte Deutschlands, Kirchengeschichte vom Standpunkt der Reformation zu schreiben, das ist die wahre Kirchengeschichte." Oder soll etwa der evangelische Schüler nach Janssen und anderen katholischen Kirchenhistorikern unterrichtet werden? Der Schüler lernt die katholische Kirche kennen, aber — wie wir es wünschen müssen — vom evangelischen Standpunkte aus, und ich würde meine Söhne nicht dazu hergegeben haben, im Religionsunterricht von einem katho­ lischen Lehrer, und wenn es Hergenröther oder Hefele gewesen wären, unterrichten zu lassen. Der evangelische Schüler lernt die katholische Kirche kennen, aber sich in ihre Frömmigkeit e i n l e b e n — das soll er nicht. Ich habe in einer katholischen Dorfschule einmal einen evangelischen Schüler gefunden, der das Avemaria gut beten konnte, das Vaterunser nicht — der war vielleicht nahe daran, sich in die katholische Frömmigkeit einzuleben; das wäre für evangelische Kinder eine sehr bedenkliche Sache. Und was von der katholischen'Kirche gilt, das gilt auch vom Judentum und vom Heidentum; der evangelische Schüler lernt beide kennen, aber sich in die ihnen eigentümlichen, vom Christentum abweichenden Gedanken einleben — das soll er nicht; er lernt beide kennen vom christlichen Standpunkte aus. Daß er dämm sagt: „Tut nichts, der Jude wird verbrannt" — diese Gefahr gegenüber dem Nichtchristen oder auch gegenüber dem Katholiken ist nur dann zu fürchten, wenn der Unter­ richt in einem Sinne erteilt wird, der von Jesus nicht gebilligt wird, denn Jesus *) Vgl.: Schwartz, Die kulturhistorischen Stufen und der evang. Religions­ unterricht. Religionszeitschr. 9, 264—300. Rüde, Methodik des Bolksschulunterrichts I, 30s. 2) Legenden als Geschichtsquellen.

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hat bekanntlich bei einer solchen Gelegenheit gesagt: „Wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid?" cc. Es ist also nach meiner Meinung an der Herbartschen Unterrichtsweise nur das richtig, daß das Kind die Entwickelung der Religion kennen lernt, aber nicht das, daß es diese Entwickelung auch selber durchlebt. Wenn das aber nicht der Fall ist und auch nicht der Fall sein soll, dann steht auch nichts mehr im Wege, den Unterrichtsstoff statt einmal lieber zweimal (in der Volksschule) oder dreimal (in der höheren Schule) zu durchwandern. Und für diese mehrfache Wanderung halte ich allerdings den kulturhistorischen Unterrichtsgang i m g a n z e n fest. a. Es muß auf jeder Stufe der Unterricht enden mit der Besprechung der evangelischen Kirche. Wenn der abgehende Quartaner von der katho­ lischen Kirche nichts oder jedenfalls nicht viel gehört hat, so ist das ein Übelstand, der sein evangelisches Glaubensleben nicht ernstlich gefährdet, wenn er über die evan­ gelische Kirche — wie ich annehme — eine für ihn ausreichende Belehrung emp­ fangen hat. ß. Daß der Schüler das Me Testament garnicht kennen lernt, halte ich für eine unangemessene Forderung: ohne jede Kenntnis des Alten Test, ist das Neue Test, nicht genügend zu verstehen. Auch damit stimme ich n i ch t übereinx), daß das Alte Testament zwar heran­ gezogen wird zur Erläuterung des Neuen Testaments, aber eine selbständige Behandlung des Alten Test, in der Schule nicht mehr stattfindet, sondern eine solche nur dem Neuen Testamente, oder eigentlich nur dem Leben Jesu zu teil wird. Dann wäre eigentlich auch eine selbständige Behandlung Luthers auszuschließen. Gegenüber dieser Einseitigkeit verweise ich auf die Bemerkung von Schräder: „Die Geschichte der Kirche setzt sich [für den Schülers um in die lebendige Darstellung des fortwirkenden Heils [in Christus); aus der äußeren Geschichte wird eine innere, welche der Schüler an sich mit erlebt" 2), d. h.: der Schüler wird durch die Betrachtung Luthers zu Christus geführt. Dasselbe gilt für die Geschichte des Alten Testaments; auch s i e führt zu Christus. 7. Es ist darum nicht nötig, ja, nicht einmal wünschenswert, daß der Schüler nur von Christus hört -- das könnte leicht der Sache schaden; nicht in jeder Klasse, sondern nur auf jeder S t u f e des Unterrichts ist das Leben Jesu zu behandeln. 8. Daß der Schüler noch über das Judentum zurückgeführt wird, ist für die U n t e r st u f e wohl nicht zu empfehlen; etwas Ähnliches, wie die „Märchenstufe" und die „Robinsonstufe", welche die Herbartianer für den Anfänger fordern, würde i ch für die 0 b e r e n Klassen dem Judentum voranschicken, indem der Schüler über das Heidentum („Märchenstufe") und über das Leben des Menschen abgesehen von der Religion („Robinsonstufe"), ja auch über den Materialismus (Robinson ist aber kein Materialist, sondern ein Realist) belehrt wird. Für die ersten Schuljahre (zwei oder drei in der Volksschule, drei in der höheren Schule) würde ich mich dem anschließen, was der Berliner Lehrplan für die Gemeindeschulen sagt: „Die Unterstufe soll eine Anzahl biblischer Geschichten [sowohl aus dem Alten als auch' aus dem Neuen Testa­ ments dem kindlichen Verständnisse nahebringen; ein zusammenhängender Unterricht in der biblischen Geschichte wird in diesen Klassen noch nicht erteilt." Gegen Schwartz, Religionszeitschr. 9, 294 s.

2) Pädagogik § 100.

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dd. So stimme ich also nicht überein mit dem Lehrgänge für den Religions­ unterricht, den Rein für die höheren Schulen vorgeschlagen hatJ), nach welchem die Pensa sich in folgender Weise verteilen: VI und V: Altes Testament, IV und IIIB: Neues Testament, IIIA—IA: Kirchengeschichte, wobei sich die anderen Lehraufgaben des Religionsunterrichts an das Geschichtspensum anschließen; dabei kommt weder das A. T. zum Recht (die Pro­ pheten sind kein Lehrstoff für die Quinta), noch das N. T. (die Reden Jesu können auch in Untertertia noch nicht gebührend gewürdigt werden); sogar für die Kirchen­ geschichte stimme ich mit diesem Lehrplan nicht überein (Luther ein ganzes Jahr in der Untersekunda zu behandeln, dazu ist auch der Untersekundaner noch nicht reif genug). 66. So bleibe ich denn — wie ich meine, aus zureichenden Gründen — bei dem vom preußischen Lehrplan geforderten Gange des Religionsunterrichts, der in drei Stufen, also inkonzentrischenKreisen,den Schüler in der Religion unter­ richten läßt2). Daß ein Unterricht nach dem Prinzip der konzentrischen Kreise wirklich so schlecht sein muß, wie die Herbartsche Schule behauptet, glaube ich nicht. a. Es wird ja nicht gefordert, daß in jeder K l a s s e das ganze Gebiet des betr. Gegenstandes durchgenommen wird — das wäre in der Tat lästig und langweilig — sondern nur auf jeder S t u f e; es kommt danach jeder Gegenstand (von der Vorstufe abgesehen) in der Volksschule zweimal vor, in der höheren Schule dreimal, aber nicht unmittelbar hinter einander, sondern nach einem längeren Zwischenraum. ß. Daß der Schüler der späteren Stufe auch noch alles weiß, was er früher über den Gegenstand gehört hat, ist doch nicht anzunehmen; schon eine bloße Wieder­ holung würde durchaus nichts schaden; aber die Wiederholung wird doch auch mit einer Erweiterung des Stoffes und einer V e r t i e f u n g der Darstellung und der Auffassung verbunden sein; Luther wird doch auf der Unterstufe anders behandelt werden, als auf der Mittelstufe und auf der Oberstufe. Y- Daß der Lehrer bei diesem Verfahren dem Schüler ungeeignete Stoffe dar­ bieten müsse — davon glaube i ch das Gegenteil; das ist gerade bei dem fortschreitenden Verfahren der Herbartschen Schule der Fall; der Herbartianer muß die Propheten der Quinta, die Reden Jesu der Untertertia, Luther der Untersekunda zuweisen — nicht weil das für diese Gegenstände die angemessenen Klassen sind, sondern weil sie sonst — bei dem einmaligen Gange des Unterrichts — nicht zur Darstellung kommen; dagegen gestattet der Unterricht nach konzentrischen Kreisen, jeden Lehrstoff erst oder nochmals an d e r Stelle darzubieten, wo der Schüler dafür am meisten empfänglich ist. 8. Namentlich aber geht dann kaum ein Schüler von der Schule ab, der nicht im Unterricht (in der Religion, in der Geschichte, im Deutschen) auch zur G e g e n wart geführt worden ist; R u d e3) sagt mit Recht: „Man sollte diesen Mangel des fortschreitenden Verfahrens nicht so leicht nehmen, wie es auf Herbartischer Seite zuweilen geschieht." So bleibe ich denn bei den konzentrischen Kreisen — nicht bloß, weil der preußische *) Pädagogische Warte Bd. 10, Heft 13. a) Mit diesem Lehrplan stimmt grundsätzlich auch überein z. B. Reukauf (Jahrb. für wiss. Päd. 33, 303s), der für die mehrklassige Volksschule einen zweifachen Kursus empfiehlt; dann er­ gibt sich für die höheren Schulen ein dreifacher Kursus, wie er dem preu­ ßischen Lehrplan zu Grunde liegt. 8) Methodik des Bolksschulunterrichts I, 136.

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Lehrplan diese Weise des Unterrichts voraussetzt, sondern auch darum, weil ich dieselbe dem „fortschreitenden Unterricht" der Herbartschen Schule vorziehe. c. Der Gang des Unterrichts in der biblischen Geschichte. aa. Daß dem zusammenhängenden Unterricht in der biblischen Ge­ schichte, wie in der Religion überhaupt, einvorbereitenderKursus voran­ zuschicken ist (in der Volksschule 2 oder 3 Jahre, in der höheren Schule 3 Jahre um­ fassend), darüber sind wohl alle Pädagogen einig. Aber welches soll der Inhalt dieses Vorbereitungskursus sein? Daß die Herbartsche Schule als Inhalt desselben eine „Märchenstufe" und eine „Robinsonstufe" ansetzt, darauf ist schon oben*) hingewiesen worden, und ich habe gesagt, was ich über diesen Vorschlag denke. Die gewöhnliche Schule bleibt — nach meiner Meinung mit Recht — mit dem Lehrplan der Berliner Gemeindeschulen von 1903 bei der älteren Praxis: „Die Unterstufe [in Berlin die d r ei ersten Schuljahre, wie in den Vorschulen der höheren Schulen^ soll eine Anzahl biblischer Geschichten dem kindlichen Verständnisse nahebringen." Als solche werden daselbst für die unterste Klasse Geschichten von Joseph und Jesus, für die zweite Klasse von Abraham, Isaak, Jakob und Jesus, für die dritte Klasse von Moses, David und Petrus im einzelnen bezeichnet. Schon die Vorstufe hat es also mit allen drei Teilen der biblischen Ge­ schichte, mit der Geschichte des Alten Testaments, mit Jesus und mit den Aposteln zu tun. bb. Wie ist nun die biblische Geschichte in den folgenden Jahren (5 oder 6 in der Volksschule, 9 in der höheren Schule) zu behandeln? a. Auf derUnterstufe (Sexta, Quinta und — wie ich vorschlage a) — erstes Halbjahr der Quarta) ist zum ersten Mal das ganze Gebiet der biblischen Geschichte zu durchwandern, und zwar in der Weise, daß der Sexta die ATliche Geschichte, der Q u i n t a das Leben Jesu, der Q u a r t a (im Sommerhalbjahr) die Apostel­ geschichte (woran sich ein Leben Luthers und eine kurze Geschichte der evangelischen Kirche anschließt) zufällt 3). ß. Auf der Mittelstufe (Quarta im zweiten Halbjahr, Untertertia, Ober­ tertia) 4)*wird derQuarta (zweites Halbjahr) vom Alten Test, nur die G e s ch i ch t e zugewiesen, die Lehrbücher und die Prophetie bleiben der Untertertia vor­ behalten, welcher als zweite Aufgabe — als Hauptaufgabe — das Leben Jesu zugeteilt wird. Die Obertertia hat nun nur noch die Apostelgeschichte (an welche einige Abschnitte der Briefe angeschlossen werden) durchzunehmen, so daß nunmehr Zeit bleibt nicht bloß für die im Lehrplan geforderte Reformationsgeschichte, sondern für eine dem Standpunkt der Klasse entsprechende Kirchengeschichte *). Wenn dieser Vorschlag über die Lehraufgaben der Mittelstufe, der auch von anderer Seite gemacht worden ist6),* vom amtlichen Lehrplan in nicht erheblicher Weise abweicht, so hat das folgenden Grund. *) Vgl. b. *2) Nicht gegen den preußischen Lehrplan, und mit dem Lehrplan für den katholischen Religionsunterricht übereinstimmend. 8) Wie diese Aufgaben abzuführen sind, ist in meinem Lehrplan (1903) und in meiner Kirchengeschichte (Nr. II) genauer dargelegt. 4) Bei den Nichtvollanstalten kann die Untersekunda in diese Stufe einbezogen und dadurch die Stoffverteilung modi­ fiziert werden. *) Hierüber ist Genaueres in meiner Kirchengeschichte gesagt (Nr. II). 6) 3 ö 9 e r im Humanist. Gymnasium 1902, Heft 1. Vgl. meinen Lehrplan von 1903 (Progr. von Rakel, Nr. 191), S. 23, Anm. 1.

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Nach dem amtlichen Lehrplan sind der Quarta zugewiesen „Lesen und Er­ klärung von ATlichen und besonders von NMchen Abschnitten behufs erweiternder und vertiefender Wiederholung der in VI und V behandelten biblischen Geschichten", der Untertertia „das Reich Gottes im Alten Test.: Lesen und Erklärung von entsprechenden biblischen Abschnitten, darunter auch von Psalmen und leichteren Stellen aus den Propheten." Wenn hiernach in zwei Klassen hinter einander (in IV und in IIIB) ATliche Stoffe zu behandeln sind, so würde das leicht für den Schüler zu viel werden, und es wird dann auch dem A. T. zu viel Zeit gegönnt, die anderweitig gebraucht wird (für das N. T.). Es dürfte sich deshalb nach meiner Meinung empfehlen, die Behandlung der G e s ch i ch t e des A. T.s der Quarta (zweites Halbjahr) zuzuweisen, so daß in der Untertertia nur noch die poetischen und die prophetischen Bücher des A. T.s zu behandeln sind; damit ist der Übelstand beseitigt, daß in zwei Klassen hinter einander im ganzen dasselbe getrieben wird, und auch mehr Zeit für die a n d e r e n Aufgaben dieser Klassen (N. T. und KG) gewonnen *). Y- Auf bet 0 & e t ft u f e (IIB, IIA, IB und IA)2) wird nun zum butten Mal der ganze biblische Unterrichtsstoff dem Schüler dargeboten. Die in Untersekunda geforderte Lektüre biblischer Abschnitte und ATlicher und NTlicher Bücher ist ein guter Abschluß für den abgehenden Schüler und ein guter Anfang für das biblische Pensum der Obersekunda (Apostel­ geschichte und Briefe), womit der eigentliche Bibelunterricht in gewisser Weise ab­ geschlossen ist. Die übrige Zeit in Obersekunda für den Anfang der Kirchengeschichte zu verwenden, wie der Lehrplan vorschreibt, scheint mir weniger empfehlenswert; ich gehe in dieser Klasse lieber auf schwierigere Abschnitte und Bücher des A. T.s, namentlich auf das Buch Hiob und die messianische Weissagung ein, welche für das Verständnis des Christentums (also für die Glaubenslehre) von großer Bedeutung sind. Bibellektüre in P r i m a ist mit den beiden Hauptaufgaben dieser Klasse, Kirchen­ geschichte und Glaubenslehre, zu verbinden. Bei der Kirchengeschichte wird sich eine etwaige Bibellektüre (wenn dafür Zeit bleibt) am einfachsten an die Besprechung des Abschnittes über den Glauben anschließen, wo auch von den Bekenntnisschriften und der Bibel gesprochen wird. Für die Glaubenslehre berechnet ist die Lektüre der im Lehrplan genannten Schriften, namentlich des Evang. Joh. und des Römerbriefs (und anderer Briefe); auch 1 .Mose 1—3 und andere Bibelabschnitte werden hier gründlich zu besprechen und für die Glaubenslehre zu verwerten sein8). cc. Bei weitem nicht die ganze Bibel hat der Schüler der höheren Schule, auch wenn er die Schule durchgemacht hat, kennen gelernt, aber so viel hat er hoffent­ lich gelernt, daß der Lehrer dem abgehenden Abiturienten mit gutem Gewissen be­ scheinigen kann, „daß ervondemJnhaltund demZusammenhang der heiligen Schrift eine genügende Kenntnis erlangt hab e", wie schon die Ordnung der Reifeprüfung vom 1.1882 verlangte; hoffentlich x) Wie diese Aufgaben im einzelnen zu behandeln sind, ist in meinem Lehrplan (Pr'ogr. von Rakel, 1903) ausführlich dargelegt. 2) Die Untersekunda gehört sach­ lich zur Oberstufe, bildet aber trotzdem einen guten Abschluß für den abgehenden Schüler. Bei den Nichtvollanstalten kann die Berteilung der Lehrstoffe der IIIA und der II B modifiziert werden. a) Genaueres über den Bibel-Unterricht in den oberen Klassen findet der Lehrer unten (D) und in meinem Lehrplan (1903).

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ist es dem Lehrer gelungen, dem Schüler die Bibel als ein Buch darzustellen, welches es wohl wert ist, neben den von ihm geschätzten alten und neuen Klassikern zu stehen, und zwar als das klassische Buch der Religion, welches noch heute nicht veraltet ist und niemals veralten ttriifc1).

2. DaS Bibellesen in der Schule. a. Durch den Unterricht in der biblischen Geschichte lernt der Schüler zunächst den Hauptinhalt der Bibel kennen, aber noch nicht das Bib elbuch ; aber auch die Schule führt den Schüler zum Bibel buch. Das konnte in der alten Kirche und in der Kirche des Mittelalters kaum geschehen: vor der Erfindung der Buchdruckerkunst konnte die Bibel nicht ein Schul­ buch werden; aber die mittelalterliche Kirche wollte auch nicht, daß die Bibel in der Schule und im Hause gelesen werde, da diese Lektüre, wie die Erfahrung zeigte, den Kirchenglauben gefährdete. Noch heute steht die katholische Kirche dem Bibel­ lesen der Laien eher abwehrend als fördernd gegenüber. Luther war der Meinung, „vor allen Dingen solle in den hohen und niederen Schulen die fürnehmste und gemeinste Lection sein die heilige Schrift", und wenn zu seiner Zeit die Bibel um ihres hohen Preises willen noch nicht in der Hand jedes Schulkindes sein konnte, so konnte sein Wunsch in Erfüllung gehen, als durch die Hallische Bibelanstalt (1710) die Bibel so billig wurde, daß jedes Schulkind eine solche haben konnte. So war denn in den evangelischen Schulen das erste Lesebuch die Fibel, das zweite wurde neben dem Katechismus mehr und mehr die Bibel, und dieses zweite Lesebuch wurde nun ebenso durchgelesen, wie das erste, und im (evangelischen) Hause wurde ebenso die Bibel vom ersten bis zum letzten Kapitel durchgelesen *). Weder die Schule noch das Haus lesen heute in dieser Weise die Bibel; wie lernt das Kind und wie der Erwachsene die Bibel heute kennen? b. Heute lernt das Kind zuerst den I n h a l t der Bibel kennen, nicht das Buch. Schon ehe das Kind in die Schule geht, erzählt ihm die Mutter biblische Geschichten, und in der Schule tut das der Lehrer. Sobald aber der Schüler lesen kann, erhält er eine „b i b l i s ch e G e s ch i ch t e" — ein Buch, welches etwa seit dem Jahre 1714 (Hübners „biblische Historien") in der Schule gebraucht wird. Wenn nun der Schüler älter wird, dann erhält er entweder, wie das bisher der Fall war, alsbald die ganze Bibel, oder, wie das in der Neuzeit an vielen Orten ge­ schieht, ein „biblisches Lesebuch", da man heute der Meinung ist, daß die ganze Bibel für die Jugend zunächst noch nicht geeignet ist; erst der Konfirmand und der Schüler der oberen Stufe bekommen jetzt die Bibel selbst in die Hand. Ob das richtig ist, ist eine vielverhandelte Streitfrage8). Aber heute wird in keiner Schule die Bibel noch ganz durchgelesen, und es ist wohl auch besser, daß man den Psalter dreimal durch­ lieft, ehe man das Ceremonialgesetz einmal liest. Daß die in der Schule gewonnene Kenntnis der Bibel im späteren Leben er­ weitert und vertieft werde, ist sehr zu wünschen; wie das gemacht werden kann, dazu gibt z. B. Anleitung die den neueren Bibeln in der Regel beigegebene „Bibel-Lesetafel". M Wie der Bibel-Unterricht in methodischer Hinsicht zu erteilen ist, soll unten (C) genauer dargestellt werden. a) Die Bibel (ohne die Apokryphen) hat aber 929 + 260 — 1189 Kapitel; wer die Bibel in einem Jahre durchlesen wollte, müßte in jeder Woche etwa 23 Kapitel lesen. 8) Vgl. unten d.

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e. Was lernt nun der Schüler von der Bibel kennen? Bor allem lernt der Schüler die biblische Geschichte kennen, die ihm schon im Hause und später in der Schule immer aufs neue erzählt worden ist, und die er nun selbst in seiner „biblischen Geschichte", im „biblischen Lesebuch" und zuletzt auch in der Bibel nachliest. Dadurch lernt er, wie Gott, nachdem er vor Zeiten durch Moses und die Propheten zu den Israeliten geredet hat, zuletzt durch seinen Sohn Jesus Christus zu allen Menschen geredet hat, und wie die Apostel hingegangen sind in alle Welt, um alle Menschen zu Jüngern Jesu zu machen. Wie das Christentum ent­ standen ist, lernt der Schüler zunächst kennen. Aber die Bibel läßt uns auch erkennen — was der Katechismus dann zusammen­ faßt — das Wesen des Christentums. Zwar die Frömmigkeit und die Sittlichkeit des A l t e n Testaments ist noch nicht die des Christen, selbst die Psalmen lassen die Schranke dieser Frömmigkeit noch oft erkennen. Aber wenn nun der Schüler die Reden Jesu und die Schriften der Apostel liest, dann lernt er das Wesen des Christen­ tums aus der Bibel kennen, wenn auch zunächst nur in einzelnen Punkten und Be­ ziehungen; eine systematische Zusammenfassung desselben bietet nicht die Bibel, sondern der Katechismus und die Glaubens- und Sittenlehre. Aber auch noch einen Schritt weiter führt die Lektüre der Bibel, zum An­ fang der Kirchengeschichte in der „Apostelgeschichte", und zu einem Seiten st ück der Kirchenges chichte in der Prophetie, welche die Weiter­ entwickelung des Vorhandenen zwar nicht nach einzelnen Zügen, aber wohl das Ziel der Entwickelung des Gottesreiches verkündet. Es ist nun zu wünschen, daß jeder Schüler auch etwas von den Lehrbüchern und von den Prophetenschriften der Bibel kennen lernt. Die erstere Aufgabe ist leichter zu lösen, als die zweite; Sprüche Salomos, Psalmen und das Buch Hiob, die Reden Jesu und die Briefe der Apostel sind leichter zum Verständnis zu bringen, als die eigentliche prophetische Predigt; hier wird der Lehrer den Schüler, auch den der höheren Schule, nicht s o weit führen können, wie bei den Lehrbüchern. So wird also das Bibellesen in der Schule sich vornehmlich auf die Lehrabschnitte und die Lehrbücher, wie auf prophetische Abschnitte und prophetische Bücher er­ strecken; die geschichtlichen Tatsachen lernt der Schüler zunächst aus der „biblischen Geschichte" und aus dem „biblischen Lesebuch" kennen, wozu die Bibel selbst nur Ergänzungen bieten wird. d. Wenn nun heute der Schüler zunächst nicht die ganze Bibel in die Hand bekommt, sondern zunächst eine „biblische Geschichte" und dann vielleicht ein „bi­ blisches Lesebuch", erst zuletzt die ganze Bibel, so geschieht das aus folgenden Gründen. et. Der evangelische Christ bleibt bei der Meinung Luthers, daß nur aus der Bibel das wahre Christentum zu erkennen ist, nicht aus den Entscheidungen der Päpste und der Concilien, nicht aus der kirchlichen Überlieferung, nicht aus den Apokryphen des Alten oder des Neuen Testaments, sondern nur aus den kanonischen Büchern der Bibel. ß. Aber nicht alles, was in der Bibel steht, ist zu diesem Zwecke nötig, und namentlich nicht alles, was in der Bibel steht, für die Jugend geeignet. Es ist darum nicht unangemessen, daß dem Schüler nicht alsbald die g a n z e Bibel in die Hand gegeben wird; was dem Erwachsenen nichts schadet, kann dem Kinde schaden — und die Bibel soll doch nicht Schaden stiften! Schon die Juden haben für die Vorlesung der Bibel in der Synagoge manchen starken Ausdruck der Bibel

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gemildert*); es ist gewiß kein Unrecht, wenn auch wir manchen für unsere Zeit zu starken Ausdruck der Lutherbibel mildern. y. Aber für den Schüler ist es auch wünschenswert, daß manche Darstellungen der Bibel, welche in verschiedenen Formen neben einander stehen, behufs größerer Anschaulichkeit zusammengefaßt werden, wie das in den Wichen Ge­ schichtsbüchern zum Teil geschehen ist (durch die Zusammenfassung ursprünglich ge­ sonderter Berichte), nicht aber in denen des N. Ts. Die Leidensgeschichte wird auf den Schüler einen größeren Eindruck machen, wenn die Darstellungen der vier Evangelien zusammengefaßt werden, als wenn sie einzeln nach­ einander gelesen werden. Dasselbe gilt für die Geburtsgeschichte Jesu. Solche Zusammenstellungen bietet die „biblische Geschichte" und das „biblische Lese­ buch", und wenn man heute der Meinung ist, daß das Neue Testament und die Psalmen dem Schüler ganz und unverändert, nur-das Alte Testament in einer schulmäßigen Bearbeitung dargeboten werden solle, so werden doch diesem Bibellesebuch die oben angegebenen Zusammenfassungen (der Geburtsgeschichte und der Leidensgeschichte) mit Recht beigegeben. So wird denn die Schule den Schüler zur Bibel h i n f ü h r e n, aber nicht sofort zur Bibel selbst — und es kommt ja für den Schüler im ganzen nicht darauf an, den W o r t l a u t der Bibel kennen zu lernen, sondern den I n h a l t der Bibel*). e. Was wird also die Schule hinsichtlich des Bibellesens tun oder nicht tun? cc. Die Schule wird nicht darauf ausgehen, die 1189 Kapitel der Bibel (ohne die Apokryphen) in einem oder auch nur in mehreren Jahren ganz durch­ zulesen; lieber den Psalter und die Reden Jesu und anderes für die Jugend Geeignete dreimal, als alles einmal! Eine umfassendere Lektüre der Bibel — aber auch nicht eine fortlaufende3), sondern eine solche, wie etwa die Bibellesetafeln sie heute vorschlagen — könnte aber in der M o r g e n a n d a ch t der Schule vorge­ nommen werden. ß. Diesem Übelstande, daß der Schüler in der Schule nicht die ganze Bibel kennen lernt, soll nun nicht etwa dadurch abgeholfen werden, daß man Inhaltsa n g a b e n der nicht gelesenen Bücher auswendig lernen läßt. Das hat schon das Mittelalter getan, wo der um das I. 1200 verfaßten, etwa seit dem 1.1240 bis zum 16. Jahrhundert überall gebrauchten lateinischen Grammatik des Alexander von Villedieu (in der Normandie — Doctrinale puerorum)4) als Anhang beigegeben war eine Übersicht über den Inhalt der Hauptabschnitte der Bibel in 212 gereimten leoninischen Versen (die ganze Grammatik ist in dieser Form verfaßt)5). Auch noch neuere Schulbücher sind auf ein solches Unterrichtsverfahren eingerichtet — mit Unrecht; was der Schüler nicht selbst lesen kann, davon braucht er auch nichts zu wissen. y. Die Schule wird heute auch die Perikopen beim Unterricht nicht mehr lesen, da die Einheit des Unterrichts dadurch gestört wird, aber bei der Schlußandacht (am Sonnabend) benützen, und zwar diejenigen, über welche in dem betr. Jahre gepredigt wird. *) Durch das sogen. K>ri an manchen Stellen. 2) Die Verteilung des Bibel­ lesestoffes auf die einzelnen Klassen ist bei den Lehrplänen der einzelnen Klassen angegeben. 8) So liest man in der anglikmischen Kirche den Psalter jeden Monat ganz durch. 4) Vgl. Schmid, Encyklopädie* Bd. 4, S. 235—236 und S. 1083 bis 1084. 6) In 24 Versen wurde auch das Kirchenjahr mit seinen Festen einge­ prägt. — Unsere lateinische Grammatik enthält nur noch Genusregeln in Versen.

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8. Die Schule wird die Bibellektüre benutzen, um die Geschichtstatsachen, welche zunächst nicht aus der Bibel dargeboten worden sind, zuletzt auch aus der Bibel dar­ zubieten, und im Anschluß an die gelesenen Geschichten geeignete lyrische Stücke und Lehrabschnitte wie auch prophetische Abschnitte darbieten. e. Die Schule wird schließlich auch dazu fortschreiten — aber noch nicht auf der unteren Stufe — auch Lyrik (Psalmen), Didaktik (Hiob, Reden Jesu) und Prophetie dem Schüler auch ohne Anschluß an die Geschichte, als selbständige Gegenstände, darzubieten. C Die höhere Schule kann bei der Behandlung dieser Schriften (z. B. Hiob) auch eine neuere Übersetzung darbieten (indem der Lehrer z. B. Hiob 3 aus einer solchen vorliest), und sie kann — allerdings nur auf dem Gymnasium — den Schüler zum Grundtext des N. T.s, ja — aber nur im hebräischen Unterricht — den Schüler sogar zum Grundtext des A. T. führen.

3. Die Bibettunde. Wenn nun der Schüler zunächst den I n h a l t der Bibel, dann auch die Bibel s e l b st mehr oder weniger kennen gelernt hat, so hat er zwar eine gewisse KenntN i s der Bibel gewonnen, aber zu einer „B i b e l k u n d e" ist er doch nicht gelangt; die sogen. „Einleitung in die Bibel", wie sie der Religionslehrer kennt und kennen muß, bleibt der Schule fremd; für den Schüler kommen die Fragen der Einleitungswissen­ schaft nur insoweit in Betracht, als sie für das Verständnis und die Würdigung ge­ lesener biblischer Abschnitte (z. B. 1. Mose 1—3) und biblischer Bücher (z. B. Jes. 40 bis 66) für den Schüler von Bedeutung sind. Dagegen ist dem Schüler der mittleren und namentlich der oberen Klassen die Bibel als Ganzes vorzuführen. Der Schüler lernt die Reihenfolge der biblischen Bücher kennen, und dadurch gewinnt er einen Überblick über die Gliederung der Bibel. Er mag auch — weniger oder mehr — hören über die Entstehung und die Grundsprachen der Bibel, über die Überlieferung des Textes, über die Übersetzung und die Verbreitung, wie auch über die Bedeutung der Bibel. Es wäre schön, wenn hierbei auch Luthers „Sendbrief vom Dolmetschen" (und verwandte Abschnitte, namentlich aus Luthers Schriften) in der Schule gelesen werden könnten, wie sie in meinem Quellenbuch (II, Nr. 4—6) dargeboten werden. Auch die Festschrift der Brittischen Bibelgesellschaft für das Jahr 1904 dürste für den Schüler der oberen Klassen interessant und fruchtbar gemacht werden können *). Auf eine solche Bibelkunde, welche den Schüler die Bibel als Ganzes erkennen und würdigen läßt, wird sich die Schule beschränken.

€. Zur Methodik des Bibel-Unterricht-; die Herbarlscheu „Formal­ stufen". 1. Die biblische ««schichte. a. Daß, wie beiallern Unterricht, dem Schüler auch bei der Behandlung der biblischen Geschichte der Stoff zunächst nicht als Ganzes, sondern in angemessener l) The Gospel in many tongues. (Joh. 3, 16 in 403 Sprachen und Formen.) 20 Pfennig. — Vgl. meine Behandlung dieser Schrift in meiner Kirchengesch.1 bei der Darlegung der Bedeutung der Bibel (Nr. 71, D)!

Heidrich, Heilige Geschichte. 3. Ausl.

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Gliederung, also in einzelnen Teilen, vorgeführt werden muß — das versteht sich von selbst. Dafür sorgt nun die „biblische Geschichte", welche der Schüler in der Hand hat; dafür sorgt auf der höheren Stufe zwar nicht ausreichend die Kapitel-Einteilung der Bibel, aber wohl das Hilfsbuch des Schülers und das Handbuch des Lehrers'). Der angehende Lehrer mag sich hierbei zunächst an das eingeführte Lehrbuch an­ schließen; ob er die Sache besser machen kann, wird er erst allmählich erkennen. b. Wenn der Lehrer nun eine biblische Geschichte — eine kürzere in den unteren, eine längere in den oberen Klassen — behandeln will, so wird er bei diesem ge­ schichtlichen Unterricht — wie bei allem geschichtlichen Unterricht — sich in der Regel nicht darauf einlassen, den Inhalt der zu erzählenden Geschichte durch eine Unterredung mit den Schülern zu gewinnen *): ein g ut er derartiger Unterricht ist für den Lehrer sehr schwer, weit schwieriger als der gewöhnliche Unterricht; nament­ lich der Anfänger mag sich auf solche pädagogische Kunstleistungen nicht einlassen; er wird bei der gewöhnlichen Form des Unterrichts bleiben. c. Zunächst ist die Geschichte dem Schüler darzubieten. Das wird auf den unteren Stufen dadurch geschehen, daß der Lehrer selbst die Geschichte frei erzählt. Dabei wird er sich allerdings an das Bibelwort anschließen, aber nur im ganzen, nicht im einzelnen, denn es kommt ja darauf an, daß der Schüler die Geschichte v er­ st e h t; was dem Verständnis im Wege steht (unverständliche Ausdrücke imb Wen­ dungen) wird der Lehrer umgestalten. Auf den oberen Stufen wird die Darbietung sich dadurch vollziehen, daß der Schüler die Geschichte alsbald aus der Bibel vorliest; dann tritt die Bibel an des Lehrers Stelle. d. Mt der Darbietung verbindet sich die B e s p r e ch u n g des Dargebotenen, sei es alsbald der g a n z e n Geschichte oder zunächst der einzelnen Teile derselben. Eine Besprechung kann der Darbietung vorangehen, wenn es nötig ist, Fremdes, das die Geschichte bietet, vorzubereiten; sie wird sich an die Darbietung anschlie­ ßen, um Dunkles zu erklären und zu veranschaulichen; sie wird der Darbietung nachfolgen, indem sie den Kern des Dargebotenen einerseits für den Ver­ stand und andererseits für das Gefühl und den Willen zusammenfaßt: in einem Bibelspruch oder einem Katechismuswort oder einem Liedervers. e. Endlich ist die Geschichte zu wiederholen, wobei dem Schüler seine Aufgabe erleichtert wird durch die Erfassung der Gliederung der Geschichte. Die Wiederholung wird zunächst in der Klasse, alsbald nach der Darbietung und Be­ sprechung, erfolgen, zunächst in einzelnen Abschnitten, dann das Ganze zusammen­ fassend, entweder durch stete Wiedergabe des Schülers oder durch das Lesen der Geschichte aus dem Schülerbuche, bez. durch nochmaliges Lesen des Bibelabschnitts. Endlich wird die Wiederholung für die nächste Stunde aufgegeben, in den oberen Klassen auch erst nach mehreren Stunden, wenn ein größeres Pensum zusammenhängend (in mehreren Stunden) besprochen worden ist. Auch in den mittleren Klassen wird eine Wiederholung eines zunächst abschnittsweise erzählten und wiederholten Pensums eintreten; aber besonders in diesen Klassen muß der Lehrer Maß halten in seinen Forderungen: er soll nicht mehr aufgeben, als in e i n e r Stunde wieder­ holt werden kann. In den u n t e r e n Klassen kann eine solche Zusammenfassung *) Übet diese „Ziel-Aufstellung" vgl. Rüde, Methodik des Volksschulunter­ richts 1,38—39. s) Über diese Form des Unterrichts, den „darstellenden Unterricht", vgl. Rüde, Methodik I, 49-51.

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nurinderSchule erfolgen, etwa im Anschluß an die Überschriften der biblischen Geschichten; eine häusliche Aufgabe für den Schüler ist daraus n i ch t zu machen. Eine solche Wiederholung kann — aber nicht auf der unteren Stufe — auch schriftlich erfolgen, indem der Schüler ein ihm gestelltes (genügend vorbereitetes) Thema in der Klasse bearbeitet. Das ist eine Förderung des Schülers in der Darstellung, und auch für den Lehrer wertvoll: mancher langsame Kopf findet, wenn er eine ganze Stunde Zeit hat, auch einmal Gelegenheit, sein Licht leuchten zu lassen, und der Lehrer erkennt aus diesen Arbeiten gar oft, daß er seine Sache doch nicht so gut ge­ macht hat, wie er gedacht hat. f1). Aber wo bleiben die „Formalstufen" der Herbartschen Schule? Ich habe oben auf diesen Ausdruck verzichtet, weil gegen denselben ein nicht geringes Mißtrauen verbreitet ist, als stelle er Forderungen, die den Unterricht einförmig und langweilig machen; aber ich glaube, daß die oben dargelegte Weise des Unterrichts in der S a ch e der Forderung der Formalstufen gerecht wirda). Der Kern dieser Forderung ist doch der, daß der Lehrstoff dem Schüler d a r ge­ bot e n, mit ihm besprochen und von ihm wiederholt wird. Die Stufen der Vorbereitung, der Vergleichung, der Zusammenfassung und der Anwendung, wie sie in deutlicherer Sprache genannt werden können, fasse ich zusammen als Be­ sprechung, die zum Teil (wenn es nötig ist) der Darbietung vorangeht, zum Teil ihr n a ch s o l g t (und dann teils dem Verständnis dient, teils Gefühl und Willen anregt). Die Wiederholung des Dargebotenen durch den Schüler kann vor oder b e i oder nach der Besprechung erfolgen, aber jedenfalls wird die­ selbe in der nächsten Stunde, zu welcher die Wiederholung dem Schüler aufgegeben ist, nochmals erfolgen. Daß sich der Lehrer nach den Formalstufen auf den Unterricht vorbereitet, wird gewiß von Nutzen sein; daß der Unterricht oft oder meistens in ein­ facherer Weise verläuft, wird nichts schaden. g. Wenn bei diesem Unterricht der Schüler vor allem sein H i l f s b u ch in der Hand hat, so gibt es doch auch noch andereHilfsmittelfür diesen Unterricht, welche der Lehrer nicht verschmähen soll. Bei der Darbietung können auch Gedichte verwandt werden, wie sie der Lehrer in manchen Sammlungen findet. Der Schauplatz der Geschichte wird veranschaulicht durch die Wandkarte und den historischen Schulatlas des Schülers; der dargestellte Vorgang durch ein Bild, sei es ein Wandbild, groß genug, um von allen Schülern gut gesehen zu werden, oder ein Bild seines Hilfs­ buchs, oder ein Bild der Bilderbibel im Elternhause, über welches ein begabter Schüler berichtet. Aber nicht jede Schule besitzt solche Bilder, und die meisten Schülerbücher enthalten keine Bilder, oder dieselben sind zu Kein; auch ohne Bilder kann ein frucht­ barer Unterricht erteilt werden.

2. Die anderen -Mischen Stoffe. Außer den „biblischen Geschichten" soll aber der Schüler — aber noch nicht der der unteren Klassen — auch noch (in der Volksschule weniger, in der höheren Schule mehr) etwas von den anderen in der Bibel enthaltenen Stoffen kennen lernen: von der Prophetie, von der Lyrik und von der Didaktik. *) Um der Wichtigkeit der Sache willen ist dieser schon in Band I dargebotene Abschnitt auch hier aufgenommen. 3) Der Lehrer vergleiche die Darlegung von S ch i r m e r in der Religionszeitschr. 4, 195—198.

LXVm II. Lehrstoff und Lehrplan für den Religionsunterricht rc. a. Am nächsten liegt dem Schüler dieLyrik; Psalmen lernt der Schüler in einzelnen Abschnitten, allmählich auch ganze Psalmen, auch in der Volksschule kennen, und die Oberstufe der höheren Schule wird dem Schüler noch etwas mehr vom Psalter darbieten können. Luthers Vorrede zum Psalter wäre für diese Schüler eine an­ regende Lektüre. Vom Psalter kann auch die Besprechung alsbald zum Gesangbuch übergehen. b. Von der Didaktik ist das bedeutendste Buch im A. T. das B u ch H i o b, welches in seiner Bedeutung wohl auch schon auf der Mittelstufe einigermaßen erfaßt werden kann, aber vornehmlich in der Sekunda behandelt werden mag. Bon den didaktischen Abschnitten und Büchern des Neuen Test, sind die RedenJesu schon auf der Unterstufe (Quinta), genauer auf der Mittelstufe (in Untertertia), noch gründlicher in Sekunda (Reden der Synoptiker) und Prima (Evang. Joh.) zu be­ handeln. Die B r i e f e des N. T.s treten dem Schüler entgegen schon auf der Mittel­ stufe, namentlich aber auf der Oberstufe, zunächst in Verbindung mit der Apostel­ geschichte, dann aber auch in anderem Zusammenhange (namentlich mit der Glaubens- und Sittenlehre). c. Von der Prophetie wird der U n t e r st u f e kaum etwas, der M i t t e l stuf e einiges, derOberstufe mehr darzubieten sein. Einerseits wird diese Dar­ bietung sich an die biblische Geschichte anschließen: Jesaias, Jeremias, der zweite Jesaias fügen sich leicht in die biblische Geschichte ein, an die Apostelgeschichte lassen sich die Weissagungsreden Jesu und Abschnitte der Off. Joh. anschließen. Anderer­ seits wird aber die Prophetie sich auch an den Katechismus und an die Glaubens­ lehre anschließen; die messianische Weissagung ist nicht so unwichtig, wie sie manchem erscheint. Wie sich die Hoffnung der Kirche in den verschiedenen Zeitaltern der Kirche (im Anschluß an die Bibel) gestaltet hat, das zu vernehmen dürfte für den Primaner ein nicht uninteressantes Schlußkapitel der ihm dargebotenen Kirchengeschichte seinl).

D. Der Bibeluuterricht in den oberen Klaffen der höheren Schulen"). Die Ordnung der Entlassungsprüfung vom Jahre 1892 verlangt in Überein­ stimmung mit der früheren Prüfungsordnung von dem Gymnasial-Abiturienten, daß derselbe „von dem Inhalt und Zusammenhang der heiligen Schrift eine genügende Kenntnis erlangt habe". Der Verfasser dieses Buches hat stets die AbiturientenZeugnisse in diesen Worten abgefaßt, und er hat dies stets ohne jedes Bedenken ge­ tan s). Welchen Sinn hat denn diese Forderung? Doch natürlich nicht den, daß der Schüler alles wissen soll, was in der Bibel steht; das weiß nicht einmal der Religionslehrer. Es kann also nur der Hauptinhalt der Bibel gemeint sein; derselbe muß also für den Schüler von den Nebensachen gesondert und in angemessener Weise ihm vorgetragen und eingeprägt werden. Und wenn das geschieht, dann ist auch schon der Zusammenhang der heiligen Schnst fast von selbst gewonnen und erkannt. Ich betrachte es also als die Ausgabe dieses Buches, denHauptinhalt der Bibel in seinem Zusammenhange für die Schule, und *) Vgl. meine Kirchengeschichte3: Nr. 99. *) Über den Bibelunterricht in den unteren und in den mittleren Klassen im einzelnen findet der Lehrer Genaueres, als oben gesagt ist, in meinem „Lehrplan", Nakel 1903, Progr. Nr. 191. dritte Bearbeitung. 3) Ein solches hat ausgesprochen Hollenberg: Zur Methode des bibl. Unterrichts in den oberen Gymnasialklassen (Progr. von Biele­ feld 1889, Nr. 332, Seite 4).

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zwar für die oberen Klassen, darzustellen; diesem Zwecke dient schon die kurze Zusammen­ fassung der heiligen Geschichte, die ich der Darstellung der heiligen Geschichte im ganzen vorausschicke *), welche jedem einzelnen Abschnitt immer aufs neue voraus­ geschickt werden mag2); diesen Zweck faßt überall die Darstellung des Buches ins Auge. Was nun der Unterricht in der heiligen Geschichte in den oberen Klassen im einzelnen zu leisten hat, soll im folgenden gezeigt werden. a. Die erste Aufgabe des Buches ist es, die Geschichte des Volkes Israel und des Christentums für den Unterricht in den oberen Klassen der höheren Schulen darzustellen. Hierfür haben ja nun die unteren und die mittleren Klassen bereits eine Grundlage geliefert, welche in den oberen Klassen als vorhanden vorauszusetzen ist. Die unteren Klassen werden zunächst die einzelnen Geschichten der heiligen Schrift ins Auge fassen; in den mittleren Klassen wird auf den Z u sammenhang der heiligen Geschichte und auf die innere Seite der biblischen Geschichte schon einigermaßen eingegangen werden können. Die obere Unter­ richtsstufe hat nun nicht etwa bloß zu wiederholen, was früher dagewesen ist; eine bloße Wiederholung ertötet notwendig das Interesse; dem Schüler muß etwas Neues geboten werden, etwas, was seinem geleisteten Alter entspricht und seine religiöse Bildung fördert. „Förderlich kann aber der Religionsunterricht in der Oberstufe nur dann werden, wenn die a l l g e m e i n e Wiederaufnahme der früheren geschichtlichen Pensen unterbleibt, und dafür eine Beschränkung auf wenige Hauptp a r t i e n des biblischen Lehrstoffes stattfindet, welche der erlangten größeren Reife der Schüler entsprechen2)." Es wird also nicht jede einzelne biblische Geschichte wieder zur Besprechung kommen, sondern die Hauptmomente der heiligen Geschichte werden hier zu tieferem Verständnis gebracht werden müssen. Mit dieser Hervorhebung der H a u p t t a t s a ch e n aus der Geschichte Israels und des Christentums ist nun nach meiner Meinung noch ein Vorteil verbunden, der nicht gering anzuschlagen ist. Ein Unterricht, der sich immer wieder auf die H a u p t fache einschränkt, die Offenbarung Gottes im Alten und Neuen Bunde, lenkt den Lehrer und den Schüler von einer Gefahr ab, die nach meiner Meinung nicht gering anzuschlagen ist. Der Schüler ist, wie der gemeine Mann, nur allzu sehr geneigt, an Einzelheiten, auch an die unwichtigsten, sich zu hängen und da­ rüber das Ganze und die Hauptsache aus dem Auge zu verlieren. Bei der Bibel sind es namentlich die e i n z e l n e n Wunder, die oft dem Schüler als so wichtig erscheinen, daß von ihrer Auffassung und Erklärung ihm sehr viel abzuhängen scheint. Nun ist es ja leicht, mit manchen Apologeten alles Mögliche über jedes Wunder zu sagen; aber gelingt es denn dem Lehrer auch immer, den Schüler zu überzeugen? Und glaubt denn jeder Lehrer selber an jedes Wunder? Hier heißt es für Lehrer und Schüler: „Eins ist not." Die Apologeten „wissen zwar viele Künste," aber nur allzuoft „führen sie weiter von dem Ziel." Wenn der Lehrer in d e r Weise unter­ richtet, daß er vor allem die Hauptsachen hervorhebt, dann wird der Schüler, auch wo ihm einzelne Zweifel nicht genommen werden können, doch erkennen, daß von solchen Zweifeln die Hauptsache, der Glaube an die Offenbarung Gottes im Men und im Neuen Bunde, nicht berührt wird. *) Vgl. Nr. 10. 2) Dem Leben Jesu ist sie noch besonders vorangestellt; vgl. Nr. 101. 3) Programm von Waren 1883, Nr. 587: Nie mann, die Mosaische Gesetzgebung in der Sekunda.

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So treten nun in dieser heiligen Geschichte vornehmlich Moses, David, die Weis­ sagung und der Glaube des Volkes Israel, Jesus Christus und die Apostel Petrus und Paulus vor das geistige Auge des Schülers; die anderen Personen und viele einzelne Ereignisse treten ihnen gegenüber zurück, auch wenn sie genannt werden. Diese Hauptpersonen und Hauptsachen der heiligen Geschichte dürfen nun aber nicht vereinzelt, in unverbundenen Darstellungen, dem Schüler vorgeführt werden, sondern als die Hauptträger derimZusammenhange vorgeführten heiligen Geschichte, welche mit Moses beginnt und mit den Aposteln schließt. Ja, gerade das Ganze der heiligen Geschichte muß auf dieser Unterrichtsstufe dem Schüler dargeboten werden, während auf der unteren und mittleren Stufe mit Recht vor allem die ein­ zelnen Personen und Ereignisse hervortreten; hier soll eben nicht bloß der I n h a l t, sondern auch der Zusammenhang der heiligen Geschichte erfaßt werden; in derganzenheiligenGeschichtedenSchülereinezusammenhängende Offenbarung Gottes erkennen zu lassen, das i st hier die Aufgabe und das Zieldes Unterrichts. b. Aber in die Geschichte Israels und des Christentums soll ja nun der Schüler nicht deshalb eingeführt werden, damit sein geschichtliches Wissen sich vervollständige, oder damit er die weltlichen Mertümer des Volkes Israel kennen lerne, sondern der Schüler soll vornehmlich in d a s hineingeführt werden, was der Kern und Mittel­ punkt dieser Geschichte ist, in die Religion des Volkes Gottes. „Die Aufgabe meines Buches1), das ja nur ein bescheidener Beitrag zum Ver­ ständnis der biblischen Religionsgeschichte sein will, gestattet, ja fordert vielmehr, dasjenige, was ganz und gar dem rein politischen und profanen Gebiet angehört, bloß kurz zu erwähnen, eingehend aber nur diejenigen Partieen der Geschichte zu be­ sprechen, welche zur eigentlichen Religionswelt in Beziehung stehen. Zwar ist dessen mehr, als in irgend welcher andern Volksgeschichte, weil, wie die Gesetzgebung, das öffentliche und das Privatleben in Israel, so auch die Litteratur und die Geschicht­ schreibung von religiösen Adern durchzogen ist. Allein so wenig als selbst das frömmste Menschenleben einer weltlichen Seite ganz entbehrt, so ist auch besonders in der ATlichen Geschichte nicht weniges, was lediglich zum profanen Lebensgebiet gerechnet werden muß. Man hat freilich bis.auf unsere Tage mit Allegorisieren und Symbolisieren in diesem Stücke Großes geleistet, indem alles und jedes, weil es eben in der Bibel steht, Stoff zu angeblich tiefsinnigen frommen Betrachtungen liefern mußte; das sind aber doch nur Ausgeburten unwahrer und mißbräuchlicher Benützung des Bibelworts." So bietet denn nun das vorliegende Buch im Anschluß an die Hauptperioden der heiligen Geschichte eine ausführliche Darstellung der R e l i g i o n des betreffenden Zeitalters; der Lehrer findet also die Gesetzesreligion, die messianische Weissagung, die Frömmigkeit der Psalmen und des Buches Hiob, die wichtigsten Reden Jesu und das innere Leben der apostolischen Kirche dargestellt. Auf diese Darstellung der Offen­ barungs-Religion in den verschiedenen Momenten ihrer Entwickelung ist nach meiner Meinung in den oberen Klassen das Hauptgewicht zu legen. Damit ist für diesen Unterricht das Neue gewonnen, das er dem Schüler bieten muß, wenn derselbe in diesem Unterrichte nicht bloß eine ihm vielleicht entbehrlich scheinende Wieder­ holung der ihm von Jugend an bekannten „biblischen Geschichte" sehen soll. Wenn nun auch hier ja zunächst der I n h a l t der heiligen Schrift dem Schüler entgegen*) So sage ich mitMezger, Hilfsbuch zum Verständnis der Bibel (IV, 38s).

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tritt, so wird sich ihm doch auch hier, und fast noch leichter als bei der äußeren Geschichte, der Z u s a m m e n h a n g der heiligen Schrift ohne große Mühe erschließen. „Das Ziel des Religionsunterrichtes ist es *), zu Christus zu führen; das Alte Testament ist Offenbarung Gottes an uns, weil und insofern es mit der Person Jesu im Zu­ sammenhange steht; die Person Jesu gibt uns auch die Fähigkeit, das Ewig-Bleibende im Alten Testamente von dem Vergänglich-Partikularistischen zu scheiden." Wenn der Lehrer in diesem Sinne unterrichtet, so wird auch hier dem Schüler „der Inhalt und Zusammenhang der heiligen Schrift" verständlich werden. Vornehmlich für diese Einführung in die Religions w elt der Bibel wird auch die L e k t ü r e der Bibel in den oberen Klassen berechnet sein müssen. Schon bei der Geschichtsdarstellung ist nach diesem Gesichtspunkte die Lektüre auszuwählen, soweit sie überhaupt bei der Kürze der Zeit möglich ist; bei der Darstellung der Reli­ gionswelt der Bibel aber muß die Zeit reichen, um in die betreffenden Abschnitte der heiligen Schrift selbst einzuführen, ja, mit e i n e r Ausnahme (bei der Darstellung der Gesetzesreligion), den Unterricht auf die Lektüre zu gründen und aus dieser den betreffenden Gegenstand zu erkennen und zusammenzufassen. Hier lernt also der Schüler die Psalmen und das Buch Hiob (beides in Auswahl) kennen; in einer Aus­ wahl prophetischer Reden und messianischer Weissagungen erschließt sich ihm der Hauptinhalt der prophetischen Predigt; die wichtigsten Reden Jesu und die bedeutend­ sten Abschnitte der wichtigsten Briefe der Apostel lernt er durch eigene Lektüre kennen. Auf diese Lektüre der heiligen Schrift und die daraus sich ergebende Kenntnis der Religionswelt des Volkes Gottes wird der Unterricht in den oberen Klassen be­ sondere Sorgfalt verwenden müssen; ihm ist um seiner Schwierigkeit und um seiner Bedeutung willen ein großer Teil des Buches zugewiesen. Für diese Abschnitte bildet natürlich die Grundlage die Wissenschaft der „biblischen Theologie"; hoffentlich habe ich von dieser Wissenschaft etwas gelernt; aber ich wünsche sehr, daß es mir gelungen wäre, unter Berücksichtigung der Wissenschaft die Schüler in den Inhalt der heiligen Schrift so einzuführen, daß, wie die Erläuterungen zu den Lehrplänen der höheren Schulen vom I. 1882 (S. 17) mit Recht fordern, auch bei der Einführung in die Re­ ligionswelt der Bibel „die Schule nicht Theologie lehrt, sondern Religionsunterricht erteilt." c. Neben der Darstellung des Entwickelungsganges der heiligen Geschichte und der Hauptmomente der biblischen Religion bedarf es für den Schüler zwar noch einer Belehrung über die Bibel als Ganzes, aber nicht einer besonderen voll­ ständigen Bibelkunde oder biblischen Einleitung für die ein­ zelnen Bücher. Was der Schüler von den einzelnen biblischen Büchern zu wissen braucht, lernt er durch eigene Lektüre oder durch kurze Bemerkungen bei den be­ treffenden Perioden der heiligen Geschichte; die längeren Ausführungen über die einzelnen biblischen Bücher, welche den einzelnen Abschnitten des Buches beigegeben sind, sind nur für den Lehrer bestimmt, nicht für den Schüler. So stimme ich denn auch für die oberen Klassen der h ö h e r e n Schulen mit der zunächst für V olks schulen erlassenen Ministerialverfügung vom 24. März 1888 überein: „Die Kinder müssen allerdings lernen, aus welchen einzelnen Büchern die heilige Schrift besteht, und wie sie auf einander folgen; aber kurzeJnhaltsangaben der einzelnen biblischenBücher auswendig lernen zu lassen, *)

Hollenberg, Progr. von Bielefeld 1889, Nr. 332, S. 6—7.

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ist frucht- und darum wertlos. Es kommt vielmehr darauf an, die Kinder durch B i b e l l e s e n in den Reichtum der heiligen Schrift einzuführen. Was aus der B i b e l k u n d e etwa bemerkenswert ist, das läßt sich hierbei ohne weitere Zurüstung leicht anführen. EsistdaherderUnterrichtinderBibelkunde als besonderer Lehrgegenstand aus dem Lehr- und Lektionsplane zu entfernen." „Der Gebrauch, die Schüler Inhaltsangaben der einzelnen biblischen Bücher, die sie zum größten Teil gar nicht gelesen haben, lernen zu lassen, ist noch weit ver­ breitet, wie eine ganze Anzahl von Schulbüchern zeigt, welche ausdrücklich auf einen solchen Betrieb des Unterrichts eingerichtet sind, und doch ist dies Verfahren gänzlich unfruchtbar, ja, geradezu verwerflich" 1). „Eine Bibelkunde, als Unterrichtsgegenstand für Sekunda, hat notwendig den encyklopädischen Charakter, der der Tod des wirklichen Interesses ist" 2). Der Schüler braucht also im ganzen nichts zu wissen „von der Ent­ stehung und Zusammensetzung der historischen Bücher des Alten Testamentes, nichts von der Lebenszeit und der speziellen Wirksamkeit der einzelnen Propheten"3), nichts von der Entstehungszeit und dem Inhalt der von ihm nicht gelesenen Briefe. Zwar manche Fragen der biblischen Einleitungswissenschaft treten auch an den Schüler heran; so die Frage nach der Entstehung der Bücher Mosis (bei der Betrachtung des Gesetzes4) und bei der Erläuterung der Schöpfungsgeschichte5)), ebenso die Frage nach dem Verhältnis der Evangelien zu einander, und einzelnes andere. Dann gebe der Lehrer im einzelnen Falle, ohne auf Vollständigkeit bedacht zu sein, den nötigen Bescheid; aber auf diese Fragen ist in der Schule nur da einzugehen, wo das Verständnis des Inhalts der Schrift und die Abwehr von Zweifeln eine Besprechung dieser Fragen nötig macht. Die Abschnitte, welche ich über solche Fragen für den Schüler bei­ gegeben habe, betrachte ich als das Maximum des ihm Darzubietenden. Der Lehrer soll die Fragen der Einleitungswissenschaft kennen und studieren; der Schüler soll vor allem in die Gottesgedanken der heiligen Schrift eingeführt werden; eine vollständige „Bibelkunde" dem Schüler einzuprägen, darauf muß die Schule verzichten. Dagegen mag die Bibel als G a n z e s dem Schüler vorgeführt werden, indem er über ihre Gliederung und Entstehung, über die Übersetzung, Verbreitung und Be­ deutung der Bibel unterrichtet wird; über die beiden ersten Abschnitte wird in d i e s e m Buche, über die drei letzten in meiner Kirchengeschichte (Nr. 71) das Genauere dargeboten; der Lehrer wird sowohl in Sekunda als auch in Prima alle fünf Abschnitte mehr oder weniger ausführlich behandeln. Die Darlegungen über die Sprachen der Bibel, über die Erhaltung des Urtextes, über die Sprachen der Welt, in welchen die Bibel heute vorhanden ist, dürften auch für den Schüler interessant sein; die Fest­ schrift der Britischen Bibelgesellschaft für das Jahr 1903 (20 Pfennig) mit ihrer Über­ setzung der Bibelstelle Joh. 3,16 („Ättso hat Gott die Welt geliebt usw.) in 403 Sprachen und Formen ist für jeden gebildeten Christen gewiß von Interesse6). Es wäre schön, wenn auch Luthers „Sendbrief vom Dolmetschen" (und verwandte Abschnitte nament­ lich aus Luthers Schriften) in der Schule gelesen werden könnten, wie sie in meinem Quellenbuch (II, Nr. 4—6) dargeboten werden. ') Hollenberg, Progr. von Bielefeld 1889, Nr. 332, S. 4. Vgl. auch Leuchtenberger, Zeitschr. für das Gymn.-Wesen, 1889, 4. 2) Gottschick, Der evang. Religions-Unterricht, 1886, S. 56. 3) Hollenberg 1. c. S. 9. 4) Vgl. Nr. 51. ®) Vgl. meine Glaubenslehre2, Nr. 21. 6) Eine Besprechung derselben findet der Lehrer in meiner KG3 Nr. 71 D.

IL Lehrstoff und Lehrplan für den Religionsunterricht re. 7.XX717 Auf eine solche Bibelkunde, welche den Schüler die Bibel als Ganzes erkennen und würdigen läßt, wird sich die Schule beschränken. d. Wenn der Schüler in dieser Weise in die heilige Schrift eingeführt wird, dann wird ihm allerdings vieles Einzelne unbekannt bleiben und gar manches kurz Erwähnte dem Gedächtnis bald wieder entschwinden; viele einzelne Ereignisse und Personen der Bibel sind ihm fremd geblieben, und gar manches schöne Bibelwort hat er nicht gelesen; gar manches biblische Buch weiß er zwar in der Bibel zu finden, aber er hat noch niemals darin gelesen. Aber wenn er auch vieles Einzelne nicht kennt, der Hauptinhalt der Bibel ist ihm bekannt geworden: wieGottzuden Israeliten durch Moses und die Propheten und zuletzt zu den Menschen durch Jesus Christus geredet hat. Wenn die Schule diesen Hauptinhalt der heiligen Schrift dem Schüler nahegebracht hat, dann hat sie ihre Schuldigkeit getan; das Weitere liegt nicht mehr in des Lehrers Hand, sondern in der Hand G o t t e s, der in seinem Worte sich wirksam erweist. Das nämlich ist ja das Ziel des Wortes Gottes in der Schule, wie in der Kirche, daß es den Menschen zum Glauben führe an die auch für ihn geschehene Offenbarung Gottes in Moses, in den Propheten und in Jesus Christus; aus der Predigt kommt der Glaube. Dieser selbstwirkenden Kraft (Sauerteig!) des Wortes Gottes muß der Lehrer vertrauen; nicht des M e n s ch e n, sondern Gottes Werk ist der Glaube, und Gott wird sich auch in der Schule nicht unbezeugt lassen. Daß dies in der Schule geschehe, dazu trägt ja natürlich auch der Lehrer bei, wie der Pastor in der Kirche, aber doch bei weitem nicht so viel, wie mancher Unkundige glaubt und mancher ängstliche Gläubige fürchtet; der Lehrer soll jedenfalls in Lehre und Leben gewissenhaft alles vermeiden, was die Wirksamkeit des Wortes Gottes hindern könnte, aber den Glauben wirkt Gott, nicht der Lehrer. e. So mag nun auch das vorliegende Buch als ein Versuch betrachtet und auf­ genommen werden, dazu zu helfen, daß auch in der Schule mehr mtb mehr die Schätze der Weisheit und Erkenntnis gehoben werden, welche in der Bibel enthalten sind.

E. Lehrplan für bett Religionsunterricht in den höheren Schulen'). a. Aufgabe und Methode der einzelnen Gebiete des Religionsunterrichts. act. Bibelunterricht: Handbuch II. ßß. Kirchengeschichte: Handbuch I. 77. Glaubens- und Sittenlehre: Handbuch III. b. Die Lehraufgaben der einzelnen Klassen: Lehrplan Nr. 5—15. c. Themata zu schriftlichen Ausarbeitungen in Tertia, Sekunda und Prima: Lehrplan Nr. 16.

F. Die Schulbücher für ben Religionsunterricht. Lehrplan81903, Nr. 3A. Daß auch für den Religionsunterricht Schulbücher erforderlich sind, versteht sich von selbst; welche Schulbücher werden vom Lehrplan gefordert oder vorausgesetzt? *) Programm-Beilage, Nakel 1903, Nr. 191. — Der Lehrplan wird dem Lehrer geliefert vom Gymnasium zu Rakel, wie auch vom Verleger dieses Buches.

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II. Lehrstoff und Lehrplan für den Religionsunterricht re.

a. Für den Unterricht in der heiligen Geschichte werden gefordert für die unteren Klassen ein „Lesebuch", d. h. eine „bMsche Geschichte"; für die mittleren Klassen statt der Bolwibel auch gestattet, aber nur für das Alte Testament, ein „biblisches Lesebuch", neben welchem das N. T. zu gebrauchen ist; für die o b e r e n Klassen neben der Vollbibel (aber nur in der Prima der Gymnasien) gefordert der Grundtext des Neuen Testaments'). Der Hauptstreit dreht sich heute um die Frage, was für die m i t t l e r e n Klassen das rechte Schulbuch sei. Ich stehe auf dem Standpunkte, daß in diesen Klassen nicht bloß für das A l t e, sondern auch für das N e u e Testament ein „biblisches Lesebuch" der Bollbibel vorzuziehen sei, nicht bloß, um j e d e n Abschnitt ohne sittlichen Anstoß für die Schüler lesen zu können, sondern auch deshalb, weil z. B. eine anschauliche Behandlung der Leidensgeschichte ohne eine dem Schüler vorliegende zusammen­ fassende Darstellung derselben gar zu schwer ist2). Ob der biblische Unterrichtsstoff dem Schüler der oberen (bez. auch der mittleren) Klassen in einer für diese Klassen geeigneten Form in dem für ihn jedenfalls notwendigen Hilfsbuch darzubieten sei, ist streitig; ich bin der Meinung, daß durch eine solche Dar­ stellung die Lösung der Unterrichtsaufgabe und namentlich die Wiederholung erleichtert wird. Mindestens wären für den biblischen Unterricht zu wünschen eine Einleitung (Hilfsbuch Nr. 1—3), die Darstellung der Zeit von Esra bis Titus (Hilfsbuch Nr. 37—45) und die Darstellung des Ausgangs des aposwlischen Zeitalters (Hilfsbuch Nr. 68—70), da für diese Abschnitte die Bibel zu wenig oder gar nichts bietet. Jedenfalls sind eine Übersicht der biblischen Bücher und eine Zahlentabelle der h. Geschichte dem Hilfsbuch beizugeben. Karten zur biblischen Geschichte findet der Schüler in seinem Geschichtsatlas und in den neueren Bibelausgaben; eine Beschreibung des h. Landes ist dem Hilfsbuch beizugeben. Abbildungen der biblischen Geschichte (und auch der Kirchengeschichte) beizugeben — darauf kann das Hilfsbuch verzichten; das wünschenswerte Anschau­ ungsmaterial (z. B. die Reformatoren bei der Bibelübersetzung) wird besser — weil größer und deutlicher — von der Schule angeschafft. Dagegen ist es wünschenswert, daß eine Darlegung über dieEntstehung, Übersetzung und Verbreitung der Bibel dem Hilfsbuch eingefügt wird, weil es dann leichter ist, diesen wichtigen Gegenstand immer aufs neue zu be­ sprechen und zu wiederholen. b. Für den Unterricht in der Kirchengeschichte wird im Lehrplan eine Darstellung im Hilfsbuch nicht gefordert, aber es scheint doch der Wunsch allgemein verbreitet zu sein, daß eine solche dem Schüler behufs der Wiederholung des Lehr­ stoffes in die Hand gegeben werde, und zwar nach meiner Meinung sowohl für die obere wie auch für die mittlere Stufe. Unbedingt nötig ist eine Zahlentabelle der Kirchengeschichte. K a r t e n zur Kirchengeschichte findet der Schüler in seinem Geschichtsatlas. Daß eine Übersicht über die gottesdien st lichenOrdnungen ') Das Novum Testamentum graece et germanice der Württembergischen Bibelanstalt dürfte auch für die Schule besonders empfehlenswert sein. 2) Mit Recht ist in dem Biblischen Lesebuch von Strack-Voelker auch der Ausgabe, welche nur das A l t e Testament enthält, eine zusammenhängende Darstellung der Leidens­ geschichte beigegeben.

III. Der Bücherschatz des Religionslehrers re.

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(Gottesdienst, Kirchenlied, Kirchenjahr, Gotteshaus) für den Schüler der mittleren und der oberen Klassen erforderlich sei, ist wohl allgemein anerkannt. Daß eine flehte Lied ersammlung (das Gemeinde-Gesangbuch ist zu groß) in der Hand des Schülers sein muß, versteht sich von selbst. Da ein Q u e l l e n b u ch zur Kirchengeschichte für den Schüler wünschenswert ist, so ist ein solches nunmehr (1910) meinem Hilfsbuch beigegeben worden. c. Für denUnterrichtimchristlichenGlauben braucht der Schüler aller Klassen einen Katechismus, welchem die zu lernenden (bez. zu be­ sprechenden) Bibelsprüche beigegeben sind. Ich glaube, daß für den Katechismus einige Ergänzungen wünschenswert sind, wie ich sie in der zweiten Auflage meines H i l f s b u ch s (Nr. 154 B) beigefügt habe (Predigt, Konfirmation, Beichte). Dagegen würde ich eine Auslegung des Lutherschen oder eines anderen Ka­ techismus dem Schüler n i ch t in die Hand geben, damit der Lehrer ein Ausleger Luthers und der Bibel bleibe, nicht aber zum Erklärer des Auslegers werde. Dagegen ist eine Darlegung über dieEntstehungdesKatechismus wie auch der anderen Bekenntnisschriften und eine Darstellung der Unterscheidungslehren dem Hilfsbuch beizugeben, damit diese Gegen­ stände dem Schüler immer wieder vorgeführt und wiederholt werden können. Der Primaner braucht sodann noch eine Ausgabe der Augsb.Konfession; ob dieselbe den deutschen und den lateinischen Text, nur die Glaubensartikel oder auch die a n d e r e n Artikel enthalten soll, darüber gehen die Meinungen aus­ einander. Ob eine kurze Übersicht der Glaubens- und Sittenlehre im Hilfsbuch dem Schüler der Prima dargeboten werden soll, ist streitig. Jedenfalls muß neben der Bibel, bez. dem biblischen Lesebuch, auch ein H i l f s b u ch in der Hand des Schülers sein, welches außer dem Lese- und dem Memorierstoff auch noch die notwendigen Lehrstoffe enthält.

III. Der Bücherschatz des Ueligionslehrers für den Unterricht in der heiligen Geschichte. Um sein Wissen in der heiligen Geschichte zu vertiefen und gründlicher in die heilige Schrift einzudringen, bedarf der Religionslehrer einer Anzahl Bücher, welche aus der hier fast unübersehbaren Litteratur auszuwählen eine besonders schwierige Aufgabe ist. Diese Aufgabe wird aber noch erschwert durch die Verschiedenheit des theologischen Standpunktes, welche sich bei der Betrachtung der Bibel natürlich viel mehr geltend macht, als bei der Kirchengeschichte. Ich will nunmehr versuchen, unter Berücksichtigung der verschiedenen theologischen Standpunkte, eine Auswahl von empfehlenswerten Schriften für den Religionslehrer zusammenzustellen, von der Meinung ausgehend, daß der Religionslehrer der oberen Klassen nicht umhin kann, von den verschiedenen Standpunkten Kenntnis zu nehmen, auch nachdem er selber einen bestimmten Standpunkt gewonnen hat. a. Ich stelle zunächst einige allgemeine Hilfsbücher für den Religionslehrer zusammen, welche für den gesamten Religionsunterricht wertvoll sind.

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III. Der Bücherschatz des Religionslehrers rc.

Eine Zusammenfassung einerseits des theologischen, andrerseits des pädagogischen Wissens, welches ihm für seinen Unterricht gute Dienste tun kann, findet der Lehrer in drei großen Werken, welche ihm (wenn er sie nicht selber besitzt) die Schulbibliothek zur Verfügung stellen mag: Herzogs Realencyklopädie für die pro­ testantische Theologie und Kirche. 3. Aufl. — S ch m i d , Encyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens. 2. Aufl. 10 Bände. — Rein, pädagogische Encyklopädie. 2. Aufl. — Für seine Privatbibliothek wird der Religionslehrer wenig­ stens ein kleineres Handbuch des gesamten theologischen Wissens nicht entbehren können, z. B. Perthes, Handlexikon für evang. Theologen. 3 Bde. 30 Mark. — Wertvolle Ergänzungen zu Herzog und Perthes bietet dasTheologischeHilfsl e xiko n (Perthes), 2 Bde., in welchem dem Lehrer mancherlei Übersichten dargeboten werden, die er anderswo schwer findet. Eine zusammenfassende Übersicht über die neu erschienene theologische Litteratur jedes Jahres bieten der Theologische Jahresbericht (jährlich erscheinend auch in einzelnen Teilen), der Abschnitt über den Religionsunterricht in Rethwisch' Jahresberichten für die höheren Schulen, und dieZeitschriftfürden evangelischen Religionsunterricht (ZRU). Der Lehrer mag auch die Programme mit ihren oft sehr wertvollen Abhandlungen beachten (jährlich zusammengestellt von Teubner und in der ZRU). Von den Werken über die Theorie des Religionsunterrichts mag der Lehrer namentlich beachten: Rüde, Methodik des gesamten Volksschulunterrichts, 2 Bde. — Zange, Didaktik und Methodik des evang. Religionsunterrichts. Der gesamte Lehrstoff des RU ist behandelt in dem lObändigen Werke von ReukaufundHeyn, Evang. Religionsunterricht. (Heilige Geschichte: Band 7, 8 und 9). Der Lehrstoff für die oberen Klassen ist behandelt in dem Handbuch des Verfassers (3 Bde. — Bd. 1: Kirchengeschichte; Bd. 2: Heilige Geschichte; Bd. 3: Glaubens- und Sittenlehre), und in den „Hilfsmitteln zum evang. RU von E v e r s und F a u t h (einzelne Hefte). Der neue Lehrplan für den Religionsunterricht ist behandelt von dem Verfasser dieses Buches in der Beilage des Programms von Rakel 1903, Nr. 191: Lehrplan für den evang. RU in den höheren Schulen. DritteBearb e i t u n g. — Der Lehrer mag auch beachten: Rath, Lehrpläne und Prüfungs­ ordnungen des höheren Schulwesens Preußens seit Einführung des Abiturientenexamens. Progr. von 1900, Nr. 62 (Berlin, Luisengymnasium). b. Für die Heilige Geschichte im besondern weise ich auf folgende Schriften hin. Die neueste Ausgabe des hebräischen Alten Testaments ist die von Kittel, 1905, 2 Bde., geb. 10.—. Für dasNeueTestamentist für die Schule besonders zu empfehlen Novum Testamentum graece et germanice, herausg. von der Württembergischen Bibelanstalt. Geb. M. 1,60. Eine neue wissenschaftliche Bibelüber­ setzung liegt vor in der Textbibel von Kautzsch und Weizsäcker, geb. 6 M. Eine wissenschaftliche Ausgabe der A p o k r h p h e n des A. T. haben wir von Kautzsch, derer des N. T. von Hennecke erhalten. Daß der Lehrer eine Bibelauslegung für die ganze Bibel bedarf, versteht sich von selbst; er wird je nach Verlangen eine kürzere oder eine längere und je nach seinem theologischen Standpunkt die eine oder die andere der vielen Auslegungen

III. Der Bücherschatz des Religionslehrers rc.

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sich anschaffen. Eine Übersetzung und Auslegung des ganzen Alten Testaments hat Kautzsch herausgegeben (3. Aufl. 1908—1910). Sodann wird der Lehrer auch für die Bibel ein Nachschlagebuch nicht entbehren können, welches ihm über sachliche Dinge ausreichenden Bescheid gibt; ein solches Buch istz. B. dasbiblischeHandwörterbuch von R i e h m, in 2. Auflage herausgegeben von B ä t h g e n. Als eine Ergänzung hierzu ist anzusehen der B i l deratlas zur Bibelkunde von Frohnmeyer und Benzinger, geb. M. 7,20. c. Übersetzung, Auslegungsbuch und Handwörterbuch zur Bibel sollen nun den Lehrer befähigen, die Bibel selber gründlich zu studieren, und sich dadurch zum Unter­ richt in der heiligen Geschichte tüchtig zu machen. Aber der Lehrer ist ebenso wenig, wie der Theologiestudierende und der Pastor, in der glücklichen Lage, die ganze Bibel erst gründlich durchstudieren zu können, um auf Grund eines solchen Studiums in den oberen Klassen unterrichten zu können. Schon aus diesem Grunde muß also der Lehrer weitere Führer für den Unterricht in der heiligen Geschichte suchen, da er nach meiner Meinung sich mit dem „Handbuch für den Unterricht in der Heiligen Geschichte" nicht begnügen darf. Für diesen Zweck, um den Unterrichtsstoff gründlicher und tiefer zu erfassen, als er ihm im Handbuch geboten wird, bedarf er nun der im folgenden genannten Lehrbücher, welche ihm den g a n z e n Stoff vorführen. Zunächst braucht der Lehrer wissenschaftliche Handbücher derheiligenGeschichte, sodann derbiblischenEinleitung und derbibli schenTheologie sowohl für das Alte wie für das Neue Testament. d. Für das Alte Testament bietet dem Lehrer eine Zusammenfassung der verschiedenen Gebiete das Buch von R e u ß, Geschichte der heiligen Schriften des A. T. (2. Aufl., 15 Mark). Über die Hauptfragen der heutigen Wichen Forschung wird sich der Lehrer orientieren aus der Schrift von Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels (8 Mark). Von den neueren Darstellungen der ATlichen Ge­ schichte kommen namentlich in Betracht: W e l l h a u s e n, Israelitische und jüdische Geschichte. — Kittel, Geschichte der Hebräer. (Erste Aufl.) Kittel, Geschichte des Volkes Israel. (Zweite Aufl.; beide Auflagen citiert, da von der zweiten Band 1 noch nicht erschienen ist). — Kittel, Die ATliche Wissenschaft. 1910. — Erbt, Handbuch zum A. T. — Klo st ermann, Geschichte des Volkes Israel. — König, Geschichte des Reiches Gottes bis auf Jesus Christus. Nachdem die uralten Zusammenhänge der westsemitischen Massen mit dem assyrisch-babylonischen Völkerstrom erkannt worden sind, kann das Verständnis des hebräischen Altertums von keiner Seite her eine so große Förderung erfahren als von derasshriologischenWissenschaft. Wer sich hierüber genauer unter­ richten will, der sei hingewiesen auf: H o m m e l, Geschichte des alten Morgenlandes (Göschen, Nr. 43). Über die „altorientalische Weltanschauung" mag sich der Lehrer orientieren durch den Artikel der „Theologischen Rundschau" 1911, Juni: „Die altorientalische Welt­ anschauung und ihr Ende", unter Beachtung der Schriften: W i n ck l e r, Die baby­ lonische Kultur in ihren Beziehungen zur unsrigen (1902). — Jeremias, Das A. T. im Lichte des alten Orients. — K u g l e r, Im Bannkreis Babels (1910). Über den Schauplatz der orientalischen und besonders der israelitischen Geschichte wird der Lehrer orientiert in zusammenfassender kurzer Darstellung durch den betr. Abschnitt in H o m m e l s Geschichte des alten Morgenlandes, wozu neuere

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HI. Der Bücherschatz des Religionslehrers rc.

Bücher über das Land Kanaan und die anderen Länder des Morgenlandes hinzuzu­ nehmen sind, z. B.: Schneller, Kennst du das Land? — Meyer, Palästina und Syrien. — Baedeker, Palästina und Syrien (1910). Von den Einleitungen in das A. T. seien hier genannt die Werke von Riehm,Reuß,Cornill,Wildeboer (Die Litteratur des Alten Testaments), Strack, König und Baudissin; außerdem mag der Lehrer beachten das Buch von D i e st e l, Das A. T. in der christl. Kirche. Namentlich aber muß der Lehrer auch dieATlicheTheologie kennen lernen durch das Studium der betr. Werke von Dillmann, H. Schultz und S m end. Von Schriften, welche einzelneGebietedesA. T. genauer behandeln, seien genannt: M e z g e r, Hilfsbuch für den Unterricht in der heiligen Geschichte (nur bis zur Richterzeit reichend). — B r u g s ch, Steininschrift und Bibelwort,(5 Mark). — Schürer, Gesch. Israels im Zeitalter Jesu Christi. 4. Aust. 3 Bde. — Ben­ zinger, Hebräische Archäologie. 2. Aufl. e. Für das Neue Testament sei der Lehrer hingewiesen auf die DarstellungendesL eb ensJesuvonBey s chla gundvonWeißundd es aposto­ lischen Zeitalters von Weizsäcker, auf die Einleitungen von Reuß, Jülicher, Weiß, Gregory und Zahn, und auf die Werke über NTliche Theologie von Weiß, Beyschlag und Holtzmann. f. Auf Specialschriften und auf wichtigere Artikel der Theol. Encyklopädie 8, wie auch auf wichtigere Programme und Artikel der Zeitschrift für den Religions­ unterricht (ZRU) ist bei den betr. Abschnitten und Nummern des Buches hingewiesen.

Heilige Geschichte. Erster Hauxiteil.

Die Geschichte des Alten Kundes. Einleitung'). 1. Die Geschichtschreibung im Volke Israel. A.

Die Entstehung ber Geschichtschreibung des Alten Testaments.

a. Während man früher die Geschichte eines Volkes nur so weit zurück­ zuverfolgen wußte, als die schriftlichen Aufzeichnungen reichten, hat man in der neueren Zeit gelernt, über die ältesten Überlieferungen der Vorzeit hinaus­ zugehen, indem man neue Hilfsmittel zur Erforschung der Urzeit eines Volkes entdeckte. Das sind zunächst die Denkmäler eines Volkes (z. B. die Pyra­ miden, auch abgesehen von etwaigen Inschriften, die Grabesurnen, die Geräte), welche dem Betrachter gestatten, auch ohne Überlieferung Schlüsse auf die geschichtlichen Zustände zur Zeit der Errichtung des Denkmals zu ziehen. Solche Schlüsse ziehen die Geschichtsforscher aus den Resten der malten Städte Ame­ rikas, für welche uns jede Überlieferung fehlt; dagegen werden die Funde in Niniveh und in Troja nicht bloß für sich, sondern auch im Lichte der vorhandenen Überlieferung betrachtet, aber vielleicht anders erklärt, als die Überlieferung es tut. Für das Mte Testament ist die aus dem 9. Jahrhundert vor Christus stammende Denksäule des Königs Mesa von Moab2) von großer Bedeutung, da sie fast die einzige vorexilische Inschrift eines ganz nahe wohnenden Volkes für die israelittsche Geschichte enthält. Aber für die israelittsche Geschichte sind auch die assyrisch-babylonischen Denkmäler mit ihren Inschriften von großem Werte; weniger ergebnisreich sind die ägyptischen Inschriften. Noch mehr aber lassen die noch in der historischen Zeit bestehenden oder auch die verschwundenen GebräucheundSittenunddieganze *) Dieser Abschnitt (Nr. 1—5) istnurfürdenLehrer bestimmt. Nr. 36. Hetdrtch, Heilige Geschichte. 3. Aufl.

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2) Vgl.

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1. Die Geschichtschreibung im Volke Israel.

Lebensweise eines Volkes den Forscher auf die Urgeschichte und die Urzustände eines Volkes schließen. So betrachtet die von den Israeliten in der alten Zeit erreichte Kulturstufe ein neuerer Geschichtschreiber dieses Volkes (Stad e), „um aus seinen socialen Einrichtungen wie aus seiner Kultur Schlüsse auf seinen Gottesglauben gewinnen zu können" (I, S. 360). Namentlich aber hat man erst in der Neuzeit gelernt, aus der S p r a ch e eines Volkes Schlüsse auf seine Abstammung und seine Urgeschichte zu ziehen. Solche Betrachtungen enthalten heute alle Geschichtswerke über die Urzeit eines Volkes; für die Geschichte der Urzeit Israels ist z. B. auf Ho mmel hinzuweisen1). Da die Israeliten eine semitische Sprache sprechen, so sind sie (bis das Gegenteil erwiesen würde) auch als ein semitisches Volk zu betrachten. Aus den Eigennamen dieses Volkes kann man erkennen, daß sie den Namen Jehovah in der ältesten Zeit noch nicht für Gott gebraucht haben2). Die Namen mancher Tiere und Pflanzen, mancher Geräte oder Tätigkeiten lassen durch Vergleichung mit den entsprechenden Wörtern anderer Sprachen auf einen Zusammenhang oder eine Absonderung von anderen Völkern schließen. Das alles sagt die Sprachforschung dem Geschichtsforscher. b. Aber aus der Sprache, den Sitten und selbst den Denkmälern eines Volkes, wenn sie keine Inschriften enthalten, lernt man doch mehr die Zu st ä n d e des Volkes als seine Geschichte kennen; diese erkennt man erst, wenn es eine mündliche Überlieferung darüber gibt. Zunächst wird nämlich die Kunde von der Vergangenheit mündlich erhalten und fort­ gepflanzt, und von Geschlecht zu Geschlecht pflanzt sich die Kunde der geschicht­ lichen Ereignisse fort. Noch heute bewahrt auch bei uns manche Familie eine mündliche Überlieferung von irgend einem bedeutsamen Ereignis in ihrem Geschlecht; noch heute gibt es Völker, in denen alle Kunde der Vorzeit nur auf mündlicher Überlieferung beruht. Aber wie leicht erlischt die mündliche Überlieferung, wie bald wird sie umgestaltet, wie wenig vermag sie Sage und Geschichte von einander zu trennen! Dieser fortwährenden Verringerung des überlieferten Stoffes, wie auch seiner Umgestaltung, macht im ganzen d i e schriftliche Aufzeichnung der Überlieferung ein Ende. c. Wenn nun aber die mündliche Überlieferung eines Volkes aufgeschrieben werden soll, so muß das Volk im Besitze der S ch r e i b k u n st sein, und im Gebrauche derselben schon etwas mehr geübt sein. Die semitischen Völker haben nun bereits vor der Zeit des Moses eine Buchstabenschrift gehabt; ob dieselbe als eigentliche Erfindung der Semiten (Phönicier oder Aramäer) anzusehen ist, oder ob sie eine Weiterentwicklung der ägyptischen Hieroglyphen­ schrift ist, ist schwer zu entscheiden; jedenfalls ist nicht von Ägypten, sondern von Phönicien aus die Buchstabenschrift zu den Völkern des Abendlandes ge­ bracht worden. Die hebräischen Buchstaben hatten aber bis zum Exil eine x) Hornrnel, Die Semiten. 2) „In der vormosaischen Zeit findet sich in den Eigennamen noch nicht der Name Jahveh. Die Mutter Mosis Jochebed (2. Mose 6,20) ist die erste, deren Name von der Verehrung Jahvehs zeugt, und den Namen seines tapfersten Streiters Hosea hat erst Moses in Iosua (Jehovah hilft) umgewandelt. Seitdem ist der Gebrauch des neuen Gottesnamens in den Eigennamen unendlich häufig; etwa 190 Personennamen des Alten Testamentes sind mit diesem Gottes­ namen zusammengesetzt." Ewald, hebr. Gramm? § 274.

1. Die Geschichtschreibung im Volke Israel.

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andere Gestalt als später und heutex); aber schon damals, wie heute, schrieb man von rechts nach links, wie bei allen morgenländischen Schriften außer der Keilschrift und der äthiopischen Schrift. Dagegen hatte die alte hebräische Schrift noch keine Vokalzeichen; dieselben sind erst später entstanden; etwa seit dem Jahre 600 nach Christus werden in den gewöhnlichen Handschriften und später in den Drucken (aber noch heute nicht in den Synagogenrollen) alle Vokale mit einer Genauigkeit, welche unser Mphabet weit übertrifft, durch kleine Zeichen über oder unter den Konsonanten bezeichnet. Ms Schreibmaterial haben die Israeliten in der älteren Zeit, wie die Ägypter, Papier (aus der in Ägypten wachsenden Papyrusstaude), erst später Pergament (aus Schaf- und Ziegenfellen) benützt, auf welches sie die Buchstaben zuerst mit dem Pinsel, dann mit dem nach Art unserer Fedem gespaltenen Rohr mit Tinte auftrugen. Eine Anzahl Pergamentblätter wurde zu einem Buch zusammengefügt und auf einen Stab gerollt; ein solches Buch wurde also nicht aufgeschlagen, sondern aufgerollt2). So ist allmählich auch im Volke Israel die mündliche Über­ lieferung in Schriften fixiert worden. d. Ehe es aber bei den Israeliten eine historische Litteratur gab, hat es auch bei ihnen, wie bei andern Völkern, zunächst Lieder gegeben, in welchen die großen Taten der Vergangenheit gepriesen wurden. Eins der ältesten Lieder dieser Art, vielleicht 'seiner Form nach das älteste Stück des ganzen jetzigen A. T., ist das Lied der Debora (Richt. 5); wenn dasselbe auch in seiner jetzigen Gestalt nicht ihr selber zugeschrieben werden darf (V. 12 gegen B. 7), so ist doch in demselben eine mit den Ereignissen fast gleichzeitige Dichtung von unschätzbarem Werte erhalten (c. 1250). Von anderen Liedern sind in den Ge­ schichtsbüchern Bruchstücke erhalten, welche zum Teil als aus einem „Buch der Kriege Jehovahs" oder aus einem „Buch der (des) Rechtschaffenen" ent­ nommen bezeichnet werden. Sodann hat es vor unseren Geschichtsbüchern mündlich über­ lieferte Geschichtserzählungen gegeben, welche, von umher­ ziehenden Erzählern oder von den Priestern der Heiligtümer vorgetragen, von den Helden und den Taten der Vorfahren erzählten, und welche später, ebenso wie die Lieder der Vorzeit, allerdings in mehr oder weniger bedeutender Umgestaltung, in unsere Geschichtsbücher aufgenommen worden sind. Daß aber von den Aufzeichnungen des Moses, die ihm an einigen Stellen des Pentateuch zugeschrieben werden, eine dem Wortlaute nach genaue Überliefemng vorhanden sei — diese Behauptung der älteren Zeit kann bei der Beschaffenheit der dem Moses beigelegten Stücke nicht auf­ rechterhalten werden; nicht einmal der genaue Wortlaut der zehn Gebote ist uns erhalten, da ja die beiden Formen derselben in 2. Mose 20 und 5. Mose 5 nicht unerheblich von einander abweichen. Ms nun das Volk Israel in Kanaan einwanderte, wo bereits die Schreib­ kunst verbreitet war3), da begann allmählich die schriftliche Aufzeichnung der alten Lieder und Erzählungen, und namentlich wurden die Taten der Könige durch einen besonderen Hofbeamten in den so oft in der Bibel erwähnten *) Vgl. die Schrifttafel der hebr. Grammatik! 2) Vgl. Lukas 4,17 und 20 (von Luther ungenau übersetzt, statt: aufrollen und zusammenrollen). 3) Das zeigen die Tell-Amarna-Funde; vgl.. Nr. 24 e, Anm.

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1. Die Geschichtschreibung im Volke Israel.

Jahrbüchern des Reiches aufgezeichnet. Aus diesen Elementen, den alten Siebern und Erzählungen und aus den Darstellungen der Gegenwart, sind all­ mählich zuerst geschichtliche Darstellungen einzelner Geschichtsabschnitte, später größerer Zeitabschnitte und endlich die jetzt vorliegenden ATlichen Geschichts­ bücher entstanden — aber diese nicht mehr bloße G e s ch i ch t s bücher, wie sie zunächst entstanden waren, sondem von prophetischem Geiste getragene Religionsbücher, welche nicht bloß erzählen, sondern durch ihre Er­ zählungen den Leser zur Frömmigkeit führen wollen. e. Daß nun die biblischen Geschichtsbücher des Wen Testamentes auf mündliche oder schriftliche Überlieferungen zurückzuführen sind, wird heute ohne Ausnahme für richtig gehalten; es gibt heute keinen Mann der Wissenschaft mehr, der die biblischen Geschichtsbücher als ohne Benützung mündlicher oder schriftlicher Quellen einfach von Moses und anderen Männern niedergeschrieben betrachtete. Wenn aber von den biblischen Schriftstellern Quellen und Über­ lieferungen ebenso benutzt worden sind, wie von den nichtbiblischen Historikern, so versteht es sich von selbst, daß wir die biblischen Schriftsteller zwar als wahr­ heitsliebende und besonnene Erzähler ansehen, aber sie sind weder durch ihre Wahrheitsliebe noch durch ihre Frömmigkeit zu kritischen Historikern geworden, und die Schranke ihrer Zeit hinsichtlich des menschlichen Wissens ist von ihnen nicht überschritten worden. So fehlt es denn, wenn man die Bibel nur als ein geschichtliches Buch ansieht, nicht an Lücken, die ihre Berichte lassen, an Ungenauigkeiten des Ausdrucks und an Widersprüchen der Berichte, die wir nicht lösen können. Auch das geben heute alle bedeutenden Forscher zu; ich verweise z. B. auf die Darstellung von Delitzschs. „Die Bibel ist nicht ein vom Himmel gefallenes Buch, sondern eine Offen« barungsurkunde des Willens und der Wege Gottes, welche von Menschenhänden geschrieben, also nicht frei von allen Asfekttonen des Menschlichen ist. Ein großer Teil der in der Bibel sich findenden Widersprüche verliert das Anstößige, wenn man willig einräumt und rückhalttos bekennt, daß es zu den Eigentümlich­ keiten der biblischen Geschichtschreiber gehört, ihre Quellen treu zu excerpieren, und da, wo sich über dieses oder jenes Ereignis in den Quellen verschiedene Überlieferungen fanden, diese ohne gewaltsames Eingreifen neben einander zu stellen, die Ausgleichung oder auch die Bevorzugung der einen Überliefemngsgestalt vor der andern forschenden Lesern überlassend. Aber auch das muß zugestanden werden, daß sich im Texte der heiligen Schrift, wie er vorliegt, Irrungen finden. Fehler, welche auf Rechnung irriger Textüberlieferung kommen, sind gewiß unanstößig; aber auch das ist zuzugeben, daß der inspirierende Geist seine Organe nichtinfallibel macht, wie er sie auch in natürlichen Dingen über die Bildungsstufe ihrer Gegenwart nicht hinaushebt'). Man kann willig zugeben, daß die biblische Geschichtschreibung nicht frei von den Affekttonen menschlicher Produkttvität und Sammelarbeit ist; zugeben, daß die mosaische Thora eine Entwicklungsgeschichte durchgemacht hat, daß die Festfeiern und die Opfergesetze eine wechselvolle Geschichte durchlaufen haben, daß nachmosaische Jnstituttonen sich auf die sinaittsche Gesetzgebung als ihren *) Delitzsch, Anhang zu Johannsson, Die heilige Schrift und die negattve Kritik, 1889. 2) Die Bibel ist also kein Lehrbuch der Naturgeschichte und anderer Wissenschaften.

1. Die Geschichtschreibung im Volke Israel.

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Urquell zurückführen. Wenn das Bild, das wir auf kritischem Wege von der ATlichen und auch NTlichen Geschichte gewinnen, noch so verschieden sein sollte von dem traditionellen — immer bleiben es die Wege Gottes zum Heil der Menschheit, welche auf JesumdenChristund von ihm aus auf die Vollendung durch ihn abzielen: der soteriologische Inhalt der heiligen Schrift bleibt unab­ hängig von allen Resultaten der litterarischen und historischen Kritik." f.J) Was also die Geschichtschreiber des A. T. über die oft weit hinter ihnen liegende Vergangenheit erzählen, das hat ihnen nicht etwa Gott in die Feder biftiert; das haben sie auch nicht selber erdichtet; vielmehr haben sie geschrieben auf Grund der vorhandenen Lieder und Volkserzählungen, später auch schon nach ihnen vorliegenden zusammenhängenden Darstellungen größerer Geschichtsabschnitte, aus deren großem Schatze sie das ihnen Wichttge aus­ wählten und von ihrem Standpuntte aus darstellten. Auch von den ATlichen Geschichtschreibern gilt, was Lukas von seinem Geschichtswerke sagt (Luk. 1, 1—4), daß sie nach den vorhandenen mündlichen und schriftlichen Überliefe­ rungen (Luk. 1,2) auf Grund eigener Forschung und eigenen Nachdenkens mit allem Fleiße ihre Schriften angeferttgt haben (Luk. 1, 3), und zwar ebenso, wie Lukas, nicht deshalb, um die wellliche Wißbegierde ihrer Leser zu befriedigen, sondem um sie durch diese Belehmng in der Frömmigkeit zu fördem (Luk. 1,4). So haben nun die biblischen Geschichtschreiber erzählt von der im Volke Israel geschehenen Offenbarung; aber diese Schriften sind nicht die Auf­ zeichnungen einer den Verfassern in wunderbarer Weise geoffenbarten Ge­ schichte; die Offenbarung Gottes ist eine Geschichtstat­ sache; aber Geschichtstatsachen sind nicht der Gegen­ stand göttlicher Offenbarung. Ob und wie weit nun die ihnen überlieferten Volkserzählungen über die Offenbarung im Volke Israel buchstäbliche Geschichten seien oder nicht — das zu prüfen, waren die ATlichen Geschichtschreiber nicht im stände; das ist die Aufgabe, welche die neuere wissenschaftliche Geschichtschreibung zu lösen sucht. Diesem Anspmche zu genügen brauchten aber auch die alten Ge­ schichtschreiber nicht, da sie ihre Bücher ja nicht zu wissenschaftlichen Zwecken geschrieben haben, sondern um ihre Zeitgenossen zurFrömmig k e i t zu führen. Für diesen Zweck aber ist es gleichgülttg, ob eine Erzählung eine wirkliche Geschichte oder z. B. ein Gleichnis ist; die wenigen Gleichnisse Jesu sind ja viel mehr wert als sehr viele wirkliche Geschichten. Diese Frage nach der Geschichtlichkeit des Erzählten zu untersuchen, ist die Sache der historischen Kritik; historische Kritik zu üben ist aber die Aufgabe der wissen­ schaftlichen Geschichtschreibung, nicht der zur Unterweisung in der Frömmigkeit geschriebenen Geschichtsbücher der heiligen Schrift. Mer dadurch, daß sie die geschichtlichen Ereignisse auf Gott zurückführen und nach dem Gesetz Gottes beurteilen, stehen die israelittschen Geschichtschreiber über ihrer Zeit und haben auch für uns eine unvergängliche Bedeutung; „in der israelittschen Geschicht­ schreibung, welche in der Vielheit der Erscheinungen die Einheit entdeckt, finden wir den ersten Anfang der Weltgeschichte und der Philosophie der Geschichte, welche die Aufzählung von Ereignissen erst in Wahrheit zur Geschichte macht."i) 2) i) Wildeboer, Die Litteratur des A. T. 1895, § 4—6. 2) Wildeboer, § 5, Anm. 2.

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1. Die Geschichtschreibung im Volke Israel.

g2). Gerade an den G e s ch i ch t s büchern des A. T. nimmt nun aber die neuere Zeit vornehmlich Anlaß, sich demselben gegenüber ablehnend zu verhalten. I st dennauch wirklich Geschichteindiesensogen. Geschichts­ büchern enthalten, oder enthalten sie nur geschichtlich wertlose Erzählungen? Auf diese Frage so zu antworten, daß die Wahrheit nicht verletzt und doch die Religion nicht gefährdet wird, soll im folgenden versucht werden. cc. Der gewöhnliche Mensch wünscht vor allem von dem, was geschehen ist, einen möglichst genauen und zuverlässigen Bericht zu besitzen — und dieser Wunsch ist ja durchaus berechtigt. Aber der gewöhnliche Mensch denkt doch meist, daß dieses Ver­ langen gar leicht zu befriedigen sei. Aber wie schwer ist dasselbe zu befriedigen! Wer öfters als Geschworener fungiert hat, der weiß aus Erfahrung, wie schwer und wie peinigend es oft für den Geschworenen ist, aus dem Gewirr der Zeugen­ aussagen, selbst wenn man die Wahrhaftigkeit derselben nicht bezweifelt, den wirklichen Vorgang zu erkennen! Wie schwer ist es vollends, einen komplizierteren Vorgang, z. B. eine Schlacht, richtig zu erfassen und entsprechend darzustellen! Wenn nun aber gar innere Vorgänge des Herzens, Gedanken und Gefühle und Entschlüsse, besonders solche, welche absichtlich geheim gehalten worden sind, erkannt werden sollen — wie schwer ist es da, zu einer sicheren Erkenntnis zu gelangen! Alle diese Schwierigkeiten sind doch auch den Erzählern der Geschichten des A. T. nicht erspart geblieben! Wenn die Bibel nicht von Gott diktiert ist — was heute kein wissenschaftlich gebildeter Mensch mehr glaubt — sondern nur die Urkunden der den Menschen von Gott zuteil gewordenen Offenbarungen enthält, so versteht es sich von selbst, daß die biblischen Geschichtschreiber sich ebenso haben mühen müssen, wie unsere Geschichtschreiber, um die Wahrheit zu erfahren und zu erkennen, und daß ihnen ihre Bücher nicht im Traume beschert, sondern unter vieler Mühe und Arbeit entstanden sind. Das wird ja ausdrücklich von Lukas am Anfange seines Evan­ geliums gesagt (K. 1, 1—4); das erkennt der Historiker auch da, wo es vom Schrift­ steller nicht gesagt ist, als tatsächlich an. Daß nun die biblischen Schriftsteller sich bemüht haben, so gut zu erzählen, als sie konnten, daran kann man nicht zweifeln; aber allerdings auch nicht daran, daß ihre Erzählungen doch immer nur Erzählungen zwar frommer, aber irrtumsfähiger Men­ schen, nicht unfehlbarer Päpste sind. Die Möglichkeit des Irrtums bei den Erzählungen der Bibel muß also zugegeben werden. ß. Aber sind denn auch wirklich in der Bibel geschichtliche Irrtümer vorhanden? Auf diese Frage mußte natürlich die ältere Theologie, welche die Bibel als von Gott diktiert ansah, mit einem „Nein" antworten. Wenn nun aber doch offenbar an vielen Stellen verschiedene Berichte über dieselbe Sache vorlagen, so mußte man ver­ suchen, diese Berichte mit einander in Übereinstimmung zu bringen. Das ist ja in der Tat die Aufgabe des Historikers, und insofern war dieses Streben berechtigt; aber der redliche Historiker darf doch nicht auch das mit einander vereinigen wollen, was offen­ bar unvereinbar ist. Und solche Berichte sind, wie mailet Geschichte, so auch in der biblischen Geschichte, und zwar mehr, als der Laie denkt, vorhanden. Da gilt es also, der Wahrheit die Ehre zu geben, und nicht Gott vorschreiben zu wollen, wie die Bibel sein müsse, damit wir es mit der Religion recht bequem ^ H. Schultz, ATl. Theologie § 2.

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haben; wer es in der Religion bequem haben will, der mag sich an den unfehlbaren Papst halten; dann ist er auf einmal über alle derartigen Fragen hinweg; wir Evan­ gelischen wollen den Mut haben, der Wahrheit, auch in der Bibel, getrost ins Gesicht zu sehen, und ruhig bekennen, daß die biblischen Erzähler sich in ihren Berichten öfters geirrt haben. Darum verliert eine biblische Erzählung ebenso wenig ihren Wert, wie eine andere Erzählung; wenn man aus einer Erzählung nicht die volle Wahrheit erkennt, so trägt doch auch s i e dazu bei, die Wahrheit zu erkennen. Ja, selbst wenn eine Erzählung uns nur zeigt, was der Erzähler über einen Vorgang gedacht oder geurteilt hat, so ist sie auch dann noch oft von großem Werte für die Wissenschaft, weil man aus ihr die Denkweise des Schriftstellers und vielleicht seiner Zeit erkennt. Die Gedichte Walthers von der Vogelweide würden ihren Wert behalten, auch wenn alles falsch wäre, was er über den Papst sagt; die Chronikbücher der Bibel behalten ihren Wert, auch wenn — wie man annimmt — ihre Urteile über die ältere Zeit durch die Denkweise der viel späteren Entstehungszeit dieser Bücher bestimmt sind. 7. Aber sind denn überhaupt alle geschichtlichen Erzählungen der Bibel auch nur in diesem Sinne als geschichtliche Berichte anzusehen? Gibt es nicht auch Erzählungen, welche gar nicht geschichtliche Berichte sind und auch nicht sein können? Wer hat denn zugesehen bei der Schöpfung der Welt, daß er davon berichten konnte? Hat denn schon jemand schreiben können, als die ersten Menschen und ihre nächsten Nachkommen lebten? Und beginnt nicht die geschichtliche Berichterstattung überall erst in einer viel späteren Zeit, als d i e Zeit ist, von der in der Bibel scheinbar geschichtliche Berichte vorliegen? Auf diese Fragen antwortet die neuere Theologie und Geschichtsforschung Folgendes. Daß die Erzählungen von der Schöpfung und der ältesten Geschichte der Mensch­ heit nicht buchstäbliche Geschichte enthalten, versteht sich von selbst. Was uns hier dargeboten wird, ist mehr Predigt, als Geschichtserzählung; diese Erzählungen beruhen zum Teil auf den Erzählungen der den Israeliten verwandten Völker über die Urzeit, und die israelitischen Erzähler haben diese ihnen wertvoll erscheinenden Erzählungen, nachdem dieselben von ihnen oder von älteren Erzählern dem Geiste der israelitischen Religion entsprechend umgestaltet worden waren, für wertvoll genug gehalten, um sie in ihre Geschichtsbücher aufzunehmen. Wenn noch heute die wissenschaftliche Geschichtschreibung die Kunde von der ältesten Zeit, welche aus Geschichtsbüchern nicht zu gewinnen ist, aus Mythen und Sagen und Sitten und aus der Sprache zu gewinnen sucht, so darf man es doch auch dem biblischen Geschicht­ schreiber nicht verwehren, uns eine Kunde von der Urzeit zu gewähren durch die Mit­ teilung von Erzählungen, welche ja allerdings nicht eigentliche Geschichte enthalten — die ja über die Urzeit des Menschengeschlechts niemand bieten kann — aber wohl wertvolle Gedanken und zwar nicht bloß für die Geschichte, sondern vor ollem für die Religion. Denn aus diesem Grunde sind ja diese alten Erzählungen in die Bibel aufgenommen, weil sie auf Gott hinweisen und den Menschen zu Gott zu führen geeignet sind. Auch die Gleichnisse des N. T. enthalten ja keine wirklichen Geschichten; dürfen sie etwa darum nicht in der Bibel stehen? 8. Und wenn es nun wahr ist, daß die eigentlich geschichtlichen Berichte über die Ereignisse der späteren Zeit, von welcher wir überhaupt solche besitzen, doch auch, aus der älteren Zeit mehr, aus der jüngeren Zeit weniger, sagenhafte Elemente enthalten — wie das bei a l l e n Geschichtsbüchern der Fall ist — werden wir darum derartige Geschichtsbücher etwa geringschätzen?

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Wenn der Maler uns die Gestalten der großen Männer unseres Volkes in einer Weise darstellt, wie sie in der Wirllichkeit nicht gewesen sind, so hat jeder Gebildete seine Freude an diesen idealen Gestalten. Was aber dem Maler erlaubt ist, darf dem Erzähler nicht verboten werden. Für den volkstümlichen Erzähler der großen Ereignisse der alten Zeit werden von selbst die großen Männer seines Volkes, zu denen er mit Bewunderung emporblickt, zu idealen Gestalten, herrlicher und edler, als sie in Wirklichkeit gewesen sind. Das hebräische Volk müßte ja ein geistig verkümmertes Volk gewesen sein, wenn es seine Helden nicht idealisiert hätte! Und aus welchem Grunde sollte denn die Sage aus der Bibel ausgeschlossen sein? Die idealen Ge­ stalten der Sage sind ja für das ideale Streben und für die Förderung unsrer Frömmig­ keit oft viel wertvoller als viele Geschichten der Wirklichkeit. Wenn also der Historiker mailet Geschichte, auch in der des isr a e litis ch e n Volkes, an manchen Orten sagenhafte Gestalten oder sagenhafte Züge nachweist, so ist damit der religiöse und sittliche Wert dieser Gestalten und Züge nicht verringert — ebenso wenig wie das der Fall ist, wenn man erfährt, daß die Gestalt eines großen Mannes vom Maler schöner dargestellt worden ist, als er in Wirllichkeit war. Aber auch wenn in der Bibel von den Geschichtsforschern sagenhafte Elemente nachgewiesen werden, so entschwindet uns nicht etwa der geschichtliche Boden unter den Füßen; im Gegenteil, mittels der Sagen dringt der Forscher vielfach noch in Ge­ biete ein, von denen es eine historische Kunde nicht gibt und niemals geben wird. Aber allerdings für die spätere Zeit tritt die Sage immer mehr zurück, und die Berichte werden zu mehr oder weniger rein geschichtlichen Darstellungen oder sogar zu Urkunden, welche es dem Historiker ermöglichen, die in denselben dargestellte Zeit in wissenschaftlicher Weise darzustellen. Denn diese wissenschaftliche Aufgabe zu lösen, hat natürlich die Bibel uns überlassen. e. So ist denn die Bibel ein wertvolles Buch auch für den Historiker, und die Wertschätzung der Bibel ist in dieser Beziehung durch die Wissenschaft auch in der neueren Zeit durchaus nicht verringert worden. Aber allerdings nicht als w i s s e n schaftliches Buch ist die Bibel für den Frommen von Bedeutung, sondern als dasjenige Buch, in welchem die Religion der Offenbarung in ihrer Entwickelung dargestellt ist, nicht damit wir klüger werden, sondern um uns zu Gott zu führen. Wer diese Aufgabe in der Bibel gelöst sieht, der wird der menschlichen For­ schung auf jedem Gebiete des Wissens, nicht bloß auf dem der Geschichte, sondern auch der Naturgeschichte und aller anderen Wissenschaften, ja sogar der Religionswissenschaft, durchaus steten Raum lassen; durch die wissenschaftliche Forschung wird der wahre Wert der Bibel nicht verringert.

h. Die Chronologie der israelischen Geschichte wird in der Bibel selber so berechnet, daß die Geschichte Israels in zwei gleiche Perioden von je 480 Jahren zerlegt ist: die erste vom Auszuge aus Ägypten bis zur Vollendung des Salomonischen Tempels, die zweite von da bis zum Ende des babylonischen Exils. Da nun diese Zahlen aber als runde Zahlen (12x40) erscheinen, so ist es nötig, die Zahlenangaben der Bibel mit denen anderer gleichzeitiger Völker zu vergleichen, um ihre Genauigkeit zu erkennen. Dazu sind nun vornehmlich die assyrischen und auch die ägyptischen Inschriften geeignet, welche für manche Ereignisse der israelitischen Geschichte ebenfalls Zahlenangaben gewähren. Dadurch ist die Zeit der Eroberung von Samaria als das Jahr 722 festgestellt

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worden, und von diesem festen Punkte an suchen nun die Chronologen die Jahre der früheren und der späteren Ereignisse zu bestimmen, ohne daß sie bis jetzt zu zanz übereinstimmenden Ergebnissen gelangt sind. Für die spätere Zeit bis zur Zerstömng Jemsalems durch Titus werden natürlich die chronologischen Angaben der anderen Völker beachtet*). B. Der Charakter der Geschichtschreibung des Alten T e st a m e n t s. a. Die Geschichtsbücher des Men Testaments bemhen zunächst auf münd­ lichen oder schriftlichen Überlieferungen, welche dem Schriftsteller zugekommen sind. Diese Überliefemngen haben ihren Urspmng teils im Volke, wo sie, müMich oder auch schriftlich, verbreitet waren, teils bemhen sie auf bestimmten einzelnen Personen, namentlich auf denjenigen Männem, welche, vom König damit beauftragt, dieselben in den Reichsjahrbüchem aufzeichneten. Seit der Zeit des Königs David nämlich wurden dieselben von dem Reichsannalisten geführt und dem Staatsarchiv einverleibt. Das Staatsarchiv beider Reiche ist gewiß beim Untergang der Reiche zu Gmnde gegangen; aber Abschriften und Auszüge aus seinen Urkunden und Darstellungen nach denselben, welche schon lange vorher gemacht worden waren (wie die Citate in unfern biblischen Geschichtsbüchern zeigen), haben sich noch lange erhalten (für uns nur in den biblischen Geschichtsbüchern). Diese Annalisten waren nun weder Priester noch Propheten, sondem Staatsbeamte, welche die äußeren Ereignisse aufzeichneten; ihre Geschichtschreibung war im Gegensatz zur Geschichtschreibung der Priester und Propheten mehr weltlich als geistlich, mehr volksgeschichtlich als heils­ geschichtlich. Auf der volkstümlichen oder annalistischeu Überliefemng bemhen z. B. die Geschlechtsregister, die Verzeichnisse von Orten oder Helden, die Er­ zählungen weltlicher Begebenheiten, welche in den biblischen Geschichtsbüchem dargestellt sind. Aber bei der Wiedergabe der volkstümlichen oder annalistischeu Über­ liefemng tritt doch vielfach auch der C h a r a k t e r des Schriftstellers hervor, welcher die Überliefemng bearbeitet. Derselbe tritt zunächst hervor in der Auswahl, welche der Schriftsteller aus dem Schatze der Überlieferung trifft; der Priester erzählt besonders von priesterlichen Dingen; der Krieger hebt die Heldentaten hervor. Sodann aber läßt oft auch die A r t der Darstellung den Verfasser erkennen; ein Staatsbeamter schreibt anders als ein Priester oder ein Prophet. So enthält also auch die Bibel einzelne Erzählungen in den Geschichts­ büchern, welche mehr oder ganz volkstümlicher und weltlicher Art sind, und diese Erzählungen sind sehr wichtig, um das weltliche Leben des Volkes Israel zu erkennen. Dagegen sind diejenigen ganzen Geschichtswerke, welche die Geschichte Israels im bloß nationalen Interesse darstellten, z. B. die Reichs­ jahrbücher und die darauf bemhenden Einzelgeschichten der Reiche Israel und Alda, nicht mehr vorhanden; nur diejenigen Geschichtsbücher sind in unsere

') Vgl. zu der am Ende dieses Buches folgenden Zahlentabelle: Rieh m >indw. s.v. Zeitrechnung, und die Geschichtstabelle im Anhang zu K a u tz s ch' Versetzung des A. T.

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Bibel aufgenommen worden, welche die Geschichte Israels im Lichte der göttlichen Offenbarung darstellten. b. Die Geschichte Israels nämlich, welche in den ATlichen Geschichts­ büchern erzählt wird, ist nicht die politische Geschichte eines mehr oder weniger bedeutenden Volkes, sondern die Geschichte von der Gründung des Reiches Gottes im Volke Israel. Wie Gott sich das Volk Israel zu seinem Volke erwählt und erzogen, und wie er in demselben das Gottesreich begründet und erhalten hat, das ist es, was vornehmlich die israe­ litischen Geschichtsbücher darstellen. Diese Darstellung beruht natürlich auf dem G l a u b e n der Schriftsteller an die Offenbarung Gottes in Israel, undvon diesem Glauben ist die ganze Darstellung der Geschichtschreiber getragen und durchdrungen. o. Aber auch bei der Darstellung der Offenbarung tritt uns nun eine Verschiedenheit der Darstellung entgegen, insofern nämlich die ATliche Offenbarungsreligion entweder einfach nach ihrem Wesen und in ihrer Eigentümlichkeit dargestellt wird , oder insofern die Bedeutung der Gesetzesreligion im Hinblick auf die vollkommene Religion ins Auge gefaßt wird. Jenes geschieht von den Priestern, dies von den Propheten, und so ist eine priest erliche von einer prophetischen Darstellung der Gesetzesreligion zu unterscheiden. Der Priester spicht mit großer Vorliebe und Genauigkeit von den einzelnen Gesetzen und Einrichtungen der mosaischen Religion; sein Ideal ist in dem von ihm gezeichneten Gottes­ reiche der mosaischen Zeit verwirklicht. Der Prophet dagegen weist nicht sowohl auf die vielen einzelnen und äußerlichen Gesetze hin, sondern auf das eine Gebot des H e r z e n s, Gotr über alle Dinge zu lieben und den Nächsten als sich selbst; Barmherzigkeit ist nach seiner Meinung besser als Opfer; das vollkommene Gottesreich betrachtet der Prophet als noch zukünftig. Die Priester sind die Vertreter des M o s a i s m u s, die Propheten richten ihren Blick über den Mosaismus hinaus auf das erst in der Zukunft zu er­ wartende vollkommene Gottesreich. Wenn nun die Geschichte vom prophetischen Standpunkte aus, nach dem sogenannten theokratischen Pragmatismus dargestellt wird, so wird dieselbe als die Ausführung eines Ratschlusses Gottes betrachtet, im Volke Israel ein Gottesreich zu begründen; alle Ereignisse werden, ohne die Mittel­ ursachen zu beachten, auf Gott zurückgeführt und als im Dienste der Vergel­ tungsgerechtigkeit Gottes stehend bettachtet. Und eine solche Geschichtsdar­ stellung ist hier durchaus berechttgt; wer nicht in der Geschichte Israels die Ausführung eines göttlichen Ratschlusses erkennt, der wird überhaupt keine Offenbarung Gottes erkennen; ja, nur von d i e f e m Standpunkte aus kann die Geschichte Israels wahrheitsgemäß dargestellt werden. d. Von diesem prophetisch-theokratischen Pragmatismus ist nun die Geschichtsdarstellung der Bibel zum großen Teil beherrscht. Nach dem Maß­ stabe des Gesetzes werden die Zustände des Volkes, namentlich das Leben und Wirken der Könige, beurteilt; in ihren Geschicken wird die Wahrheit der gött­ lichen Verheißungen und Drohungen nachgewiesen, und durch dies alles wird den kommenden Geschlechtern zur Warnung und zum Troste in der Geschichte ihrer Väter ein Spiegel vorgehalten. Ja, wenn sogar die Geschichtschreiber

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Israels, von diesem theokratischen Pragmattsmus beherrscht, nach unserer Meinung manchmal gar zu strenge Anforderungen stellen und nach allzu strengem Maßstabe ihre Vorfahren beurteilen, wenn das Richterbuch und das Königsbuch in den Rassischen Stellen, welche diesen Standpunkt besonders deutlich aussprechenx), die Vorzeit durchweg als eine Zeit des Abfalls vom Gesetz betrachten und nach den Fordemngen der späteren Gesetz­ lichkeit, wie sie erst seit Josia (durch das Deuteronomium) und seit Esra (durch das Priestergesetz) aufgestellt oder wenigstens durchgeführt wurde, auch die früheren Zeiten beurteilen: so scheint das allerdings eine unbillige Beur­ teilung zu sein, und einem wissenschaftlichen Geschichtsbuche der Gegenwart würde eine solche Beurteilung nicht gestattet sein. Aber die israelittschen Geschichtsbücher sind eben nicht bloße Geschichtsbücher und sind zunächst nicht als wissenschaftliche,Werke zu betrachten, geschrieben daztt, um uns eine Kenntnis des Volkes Israel zu verschaffen, sondem diese Bücher waren zunächst für die Zeitgenossen geschrieben, und diesen wird der Spiegel der Vergangenheit vorgehalten, damit sie lernen, sich vor den Vettrrungen der Vorfahren zu hüten und dem Gerichte zu entrinnen, das auch sie treffen werde, wenn sie das Gesetz Gottes nicht halten. Diese Mahnung und Warnung ist kein Beiwerk der Geschichtsbücher, sondern der Hauptgedanke in denselben, und dieser Hauptgedanke, daß die Sünde der Leute Verderben ist und nur die Gottseligkeit die Verheißung dieses und des zukünfttgen Lebens hat, macht auch noch für uns diese Bücher zu Büchern des ewigen Lebens, zu heiligen Schriften von ewiger Bedeutung. e. Wenn nun die ATlichen Schriftsteller immer wieder darauf hinweisen, daß die Frömmigkeit belohnt und die Gottlosigkeit bestraft werde, und wenn sie diesen Nachweis, wie der Vers, des Buches Hiob und fast das ganze A. T-, schon in diesem Weltlauf finden zu können glauben, so wissen wir als Christen, daß a u f E r d e n die Gerechtigkeit Gottes noch nicht vollkommen zur Gel­ tung kommt; wir werden dämm nicht jedes Urteil der ATlichen Geschichtschreiber unterschreiben. Wenn sodann die ATlichen Geschichtschreiber bei ihrem Urteil über Per­ sonen und Ereignisse der alten Zeit den sittlich-religiösen Maßstab ihrer Zeit zu Gmnde legen, entweder des älteren, freieren, oder des späteren, strengeren Judentums, je nachdem sie nur das Gesetz des Deuteronomiums oder das Priestergesetz zu Gmnde legen, so werden wir Christen auch in d i e s e r Beziehung uns ein e i g e n e s Urteil über die ATlichen Personen und Ereig­ nisse bilden, indem wir dieselben zunächst an dem sittlichen Maßstabe ihrer (nicht einer späteren) Zeit messen, aber dann doch den höheren Stand­ punkt der späteren Zeit, aber weder des Deuteronomiums noch des Priester­ gesetzes, sondem des Christentums zur Geltung bringen. So werden wir z. B. die Könige Judas nach Salomo nicht deshalb tadeln, weil sie Jehovah auch auf den Höhen angebetet haben — das war ja damals noch nicht verboten, und das bettachten auch w i r nicht als eine Sünde. Dagegen werden wir nicht bloß mit dem Propheten Nathan den König David darum schelten, weil er dem Uria sein Weib mit Gewalt weggenommen hat, sondem auch

*) Richter 2, 6—3, 6. 2. Kön. 17, 7—23 u. 34—41.

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darum, weil er überhaupt viele Weiber genommen hat, obwohl dies doch der Sitte seiner Zeit enhprach und von dem Propheten nicht getadelt wird. Wenn der Lehrer die Mliche Geschichte von d-iesem, dem christ­ lichen Standpunkte aus behandelt, dann werden viele Bedenken beseitigt, die man gerade jetzt wieder gegen das A. T. als Lehrbuch für die christliche Jugend erhebt. C. Der Charakter der einzelnen Geschichtsbücher des Alten Testaments. a. In der Geschichtschreibung des Sitten Testaments finden wir also zwar auch volkstümliche oder annalistische Abschnitte, aber doch hauptsächlich Dar­ stellungen der Offenbarungen Gottes im Volke Israel; die Darstellung der Offenbarung trägt aber entweder priesterlichen oder prophetischen Charakter. Auf einen solchen Unterschied in der Darstellung führt nun nicht bloß die Unter­ suchung der Bücher, sondem schon die Bibel selber macht einen Unterschied zwischen prophetischen und nichtprophetischen Geschichtsbüchern. Die Ge­ schichtsbücher des A. T. dürfen nämlich, indem man sie zusammenfassend be­ trachtet, als zwei größere Geschichtswerke betrachtet werden, ein älteres, bot» exilisches, und ein jüngeres, nachexilisches. Die auf den Pentateuch folgenden älteren Geschichtsbücher (Josua, Richter, Samuelsbücher, Königsbücher) werden in der hebräischen Bibel als „(vordere) Propheten" bezeichnet, während die späteren Geschichtsbücher (Chronik, Esra, Nehemia) durch die Einreihung in den dritten Teil der hebräischen Bibel, die „Schriften", als nichtprophetische Bücher bezeichnet werden. Diese Unterscheidung einer prophetischen und einer nichtprophetischen Darstellung muß nun allerdings auch noch in den einzelnen Geschichtsbüchern wieder gemacht werden, indem auch in einem prophetischen Buche ein nichtprophetischer Abschnitt stehen kann, und in einem nichtprophetischen Buche ein prophetischer Abschnitt; aber im ganzen ist es doch richtig, daß die Darstellung der älteren Geschichtsbücher prophetischen, die der jüngeren nichtprophetischen Charakter trägt. Mit den einzelnen Büchern verhält es sich aber also. b. Die Geschichtserzählung des Pentateuchs ist vorwiegend vom prophetischen Standpunkt aus geschrieben, und bei der Verbindung der verschiedenen Quellenschriften zu einem Ganzen war der prophetische Ge­ sichtspunkt maßgebend. Die Gesetzgebung der mittleren Bücher des Pentateuchs ist vom priesterlichen, die des Deuteronomiums vom prophe­ tischen Standpunkt aus dargestellt. Der Hauptinhalt des (teils von priesterlichem teils von prophetischem Standpunkte aus geschriebenen) Pentateuchs ist aber die durch Moses dem Volke Israel zu teil gewordene Offenbarung. Den einzelnen Teilen des Pentateuchs kommt jedoch der Charakter von Offenbarungs-Urkunden in verschiedenem Sinne zu. Die vornehm st e Urkunde der Offenbarung Gottes ist nämlich der von Moses selbst herstammende Dekalog (nebst den verwandten Gesetzen), das Grundgesetz des Reiches Gottes im Sitten Bunde wie auch noch im Christen­ tum. Auch die speziellen Gesetze, welche Moses seinem Volke für das damalige Leben gab, ohne sie aufzuschreiben, beruhten auf Offenbarung, und die von

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Moscs herstammenden Einrichtungen des Gottesreichs waren, auch ohne auf­ geschrieben zu sein, ebenfalls Urkunden der göttlichen Offenbarung. Die Einrichtungen des Gottesreiches und die nur mündlich von Moses gegebenen Gesetze sind aber später ebenfalls aufgezeichnet worden (und zwar in einer Darstellung mit priesterlichem Charakter), natürlich nur auf Grund der dis dahin erhaltenen Übung und mündlichen Überlieferung und nicht auf Grund einer Offenbarung an die Schriftsteller über die früher stattgehabte Offenbarung durch Moses. So dürfen auch die Gesetze der mittleren Bücher des Pentateuchs als Urkunden der Offenbarung gelten. Wenn nun das Reich Gottes im Alten Bunde zunächst auf eine Menge äußerer Satzungen gegründet war, welche zwar ebenfalls für die Religion ihren Wert hatten, aber doch nicht für immer bestehen sollten, so lag die Gefahr nähe, daß über der Menge der äußeren Gebote das eine Haupt­ gebot der inneren Frömmigkeit vergessen wurde. Dies eine Gebot der Liebe zu Gott hervorzuheben, war die Aufgabe der Prophette, und diese Aufgabe hat derjenige Prophet gelöst, welcher das Deuteronomium versaßt hat; dasselbe ist also besonders die Urkunde der prophettschen Deutung der Gottesoffenbamng im Gesetz Mosis, und dieses Buch ist im prophetischen Geiste abgefaßt. Wie dem Pentateuch, der Urkunde der gmnblegenben Offenbarung in Israel, so kommt auch den Geschichtsbüchern der späteren, namenüich der vorexilischen Zeit, der Charatter von Osfenbamngsurkunden zu. Auch diese Bücher (Josua, Richter, Samuelsbücher, Königsbücher) erzählen nämlich die Geschichte des Volkes Gottes, welches Gott aus den Völkern ausgewählt hat, um es zum Träger der Ofsenbamng zu machen. Durch Moses hatte Israel das Gesetz Gottes erhalten; die Folgezeit hat das durch Moses erttchtete Gottes­ reich zu erhalten und die vollständige Verwirllichung seines Reichsplans vor­ zubereiten; von dieser fortgehenden Ofsenbamng Gottes berichten die ge­ schichtlichen Bücher der nachmosaischen Zeit, und dämm sind sie Urkunden der Ofsenbamng. Auch die Darstellung dieser Bücher ist nicht durch das allgemein-historische oder das national-historische, sondem durch das prophettsche Interesse an dem Entwickelungsgänge des Reiches Gottes beherrscht; auch ihre Darstellung trägt vorwiegend prophetischen Charakter. c. Den Grundtypus nichtprophetischer Geschichtschreibung finden wir dagegen in den der Priesterschrift entstammenden Stücken des Pentateuchs im Unterschiede von den prophetisch-deuteronomischen. Diese zwei Geschicht­ schreibungsweisen setzen sich im Buche Josua neben einander fort. Dagegen ist, wie schon oben bemertt, dem Buche der Richter der Stempel prophetischer Geschichtschreibung aufgedrückt, und ebenso sind die Bücher Samuels und der Könige im ganzen prophettsche Geschichtswerke. Werke nichtprophetischen Charatters sind wiedemm die späteren Geschichtsbücher (Chronik, Esra, Nehemia). Der Chronist, welcher nach verschiedenen Quellen sein Geschichtswerk gearbeitet hat, war ebensowenig ein Prophet wie Esra und Nehemia. d. Die Gesetzesreligionist die Grundlage des Christ e n t u m s, und so ist zunächst der Pentateuch auch noch für das Christen­ tum von Bedeutung. Das Gesetz hatte allerdings nur den Schatten der zukünsttgen Güter, aber es hat doch aus die wahren Güter hingewiesen. Das Gesetz ist ferner ein Zuchtmeister aus Christum geworden, indem es Erkenntnis

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2. Die Stellung der neueren Theologie zum Alten Testament.

der Sünde weckte. So beginnt denn Luthers Katechismus mit Recht mit dem Gesetz, und der Unterricht der Jugend in der biblischen Geschichte mit Recht mit dem Alten Bunde, um alsdann erst zu Christus und dem Neuen Bunde emporzusteigen; auch den Christen sollen die reichen Schätze der Weisheit im Gesetz des Alten Bundes erhalten bleiben. Auch die auf den Pentateuch folgenden Geschichtsbücher haben für das Christentum eine nicht geringe Bedeutung. Das NTliche Gottesreich ist ja aus dem des A. T. hervorgewachsen, und so lernen wir aus diesen Büchern bas Walten Gottes in der Entwickelung seines Reiches erkennen; dadurch lernen wir aber auch die Weltgeschichte und die Gegenwart richtig betrachten und beurteilen, und wer ein richtiges geschichtliches Urteil besitzt, der wird auch leichter erkennen, wie er sich den Bewegungen seiner Zeit gegenüber zu verhalten hat; „Gottes Wort ist unseres Fußes Leuchte und ein Licht auf unserm Wege" — auch das Wort Gottes im Mten Testament. Daß auch die l y r is ch -d i d at­ tischen Bücher des A. T., welche uns zeigen, wie die göttliche Offenbarung in das menschliche Geistesleben eingegangen ist und in demselben sich wirksam erwiesen hat, und vollends die prophetischen Bücher tes A. T., in welchen die Offenbarung des N. T. vorbereitet worden ist, auch noch für den Christen von Bedeutung sind, versteht sich von selbst. e. Auch für den Christen ist also das A. T. noch von Bedrutung. Aber nur als eine V o r st u f e des Christentums ist die Religion des A T. der christ­ lichen Gemeinde vorzuführen, nicht als die vollkommene Offenbarung, um die von dieser falschen Auffassung des A. T. unzertrennlicien Gefahren von der Gemeinde fernzuhalten. Aber das A. T. der christlichen Gemeinde darum ganz fernzuhalten, weil es noch nicht die vollkommene Re­ ligion enthält, das ist eine ebenso unrichtige Geringschätzung desselben,, welche auch für das Verständnis des Christentums nachteilig wirken Mrde a).

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Die Stellung der neueren Theologie zum Alten Testaments.

a. Die auf der Lehre von der buchstäblichen Jnspiraüon )er Bibel be­ ruhende ältere Auffassung des A. T., welche heute unter den Männern der Wissenschaft keinen Vertreter mehr besitzt, ist seit der Mitte des IZJahrhunderts allmählich aufgegeben worden; vor der unbefangenen Prüsuxg beir Bibel konnte die alte Jnspirationslehre sich nicht behaupten. Daß auch Xe hebräischen Vokale von Gott eingegeben seien, war eine willkürliche Behapturug; nicht einmal die Konsonanten des A. T. sind uns unversehrt überbfert, und es würde uns darum nichts nützen, wenn sie direkt von Gott hersarnrmüen, da ja Gott nicht für ihre unversehrte Erhaltung gesorgt ixt. Daß der menschliche Verfasser eines biblischen Buches hinter dem göüchen Inhalt desselben nicht ganz zurücktrete, sondern mit seiner Eigentümlhkeit oft ganz deutlich hervortrete, ließ sich nicht mehr leugnen. Daß der Kavn ders 2t. T. nicht von Gott zusammengestellt worden sei, konnte man nist verrkemnen. b. So war es natürlich, daß im Gegensatz zu der älteren Thologie,, welche nur die göttliche Seite des A. T. hervorgehoben hatte, zunächst die *) Genaueres über diese Frage ist in Nr. 5 gesagt. 2) Vgl. Diesel, Geschichte des A. T. in der christlichen Kirche, 1869.

3. Die wissenschaftliche Bearbeitung der Geschichte des Volkes Israel.

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menschliche Seite desselben betont wurde. Die menschliche Entstehung der ATlichen Bücher wurde immer genauer erforscht; die weltliche Geschichte des Volkes Israel wurde immer genauer dargestellt; die Religion des A. T. wurde den anderen Religionen der alten Zeit als gleichartig zur Seite gestellt. Diesem Extrem gegenüber war es berechtigt, wenn eine neuere Richtung (Hengstenberg und andere) zur alten Anschauung vom A. T. zurück­ zukehren versuchte; aber der Versuch, die Ergebnisse der neueren Wissenschaft völlig zu ignorieren, konnte nicht gelingen. Es mußte also versucht werden, unter Anerkennung der menschlichen Seite des A. T. doch die gött­ liche Seite desselben ebenfalls in der rechten Weise zur Anerkennung zu bringen. Mit der Lösung dieser Aufgabe ist die neuere Theologie beschäftigt. o. Von diesem Standpunkte aus erscheint das A. T. zwar nicht mehr als buchstäblich von Gott eingegeben, wie die ältere Theologie meinte, aber als die Urkunde der dem Volke Israel vor Christus zu teil gewordenen Offen­ barung, auf welcher die Religion des Volkes Israel beruht. Die im A. T. enthaltene Offenbarung ist aber noch nicht die vollkommene Offen­ barung, wie die ältere Theologie meinte, indem sie das Christentum auch schon im A. T. nachweisen zu können glaubte, sondern nur die Vorstufe der vollkommenen Offenbarung. Auch ist die ATliche Religion nicht, wie die ältere Theologie meinte, eine zu allen Zeiten gleichartige, sondern sie hat verschiedene Entwickelungsstufen durch­ gemacht, welche in ihrer Aufeinanderfolge dem Christentum zur Vorbereitung gedient haben. Diese verschiedenen Stufen richtig zu unterscheiden und ihre Aufeinanderfolge richtig zu erkennen, ist die Aufgabe der ATlichen Wissenschaft.

3. Die wissenschaftliche Bearbeitung der Geschichte des Volkes Israels. a, Gibt es für die ATliche Wissenschaft gesicherte Ergebnisse? — Vgl. Kittel, Die Alttestamentliche Wissenschaft (1910), S. 1—6. b. Was der Boden Palästinas erzählt2). — Vier im letzten Jahrzehnt un­ ternommene archäologische Expeditionen haben erwiesen, daß Palästina an kulturhistorischen Schätzen eins der allerreichsten Gebiete des alten Orients ist, und daß in den großen Trümmerhügeln des Landes die Reste einer oft viertausendjährigen Geschichte schlafen. Fast überall zeigten sich die von den alten Kanaanitern errichteten Stadtmauern in ihren Fundamenten noch er­ halten, die von den Israeliten vielfach nur ausgeflickt und durch viereckig behauene Quadern ergänzt wurden, während die Kanaaniter noch mit poly­ gonalen Steinen bauten. Auf Gmnd dieser Mauem lassen sich die Städte dieses Volkes, das im dritten vorchristlichen Jahrtausend Palästina zu einem Kulturlande machte, aufs genaueste erkennen und von den späteren israeli­ tischen Ansiedlungen abgrenzen. Durch eine merkwürdige Fügung ist gerade die in dreifachem Gürtel verlaufende Mauer von Jericho, die durch die Er!) Über die in a und b angedeuteten Fragen kann sich der Lehrer orientieren aus den angegebenen Schriften. 2) Tägl. Rundschau 1910, den 20. März, Nr. 133, 7. — Vgl. Kittel, Die orientalischen Ausgrabungen. — Kitt el, Die ATliche Wissenschaft (1910), S. 7—48.

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3. Die wissenschaftliche Bearbeitung der Geschichte des Volkes Israel.

zählung der Bibel so berühmt geworden, am besten erhalten. Innerhalb der Stadtmauern stehen vielfach noch die Hausmauem in einer Höhe bis zu 2 m, und auch der außerordentlich geringe Umfang der Zimmer läßt sich noch fest­ stellen. Die Behausungen selbst sind ebenfalls sehr klein, und selbst die auf­ gedeckten fürstlichen Burgen unterscheiden sich von den andern Häusern nicht durch größere Ausdehnung, sortiern nur durch größere Anzahl der Räumlich­ keiten. In den Häusern wurden zahlreiche Geräte entdeckt, die der Raubgier der Feinde als wertlos erschienen waren und den Feuersbrünsten widerstanden hatten. Vorwiegend haben die Kanaaniter mit Steinwerkzeugen gearbeitet, die auch in israelittscher Zeit noch in Gebrauch waren. Dazu kommen seit dem Jahre 2000 Bronzewerkzeuge und seit dem Jahre 1000 eiserne Geräte. Von Edelmetall hat der Deutsche Sellin nur ein einziges Mal in Taanach den kompletten Goldschmuck eines kanaanitischen Weibes gefunden, die Engländer aber machten in den Gräbern von Gezer reichere Ausbeute. Den wichttgsten Erttag boten die Erzeugnisse der Keramik, Krüge, Teller, Lampen usw., aus kanaanittscher, israelittscher, griechischer, römischer und noch späterer Zeit, die die sicherste Handhabe zur Datterung der betreffenden Kultur­ schichten gaben und durch ihre charatteristischen Dekorationen erkennen ließen, was ausländischer Import und was einheimisches Fabrikat ist. Die Geschichte des Landes offenbart sich in den wechselndes Kulturschichten, aus denen wir ablesen können, wie die Babylonier, Ägypter, Philister Herren des Landes waren, wie die Israeliten um 1000 v. Chr. unter David und Salomo das ganze Gebiet eroberten. Erst um 1000 erheben sich plötzlich in allen bis jetzt ausgegrabenen Städten die ganz charakteristischen israelitischen Burgen. Auch die Religionsgeschichte erhält reichen Gewinn durch die Inschriften, Götterbilder und Kultplätze, die die ganze Religion der Kanaaniter lebendig machen. Neues Licht verbreitet sich über die Entwicklung, durch die aus jener Mischreligion die Religion der Propheten, der geistige Monotheismus, entstand. Seit dem Jahr 1000 etwa schwinden die Göttergestalten von den Siegeln, an den Krügen und Schalen tritt das Farbenprächtige und Bildnerische zurück, Idole, Amulette werden seltener, die Kinderopfer hören auf, bis endlich im fünften Jahrhundert v. Chr. die Krughenkel kein Emblem mehr ttagen, sondern einfach in aramäischen Lettern der Name des Gottes Israels erscheint: „Jahu". c. Eine umfassende kritisch angelegte Geschichte Israels im großen Stile hat zuerst Ewald geliefert *). Auf seinem Werke beruht das Werk von Weber und H o l tz m a n n, welches auch die Entstehung des Chnstentums behandelt2). Den älteren Standpunkt der Bettachtung der Geschichte Is­ raels, welchen früher Hengstenberg, Hofmann und Kurtz verttaten, haben in der Neuzeit noch K ö h l e r in seinem umfassenden Werke3) und Klostermann in seiner kürzeren „Geschichte des Volkes Israel" (1896) vertreten. Welcher Umschwung in der Bettachtung der Geschichte Israels in der neuesten Zeit eingetreten ist (Wellhaus en), wird unten genauer dar­ gelegt werden4); als Werke, welche diesen Standpunkt vertreten, dürften für x) Geschichte des Volkes Israel. 3. Ausl., 1864s. 7 Bde. a) Geschichte des Volkes Israel und der Entstehung des Chnstentums. 1867. 3) Lehrbuch der bib­ lischen Geschichte des Alten Bundes. 4) Vgl. Nr. 4.

4. Die Wellhausen'sche Hypothese.

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den Lehrer namentlich die betreffenden Schriften von R e u ßx), u e it e n2) und Wellhausen') zu nennen sein. Ein für den Lehrer besonders beachtenswertes Buch über die israelitische Geschichte haben wir in der neuesten Zeit von K i t t e l erhalten, welcher dem Lehrer zunächst die grundlegende kritische Untersuchung und danach auch das geschichtliche Ergebnis der Kritik darbietet*). Andere Werke, durch welche der Lehrer eine Vertiefung und Erweiterung des Herher gehörigen Wissens erlangen kann, sind oben genannt worden6).* Daß für den Lehrer eine Kenntnis der Geschichte der anderen orientalischen Völker, namentlich der assyrisch-babylonischen Geschichte, unentbehrlich ist, versteht sich von selbst6).

4. Die Wellhausen'sche Hypothese. A. Der Gegenstand des Streites. In dem historisch-kritischen Prozeß, dem seit länger als einem Jahrhundert die heilige Schrift unterworfen ist, steht seit einem Menschenalter das Alte Testament im Vordergründe, und die kritische Erforschung desselben hat zu wesentlich anderen Ansichten geführt, als sie bisher herrschend waren. Es ist nun ganz natürlich, daß die alte Ansicht nicht sofort von allen Theologen aufgegeben, und die n e u e nicht sofort allgemein angenommen wird, und ebenso natürlich, daß die neueren Ansichten im Laufe der Jahre immer wieder modificiert werden. Es gibt daher heute noch nicht eine allgemein anerkannte Meinung über die Entstehung des A. T. und über die Ent­ wickelung der ATlichen Geschichte. Welches ist nun der Unterschied der alten und der neuen Vorstellung von der Entwickelung des Schrifttums des A. T. und der Geschichte des Volkes Israel? a. Nach derälterenVorstellung vom A. T. gehört das Gesetz, wie es in den fünf Büchern Mosis vorliegt, der Stiftungszeit des Alten Bundes an; der größte Teil der poetischen Schriften gehört den Tagen Davids und Salomos an; die prophetischen Schriften gehören dem letzten Zeitalter der vorexilischen Geschichte und der nächsten Zeit nach der Rückkehr an. Gesetz, Dichtung, Prophetie — das ist nach der älteren Vorstellung die Stufenfolge in den Schriften des A. T. und in der Entwickelung des Volkes Israel. Das Gesetz — und zwar einschließlich des in den mittleren Büchern des Penta­ teuchs vorliegenden Kultusgesetzes — ist also nach der älteren Darstellung die älteste Schöpfung des Volkes Israel; gegen diese Behauptung ist nun bemerkt worden, daß von der Zeit der Richter an bis zum Untergange des Reiches Juda das in den mittleren Büchern des Pentateuchs enthaltene Kultusgesetz nicht beachtet worden ist, weder vom Volke, noch von seinen Führern und großen Männern. Wenn nun die ältereAnschauung (und zwar in Übereinstimmung mit dem Urteil der bibli­ schen Geschichtschreiber: Richt. 2, 6—3, 6 und 2. Kön. 17) das als einen Abfall vom Gesetz ansah, so erklärt dieneuereAnschauung diesen Zustand daraus, daß dies Gesetz noch gar nicht vorhanden war, zumal da der Prophet Jeremias x) Geschichte der heiligen Schriften des A. T. 2) Bolksreligion und Welt­ religion. 1883. 8) Prolegomena zur Geschichte Israels. — Israelitische und Mische Geschichte. *4)* Kittel, Geschichte des Volkes Israel. Zweite Aust. 1909. 6) Vgl. Nr. III. «) Vgl. Nr. III, d. Heidrich, Heilige Geschichte. 3. Ausl.

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4. Die Wellhausen'sche Hypothese.

ausdrücklich sage (K. 7,22): „Ich habe euren Vätern, als ich sie aus Ägypten wegführte, nichts gesagt und nichts geboten in betreff von Brandopfern und Schlachtopfern." b. In demselben Jahre nämlich, in welchem das Leben Jesu von Strauß erschien, im Jahre 1835, erschien auch ein Buch von V a t k e, „Die Religion des Men Testaments," dazu bestimmt, in der Theologie eine große Umwälzung anzu­ bahnen. Aber während das Buch von Strauß s o f o r t das größte Aufsehen erregte, heute aber in der Wissenschaft als überholt angesehen wird, sind die Ansichten von Vatke erst spät und langsam beachtet worden, um h eute mehr und mehr zur Geltung zu kommen, und noch kann von einer Überwindung derselben in der Theologie nicht die Rede sein. Was nämlich Vatke zue r.st behauptet hatte, das ist dann durch die mühsame und eifrige Arbeit anderer Forscher weitergeführt worden, aber nur sehr langsam, und daher erst in der Gegenwart, wirksam geworden. Erst im Jahre 1866 wurde Vatkes Ansicht von Gras aufgenommen und weitergeführt1),* der dazu von R e u ß angeregt worden war, während dieser seine Ansichten erst dar­ legte (1881)2), at§ bereits ein neuer Forscher aufgetreten war, Wellhausen (1878)8), der dieselben in so durchschlagender Weise darlegte, daß diese Auffassung der ATlichen Geschichte seitdem dieWellhausen'schetzypothese genannt wurde. Die bedeutendsten neueren Vertreter derselben sind neben dem Holländer Äucncn4)* und dem Engländer Robertson Smith8) von den deutschen Theologen z. B. Stade8), 6mcnb7), Kautzsch8), und überhaupt die meisten AMchen Forscher. c. Welches ist nun die neue Auffassung von der Ent­ wickelung der Geschichte Israels? Wenn der ganze Pentateuch wirklich, wie die ältere Theologie annahm, ein Werk des Moses wäre, dann wäre das Gesetz wirklich der Anfang der ATlichen Ge­ schichte. Wenn aber, wie im Jahre 1753 zuerst erkannt worden ist9), der Penta­ teuch auf verschiedenen Quellen beruht, wenn im Pentateuch sich offenbar Nichtmosaisches findet, so war es möglich — und das ist durch Vatke im Jahre 1835 zuerst geschehen — zu behaupten, daß das in den mittleren Büchern des Pentateuchs enthaltene Ceremonialgesetz, welches erst durch Esra zur Geltung gebrachr worden ist (444), auch erst in der Zeit des Esra e n t st a n d e n ist. d. Wenn diese Behauptung richtig wäre — und daß sie nicht ganz unrichtig ist, wird heute von allen Forschern zugestanden — dann ergibt sich ein a nd e r e s Bild von der Entwickelung der ATlichen Geschichte, als wir es bisher gehabt haben, ja auch abweichend von dem Bilde, welches die biblischen Geschichtschreiber selber von der Entwickelung ihres Volkes gehabt haben10). Es bleibt auch jetzt dabei, daß mit dem Auftreten Moses' die Gesckichte des Volkes Israel beginnt; aber Moses war zwar der Führer seines Volles, aber ») G r a f, Die geschichtlichen Bücher des A. T. 1866. -) R e u ß, Geschichte der heiligen Schriften des A. T. 1881. 3) Wellhaufen, Geschichte Israels. 1878. Die neueren Auflagen mit dem Titel: Prolegomena zurGefchichte Israels. *) Kuenen, Godsdienst van Israel. 1869 und 1870. Vgl. die deutsche Schrift desselben Verfassers: Bolksreligion und Weltreligion. 1883. 6) R. Smith, Das A. T. 1894. 8) Stade, Geschichte des Volkes Israel 1887s. 7) Smend, ATliche Religionsgeschichte. 1893. 8) Kautzsch, ubersezungdes A. T. ®) Von dem Leibarzt Ludwigs XV. von Frankreich, JeanAstrue. Vgl. Nr. 27. l0) Das wäre aber kein ausreichender Einwand gegen die Richtigbit dieser Annahme, da ja die Bibel kein wissenschaftliches Geschichtsbuch ist, und die Offenbarung nicht geschichtliche Kenntnisse mitteilt.

4. Die Wellhausen'sche Hypothese.

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micht der Urheber des ganzen nach ihm genannten Gesetzes. lEr hat Jehovah zum Gotte seines Volkes gemacht, aber das Ceremonialgesetz stammt micht von Moses her; die Israeliten verehrten Jehovah, aber nicht in der vom Cere­ monialgesetz gebotenen Weise; eine Bundeslade gab es, aber wenigstens die im Penta­ teuch gezeichnete Stiftshütte ist eine historische Fiktion, eine Nachzeichnung des späteren Tempels; alle großen Helden und frommen Männer Israels verehrten Gott in einer vom Gesetz Moses» verpönten Weise. Ja, die Israeliten sind sogar allmählich nicht etwa bloß vom Ceremonialgesetz, wie die ältere Darstellung mit Unrecht annahm, sondern sogar von Jehovah abgefallen, und es war das Perdienst der Propheten, das Volk Israel beim Glauben an Jehovah festzuhalten oder zu demselben zurückzuführen, mnd den Gott ihres Volles mehr und mehr auch als den Gott aller Völler erkennen zu lassen, nicht aber ihre Aufgabe, das Voll zum Ceremonialgesetz zurückzuführen. e. Als nun das Reich Israel zu Grunde ging, da schien es den Propheten nötig, um den Rest des Volles, das Reich Juda, vor dem Untergange zu bewahren, eine Reformation des Kultus vorzunehmen, der bisher nach der Väter Sitte, aber nirgends und niemals nach dem sogen. Gesetz Mosis gehalten worden war. Diese Reformation des Kultus wurde gefordert in dem von einem Propheten ver­ faßten sogenannten fünften Buch Mosis, und verwirklicht von dem König Josia im I. 621. Aber als nun trotzdem auch das Reich Juda seinen Untergang fand, da meinten spätere Propheten (namentlich der Prophet Hesekiel), ihr Voll beim Glau­ ben an Jehovah nur dadurch erhalten zu können, daß sie es durch eine hohe Scheide­ wand von der ganzen Welt absonderten und zu einem ganz besonderen Bolle machten. Das ist erstrebt und erreicht worden durch das Ceremonialgesetz der mittleren Bücher Mosis, welches in der Zeit des babylonischen Exils entstanden und durch E s r a im I. 444 zü allgemeiner Anerkennung gebracht worden ist. Wie ist dasselbe entstanden? f *). Nach der früher herrschenden Ansicht war die Zeit des Exils eine Zeit des Todesschlafes für das Volk Israel; in Wahrheit hat jedoch in dieser Zeit nicht nur eine große litterarische Regsamkeit geherrscht, sondern es fehlt auch nicht an grundlegenden Neuschöpfungen, sowohl der Prophetie als auch der Gesetzgebung. Ja, in dem Propheten Hesekiel, dem Bindegliede zwischen der vorexilischen und der exilischen Zeit, welcher bereits im I. 597 ins Exil abgeführt worden war, stellt sich uns die merkwürdige Erscheinung eines Prophetismus dar, der gesetzgeberisch auftritt und dadurch für die Neugründung des jüdischen Staates als einer „Theo­ kratie" von unermeßlicher Bedeutung wird. Wenn nämlich derjenige Teil seines Buches, welcher hier in Betracht kommt (K. 40—48: die große Vision von der Neu­ gestaltung des Gottesstaates in der messianischen Zeit) dadurch Verwunderung erregte, daß man nicht begreifen konnte, wie er — ein P r i e st e r — darauf verfallen konnte, das als bereits vorhanden angenommene Priestergesetz in ganz andere Formen zu gießen, so gelangt man zu einem ganz anderen Urteil, wenn man, mit Wellhau­ se n das Priestergesetz als noch nicht vorhanden betrachtend, in diesem Abschnitt des prophetischen Buches, nicht eine Umbildung eines vorhandenen Gesetzes, sondern den Grundriß einer erst z u s ch a f f e n d e n Gesetzgebung erblickt. Der ver­ meintliche Stubengelehrte wird dann zum Bahnbrecher für eine neue Ordnung der *) Nach Kautzsch, Abriß der ATlichen Litteratur (Anhang zur Bibelübers., Ausl. 1 u. 2, jetzt nur als Sonderdruck).

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4. Die Wellhausen'sche Hypothese.

Dinge, wie sie allerdings nicht durch ihn, aber inseinemGeiste vom Priesterg e s e tz begründet worden ist. Auch das jüdische Volk ist, wie der Prophet sagt, dem Untergange verfallen, weil es trotz des im I. 621 erhaltenen Gesetzes in die schwersten Sünden verfallen ist. Die Wiederherstellung des Staates muß in Formen erfolgen, welche die Wiederkehr solcher Greuel für immer ausschließen; „Heiligkeit" muß der Charakter des neuen Gottesstaates werden, damit er nicht aufs neue zu Grunde gehe. Diese Heiligkeit ist zu sichern durch eine Reihe von neuen Ordnungen für das neue Gottesreich, durch ein Ceremonialgesetz, wie eg bis dahin noch nicht vorhanden war. Die Grundlinien zu einer solchen neuen Gesetzgebung liegen in K. 40—48 des Hesekielschen Buches vor. Was Hesekiel e r st r e b t hat, ist nachmals verwirklicht worden, zuerst in dem sogen. Heiligkeitsgesetz (3. Mose 17—26), dann in umfassender Weise im Priestergesetz; die Geistesverwandtschaft des Heiligkeitsgesetzes mit der Predigt Hesekiels ist eine derartige, daß dieser Prophet von namhaften Kritikern geradezu für den Verfasser des Heiligkeitsgesetzes gehalten worden ist; andrerseits ist dasselbe mit dem Priestergesetz so verwandt, daß es nicht mit Unrecht zu demselben gerechnet wird. Jedenfalls sind im P r i e st e r g e s e tz die Grundgedanken Hesekiel's bis zu ihren letzten Konsequenzen verfolgt und ausgebaut worden. g. Daß nun das Priestergesetz schon seit alter Zeit existiert habe, könnte nur behauptet werden, wenn man die Annahme nicht scheute, daß kein Mensch, auch nicht die geistlichen Leiter des Volkes, in der älteren Zeit etwas von ihm gewußt habe; daß auch der König Josia dasselbe nicht gekannt habe — denn sonst hätte er doch nicht das Deuteronomium, sondern das Priestergesetz eingeführt; daß auch Hefe­ kiel dasselbe nicht gekannt habe — denn sonst hätte er doch nicht ein n e u e s Gesetz entworfen. Dagegen stellt sich uns alles in bester Ordnung und wie selbstverständlich dar, wenn wir die Kodifikationen des Gesetzes in der Reihenfolge: Bundesbuch, Deuteronomium, Hesekiel K. 40—48, Heiligkeitsgesetz, Priestergesetz, entstanden denken; das Priestergesetz war in der schriftlichen Ausgestaltung der Lebensordnungen für das Volk-Israel das letzte Wort. Nunmehr war erst die eigentlich jüdische Religion, wie sie wesentlich noch heute besteht, entstanden, beruhend auf einem als von Gott diktiert angesehenen Buche, aufrechterhalten durch die Priester und Schrift­ gelehrten. h. So ist also nach der neueren Darstellung der Geschichte des Volkes Israel das Gesetz nicht der Anfang, sondern das Ende der Wege Gottes mit diesem Volke; das Gesetz ist, wie der Apostel Paulus sagt, „zwischeneingekommen" zwischen die Weissagung der Propheten und die Erfüllung in Christus. Wenn die ältere Darstellung den Gang der Entwickelung bezeichnete durch die Stufenfolge „Gesetz und Propheten", so heißt es in der n e u e r e n Darstellung „Propheten und Gesetz". i. Der Gegensatz der neueren Anschauung von der Entwickelung der Wichen Geschichte zu der älteren Anschauung zeigt sich also vornehmlich in folgenden Punkten. Nach der älteren Anschauung istMosesderGesetzgeberJsraels, und die ganze Gesetzgebung, wie sie in den Büchern Mosis vorliegt, ist (wenigstens wesentlich) als sein Werk anzusehen. Nach der neueren Anschauung ist das Gesetz, wie es uns in den Büchern Mosis vorliegt, mix allmählich entstanden, und ins einer jetzigenGestaltistdas Gesetz ein Produktdes Ausgangsder israelitischen Geschichte.

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4. Die Wellhausen'sche Hypothese.

Nach der älteren Anschauung ist Moses im Volke Israel derBegründer desMonotheismusd.h.der Verehrung eines als a l l e i n existierend gedachten Gottes. Nach der neueren Anschauung ist Moses zwar der Begründer der israeli­ tischen Religion, aber der vonMoses verkündete Gottistzwarder einzige Gott für das Volk Israel, aber nicht der einzige Gott für die ganze Welt;dieanderenVölkerhabenauchandereGötter, welche nicht Gebilde ihrer Phantasie sind, sondern in Wirklichkeit existieren. Nach der älteren Anschauung liegt die Hauptbedeutung der Pro­ pheten in der Verkündigung des vollkommenen Gottes­ reiches. Nach der neueren Anschauung, welche ihnen diese Bedeutung nicht ab­ spricht, ist als das Werk der Propheten vornehmlich die Ver­ geistigung und strenge Durchführung des Monotheismus anzus eh en; erst durch die Propheten ist Jehovah als der wirklich einzige Gott für alle Völker erkannt worden. B.

Wellhausen und seineGegner.

„Wenn man beim ersten Auftreten dieser Hypothese, aber auch noch bei ihrer Wiederaufnahme durch Graf und Wellhausen, in derselben nur ein haltloses Luftgebilde leichtfertiger Hyperkritik gesehen hat, so ist dieses Urteil heute nicht mehr möglich. Nach der vielfach glänzenden Verteidigung, immer aber eingehenden Be­ gründung, welche sie besonders durch Wellhausen und K u e n e n erfahren hat, wird ein besonnenes Urteil zugeben müssen, daß es wirkliche und teilweise schwer­ wiegende Gründe sind, welche für jene Anschauung ins Feld geführt werden. Vor allem ist es die Geschlossenheit und Rundung des Bildes von der israelitischen Re­ ligionsgeschichte, wie sie hier gewonnen zu werden scheint, welche einen bestechenden Einfluß auszuüben im stände ist. Die strenge Scheidung der Perioden, welche durch diese Hypothese ermöglicht wird; die ebenmäßig fortschreitende Entwickelung des Geschichtsverlaufs, wie sie unter diesem Gesichtswinkel vor uns auftaucht; die einfache Erklärung der künstlichen Systematik und des vielfach gewiß nicht streng geschicht­ lichen Idealbildes in der Priesterschrift, wie sie durch jene Annahme dargeboten wird — das alles gibt in der Tat zu denken."1) „Nicht bloß eine mehr oder minder geistvoll erfundene Hypothese, sondern eine auf wissenschaftlichen Forschungen begründete, nach einheitlichem Gesichtspunkt geord­ nete, streng gegliederte, systematisch aufgebaute, mit bewunderungswürdiger Konse­ quenz durchgeführte Geschichtskonstruktion ist es, die uns Wellhausen darbietet, die von seinen Schülern und Anhängern weiter ausgebaut wird. In drei von einander gesonderten Entwickelungsschichten verläuft nach dieser Theorie die Geschichte des vorexilischen Israels, welche einerseits in den Gesetzen und Institutionen, andrerseits in den Geschichtsdarstellungen der Bibel nachzuweisen sind." 2) Wie in der Tat in den Gesetzen und Institutionen sich eine Entwickelung und in den Geschichtsbüchern sich ein verschiedener gesetzlicher Standpunkt erkennen läßt, wird unten dargelegt werden. b. Wenn nun die Wellhausen'sche Hypothese allmählich immer mehr Anklang gefunden hat, so daß heute die meisten ATlichen Forscher auf dieser Seite stehen und selbst entschiedene Gegner derselben (Delitzsch) wenigstens das Hauptergebnis x) Kittel, Gesch. der Hebr. erste Aufl. I, (5.90. aussetzungen der Wellhausenschen Theorie. 1896.

2) Pfeiffer, Vor­

4. Die Wellhausen'sche Hypothese.

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dieser Hypothese (die Entstehung des Priestergesetzes nach betn Deuteronomium) als richtig anerkannt haben, so stehen doch auch noch neuere Forscher dieser Hypo­ these entweder' gänzlich (z. B. Klo ste rmann) *) oder wenigstens in wesentlichen Punkten ablehnend (z. B. O e t t l i)2) gegenüber. Kittel äußert sich in seiner neusten Schrift über die Wellhausen'sche Frage in folgender Weise8). „Über Siegesfanfaren Übereiftiger, etwa der Art, Wellhausen's Theorie liege in den letzten Zügen oder sei tot, kann man zur Tagesordnung übergehen. Die Wissen­ schaft vom A. T. ist Wellhausen mehr Dank schuldig als sonst einem unter den Leben­ den. Aber seine Theorie vom Pentateuch hat sich in der von ihm vertretenen Form nicht als haltbar erwiesen. Wir verfügen heute über eine Menge früher unbekannter Tatsachen, und diese haben der Meinung der damals Zurückhaltenden in der Haupt­ sache recht gegeben. Zwar als G a n z e s gehört der Priesterkodex der exilischen und nachexilischen Zeit an, aber es war bei nicht wenigen Partieen dieses Gesetzes ein Irrtum, sie nicht bloß ihrer Redaktton, sondern auch ihrer Substanz nach der späteren vorexilischen Zeit absprechen zu wollen. Wie bei anderen Völkern und an ihren Heiligtümern, so sind auch in Israel die gottesdienstlichen Angelegenheiten schon früh streng geregelt, und gewiß auch schon früh schriftlich aufgezeichnet worden." c. Es wird nun für die weitere ATliche Forschung, wenn wir hier von den principiellen Fragen absehen, namentlich darauf ankommen, zu allgemeiner Anerkennung zu bringen, was vom Gesetz, speciell vom Kultusgesetz, schon vor dem Exil in Übung gewesen und schriftlich fixiert gewesen ist, und wie und wann sich das Gesetz zu der abschließenden Gestalt entwickelt hat, in welcher es seit dem Jahre 444 durch Esra zur Anerkennung gebracht worden ist. Erst nachdem dies geschehen ist, wird für die wissenschaftliche Darstellung der ganzen ATlichen Geschichte wieder ein fester, allgemein anerkannter Boden gewonnen sein, der heute noch vermißt wird. C.

Wellhau sensHypotheseunddie Schule.

Wenn gegenwärtig das A. T. in der Wissenschaft sehr verschieden angesehen wird, so wird diese Verschiedenheit der wissenschaftlichen Darstellung auch für den Unterricht nicht ganz einflußlos sein. Aber so lange auf die wissenschaftliche Frage (besonders auf die Wellhausen'sche) nicht eine allgemein anerkannte Antwort gegeben ist, darf und soll nach meiner Meinung die Schule bei der älteren Darstellung bleiben, welche das Gesetz den Propheten voranstellt. Ja, selbst wenn Wellhausens Ansicht einmal allgemein als richtig anerkannt würde, darf und kann die Schule nicht, wie man gefordert hat, die einzelnen Gesetzesgruppen da behandeln, wo sie geschicht­ lich hingehören4). Die Schule hat es mit dem vorhandenen, die Wissen­ schaft mit dem entstehenden Gesetz zu tun; daß das Gesetz vor Esra noch nicht in voller Geltung gewesen ist, in dieser Hauptsache sttmmen alle Forscher überein; ob aber die Frommen der älteren Zeit vom Gesetz mehr oder weniger ab­ gewichen sind — das war zwar für die biblischen Darsteller der israelitischen Geschichte eine sehr wichtige Frage, welche ihren Zeitgenossen einen Spiegel der Ver*) Geschichte des Volkes Israel. 1896. *) Der gegenwärtige Kampf um das A. T. 1896. -) Kittel, Die ATliche Wissenschaft (1910), S. 578. und Kittel, Gesch. des Volkes Israel, 2. Aufl., II, 525, Anm. 1. 4) Gegen Schmid, Der ATliche Religionsunterricht im Obergymnasium Progr. von Schönthal, 1888; mit Hollenb erg, Progr. von Bielefeld, 1889.

5. Das Alte Testament in der Schule.

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gangenheit vorhielten, um sie zur Befolgung des Gesetzes zu ermahnen, aber nicht mehr in demselben Grade für uns, namentlich nicht für die Schule, die wir ja durch die Lektüre der ATlichen Schriften nicht mehr zur Befolgung des Gesetzes Mosis ermahnt werden, sondern in der Entwickelung der ATlichen Geschichte die Vorbereitung des Neuen Bundes erblicken, so daß für uns imA. T. die P r o p h e t e n eine größere Bedeutung haben, als das Gesetz. Der Lehrer mag daher das Gesetz entweder, wie hier nach der älteren Darstellung geschieht *), b o x den Propheten, oder, wie die neuere Darstellung fordert, nach den Propheten behandeln — für den Schüler tritt dasselbe jedenfalls zurück hinter den Propheten, an welche Christus unmittelbar angeknüpft hat.

5. Das Alte Testament in der Schule *)♦ a. Das Alte Testament hat zunächst eine Bedeutung für sich selber, und es ist die Aufgabe der Wissenschaft, zunächst diese Bedeutung darzulegen. Aber für die christliche Gemeinde und besonders auch für die Schule ist doch das A. T. nicht um seiner s e l b st willen von Bedeutung, sondern als Grundlage des NeuenTestaments, welches ohne das A. T. nicht richttg verstanden und nicht richttg gewürdigt werden kann. Denn wenn schon unendlich viele E i n z e l h e i t e n des N. T. die Kenntnis des A. T. voraussetzen, so ist es völlig unmöglich, den Entwickelungsgang der Offen­ barung zu erfassen ohne die Kenntnis des A. T.; was Christus gebracht hat, ist ja nur die Vollendung dessen, was Mosesunddie Prophe­ tenbegründet haben; Christus ist, wie er selber gesagt hat, gekommen, um „das Gesetz und die Propheten zu erfüllen", d. h. um die Religion des A. T. zur Vollendung zu führen. Und wenn man nun den Wert des Christen­ tums erkennen will, so ist das erst recht unmöglich, wenn man das A. T. nicht kennt. Es ist also eine arge Übertreibung*3),2 wenn man in der neueren Zeit das A. T. aus Kirche und Schule fast zu verdrängen gesucht hat; das ist sowohl unmöglich, wie auch, wenn es möglich wäre, schädlich, da ohne das A. T. ein richtiges Verständnis und eine rechte Würdigung des N. T. unmöglich ist4).* Nur d as ist an dieser Behauptung richtig, daß die H a u p t s a ch e für den Christen das N. T. ist, und daß das A. T. in der Schule stets im Zusammen­ hange mit dem N. T. zu betrachten ist. Wenn der Unterricht diesen Forde­ rungen nicht immer ganz gerecht geworden ist, so entsteht dadurch weniger Schaden, äls wenn das A. T. der Schule (und damit ja auch der Gemeinde) ganz ferngehalten würde. b. Welches ist denn der Wert des A. T. für den Christen?^ *) Daß der Lehrer an diese Darstellung nicht gebunden ist, versteht sich von selbst; wie der Lehrer die Unterrichtsstoffe gruppiert, ist feine Sache. 2) Kittel, Die ATliche Wissenschaft mit Berücksichtigung des Religionsunterrichts dargestellt. 1910. 8) Vgl.: Das Judenchristentum in der religiösen Bolkserziehung des deutschen Protestantismus. 1893. (Der Verfasser dieses Buches ist der Oberpfarrer Katzer in Löbau in Sachsen.) Dazu vgl. der Lehrer das Programm von B o e h m, Das A. T. im evang. Religionsunterricht. Berlin 1895, Nr. 115. 4) Das N. T. zu verstehen und würdigen ohne Kenntnis des A. T. ist ebenso un­ möglich, wie das Verständnis und die Würdigung Luthers ohne Kenntnis der katho­ lischen Kirche. 6) Baleton, Vergängliches und Ewiges im A. T. 1895.

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5. Das Alte Testament in der Schule.

Wenn es auch nicht unmöglich ist, Christum zu verstehen und zu verkündigen, ohne viel vom A. T. zu kennen, so entgeht doch demjenigen, der das A. T. nicht kennt, gar manches, was auch für das Christentum von Wichtigkeit ist. Zunächst leitet das Studium des A. T. an zur Erkenntnis der Wege Gottes in der Geschichte, so daß das Christentum als das Ziel der Wege Gottes mit der Menschheit erkannt wird. Nicht unvermittelt ist das Christentum der Menschheit zu teil geworden, sondern durch eine lange und oft verschlungene Geschichte ist die Menschheit, vor allem aber das Volk Israel hindurchgegangen, ehe ihm die vollkommene Offenbamng Gottes in Christus zu teil ge­ worden ist. Wer diese Wege in der Geschichte Israels begreifen lernt, der wird aus dem A. T. einen Blick für die geschichtliche Entwickelung der Mensch­ heit zunächst in der Vergangenheit gewinnen, aber er lernt dadurch auch auf die geschichtliche Entwickelung der C h r i st e n h e i t achten und die Wege Gottes in der Gegenwart würdigen und verstehen. Aber auch die Predigt Jesu lernt man erst tiefer verstehen aus dem A. T.; Jesu eigene Frömmigkeit wurzelte ja im A. T., und was er über das A. T. hinaus gelehrt hat, das hat er doch angeknüpft an das A. T. Wenn er die Menschensatzungen der Pharisäer bekämpft, so tut er das im Anschlüsse an das A. T. Wenn er die im A. T. g e st a t t e t e Ehescheidung be! ämpft. so tut er das im Anschluß an die Schöpfungsgeschichte des A. T. Ale Begriffe und Lehren des N. T. haben ihre Grundlage im A. T.; Jesus hat die im A. T. selbst vorhandene Entwickelung der Frömmigkeit zu der im A. T. selbst er­ sehnten Vollendung geführt. Und was für eine Bereicherung unserer Menschenkenntnis gewährt uns das A. T.! Eine solche gewinnt man nicht bloß aus der Betrachtung der ge­ schichtlichen Personen des A. T. (wobei es ganz gleichgültig ist, ob die­ selben wirklich geschichtliche Personen sind oder vielleicht nicht), sondern ebenso aus der Betrachtung der namenlosen Dichter und Propheten des A. T., in deren Herz uns ihre Schriften hineinblicken lassen. Gerade an d i e s e n Män­ nern, welche doch zum Teil noch nicht viel von Gott gewußt haben, kann man lernen Gott suchen und auf ihn harren und an ihm festhalten, auch wenn man die Wege Gottes nicht versteht, und so wird auch der Christ durch das Studium der Führungen und der Reden der frommen Männer des A. T. in seiner Fröm­ migkeit gefördert. Aber auch für die Beurteiulng der anderen Menschen kann man aus dem A. T. viel lernen. Wenn der Pastor das A. T. kennt, dann wird er manches Glied seiner Gemeinde milder beurteilen, wenn demselben noch vieles im Glauben und Leben mangelt. Wenn der Lehrer das A. T. kennt, dann wird er von seinen Schülern nicht verlangen, daß sie durch seinen Unterricht vollkommene Christen werden, sondern auch über einen schwachen Anfang des Glaubens sich freuen. c. So hat das A. T. für Kirche und Schule noch heute eine große Be­ deutung, und wir wären töricht, wenn wir dasselbe unbeachtet ließen. Aber wenn das A. T. auch der C h r i st e n h e i t erhalten bleiben soll, so darf das­ selbe von uns nicht so angesehen werden, wie von den Juden. Wenn die späteren Juden als das Hauptstück des A. T. das G e s e tz betrachteten, so stellte Paulus die Verheißung über das Gesetz, und der Christ findet mit Recht in den Propheten und in den Psalmen mehr von Christus

5. Das Alte Testament in der Schule.

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als im Gesetz. Es war also eine falsche Meinung der jüdischen Schriftgelehrten, daß alle anderen heiligen Schriften nur als eine Auslegung des Gesetzes zu betrachten seien, weil im Gesetz die vollkommene Offenbarung Gottes vorhanden sei; der Christ sieht im Gesetz nur den A n f a n g der Offenbamng; die Propheten stehen über dem Gesetz, und erst in Christus ist die Vol­ lendung der Offenbamng erschienen. Damm ist es ganz richtig, daß (wie es jetzt meist geschieht), die Worte des A. T. nur insoweit von uns beachtet werden, als sie mit dem N. T. über­ einstimmen, und daß manche Teile und Abschnitte desselben zurücktreten und im Gottesdienst und bei der häuslichen Erbauung kaum benutzt werden. Die einzelnen Satzungen des mosaischen Kultus, manche Helden und Geschichten des israelischen Volkes, manche Lieder des Psalters und manche Abschnitte der Propheten stehen der vollkommenen Offenbamng Gottes so fern, daß sie für den gewöhnlichen Christen keine Bedeutung haben. Dagegen wird an den meisten Psalmen, an vielen Reden der Propheten und vielen Helden­ gestalten und Geschichten des A. T. auch der Christ sich noch erbauen. Auch das A. T. behält für den Christen die ihm von jeher in der Kirche zuerkannte Bedeutung einer Norm für christliches Glauben und Leben, aber nur insoweit, als es übereinstimmt mit der vollkommenen Offenbamng Gottes in Christus, wie sie im N. T. enthalten ist; denn diehöchsteNormzur FeststellungdeswahrenChristentumsistnichtdiePredigt der Propheten, ja nicht einmal zunächst der Apostel, sondern allein die Predigt Jesu Christi, wie sie im N. T. enthalten ist. d. Wenn so das A. T. der Schule und der Kirche erhalten bleiben muß, so ist dagegen zuzugeben, daß der Lehrstoff der Schule hinsichtlich des A. T. vielleicht noch besser ausgewählt werden kann, als dies bisher in der Regel geschehen ist. Von den Geschichtserzählungen des A. T. kann allerdings manche entbehrt werden; dagegen wäre es wünschenswert, daß die prophetischen und die dichterischen Bücher des A. T. der Schule und der Gemeinde etwas näher­ gebracht würden, als dies bisher in der Regel geschehen ist. Diese Fordemngen werden einerseits zu einer Revision der sogen, „biblischen Geschichten" führen, andrerseits für die Gestaltung der „Schulbibel" maßgebend sein müssen. Daß in dem vorliegenden Buche auf diese Fordemngen Rücksicht genommen ist. wird der aufmerksame Leser desselben (wie des demselben entsprechenden ,;Hilfsbuchs") erkennen. e. Wenn aber der Religionslehrer dem Schüler die Frommen des A. T. vorführt, so soll er dieselben nicht als C h r i st e n darstellen, sondem — so weit die Schule sie überhaupt darstellt — in derjenigen Gestalt, welche sie wirklich haben. Wenn sich nun bei der Betrachtung derselben zeigt, daß sie den Anfordemngen des Christentums vielfach noch nicht entsprechen, so wird das den Schüler nur um so dankbarer dafür machen, daß i h m eine höhere Erkenntnis beschieden ist, als den Frommen des A. T.; daß ihm dadurch diese Frommen verleidet werden sollten, ist bei einem vemünftigen Unterricht ebenso wenig zu befürchten, als wenn ihm an anderen großen Männem (;. B. an Lnther oder Friedrich dem Großen) menschliche Schwächen auf-

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5. Das Alte Testament in der Schule.

gewiesen werden; diese Schwächen werden ihn an der Größe der ihm vor­ geführten Männer nicht irre machen. f. Auf welchen Stufen nun das A. T. dem Schüler vorzuführen sei, das ist eine Frage der Methodik, welche verschieden beantwortet worden ist. Ich glaube, daß das A. T. auf j e d e r der drei Stufen des Gymnasiums dem SchAer nahezubringen ist. Das allerdings halte auch ich nicht für richtig, daß auf der Unterstufe (oder sonstwo in der Schule) das A. T. als solches, d. h. losgelöst vom N. T. (ob die Verbindung mit dem N. T. äußerlich oder innerlich hergestellt wird, kommt hier nicht in Betracht), dem Schüler vorgeführt werde, so daß das Christenkind (wie man gesagt hat) erst „die LlTliche Kultur­ stufe durchleben müsse", um erst danach in die Welt des Christentums einge­ führt zu werden; das Christenkind soll im Unterricht s o f o r t in den ch r i st lichen Gedankenkreis eingeführt werden. Wenn auch mancher Christ (wie Paulus: Störn. 7) erst vom Gesetz zu Christus gelangt, so soll der Unter­ richt nirgends das Gesetz, d. h. das A. T., a l l e i n vorführen, sondern stets in seiner Verbindung mit Christus, da doch der Christ nicht beim Gesetz stehen bleiben sott1)Wie nun nach diesen Gmndsätzen auf Gmnd des neuen Lehrplans für die preußischen höheren Schulen der Unterricht im A. T. zu gestalten ist, ist oben dargelegt worden^).

') Flöring, DasA. T. im Religionsunterricht (1895), S. 37 s. -) Vgl. Nr. II.

Erster Abschnitt. Die Geschichte des Volkes Israel von Moses bis Esra. Vorbemerkung. „Es wird im folgenden nicht beabsichtigtl), eine vollständige Geschichte des Volkes Israel zu geben, sondem es sollen nur die Hauptmomente der Geschichte, welche für die Entstehung und Ausbildung der Offenbarungs­ religion, die religiöse Erziehung des Volkes und die Bildung seiner religiösen Erkenntnisse von Wichtigkeit wurden, entwickelt und erläutert werden. Wir brauchen uns deshalb auf das gesamte Detail des biblischen Erzählungsstoffes nicht einzulassen; es genügt, die wichtigsten und geschichtlich sicheren Tatsachen nach chrem Zusammenhange und nach ihrer Bedeutung für die Religion zu überschauen." Dagegen ist es erst die Aufgabe des folgenden Abschnittes, welcher die Religion Israels im Zusammenhange darstellt'), die großen Glaubenswahrheiten, welche sich als Ergebnis der geschichtlichen Entwickelung herausgestellt haben, vorzuführen und zu erklären. Durch die Scheidung der Geschichtsdarstellung von dem Lehrabschnitt wird für den Lehrer, wie ich glaube, eine bessere Übersicht gewonnen, die ihm aber bei der Gruppierung des Swffes für den U n t e r r i ch t durchaus freie Hand läßt. W i e er den Stoff gruppiert, wird von seiner wissenschaftlichen Ansicht über die Entwickelung der israelitischen Religion abhängen. Ob es möglich ist, in der Schule die drei Abschnitte zu einer fortlaufenden Geschichte der israelitischen Religion zu verbinden, lasse ich dahingestellt. In Übereinstimmung mit D i l l m a n n , ATliche Theologie (1895), S. 76. *) In der neuen Bearbeitung ist — ebenfalls in Übereinstimmung mit Dillmann — die Darstellung der Gesetzesreligion mit der der Religion der Propheten und der Dichter verbunden worden.

Erste Periode. Das Volk Israel Ln der Urzeit und im Zeitalter des Moses?) Wie Gott die Israeliten aus Ägypten geführt und durch Moses zu ihnen geredet hat.

Vorbemerkung für den Lehrer. „Die Geschichte der Alttestamentlichen Religion beginnt in den Oberklassen n i ch t mit der Geschichte der Schöpfung (wie in den Unterklassen in der „biblischen Geschichte" des Schülers); die Lehre von der Schöpfung gehört für die Oberklassen in die Glaubenslehre (wo sie auch vom Verfasser dieses Buches behandelt worden ist). Hier beginnt der Lehrer mit einer Einleitung, welche dem Schüler das Volk der Offenbarung, die Religion der Offenbarung und die heilige Schrift, die Urkunde der Offenbarung, vorführt. Darauf folgt, als z w e i t e r Abschnitt, nach einer kurzen Hinweisung auf die Stammväter Israels, die Darstellung der Geschichte des Zeit­ alters Mosis" 2). Dagegen ist die Darstellung der R e li g i o n im mosaischen Zeit­ alter in der neuen Bearbeitung des Buches mit der Darstellung der Predigt der Pro­ pheten und des Inhalts der „Schriften" verbunden worden. In einem dritten Abschnitte findet der L e h r e r zu seiner Orientierung und zur Verwertung beim Unterricht eine genauere Darlegung über die G e schichts­ quellen dieses Zeitalters (Pentateuch und Josua). Dieser Abschnitt ist also nicht dem Schüler vorzuführen, sondern nur für den Unterricht zu verwerten; der Lehrer wird ihn also vor der Darstellung des mosaischen Zeitalters lesen müssen. Was der Schüler von diesen Dingen zu wissen braucht, erfährt er beiläufig2); alles für den Schüler nötige Wissen über die einzelnen ATlichen Bücher dient nur dem rich­ tigen Verständnis der Bücher und der Abwehr von falschen Voraussetzungen bei der Lektüre der Bücher. *) Für diese Periode (und auch noch für die Richterzeit) besitzt der Lehrer der höheren Schule ein treffliches Hilfsmittel in dem Buche: Hilfsbuch zum Verständnis der Bibel, von Mezger. Gotha, Perthes. 2) Schmid, ATlicher Religions­ unterricht, Programm von Schönthal, 1888, Nr. 549. 3) Eine Gelegenheit, diese Frage zu behandeln, findet sich unten bei der Besprechung der Gesetzesreligion; vgl. Nr. 51.

6. Abstammung (und Sprache) des Volkes Israel.

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I. Das Volk der Offenbarung; dir Religion der Offen­ barung; dir heilige Schrift» die Urkunde der Offenbarung.

A. Das Dolk der Gffenüarung. 6. Abstammung (und Sprache) des Bottes Israels. a. Unsere Religion verdanken wir nicht unseren Vorfahren— die alte Religion der Germanen ist vor dem Christentum verschwunden; auch nicht einem andern Volksstamme der Jndogermanen, zu denen ja auch das deutsche Volk gehört2), sondern dem kleinen, aber dämm nicht unbedeutenden Volke Israel, welches nicht zu dem Volksstamme der Jndogermanen, sondem zu dem der Semiten gehört. Unter den acht Stämmen, in welche man heute die Völker nach ihrer Sprache einteilt3), stehen nämlich nicht bloß in der Sprache, sondem auch in der Geschichte diese beiden Stämme, Jndogermanen und Semiten, als die bedeutendsten aller Völker da, auf denen vomehmlich die Bewegung der Weltgeschichte und die Entwickelung der Kultur bemht4); die anderen sechs Sprachstämme gehören den weniger bedeutenden Bölkem an. Das israelitische Volk gehört also einem der beiden bedeutendsten Volksstämme an, dem der Semiten. Die Semiten waren aber in der Urzeit, ebenso wie die Jndogermanen, ein einiger Stamm, wie die Verwandtschaft aller semittschen Sprachen unter einander deutlich zeigt, und erst allmählich haben sie sich, gleich den Jndo­ germanen, in verschiedene Völker zerteilt, als sie ihre ursprüngliche Heimat (die Halbinsel Arabien) verließen und einen Teil von Vorderasien einnahmen (vom Tigris bis zum Mittelmeere — vielleicht etwa um 2000 v. Chr.). Man spricht aber zunächst von Ostsemiten und Westsemiten, indem man annimmt, daß der Urstamm sich zunächst in zwei Teile geteilt habe; aus diesen beiden Teilen sind dann allmählich die einzelnen semittschen Völker entstanden6). Zu den Ostsemiten gehören die Babylonier und die Assyrer, von denen in vorhiswttscher Zeit die Ägypter (und die Abessinier) ausgegangen sind. Zu den W e st s e m i t e n gehören die Kanaaniter (Phönicier, Hebräer, Moabiter), die Aramäer und die Araber.

Von diesen Völkern sind im Mertum die Babylonier, die Assyrer und die Phönicier von Bedeutung gewesen: das Volk Israel gewinnt eine Bedeutung für die W e l t erst im Christentum; 600 Jahre nachher wird durch Mohammed das Volk der Araber zum weltgeschichtlich bedeutenden Volke, und der Islam, obwohl jetzt nicht mehr bloß die Religion semittscher Völker (die Türken z. B. sind keine Semiten), hat neben dem Christentum seine Bedeutung bis auf den ') Über dieSprachedes Volkes Israel ist in dieser Auflage unten (Nr. 14 A, das Nötige gesagt. 2) Inder, Perser — Griechen, Italer, Kelten — Germanen, Slawen. 3) Vgl. Guthe, Geogr. I, § 35. 4) Vgl. Nr. 7. 5) Bisher teilte man die Semiten in Nordsemiten (Assyrer, Aramäer, Hebräer und Phönicier) und Südsemiten (Araber und Äthiopier).

II)

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7. Die Religion des Volkes Israel rc.

heutigen Tag behalten1). Für uns kommt hier nur das Volk Israel in Be­ tracht, andere (sowohl semitische, als auch nicht-semitische) Völker nur insoweit, als sie in Israels Geschichte eingreifen. b. Die hebräische Sprache: Nr. 14, A, II.

B. Die Religion der Gffenbarung. 7. Die Religion des Volkes Israel und die weltgeschichtliche Bedeutung Israels. 5. Mose 4, 5—14 u. 32—40. Ps. 42 u. 43. Hebr. 112). a.*) Me Kulturvölker Europas stammen von einem UrVolke ab, den Ariem oder Jndogermanen, dessen Heimat die Vorfahren der einzelnen Völker in grauer Vorzeit verlassen haben, um fortan getrennte Pfade zu wandeln. Bei ihrem ersten Auftreten in der Geschichte unterscheiden sich aber die einzelnen europäischen Völker schon so sehr von einander, daß nur noch die vergleichende Sprachforschung ihre ursprüngliche Einheit zu erweisen vermag. Diese Wissenschaft zeigt uns nun auch, was schon das Urvolk an Kultur­ gütern besaß, und was sich erst die abgetrennten Zweige desselben auf ihrer Wandemng oder in ihren späteren Wohnsitzen erworben haben. Das Urvolk der Arier oder Jndogermanen lebte aber in einem von Ge­ birgen umschlossenen Binnenlande, fern vom Meere, als ein Hirtenvolk, un­ bekannt mit dem Ackerbau, mit den Metallen, mit dem städtischen Leben, kurz, mit der höheren Kultur. Während nun dieses Volk noch auf dieser niedrigen Kulturstufe verharrte, hatte ein anderes Volk in einem günstiger gelegenen Erdraume schon gewaltige Fortschritte in der Kultur gemacht. In der Ebene zwischen Euphrat und Tigris hat nämlich ein turanischer Stamm, im Norden Akkader, im Süden Sumerer genannt, als der Erstgeborene des vorderasiatisch­ europäischen Kulturkreises, eine höhere Kultur begründet, welche von ihnen auf die Babylonier, von diesen einerseits auf die Ägypter, andrerseits auf die Westsemiten und die Europäer übertragen worden ist. Dem akkadisch-sumerischen Volke verdankte zunächst das Volk der Babylonier, das sich zuerst die Kultur desselben angeeignet hat, den Ackerbau, den Gebrauch der Metalle, den Städtebau, die Schiffahrt und den Handel, wie auch Schrift, Maß und Gewicht. Ehe Babylon unterging, ward für die Menschheit gerettet, was bleibend Wertvolles in seinen Mauem geschaffen worden war. Schon im 4. Jahrtausend vor Chr. muß ein Verkehr zwischen Babylon und Ägypten bestanden haben, durch welchen die babylonische Kultur nach Ägypten gebracht wurde; aber der wahre Erbe der babylonischen Kultur ist der Indo germ a n e geworden. Die Bab ylonier haben im Anschluß an die Akkader und Sumerer die höhere Kultur geschaffen, die Phönicier haben dieselbe den Jndogermanen übermittelt; die Jndogermanen aber *) Vgl. Nr. 7. *) Auf die Lektüre dieser Abschnitte wird der Lehrer nur dann eingehen, wenn die Zeit es gestattet. 3) Vgl. Hörnes, Urgeschichte der Mensch­ heit (Stuttgart, Göschen, M. 0,80), Nr. 6: Arier und Semiten.

7. Die Religion des Volkes Israel rc.

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haben dieselbe in einem so hohen Grade weiterentwickelt, daß sie die eigent­ lichen Träger der weltlichen Kultur geworden sind und in dieser Beziehung die Semiten weit überflügelt haben. b. Zu den semitischen Vollem, welchen die Jndogermanen ihre höhere Kultur verdanken, gehört nun auch das VolkJsrael. Dasselbe spielt unter den Semiten, wie überhaupt unter den Völkem des Mertums, äußer­ lich angesehen, nur eine unbedeutende Rolle; im Staate haben die Israeliten es niemals zu einer der athenischen oder der römischen auch nur im entfemtesten ähnlichen Verfassung gebracht; eine Weltherrschaft haben sie niemals geübt, in Kunst und Wissenschaft stehen sie hinter den andem Völkem des Mertums zurück. Wer was die heutige Menschheit dem Genius von Griechenland und Rom verdankt, das ist — wie hoch wir es auch mit Recht schätzen — doch für die ganze Menschheit weniger wichtig, als das, was sie dem Volke Israel verdankt; denn der mächtigste Hebel der Kultur, wenigstens derjenige, welcher die Menschheit am sichersten vorwärtsbringt und ihr den höchsten Gewinn schafft, ist die Religion, und unsere Religion verdanken wir dem Volke Israel. Während die andem Völker dem Polytheismus verfallen und ihre Religionen schließlich zu Gmnde gegangen sind, chat das Volk Mrael den Glauben an den einen Gott festgehalten, obwohl es damit Jahrtausende allein stand in der ganzen Welt. Und aus diesem Volke ist nun, als die Zeit erfüllet war, das Christentum hervorgegangen, die eine der drei Weltreligionen, welche nach unserer Meinung schließlich nicht bloß die anderen weniger bedeutenden Reli­ gionen, foniiem auch die beiden anderen Weltreligionen überwinden wird. Die eine derselben, der Buddhismus, ist eine Schöpfung eines indogermani­ schen Volkes, der Inder; die andere, der Islam, ist eine Schöpfung eines den Israeliten verwandten Stammes, der Arabers. Unter den drei Weltreli­ gionen sind also zwei, damnter das Christentum, Schöpfungen der Semiten, nur eine ist die Schöpfung der Jndogermanen. So gleicht sich also der Mangel reichlich aus, den die Semiten gegenüber den Jndogermanen hin­ sichtlich ihrer weltgeschichtlichen Leistungen zunächst aufweisen. o. DerGlaubeandeneinenGott — das ist das große Gut, welches Israel vor den anderen Völkem voraushatte; „mit dem Volke Israel kann sich kein anderes Volk vergleichen" — so klingt es durch die ganze Bibel hindurch (5. Mose 4, 5—14 u. 32—40); nach Gott „dürstet des Israeliten Seele" (Ps. 42 u. 43); der Israelit bekennt (Ps. 73, 25): „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde". Es war ein echt semitisches Wort, als Augustinus, ein Jndogermane, bekannte: „Du hast uns zu dir ge­ schaffen, o Herr, und unser Herz ist unmhig, bis es Ruhe findet in dir". So ist Israel ein Volk des Glaubens (Hebr. 11); der Glaube ist aber „eine ge­ wisse Zuversicht des, das man hoffet, und nicht zweifeln an dem, das man nicht siehet". „In Gott lebt und webt und ist" der Israelit; B e w e i s e für das Dasein Gottes braucht er nicht, und die Bibel kennt sie nicht. Wenn die Jndogermanen die Philosophie hervorbringen, welche Gott aus der Natur und der Geschichte zu erkennen sucht, so ist die Schöpfung Israels die ‘) Es ist wohl eine richtige Bemerkung (Rena n), daß bei den Semiten über­ haupt (nicht bloß bei den Israeliten) der religiöse Geist sich kräftiger entwickelt hat, als bei den Jndogermanen; das ganze Leben ist bei ihnen der Religion untergeordnet.

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8. Die israelitische Religion im Verhältnis rc.

Prophetie, welche Gottes Walten in der Welt unmittelbar schaut; Israel ist das Volk des Glaubens. d. Daß nun die Israeliten an Gott geglaubt haben, bemht auf der O f f e n barung Gottes, die ihnen, wie allen Menschen zu teil geworden ist; denn alle Religion beruht auf Offenbarung, und ohne daß er sich offenbart, kann Gott überhaupt nicht erkannt werden. Aber wenn nun die Heidenwelt nur w e n i g von Gott erkannt hat, während das Volk Israel allmählich eine viel vollkommenere Religion erhalten hat, so bemht das auf der größeren Empfänglichkeit der Israeliten für die Offenbamng Gottes; die andern Völker haben über der Natur den Herrn der Natur übersehen und vergessen. e. Jahrtausende hatte nun Israel den anderen Völkem fremd gegenüber­ gestanden; da kam das Christentum, und nun begann die segensreiche Ver­ bindung der Völker einzutreten, durch welche der Glaube an den wahren Gott zum Eigentum aller Völker werden sollte und wurde; das H e il für die Welt kam durch Christus von den Juden. Aber auch die Geistes­ schöpfungen der anderen Völker gingen nicht verloren; sie wurden ein Eigen­ tum auch der Christenheit. Und so haben wir denn heute eine Kultur, welche die Schöpfung Israels mit denen der anderen Völker verbindet, und daß diese christliche Kultur unserem Volke erhalten bleibe, das muß in unserem eige­ nen Interesse unser Wunsch und unser Streben sein; ein Volk ohne Bildung fällt der Barbarei anheim, und ein Volk ohne Religion geht sittlich und äußer­ lich zu Grundes.

8. Die israelitische Religion im Verhältnis zu den andern Religionen des Altertums *)♦ a. Das eigentümliche Wesen der israelitischen Religion besteht zunächst im Glauben an einen Gott, der von der Welt verschieden ist und von dem die Welt abhängig ist. Zwar findet sich auch im Heidentum dieser Glaube, aber nur der Mono­ theismus Israels (allerdings erst in der späteren Zeit) schließt alle Untergötter ent­ schieden aus und betrachtet Gott als den unbedingten Herrn der Welt. Die andern Religionen des Altertums verkünden viele Götter, indem in ihnen die verschiedenen Naturkräfte zu besonderen Göttern geworden sind. Zwar streben ja auch diese Reli­ gionen vielfach einem Monotheismus oder wenigstens Henotheismus8) zu, aber die Gottheit bleibt auch dann eine Naturmacht, nicht eine sittlicheMacht. Allerdings ist in der Religion der Perser der gute Gott eine sittliche Macht, aber ihm steht ein böser Gott gegenüber. Da nun die Gottheit im Volke Israel nur eine ist und x) Diese Gedanken über die Bedeutung des Volkes Israel gewinnen wir heute zunächst aus der Betrachtung der Weltgeschichte; aber dieselben sind auch der Bibel nicht fremd, sondern in der Erzählung von Noahs Söhnen enthalten (1. Mose 9, 26—27). Diese Stelle ist unten in anderem Zusammenhange erklärt (Nr. 77, 3, A); der Lehrer mag erwägen, ob er etwa auch hier auf die Besprechung derselben eingehen will. 2) Die Abschnitte Nr. 8—9 (eine weitere Ausführung der in Nr. 7 enthaltenen Gedanken) sind zunächst nur für den Lehrer bestimmt; auf die in den­ selben enthaltenen Gedanken in der Schule einzugehen, bleibt der Prima vorbehalten; vgl. Glaubensl. Nr. 31. 3) D. h.: Der Betende ruft nur einen Gott an, und dieser ist ihm in diesem Momente der e i n e Gott.

9. Die Offenbarung Gottes in der Geschichte der Menschheit.

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die ganze Welt ihr untertänig gedacht wird, so hat die israelitische Religion bereits die Anlage in sich, zur Weltreligion zu werden, obwohl sie zunächst nur Volksreligion ist. Und der e i n e Gott, an den das Volk Israel glaubt, ist nun auch ein h e i l i g e r Gott, welcher vom Menschen sordert, daß er ebenfalls heilig werde, und so ist die Religion Israels eine sittliche Religion. Die Götter der Griechen und der Römer sind nicht sittliche Mächte, sondern Natur mächte, und dämm sind sie zwar mächtig, aber nicht heilig. Die Sittlichkeit dieser Völker erstrebt das Menschen­ würdige, die Humanität, aber als sittlich und menschenwürdig gilt alles Natürliche. Und zwar strebt nun der Grieche nach harmonischer Ausgestaltung des natürlichen Lebens für den einzelnen Menschen; der Römer dagegen ordnet sein Leben dem Wohl des Staates unter. Mer weder Schönheit noch Staat sind die höchsten Normen der Sittlichkeit, sondern das Gute. Im Parsismus ist allerdings dem Menschen durch seinen Glauben an den heiligen Gott, der gegen den bösen Gott kämpft, eine sittliche Aufgabe gestellt, nämlich mitzukämpfen gegen den bösen Gott. Im Buddhismus wird sogar das ganze endliche Leben als ein zu überwindendes und im Nirwana zu vernichtendes angesehen. Mer in beiden Religionen ist doch das Natürliche noch nicht deutlich und richtig vom Sittlichen geschieden. b. Und der eine, heilige Gott hat nun zunächst in Israel ein Reich Gottes aufgerichtet, aus welchem aber dereinst ein allgemeines Gottesreich auf Erden hervorgehen wird. Bei den Persern will zwar der gute Gott gleichfalls das Lichtreich zum Siege führen, aber mehr feinet wegen, als um der M e n s ch e n willen. Bei den Heiden findet sich in der Religion nichts dem israelitischen Gottes­ reiche Entsprechendes; ihre Götter gewähren zwar auch Hilfe, aber mehr äußere als innere, und ein letztes Ziel wird durch die Taten der Götter nicht erstrebt. Ein solches wird aber erstrebt in der israelitischen Religion, in welcher das vollkommene Gottesreich zum Siege über das Böse und zur Vollendung des Guten führen soll. c. Mer wie verschieden auch die israelitische Religion von den andern Reli­ gionen ist, so stimmt sie doch auch in mancher Beziehung mit ihnen überein. Die Offenbarung Gottes fand nämlich bei den Israeliten ein religiöses Leben vor, welches dem der andern, namentlich der semitischen Völker gleichartig war, und diese Natur­ religion Israels ist nur allmählich auf geschichtlichem Wege durch die Offenbarung umgestaltet worden. Diese Ähnlichkeit mit den andern Religionen zeigt sich zunächst darin, daß nur das V o l k I s r a e l eine Offenbarung empfängt, und so zunächst nur eine Volksreligion entsteht, wie das auch die Religionen der andern Völker sind; daher kann nur der Israelit ein Kind Gottes werden, aber nur im Zusammen­ hange mit seinem Volke; die selbständige Bedeutung des einzelnen Menschen tritt noch zurück. Die Verehrung Gottes ist sodann noch, wie in den andern Religionen, an bestimmte heilige Orte gebunden, und selbst noch für die Propheten bleibt Jerusalem die Stätte der Gegenwart Gottes auch im vollendeten Gottesreiche. Endlich hat die israelitische Religion noch Priester und O p f e r, wie die andern Religionen, und viele äußere Ceremonien sind mit der Religion verknüpft. Me diese Schranken der Religion Israels sind erst im C h r i st e n t u m überwunden.

9. Die Offenbarung Gottes in der Geschichte der Menschheit^). a. Wenn die Religion überhaupt darauf beruht, daß der Mensch, vom End­ lichen nicht befriedigt, nach einem Unendlichen begehrt, so wird dieses Verlangen ») Dillmann, ATliche Theol. § 9. Heidrich, Heilige Geschichte. 3. Ausl.

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9. Die Offenbarung Gottes in der Geschichte der Menschheit.

nicht befriedigt durch sein bloßes Begehren*), sondern durch die ihm, allerdings nur dann, wenn er nach Gott begehrt, zu teil werdende Offenbarung des Unendlichen; ohne Offenbarung Gottes gibt es keine Religion. Soweit wir nun in der Geschichte zurückgehen, finden wir überall schon Reli­ gion; also hat überall auch eine Offenbarung Gottes stattgefunden; auch die h e i d nische Religion beruht auf Offenbarung. Die Religion ist älter als Staat und Recht, als Kunst und Wissenschaft; sie hat auch schon darum einen viel größeren Ein­ fluß auf das Leben gewonnen, als die andern Schöpfungen des Menschen, und sie wird diesen Einfluß niemals verlieren. Älter, als die Religion, ist nur die Sprache und eine gewisse Erkenntnis der Welt, durch welche das Gefühl der Nichtbefriedigung mit der Welt erweckt wurde; ohne die Sprache und ohne diese Kenntnis der Welt konnte allerdings die Religion nicht entstehen. b. Mer wenn die Religion auch sehr alt ist, so ist sie doch nicht etwas von Ansang an F e r t i g e s, sondern sie hat sich, wie alles Menschliche, allmählich entwickelt. Diese Entwicklung hat sich aber vornehmlich im Altertum vollzogen; wenn unsere Zeit in einseitiger Verstandesbildung fast nur nach den näheren und endlichen Ursachen der Erscheinungen fragt, so fragte das Mertum alsbald nach den letzten Ursachen der Erscheinungen, und es fand überall in der Welt die G o t t h e i t wirk­ sam; der Donner ist ihm eine Stimme Gottes, der Blitz ist von Gott gesandt, den Regenbogen hat G o t t in die Wolken gestellt, die großen Männer sind Gottes Söhne — überall glaubt das Altertum die Gottheit wahrzunehmen. c. Auf dieser fortdauernden Fähigkeit des Menschen, den sich in der Welt offen­ barenden Gott wahrzunehmen, beruht nun auch die weitere Entwickelung der Religion. Mer wie sich nun diese Entwickelung gestaltet, das hängt nicht bloß von Gott, sondern auch vom M e n s ch e n ab. Wenn der Mensch sich vornehmlich der Natur zuwendet, dann wird er unempfänglich für die weitere Offenbarung Gottes, und so entsteht das Heidentum, welches zwar ebenfalls Religion ist, aber eine von der Natur beherrschte Religion. Zwar auch unter den Heiden ent­ wickelt sich die Religion noch mehr oder weniger, aber mehr im Dienste der sie selbst beherrschenden weltlichen Interessen, als in der Richtung der göttlichen Offenbarung. Mer schließlich verfällt die Religion bei allen heidnischen Völkern, und auch die Philo­ sophie vermag den Verfall derselben nicht aufzuhalten; alle heidnischen Religionen gehen zu Grunde. d. Dagegen ist nun im Volke Israel nicht bloß kein Rückschritt oder auch nur ein Stillstand in der Entwickelung der Religion eingetreten, sondern eine immer höhere Entwickelung derselben, welche im Christentum ihr Ziel erreicht hat. Wie näm­ lich der Ursprung, so beruht auch diese Entwickelung und Vollendung der Religion einerseits auf dem Verlangen des Menschen nach Gott und andrerseits auf der diesem Verlangen des Menschen entgegenkommenden Offenbarung Gottes. Es gereichte dem Volke Israel zum Segen, daß es nicht ein Kulturvolk wurde, wie die anderen Völker des Altertums; gerade dadurch wurde sein Streben den anderen Interessen ferngehalten, welche diese Völker mehr und mehr von der Religion abzogen, und seine Empfänglichkeit für die Wahrnehmung der in der Welt und in der Menschheit sich darbietenden (aber von den Heiden nicht beachteten) Offenbarungen Gottes lebendig erhalten. Zwar auch im Volke Israel hat es an Zeiten nicht gefehlt, wo der religiöse *) Feuerbach.

9. Die Offenbarung Gottes in der Geschichte der Menschheit.

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Sinn sich abstumpfte; aber immer aufs neue traten in diesem Volke Männer aus, welche nicht bloß für sich selber für die Offenbarung empfänglich blieben, sondern auch als Verkündiger der ihnen zu teil gewordenen Offenbamng, als Propheten, auftraten und ihr Volk zur wahren Religion zurüctzusühren und zu einer höheren Stufe derselben emporzuführen suchten. Nur in diesem Volke konnte darum auch die Offenbamng Gottes zur Vollendung geführt werden; nur von der Religion Israels führt der Weg direkt zum Christentum. e. Wenn also die Religion Israels sich von den Religionen der anderen Völker wesentlich unterscheidet, und wenn dieser Unterschied daraus beruht, daß nur die Israeliten für die ihnen (wie auch den Heiden) entgegentretende Offenbamng Gottes in der Welt und in der Menschheit empfänglich blieben, so hat man dagegen in der neueren Zeit versucht, den Abstand, welcher zwischen dem Monotheismus der Israeliten und dem Polytheismus zunächst der andern Semiten, wie auch aller andern Völker des Altertums besteht, von zwei entgegengesetzten Seiten her aufzuheben oder abzu­ schwächen. Auf der einen Seite findet N e n a n s Behauptung von einem ursprüng­ lichen Monotheismus aller Semiten, der sich in zahlreichen Vertretem innerhalb des Polytheismus erhalten habe, noch heute Anhänger1). Auf der andern Seite wird für K u e n e n s und anderer Forscher Behauptung, die Israeliten hätten ur­ sprünglich den Polytheismus ihrer Stammgenossen geteilt, und der Monotheismus Israels sei erst das Ergebnis der Predigt der P r 0 p h e t e n, der Anspmch erhoben, als gesichertes Ergebnis der Wissenschaft zu gelten. Bei genauerer Untersuchung dürste sich herausstellen (so B ä t h g e n), daß der Gottesglaube Israels inderhistorischenZeitvon alters her spezifisch ver­ schieden war von dem seiner Stammgenossen, und die Behauptung, der Monotheis­ mus Israels sei auf dem Wege natürlicher Entwickelung aus dem semitischen Poly­ theismus entstanden, dürfte sich bei genauerer Prüfung als nicht stichhaltig erweisen. Andrerseits deutet die den Israeliten mit den heidnischen Semiten gemeinsame Be­ nennung für Gott (El = der starke Gott) darauf hin, daß diese beiden Richtungen des Semitismus trotzdem in ihrem Gottesglauben nicht völlig unabhängig von ein­ ander sind, sondern wie in der Sprache so auch in der Religion einen gemeinsamen Ursprung haben. Auch die Semiten sind nicht (ebensowenig wie die Jndogermanen) von Anfang an Polytheisten gewesen, sondern ursprünglich waren auch sie Verehrer eines Gottes, allerdings nicht bewußte Monotheisten, so daß sie jede andere Gottheit als nicht existierend betrachteten, aber sie verehrten doch nur eine einzige Gottheit. Aus diesem relativen Monotheismus hat sich aber bei den Semiten (wie auch bei den Jndogermanen) allmählich der Polytheismus entwickelt, indem die ver­ schiedenen Wirkungsweisen der einen Gottheit als verschiedene Götter betrachtet wurden. So sind denn in der historischen Zeit alle Semiten Polytheisten (gegen

Renan). x) Dagegen Stade: Renans Ansicht wertet weder das semitische Heidentum, noch den hebräischen Prophetismus ttchtig und beruht aus ungenügenden Beobachtun­ gen, aus welchen vorschnell allgemeine Schlüsse gezogen worden sind. — Vgl. aber Smend (ATliche Religionsgesch. § 1, S. 26): Aber in gewissem Sinne hat R e n a n doch nicht unrecht. Schließlich haben nämlich alle Semiten von den Hebräem den Monotheismus angenommen, teils in der Form des Christentums, aber vor allem in der des Islam; die letzte geschichtliche Wurzel dieses Monotheismus liegt aber in der semitischen Stammesreligion.

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10. „Inhalt und Zusammenhang der heiligen Geschichte."

Aus diesem Polytheismus der andern Semiten hat sich nun nicht (gegen K u e neu) der Monotheismus des Volkes Israel erst allmählich entwickelt, sondern die Israeliten haben den ursprünglichen Monotheismus der Semiten (wie auch der Jndogermanen) se st gehalten. Soweit wir die Religionsgeschichte Israels zu­ rückverfolgen können, erscheint als der l e g i t i m e Kultus Israels stets die Verehrung eines Gottes; die fremden Götter sind stets nur von außen her, von den fremden Völkern her, welche in Israel Einfluß gewannen, in Israel eingedrungen. Daß aber die Israeliten den Glauben an den einen Gott der Väter f e st gehalten haben, das ist eine Folge der Empfänglichkeit, welche sie sich für die ihnen (wie allen Menschen) zu teil werdende OifenbarungGottes erhalten haben, während die andern Völker über der Natur, die sie vergötterten, den Herrn der Natur nicht mehr erkannten, und auf dieser Empfänglichkeit für die Offenbarung Gottes beruht auch die weitere Entwickelung der israelitischen Religion.

10. „Inhalt und Zusammenhang der heiligen Geschichte"*). Ordnung der Entlassungsprüfung für die Gymnasien 1882, § 3,1. Hebr. 1, 1—2. Störn. 10, 2. Matth. 28, 19. a. Die Entstehung und Fortbildung und Vollendung der israelitischen Religion beruht nicht auf der rein menschlichen Entwickelung der angeborenen Anlage aller Menschen zur Religion; auch nicht auf einer besonderen Anlage der Semiten zum Monotheismus; dieselbe beruht vielmehr auf der Offenbarung Gottes, für welche das Volk Israel mehr als die anderen Völker empfänglich gewesen ist. b. Aber nicht auf einmal ist die vollkommene Religion durch Offenbarung gestiftet worden, sondern Gott hat sich den Menschen allmählich immer voll­ kommener geoffenbart; nachdem er zu den Vätem manchmal und mancherlei Weise durch Moses und die Propheten geredet hat, hat er zuletzt zu den Men­ schen durch seinen Sohn Jesus Christus geredet (Hebr. 1, 1—2). Die religiöse Entwickelung des Volkes Israel bildet zwar, wie der an­ geführte Spruch aus dem Hebräerbriefe zeigt, ein zusammenhängendes Ganze; aber es werden doch in derselben verschiedene Stufen und Perioden unter­ schieden, und erst in C h r i st u s hat Gott sich den Menschen vollkommen geoffenbart. Ms die Hauptträger der biblischen Religion sind aber nach dem angeführten Spmche Moses (in den „Propheten" enthalten, in dem genannten Spruche dämm nicht ausdrücklich genannt), die Propheten und Christus anzusehen, an welche sich alles Übrige als Ergänzung oder Fortfühmng an­ schließt. 1) Die Abschnitte 6, 7 und 10 sind (in Verbindung mit einer mehr oder weniger vollständigen Besprechung des Abschnittes über die Bibel) dem Pensum jedes Halb­ jahrs voranzuschicken, so daß sie dem Schüler allmählich geläufig werden. Wenn der Schüler immer wieder an den zu Grunde liegenden Bibelspruch (Hebr. 1, 1—2) er­ innert, und Inhalt und Zusammenhang der heiligen Schrift ihm immer wieder in dieser Weise vorgeführt werden, so wird er als Abiturient.gewiß „von dem Inhalt und Zusammenhang der heiligen Schrift" eine genügende Kenntnis erlangt haben.

11. Die Entwickelung der israelitischen Religion.

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Hiemach ergeben sich folgende Perioden der heiligen Geschichte, deren Überschriften im Anschluß an den genannten Spmch (und an Röm. 10, 2 ufib an Matth. 28, 19) für den Schüler also lauten: 1. Wie Gott die Israeliten aus Ägypten geführt und durch Moses zu ihnen geredet hat. 2. Wie Gott das Königtum in Israel begründet und manchmal und mancherlei Weise durch die Propheten zu seinem Volke geredet hat. 3. Wie die aus dem Exil zurückgekehrten Juden um Gott eiferten, aber mit Unverstand. 4. Wie Gott, als die Zeit erfüllet war, durch seinen Sohn Jesus Christus zu den Menschen geredet hat. 5. Wie die Apostel hingegangen sind in alle Welt, um alle Menschen zu Jüngem Jesu Christi zu machen. c. Durch Moses ist die Religion Israels begründet, durch die Pro­ pheten vervollkommnet und durch Christus vollendet worden; das Christentum ist die V o l l e n d u n g der ATlichen Offenbamng. Dem Christentum steht aber gegenüber das spätere' Judentum; das letztere istdiemenschlicheWeiterentwickelungder durch Moses und die Propheten geschehenen Offenbamng; das Christentum dagegen ist die göttliche Vollendung der Offenbamngx).

11. Die Entwickelung der israelitischen Religion2). a. Die Religion des Volkes Israel hat drei Entwickelungsstufen durchgemacht, den Mosaismus, den Prophetismus und den Judaismus. Der M o s a i s m u s ist diejenige Gestalt der israelitischen Religion, in welcher die von Moses verkündeten Gmndgedanken derselben auf dem Wege der Gesetzgebung und der Institutionen ihre erste volkstümliche Gestalt gewinnen. Dieselbe ist aber im wesentlichen eine auf der Basis der mosaischen Traditionen von der Priesterschaft geschaffene und wird daher vorzugsweise durch die am Nationalheiligtum geltenden gottesdienstlichen Ordnungen veranschaulicht. Der Propbetismusist diejenige Gestalt der israelitischen Religion, welche sich auf Gmnd des Mosaismus, ohne denselben bei der Masse des Volkes zu verdrängen, durch die Wirksamkeit der Propheten entwickelt hat, durch welche das religiöse Leben vergeisügt und verinnerlicht wurde. Diese Periode endet mit dem Erlöschen der Prophetie und der Rückkehr aus dem Exil. Der Judaismus ist diejenige Gestalt der israelitischen Religion, welche durch die Rückkehr aus dem Exil begründet worden ist. Die Religion wird einerseits immer mehr zu äußerlicher Gesetzesreligion, und andrerseits nimmt sie (nament­ lich in der alexandrinischen Richtung) fremde Elemente in sich auf, ohne dieselben dem eigenen Geiste wirklich zu assimilieren. Als die Mtestamentliche Religion im Judaismus erstarrt war, da kam das Christentum, die Erfüllung der wahren israelitischen Religion. b.8) * *Dieser * älteren Darstellung von der Entwickelung der israeliüschen A) Eine menschliche (aber unter dem Judentum stehende) Weiterentwickelung der geoffenbarten Religion ist auch der Islam. 2) Nr. 11 und 12, weitere Ausführungen von Nr. 10, sind nur für den Lehrer bestimmt. 8) Genaueres über diesen Punkt findet der Lehrer oben Nr. 4.

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11. Die Entwickelung der israelitischen Religion.

Religion und Geschichte ist nun bekanntlich in der neueren Zeit (Batke,Reuß, Wellhausen) eine andere Auffassung von der Entwickelung des israelitischen Volkes entgegengestellt worden. Danach zerfällt die israelitische Geschichte in drei Perioden, die Zeit der H e l d e n, die der P r o p h e t e n und die der P r i e st e r ; an die letzte schließt sich dann die Zeit der S ch r i f t g e l e h r t e n an, welche das von den Priestern zur Geltung gebrachte Gesetz auslegen und aufrechterhalten. Die Ge­ schichte der israelitischen Religion gliedert sich hiernach in drei Perioden: die vor­ prophetische, die prophetische und die gesetzliche Zeit. Da mein Buch zunächst im Anschluß an die ältere Theologie entstanden ist (Riehm, Dillmann, Delitzsch u. s. w.), so liegt demselben die ältere Teilung der Geschichte Israels und seiner Religion zu Grunde: Mosaismus, Könige und Propheten, Judaismus. Es ist also das Gesetz n i ch t, wie die heutige Theologie im Anschluß an Wellhausen fordert, an das Ende der israelitischen Geschichte gestellt, sondern an den A n f a n g. Daß das Gesetz aber nicht als etwas Fertiges in die Geschichte Israels hineingetreten ist, wird auch hier dem Schüler nicht ver­ schwiegen; auf die Entwickelung desselben in den verschiedenen Zeitaltern wird in der GeschichtserzLhlung hingewiesen; daß das ganze Gesetz erst durch Esra zur herrschenden Macht geworden sei, erfährt auch der Schüler. c. Wenn nun in meinem Buche trotz dieser Anerkennung einer allmählichen Entwickelung des Gesetzes die Gesetzesreligion fürdenSchüler doch als G a n z e s dargestellt wird, nicht in der Weise, wie etwa ^1566061:x) und Kautzsch2) die einzelnen Stufen dieser Entwickelung charakterisieren und von einander sondern — so hat das zunächst darin seinen Grund, daß es mir für den Schüler praktischer erscheint, dasselbe als G a n z e s vorzuführen. Sodann aber ist es nach dem heutigen Stande der Wissenschaft noch nicht möglich, bei dem noch nicht überwundenen Zwie­ spalt der Meinungen über die allmähliche Entstehung und Entwickelung der einzelnen Teile der Gesetzgebung, streng historisch zu verfahren. Die Schule könnte hier nur, wenn der Lehrer das für erwünscht hüll, aut die Hauptgedanken hinweisen, welche eine jede Zeit beherrschen, wie das unten bei dem Abschnitte über den Inhalt des Gesetzes angegeben ist8) und für b e rt Lehrerbei den betreffenden Abschnitten kurz dar­ gestellt ist4). Ebenso wird der Schüler auf die Hauptgedanken der Predigt der Propheten in einem zusammenhängenden Abschnitte hingewiesen; nur ihre Person und ihre persönliche Wirksamkeit sind an den betr. Stellen der Geschichte dargestellt. Endlich sind auch Dichtung und W e i s h e i t des Volkes in zusammen­ hängender Darstellung dargeboten, und zwar hier überhaupt ohne Rücksicht auf die Stellung der Dichtung und Weisheit in der Geschichte des Volkes Israel. Der Schüler lernt also aus dem A.T. neben der ihm natürlich imZusammenhange dargebotenen G e s ch i ch t e des Volkes Israel „Gesetz,Propheten und Psalmen" (nebst Hiob und Sprüchen) nach ihrem Inhalt kennen — und das dürfte doch wohl fürdieSchuledie Hauptsache sein; die Entwickelung der inneren Geschichte des israelitischen Volkes in „Gesetz, Propheten und Psalmen" zu erkennen, ist zunächst die Aufgabe des L e h r e r s; sein Unterricht wird dem Schüler den Weg zu dieser Erkenntnis nicht versperren, aber als ein zu forderndes *) Einleitung in die Litteratur des A. T. 2) Abriß des ATlichen Schrifttums in dem Anhange zur Bibelübersetzung. 3) Vgl. Nr. 51 und 53. 4) Vgl. Nr. 53—56.

12. Die Vollendung der israelitischen Religion im Christentum.

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Ergebnis des Unterrichts darf es nicht bezeichnet werden, daß der Schüler die Ent­ wickelung der israelitischen Religion wissenschaftlich kennen lerne — zumal da die Meinungen in dieser Frage noch zu weit auseinandergehen.

12. Die Vollendung der israelitischen Religion im Christentum. a. Die religiösen Grundanschauungen des Heidentums sind mit denen des Christentums nicht verwandt, sondern stehen mit ihm in Widerspruch; nur mit der Religion Israels steht das Christentum in organischem Zusammenhang; „das Heil kommt von den Juden" (Joh. 4, 22)A); durch eine neue Offenbarung Gottes hat das Judentum im Christentum seine Vollendung gefunden. Das Christentum setzt die Offenbarung Gottes in Israel voraus und erkennt sie als solche an; die Frömmigkeit ist in beiden Religionen im wesentlichen dieselbe, auf die Gemeinschaft mit Gott gerichtet; das Reich Gottes im Alten Bunde ist ein Vorbild des vollkommenen Gottesreiches im Neuen Bunde, von welchem die Pro­ pheten des Alten Bundes immer aufs neue weissagen; das Gesetz des Men Bundes ist ein Zuchtmeister, ein Erzieher auf Christum (Gal. 3, 24); der Fortschritt, den die israelitische Religion vom Mosaismus zum Prophetismus macht, ist ein Schritt zum Christentum hin, und das Christentum knüpft vornehmlich an den Prophetismus an, nicht an den ihm unmittelbar vorhergehenden Judaismus, welcher einen Rückschritt in der Entwickelung der israelitischen Religion bezeichnet; der Judaismus ist eine menschliche Weiterentwickelung der durch Moses und die Propheten geschehenen Offenbarung; das Christentum ist die göttliche Vollendung der Offenbarung. So ist also die Religion Israels nicht bloß ein Vorbild für das Christentum, sondern die Grundlage, auf welcher das Christentum ruht. b. Aber wenn auch das Christentum auf dem Judentum ruht, so ist es doch eben die Vollendung des Judentums, welche ihren Grund hat in der Person Jesu Christi und ihr Ziel in der Vervollkommnung der Frömmigkeit. Erst in Jesus Christus sind „Gottheit und Menschheit meinem vereint", wie das nirgends im Men Bunde geschehen, ja nicht einmal verheißen worden ist; selbst der M e s s i a s des Men Testaments ist doch nur ein Mensch, auf welchem der Geist Gottes ruht; vom Gottmenschen weiß erst das Neue Testament. Und so wird erst in Christus die Gottheit tiefer erkannt, in seinem Werke unsre Sünde von uns mehr gewürdigt, und auch die Verpflichtung zur Liebe gegen Gott und die Brüden verstärkt. Wenn nun auch schon die Frommen des Men Bundes sich der Gnade Gottes gegenüber ihrer Sünde getrosten, so hat doch erst der Christ eine feste Grundlage für den beständigen Glauben an die Gnade Gottes, und zwar ohne Opfer und Priester. Zwar auch schon die Frommen des Alten Bundes werden des heiligen Geistes teil­ haftig, aber er bleibt doch immer eine Macht außer ihnen, für den Christen ist dagegen der heilige Geist ein bleibender innerer Besitz. Darum weiß auch erst der Christ sich als Kind Gottes, und Gott ist jedes einzelnen Christen Vater, während im Men Bunde Gott nur der Vater des G e s a m t v o l k e s ist. Ferner ist die Frömmigkeit des Israeliten gebunden an das G e f e tz, welches ihn auf Schritt und Tritt bindet und die freie Entfaltung des religiösen Lebens hindert. Der Christ aber ist zur F r e i h e i t berufen (Gal. 5, 13), und seine Sittl) Gegen Schleiermacher, Glaubenslehre I, § 12, der das Christentum in ein gleich nahes Verhältnis zu Judentum und Heidentum fetzt.

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13. Unsere Bibel.

lichkeit ist die f r e i e Entfaltung des mit dem Willen Gottes eins gewordenen mensch­ lichen Willens. Da nun durch Christus jeder einzelne Mensch mit Gott in Gemeinschaft tritt, so ist das christliche Gottesreich auch nicht mehr ein nationales Gottesreich, sondern ein Reich Gottes für all e M ens ch en; das Judentum ist eine Volksreligion, das Christentum eine Weltreligion. Endlich ist das Reich Gottes im Judentum ein Reich des D i e s s e i t s sowohl in der Gegenwart wie in der Hoffnung der Zukunft bei den Propheten. Das Himmel­ reich des Christen beginnt gleichfalls auf Erden, aber seine Vollendung findet es erst im Himmel; erst das Christentum hat eine gewisse Hoffnung des ewigen Lebens im Himmel.

C. Die heilige Schrift, die Urkunde der Gffenbarung. 13. Unsere Bibel-). a. Was wir als Kinder zuerst von der heiligen Geschichte gehört haben, das haben wir aus dem Munde der Mutter und des Vaters vernommen; ebenso ist in der alten Zeit die heilige Geschichte nur mündlich überliefert worden. Später aber ist die Kunde von der Offenbarung Gottes auch schriftlich auf­ gezeichnet worden, und auch uns ist dies Buch bekannt geworden; zuerst allerdings nur in einem Auszuge, der „biblischen Geschichte", später und namentlich jetzt auch in seiner ursprünglichen Form. Dieses Buch aber, welches uns von den Offenbarungen Gottes Kunde gibt, ist die Bibel oder die heilige Schrift. Wenn wir einmal sein erstes Blatt, das Titelblatt, an­ sehen, so lesen wir im wesentlichen Folgendes auf demselben: „Die Bibel" (d. h. Die Bischer)8) „oder die ganze Heilige Schrift" (eine Erklärung des griechischen Wortes „Bibel") „des Alten und Neuen Testaments" (oder rich­ tiger: des Alten und Neuen Bundes)^, „nach der deutschen Übersetzung Dr. Martin Luthers" (da der Urtext, in hebräischer und griechischer Sprache verfaßt, für die meisten Christen unverständlich wäre)4). „Berlin" oder „Halle" oder irgend ein anderer Ort, „Verlag der britischen" (oder „Hallischen" oder einer andern) „Bibelgesellschaft" (welche uns dies umfangreiche Buch zu dem so sehr billigen Preise liefert). Auf den I n h a l t der Bibel, auf die Ü b e r x) In den unteren und mittleren Klaffen wird sich der Lehrer damit begnügen, den Schüler, wie in Nr. 13 geschieht, auf die G l i e d e r u n g der Bibel hinzuweisen; in den oberen Klassen wird der Lehrer auch die E n t st e h u n g der heiligen Schrift besprechen, wie in Nr. 14 geschieht. — Beim Unterricht wird der Lehrer hier aber auch alsbald von der Übersetzung und der B e r b r e i t u n g der heiligen Schrift sprechen; vgl. Kirchengesch. Nr. 71; aber besonders muß im Unterricht der o b e r e n Klassen auch die B e d e u t u n g der heiligen Schrift (Nr. 15) dem Schüler klargemacht werden. 2) Das griechische Wort biblion (eigentlich: Büchlein, abgeleitet von biblos — Buch), lautet im Pluralis biblia; aber aus diesem Pluralis machte man bald einen Singularis: die Bibel. Als man die Bedeutung dieses Wortes nicht mehr verstand, sprach man später von einem „Bibelbuch", indem, wie es oft geschieht (vgl.: Dom­ kirche), das undeutliche Wort durch ein anderes, deutlicheres, erklärt wurde. — Als Bezeichnung der ganzen Bibel hat das Wort (biblia) zuerst Chrysostomus (f 401) gebraucht. 8) Genaueres siehe unten c. 4) Auf den Zusatz „Durchgesehene Aus­ gabe" geht der Lehrer bei der Erzählung von dem Werke der Bibelübersetzung ein.

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setzung und auf die Verbreitung der Bibel werden wir also schon durch das Titelblatt hingewiesen; von diesen drei Dingen wird alsbald Ge­ naueres gesagt werden. b. In der Helligen Schrift liegt uns vor die Kunde von den in so vielen Jahrhunderten geschehenen Offenbarungen Gottes; wie Gott vor Zeiten manchmal und auf mancherlei Weise zu den Vätern geredet hat durch die Propheten, und wie er ant letzten zu uns geredet hat durch den Sohn, das ist in diesem Buche verzeichnet. Ja, dasselbe reicht einerseits noch weiter zurück, indem es die Offenbarung im Volke Israel zurückführt bis auf die erste Offenbarung Gottes, die Schöpfung der Welt, und indem es andrerseits die Offenbarung Gottes in Christus enden läßt mit dem neuen Himmel und der neuen Erde, auf welche die Christen hoffen. Vom Anfang bis zum Ende dieser Welt reicht also der Gesichtskreis der heiligen Schrift. c. Dies große Buch zerfällt nun, wie schon das Titelblatt angibt, in zwei Hauptteile, das Me und das Neue Testament. Das Me Testament wird aber in der ältesten Stelle der Bibel, wo von einer (natürlich noch nicht ab­ geschlossenen) Sammlung heiliger Schriften (der Grundlage unseres Men Testaments) die Rede ist (Dan. 9,2) „die Bücher" genannt; von der griechischen Übersetzung dieses Wortes1) stammt unser Wort „Bibel" d. h. also „die Bücher". Im Neuen Testament heißt das Me Testament „die Schrift" (1. Pett. 1, 20), „die (heiligen) Schriften" (Matth. 22, 29; Röm. 1, 2). Später nannte man es auch „die Bücher des Men Bundes". Indem aber die Lateiner das hebrä­ ische und griechische Wort für „Bund" fälschlich mit testamentum übersetzten (was das Wort allerdings ebenfalls heißen kann, aber nicht hier), entstand die (unrichttge) Bezeichnung „Bücher des Men Testaments" oder (wie schon 2. Kor. 3,14: bei der Vorlesung des Men Bundes) kürzer: „Mes Testament". Danach haben dann die Bücher des Neuen Bundes den Sternen „Neues Testa­ ment" erhalten. d. Das Alte und das Neue Testament enthalten nun aber dreierlei Bücher: Geschichtsbücher, Lehrbücher und Weissagungsbücher (prophettsche Schriften). Die Geschichtsbücher erzählen, wie Gott sich im Volke Israel geoffenbart und ein Reich Gottes gegründet hat, zunächst nur für dies eine Volk, dann für alle Völker. Die Lehrbücher lassen uns erkennen, was die Frommen des Men und des Neuen Bundes auf Grund der Offenbarung Gottes glauben und wie sie leben. Die Weissagungsbücher enthalten die Predigten der Pro­ pheten int Volke Israel und in der Christenheit von der Vollendung des Reiches Gottes. e. Nachdem in der Zeit von Christi Geburt oder etwas später das Me Testament, und um das Jahr 400 nach Christus das Neue Testament zusammen­ gestellt und abgeschlossen worden ist, besitzt nunmehr die christliche Kirche die ganze heilige Schrift, wie sie uns heute als e i n Buch vorliegt, und über den Umfang der Bibel ist die christliche Kirche im ganzen einig. Wenn allerdings die katholische (sowohl die römische, wie auch die griechische) Kirche zur Bibel muf) die Apokryphen rechnet (d. h. Schriften frommer Juden, welche nach dem Wschluß des Men Testaments geschrieben worden waren, aber unter die Helligen Bücher nicht mehr aufgenommen wurden), so dulden zwar *) Vgl. oben Sinnt. zu a.

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die Lutheraner dieselben in ihrer Bibel als „nützlich und gut zu lesen", aber sie stellen dieselben den andern Büchern der Bibel nicht gleich; strengere Re­ formierte dagegen weisen dieselben sogar ganz aus der Bibel hinaus, weshalb die Bibeln der englischen Bibelgesellschaft dieselben gar nicht enthalten. Aber, abgesehen von diesen Büchern, stimmen die drei großen Kirchen über den Umfang der Bibel überein, und alle betrachten die Bibel als die Grundlage und die Richtschnur (den Kanon)2) für des Christen Glauben und Leben14. Die Entstehung der heiligen Schrift; die Grundsprachen der h. Schrift; der Text der Bibel?). A. Das alte Testament. I. Die Entstehung des AltenTestaments. In unserer Bibel, die wir zunächst als Ganzes vor uns haben, sind eine große Anzahl von heiligen Schriften verschiedener Männer und verschiedener Zeiten vereinigt; wie ist diese Sammlung heiliger Schriften entstanden? Das soll in diesem Abschnitt (A) für das Alte Testament und im folgenden Abschnitt (B) für das Neue Testament dargelegt werden. a. Das Alte Testament ist (wie auch das Neue Testament) nicht auf ein­ mal und von einem Manne geschrieben worden, sondern im Laufe von Jahrhunderten sind seine 39 Schriften allmählich einzeln entstanden und all­ mählich zu einer heiligen Schrift zusammengefügt worden. Diese allmähliche Entstehung des Men Testaments läßt sich nock aus der ursprünglichen Einteilung desselben erkennen. Bei den Juden zerfällt nämlich das Alte Testament in drei Teile: Das Gesetz (d. h. die fünf Bücher Mosis), die Propheten (d. h. die Bücher Josua, Richter, Bücher Samuelis und der Könige, und die Bücher der 3 großen und der 12 kleinen Propheten außer Daniel) und die Schriften (griechisch Hagiographa, d. h. heilige Schriften), d. h. Psalmen, Sprüche, Hiob8), Hoheslied, Ruth, Klagelieder, Prediger, Esther4), Daniel, Esra, Nehemia, Chronik6). Nach dieser Einteilung nennen die Juden das Alte Testament: „Gesetz, Propheten und Schriften", vgl. Luk. 24, 44 (Gesetz, Propheten und Psal­ men, das Hauptbuch der Schriften): vielfach aber nannte man es auch bloß „das Gesetz" (Joh. 12, 34), weil die älteste Bibel der Juden ja nur das Gesetz enthielt, oder „Gesetz und Propheten" (Apg. 28, 23), weil zum Gesetz zunächst nur die Propheten hinzukamen; die vollständige Bezeichnung des Mten Testa­ ments findet sich nicht im Neuen Testament (am nächsten kommt ihr die oben genannte Stelle Luk. 24, 44), aber schon im Buche Jesus Sirach (Vorr., Vers 1, 3 und 7): „Das Gesetz, die Propheten und die andern Bücher". *) Als „Kanon" wird die Bibel schon im 4. Jahrhundert bezeichnet. 2) Eine kürzere, für den Schüler berechnete Darstellung dieses Abschnittes siehe in meiner Kirchengesch. (3. Aufl.: Nr. 71A); auf die Frage nach der Entstehung der heiligen Schrift wird aber der Lehrer, wie schon oben bemerkt, nur in den oberen Klassen eingehen. 3) Diese drei Bücher haben im Grundtext eine besondere poetische Accentuation. 4) Diese fünf Bücher werden bei den Juden vorgelesen an den fünf Festen: Passah, Pfingsten, Tempelverbrennung, Laubhütten, Purim. 6) So gut man sin der Schulef von „prophetischen Büchern" spricht und nicht von einer „Nabi-Litteratur", so mag man auch nicht von der Thorah und von den Ketubhim sprechen. Vgl. R e u ß, Einl. § 397.

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Anders als in der hebräischen Bibel sind die Bücher des Alten Testaments in der griechischen und in der lateinischen Übersetzung geordnet, nämlich nach der Art der Bücher, und außerdem sind die Apokryphen den betreffenden Abteilungen eingefügt. Luther hat sich im ganzen diesen Übersetzungen an­ geschlossen, aber die Apokryphen als besondere Abteilung hinter die kanonischen Bücher gestellt, so daß bei Luther das Alte Testament aus folgenden Abtei­ lungen besteht: geschichtliche, dichterische, prophetische und apokryphische Bücher (diese durch eine besondere Überschrift von den kanonischen Büchern gesondert). Damit ist allerdings eine bessere Sachordnung hergestellt, als sie in der hebräischen Bibel besteht; aber es ist das verwischt, was die hebräische Bibel zeigt, nämlich die Andeutung der geschichtlichen Entstehung der heiligen Schrift, wie sie aus der Folge der einzelnen Teile erschlossen werden kann. Da jedoch Luther eine Volksbibel schaffen wollte, so war es wohl angemessener, die Bücher nach ihrer Beschaffenheit zusammenzustellen. b. Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments. Als das A. T. abgeschlossen wurde, gab es bereits und es entstanden noch weiter andere, teils hebräisch, teils griechisch geschriebene Schriften frommer Männer, welche zwar ebenfalls von den Juden gelesen, aber nicht in den Kanon der heiligen Schriften aufgenommen wurden. Von diesen Schriften, zunächst von den A p o k r y p h e n, d. h. den von der öffentlichen Vorlesung in der Synagoge ausgeschlossenen Schriften, haben aber in die Lutherbibel (nach dem Vorgänge der griechischen und der lateinischen Bibel) nur einige Ausnahme gefundenx), während andere zwar erhalten, aber nur den Gelehrten bekannt geworden sind. In Luthers Bibel sind nämlich folgende Apokryphen des A. T. enthalten: 1. Das Buch Judith: Nr. 45, 2, c. 2. Die Weisheit Salomo's: Nr. 81B, 1, c. 3. Das Buch Tobias: Nr. 45, 2, b. 4. Das Buch Jesus Sirach: Nr. 81B, 1, b. 5. Das Buch Baruch: Nr. 44 c. 6. 2 Bücher der Makkabäer: Nr. 86, 1. 7. Zusätze zum Buche Esther: Nr. 45, 3. 8. Zusätze zum Buche Daniel: Nr. 45, 3. 9. Zusatz zur Chronik (zu 2. Chron. 33): Das Gebet Manasse's; vgl. Nr. 45, 3 -). Außer den in Luther's Bibel und in der griechischen und in der lateinischen Bibel noch außerdem enthaltenen Apokryphen gibt es noch eine große Zahl von Schriften, welche an ATliche Namen und Stoffe angeknüpft und um die Zeit von *) Luther folgte im ganzen der Vulgata, nur daß er das Gebet Manafse den andern Apokryphen beifügte, das 3. und 4. Buch Esra aber nicht aufnahm. In der Vulgata stehen diese drei Schriften (als nicht kanonisch bezeichnet) nur als Anhang hinter dem N. T. 2) Die griechische Bibel enthält außer diesen Schriften noch ein 3. Buch Esra und in einigen Handschriften das Gebet Manasses und ein 3. und 4. Buch der Makkabäer; die lateinische Bibel enthält außer den Apokryphen der Lutherbibel nur noch ein 3. und 4. Buch Esra; über diese Schriften vgl. Nr. 45, 3. 86,1. 96, d. 93, i.

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Christi Geburt verfaßt sind, die sogen. Pseudepigraphen. Von denselben sind besonders folgende auch für weitere Kreise interessantx). A. Geschichtswerke. 1. Das 3. Buch Esra (Nehemia wird bei diesem Ausdruck als 2. Buch Esra betrachtet): Nr. 45, 32). 2. Das dritte Buch der Makkabäer: Nr. 86a). (3. Die Geschichtswerke des Josephus: Nr. 86.) B. Lyrische Dichtung. Die (18) Psalmen Salomo's: Nr. 88 g, Anm. C. Lehrbücher: Nr. 81B, 3. 1. Das 4. Buch der Makkabäer. (2. Die Schriften des alexandrinischen Juden Philo.) D. Prophetische Schriften: Nr. 96. 1. Das Buch Henoch. 2. Das 4. Buch Esra. 3. Die sibyllinischen Weissagungen. E. Apologetische Schriften. Wenn auch andere Schriften der späteren Juden dem Zwecke dienen, den Heiden die ihnen fremde jüdische Religion verständlich zu machen, so gibt es auch geradezu apologetische Schriften, welche ausschließlich diese Aufgabe zu losen suchen, da von heidnischer Seite das Judentum auch wissenschaftlich bekämpst wurde. 1. Das bedeutendste Werk dieser Art ist die Schrift des Josephus gegen seinen Zeitgenossen Apion, in welcher eine umfassende, systematische Verteidigung des Judentums nicht bloß gegen Apion (einen Grammatiker, der in Alexandria, in Rom und in vielen Städten Griechenlands gelehrt, namentlich auch Vorträge über Homer gehalten hat), sondern gegen alle wider dasselbe erhobenen Beschuldigungen verteidigte. 2. Demselben Zwecke dienten auch Schriften, welche von Juden unter heid­ nischer Maske herausgegeben wurden. Hierher gehört außer den Sibyllinen, von welchen unten gesprochen werden soll (Nr. 96), namentlich der Brief des Ari st e a s an seinen Bruder Philokrates über dieEntstehung der grie­ chischen Bibelübersetzung, angeblich geschrieben von Aristeas, einem Beamten des ägyptischen Königs Ptolemäus II. (283—247 v. Chr.), in welchem außer der Erzählung über die Entstehung der griechischen Bibel auch die Trefflichkeit des jüdischen Gesetzes und des Judentums überhaupt dargelegt wird. Diese Schrift stammt jedenfalls aus vorchristlicher Zeit4). *) Der Lehrer findet diese Bücher in dem Werke von K a u tz s ch, Apokryphen und Pseudepigraphen des A. T. 1900. 2 Bände. 2) Das vierte Buch Esra ist nicht ein historisches, sondern ein prophetisches Buch. 8) Das vierte Buch der Makkabäer ist nicht ein Geschichtsbuch, sondern ein Lehrbuch: Nr. 86/ 4) Der Lehrer findet diesen Brief in K a u tz s ch, Apokryphen des A. T. Bd. II.

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c. Der Kanon des Alten Testaments. Über den Ursprung der S a m m l u n g der ATlichen Bücher haben wir keine geschichlliche Überlieferung»); wir können aber ungefähr er­ kennen, wie es zu einer solchen, zum „Kanon" des A. T., d. h. zu einer genau begrenzten Sammlung heiliger Schriften von normativer Auwrität, gekommen ist. Zunächst hatte sich das Gesetz durch mündliche Überlieferung fortgepflanzt und auch als die schriftliche Aufzeichnung bereits erfolgt war, hielt man sich nicht an das Gesetzbuch, sondem an die Überlieferung. Die An­ erkennung eines B u ch e s als Norm für die Frömmigkeit, nämlich des 5. Buches Mosis, erfolgte erst unter Josia (621). Aber vornehmlich auf Esra ist der Beginn der Sammlung der heiligen Schriften zurückzuführen. Ms nämlich Esra int Jahre 444 die aus dem Exil zurückgekehrten Juden auf das Gesetz Mosis (int Pentateuch) verpflichtete, da herrschte fortan nicht mehr bloß das Gesetz, sondern das Gesetzbuch im jüdischen Volke *). Nunmehr begann ein Gebrauch im Judentum, der dem älteren Volke fremd war; was im Tempel beim Gottesdienste nicht geschah, geschah in den in der exüischen Zeit auf­ gekommenen Synagogen: die Mbel, zunächst das Gesetz, wurde nicht bloß einmal, sondern fortan regelmäßig int Gottesdienste dem Volke vorgelesen. Nicht für den Gelehrten, sondem für das Volk war die Bibel geschrieben, und für das Volk fand sie ihre erste Verwendung beim Gottesdienste in der Syn­ agoge. So wurde fortan das ganze Gesetz, d. h. der Pentateuch, der Reihe nach vorgelesen, und seitdem ist dasselbe für die Vorlesung, die in e i n e m Jahre beendet sein muß, in 54 Paraschen (d. h. Abschnitte, denen unsere SonntagsEvangelien entsprechen) eingeteilt. Zu diesem Gesetzbuchs (dem Pentateuch) ist etwas späters) eine weitere Sammlung hinzugetreten, die sogen. „Propheten", d. h. die älteren Ge­ schichtsbücher (Josua, Richter, Samuelsbücher, Königsbücher) und die Bücher der eigentlichen Propheten (außer Daniel); diese enthalten Predigten der Propheten, jene sind in prophetischem Geiste geschriebene Geschichtsbücher, und dämm heißen beide zusammen „Propheten". Diese Sammlung wurde gleichfalls in der Synagoge vorgelesen, aber doch erst an zweiter Stelle (wie unsere Sonntagsepisteln), und nicht ganz (wie das Gesetz), sondem nur in ausgewählten Abschnitten (Haphtaren). War die Mbel der Juden zuerst das „Gesetz" genannt worden, so nannte man sie fortan, wenn man genauer sprach (was aber oft nicht geschah) „Gesetz und Propheten" (vgl. Sprüche 29,18). Aber bald wurde die Bibel noch erweitert, indem zuerst die Psalmen (daher Luk. 24, 44: Gesetz, Propheten und Psalmen), danach noch andere Bücher teils aus älterer teils aus jüngerer Zeit den zwei Teilen derselben als „Schriften" (wonach wir unsere ganze Bibel nennen) beigefügt wurden: Sprüche, Hiob, dann die fünf Bücher Hoheslied, Ruch, Klagelieder, Prediger ») Über die Sage von der Entstehung des A. T. siehe unten d. 8) Bei diesem einzigen Buche, dem Pentateuch, ist das Volk der Samariter stehen ge­ blieben, die späteren Bücher der Bibel sind ihnen unbekannt. 3) Um das Jahr 300, bei Jesus Sirach (K. 44—49) und Daniel (9,2) bereits als vorhanden voraus­ gesetzt.

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und Esther (nur diese fünf Bücher in der Synagoge vorgelesen)*), später Esra, Nehemia und Chronik, und zuletzt Daniel. Nicht ohne Bedenken, welche erst um das Jahr 100 nach Chr. auf Ver­ sammlungen der Gelehrten beschwichtigt wurden, hatten die Juden manche dieser letzten Schriften (Esther, Hoheslied, Prediger) in den Kanon aufgenom­ men, und solche Bedenken haben auch neuere Bibelforscher ausgesprochen (z. B. Luther wegen des Buches Esther); aber diese Bedenken wurden all­ mählich vergessen (und neuere Bedenken blieben unbeachtet), und man ge­ wöhnte sich bald, diese allmählich abgeschlossene Sammlung als ein Ganzes zu betrachten, ohne noch die Unterschiede der einzelnen Bücher und der ein­ zelnen Teile des Kanons zu beachten. Das älteste Zeugnis für die Dreiteilung des ATlichen Kanons ist die dem 2. Jahrhundert vor Christus angehörende Vorrede des Buches Jesus Sirach (Vers 1 u. 3 u. 7 — diese Vorrede, die in unfern gewöhnlichen Bibeln fehlt, hatte Luther mit übersetzt, und sie ist mit Recht in die „durchgesehene Bibel" wieder aufgenommen worden), obwohl damals der dritte Teil des A. T. noch nicht abgeschlossen war, da noch in der Zeit Jesu über die Zugehörigkeit einzelner Schriften zum Kanon gestritten wurde. Wer schon Josephus12)*zählt ebensoviele Schriften, wie man später zählte, im Kanon, und schon in der Zeit Jesu war die Chronik offenbar (wie heute) das letzte Buch des hebräischen A. T-, indem als l e tz t e r Propheten­ mord der des Sacharja nach 2. Chron. 24 erwähnt wird (Matth. 23, 35), weil die Chronik das letzte Buch des A. T. ist, während nach der Chronologie die Ermordung des Propheten Uria (Jer. 26) als letzter Prophetenmord zu nennen war. Andere Schriften, als die jetzt darin stehenden, haben die palästinensischen Juden niemals zum Kanon gerechnet; dagegen haben die hellenistischen Juden die sogen. Apokryphen *) der griechischen Bibel einverleibt, aber ohne die Zahl derselben abschließend festzustellen, und aus der griechischen Bibel sind sie in die l a t e i n i s ch e Bibel gekommen4).* In der römischen Kirche wurden schon in früherer Zeit die Apokryphen des A. T. dem AMchen Kanon zugerechnet, und das Tridentiner Concil hat diese Praxis der Kirche znm Gesetz gemacht; dagegen sind in der grie­ chischen Kirche die Apokryphen erst im 17. Jahrh, in den Kanon aufgenommen worden. Luther hat dieselben zwar aufgenommen6), aber ihren Unterschied von den kanonischen Schriften erkannt und durch eine besondere Überschrift in seiner Bibel bemerklich gemacht °); strengere Reformierte haben sie gänzlich aus der Bibel verwiesen; daher werden sie von der englischen Bibelgesell­ schaft ihren Bibeln nicht beigegeben. Das deutsche Volk läßt sich Bücher wie Tobias und Jesus Sirach nicht gern vorenthalten, und das erste Buch der 1) Das Hohelied am Passahfest, Ruth am Pfingstfest, Klagelieder an den Tempelsasten, Prediger am Laubhüttensest, Esther am Purimfest. 2) Der Befehls­ haber im jüdischen Kriege und Geschichtschreiber, vgl. Nr. 92. ’) Aber nicht bloß die der Lutherbibel, sondern auch noch das 3. Buch Esra und in einigen Hand­ schriften das Gebet Manasses und das 3. und 4. Buch der Makkabäer. 4) Aber außer denen der Lutherbibel nur das dritte und vierte Buch Esra und das Gebet Manasses, welche aber nur als Anhang hinter dem 91. T. stehen und als nicht zum Kanon ge­ hörend bezeichnet sind. 6) Aber nicht alle Apokryphen der griechischen und der lateinischen Bibel. •) „Apokryph« — das sind Bücher, so der heiligen Schrift nicht gleich gehalten, und doch nützlich und gut zu lesen sind."

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Makkabäer ist auch für die Kenntnis der jüdischen Geschichte in der damaligen Zeit von großem Werte; dämm mag man ihnen ihren bescheidenen Platz in der Bibel gönnen. d. Wie das spätere Judentum über die Entstehung seiner Bibel gedacht hat, zeigt das 4. Buch Esra (Kap. 14). „Herr, dein Gesetz ist verbrannt. Wenn ich [Esraj Gnade vor dir gefunden habe, so verleihe mir den heiligen Geist, daß ich alles, was seit Anfang in der Welt geschehen ist, niederschreibe, wie es in deinem Gesetz [betn A. %.] geschrieben stand." Da sprach der Herr: „Mache dir viele Schreibtafeln fertig, nimm fünf Männer zu dir, welche verstehen schnell zu schreiben, und ich will in deinem Herzen die Leuchte der Weisheit entzünden, die nicht erlöschen wird, bis zu Ende ist, was du schreiben sollst." So schrieben [nach Esra's Diktatj die fünf Männer der Reihe nach das Diktierte in Zeichen auf, die sie nicht verstanden [in der j e tz i g e n hebräischen Schrift). In vierzig Tagen wurden niedergeschrieben 94 Bücher. Der Höchste aber sprach zu mir: „Die 24 Bücher [des A. X.], die du zuerst geschrieben, sollst du ver­ öffentlichen, den Würdigen und Unwürdigen zum Lesen; die letzten 70 aber [die apokalyptischen Bücher) sollst du zurückhalten und nur den Weisen deines Volkes übergeben." „So tat ich [($5ra) 5000 Jahre 3 Monate 12 Tage nach der Schöpfung der Welt." Die Sage hat Esra viel mehr zugeschrieben, als er geleistet hat. Nicht so groß, als Esra' s Verdienst, erscheint in der Sage das Verdienst der sogen, „großen Synagog e", eines Kollegiums von 120 Mitgliedern, welches seit Esra bis zur griechischen Zeit in Jemsalem bestanden haben soll, und welchem die Herstellung des Bibelkanons, die masorethischen Randnotizen, die Punktation des Bibeltextes, die Abfassung von Geboten und Verordnungen über Gebete, die Be­ stimmung, daß das Buch Esther am Purimfeste vorzulesen sei, zugeschrieben werden. Die „große Synagoge" ist zwar wohl nicht als historisch anzusehen, aber ein Teil der Ihr zugeschriebenen Tätigkeit ist wohl in die ihr zugewiesene Zeit zu setzen. II. Die SprachendesAltenTestaments. In z w e i, wie man gewöhnlich sagt, oder vielmehr in d r e i Sprachen, wie man genauer sagen sollte, ist die Bibel geschrieben, das Me Testament in der hebräi­ schen Sprache, aber einige Abschnitte desselben in der aramäischen Sprache, das Neue Testament in der griechischen Sprache. Bon diesen drei Grundsprachen der Bibel soll im folgenden genauer gesprochen toetben*). 1. Die hebräische Sprache. a. Das Volk Israel, als ein semitisches Volka), sprach natürlich eine semitische, die sogen, hebräische Sprache, mit welcher die unlängst bekannt gewordene m o a b i t i s ch e8) fast ganz übereinstimmt, und von welcher die p h ö n i e i s ch e *4)* sich nur wenig unterscheidet6). Alle Semiten haben natürlich in der Urzeit eine ge!) Über die griechische Sprache vgl. unten B, II. 2) Über die Semiten vgl. Nr. 6. 8) Siegessäule des Königs Mesa von Moab; vgl. Nr. 36, e. 4) In Phönizien und in seinen Kolonien — auch im Pönulus des Plautus erhalten. 6) Die älteste Sprache, von welcher uns schriftliche Urkunden aus Palästina vorliegen, ist das Babylonische; die Tell-Amarna-Funde (vgl. Nr. 24 e und h) zeigen uns dasselbe als die Verkehrssprache in Palästina zu einer Zeit (1400), wo die Ägypter den Süden, die Hethiter den Norden von Palästina beherrschten. Aber die Bewohner

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meinsame Sprache gesprochen, von der wir ebensowenig ein Denkmal besitzen, wie von der Ursprache der Jndogermanen. Von den heutigen semitischen Sprachen hat das A r a b i s ch e, infolge der langen Abgeschlossenheit des Volkes (ebenso wie das Litauische unter den indogermanischen Sprachen), sich die größte Mertümlichkeit erhalten; der Ursprache am fernsten steht das A r a m ä i s ch e; in der Mitte zwischen beiden steht das H e b r ä i s ch e *), welches zwar an Formenreichtum dem Arabischen nachsteht, aber das Aramäische weit überragt*2).* Wenn wir aber nach dem Mer der in ihnen vorhandenen Litteratur diese drei semitischen Sprachen gruppieren, so steht an erster Stelle das Hebräische, an zweiter das Aramäische und an dritter das Arabische8). Die hebräische Litteratur beschränkt sich aber beinahe auf das (verhält nismäßig kleine) Alte Testament4)*(von welchem aber Jerem. 10,11, Esra 4, 8—6,18 und 7,12—26 und Daniel 2, 4—7, 28 in aramäischer Sprache geschrieben sind). Zum Men Testament treten nur noch hinzu die Inschriften der Münzen der Makkabäer und einiger geschnittener Steine, die im Jahre 1880 gefundene (wahrscheinlich aus der Zeit des Hiskia stammende) Siloahinschrift6), die unlängst gefundenen Stücke der Grundschrift des Buches Jesus Sirach, und auch die Inschrift auf dem Stein des moabitischen Königs Mesa. b. Das Hebräische ist nun, nur gesprochen vom Volke Israel, stets auf einen kleinen Raum beschränkt gewesen; ja, nach dem babylonischen Exil hat es sogar all­ mählich aufgehört, eine lebende Sprache zu sein, da seitdem im Munde des israelitischen Volkes und auch in der Litteratur (Esra und Daniel) das Aramäische herrschend wurde; Aramäisch, nicht Hebräisch, haben deshalb auch Jesus und die Apostel gesprochen6). Seit sich der Islam ausgebreitet hat, hat sich das ursprünglich kleine Gebiet der semi­ tischen Sprachen auch über die Nilländer und den Nordrand von Afrika ausgebreitet. Aber in allen semitischen Ländern wird heute fast nur noch eine semitische Sprache gesprochen, das Arabische, neben welchem sich in Asien das Syrische nur in dürftigen Resten behauptet, aber in Afrika das Abessinische in mehreren Tochtersprachen weiterlebt. c. Daß es in der hebräischen Sprache verschiedene Dialekte gegeben hat, sehen wir aus Richt. 12, 6, wonach die Ephraimiten „Sibboleth" sprachen statt des gewöhnlichen „Schibboleth" 7). des Landes sprachen nicht Babylonisch, sondern andre Sprachen, je nach ihrer Ab­ stammung, bis das Hebräische durch die Einwanderung der Israeliten die herrschende Sprache in Kanaan wurde. *) Arabisch: Katala; Hebräisch: Katal; Aramäisch: K>tal; das Arabische, als die reichste Sprache, ist die älteste. 2) Dem Arabischen wäre das Gotische, dem Hebräischen das Deutsche, dem Aramäischen das Englische zur Seite zu stellen. 8) Die ältesten semitischen Schriftstücke liegen vor in den ba­ bylonisch-assyrischen Keilschriften, von denen die assyrischen bis zum Jahre 1800 vor Chr., die babylonischen noch tausend Jahre weiter zurückreichen. 4) Das A. T. ent­ hält nur 5642 Wörter, Luthers Schriften etwa 12 000, Shakespeare dagegen 15 000. 6) Vgl. Nr. 39 b. 6) Daß im Hause des evangelischen Pastors I. I. F a b r i e i u s He­ bräisch die Familiensprache war (Hagenbach KG. V, 513), ist als ein Untern anzu­ sehen; das entsprach allerdings der im 1.1609 aufgestellten Forderung des älteren Buxt o r f, daß jeder Christ Gott in s e i n e r (Gottesj Sprache solle loben können. — In manchen Ländern, wo die Zahl der Juden bedeutender ist, erscheinen noch heute Zeit­ schriften in hebräischer Sprache, und die britische Bibelgesellschaft hat das Neue Test, in das Hebräische übersetzen lassen, um es manchem Juden leichter zugänglich zu machen. — Das Hebräische ist noch heute in jüdischen Kreisen eine bekannte Sprache wie das Lateinische im Mittelalter oder das Französische oder das Englische in der Neuzeit. 7) S ist auch hier (wie bei uns) älter als sch; aber sch hat den älteren Laut sehr zurückgedrängt: nach dem Wörterbuch beginnen mit (5162, mit Sch 566 (hebr. und aram.) Wörter der Bibel.

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Daß auch die hebräische Sprache im Laufe der Zeit eine Umgestaltung erfahren hat, erkennen wir, wenn wir die ältesten und die jüngsten Stücke der Litteratur mit einander (gegenüber der Umgestaltung der deutschen Sprache) vergleichen; auch für die hebräische Sprache gilt beinahe das Wort: „Tausend Jahre sind wie ein Tag." d. Als das Hebräische aufhörte eine lebendige Sprache im Munde des V o l k e s zu sein, blieb es doch lebendig im Munde derGelehrtendes Volkes, welche, dazu angeregt durch die Berührung mit den Arabern, schon vor dem Jahre 1000 mit der Grammatik ihrer heiligen Sprache sich beschäftigten1). Diesen jüdischen Gelehrten verdankten ihre Kenntnis des Hebräischen die Humanisten, zu denen auch Reuchlin gehörte (Rudimenta hebraica — Lexikon und Grammatik — 1506). Einen neuen Aufschwung nahm das Studium der hebräischen Sprache durch das aufkommende Studium der andern semitischen Sprachen. Auf diesen Arbeiten weiter bauend, haben Gesenius, Ewald und König im 19. Jahrhundert ihre bekannten Werke geschaffen. e. Daß die Kenntnis des Hebräischen für den Theologen unentbehrlich ist, wird heute allgemein anerkannt, aber eigentlich erst seit der Reformation. In der alten Kirche hat es eigentlich nur einen Mann gegeben, der das Hebräische ordentlich gekannt hat, Hieronymus, der die Bibel ins Lateinische übersetzt hat. Im Mittelalter sollten zwar an den Universitäten auch Lehrer des Hebräischen vorhanden sein; aber es wird deren nicht viele gegeben haben. Erst im 15. Jahrhundert begannen gelehrte Christen sich mit dieser Sprache zu beschäftigen; im 1.1501 oder 1502 erschien in Deutschland das erste gedruckte hebräische Buch, im I. 1506 erschien die erste von einem Christen herausgegebene eigentliche hebräische Grammatik, die Rudimenta hebraica von Reuchlin. Seitdem galt in der evangelischen Kirche die Kenntnis des Hebräischen für den Theologen als unerläßlich; Luther rief ihnen zu: „Ihr müßt Hebräisch lernen, si non pecora campi et indoctum vulgus haben vultis (wenn ihr nicht dumm wie das Vieh und das ungebildete Volk sein tootit]." Wenn nun damals die Kenntnis des Hebräischen in der Regel erst auf der Universität erworben wurde, so wurde doch auch schon auf manchen vorbereitenden Schulen Hebräisch getrieben. Die katholischen Theologen sahen sich durch diesen Fortschritt der Protestanten alsbald genötigt, es ihnen in diesen Studien gleichzutun, obwohl sie ja an der Vulgata eine für richtig erklärte Bibelübersetzung hatten. Aber im Zeitalter der Orthodoxie ließ in der evangelischen Kirche der Eifer für die hebräischen Studien nach, und erst im Zeitalter des Pietismus wurden dieselben wieder mehr gefördert. f. Daß die h e b r äi s ch e S ch r i f t (wie die der meisten Semiten) von rechts nach links geschrieben wird, und das hebräische Buch nach unserer Meinung am Ende anfängt, ist bekannt. Die hebräische Schrift hat aber ein Alphabet, welches nur aus Konsonanten besteht; die Vokale wurden ursprünglich nur zum Teil durch bestimmte Konsonanten angedeutet; seit etwa 600 n. Chr. werden aber in den gewöhn*) Von den Arabern wurde damals als Paradigma für das Verbum das Wort iaal übernommen, von welchem noch heute die Bezeichnungen der verschiedenen Verbalormen üblich sind. An seine Stelle trat später (durch Moses Kimchi, c. 1180) das sehr geeignete pakad, das sich noch bei dem Humanisten Pellicanus findet, 1501 — von welchem außer den gewöhnlichen 7 Konjugationen sogar noch ein Hothpaal vor­ kommt; darauf durch Danz (+ 1727) das heute übliche (sehr selten vorkommende) katal. — Die heute gewöhnliche Ordnung der Stammformen des Verbums be­ ruht auf Moses Kimchi (dem älteren Sohne von Joseph Kimchi, c. 1180): Kal, Niph., Fiel, Pual, Hiph., Hoph., Hithp. 4 Heidrich, Heilige Geschichte. 3. Ausl.

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lichen Handschriften und Drucken (aber nicht in den Synagogenrotten) alle Vokale (und außerdem auch die Accente) mit einer Genauigkeit, welche unser Alphabet weit übertrifft, durch kleine Zeichen über oder unter den Konsonanten bezeichnet l). 2. Die aramäische Sprache. Zwar der größte Teil des Alten Testaments ist in hebräischer Sprache geschrieben, aber ein (allerdings nur kleiner) Teil desselben in aramäischer Sprache, nämlich Jerem. 10,112), Esra 4, 8—6,18 und 7,12—26 und Daniel 2,4 bis 7, 28s). Woher kommt das? a. Die Juden, welche aus dem babylonischen Exil zurückkehrten, wie auch die in Palästina zurückgebliebenen Juden, sprachen zunächst noch ihre Muttersprache, das Hebräische; die Exulanten haben nicht, wie man früher meinte, aus dem baby­ lonischen Exil auch die babylonische (chaldäische) Sprache mitgebracht. Aber allerdings ist in dieser Beziehung eine Veränderung vorgegangen, aber eine andere, als man früher annahm, und später, als man früher glaubte; nicht das Babylonische (= Chal­ däische), sondern das Aramäische ist nämlich später, aber nicht sofort nach dem Exil, zur Sprache des jüdischen Volkes geworden. Die Aramäer wohnten in der Mitte zwischen den Babyloniern und den Kananäern, vom Fuße des Libanon und des Antilibanon nordöstlich bis nach Mesopotamien, wo das „Aram der beiden Ströme" ihre östlichste Provinz bildete. Dieselben haben es am Anfang des vorchristlichen Jahrtausends zu ansehnlichen Staatenbildungen gebracht, von denen das Reich von Damaskus das bekannteste ist. Bedeutender aber, als ihre politische Macht, wurde ihre Sprache, welche trotz der Zerstörung des Reiches von Damaskus immer weiter vordrang und zur Verkehrssprache von Vorderasien wurde, ja, sogar in Ägypten eindrang, welcher auch das später in Borderasien vor­ dringende Griechisch bei der Volksmasse nur wenig Abbruch tat. Auch unter den Juden drang nun, besonders seit der makkabäischen Zeit, mehr und mehr die aramäische Sprache vor und verdrängte die hebräische Sprache, zuerst beim Volke, dann auch in der Litteratur (Esra und Daniel), so daß zur Zeit Jesu das Aramäische auch bei den Juden die herrschende Sprache war. Zwar ganz unbekannt war das Hebräische auch damals dem jüdischen Volke in Palästina nicht, aber die Sprache des täglichen Verkehrs war das in ganz Vorderasien herrschende Aramäische, imb Jesus und seine Jünger haben Aramäisch gesprochen, und sie mußten es sprechen (selbst wenn sie noch Hebräisch sprechen gekonnt hätten), um vom Volke ver­ standen zu werden. b. Das Aramäische aber, welches Jesus und seine Zeitgenossen gesprochen haben, war das W e st a.r a m ä i s ch e *); in dieser Sprache ist auch eine Übersetzung des Pentateuchs der Samaritaner6) und ein Teil der älteren jüdischen Bibelaus­ legungen geschrieben. Dagegen ist eine oft aramäische Sprache die lyrische oder edessenische Sprache, welche seit dem 2. Jahrh, eine reiche, fast ausschließlich christliche *) Für die Frage nach der Entstehung und dem Alter der hebräischen Schrift vergleiche der Lehrer außer der hebräischen Grammatik auch z. B. den Artikel „Schreib­ kunst und Schrift bei den Hebräern" in der Theol. Encykl.8 Bd. 17. 2) Ein späterer Zusatz zu dem ursprünglichen Texte. 3) Auch im N. T. finden sich aramäische Wörter: vgl. Nr. 113 e. 4) Ein westaramäischer Dialekt wird noch heute in drei Dör­ fern des Antilibanon gesprochen. *) Der Pentateuch der Samaritaner ist im wesent­ lichen der der Juden.

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Litteratur aufzuweisen hat; die älteste Schrift in dieser Sprache ist die wahrscheinlich schon am Ende des 2. Jahrh. n. Chr. angefertigte syrische Bibelübersetzung; auch ein Teil der altjüdischen Litteratur (der babylonische Talmud) ist in dieser Sprache ge­ schrieben 1). Später ist das Aramäische fast ganz verdrängt worden durch das mit dem Islam vordringende Arabische, welches noch heute in Palästina und in Syrien die Landes­ sprache ist; nur im nördlichen Syrien ist das Türkische zur Herrschaft gelangt. Eine gemeinsame Sprache besitzt seit dem Untergange Jerusalems das jüdische Volk nicht mehr; am meisten ist unter den Juden neben dem Arabischen und dem Spanischen das Deutsche verbreitet; was die Juden zusammenhält, ist nicht mehr ihre Sprache und ihre Nationalität, sondern ihre Religion. c. Die Sprache Jesu: Nr. 113 e.

III. Der Text des Alten Testaments. a. Wenn man im 17. Jahrhundert behauptete, daß der uns heute vorliegende Text des Men Testaments (sogar mit den Vokalen und den Accenten) schon vonder zu Esra's Zeit zusammenberufenen „großen Synagoge" unter der Leitung des h. Geistes festgestellt und durch kritische Bemerkungen, die sogen. Massora, auch gegen eine künftige Verderbnis gesichert worden sei, so daß wir also vom Alten Testament einen unzweifelhaft richtigen Text hätten, so ist diese Meinung, welche das von Gott geleistet glaubte, was sie im Interesse des Glaubens iür nötig hielt, heute völlig aufgegeben; wir glauben weder an einen unfehlbaren Papst, noch an eine von Gott diktierte und in ihrem Texte von Gott fehlerlos erhaltene Bibel; wir glauben an eine Offenbarung Gottes in der Welt, aber die Bibel ist nur die U r k u n d e der Offenbarung, nicht die Offenbarung s e l b st; auch die Bibel hat das Schicksal aller Bücher gehabt, daß sie nicht ohne Entstellungen zu uns gelangt ist; aber diese Entstellungen des T e x t e s sind nicht so erheblich, daß wir über den I n h a l t der Bibel im ganzen im unklaren wären. b. Daß von den Schritten des A. T. keine Urschrift vorhanden ist, ist begreiflich; daß die Abschriften des Textes in der alten Zeit nicht immer korrekt gewesen sind, versteht sich von selbst. Als nun aber das Judentum nach der Zerstörung Jerusalems noch mehr, als dies schon vorher der Fall war, eine Religion des Buchstabens wurde, da war es natürlich, daß die Gelehrten ihren heiligen Schriften, vor allem dem als die Hauptschrift der Bibel betrachteten Gesetz, eine große Sorgfalt widmeten und jeden Buchstaben desselben festzustellen suchten. Wie noch heute für die Synagogen, so war in der alten Zeit der Text überhaupt auf Rollen geschrieben, und zwar früher in einer älteren, später in der heutigen Schrift, der sogen. Quadratschrift. Aber das hebräische Alphabet enthält bekanntlich nur Konsonanten, nicht Vokale; da kam es nun darauf an, festzustellen, wie jedes Wort zu lesen sei, also die Vokalisation festzustellen, wie auch die Wort-, die Vers- und die Abschnitt-Mteilung, da ja in der alten Zeit die Konsonanten einfach, ohne Abteilung, hinter einander geschrieben wurden; die Synagogen-Rollen enthalten noch heute nur die Konsonanten, nicht die Vokale und die Accente, die wir heute im gedruckten *) Noch heute werden mehrere ostaramäiscke Dialekte in einigen Gegenden Borderasiens (am oberen Tigris und am Urmijasee) gesprochen.

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Texte finden. Zwar darüber, wie der Text zu lesen sei, war man im ganzen nicht im Zweifel, aber eine Aufzeichnung dieser Überliefemng, also eine den Konsonanten beigegebene Vokalisation war noch nicht vorhanden. Dagegen ist die Abteilung der Wörter, der Verse und größerer Abschnitte (in der Weise unserer Kapitel) schon vor der Vokalisation des Textes durchgeführt worden und darum auch in den SynagogenRollen vorhanden. Ihren Abschluß hat diese Tätigkeit der Gelehrten gesunden in der Zeit vom 6.—11. Jahrhundert, in welcher die Überliefemng, die Massora, endgültig zusammengestellt und festgestellt wurde, und der sogen, massoretische Text entstand. Nunmehr wurde also zunächst der Konsonanten-Bestand festgestellt, bez. angemerkt, wo eine Differenz in demselben vorhanden sei. Im 6.-8. Jahrhundert wurde sodann zunächst die Aussprache der Konsonanten durch beigefügte Zeichen (Dagesch, Mappik, Raphe, diakritischer Punkt) festgestellt, sodann Zeichen für die Vokale und endlich die Accente beigefügt, die Accente teils als Interpunktionszeichen, teils als eine Art von Notenzeichen zur Regelung des Vortrags des Textes in der Synagoge. Neben der uns < geläufigen Vokalisation gibt es noch eine zweite1), in welcher die Vokalzeichen nicht unter sondern ü b e r den Konsonanten stehen; dieselbe ist aber auf wenige Hand­ schriften beschränkt. Die Accentuation der dichterischen Bücher (Psalmen, Sprüche und Hiob) ist verschieden von der der anderen Bücher. Die Verseinteilung, welche in derselben Zeit eingeführt wurde, ist erst von den Massoreten gemacht worden; jeder Vers wurde geschlossen durch den Doppelpunkt (Soph-Pasuk) *), dem später beim letzten Worte des Verses noch der Accent Silluk beigegeben wurde. Me Bemerkungen betr. eine Andemng des Textes wurden demselben ebenfalls beigefügt als Keri oder Kere (zu Lesendes) im Gegensatz zum Ketib (dem Geschriebenen) — es war nicht gestattet, an dem überlieferten Texte etwas zu ändern. Die jetzige Kapitel-Einteilung stammt aber nicht von den Massoreten her, sondern aus der lateinischen Bibel, in welche sie durch Stephan Langton (Erzbischof von Canterbury, f 1228) eingeführt wurde. Aus der lateinischen Bibel ist sie bald darauf in die hebräische Bibel aufgenommen worden, und erst im 16. Jahrhundert wurde durch den Pariser Buchdmcker Robertus Stephanus auch die Vers z ä h l u n g eingeführt. c. Die Handschriften des A. T. sind entweder Synagogenrollen, welche nur die Konsonanten des Textes enthalten, oder Privathandschriften, welche auch die Zeichen für die Aussprache, namentlich die Vokale und die Accente, wie auch die Angaben über Textverschiedenheiten enthalten. Besonders alte Handschriften des A. T. sind nicht vorhanden, weil unbrauchbar gewordene Handschriften beseitigt werden müssen; die ältesten Handschriften stammen aus den Jahren 916 und 1009 (in Petersburg). Die erste gedruckte hebräische Bibel erschien im Jahre 1488; Luther übersetzte aus der hebräischen Bibel von 1494; die neuesten Ausgaben sind die von Baer-Delitzsch, von Ginsburg und von Kittel (1905). Eine wissenschaftliche Ausgabe des ATlichen Textes, welche nicht bloß den massoretischen Text darbietet, sondern auch die ältere Gestalt des Textes, ist von Haupt begonnen worden, aber noch nicht voll­ endet (The sacred books of the Old Testament)3). Eine neue deutsche Übersetzung des A. T. mit wissenschaftlich wertvollen Beigaben ist im I. 1894 von Kautzsch x) Über ein drittes Punktationssystem vgl. Strack, Einl. § 80. 2) Durch einen Punkt trennte man früher die Wörter, jetzt durch zwei Punkte die Verse von einander. 3) Über die „Einrichtung der neueren Drucke des A. T." wird der Lehrer orientiert in Strackes Einleitung in das A. T., § 82 u. 83.

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herausgegeben wordenx) (jetzt auch mit dem N. T. von Weizsäcker vereinigt in der „Textbibel") -).

B. DasNeueTestarnent. I. Die Entstehung des Neuen Testaments. a. Jesus hatte nur gepredigt, aber nichts geschrieben, und seine zwölf Apostel entstammten nicht dem Stande der Schriftgelehrten; erst Paulus war vor seiner Bekehrung ein Schriftgelehrter; es ist also nicht zu ver­ wundern, daß dieser gelehrte Apostel auch (wahrscheinlich) der erste christliche Schriftsteller geworden ist. Aber auch Paulus hat zunächst nur durch mündliche Predigt seine Gemeinden begründet, und, wenn er es für nötig hielt, sie per­ sönlich aufgesucht oder seine Mitarbeiter zu ihnen gesandt. Doch bald reichte dies Mittel des persönlichen Verkehrs nicht mehr aus, und so begann nun Paulus, namentlich als Gegner seine Gemeinden verwirrten, Briefe an seine Gemeinden zu schreiben — die ältesten Denkmäler der christlichen Litte­ ratur. Er hat m e h r Briefe geschrieben, als wir noch von ihm besitzen; die ältesten der erhaltenen Briefe sind die an die Thessalonicher und der an die Galater, die beiden Korintherbriefe und der Römerbrief. Gleichzeitig mit den jüngeren Paulinischen Briefen sind wohl die anderen Briefe des Neuen Testaments und die Offenbarung Johannis entstanden. Erst später, als die Westen Briefe, sind die Evangelien (und die Apostelgeschichte) entstanden, etwa seit dem Jahre 70 allmählich geschrieben, das letzte derselben das Evan­ gelium Johannis. Die meisten dieser Schriften sind bereits um das Jahr 200 zu einem Neuen Testament zusammengefaßt worden. b. Neutestarnentliche Apokryphen»). Denjenigen Schriften, welche die Apostel und ihre nächsten Schüler geschrieben hatten, und welche die spätere Kirche irn Kanondes NeuenTestarnents vereinigt hat, traten bald Schriften der nächstfolgenden wie der späteren Zeiten zur Seite, welche sich den älteren echten Schriften gleichzustellen versuchten. Die Stellung der NTlichen Apokryphen zu den kanonischen Büchern des N. T. ist aber wesentlich verschieden von der der ATlichen Apokryphen zu den kanonischen Büchern des A. T.; während die letzteren die Offenbarungsgeschichte in ehrlicher Weise fortzuführen be­ absichtigen, wollen die NTlichen Apokryphen als kanonische Schriften gelten, obwohl sie doch nur neueste Überlieferungen darbieten. Diese untergeschobenen Schriften des N. T. erstrecken sich über das ganze Gebiet des N. T., und es gibt demnach: 1. apokrhphische Evangelien, 2. apokryphische Apostelgeschichten, *) Dritte Auflage 1910. a) Diese „Textbibel" ist heute (abgesehen von den Bibeln der Bibelgesellschaften) verhältnismäßig das billigste Buch der Welt: sie kostet gebunden nur 6 Mark. 8) Der Lehrer findet dieselben in dem Buche von Hennecke: Die Apo­ kryphen des Neuen Testaments. 2 Bände. — Es ist interessant zu sehen, daß schon der berühmte Rektor von Ilfeld, Michael Neander, einer griechisch-lateinischen Über­ setzung von Luthers Katechismus vom Jahre 1564 auch Apokryphen des N. T. bei­ gegeben hat: Abgarsage, Pilatusbriefe, Sibyllinen. Ich habe wenigstens betn Hand­ buch der heiligen Geschichte namentlich in der neuen Auflage einige Abschnitte aus diesen Schriften beigegeben.

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3. apokryphische Apostelbriefe, Lehrschriften und Kirchenordnungen, 4. apokryphische Apokalypsen. Während nun diese Schriften von der Kirche immer entschiedener zurück­ gewiesen worden sind, ist ihr I nh a l t zum Teil von der Kirche aufgenommen und anerkannt worden. a. Die nicht geringe Zahl der apokryphischen Evangelien, die es gibt, oder auch nur gab, erklärt sich aus einem zweifachen Anlaß. Der eine Anlaß war der fromme Wunsch allzu wißbegieriger Christen, Dinge zu wissen, von denen unsere Evan­ gelien nichts berichten. Der andere Anlaß war der, bestimmte Glaubenslehren durch eine geschichtliche Überlieferung zu stützen. Diesen beiden Zwecken dienten nun die apokryphischen Evangelien, deren Erzählungen sich, da über das Wirken Jesu wenig Neues zu berichten war, meist auf die Darstellung des A n f a n g s oder des Ausgangs des Lebens Jesu beschränken1). ß. Aus denselben Anlässen, aber vornehmlich als Stützen für ketzerische Lehren, sind die zahlreichen apokryphischen Apostelgeschichten entstanden2). Im Mittelalter kamen zu diesen alten Schriften hinzu die unzähligen Hei­ ligenlegenden, unter denen die Marienlegenden besonders hervor­ ragen; ja, im Mittelalter kannte man schließlich die Legenden von den Heiligen besser als die Geschichten der Bibel. Erst durch die Reformation sind die Legenden zmückgedrängt worden, so daß heute nur noch wenige Legenden, namentlich solche, welche in der Kunst eine Rolle spielen oder an die Feste des Kirchenjahres sich anschließen, dem evangelischen Volke bekannt sind. 7. In nicht geringer Zahl sind auch apokryphische Briefe vorhanden. Sollte doch sogar ein Brief Jesu vorhanden sein, den er an den Fürsten Abgar von Edessa (9—46 nach Chr.) geschrieben haben sollte 3). Viel gelesen wurde auch der Briefwechsel zwischen Paulus (sechs Briefe) und Seneca (acht Briefe), dem Bruder des in der Apostelgeschichte (18,12) genannten Gallion, des römischen Prokonsuls in Achaja, der die den Paulus verklagenden Juden zurückwies. 8. In geringerer Zahl sind apokryphische Apokalypsen vorhanden. Zwar das im Briefe Judä (V. 14 s.) citierte Buch Henoch und das sogen. 4. Buch Esra, die fast als christliche Werke angesehen wurden, sind Schriften von Juden, dagegen sind von Christen verfaßt andere Apokalypsen, welche dem Johannes, dem Petrus und anderen Aposteln zugeschrieben wurden4). e. Me diese Schriften haben keinen großen Wert; von größerem Werte sind dagegen diejenigen apokryphischen Schriften, welche die Einrichtungen der alten Kirche darstellen und deren Ursprung auf die Apostel zurückführen6).

c. Der Kanon des Neuen Testaments. — Die ölten Christen erkannten, nach Jesu und der Apostel Vorgang, die heiligen Schriften des Sitten Testaments als Grundlage auch für i h r e n Glauben an; was die Propheten geweissagt hatten, war in Christus erfüllt, und das Gesetz Mosis hatte Jesus in seiner Bergpredigt zu Grunde gelegt. Dem Sitten Testament trat zunächst nur die mündliche Predigt Jesu und später der Apostel zur Seite; zunächst dienten auch die für besondere Verhältnisse berechneten Briefe der Apostel nicht als Grundlage der Predigt und des Unterrichts; dieselben wurden in der be-

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treffenden Gemeinde vorgelesen und aufbewahrt, auch wohl anhexn Gemeinden mitgeteilt, aber als zu wiederholter Vorlesung bestimmt und als Grund­ lage der Predigt und des Unterrichts dienten diese Briefe zunächst nicht; im christlichen Gottesdienste gab es nur Predigt und Unterricht auf Grund der mündlichen Überlieferung und des Mten Testaments *). Als nun aber Jrrlehrer auftraten, welche neue Lehren vortmgen und durch angebliche Apostelschriften bewiesen, da begann die Kirche allmählich die bereits ent­ standenen Schriften der Apostel und ihrer ersten Jünger zu sammeln und zu vereinigen, um aus ihnen die neuen Lehren zu widerlegen; doch waren diese Sammlungen zunächst sehr verschieden und umfaßten nur wenige Schriften, zum Teil auch solche, welche später ihr Ansehen wieder verloren haben. Die Sammlung der Paulusbriefe läßt sich an der Hand der etwas späteren Briefe des Clemens, Ignatius und Polykarpus bis in die letzte Zeit des 1. Jahr­ hunderts zurückverfolgen. In der Litteratur von 95—140 finden sich so viele Hinweisungen auf den bereits allgemeinen Gebrauch unserer vier Evang e l i e n, daß die vier denselben nicht entnommenen Citate dagegen nicht in Betracht kommen. In allgemeinem Gebrauch standen außerdem der 1. Pe­ trusbrief, der 1. Johannesbrief, die Offenb. Joh. und der Hirte des Hermas. Auch die Apostelgeschichte war allgemein anerkannt. Diese Schriftsammlung, welche fortan der Überlieferung zur Seite trat, gewann bald (c. 200) dasselbe Ansehen, wie die Schriften des Mten Testaments; dieses älteste Neue T e st a m e n t ist beinahe schon das unsere, denn es umfaßte die vier Evan­ gelien und die Apostelgeschichte, dreizehn Paulinische Briefe, den ersten Brief des Johannes wie auch den des Petrus und (zum Teil auch) die Offenbarung Johannis. Es fehlten also noch der Brief an die Hebräer, die anderen Briefe des Johannes und des Petrus, und die Briefe des Jakobus und des Judas, wie auch zum Teil die Offenb. Joh., welche in der Kirche noch nicht allgemein anerkannt waren. So standen nunmehr den „Büchern des Alten Bundes" die „Bücher des Neuen Bundes" gegenüber; durch die falsche lateinische Über­ setzung des griechischen Wortes diatheke durch testamentum (Ev. Matth. 26, 28) wurden daraus auch hier wie beim „Men Testament" „Bücher des Neuen Testaments" und in verkürztem Ausdmck: „Neues Testament". Zu der ursprünglichen Sammlung sind nun allerdings in der alten Zeit auch noch andere Schriften hinzugekommen, welche den Gemeinden bekannt und lieb geworden waren2). So unterschied man allgemein anerkannte von nicht allgemein anerkannten Schriften, und beiden gegenüber standen die gänzlich verworfenen christlichen Apokryphen3). Endlich aber wurde der Umfang des Neuen Testaments festgestellt; zuerst x) Bom A. T. wurden aber nicht nur die kanonischen, sondern auch apokryphische, ja sogar pseudepigraphische Bücher gebraucht, z. B. das Buch Henoch, vgl. Brief Judä, V. 14. 2) Es waren dies um das Jahr 200: die Offenbarung des Petrus, die Apostellehre, der Barnabasbrief, zwei Briefe des Clemens (Bischofs von Rom), die Men des Paulus, der Hirte des Hermas, das Hebräerevangelium, der Brief des Polykarpus an die Philipper. 3) „Das lehrreichste und übersichtlichste Beispiel der Fälschung apostolischer Briefe" find ein dritter Brief Pauli an die Korinther und die Antwort der Korinther an Paulus. — Gregory, Einl. in das N. T. (1909), S. 348.

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für die griechische Kirche durch eine um das Jahr 360 gehaltene Synode von Laodicea (in Phrygien)1), welche zum Neuen Testament auch die früher Bestrittenen Briefe rechnet, dagegen die Offenbarung Johannis noch aus­ schließt; dieselbe war der in der Welt heimisch gewordenen Kirche ein gar zu fremdartiges Buch geworden; aber Athanasius stellte bereits im I. 367 (in seinem Osterbriefe), als der erste, u n s e r N. T. mit seinen 27 Büchern als das rechte hin; diesen Büchern stellte er als kirchliche Lesebücher nur noch die Apostellehre und den Hirten des Hermas zur Seite. Für die lateinische Kirche geschah dasselbe auf den Synoden zu Rom (382), zu Hippo (383) und zu Carthago (397); nun wurde auch die Offenbarung Johannis dem Neuen Testament zugerechnet, und dieselbe wurde um das Jahr 500 auch von den Griechen anerkannt. Keins der allgemeinen Konzilien der alten Kirche hat den Kanon des N. T. festgestellt; auch kein Konzil des Mittelalters; erst das Tridentiner Konzil hat das getan (1546), und in Übereinstimmung mit ihm die WestminsterBersammlung der englischen Puritaner vom I. 1643 und die Glaubens­ deklaration der Schweizer vom I. 1675 (welche sogar die hebräischen Vokal­ zeichen für von Gott eingegeben erklärte). Dagegen hat Luther bestritten, daß die ATlichen Apokryphen, wie das die katholische und die griechische Kirche behaupten, den anderen heiligen Schriften gleichzustellen seien, und die britische Bibelgesellschaft hat dieselben sogar aus ihren Bibeln ausgeschlossen. Auch hat Luther gegen manche Bücher des A. T. (Buch Esther) und des N. T. (Jakobusbrief, Off. Johannis) alte Bedenken aufs neue ausgesprochen. In der evangelischen Kirche hat seit hundert Jahren der Streit um die Echtheit der heiligen Schriften aufs neue begonnen, heftiger als in der alten Zeit, und noch ist die Zeit nicht abzusehen, wo die W i s s e n s ch a f t über die Entstehung aller Schriften der Bibel über­ einstimmend urteilen wird. Aber dieser Streit über die E n t st e h u n g der Bücher hat mit der Frage nach ihrer Geltung kaum etwas zu schaffen, da die Aufnahme in den Kanon nicht allein vom Namen des Verfassers der Schrift abhängt. So stimmen denn die christlichen Kirchen in der Frage nach dem Kanon der heiligen Schriften doch nicht ganz überein. Während von den alten Kirchen die Apokryphen des A. T. den kanonischen Schriften gleichgestellt werden, werden dieselben von den evangelischen Kirchen denselben nichr gleich­ gestellt. Der Kanon des N. T. ist zwar in den g r o ß e n Kirchen derselbe, aber die Erinnerung daran, daß nicht alle Schriften des heurigen N. Tsich stets und allgemein derselben Schätzung erfreut haben, ist in diesen Kirchen doch nicht ganz verschwunden. In den kleineren Kirchen aber werden noch heute mehr Bücher zum N. T. gerechnet, als bei uns: in der äthiopischen Kirche sind es deren 8; in der syrischen und in der armenischen Kirche sind es teils mehr, teils weniger Bücher, als in den großen Kirchen; in beiden Kirchen fehlt die Off. Johannis. *) Aber die Echtheit dieser Überlieferung wird bestritten: vgl. Gregory, Einl. (1909) S. 362.

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II. Die Sprache des griechischen Alten und des Neuen Testaments*). a. Jesus hatte seine Reden an die Juden in der damals in Palästina üblich gewordenen aramäischen Sprache gehalten2), durch welche nach dem Exil das He­ bräische allmählich verdrängt worden war, und die Bibel hat uns ja auch einige seiner Worte in dieser Sprache überliefert (davon noch heute üblich: „Abba", d. h. Vater; „Amen" ist hebräisch, nicht aramäisch). Aber auch Jesus hat gewiß Griechisch ver­ standen, da er ja mehrmals mit Heiden gesprochen hat, ohne daß jemals von einem Dolmetscher die Rede ist. Ebenso verstanden unzweifelhaft auch die Apostel die grie­ chische Sprache, welche seit Alexander dem Großen im ganzen Osten, ja zum Teil auch im Westen des Römischen Reiches gesprochen oder wenigstens verstanden wurde. Es war aber von der größten Bedeutung, daß die Apostel nicht Hebräisch oder Ara­ mäisch schrieben, sondern Griechisch, denn nur in dieser Sprache konnten sie sich auch mit den weiteren Kreisen verständigen, für welche, wie ihre mündliche Predigt, so auch ihre Schriften bestimmt waren; selbst an die Römer schrieb Paulus Griechisch, gewiß in der Meinung, daß sie ihn verständen, und wir wissen ja auch, daß lange Zeit in Rom das Griechische die Sprache der Kirche war. Mit der Predigt in der grie­ chischen Sprache war dem Evangelium damals die Welt erschlossen, und es hat sie erobert. b. Wenn aber der Schüler von der Lektüre der bis dahin gelesenen griechischen Schriftsteller zu der Lektüre des griechischen N. T. übergeht (und die Sprache des N. T. stimmt im wesentlichen mit der Sprache des griechischen A. T. überein), so merkt er sofort, daß er ein anderes Griechisch vor sich hat, als das der griechischen Klassiker. Was ist das für eine Sprache? c. Als man noch glaubte, daß der heilige Geist die Bibel buchstäblich diktiert habe, da nahm man Anstoß daran, daß der heilige Geist ein angeblich so schlechtes Griechisch diktiert haben sollte. Wir glauben heute nicht mehr, daß die Bibel vom heiligen Geiste diktiert worden ist, und wir betrachten auch nicht die Sprache der griechischen Bibel als eine so verachtenswerte Sprache, daß sie des heiligen Geistes unwert gewesen wäre. d. Später meinte man, die griechische Bibel sei in einer besonderen Sprache abgefaßt, in dem biblischen Griechisch8). Heute ist man nicht mehr der Meinung, daß die Sprache der griechischen Bibel ein ganz besonderes Griechisch ist, nur die Sprüche der griechisch redenden Juden und Christen. Seitdem man nämlich in großer Menge griechische Papyri (wie auch Inschriften und Ostraka) gefunden hat, welche etwa derselben Zeit angehören, wie die Schriften des N. T., hat man besser als früher erkannt, welche Stellung die Sprache der griechischen Bibel einnimmt. e. Wenn man die Gesamtgeschichte der griechischen Sprache in drei anseinander folgende Perioden teilt, in die des Altgriechischen, des Mittelgriechischen und des Neugriechischen, so gehört die Sprache der griechischen Bibel in das Mittelgriechische, welches etwa in der Zeit von Alexander dem Großen bis zum Kaiser Justinianus (t 565), also etwa vom Jahre 300 vor Chr. bis zum Jahre 600 nach Chr., gesprochen worden ist. Auch in diesem Griechisch ist, wie in jeder lebenden Sprache, von der *) Vgl. Theol. Encykl.3 s. v. „Hellenistisches Griechisch" und „Papyrus und Papyri". — Deißmann, Die Urgeschichte des Christentums im Lichte der Sprach­ forschung. 1910. (1,00.) *) Vgl. oben A, II, 2. 8) Bon diesem Standvunkte aus ist noch verfaßt das „Wörterbuch der NMchen Gräcität" von C r e m e r.

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Umgangssprache eine Literatursprache zu unterscheiden; jene ist etwas Natürliches, diese hat etwas Gekünsteltes an sich. Die Literatursprache steht der attischen Schrift­ sprache der alten Klassiker mehr oder weniger nahe, die Umgangssprache hat sich von derselben mehr oder weniger entfernt, sowohl in der Aussprache als auch in den Wortformen und in der Syntax. Diese Umwandlung der Sprache ist aber gar wohl zu begreifen, wenn man daran denkt, daß die griechische Bevölkerung der außer­ griechischen Städte oft aus allen Stämmen des Volkes zusammengesetzt war, so daß. naturgemäß die Dialekte in einander ütietQinQen1). Je nach der Gegend, in der sie lebten, nahmen die Christen natürlich auch Fremdwörter für neue Gegenstände und Begriffe in ihre Sprache auf, z. B. die Übersetzer des A. T. aus dem Ägyptischen2). In diesem Griechisch aber besondere Dialekte zu unterscheiden, namentlich ein besonderes Griechisch der Juden oder der Christen, ist — wie schon oben bemerkt (d) — nicht möglich: es gibt kein biblisches oder neutestamentliches oder kirchlichesGriechisch. Zwar haben das griechische Judentum und das Christentum neue Begriffe geschaffen, auch neue Wörter und neue Bedeutungen alter Wörter — aber das ist eine Tatsache der Religionsgeschichte, nicht der Sprachgeschichte. Und wie leicht man hier sich täuschen kann, zeigt ein Blick in die Inschriften und Papyri; das Wort „Hei­ land" z. B., das wir nach NTlichem Sprachgebrauch zur Bezeichnung Jesu gebrauchen, entstammt nicht christlichem Denken und Sprechen, sondern ist von den heidnischen Göttern, welche mit diesem Worte als „Nothelser" bezeichnet wurden, auf Jesus Christus übertragen worden, noch nicht in den Evangelien des Markus und des Mat­ thäus, weder im Munde Jesu noch in der Erzählung der Schriftsteller, nur zweimal in den älteren Briefen des Paulus (Ephes. 5, 23 und Phil. 3, 20), aber nicht atz Eigen­ name, aber wohl bei Lukas, in den Pastoralbriefen, im 2. Petrusbrief, bei Johannes3)Daß in der Übersetzungs-Litteratur der Charakter der Originalsprache auch in der Übersetzung sich geltend macht — unwillkürlich oder auch absichtlich — ist natür­ lich «); diese Übersetzersprache ist eine Kunstsprache, nicht eine Volkssprache. Daß die biblischen Schriftsteller, wenn ihre Darstellung nicht auf einer hebräischen oder aramäischen Grundlage ruht, ganz anders schreiben, zeigt z. B. der Prolog des Lukas-Evangeliums. Wenn aber der Schriftsteller nicht als Übersetzer schreibt, son­ dern in freier Darstellung, so konnte er allerdings sich entweder mehr der (natürlichen) Umgangssprache oder der (künstlichen) Litteratursprache bedienen. Des Paulus Wort 1. Kor. 16, 13: YpT^opelTe öt^-zete entstammt der Umgangssprache, deren er sich überhaupt stets bedient hat; ein gelehrterer Grieche hätte diese beiden Wörter nicht gebraucht; dagegen zeigt der Hebräerbrief im Satzbau und im Stil die Sorgfalt und das Geschick eines Kunstschriftstellers. f. So ist denn das Griechisch der Bibel und der Kirchenväter nicht ein schlechtes Griechisch, auch nicht ein besonderes Griechisch, sondern es ist das Griechisch der dama­ ligen Welt, nicht mehr das Mgriechische, noch nicht das Neugriechische, sondern das Mittelgriechische. Die Verschiedenheiten, die wir innerhalb der einzelnen Werke des­ selben wahrnehmen, beruhen darauf, ob das Schriftwerk ein Übersetzungswerk ist oder eine freie Schöpfung des Schreibers, und im letzteren Falle darauf, ob der *) Daß der makedonische Dialekt hierbei eine besonders große Rolle gespielt habe, ist nicht richig. 2) 1. Mose 50, 2 s. spricht rad) dem Grundtext von „Ärzten", der Übersetzer von „Einbalsamierern". 3) Vgl. Harnack, Reden und Aufsätze, Bd. 1: „Als die Zeit erfüllet war. Der Heiland". 4) Man denke an die Übersetzungen und Nachdichtungen von Voß, Rückert, Jordan.

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Schreiber sich unbefangen der Umgangssprache bedient oder als gelehrterer Mann der Litteratursprache seiner Zeit. g. Der größte Gewinn, den die Erforschung der Sprache der griechischen Bibel auf Grund der Papyri und der Inschriften dem Bibelforscher bringt, ist unstreitig der, daß sie ihn den Kulturboden erkennen läßt, in den die Samenkörner des Christen­ tums eingesenkt worden sind; die Menschen der Zeit Jesu werden in den uns jetzt zugänglich gewordenen alten Urkunden vor unserem Auge wieder lebendig, mit ihrer Gottesferne und mit ihrer Gottessehnsucht, besonders auch die Menschen der mitt­ leren und unteren Klassen, unter denen die christliche Predigt vornehmlich erfolgreich gewesen ist. Wie sehr es aber der theologischen Forschung zu gute kommt, wenn der historische Hintergrund der Bibel und des alten Christentums deutlicher erkannt wird, das braucht nicht erst gezeigt zu werden1).

III. Der Text des Neuen Testaments. a. Eine Originalhandschrift eines Buches des N. T. gibt es natürlich nicht2), aber wohl sind vom N. T. viel ältere Handschriften erhalten, als vom A. T., näm­ lich schon aus dem 4. und dem 5. Jahrhundert. Die Zahl der uns ganz oder teilweise erhaltenen Handschriften des N. T. aus dem 4. bis 10. Jahrhundert (sämtlich mit großen Buchstaben geschrieben) beträgt 114, davon 2 aus dem 4. Jahrhundert: der von dem Leipziger Professor Tischendorf im Sinaikloster gefundene codex Sinai» ticus (in der Ausgabe des N. T. als N bezeichnet, welcher außer 26 Büchern des grie­ chischen A. T. auch das ganze N. T. und außerdem zwei in der alten Zeit ebenfalls noch in der Kirche gebrauchte Schriften enthält: den Brief des Barnabas2) und das erste Drittel des Hirten des Hermas), und der codex Vaticanus (B, enthaltend außer dem griechischen A. T. auch das N. T. außer der Off. Joh., dem letzten Kapitel des Hebräerbriefs und vier Paulinischen Briefen: 1. Tim., 2. Tim., Tit. und Philem.). Nur der codex Sinaiticus enthält fast das ganze N. T., noch vier andere (außer dem codex Vaticanus noch der Alexandrinus — A — aus dem 5. Jahrhundert4), der codex Ephraemi — 6 — auf dem leider im 12. Jahrhundert die alte Schrift weggewaschen und ein neuer Text darüber geschrieben worden ist6), und der codex Athous Laurae (V, aus dem 8. oder 9. Jahrh, stammend, im Kloster Laura auf dem Berge Athos) enthalten wenigstens den größten Teil des N.T. (A, B und C enthalten, wie N, auch das A. T.). Viel größer ist die Zahl der (mit kleinen Buchstaben geschrie­ benen) Handschriften des N. T. (über 2000), bez. einzelner Teile desselben, aus dem 9.—16. Jahrhundert. b. Gedruckt wurde das griechische N. T. erst etwa 50 Jahre nach der Erfindung der Buchdruckerkunst, nämlich durch den spanischen Kardinal Ximenes, auf dessen Veranlassung eine Ausgabe des A. T. in hebräischer, griechischer und lateinischer Sprache6), des N. T. in griechischer und lateinischer Sprache herausgegeben wurde, J) Von den etwa 5000 Wörtern des N. T. sind etwa nur 50 als spezifisch christlich oder biblisch anzusehen. 2) Die ursprünglichen Handschriften waren geschrieben ohne Trennung der Wörter, ohne Accente, ohne Interpunktionen,' ohne Teilung in Abschnitte — also schwer zu lesen. 3) Vor der Entdeckung des Sinaiticus im Urtext nicht bekannt. 4) Derselbe enthält auch noch die Briefe des Clemens (und enthielt ursprünglich auch noch das Psalterium Salomonis). 6) Nämlich Abhand­ lungen des Syrers Ephräm in griechischer Sprache'— daher der Name der Handschrift. 6) Der lateinische Text in der Mitte, wie Jesus zwischen den beiden Schächern — so sagten die Herausgeber.

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das N. T. im Jahre 1514, aber ausgegeben erst im Jahre (1520 oder) 1522. Noch vorher, 1516, erschien das N. T. (griechisch und lateinisch) von Erasmus. Nach diesen beiden (noch recht mangelhaften Ausgaben) wurde fortan das N. T. gedruckt. Nach diesen und anderen älteren Ausgaben veröffentlichte der Leidener Buchhändler Elzevir im Jahre 1633 eine Ausgabe des N. T., in deren Vorwort er seinen Text als den „von allen angenommenen Text" bezeichnete (Textum ergo habes nunc ab onmibus receptum). Dieser Text beruhte aber nur auf wenigen und wenig wert­ vollen Handschriften; trotzdem ist er über ein Jahrhundert der herrschende Text ge­ blieben. Nachdem nun schon mehrfach Versuche gemacht worden waren, einen besseren Text des N. T. herzustellen (zuletzt von Lachmann, 1831), gingen zu gleicher Zeit zwei Männer daran, eine bessere Ausgabe des NTlichen Textes zu liefern, T i s ch e n d o r f und T r e g e l l e s. Die erste Ausgabe Tischendorfs erschien im I. 1841, die letzte in zwei Bänden 1869—1872; die dazu gehörigen Prolegomena zu schreiben, war ihm nicht mehr vergönnt, da er im 1.1874 starb; diese Aufgabe ist später (1884 bis 1894) von Gregory gelöst worden. Die Ausgabe von Tregelles erschien in den Jahren 1857—1872. Die neueste kritische Ausgabe des N. T. haben W e st c o t t und Hort herausgegeben (seit 1881). In weitere Kreise gedrungen ist ein revidierter Text durch die von N e st l e bearbeiteten Ausgaben der Württembergischen und der Brittischen Bibelgesellschaft. Eine auf dem revidierten Texte beruhende wissenschaftliche Über­ setzung des N. T., welche dem des Griechischen unkundigen Lehrer den Urtext ver­ treten kann, haben wir von Weizsäcker erhalten (jetzt auch mit dem A. T. von Kautzsch vereinigt in der „Textbibel"). c. Wenn schon unsere gedruckten Ausgaben meist nicht ganz fehlerfrei sind, so ist das noch weniger bei den Abschriften der Fall, und es gibt vielleicht nur wenige Verse des N. T., für welche sich nicht abweichende Lesarten finbenx); eine wie starke Verschiedenheit z. B. das Vaterunser in den beiden Texten, in denen es überliefert ist, aufweist, wird unten gezeigt werdena). Diese Abweichungen der verschiedenen Texte von einander sind meist unabsichtlich entstanden, zum Teil aber auch aus verschiedenen Gründen absichtlich gemacht worden. So stellt der Text des Neuen Testaments dem Gelehrten die schwierige Aufgabe, sich unter den verschiedenen Lesarten für e i n e zu entscheiden, und das wird natürlich oft eine streitige Sache bleiben. Daß die Üb ers chriftenund die zum Teil sogar irrigen U nt erschriften derBücher (die letzteren sind leider auch noch in der revidierten Bibel beibehalten) nicht von den Verfassern der Bücher herstammen, ist allgemein anerkannt. d. Die Textkritik hat endgiltig entschieden, daß nur drei längere und drei kürzere Abschnitte des überlieferten Textes nicht als echte Stücke des N. T. anzusehen sind; es sind zunächst die Stellen 1. Joh. 5, 7—8 (die drei himmlischen Zeugen*2)), 3 Mark. 16, 9—20 (der Auferstehungsbericht)4), Joh.^7, 53—8, 11 (die Geschichte von der Ehe*) Ob die besonders kurzen Verse des N. T., z. B. Luk. 24, 48 und Joh. 11, 35 (im Grundtext nur drei Wörter), davon frei sind, weiß ich nicht. 2) Vgl. Nr. 120. 3) In 3 junge griechische Handschriften erst aus der Vulgata aufgenommen. In .die Lutherbibel ist dieser Abschnitt erst in den Jahren 1575 (Frankfurt) und 1596 (Wittenberg) aufgenommen worden. 4) Die Handschriften schließen zum Teil mit Vers 8, teils bieten sie einen kürzeren Schluß, teils den gewöhnlichen Schluß, von

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brecherin)x), sodann die Stellen Luk. 22, 43—44 (ein Zug in der Gethsemane-Ge­ schichte), Matth. 16, 2—3 (Zeichen des Himmels), Joh. 5, 3—4 (Teich Bethesda)*2). e. Die heutige Kapiteleinteilung stammt wohl von dem Erzbischof von Canterbury, Stephan Langton, f 1228. Die heutige Verseinteilung findet sich zuerst in dem griechischen N. T. von Robert Stephanus 1551, sodann in der ganzen lateinischen Bibel von Robert Stephanus 1555, in einer deutschen Bibel zuerst im I. 1568, die äußere Trennung der Verse findet sich zuerst in einem griechischen N. T. 1633. f. Eine allgemein anerkannte Gestalt des Textes des N. T. ist zwar noch nicht vorhanden, aber daß der ftühere Text nicht beizubehalten sei, ist allgemein anerkannt. Die revidierte Lutherbibel beruht noch auf dem älteren griechischen Texte, dagegen die revidierte englische Bibel bereits auf dem neueren Texte. g. Die Differenz zwischen den Texten der Handschriften des N. T. ist aber im ganzen nicht groß. Etwa sieben Achtel des Textes des N. T. sind als feststehend anzu­ sehen; von dem letzten Achtel sind viele Differenzpunkte unerheblich, nur etwa ein Sechzigstel des N. T. ist betroffen von der Frage, wie das betr. Wort lauten solle. Mer auch von diesen Unterschieden kommen die meisten kaum in Betracht; das Gebiet, welches durch wesentliche Verschiedenheiten in Anspmch genommen wird, bildet kaum ein Tausendstel des ganzen N. T., d. h. etwa ein Viertel eines Kapitels (das N. T. besteht aus 260 Kapiteln)8).

15. (Übersetzung, Verbreitung und) Bedeutung der Bibel. A. Übersetzung der Bibel: Kirchengeschichte 3 Nr. 71 C. B. Verbreitung der Bibel: Kirchengeschichte 3 Nr. 71 v. C. Bedeutung der Bibel für Kirche, Schule und Haus4).S. * * 1. Die Bibelinder Kirche8). a. Unsere Kunde von der Offenbarung überhaupt, wie auch vom Christen­ tum im besonderen, beruht allerdings zunächst auf der uns zu teil gewordenen mündlichen Predigt des Evangeliums, und Jesus hatte ja seinen Jüngern auch nur befohlen, mündlich zu predigen. Aber schon die Apostel und ihre ersten Schüler haben nicht bloß mündlich gepredigt, sondern auch schrift­ lich, ebenso wie auch die späteren Propheten des Alten Bundes nicht bloß mündlich gepredigt, sondern ihre Predigt auch aufgeschrieben haben. Wie nun die Schriften der Apostel mit denen der AÄichen Propheten verbunden worden sind zu der Bibel, die uns heute vorliegt, das ist oben darwelchem in einer alten armenischen Handschrift bemerkt wird, daß er herstamme von Aristton, einem Jünger des Herrn. ') Auch diese Stelle kann auf einer alten Überlieferung beruhen, gehört aber allerdings nicht dem Evang. Joh. an. 2) Von diesen drei Stellen könnte die zweite ein echtes Jesuswort sein, wenn auch nicht dem Ev. Matth, angehörend; die erste und die dritte sind als sagenhafte Zusätze zu der betr. Geschichte anzusehen. 3) Vgl. Gregory, Einl. in das N. T. (1909), S. 644 s. 4) Während die dem Schüler schon früher dargebotenen Abschnitte über die Bibel nur von der Gliederung und Entstehung, wie von der Über­ setzung und Verbreitung derselben handelten, muß in den oberen Klassen — zur Abwehr von gefährlichen Mißverständnissen — auch auf die Frage nach der B e deutung der Bibel eingegangen werden. Die wissenschaftliche Grundlage für diesen Abschnitt ist dem Lehrer oben dargeboten; vgl. auch Glaubenslehre2 Nr. I, J. B) Den katholischen Standpunkt in diesen Fragen kann der Lehrer kennen lernen aus dem Progr. des kath. Gymn. von Neuß, 1908.

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gelegt worden1). Im folgenden soll nun noch dargelegt werden, welche Be­ tz e u t u n g die Bibel für den Christen hat, und zwar zunächst für den Glau­ ben und das Leben des Christen. b. Wenn wir die heilige Schrift lesen, so lesen wir dieselbe nicht, um daraus überweltliche Dinge Bescheid zu erhalten. Zwar auch in dieser Bezie­ hung ist ja die Bibel ein interessantes Buch, indem sie uns vielerlei aus der alten Zeit erzählt, wovon wir sonst kaum etwas wissen würden, und für den Geschichtschreiber sind ihre Berichte von unschätzbarem Werte. Aber der gemeine Mann liest die Bibel nicht, um daraus allerlei weltliches Wissen zu schöpfen, sondern um durch sie in der Frömmigkeit gefördert zu werden, und dazu ist ja die Bibel überhaupt geschrieben, nicht zur Belehrung über Fragen der Wissenschaft. Ob die Sonne sich um die Erde bewegt oder nicht, ist eine Frage, welche die Wissenschaft zu entscheiden hat, nicht die B i b e l. D a ß die Welt von Gott geschaffen worden ist, glauben wir mit derBibel; aber über die E n t w i ck e l u n g der Welt im einzelnen mag die Wissenschaft uns belehren. Bibel und Mssenschaft kommen mit einander nicht in Konflikt, wenn man die Bibel, wie das heute mit Recht allgemein geschieht, als ein Religionsbuch betrachtet. c. Und als ein R eligi o ns b u ch ist ja nun die Bibel eben anzusehen. Zwar auch andere Religionen besitzen heilige Bücher, und außer der B i b e l besitzt der Christ auch noch andere Religionsbücher; aber die Bibel ragt doch weit empor über alle anderen Religionsbücher der Christen, und vollends über die der andern Religionen; sie ist das klassische Buch der Religion, d. h. in ihr ist die Religion zur vollkommensten Darstellung gekommen. Wenn dämm der Gebildete die Klassiker der verschiedenen Völker liest und schätzt, so darf er auch an der Bibel nicht gleichgültig vorübergehen; auch die Bibel ist ein klassisches Buch. d. Aber wenn die Bibel schon dämm von jedem gelesen werden sollte, weil in ihr die Religion, die doch alle Menschen angeht, zur vollkommensten Darstellung gekommen ist, so ist sie doch für den C h r i st e n von noch höherem Werte, weil sie nicht bloß Zeugnisse der Religion überhaupt enthüll, sondem das Urkundenbuch der geoffenbarten Religion ist. Zwar zunächst hat sich die Kunde von der Offenbarung nur mündlich fortge­ pflanzt, indem z. B. die Worte Jesu sich zunächst mündlich im Kreise seiner Jünger erhalten haben. Manches bedurfte auch zunächst keiner Aufzeichnung, z. B. die Einrichtung der jüdischen Opfer oder der christlichen Sakramente.; die Institutionen erhalten sich von selber, auch ohne Aufzeichnung. Es ist also nicht unrichtig, wenn die katholische Kirche von der Tradition, d. h. der Überlieferung der Einrichtungen, Worte und Tatsachen der Offenbarung spricht, und man darf nicht bestreiten, daß es eine Osfenbamngsreligion im Alten und im Neuen Bunde gegeben hat, ehe es eine Bibel gab. Aber die Tatsachen der Offenbarung sind uns doch nicht bloß münd­ lich, sondem in der Bibel auch schriftlich überliefert, und die Ur­ kunden dieser schriftlichen Überlieferung bet Offen« barung sind die in der Bibel bereinigten heiligen Schriften, welche uns von den Taten und Stiftungen und Worten der Offen* ') Vgl. Nr. 14.

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barungsorgane verkündigen. Wie Gott vor Zeiten manchmal undmancherleiWeisezudenJsraelitendurchdiePropheren, und wie er zuletzt zu den Menschen durch den Sohn gereder hat — das ist in der heiligen Schrift aufgezeichnet; die Bibel ist die Urkunde der göttlichen Offenbarung. Das war allerdings ein Irrtum, wenn man die Bibel für die O f f e n b a r u n g und für ein von Gott buchstäblich diktierres Buch hielt1); die Offenbarung war eine Tatsache der Geschichte, welche in der Bibel nur b e z e u g t ist; die Bibel ist dieUrkundederOffenbarung;sie verkündet uns die Tatsachen der Offenbamng; den biblischen Schriftftellem als Schriftstellern sind keine Tatsachen geoffenbart worden, sondem sie haben dieselben nur aufgezeichnet. Moses hat die Gebote von Gott erhalten — dabei war er der Vermittler der Offenbarung; er oder ein anderer hat diese Offenbarung bald oder später aufgezeichnet — dabei war er der A u f z e i ch n e r der Offenbamng, und seine Aufzeichnung ist die Urkunde der ihm oder anderen früher zu teil gewordenen Offenbamng. Daß nämlich die Männer, welche die Bücher der heiligen Schrift verfaßt haben, nichtgeredethabenmitWorten menschlicher Weisheit, sondern als Verkündiger und Ausleger der Offenbarung Gottes — diesen göttlichen Inhalt der Bibel erkennt man sofort, wenn man das Sitte Testament mit den Apokryphen, das Neue Testament mit den Schriften der unmittelbar folgenden Zeit vergleicht; wahrlich, in der Bibel ist heiliges Land, hier istdiePfortedesHimmelsaufgetan — das ist der Eindruck, den die Bibel auf uns noch heute macht, wenn wir ihrer Predigt von der Offenbamng Gottes nicht fremd gegenüberstehen. Die Bibel ist, oder genauer gesprochen, die Bibel enthält das Wort Gottes, die Kunde von der den Menschen zu teil gewordenen Offenbamng, darum ist und bleibtdie Bibel die Norm für Glaubenund Le LenderChristenheit. e. Diese schristliche Verkündigung von der Offenbamng ist nun freilich der bloß mündlichen Überliefemng bei weitem vorzuziehen, da die bloß mündliche Überliefemng, selbst die Überliefemng der Einrichtungen und Übungen der Frömmigkeit, gar zu sehr der Berändemng und Umgestaltung ausgesetzt ist. Wenn das Vatemnser uns nur mündlich überliefert wäre, so würden wir noch viel weniger wissen, wie es eigentlich laute, als wir dies heute wissen2), wo bis zu seiner schriftlichen Aufzeichnung doch nur eine kurze Zeit vergangen ist. Me aber auch die Kunde vom Leben Jesu umgestaltet worden ist, zeigen nicht bloß die apokryphischen Evangelien mit ihrer argen Entstellung der geschichtlichen Wahrheit, sondem selbst unsere Evangelien, welche uns doch über manche Punkte im Leben Jesu nicht mehr genau und vollständig, sondem in abweichenden Erzählungen unterrichten, welche sich zum Tell nicht mit einander vereinigen lassen. Me viel stärker würden aber die Verschiedenheiten in der Überliefemng sein, wenn dieselbe gar nicht auf­ gezeichnet wäre! l) So die alte Jnspirationslehre; vgl. Nr. IA.

2) Vgl. Nr. 114.

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15. (Übersetzung, Verbreitung und) Bedeutung der Bibel.

f. Wenn wir nun allerdings in der Bibel nicht überall einen buchstäblich genauen Bericht über die Offenbamng besitzen, so haben doch alle Ver­ fasser der biblischen Bücher mit derselben Gewissenhastigkeit ihre Schriften verfaßt wie Lukas (1,1—4), indem sie entweder selbst die empfangenen Offen­ barungen nach bestem Wissen und Gewissen aufgezeichnet haben (so Moses die Gebote und viele Propheten ihre Offenbarungen), oder indem sie das, was sie nicht selbst gesehen und gehört haben, „mit Fleiß erkundet haben", um es „ordenllich" aufschreiben zu können (Luk. 1, 3). g. Allerdings bleibt ja nun für die theologische Wissenschaft noch die Frage zu beamworten, wie weit die Überlieferung der Offenbamng bereits Um­ gestaltungen erfahren hat, ehe sie in den heiligen Schriften aufgezeichnet worden ist, und das zu untersuchen, ist die Aufgabe der historischen Kritik. Daß nämlich die Überlieferung Umgestaltungen erfahren har, zeigen uns die Verschiedenheiten in der Überliefemng, welche in der Bibel hinsichtlich der einzelnen Worte und Tatsachen hervortreten. Mer diese Umgestaltung der Überliefemng betrifft doch, wie man mit Recht behaupten darf, nicht den Kem unseres Glaubens, sondem nur den Buchstaben; wir wissen, wie wir beten und das Mendmahl feiern sollen, obwohl wir weder den Text des Vater­ unsers noch der Abendmahlsworte buchstäblich kennen. Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig — das gilt auch für die heilige Schrift; die Bibel ist die Urkunde der Offenbamng, aber nicht eine buch st übliche überliefe­ mng derselben; eine solche hat uns Gott versagt, obwohl sie möglich gewesen wäre; Jesus hätte ja ein Buch schreiben können; aber er hat es nicht getan. So wollen und sollen auch wir uns an die Offenbamng Gottes in der Bibel halten, aber nicht verlangen und erwarten, den Buchstaben derselben zu besitzen. h. Aus diesem Gmnde dürfen wir also nicht jeden einzelnen Buchstaben, jedes einzelne Wort der Bibel aufs schärfste betonen, sondem wir müssen jedes einzelne Wort stets im Zusammenhange der ganzen Bibel betrachten; nicht jedes einzelne Bibelwort ist für uns maßgebend, sondem die g a n z e Offenbarung. Es war eine falsche Verwendung einer Bibelstelle, wenn ein Engländer *) an seinem Geburtstage stets das 3. Kapitel des Buches Hiob las („V e r f l u ch t sei der Tag, an dem ich geboren" usw.); das Wort eines an Gottes Gnade zweifelnden Menschen ist doch nicht dämm eine Norm für den Menschen, weil es in der B i b e l steht; daß Hiob bei dieser Gesinnung nicht g e b l i e b e n ist, zeigt ja der Schluß des Buches; also dürfen wir uns doch nicht an dies vereinzelte Bibelwort halten. Ebenso war es unrichtig, wenn mancher Christ sich ausschließlich halten wollte an das Bibelwort Phil. 2,13: „Gott ist's, der in euch wirket beides, das Wollen und das Vollbringen", und aus diesem Worte herauslas, daß des Menschen Heil ganz allein auf Gott bemhe. Daß das nicht richtig ist, er­ kennt man, wenn man zu diesem Worte den unmittelbar vorhergehenden Vers hinzunimmt: „Schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittem!" Nach diesem Worte könnte es ja scheinen, daß des Menschen Heil ganz aus­ schließlich auf seinem eigenen Tun bemhe. Es werden also diese Aus­ sprüche beide richtig sein: des Menschen Heil bemht zugleich auf Gott und ‘) John Swift (t 1745), der Verfasser von Gulliver's Reisen.

15. (Übersetzung, Verbreitung und) Bedeutung der Bibel.

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auf dem Menschen selber. Nicht jedes einzelne Schriftwort, sondem die ganze heilige Schrift ist die Richtschnur für des Christen Glauben und Leben. i. Diesen Grundsatz zu beachten ist aber besonders darum wichtig, weil noch heute und immer wieder manche Christen für ihr Glauben und Leben das A l t e Testament als ebenso maßgebend ansehen, wie das N e u e Testa­ ment, während doch für uns Christen nur die Offenbarung des Neuen Testaments,als die vollkommene Offenbamng, maßgebend sein kann. Daß Elias die Baalspfaffen getötet hat, entsprach dem Alten Testa­ ment; aber als die Jünger Jesu auf seine Gegner Feuer vom Himmel herab­ fallen lassen wollten, da hat Jesus sie davon zurückgehalten mit dem Worre: „Wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder i h r seid?" Mit diesem Worte Jesu verträgt es sich also nicht, daß die Ketzer verbrannt werden. Das Alte Testamentistnur die Vorstufe des Neuen Testaments; nurdasNeueTestamentistfürdenChristenmaßgebend. k. Wenn nun alle Christen in der Bibel die Urkunde der Offenbarung Gottes sehen, so wird doch die Bibel in der e v a n g e l i s ch e n Kirche mehr gewürdigt, als in der katholischen. Nach unserer Meinung genügt die Bibel, um zum rechten Glauben zu gelangen, während der Katholik ver­ langt, daß zunächst die Apokryphen des A. T. den biblischen Büchern beige­ fügt und ihnen gleichgestellt werden; daß sodann als maßgebend für die Aus­ legung nicht der Grundtext sondem die lateinische Übersetzung angesehen werde; daß ferner die mündliche Überliefemng als eine Ergänzung der Bibel angesehen werde. Aber da nun auch durch diese Fordemngen noch nicht erreicht wird, daß die Bibel von allen Menschen in gleicher Weise aus­ gelegt und dadurch dieselbe Lehre gewonnen wird, so behauptet der Katholik, daß die Kirche in ihren Concilien und auch der Papst als unfehlbare Ausleger der h. Schrift und als unfehlbare Lehrer des christlichen Glaubens anzusehen seien. Die evangelische Kirche kennt keine unfehlbaren Ausleger der heiligen Schrift, sondem sie gibt zu, daß sich die Kirche in der Auslegung der Bibel oft geirrt hat und noch heute irren kann; die Erkenntnis des richtigen Sinnes der h. Schrift wird in der Kirche nur allmählich und nur stückweise gewonnen; weder die katholische noch die evangelische Kirche ist bereits im vollen Besitz der Wahrheit. Aber die evangelische Kirche hat jedenfalls aus der Bibel eine tiefere Erkenntnis des Christentums gewonnen, als die katholische, und der weitere Fortschritt des Christentums wird sich nicht voll­ ziehen durch unsere Rückkehr zur katholischen Kirche, sondem durch eine immer tiefere und gründlichere Erforschung der heiligen Schrift. l. So bleibt es denn für den evangelischen Christen bei dem, was die Concordienformel in der Einleitung sagt: „Die heilige Schrift ist allein der einige Richter, Regel und Richtschnur, nach welcher, als dem einigen Probier st ein, sollen und müssen alle Lehren erkannt und geurteilt werden, ob sie gut oder böse, recht oder unrecht seien"; aber die Bibel ist nur maßgebend für unser Glauben und Leben, nicht für das weltliche Wissen; sodann ist nicht jedes einzelne Bibelwort für Hetdrtch, Heilige Geschichte, j. Sufi.

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15. (Übersetzung, Verbreitung und) Bedeutung der Bibel.

uns maßgebend, sondem nur die ganze Bibel, und das Me Testament ist für uns nur maßgebend, sofern es mit dem Neuen T. übereinstimmt; auch ist nach unserer Meinung ein Organ für eine unfehlbare Aus­ legung der Bibel in der Kirche nicht vorhanden. m. Die Bibel wird ja nun auch in allen Kirchen hochgehalten und ge­ braucht, aber leider nicht in allen in einer Sprache, welche heute das Volk versteht. In der katholischen Kirche wird die lateinische Übersetzung gebraucht, obwohl heute das Lateinische von keinem Volke mehr gesprochen wird. In der morgenländischen Kirche wird zwar die Bibel in v i e r Sprachen vorgelesen, aber zwei derselben sind ebenfalls tote Sprachen, wie das Lateinische, nämlich das Mtgriechische und das Altslawische, und nur zwei sind noch heute lebende Sprachen: das Rumänische und das Arabische. Dagegen wird in allen evangelischen Kirchen die Bibel in der Landes­ sprache vorgelesen, und dazu sind (nach alter Sitte) für jeden Sonntag be­ stimmte Abschnitte ausgewählt; der Predigt und der Rede bei jeder heiligen Handlung liegt stets ein Bibelwort zu Gmnde. Es ist aber durchaus angemessen, daß die deutsche Bibel nicht mehr genau in Luther's Form gedruckt und vorgelesen wird, sondern im Laufe der Jahr­ hunderte, zunächst ohne Zutun, jetzt unter Mitwirkung der Gelehrten, der heutigen Sprache so weit angenähert worden ist, daß sie noch heute verstanden wird; sonst könnte es uns schließlich so gehen, wie den morgenländischen Christen, die zwar angeblich eine Bibel in zwei Landessprachen gebrauchen (in der griechischen und in der slawischen), aber diese alten Sprachen doch nicht mehr verstehen, so wenig wie die Deutschen die Bibel des Wulfila. Um aber die Bibel in j e b e nt Lande verwenden zu können, war es notwendig, die Bibel jedem evangelischen Volke in seiner Muttersprache darzubieten; inwieweit das bis heute erreicht ist, ist anderwärts dargelegt worden*). 2. Die Bibel in Schule und Haus. Vgl. das Gedicht: „Wo keine Bibel ist im Haus/")

Aber nicht bloß für die Kirche ist die h. Schrift von Bedeutung, sondern auch für die Schule und für das Haus. Als Luther seine Bibel herausgab, da war sein Gedanke der, daß jeder Christ sich selbst müsse Rechenschaft geben können über den rechten Glauben, und das deutsche Volk hat die ihm von Luther geschenkte deutsche Bibel mit Begeistemng aufgenommen, und immer aufs neue sind Bibelwerke mit Er­ läuterungen für das christliche Haus erschienen. Aber freilich jedes Schulkind konnte zunächst, bei der Größe des Buches und der Höhe des Preises, eine Bibel noch nicht besitzen, und die Bibel ist ja auch für den Anfänger noch zu groß und zu schwer zu verstehen. So sind denn zunächst, schon im 16. Jahrhundert, Bücher erschienen, welche für die fehlende oder zunächst für das Kind noch nicht geeignete Bibel einen vor*) Vgl. Kirchengesch. * Nr. 71, D. 2) Vgl. die ausführlichere Behandlung dieses Abschnittes in meiner Kirchengeschichte3 Nr. 71E, 4.

16. Urgeschichte des Volkes Israel; das altbabylonische Reich re.

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läufigen Ersatz schaffen sollten: der Katechismus und das Spruchbuch, später die „biblische Geschichte" in neuerer Zeit „das biblische Lesebuch" (die „Schul­ bibel"); erst seit der Entstehung der Bibelgesellschaften wurde es möglich, auch in der Schule (früher für a l l e Stufen, heute vornehmlich für die h ö h e r e n Stufen) die Bibel selbst zu benützen. D. Die Lutherbibel in ihrer Bedeutung für die Sprache des deutschen Volkes: Kirchengeschichte 3 Nr. 71E. E. Die Bibel in der Weltlitteratur: Kirchengeschichte 8 9h:. 71E. F. Die Bilderbibel: Kirchengeschichte 8 Nr. 71E. II.

Die Geschichte des vormofaischen und des mosaischen Zeitalters ^). 16. Urgeschichte des Volkes Israel; das altbabylonische Reich; Abraham in der Weltgeschichte').

1. Mose 11, 27-32. 12, 1-9. Psalm 105, 1-24. Apostelg. 7, 2-16. a. Über die Urzeit der Menschheit gibt es keine historische Überlieferung, die ja erst ziemlich spät beginnt, und auch die Bibel erzählt aus der Urzeit nicht eigentliche Geschichten, sondern belehrt uns vornehmlich über das Ver­ hältnis der Welt und des Menschen zu Gott. Die Menschen sind von Gott geschaffen, aber freilich sind sie zu Sündern geworden und werden dafür von Gott mit schweren Strafen heimgesucht (Sündflut); doch die Menschheit geht nicht zu Grunde. Aber die früher einige Menschheit spaltet sich in ver­ schiedene Völker (Turmbau zu Babel), und alle Völker, mit Ausnahme eines einzigen, werden zu H e i d e n. b. Dies eine Volk ist das Volk Israel. Dies Volk ist zwar ebenfalls nur ein Glied der Menschheit wie die andern Völker, aber freilich ein besonders bedeutendes Glied der Menschheit, da durch dasselbe der Glaube an den e i n e n Gott zum Besitz aller Völker werden sollte. Dies Volk und die ihm ver­ wandten Völker (die Semiten) stellt die Völkertafel (1. Mose 10) gegenüber zwei anderen von den Semiten verschiedenen Völkergruppen, den im Süden von jenen wohnenden Hamiten und den nach Norden von den Semiten woh­ nenden Japhetiten. Die beiden anderen Gmppen kommen hier nicht in Be­ tracht, auch nicht die anderen Semiten, von deren Verhältnis zum Volke Israel oben die Rede war3) und unten noch mehr gesagt werden wird; hier ist nur vom Volke Israel zu sprechen. c. Me Völker, welche nicht allzu tief in der Kultur stehen, und besonders ') Über die Geschichtsquellen für dieses Zeitalter (die fünf Bücher Mofis und das Buch Josua) ist unten Genaueres gesagt (vgl. Nr. 25—29). Bon den fünf in diesen sechs Büchern behandelten Gegenständen (Urgeschichte der Menschheit — Ur­ geschichte des Volkes Israel — Erlösung aus Ägypten — Gesetzgebung — Eroberung Kanaan's) kommt der erste hier nicht in Betracht, indem aus ihn, soweit er für den Schüler in Betracht kommt, in der Glaubenslehre eingegangen wird. ') Vgl. Kittel, Gesch. der Hebr. I, § 12—14 und Jeremias, Das A. T. im Lichte des alten Orients XIV—XVII. ») Vgl. Nr. 6.

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diejenigen Völker, welche eine Litteratur besitzen, erzählen uns von chrer Ur­ zeit, und wenn diese Erzählungen auch nach der Meinung der Geschichts­ forscher nicht buchstäbliche Geschichten sind, so ist doch aus diesen Überliefe* rangen (wie auch aus der Sprache und aus Denkmälern der alten Zeit) die Geschichte der Urzeit des Volkes mehr oder weniger zu erkennen. Wie Über­ lieferungen über die Urzeit des Volkes Israel enthält namentlich das erste Buch Mise; der Hauptinhalt desselben ist die Lebensgeschichte der Stamm­ väter des Volkes Israel, welche wesentlich schon denselben Glauben gehabt haben, wie ihn das Bol! Israel durch Moses erhalten hat, und zwar nicht als einen neuen Glauben, sondern als den (allerdings in Ägypten fast ver­ gessenen oder verdunkelten) Glauben seiner Väter. d.') Als Stammvater des Volkes Israel wird aber vor allem Abraham genannt, dem Stamme der Semiten angehörig, ein Sohn des T h a r a h, welcher, bereits auf der Wanderung nach Westen begriffen, aus Ur Kasdim (in Babylonien)') nach Harran (dem späteren griechisch-römischen Carrhä, im nordwestlichen Mesopotamien, südöstlich von Edessa) gezogen war. Aber nicht in Tharah, sondern in Abraham erblickt das Volk Israel seinen Stamm­ vater, weil es besonders an ihm denjenigen Zug wahrnimmt, welcher für das Volk Israel charakteristisch ist, den Glauben an den einen Gott. Darum wird auch nicht Jakob als der Stammvater des Volkes Israel betrachtet, obwohl doch von ihm die zwölf Stämme des Volkes hergeleitet werden; aber wohl hat das Volk von ihm, Israel, seinen Namen erhalten; nur die Fremden bezeichnen das Volk als Hebräer, d. h. als von jenseits (des Flusses) Gekommene. Von seinen Verwandten sich trennend, wahrscheinlich um des Glaubens willen, den er in seiner Reinheit festhalten wollte, während seine Verwandten den­ selben aufgaben (Josua 24, 2), verläßt nämlich Mraham Vaterland und An­ gehörige im Vertrauen auf Gott, der ihm eine neue Heimat bescheren werde, die er freilich noch nicht kannte, und er hat das Vertrauen, daß sein Glaube der Glaube seines Volkes, ja aller Menschen werden müsse'). Auf seiner Wanderung dem Zuge der Vorfahren nach Westen folgend, kam nun Abraham nach Kanaan; obwohl bereits bewohnt, sollte doch dies Land einst der Besitz seiner Nachkommen werden. Zunächst war aber Abraham ein Fremdling in Kanaan, jedoch ein angesehener und mächtiger Mann, der mit seinen 318 Knechten auch wohl im Kriege die Entscheidung gab (K. 14), aber von den Landesbewohnern geschieden durch seinen Glauben. Diesen Glauben an den einen Gott hat A b r a h a m gepflegt als das Heiligtum seiner Familie, und aus seiner Familie hat sich dasjenige Volk entwickelt, welches allein unter den Völkern den Glauben an den einen Gott festgehalten hat. Moses hat diesen Glauben zum Grundgesetz des ganzen Volkes erhoben; Christus hat denselben verkündet und mit seinem Tode besiegelt als das Panier, um welches alleVölker gesammelt werden sollen. So glauben denn noch heute an e i n e n Gott die Nachkommen Mrahams, die Israeliten, und monotheistische Religionen sind ebenl) Vgl. Theol. Euch kl.l3 *s. v. „Abraham". *) Vgl. Riehm, Handwörter­ buch 8. v.; vgl. aber Kittel, Gesch. der Hebr. I, § 17. 3) Über die Verheißung vgl. Nr. 77, 3 A, wo genauer auf diesen Gedanken eingegangen wird.

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falls die auf dem Glauben Israels beruhenden Religionen, das C h r i st e n tum und der Islam. Das Zeitalter Abrahams und seiner beiden Nachkommen, Isaak und Jakob, welche im Westjordanlande an verschiedenen Orten gewohnt hatten, schließt mit der durch Jakobs Sohn Joseph veranlaßten Wanderung der bereits zahlreich gewordenen Familie nach Ägypten, wo sie zum Volke heranwachsen unter einem fremden Volke, aber von demselben geschieden vomehmlich durch ihren Glauben. e. Die Heimat der Stammväter des israelischen Volkes ist also in Meso­ potamien zu suchen, wohin sie vielleicht aus den weiter nördlich liegenden Gebirgsgegenden eingewandert sein mögen1). Die Entstehung des hebräiscyen Volkes fällt aber in die Zeit um 1900 vor Chr. — in eine Zeit, wo sowohl die babylonische als auch die von ihr in grauster Vorzeit abgezweigte ägyptische Kultur ihre Höhepunkte bereits überschritten hatten, wo alles drängte zum langsamen, aber sicheren Siege des Semitentums in der vorderasiatischen Welt, welche noch etwa 1000 Jahre lang (bis zum Hervortreten der Griechen in der Weltgeschichte) die beinahe alleinige Trägerin der Kultur bleiben sollte2). f. Anmerkung für den Lehrer. Wenn noch im vorigen Jahrhundert die Meinung älterer Theologen auftecht­ erhalten worden ist (W i m m e r, Adam und sein Geschlecht, 1863)8): „Die ältesten Geschichten der Bibel sind keine Traditionen durch mündliche Erzählung, sondern beruhen auf schriftlichen Aufzeichnungen der Urväter" — so wird diese Ansicht von der g a n z e n neueren Theologie einstimmig verworfen; sie hält entweder Moses für den Erzähler dieser Geschichten (so jedoch kein lebender Forscher mehr)4),* oder sie erkennt in den Erzählungen im Pentateuch und im Buch Josua verschiedene bis zu ihrer Aufzeichnung mündlich überlieferte Traditionen (so alle jetzigen Forscher, gegen Wimmer); aber streitig ist, ob in ihnen buchstäbliche Geschichte zu sehen ist oder nicht. „Die Geschichte der sogen. Erzväter — sagt Kittel (ATliche Wissenschaft, 1910, S. 112) — ist ein Gegenstand lebhafter Auseinandersetzung gewesen. In der Hauptsache stehen sich d r e i Anschauungen schroff gegenüber: die eine sieht in ihnen alte, zu Menschen herabgesunkene Götter; die zweite personificierte Stämme; die dritte wirlliche P e r s o n e n." Kittel betrachtet sie als Personen, die wirllich einmal gelebt haben; sie waren Häupter und Führer lleinerer Stämme oder Ge­ schlechter, die, vom Osten herkommend, sich in Kanaan festsetzten und daselbst teils größer, teils flehtet wurden. Aber „wir sind nicht imstande, alle Einzelheiten der Erzählung als Tatsache zu erhärten" (S. 121)6).* Ebenso sagt Dillmann (zu Genesis K. 12): „Es ist heutzutage selbstverständ­ lich, daß diese Erzählungen über die Patriarchen nicht der strengen Geschichte, sondern *) Kittel, Gesch. der Hebräer I, § 17. 8) Hommel, Geschichte des Orients (Göschen), § 16. 3) So die Theologie des 17. Khrhunderts; vgl. Diestel, das A. T. in der christlichen Kirche, S. 489 und 502: Adam sprach Hebräisch; er kannte sogar schon die hebräischen Vokale und hat vielleicht schon Bücher geschrieben (S. 496); die Patriarchen haben schon Schulen und Akademieen gehabt; Abraham kennt 1. Mose 18, 25 bereits die Schlußform „celarent“ (S. 508). 4) Vgl. Nr. 26. 6) Wie die Frage nach der Geschichtlichkeit der Überlieferung in der Schule zu behandeln ist, zeigt Kittel S. 2147—217.

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dem Gebiet der Sage angehören. Aber darin liegt kein Grund, diesen Sagen jeden geschichtlichen Gehalt abzusprechen. Abrahams einstiges Dagewesensein hat so wenig etwas Unglaubliches an sich, daß man vielmehr dasselbe fordern müßte, wenn anders man nicht auch Moses' Anknüpfung an den Gott der Väter als ungeschichtlich über Bord werfen will." Und hiermit übereinstimmend sagt Kittel, Gesch. der Hebräer I, S. 151 u. 153: „Moses konnte schwerlich bei seinem Volke mit einem fremden, bisher unbekannten Gotte durchdringen; wohl aber konnte er auf Erfolg hoffen, wenn der in einzelnen Kreisen des Volkes noch verehrte und in der Erinnerung des Volkes noch lebende Gott Abrahams sich ihm neu geoffenbart hatte. Man darf also wohl annehmen, daß Abrahams Person auf einem historischen Hintergründe ruht" 1). Ms geschichtlicher Kern der Patriarchengeschichten ist also anzusehen2) eine länger dauernde Völkerbewegung, welche vom nordwestlichen Mesopotamien ausging, viele neue Völker nach Süden bis nach Arabien, Kanaan und Ägypten hin vorwärts­ drängte, und es ist anzunehmen, daß die Hebräer im engsten Sinne, die Israeliten, unter diesen südwärts vorgedrungenen Wanderstämmen die jüngste Schicht sind. Ebenso ist deutlich, daß die Israeliten ein durch viele Absonderungen und Aussonderun­ gen herausgeschälter Kern sind, welcher die von dem ersten großen Führer dieser Wanderung, Abraham, ausgeprägte Art und Sitte und Religion am reinsten sorterhielt, gleichsam eine Auswahl aus dieser Völkerschicht, so daß schon in dieser äußeren Bildung des Volkes eigentümliche Fügungen Gottes nicht zu verkennen sind. Daß nun die Stammväter Israels auch in der Religion mit den verwandten Völkern zusammenhängen, versteht sich von selbst; aus diesem Zusammenhange erklärt sich manche Vorstellung des israelitischen Volkes, welche der Offenbarungs­ religion nicht recht entspricht. Dagegen ist das e i g e n t ü m l i ch e Wesen auch schon der vormosaischen Religion nur zu begreifen aus der den Stammvätern zu teil gewordenen und von ihnen aufgenommenen Offenbarung Gottes, durch welche die überkommene Religion ihres Stammes, welche sich auf dem Jndifferenzpunkte zwischen Polytheismus und Monotheismus befand 8), zum Monotheismus (ober richtiger Henotheismus 4))* *sich * entwickelte, während ihre Stammesgenossen sich dem Poly­ theismus zuwandten. Wir werden uns also die Entstehung der hebräischen Religion der Sache nach nicht anders vorzustellen haben, als es die Bibel tut, wenn sie den Abraham *) Dazu bemerkt aber Gunkel (Genesis, Einleitung, § 4 sin.): Die „apolo­ getische" Betrachtung pflegt großen Wert auf die Geschichtlichkeit der Gestalt Abraham's zu legen; davon kann nach unserem Ermessen freilich nicht die Rede sein, und schwer einzusehen ist auch, welche Bedeutung solche Behauptung für die Religion und deren Geschichte haben sollte. Denn selbst wenn es, wie man wohl annimmt, einmal einen Führer gegeben hätte, der Abraham hieß, und der etwa den Zug von Harran nach Karman geleitet hat, so ist doch jedem, der Sagengeschichte kennt, dies sicher, daß die Sage nicht imstande ist, über so viele Jahrhunderte hinaus ein Bild von der per­ sönlichen Frömmigkeit Abraham's zu bewahren. Die Religion A b r a h a m s ist in Wirklichkeit die Religion der S a g e n e r z ä h l e r, die sie Abraham zuschreiben. 2) Dillmann, ATliche Theol. § 11 Einl. und § 12. Damit stimmt überein Klo st ermann, Gesch. des Volkes Israel (1896), S. 28 s. 3) Es gibt näm­ lich in der Entwickelung des Gottesbewußtseins einen Zeitpunkt, in welchem e i nh e i t l i ch e und geteilte Anschauung des Göttlichen noch neben einander liegen, wo noch keine bestimmte Entscheidung nach einer Seite hin erfolgt ist. 4) D. h. Verehrung nur eines Gottes, ohne die Existenz anderer Götter zu be­ streiten.

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mit dem ihm erscheinenden großen Gott der Väter einen Bund schließen läßt, wenn sie Offenbarung auf Offenbarung folgen läßt, bis er im Glanze göttlicher und mensch­ licher Ehren scheidet. Die Religion Israels beruht auf dem Naturboden der Religion der Semiten („Gott der Väter"), ist aber nur zu begreifen aus der den Stammvätern Israels zu teil gewordenen und von ihnen aufgenommenen göttlichen Offenbarung. Bei dieser Entstehung der israelitischen Religion aus der Naturreligion der Semiten ist es auch zu begreifen, daß man hinter manchen Erzählungen und in vielen Sitten der älteren, ja noch der späteren Zeit Elemente der semitischen Naturreligion erkennt, welche nur in einer nicht-monotheistischen Religion entstehen konnten; diese Elemente sind also als ein Rest der altsemitischen Religion und Sitte anzusehen. In dieser Weise läßt es sich vielleicht auch erklären, daß der gewöhnliche hebräische Name für Gott (elohim) ein Pluralis ist; entstand en könnte diese Be­ zeichnung Gottes doch wohl nur zu einer Zeit sein, wo man noch an eine Mehrheit göttlicher Wesen glaubte1).

g. Das altbabylonische Reich; Abraham in der Weltgeschichte'). Die ältesten geschichtlichen Nachrichten, die es überhaupt gibt, hinaufteichend bis zum Jahre 4500 v. Chr., besitzen wir von dem babylonischen Reiche; die ältesten Denkmäler aus Ägypten sind mindestens 1000 Jahre jünger, und die Kultur Ägyptens stammt wahrscheinlich von den Babyloniern (oder Chaldäern, wie die Babylonier auch genannt werden). Babylonien ist seiner Gestalt nach ein Dreieck, dessen westliche Seite der Euphrat, die östliche der Tigris und die nördliche der vom Euphrat zum Tigris an der Stelle ihrer größten Annäherung gezogene Kanal bildet (also das Land südlich von dem eigentlichen Mesopotamien). Die Urbevölkerung des Landes bildeten die Sumerer, ein nichtsemitisches Volk. Etwa am Anfang des 4. Jahrtausends drang ein semitisches Volk, die Akkader, in Babylonien ein. Das akkadische Volk hat sich allmählich in die sumerische Kultur und Religion eingelebt und das nichtsemitische Element der­ selben allmählich überwunden, und so entstand die spätere Landesreligion der Baby­ lonier, welche dann auch die Assyrer angenommen haben. Die älteste Geschichte von Nordbabylonien reicht nun mindestens bis zum Jahre 4500 v. Chr. zurück, und es treten uns hier bald Könige und Staatengründer entgegen, von denen wir sogar noch Originalinschriften besitzen. Schon um das Jahr 3000 tritt uns ein Herrscher von ganz Babylonien entgegen, welcher in Ur (dem heutigen Mugheir) residierte. Um das Jahr 1900 herrschte in Babel Hammurabi als Herr von ganz Babylonien, dessen berühmtes Gesetz mit seinen fast 300 Sätzen im Jahre 1901/02 in Susa gefunden worden ist8). Hammurabi hatte aber einen benachbarten König vom Throne gestürzt, der auch über Syrien und Palästina herrschte. Derselbe wird auch in der Bibel erwähnt (1. Mose 14: Ariok von Ellasar), wo er mit seinen Bundes­ genossen (darunter auch Amraphel d. h. Hammurabi) gegen die Könige von Sodom und Gomorrha zieht, um sie aufs neue zu unterwerfen; A b r a h a m aber, der kurze Zeit vorher in Palästina eingewandert war, nimmt den Siegern die mitgeführte Beute ab. — Da dieser biblische Bericht die uns anderweitig bekannte politische Lage der Zeit um das Jahr 1900 wiederspiegelt, so ist mit diesem Bericht, in welchen Abraham *) H. S chultz, § 7,11. 2) Nach: H o m m e l, Geschichte des alten Morgenlandes (Stuttgart, Göschen: M. 0,80). 3) Jetzt in Paris, eine Nachbildung des Steins in Berlin.

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17. Ägypten im Altertum; das Volk Israel in Ägypten.

verflochten ist, „zugleich dieGeschichtlichkeitderPersonAbrahams erwiese n." Ob aber 1. Mose 14 als ein g e s ch i ch t l i ch e r Bericht anzusehen ist, ist streitigx); ob der geschichtliche Hintergrund, den die Geschichte Abrahams nach neueren Forschern hata), richtig gezeichnet ist, ist ebenso streitig. Mmählich trat Babylonien in der Geschichte zurück; zuerst folgte eine Periode der Fremdherrschaft unter den Kossäern (Elamitern); dann wurde Babylonien den Assyrern untertan; erst nach dem Sturze des assyrischen Reiches im Jahre 606 erstand aufs neue ein babylonisches Reich.

178). Ägypten iw Altertum; das Volk Israel in Ägypten8). a. Nächst den Babyloniern sind das älteste Volk der Erde die Ägypter, ein Volk, welches nicht mit den Negern, sondern mit den Völkern des Nordrandes von Afrika, den Libyern, verwandt ist, aber, wie die Libyer, weder zu den Jndogermanen noch zu den Semiten gehört; doch sind die Ägypter mit den Semiten verwandt, indem beide Völker aus e i n e m Urvolk hervorgegangen sind. Seine Geschichte reicht bis in das vierte Jahrtausend vor Christus (wenn nicht noch weiter) zurück, und die unzäbligen Denkmäler, welche von derselben noch heute übrig sind (ja, noch immer durch neue Funde vermehrt werden), lassen uns die Geschichte und die Zustände dieses Volkes in einem Umfange und bis in so alte Zeiten hinauf erkennen, wie dies (abgesehen von den Babyloniern) bei keinem andern Volke des Mertums der Fall ist. Bon vielen Königen ist noch die Mumie erhalten; die Inschriften erzählen die Taten der Landes­ herren; die Abbildungen und die Funde in den Gräbern und Denkmälern lehren uns das Privatleben bis ins einzelne kennen8). Da wurde um das Jahr 1900 das Reich von dem Gipfel seiner Macht und Wohl­ fahrt plötzlich herabgestürzt, indem (wäbrend dieser ganzen Zeit oder nur am Ende derselben) ein stammfremdes Volk, die sogenannten Hyksos (wahrscheinlich Semiten, welche sich im Nordosten des Landes mehr und mehr ansässig gemacht hatten), die Herrschaft über Ägypten gewannen, bis sie um das Jahr 1600 wieder unterworfen und zum Teil vertrieben wurden. Das nun wieder selbständige Ägypten breitete unter bedeutenden Herrschern seine Macht nach Asien aus, so daß um das Jahr 1450 ganz Syrien und das Land bis zum Euphrat den Ägyptern untertan war 6). Aber die Macht und sogar die Selb­ ständigkeit Ägyptens ging nach langer Dauer zu Grunde, als zuerst die Libyer (um 930), dann die Aethiopier (um 750), später die Assyrer, endlich (nachdem die Freiheit auf kurze Zeit wiedererrungen war) diePerser (unter Kambyses, 525) das Land unterwarfen.

b. In das Land Ägypten sind nun in der alten Zeit die Israeliten ein­ gewandert. Es ist freilich noch nicht gelungen (trotz aller angeblichen Ent­ deckungen) in den ägyptischen Denkmälern die Hebräer, die Person des Moses und den Auszug des Volkes aus Ägypten nachzuweisen; unsere Kenntnis dieser Dinge beruht also zunächst noch vornehmlich aus der Bibel. Die Einx) Kautzsch8 betrachtet ihn nicht als solchen. 2) Vgl. Erbt, Handbuch zum A. T. (1909), S. 155—162. 3) Zu Nr. 17—23 vgl. Kittel, Gesch. der Hebr. § 18 und 20-r-22 und 26—27; Jeremias, Das A. T. im Lichte des alten Orients XVIII, XXI und XXII. 4) Vgl. Brugsch, Steininschrift und Bibelwort, 1891. 5) Vgl. z. B. eine ägyptische Parallele zu der Geschichte von Josephs Keuschheit bei. B r u g s ch, Steininschrift und Bibelwort (1891), S. 77—103. 6) In diese Zeit führen uns ein die 396 Tell Amarna-Briefe (gefunden im I. 1889): Hommel z 21; Kittel, ATliche Wissenschaft, S. 32—34.

17. Ägypten im Altertum; das Volk Israel in Ägypten.

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Wanderung der Israeliten in Ägypten ist nun wohl noch in der Zeit der den Israeliten stammverwandten (semitischen) Hyksos erfolgt, welche etwa bis zum Jahre 1600 über Ägypten herrschten. Jedenfalls wurden die Israeliten zunächst von den Ägyptern freundlich aufgenommen, und sie erhielten Wohn­ sitze im Lande Gosen (int Osten vom Delta)1), und auch nach der Vertreibung der Hyksos sind sie noch in Ägypten geblieben. Wenn sie nun auch in Ägypten zum Teil noch bei ihrem alten Nomadenleben blieben, so fand doch auch schon ein Übergang zum Leben an festen Wohnsitzen statt, zum Ackerbau und zum Städteleben. Auch konnten die Israeliten in der langen Zeit, die sie in Ägypten zubrachten, von der ägypttschen Kultur nicht unberührt bleiben; alle Hand­ werke und Künste waren ja den damaligen Ägyptern bereits bekannt; die Schreibkunst war allgemein verbreitet; die Israeliten sind bei ihrem Aus­ zuge offenbar mit der ägypttschen Kultur bekannt. Selbst die ägypttsche Religion war von manchen Israeliten angenommen worden, und erst Moses hat die fremden Götter wieder aus dem Volke verdrängt; selbst seine Gesetzgebung läßt hier und da ägyptischen Einfluß erkennen, im ganzen aber ist das Volk dem Gotte seiner Väter tteu geblieben. c *). Gehören die Person und das Werk des Moses der Geschichte an oder nur der Sage? — Hier stehen sich eine im sttengsten Sinne konservative Auffassung und eine krittsche Ansicht, welche die ganze Überlieferung für ungeschichtlich erklären will, gegenüber. Die erstere ist^nicht haltbar — auch hier gibt es nicht eine streng geschicht­ liche Überlieferung; aber auch die zweite erweckt die stärksten Bedenken. Ist die Überlieferung richtig, daß israelitische Stämme in Ägypten geweilt haben? Ja, aber die Tatsache muß ttchtig verstanden werden. Die Stämme, aus denen das Volk Israel herausgewachsen ist, kann man in drei Gruppen teilen: in kanaanitische, die gar nicht aus Kanaan weggewandert sind; in solche, die nach Ägypten gewandert sind; in arabisch-sinaitische, die in der Nähe vonÄgypten, in der sinaitischen Steppe, gewesen sind. Daß Israel gar nicht in Ägypten gewesen sei, ist urrdenkbar. Es gibt nicht leicht ein Volk der Erde, welches ein so hohes Selbstgefühl besaß, wie das jüdische Volk. Wenn nun die jüdische Überlieferung an den Anfang ihrer Geschichte die schwerste Demütigung stellt, die ihr zu teil wurde, das Weilen „im Diensthause in Ägypten", so ist es undenkbar, daß das selbstbewußte Volk eine so schwere Demütigung ersonnen hätte. Ist M o s e s eine histottsche Gestalt? Im ganzen sind heute die wissenschaftlichen Forscher nicht abgeneigt, Moses für eine geschichtliche Person zu halten; doch wird diese Meinung nicht von allen geteilt; Kittelhält ihn für eine unzweifelhaft geschichtliche Person (wie Cavour und Bismarck); der Druck in Ägypten, der Auszug und die Rettung, die Gesetzgebung am Sinai sind nach seiner Meinung unzweifelhaft geschichtliche Tatsachen3). x) Vgl. Brugsch, Steininschrift und Bibelwort, Abschn. III. 2) Vgl. Kittel, Die ATliche Wissenschaft (1910), S. 122s. 3) Vgl. Nr. 52d. — „Daß Stämme des späteren Israel um 1400 in Gosen Aufnahme fanden, gegen Ende des 13. Jahrh, das Land verließen, und um die Mitte des 12. Jahrh., als Ägyptens Herr­ schaft über Palästina verloren gegangen war, ins Westjordanland einwanderten, steht für uns in allem wesentlichen fest." Ebenso steht fest, daß Moses als eine historische Person anzusehen ist, wenn er auch — wie so viele große Männer bis in die neuere Zeit hinein — zum Mittelpunkte eines Sagenkreises geworden ist. — LehmannHaupt, Israel (1911), S. 59 u. 55.

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17. Ägypten int Altertum; das Volk Israel in Ägypten.

Woher Moses seine Gottesvorstellung und das, was mit ihr zusammenhing, hatte, das ist in letzter Linie das Geheimnis seines religiösen Genius und seiner religiösen Erfahrung; Moses steht als Bahnbrecher an der Spitze der P r o p h e t e n im Volke Israel. d. Wenn man mit den meisten Forschern annimmt, daß die Israeliten in Ägypten gewesen sind, so fragt es sich, inwiefern ihre Religion von der ägyptischen abhängig war. Wenn es in der Bibel heißt (Apg. 7, 22), daß „Moses ward gelehrt in aller Weisheit der Ägypter", so liegt es auf der Hand, daß diese Erziehung für seine Wirksamkeit und den Inhalt seiner Gesetze maßgebend geworden sein könnte. Dies ist denn auch oft behauptet worden und wird noch behauptet. Aber die Berührungs­ punkte zwischen ägyptischer und israelitischer Religion sind nur oberflächlich und all­ gemein; die Religion Israels ist weder im allgemeinen noch im einzelnen durchweg aus der Religion der Ägypter herzuleiten; das Jsraelitentum wird vielmehr im ganzen vom Gegensatz gegen Ägypten beherrscht. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß einzelne Punkte der israelitischen Religion aus der ägyptischen Religion her­ stammen 1).

e. „Da kam ein neuer König auf in Ägyptenland, der von Joseph nichts wußte"2) — und nun begann der Druck des Volkes3), der schließlich zum Auszuge aus Ägypten führte. Von diesem Auszuge erzählen zwar, wie schon oben bemerkt, die ägyptischen Denkmäler nichts, aber wohl das Geschichts­ buch eines ägyptischen Oberpriesters Manetho, der um das Jahr 250 eine ägyptische Geschichte geschrieben hat, von welcher uns noch Auszüge erhalten sind. Die von ihm gegebene Erzählung4) stellt vom ägyptischen Standpunkte aus den Auszug Israels natürlich anders dar, als die Bibel, aber die Grund­ züge dieser wohl von der Bibel beeinflußten Darstellung stimmen mit der Bibel überein. Wenn nun in dem Berichte Manetho's eine selbständige Er­ innerung von ägyptischer Seite an den Auszug der Israeliten vorliegen sollte, so würde sich daraus ergeben, daß als der Pharao der Bedrückung der Israeliten der berühmte Ramses II.5) anzusehen, und daß der Auszug unter seinem Nachfolger Merenptah 6) um das Jahr 1270 erfolgt wäre; doch wird die Richtig­ keit dieser Annahme von anderen Forschern bestritten ’). *) Vgl. Brugsch, Steininschrift und Bibelwort, Abschn. I und VI—VIII. 2) Ramses II., wie Brugsch und andere glauben. *) Vgl. das oft (z. B. auch in R i e h m s Handwörterbuch s. v. Ägypten) wiedergegebene Bild aus dem Grabe eines ägyptischen Beamten: Arbeitende Israeliten oder andere Semiten. 4) Die von den Ägyptern in den Osten des Landes gewiesenen Aussätzigen und Unreinen setzten sich einen Anführer, Osarsiph, später Moses genannt, verbanden sich mit den vertriebenen Hhksos, und nun besiegten sie die Ägypter; nach dreizehnjähriger Herr­ schaft über Ägypten wurden sie aber, aus dem Lande vertrieben. — „Osarsiph" ist die ägyptische Form für „Joseph"; jenes Wort enthält den Gottesnamen Osiris, dieses den Namen Jehovah. — Joseph ist hier verwechselt mit Moses. 5) Die Mumie dieses Königs, des Bedrückers der Hebräer, ist unlängst aufgefunden worden; siehe ihre Abbildung (wie auch einer Porträtstatue dieses Königs) z. B. in R i e h m s Handwörterbuch des bibl. Mertums s. v. Ägypten. 6) Ein diesen König dar­ stellendes Basrelief siehe in R i e h m s Handwörterbuch s. v. Ägypten. Auch die Mumie dieses Königs ist im Jahre 1898 gefunden worden. In einer von ihm herstammenden Inschrift werden — zum ersten und letzten Mal — die Israeliten er­ wähnt: „Die Israeliten sind vernichtet, ihre Ernten sind zerstört." ^)Homm e l § 19 setzt an die Stelle von Ramses II. (1324—1258) den König Dehutmose III. (c. 1500-1450).

18. Moses' Geburt und Berufung.

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18. MoseS' Geburt und Berufung'). 2. Mose 2-4. a. Ms das Volk Israel in Ägypten schwer bedrückt wurde, da wurde ihnen in M o s e s der Befreier aus der Knechtschaft in Ägypten und der Be­ gründer des israelitischen Gottesstaates geschenkt. In trüber Zeit von Eltern aus dem Stamme Levi (Amram und Jochebed) geboren, welche bereits zwei Kinder hatten, Aaron und Mirjam (= Maria), sollte er als Kind (wie alle neugeborenen Knaben der Israeliten) nach des Königs Befehl im Nil ertränkt werden; als die Mutter das Kind nach drei Monaten aussetzen mußte, wurde das schwimmende Schilfkästchen von einer Tochter des Königs bemerkt, und das Kind wurde aus Mitleid von ihr gerettetl2).3 Der Mordbefehl des Tyrannen wurde durch die Hand des alles leitenden Gottes das Mittel, um den künftigen Retter Israels an den ägyptischen Hof zu bringen und ihn für seine künftige Bestimmung vorzubereiten. Denn nachdem zuerst die eigene Mutter auf der Königstochter Befehl den Knaben gepflegt hatte, nahm die Königstochter ihn selber als Kind an, und nun wurde er natürlich in aller Weisheit der Ägypter unterrichtet (Apg. 7, 22), wie sie im Besitze der Priester war. b. Der Befreier Israels aus der Knechtschaft in Ägypten und der Be­ gründer des israelitischen Gottesstaates trägt den Namen Moses. Dieser Name ist ein ägyptisches Wort, und daher hat kein anderer Israelit diesen Namen getragen. Die Israeliten deuteten sich aber denselben aus ihrer Sprache als den aus dem Wasser gezogenen (2. Mose 2, 10); daher auch die (auf dem Ägyptischen beruhende) griechische Form Moyses der LXX *). Mer die hebräische Namensform ist nicht ein Participium des Passivs, sondern des Mtivs (der Herausziehendel, und das zu Grunde liegende Wort ist nach allen neueren Forschem ein anderes als die LXX angenommen haben, nämlich das Wort mesu d. h. Kind. Aus diesem Worre ist dann wohl durch die Volks­ etymologie das hebräische moscheh geworden, d. h. der Herausziehende, der Erretter seines Volkes (vgl. Jes. 63,11), wobei man aber zugleich an des Er­ retters Herausgezogensein aus dem Wasser dachte (2. Mose 2, 10). c. Aber „durch den Glauben wollte Moses, da er groß ward, nicht mehr ein Sohn heißen der Tochter Pharaos, und erwählte viel lieber mit dem Volke Gottes Ungemach zu leiden" (Hebr. 11, 24—25). Aber als er nun sogar eigen* mächtig seinem unterdrückten Volke helfen wollte, da mußte er vor des Königs Zom aus Ägypten fliehen. Moses begab sich nach der benachbarten Sinaihalbinsel, wo er bei einem Priester der Midianiter (Reguel, K. 2, 18, oder Jethro, K. 3, 1) Aufnahme fand; er heiratete dessen Tochter Zippora, und es wurden ihm zwei Söhne geboren. Es schien so, als hätte Moses darauf verzichtet, seinem Volke helfen zu wollen, nachdem ihm der erste Versuch mißlungen war. Aber als er nun schon alt geworden war, da fühlte er sich von Gott bemfen, sein Volk aus der l) Vgl. Brugsch, Steininschrift, Abschn. V. 2) Ramses II., der ein sehr hohes Alter erreicht hat, hatte 32 Töchter, von denen die jüngste Merri hieß; eine christliche Sage bezeichnet diese als die Retterin des Moses. Vgl. B r u g s ch, S. 143 s. 3) So bezeichnet man kurz die griechische Übersetzung des A. T.: die Siebzig (die Septuaginta).

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Knechtschaft zu erlösen1). Jehovah ist der Gott, der ihn dazu beruft, der Gott der Bäter Israels, der Ewige2), und der ihm seinen Beistand zn dem schweren Werke verheißt. Mer der früher so mutig eingreifende Moses weigert sich zunächst durchaus, diesem an ihn ergangenen Ruf Gottes Folge zu leisten; er hat allerlei Gründe für seine Weigerung, der Stimme Gottes zu gehorchen. Werden denn die Israeliten auf ihn hören? Fehlt ihm nicht die natürliche Gabe der Beredsamkeit, die doch ein Führer des Volkes so nötig braucht? Mer endlich heißt es auch bei ihm: „Ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!" So hatte Gott in Moses ein Werheug für die Befreiung der Israeliten aus Ägypten gefunden; es kam nun darauf an, daß Moses die Israeliten für seine Absicht gewann und den Widerstand des Königs überwand; beides ist ihm mir Gottes Hilfe gelungen. 19. Die Erlösung des Volkes Israel aus Ägypten,

c. 13203).

2. Mose 14, 30-15, 21.

a. Ms Moses, dem Rufe Gottes folgend, nach Ägypten zurückkehrte, jetzt nicht bloß ein Volksheld, wie bei seiner Flucht aus Ägypten, sondem ein Prophet des Gottes seiner Väter, der sich ihm am Sinai geoffenbart hatte — da fand er einen Gehilfen für seine Mstchten in seinem Bruder Aaron, und seine Landsleute freuten sich, als sie von der ihnen zugedachten Erlösung aus Ägypten hörten. Ws aber der König das Verlangen Moses', daß das Volk einmal in der Wüste ein Fest feiern dürfe (bet König sollte zunächst nur etwas Geringeres bewilligen, nicht sofort den Auszugs enrschieden zurückwies *), ja das Volk nun noch mehr bedrückte, da wollten sie von Moses nichts mehr wissen; doch Moses gab dämm seinen Plan nicht auf6). Hatte der König derBittedesMoses nicht nachgegeben, so mußte er vor den S ch r e ck e n G o t r e s, die nun über sein Land kamen, sich beugen und endlich doch Israel ziehen lassen. „Alle Plagen (zehn an der Zahlt, die nun über das Land kamen, sind eigentümlich ägyprische Naturereignisse; der Sinn dieser Wunder ist also nicht der, daß sie etwas der Namr des Landes völlig Fremdes auf jenem Boden hervorzaubem, sondem die Stärke dieser dort wohlbekannten Plagen, ihr rasches Folgen auf einander, daß sie auf Moses Worr eintreten und aufhören — das ist es, was Jehovahs Wort: Die ganze Erde ist m ein, auch den Ägyptem erweisen sollte." •) Durch diese Plagen *) „Statt darüber zu grübeln, wie das E i n z e l n e des Vorgangs (Dornbusch), das Reden oder gar die sichtbare Gestalt des unsichtbaren Gottes hiernach zu denken seien, hat der Nachdenksame nach der Bedeutung des Vorgangs zu fragen." M e z g e r. 2) Vgl. Nr. 58. 3) Vgl. Brugsch, Steininschrift und Bibelwort, Abschn. IV und V. l) Vgl. Brugsch, S. 196—197. «) 2. Mose 6, 2—7, 7 erzählt scheinbar von einem neuen Ruf Gottes an Moses, ist aber nur ein zweiter Bericht über das im Vorhergehenden Erzählte. 6) O. v. G erlach zu 2. Mose 7. — Hinsichtlich der einzelnen Plagen (auf welche der Lehrer in der Schule wohl nicht wird eingehen können) erlaube ich mir hier wieder auf das treffliche Buch von Mezger (leider nur bis zum Ende der Richterzeit reichend) hinzuweisen: Hilfsbuch zum Verständnis der Bibel, und aus Ri eh ms Handwörterbuch s. v. Plagen, ägyptische. — Die ägyptischen Zauberei, welche dem Moses entgegentraten, werden von der Sage I a n n e s und I a m b r e s genannt (2. Timoth. 3, 8).

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endlich zum Nachgeben bewogen, läßt der König das Volk ziehen, und von den geängsteten Ägyptern gedrängr, ja sogar noch beschenkt (allerdings auf der Israeliten Verlangen — eine Art Ersatz für die umsonst geleistete Arbeit *)), ziehen die Israeliten aus dem Lande. Das Passahfest, dessen Einsetzung beim Auszuge erfolgt war, erinnerte fortan das Volk an die Erlösung aus Ägypten, als an die herrlichste Gottestat, die es bis dahin erfahren hatte. Sein Gott, den es seitdem unter dem Namen Jehovah verehrte *), hatte sich schon hiermit als mächtiger erwiesen, als die Götter Ägyptens. Aber die herrlichste Tat Gottes stand erst noch bevor. Den König reute es bald, daß er die Israeliten hatte ziehen lassen; er setzte ihnen mit einem starken Heere nach, und im Westen der Nordspitze des damals noch weiter nach Norden Hinaufteichenden Meerbusens von Suez 6mt er in ihre Nähe *). In diesem Meerbusen ist der Wechsel von Ebbe und Flut oft sehr stark und plötzlich, namenüich wenn der Wind denselben steigert, was besonders im Frühling der Fall ist — und der Auszug Israels geschah imFrühling. Ms nun Israel verzweifelt an seiner Rettung verzagte, da führte sie Moses, die Ebbe benützend, glücklich durch das Meer; die ihnen nachsetzenden Ägypter aber wurden von der zurückkehrenden Flut überrascht und vemichtet. Mit Recht erblickten die Israeliten in ihrer Rettung und der Vernichtung der Ägypter den Finger Gottes; das einzige Volk, welches damals den einen Gott verehrte, sollte nicht zu Gmnde gehen; dazu mußten Wind und Wellen mirwirken •). Denn nicht durch ein zauberisches Tun Gottes ist Israels Rettung und der Ägypter Vemichtung erfolgt, sondern, wie die Bibel sagt (2. Mose 14, 21,) durch einen Ostwind (Nordostwind), der zuerst die (jedenfalls als mit­ wirkend zu denkende) Ebbe verstärkte und verlängerte, dann aber umschlug und die Flut beschleunigte. Trotzdem ist diese Rettung ein Wunder Gottes, der die Naturereignisse so lenkt, daß sie seinen Absichten mir den Menschen, namenüich auch dem Reiche Gottes, dienen müssen•). In einem herrlichen Liede (2. Mose 15, 1—18) wird die Wundertat Gottes am Schilfmeer ge­ priesen; dieser Tag war der Tag, an welchem Israel eigenllich zum Volke Gottes geworden ist; alljährlich wurde das Volk durch die Feier des Passah­ festes an seine Erlösung aus Ägypten erinnert. b. Der Weg der Israeliten *). Da das Ziel der Israeliten bei ihrem Auszuge aus Ägypten das Land Kanaan war, so wäre zu erwarten gewesen, daß sie den nächsten Weg dahin, an der Nordküste hinziehend, eingeschlagen hätten. Aber wenn der König von Ägypten sie auch ent­ lassen hätte, so daß sie die diesen Weg sperrenden Befestigungen unangefochten durch*) 2. Mose 12, 35—36 nach der revidierten Bibel. *) Vgl. Nr. 58e. 3) Siehe unten b! *) Vgl. den Untergang der Armada Philipps II. und den strengen Winter, der Napoleon I. verdarb; auch dort hieß es: „Afflavit Dominus et dissipati sunt.“ 6) Vgl. Brugsch, Steininschrift und Bibelwort, Abschn. V, und Riehm, Handwört. s. v. Rotes Meer, Lagerstätten, Pithom, Sukkoth, Hahiroth, Ramses. •) In einer warmen Quelle von 41° C. auf dem Wege von Suez nach dem Sinai wird, wie die Araber glauben, der Geist des bösen Pharao bis in Ewigkeit gesotten. Ehe sie das Wasser (gegen Rheumatismus) gebrauchen, beschwichtigen sie den Geist des Pharao durch ein Opfer, gewöhnlich einen Kuchen. - Bädeker, Paläst. (1910), S. 176.

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schreiten konnten, so wären sie doch in Kanaan noch immer Untertanen des Königs von Ägypten geblieben, da der Süden von Kanaan damals den Ägyptern untertan war. Moses beschloß deshalb, die Israeliten zunächst nicht nach Kanaan, sondern nach der Sinaihalbinsel zu führen. Ms nun das Volk an das Rote Meer kam, da geriet es durch die ihm nachsetzenden Ägypter in große Not; aus dieser Not wurde es gerettet durch den von Moses gewagten Durchzug durch das Meer. Wo ist derselbe erfolgt? Während man früher meist annahm, daß die Israeliten südlich von dem heutigen Suez an einer noch heute bei der Ebbe passierbaren Stelle das Rote Meer durch­ schritten haben, ist man in der neueren Zeit infolge neuerer Ausgrabungen und For­ schungen zu einer anderen Ansicht gekommen. Das Rote Meer erstreckte sich früher mit seinen beiden Meerbusen viel weiter nach Norden hinauf, als heute x); der für uns hier in Betracht kommende Golf von Suez reichte nämlich früher noch über die im Norden von ihm liegenden Bitterseeen hinaus bis zu dem von diesen wiederum nördlich liegenden Timsahsee, dessen Nord­ spitze das Ende des Roten Meeres bildete. Am Nordufer dieses Seees liegt heute die Stadt Jsmaelia, ein wenig westlich von demselben lag die (neuerdings aufgegrabene) Stadt Pithom (das biblische Sukkoth), neben Ramses das zweite der von der Bibel genannten „Vorratshäuser", welche der König von Ägypten durch die Israeliten bauen ließl2). Da nun die Bibel erzählt, daß die ausziehenden Israeliten von Ramses gen Sukkoth zogen (2. Mose 12, 37), Sukkoth aber die Stadt Pithom ist, so nimmt man heute an, daß sie, um den Ägyptern zu entrinnen, durch den heute ausgetrockneten (also flacheren) Meeresteil zwischen dem Timsahsee und den Bitterseeen hindurch­ gezogen seien. Da sich nördlich und südlich von dieser heute trockenen Stelle tiefere (und darum noch heute vorhandene) Wasserschichten befanden, so blieb an diesen Stellen auch bei der Ebbe das Wasser stehen, und somit stand das Wasser, wie die Bibel sagt (2. Mose 14, 22), den durchziehenden Israeliten wie eine Mauer zur Rechten und zur Linken (im Süden die heutigen Bitterseeen, im Norden der heutige Timsahsee). Die Differenz zwischen Ebbe und Flut beträgt aber im Golf von Suez, besonders im Frühjahr, bis über 3 Meter, und im Frühjahr sind ja die Israeliten aus Ägypten aus­ gezogen. Als die Israeliten das Meer durchschritten hatten, waren sie den Ägyptern ent­ ronnen, denn das ägyptische Heer war vernichtet, und keine Befestigung sperrte ihnen an dieser Stelle den Weg nach dem Sinai.

o. Das Wunder am Schilftneer und die Kritik. Zur Orientierung für den Lehrer2). „Wäre Israel frank und frei aus Ägypten gezogen, so würden bei der Schwäche des Anknüpfungspunktes, den die bisherigen wunderbaren Erweisungen Gottes in ihrem Innern noch hatten, diese bald vergessen worden sein; damit die frühere Not und die frühere Hilfe ihren Zweck erreiche, mußten gerade beim Auszug sich Not und Hilfe noch einmal zur höchsten Höhe steigern. Gleichwie an Gott, so mußten die Jsrael) Bestritten von König, Gesch. des Reiches Gottes (1908), § 20, 11. *) Brugsch, S.228 und 213. 3) Vgl. den früheren allgemeinen Abschnitt über die Kritik, Nr. I. Eine Anwendung davon auf den einzelnen Fall wird bei dieser Erzählung zu machen sein.

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Uten aber auch an Moses, durch den sie ihr Gesetz empfangen sollten, noch fester ge­ bunden werden, damit sie diesem Manne Gottes zu gläubiger Hingabe und rückhalt­ losem Gehorsam verbunden würden. Das ist nun durch die wunderbare Gotteshilfe beim Auszug aus Ägypten geschehen. Je mehr nun die Wunderscheu den Hergang aus natürlichen Ursachen begreiflich zu machen sucht, desto unbegreiflicher wird er bei der Erwägung aller einzelnen Umstände; die ganze Erzählung ruht nun einmal auf dem Boden des Wunders. Damm sind beim Unterricht alle derartigen Versuche, das Wunder zu erklären, zu unterlassen, und die Gedanken der Schüler vielmehr auf das hinzurichten, was Luther mit der Frage andeutet: „ „Was ist unser Leben auf Erden anders, als ein Zug durchs Rote Meer?" " Auch für uns heißt es: „ „Nur frisch hinein, es wird so tief nicht sein, das Rote Meer wird dir schon Platz vergönnen. Was wim­ merst du? Sollt' der nicht helfen können, der nach dem Blitz gibt heitern Sonnen­ schein? Nur frisch hinein!" " Der Weg durch das Meer ist sicher, sobald Gott uns auf diesem Wege sehen will"1). Diese Mahnung an den Lehrer ist gewiß berechtigt; aber sie setzt voraus, daß der Schüler noch auf einem Standpunkt steht, der für die oberen Klassen der höheren Schulen nicht durchweg oder wohl sogar meist nicht mehr vorhanden ist. In diesem Alter regt sich der Zweifel, und so wird der Lehrer es doch für nötig halten können, auch auf das Wunder selbst einzugehen. Wer das tun w i l l, oder vielmehr tun m u ß, der muß zunächst wissen, wie sich die heutige Bibelauslegung zu dieser Frage stellt. Als Repräsentanten derselben lasse ich D i l l m a n n reden 2). „Die vier Darstellungen, in denen das hier erzählte Ereignis vorliegt3), stimmen darin überein, daß Israel, als es eben von der nachsetzenden ägyptischen Heeresmacht eingeholt und zwischen diese und einen Meeresarm eingeengt war, an einer sonst vom Wasser bedeckten, damals aber wegsam gewordenen Stelle aus dem Bereich seiner Ver­ folger entkam, während die Ägypter in den rückkehrenden Wassern ihren Untergang fanden. Auch der Eindmck der Wunderbarkeit, den das Ereignis auf das Volk machte, spiegelt sich in allen diesen Darstellungen wieder. Aber in der Beschreibung des Her­ gangs selbst weichen die einzelnen Darstellungen von einander ab. Daß bei dem Ereignis die Natumrsachen gewirkt haben, wird in dem Siegesliede (2. Mose 15) nicht geleugnet, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt; gepriesen wird, daß G o t t sie in Bewegung setzte, der durch einfache Mittel ein ganzes Kriegsheer vertilgt und seinem Volke den Sieg schafft. Daß dem Volke, welches sein Führer Moses immer auf die Hilfe seines Gottes hingewiesen und im Vertrauen auf ihn aus Ägypten aus­ geführt hatte, im Augenblick äußerster Gefahr ohne eigenes Zutun diese Rettung kam, darin lag das eigentlich Wunderbare, und daran knüpfte sich auch die ungemeine Be­ deutung, welche dieses Ereignis für die ganze Bildungsgeschichte der Gemeinde ge­ wann. Diesen Grundgedanken von der ausschließlichen Ursächlichkeit Gottes drücken auch die Erzähler der Geschichte (2. Mose 13,17—14, 31) aus, aber bei ihnen erscheint das Ereignis weniger vermittelt und natürlich als bei dem D i ch t e r (2. Mose 15). Es wäre nun aber ungerechtfertigt, um solcher Differenzen wiUen die Tatsächlichkeit des Ereignisses selbst zu leugnen; aber noch törichter wäre es, die strenge Geschicht­ lichkeit des Hergangs in allen Einzelheiten der verschiedenen Darstellungen behaupten zu wollen, zumal wenn man bedenkt, daß sogar die späteren Dichter und *) ® ä d) f et, $ie heilige Geschichte, 1886. I, 487—493. ') Dillmann, Exeget. Handbuch zum Pentateuch 1880 (Band II, S. 131 bis 134). 3) Über die Quellen des Pentateuchs siehe Nr. 27.

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Schriftsteller der Bibel selber dies Wunder mit n e u e n dichterischen Zügen bereichert haben (Ps. 74,13: „Du zertrennest das Meer durch deine Kraft, undzerbrichst die Köpfe der Drachenim Masser;" Ps. 77, 17—21 läßt in V. 18 ein Gewitter hinzukommen); das Wunderbare des Vorgangs liegt nicht in seiner Naturwidrigkeit." Der Lehrer wird nun unter Beachtung der Mahnung von D ä ch s e l, das Wunder nicht wegzuerllären, aber doch ebenso unter Beachtung der heutigen Theologie unb Weltanschauung, als deren Repräsentant hier D i l l m a n n gelten darf, dem Schüler die Sache darzustellen haben, um den Glauben nicht zu stören, aber doch auch den Zweifel nicht zu verstärken durch Abweisung aller Fragen des Schülers, die ja doch zunächst als dem durch die Schule selbst erweckten und geförderten Wahrheits­ sinne und Forschungstriebe entstammend anzusehen und zu behandeln sind. Wie das geschehen kann, zeige ich an der Darstellung des Buches von M e z g e r *); dabei ist auch auf die Wunder vor dem Auszuge Rücksicht genommen. „Treten wir mit dem richtigen Maßstab an die Wunder heran, von denen das 2. Buch Mose berichtet, so erhalten wir auf die Frage, ob hier tatsächlich erfolgte Wun­ dertätigkeit Gottes vorliege, eine doppelte Antwort. Einerseits ist unzweifelhaft vieles, was dazumal dem Volk Israel widerfahren ist, aus dem gewöhnlichen Zu­ sammenhange der Dinge nicht erklärbar; wir können uns unmöglich des Eindrucks erwehren, daß wir hier einem mit außerordentlichen Mitteln herbeigeführten Wende­ punkt der Weltgeschichte gegenüberstehen. Scheinbare Zufälligkeiten und alltägliche Dinge sind in entscheidenden Augenblicken derart zusammengetroffen, daß die größten Wirkungen sich daran knüpften. Andrerseits aber sind diese Wirkungen erfolgt in merkwürdigem Anschluß an Naturerscheinungen des ägyptischen Landes. Ferner ist nicht zu verkennen, daß höhere Zwecke dadurch erreicht worden sind, daß ein göttlicher Ratschluß sich mittelst jener Wunder erfüllt hat. Aber ebensowenig ist zu verkennen, daß in diesen biblischen Erzählungen sich ein an die großen Wundertaten Gottes angereihter Sagenkreis darstellt, der erst im Laufe von Jahrhunderten sich gebildet hat. Es gibt freilich noch immer Leute, die sich und andern einreden möchten, wir hätten in den biblischen Erzählungen ein photographisch getreues Bild der wirllichen Tatsachen vor uns, und wer das nicht glaube, verleugne die Anerkennung göttlicher Offenbarung und der höheren Eingebung der heiligen Schrift. Aber wo steht in der Bibel, daß eine derartige Inspiration zum rechten Glauben gehöre? Und wie ist es denkbar, daß diese Berichte vollkommen getreue Abdrücke dessen seien, was vor Jahrtausenden geschehen ist? Das wäre ein größeres Wunder als die zehn Plagen Ägyptens allzumal. Tatsachen und Berichte über die Tatsachen sind (auch in der Bibel) auseinanderzuhalten. Begebenheiten, die offenbar erst viele Jahrhunderte später, noch dazu in mehreren Berichten, dem Pentateuch einverleibt wurden, ver­ langen eine prüfende Scheidung von Inhalt und Form, von dem, was wir als Gottes Tat darin zu erkennen haben, und demjenigen Schmuck, welchen die menschliche Fassung dem göttlichen Werke gegeben hat. Sowie Josuas Sieg (Josua 10), zunächst dichterisch besungen und von der Phantasie ausgeschmückt, vom „Heldenbuch" aus (wie die Bibel selber angibt) in den Bericht des Geschichtswerks übergegangen ist, so verhält es sich auch mit dem, was vorher in Ägypten sich begeben hat; auch hier zeigt der Bericht in seinen zum Teil von einander abweichenden, sichtlich sich steigernden *) Mezger, Hilfsbuch zum Verständnis der Bibel, 1879 (zu 2. Mose 7 u. 14).

20. Der Zug zum Sinai; die Sinai-Halbinsel rc.

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Darstellungen, daß verschiedene Stimmen (auch dichterische) das Eine in mancherlei Tonarten geschildert haben. So gewiß also die erste Erleuchtung Moses' als eine wunderbare Tatsache anzusehen ist, und so gewiß viele Züge bei der Erlösung Israels als u n m i t t e l bare Gottestat anzusehen sind, ebenso gewiß haben die großen geschichtlichen Tatsachen durch die Überlieferung manchen Schmuck erhalten, in welchem sie uns jetzt vorliegen. Es ist oft nicht auszumachen, wie es sich mit den Ein­ zelheiten tatsächlich verhalten habe; wir haben vor allem auf den Zweck der berichteten Gottestaten zu achten: die Umwandlung Israels 'in ein gläubiges und gehorsames Volk. Nach welchem Grundsatz ist nun die Sage von der Ge­ schichtezuscheiden? — Was der Christ fräst seines an der Hand der heiligen Schrift und des christlichen Bewußtseins gebildeten Gottesbegriffs als mit demselben vereinbar erkennt, das gehört dem Gebiete der Geschichte, was damit nicht vereinbar ist, dem Gebiete der Sage an. Wer dagegen die für das k i n d l i ch e Gemüt äußerst ansprechenden und wirksamen Bilder dem Glauben desMannesoderauchdes reifenden Jünglings als tatsächliche Wirklichkeiten hinzunehmen zumutet, der bietet diesen einen Skorpion statt eines Ei's, einen Stein statt nährenden Brotes — und das einzig dem selbsterwählten hyperbiblischen Jnspirationsbegriff zu liebe, der eben nur nach dem bequemen Grundsatz verfährt: Es muß so sein, darum ist es so. Trotz dieser Einschränkungen bleibt aber des Wunderbaren an diesen Ereig­ nissen genug bestehen. Was dazumal am Roten Meere geschehen ist, bleibt eine aus bloß natürlichen Ursachen und geschichtlichen Zusammenhängen nicht erklärbare Gottestat. Zunächst ist damals bei Moses und bei vielen Israeliten zweifellos nicht bloß ein ganz ungewöhnlicher Aufschwung der Gedanken und Bestrebungen, sondern auch eine außerordentliche Vertiefung und Erhebung des sittlich-religiösen Lebens bewirkt worden; der wie durch unsichtbare Waffen bereitete Sieg mußte die Gemüter desto mächtiger zu dem Gott erheben, den Moses verkündete. Sodann hat Gott sein auserwähltes Volk erlöst und gerettet, indem er eine Menge günstiger Umstände und natürlicher Mittel im entscheidenden Augenblick eintreten und zusammenwirken ließ. Endlich hat Gott, der den Moses erweckt und berufen hat, auch die außerordentlichen Taten durch das von ihm erwählte Rüstzeug, als das Organ der göttlichen Wirksamkeit, zur Ausführung gebracht, so daß also Moses von seinen Zeitgenossen wie von uns mit Recht für einen Gesandten Gottes gehalten wird." Der Lehrer wird aus dieser Darlegung eines zugleich gläubigen und auch wissen­ schaftlich gebildeten Theologen erkennen, wie er der Wissenschaft ihr Recht geben kann, ohne den Glauben zu schädigen.

20. Der Zug zum Sinai; die Sinai-Halbinsel; die Bnndschließuug am Sinais) a. Zunächst nicht nach Kanaan hatte Moses s»in Volk aus Ägypten zu sichren beschlossen; dann wären sie noch immer, da dieses Land damals zum größten Teil zu Ägypten gehörte, in der Macht der ägyptischen Beamten und Besatzungen gewesen und würden von denselben nach Ägypten zurück!) Vgl. Brugsch, Steininschrift und Bibelwort, Abschn. IX. Heidrtch, Heilige Geschichte. 3. Ausl. 6

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gedrängt worden sein1). So führte denn Moses die Israeliten, nachdem sie das Rote Meer glücklich durchschritten hatten, auf die Halbinsel Sinai zu; das Ziel ihrer weiteren Wanderung war der „Berg Gottes" (schon damals als solcher geltend), der Sinai. Unter manchen Schwierigkeiten, die Moses mit Gottes Hilfe glücklich überwand (Mannaspendung2), Wasserspendungs), Kampf mit den Amalekitern) gelangten sie glücklich an den Sinai (im dritten Monat nach dem Auszuge)4).* b *). Das Rote Meer läuft im Norden in die beiden schmalen Meerbusen von Suez (Westen) und Akaba (Osten) aus, welche eine dreieckige Halbinsel, die Sinai­ halbinsel, umschließen. Dieselbe ist jetzt im Westen durch den Suezkanal von Ägypten, im Osten von Arabien getrennt durch die Fortsetzung des Ghor (des Jordantales), welches vom Toten Meere bis nach Akaba reicht (im Norden emporsteigend, im süd­ lichen Teil sich wieder senkend). Den Norden der Halbinsel bildet die Wüste El-Tih, welche tiefer liegt als das an sie stoßende Hochland von Judäa. Den Süden der Halb­ insel bildet ein wildes Felsenmassiv mit steilen Spitzen, von zahlreichen trockenen Fluß­ betten durchfurcht, heute ein Bild vegetationsloser Ode. Von den verschiedenen Berg­ spitzen ®), welche sich hier erheben, galt früher der Serbal (2060 m), seit dem 6. Jahr­ hundert meist der von der Tradition als solcher bezeichnete Dschebel-Musa, 2292 m hoch7), für den Berg der Gesetzgebung, den Sinai; ein niederes Stockwerk des Sinai ist der Horeb (1994 m hoch) ®). Am Sinai liegt (1528 m hoch) das Katharinenkloster 9), in welchem Prof. Tischendorf den Codex Sinaiticus gefunden hat10). Auf dem Gipfel befinden sich auch eine Kapelle für die Lateiner (die jetzt aber nicht mehr hierher wall­ fahrten) und eine Moschee.

c. Am Sinai wurde nun ein längerer Aufenthalt gemacht (von fast einem Jahre, vgl. 4. Mose 10,11); hier sollte der Bund Gottes mit dem Volke Israel geschlossen werden, durch welchen dasselbe noch fester an Gott geknüpft wurde, als seine Stammväter. Und zu so ernstem Beginnen paßre der dazu gewählte Ort! Die erhabene Gebirgswelr, die Sülle der Wüsteneinsamkeit ladet von x) Brugsch, S. 151—152. 2) Das Manna ist (in dieser Gegend) das wohl­ schmeckende weißliche Harz des Tarfa-Baumes, aus welchem es nach regenreichen Wintern vom Mai bis zum Juli des Nachts auströpfelt, vielleicht infolge des Stiches einer Schildlaus. Es wird von den Beduinen noch heute gesammelt, zu Kuchen geknetet und wie Honig aufs Brot gestrichen. 3) Diese Geschichte erzählten später heidnische Schriftsteller so, daß Waldesel dem Moses den Weg zu Quellen gewiesen hätten: deshalb hätten auch die Juden später ein Eselsbild in ihrem Heilig­ tum aufgestellt. Diese Behauptung ist um so mehr zu begreifen, wenn man hört, daß der Esel bei den Ägyptern (und auch bei anderen Völkern) ein heiliges Tier war. 4) „Es ist weit wichtiger, die Stationen der inneren Führungen Gottes, die guten und schlimmen Seiten des Volkslebens, Charakter und Verdienste der her­ vorragendsten Männer dieser Geschichte ins rechte Licht zu stellen, als die so unsicheren äußeren Stationen der Wüstenwanderung" (M e z g e r zu 2. Mose 15). — Der Lehrer kann die Artikel „Lagerstätten" in Riehms bibl. Handwörterbuch und „Wüsten­ wanderung" in der Theol. Encykl.8 Bd. 21 vergleichen. 6) Vgl. Bädeker (1910), S. 172—198. «> Die höchste ist der Dschebel Katerin (2606 m). 7) Er wird erstiegen auf der angeblich von der Kaiserin Helena angelegten beschwer­ lichen „Pilgertreppe" mit etwa 3000 Stufen. 8) Die verschiedenen Erzähler des Pen­ tateuchs stimmen im Gebrauch der Namen nicht überein. Der Gesetzgebungsberg heißt in der Regel Sinai, dagegen im 5. Buch Mosis: Horeb (abgesehen von Kap. 33, 2). — Theol. Encykl.318, S. 385 (Guthe): Die Bemühungen, den Sinai oder Horeb aufzufinden, sind bei dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntnisse aus­ sichtslos. ®) Vgl. Bädeker, S. 186—190. l0) Vgl. Nr. 14 B, III.

20. Der Zug zum Sinai; die Sinai-Halbinsel re.

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selbst zur Andacht ein, majestätische Naturerscheinungen verstärkten diesen Eindruck. Hier hielt nun Males dem Volke die hohe Aufgabe vor Augen, die Gott ihm stelle: „Ihr soll mir ein priesterlich Königreich und ein heiliges Volk sein" (2. Mose 19, 6); „ihr sollt mein Volk sein und ich will euer Gott sein" (3. Mose 26,12). Aber das Volk Gottes konnten sie nur werden, wenn sie seiner Stimme gehorchen und seinen Bund halten wollten; und das Volk erllärte sich auf Moses' Anfrage bereit, alles, was der Herr gesagt habe, zu tun. Nachdem nun das Volk durch Reinigungen für den feierlichen Akr der Bundschließung vorbereitet worden war, erfolgte die Bekanntmachung des Grundgesetzes des Bundes, der zehn Gebote, und darauf die feierliche Bundschließung zwischen Gott und dem Volke, durch welche Israel zum Volke Gottes wurde1). Die Gemeinschaft Israels mit Gott, die bisher nur in dem halb bewußtlosen Ge­ wohnheitsleben der einzelnen Stämme zum Ausdruck kam, sollte nun zur bewußten treibenden Kraft eines organisierten Volkslebens werden. Das ist durch die Gesetzgebung erreicht worden. d. Aber während Moses noch auf dem Sinai verweilte, beging sein Volk eine schwere Sünde, indem es Moses' Bruder Aaron nötigte, ihm ein Bild Gottes zu machen. Die Israeliten wollten nicht etwa von Gott abfallen, um etwa den ägyptischen Apis anzubeten, sondern sie wollten nur ein Bild des unsichtbaren Gottes besitzen. So wurde denn ein „goldenes Kalb" an­ gefertigt, d. h. ein Leines Stterbild, wohl aus Holz gefestigt und mit Gold­ blech überzogen; der Stier ist aber ein Sinnbild der Stärke; der a l l m ä ch t i g e Gott war also in diesem Bilde dargestellt2). Aber der Bilderdienst war dem Volke kurz vorher verboten worden, und so erging über das Volk durch die Leviten, Moses' Stammgenossen, ein strenges Strafgericht. Moses aber betete zu Gort, daß er das Volk trotz seines Abfalls doch nicht verstoße, und gab dem Volke, da er die ersten Tafeln beim Anblick des goldenen Kalbes zerbrochen hatte, zwei neue Tafeln mit den zehn Geboten; auch empfing das Volk in dieser Zeit eine Gottesdienstordnung und den Grundstock der Gesetzgebung, welche später immer weiter ausgebaut worden sind8). e. Aber wenn durch die Gesetzgebung eine äußere Satzung für die Religion aufgestellt wurde, wurde dann nicht die Religion, die doch ein i n n e r e s Eigentum der Menschen sein sollte, veräußerlicht? Das ist allerdings die Gefahr, welche der israelitischen Religion durch die Gesetzgebung drohte, und dieser Gefahr ist diese *) Vgl. Nr. 59, wo auf diese Tatsachen genauer eingegangen wird. 2) Daß sie nun aber Gott unter dem Bilde eines Stiers darstellten, hatte wohl seinen Grund zunächst darin, daß der Stier ein altsemitisches (einem Hirtenvolke nahe­ liegendes) religiöses Symbol war - der Stier war nämlich das Sinnbild der männlichen Gottheit bei den Semiten; er stellt die vernichtende, aber auch die zeugende Mgewalt der als Baal verehrten Sonne dar. Daher auch die griechische Sage von der Ent­ führung der Europa duch Zeus in Stiergestalt — eine Gräcisierung der Wanderung des Baal und der Astarte (— Europa) nach Kreta. Das Stierbild ist also nicht auf den in Ägypten verehrten Apis zurückzuführen, der ja ein lebendiger Stier war (nicht ein Bild); aber die Wahl gerade dieses Sinnbildes für die Gottheit hat wohl nicht ohne ägyptischen Einfluß stattgefunden (vgl. B r u g s ch, Steininschrist und Bibelwort, S. 203—206), namentlich weil die Ägypter auch Bilder von Göttern hatten (König, Geschichte des Reiches Gottes, 1908, § 28). — Über den Ausdruck „Kalb" vgl. Nr. 64 c. 3) Über dieselben wird unten genauer gesprochen werden; vgl. Nr. 50—69.

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21. Vom Sinai zum heiligen Lande; Moses' Tod.

Religion später im Pharisäismus erlegen. Aber zunächst machte dadurch die Religion einen unermeßlichen Fortschritt. Nunmehr war das Gottesreich, wenn auch noch äußerlich und erst werdend, unvertilgbar in die Geschichte der Menschheit eingetreten; das sittliche Ziel des Menschen und die Gnade Gottes, welche den Menschen diesem Ziel zuführt, konnten jetzt nicht mehr aus dem Bewußtsein der Menschen verschwinden, bis Israels Volksglaube reif war, zum Glauben der Menschh eit zu werden. Das konnte aber nur durch eine Gesetzgebung erreicht werden, welche den göttlichen Kern im Volke durch Zwang erhielt, bis er des Zwanges nicht mehr bedurfte, weil er im Herzen der Menschen fest genug Wurzel gefaßt hatte. Wäre die Religion von vorn herein nur auf das i n n e r e Leben gegründet gewesen, so wäre sie in der noch unreifen Menschheit zu Grunde gegangen; auch auf dem Gebiete der Religion gilt es, daß man nur durch die Autorität zur Freiheit gelangen kann.

21. Bom Sinai zum heiligen Lande; Moses' Tod. 5. Mose 29. 31, 1-8. 32, 48-52. K. 34. a. Nachdem Israel etwa ein Jahr lang am Sinai verweilt hatte, brach es unter Moses' Führung auf, um nach dem Lande Kanaan zu ziehen; es gelangte auch bald an die Südgrenze dieses Landes, zur Stadt Kades Barnea. Von hier aus wurden nun Kundschafter in das Land geschickt; als diese aber bei ihrer Rückkehr von den starken Bewohnern und den festen Städten Kanaans erzählten, da wurden die Israeliten mutlos, und bald darauf wurden sie auch bei einem Angriff auf die Amalekiter zurückgeschlagen. So erkannte Moses, daß die lebende Generation nicht geeignet sei, die neuen Wohnsitze zu erobern; ein neues, besseres und tüchtigeres Geschlecht mußte erst heranwachsen, ehe an die Eroberung Kanaans zu denken war; zunächst zog Israel, wie es scheint, zurück nach der Halbinsel Sinai, wo es am Busen von Akaba anlangte. Nach langer Zeit finden wir die Israeliten wieder (zuerst 4. Mose 13, 26, dann 4. Mose 20, 1) in Kades, um das Land Kanaan nunmehr zu erobern; die Zwischenzeit zwischen dem ersten und dem zweiten Eroberungsversuch war eine Zeit des Umherziehens ohne feste Wohnsitze; sie ist in der Erzählung der Bibel fast übergangen und für uns ohne Bedeutung. b. Als nun Moses das Volk für tüchtig genug hielt, um aufs neue die Eroberung Kanaans zu versuchen, gedachte er von Kades aus durch das Gebiet der Edomiter zu ziehen, um von Osten her in Kanaan einzudringen. Da aber die Edomiter den Durchzug nicht gestatteten, so mußte das Volk bis zum Golf von Akaba zurückziehen, und nunmehr zog es im Osten von den Edomitern und darauf ebenso an der Grenze des Moabiterlandes hin bis zum Flusse Arnon, welcher, in das Tote Meer mündend, die Südgrenze des Landes der Amoriter bildete. Der König dieses Volkes, Schon, welcher ihnen feindlich entgegentrat, um ihnen den Durchzug durch sein Gebiet zu verwehren, imb bald darauf auch der König des weiter nördlich gelegenen Landes Basan, Namens Og, wurden besiegt, und so war das Ostjordanland in die Hände der Israeliten gefallen — eigentlich wider ihren Willen, nur infolge der Feind­ seligkeit seiner Bewohner; denn die Israeliten hatten es zunächst nur auf das Land im Westen des Jordans abgesehen. Da sie aber das Ostjordanland einmal eingenommen hatten, so haben sie es auch behalten, und die Stämme Rüben, Gad und halb Manasse haben sich daselbst angesiedelt.

22. Moses' Bedeutung und Charakter.

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c. Manche Schwierigkeiten hatte Moses auch in dieser Zeit zu überwinden; s o den Aufruhr der Rotte Korah; so die Not mit den giftigen Schlangen, welche zur Aufrichtung eines Schlangenbildes den Anlaß gab, dessen gläubiges An­ schauen den Gebissenen Heilung brachte; endlich noch die drohende Beschwörung des berühmten Zauberers Bileam. Aus weiter Ferne, aus Mesopotamien, ließen die gegen Israel argwöhnischen Moabiter und Midianiter diesen Pro­ pheten kommen, damit er Israel verderbe. Aber seine Weissagung lautete für Israel günstig; dagegen schadete er durch einen klugen Rat an die Midia­ niter und Moabiter den Israeliten, indem dieselben auf seinen Rat zum Götzen­ dienste verführt wurden (4. Mose 31, 8 u. 16)*1). d. Alle diese Schwierigkeiten hatte Moses glücklich überwunden, und er schien nun dem von ihm ins Auge gefaßten Ziel, der Eroberung des eigent­ lichen Landes Kanaan, ganz nahegekommen zu sein; aber es war ihm nicht beschieden, sein Volk ins Land Kanaan einzuführen; erst seinem Nachfolger Josua ist es gelungen, das Werk des Moses zu vollenden; Moses ist vor der Vollendung seines Werkes gestorben. e. Wenn es Moses auch nicht beschieden war, selber das Land Kanaan zu betreten (er erblickte darin eine Strafe für eine Sünde, die er in seinem Amte einst begangen, vgl. 4. Mose 20,1—13), so durfte er doch das verheißene Land wenigstens noch überschauen (vom Berge Nebo aus, der einen freien Blick über ganz Kanaan bis zum Karmel gewährt). Darauf starb Moses auf dem Berge Nebo, im Mter von 120 Jahren, fern von den Menschen, und niemand hat sein Grab erfahren (gewiß nach seinem Wunsche, damit es nicht in unrechter Weise zum Gegenstände der Verehrung werde); seine Ge­ schwister Aaron und Mirjam waren ihm im Tode bereits vorangegangen. Die Sage hat, wie sein Leben, so auch noch seinen Tod verherrlicht (Judas­ brief V. 9, nach einer apokryphischen Schrift)2), indem der Engel Michael mit dem Teufel um den Leichnam Moses' gestritten haben soll; aber viel herrlicher, als in der Sage, erscheint Moses in der Geschichte3). 22. Moses' Bedeutung und Charakter. 5. Mose 34, 10-12. 4. Mose 12, 1-15. 11, 16-29. 2. Mose 32, 25—35. 4. Mose 14, 1-38. Moses wäre schon dann als ein großer Mann anzusehen, wenn er auch nurderRetterundFührerseines Volkes gewesen wäre. Es war keine *) Über die Geschichte von Bileam vgl. Riehms Handwörterbuch 8. v. B i l e a m: „Eine kritische Geschichtsbetrachtung wird sich der Annahme nicht entschlagen können, daß der geschichtliche Sachverhalt in d e r Gestalt mitgeteilt ist, die er nach­ mals im Munde des israelitischen Volkes erhielt. Sie wird demgemäß auch das wunderbare Reden der Eselin Bileams zusammenstellen dürfen mit dem, was auch sonst im Mertum von redenden Tieren erzählt wird." 2) Diese Schrift (Assumptio Mosis), abgedruckt in Kautzsch' Apokr. und Pseudepigr. II, 311 s, ist nur unvoll­ ständig erhalten; gerade der Schluß (auf welchem die Judasbriefstelle beruht) ist nicht erhalten. a) Die Darstellung des Moses mit Hörnern auf dem Haupte beruht auf der falschen Übersetzung der lateinischen Bibel von 2. Mose 34, 29, wo es heißt, daß das Antlitz des Moses, nachdem er mit Gott geredet hatte, „geglänzt habe"; das Wort „glänze n" ist in der lateinischen Bibel falsch übersetzt mit „g e h ö r n t s e i n"; aus den Strahlen sind Hörner geworden. Vgl. Jeremias, Das A. Test, im Lichte des alten Orients (1906), S. 381 und 452.

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23. Die Eroberung Kanaans durch Josua.

geringe Aufgabe, seine geknechieten Landsleute zur Auswanderung toilfig zu machen, alle Hindernisse des Unternehmens zu überwinden, und die Aus­ wanderer zum Siege über alle ihnen entgegentretenden Feinde zu führen. Aber noch größer erscheint uns Moses, wenn wir ihn als den Gesetz­ geber seines Volkes betrachten. Er ragt in dieser Beziehung weit über die ihm ähnlichen Männer der andern Völker empor; seine Gesetzgebung hat das ganze Leben des Volkes in der trefflichsten Weise geordnet (5. Mose 4, 5—10) und das ganze Leben des Volkes in Beziehung zu Gott gesetzt, so daß ihm eine feste GruMage und Stütze gegeben war. Aber das Größte an diesem großen Manne war, daß er ein P r o p h e t Gottes war. Das Bewußtsein, welches er selber von seiner Stellung zu Gott, und welches seine Zeitgenossen darüber hatten, war wohlbegründet. Obwohl er ja den Glauben an den e i n e n Gott schon von Abraham her in seinem Volke vorhanden fand, so hat er doch Gott noch tiefer erkannt, als die Patriarchen, wie schon der neue Name Gottes bezeugt, der durch ihn in Israel aufgekommen istl). Auf seinen Schultern stehen die Propheten, die nach chm im Volke Israel aufgetreten sind, und noch Christus erklärte, er wolle das Gesetz Mosis nicht auflösen, sondern erfüllen. So war also Moses, nach seinen Taten und seinen Erfolgen beur­ teilt, ein großer Mann; aber groß erscheint er uns auch in seinem Charakter. Voll von inniger Liebe zu seinem Volke (Hebr. 11, 24—26), hat er schon in seiner Jugend seiner Landsleute sich angenommen; aber erst als Gottes Stunde gekommen war, hat er das Volk Israel aus Ägypten herausführen können. Zwar auch ihm ist es nicht leicht geworden, sich in Gottes Wege zu finden (2. Mose 4, bes. B. 13), er hat noch später in seinem Amte sich versündigt (4. Mose 20) — aber trotzdem darf von ihm gerühmt werden, daß sein Leben aufgegangen ist im Dienste Gottes und in der Liebe zu seinem Volke (2. Mose 32, 31—34; 4. Mose 14,11—20). Aber wie schwer hat ihm sein Volk oft sein Werk gemacht (Aufstand des Korah, 4. Mose 16), selbst die ©einigen haben sich gegen ihn er­ hoben (2. Mose 32,21; 4. Mose 12); aber er blieb der sanftmütigste (Luther un­ richtig: ein sehr geplagter) von allen Menschen (4. Mose 12 3); er war frei von allem Ehrgeiz; er wünschte, daß alles Volk des Herrn weissage und der Herr seinen Geist über alle gebe (4. Mose 11, 29). Nur wo es Gottes Gesetz und Gottes Ehre galt, da brauchte er Strenge (2. Mose 32,25—28), obwohl doch eine stärkere äußere Macht ihm nicht zur Seite stand; aber „Gott war seine Zuflucht für und für, und der Herr hat das Werk seiner Hände gefördert" (Ps. 90).

23. Die Eroberung Kanaans durch Josua^). Josua 1, 1—9. 21, 43-45. K. 23 u. 24. (Richter 1 u. 2, 1—5.) a. Zu seinem Nachfolger, der sein Werk durch die Eroberung Kanaans vollenden sollte, hatte noch Moses selber den Josua') ernannt, einen der beiden Kundschafter, welche der Entmuttgung des Volkes entgegengetteten i) Vgl. Nr. 58. J) Dieser Abschnitt kann nur kurz besprochen werden. ') Der Name „Jehoschua" (Gotthilf) ist später zu „Jeschua" (Jesus, b. h. Hilfe, Heiland) ver­ kürzt worden.

23. Die Eroberung Kanaans durch Josua.

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waren. Nach Moses' Tode begann Josua alsbald zu unternehmen, was dem Werke des Moses erst seinen Abschluß geben sollte, die Erobemng des Landes Kanaan. Die Kanaaniter waren sittlich verfallen (ö. Mose 9, 4) und waren zum Untergange reif, wie später die Römer gegenüber den Germanen; ein höher stehendes Volk schafft sich immer Raum auf Kosten niederer Völker. Me in der Zeit des Moses noch bestehende Oberherrschaft der Ägypter und der Hethiter über Kanaan war inzwischen durch fremde Völker beseitigt worden, so daß es für die Jsraeuten nicht mehr so schwer war, Kanaan zu erobem. Nachdem die Israeliten den Jordan überschritten und die nächstgelegene feste Stadt Jericho erobert hatten, unterwarf der Stamm Juda (mit welchem der Stamm Simeon verschmolz) den Süden des Landes; die andern Stämme zogen unter Josuas Führung nach der Mitte und dem Norden des Landes. Hierbei kam es zu zwei großen Schlachten, in welchen das Schicksal Kanaans entschieden wurde. Die Könige des mittleren Landes schlossen nämlich, um dem weiteren Vordringen Josuas zu wehren, ein Bündnis, wurden aber bei Gibeon aufs Haupt geschlagen in einer Schlacht, von der es im Buche Josua heißt, daß Gott auf Josua's Gebet Sonne und Mond habe stillstehen lassen, um ihm einen vollständigen Sieg über die Kanaaniter zu verschaffen1). In einer zweiten Schlacht, am See Merom, wurden auch die verbündeten Könige des Nordens besiegt. b. So waren nunmehr die Kanaaniter besiegt, aber noch lange nicht unterworfen, selbst abgesehen davon, daß es den Israeliten niemals gelungen ist, bis ans Mittelmeer vorzudringen und die an der Küste wohnenden Philister und Phönicier zu unterwerfen. Viele Städte des Laüdes und ganze Gebiete blieben noch lange in den Händen der alten Bewohner und sind erst später unter die Herrschaft der Israeliten gekommen. Welche Folgen dieser Zustand für das Volk Israel gehabt hat, wird die spätere Geschichte zeigen. Trotzdem aber wurde das Land alsbald unter die einzelnen Stämme verteilt; Rüben, Gad und halb Manasse blieben im Osten vom Jordan, der Stamm Levi erhielt als Priesterstamm kein zusammenhängendes Gebiet, die andem Stämme wurden im Westen vom Jordan angesiedelt. c. Nun war das Werk des Moses durch Josua zum Abschluß gebracht, indem das Volk Israel jetzt auch in den Besitz des ihm zugedachten Landes gekommen war; Josua Lunte nun mit Ruhe seinem Tode entgegensehen; er ist gestorben, nachdem er noch das Volk ermahnt hatte, Gott treu zu bleiben, *) Über die Geschichte der Auslegung dieser Stelle vgl. König, Gesch. des Reiches Gottes (1908), § 29, 4, c. — Vgl. Rieh ms Handwörterbuch s. v. Iosua: „Volk und Führer erkannten in diesem großen Erfolge dankbar die Hand Gottes, denn mit s e i n e r Hilfe hatte Israel Zeit gehabt „„an den Feinden Rache zu nehmen'"' (Jos. 10,13). Wenn in einem alten Liede dies so dargestellt war, daß Gott dem Rufe Josuas: „„Sonne zu Gibeon, stehe still, und Mond im Tale Ajalon"" Folge gegeben habe, so hat dies Dichterwort von einem wirllichen Stillstand von Sonne und Mond, den späterer Wunderglaube in den Worten fand, nicht berichten wollen." — Ein neuerer Forscher (der Astronom Maunder in Greenwich) hat berechnet, daß Josua sich damals in Gibeon befunden haben müsse, und daß diese Stellung von Sonne und Mond auf die Mittagszeit des 22. Juli passe; aber da diese Stellung der beiden Gestirne alle 19 Jahre wiederkehrt, so läßt sich ein bestimmtes Jahr für das Ereignis nicht angeben. (Tägliche Rundschau 1904, Nr. 27.) — Vgl. Ilias 2, 412—418.

88 24. Land und Leute von Kanaan; die Ansiedelung der Israeliten re.

mit dem Bekenntnis: „Ich und mein Haus wollen demHerrn diene n".

24. Land und Leute von Kanaan; die Ansiedelung der Israeliten; die Nachbarvölker*). a. Zwischen dem Mittelmeer im Westen und der syrischen Wüste im Osten erstreckt sich vom 37.-31. Breitengrade die Landschaft Syrien (mit Kanaan), im Norden durch Zweige des Taurus von Kleinasien geschieden, im Süden teils (im Westen) in die Sinaihalbinsel, teils (im Osten) in die Halbinsel Arabien übergehend. Syrien ist eine Hochebene, zum Teil mit hohen Bergketten besetzt, etwa 90 Meilen = 650 km lang und 10—15 Meilen = 100—150 km breit. Diese schmale Hochebene ist durch eine von Norden nach Süden gehende Spalte in eine östliche und eine westliche Hälfte geteilt. Der Norden der ganzen Land­ schaft ist das eigentliche SYrien, der kleinere Süden das Land Kanaan. In Syrien ist die Spalte von den Flüssen Orontes (der nach Norden fließt und im Westen von Antiochia mündet) und Leontes (der nach Süden fließt und bei Tyrus münder) ausgefüllt. Im südlichen Teile des eigentlichen Syriens erheben sich zu beiden Seiten der Spalte zwei Bergketten, im Westen der Libanon, im Osten der Antilibanon. Der Libanon ist etwa 20 Meilen = 150 km lang und endet bei Sidon; seine Kammhöhe beträgt 2000 m, die höchsten Gipfel gehen etwas über 3000 m hinaus; fast das ganze Jahr hindurch ist das Gebirge mit Schnee bedeckt (daher auch sein Name: weißer Berg); von den Cedernwäldern im Libanon haben die Türken nicht viel übrig gelassen^). Der dem Libanon im Osten parallel laufende Antilibanon ist nur 1500 m hoch, erhebt sich aber im Süden zu dem 2760 m hohen Hermon, mit welchem er an der Grenze von Kanaan endet. Syrien (im engeren Sinne) ist (wie auch Kanaan) heute Eigentum der Türken, aber die Landessprache ist (abgesehen vom nördlichsten Teile von Syrien, wo Türkisch gesprochen wird) das Arabische. Die Bewohner von Syrien (c. 2,8 Mill.) sind teils Mohammedaner (fast 2 Mill.), teils Christen verschiedener Parteien, teils Juden; eine eigentümliche Religion besitzen die Drusen. Die bedeutendsten Städte in Syrien sind heute Aleppo (im Norden) und Damaskus (im Süden), beide im Osten der Spalte gelegen; Antiochia, früher die dritte Stadt im römischen Reiche, ist heute wenig bedeutend (28 000 Einw.); die an der Küste gelegenen Phönicierstädte Sidon und Tyrus sind heute gleichfalls unbedeutende Orte, da ihre Häfen durch den an der Küste von Asien hinaufgetriebenen Nilschlamm verdorben sind; der Haupthafen *) Auf die Geographie des heiligen Landes wird der Lehrer hier nur im all­ gemeinen eingehen; die einzelnen denkwürdigen Orte (außer Jerusalem) lernt der Schüler bei den bett. Ereignissen genauer kennen. Wenn die Zeit es erlaubte, so könnte der Lehrer dem Schüler erzählen, wie man im Mittelalter nach Palästina gereist ist (vgl. ZRU. 10, 85 8, besonders 91 s), und wie man heute dorthin reist (vgl. Bädeker, Palästina und Syrien 1910) und wie Kaiser Wilhelm II. nach Jeru­ salem gereist ist. 2) Vgl. B äd eker (1910), S. 306—308. Die größte Ceder im Libanon hat in Brusthöhe einen Umfang von 14,56 m.

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für Syrien ist heute Beirut, im Westen von Damaskus. Die im Libanon heute wohnenden Maroniten (griechische Christen, aber dem Papste untertan) und Dmsen (mit einer Mischreligion aus Islam und Christentum) haben den Türken gegenüber einigermaßen ihre Unabhängigkeit behauptet. b. Der Süden des Landes Syrien ist das Land Kanaan oder Palästinas. Dasselbe ist im Norden vom Libanon und Antilibanon, im Westen durch das Mittelmeer (welches aber die Israeliten nicht erreicht haben, da sie die Philister an der Küste nicht zu überwältigen vermochten), im Osten von der syrischen Wüste begrenzt, und geht im Süden allmählich über in die Halbinsel Sinai (im Westen) und in die Halbinsel Arabien (im Osten). Kanaan reicht vom 33.—31. Breitengrade, und ist etwa 530 Quadratmeilen groß (wovon ein Drittel im Osten des Jordan), mit etwa 700 000 Einwohnern. Auch in Palästina setzt sich die von Norden nach Süden gehende syrische Spalte fort; aber während dieselbe in Syrien etwa 1000 m hoch ist, senkt sie sich in Palästina, vom Jordan durchflossen, endlich so tief unter den Meeresspiegel hinab, daß das Tote Meer, dessen Spiegel 394 m u n t e r dem des Mittel­ meeres liegt, die tiefste Stelle der ganzen Erde ist. Südlich vom Toten Meere setzt sich die Spalte, aber wieder emporsteigend (nur im Süden zum Meerbusen abfallend), bis zum Busen von Akaba fort; die Wasserscheide in dieser Fort­ setzung der Spalte liegt 240 müber dem Mittelmeer (120 km vom Toten, 60 km vom Roten Meer entfernt). Diese Spalte im Lande Kanaan, heute das Ghor genannt, ist nun bis zum Toten Meer von dem Hauptstusse des Landes, dem Jordan, durch­ flossen. Derselbe entspringt auf dem Hermon, der Südspitze des Antilibanon, in drei Quellen, welche sich in einer Höhe von 43 m über dem Meere ver­ einigen und dann einem Seebecken, dem C h u l e s e e (oder M e r o m s e e, wie man irrtümlich sagt),2) zuströmen, der nach Norden in einen Sumpf von wechselndem Umfange ausgeht; dieser See liegt noch 2 rn ü b e r dem Meeres­ spiegel. Aus diesem See fließt der Jordan in vierstündigem Laufe mit starker Strömung in den See von Genezareth (oder dasGaliläische Meer, oder, wie er noch heute heißt, das Meer von Liberias), welcher bereits 208 munter dem Meeresspiegel liegt. Und immer mehr senkt sich nun das Ghor, so daß der Jordan in raschem Laufe indasTote *) Der Name Palästina bezeichnete ursprünglich nur das Land der Philister, dann das ganze Land w e st l i ch vom Jordan, erst später das Land an beiden Ufern des Jordan. Der Name Kanaan bezeichnete ursprünglich ebenfalls nur das We st jordanland im Gegensatze zu G i l e a d oder Gilead und B a s a n im O st e n vom Jordan, erst später das Land an b e i d e n Ufern des Jordan. — Wenn das Land im A. T. (Sach. 2, 16; 2. Makk. 1, 7) „das heilige Land" genannt wird, so ist es damit als Eigentum Jehovah's bezeichnet; die Christen verstehen diesen Namen als „das Land der Wirksamkeit Jesu." — Wenn im A. T. Palästina als die Mitte der Erde (Hesek. 5, 5) bezeichnet wird, indem es heißt (Hesek. 38,12), daß die Israeliten auf dem Nabel (dem Mittelpunkte) der Erde wohnen, so ist das geographisch nicht ganz unangemessen, da das Land in der Mitte der damaligen Kulturländer im N. und S. lag, im O. von der Wüste, im W. vom Meere begrenzt. Diese Anschauung ist noch vertreten durch den in der Grabeskirche aufgerichteten 2 Fuß hohen Ständer mit einer Halbkugel, die als der Nabel, der Mittelpunkt, der Erde gilt. (Die Griechen sagten bekanntlich dasselbe von Delphi.) 2) Die Wasser von M e r o m sind Bäche bei dem Orte Merom.

90 24. Land und Leute von Kanaan; die Ansiedelung der Israeliten rc. Meer gelangtx), dessen Spiegel jetzt 394 m unter dem Meere liegt2); in das Rote Meer ist der Jordan aber niemals abgeflossen. Das Tote Meer zerfällt in einen größeren nördlichen und einen Heineren, durch eine von der Ostseite vorspringende Landzunge abgetrennten südlichen Teil, welcher be­ deutend flacher ist als der nördliche und durch die Katastrophe von Sodom und Gomorrha entstanden sein dürfte; der nördliche Teil ist bis zu 399 m tief, der südliche nur 1—6 m *). Infolge seiner tiefen Lage ist über dem Toten Meere eine tropische Hitze, durch welche mehr Wasser verdunstet, als ihm zu­ geführt wird, so daß der Wasserspiegel bisher stets sank, jetzt allerdings wieder etwas steigt. Das Wasser enthält sechsmal soviel Salz als der Ozean (c. 24 %), so daß kein Meerfisch darin leben kann; sein spezifisches Gewicht ist schwerer als das des Menschen, so daß derselbe darin nicht untersinkt. Südlich vom Toten Meer setzt sich das Jordantal fort zum Meerbusen von Akaba, allmählich ansteigend bis zur Höhe von 204 m ü b e r dem Meere, dann bis zum Meer­ busen hin sich senkend. Auf beiden Seiten der vom Jordan durchflossenen Spalte erheben sich nun Hochländer, welche im Süden in Wüste und Steppe auslaufen. Das Ostjordanland, früher Gilead, später Peräa genannt, ist wasser­ reicher als das Land im Westen und hat deshalb prächtige Wälder und reichen Graswuchs und eignet sich trefflich für Ackerbau und Viehzucht; nach Osten geht das Land allmählich in die syrische Wüste über. Das Westjordanland, welches steil zum Jordan abfällt (tote auch das Ostjordanland), aber sanfter nach Westen, wo ihm ein flacher Küstensaum, das Land der Philister, vorliegt, zerfällt in drei Landschaften, Galiläa, Samaria und Peräa. Ga l i l ä a, die nördlichste Landschaft, ist eine Hochebene, zur Viehzucht geeignet, von einzelnen Bergen überragt (Tabor 562 m, angeblich der Berg der Verllärung Jesu). In Galiläa liegt Nazareth (Nasra)4); dagegen sind von Kapernaum nicht einmal die Trümmer sicher nachzuweisen (es lag am Galiläischen Meer)6). Die größten Städte waren zur Zeit Jesu Cäsarea und Liberias, jene heute ein Dorf, diese eine Keine Stadt, vomehmlich von Juden bewohnt. Galiläa ist im Süden durch dieTiefebeneJesreel begrenzt, in welcher der Kison zum Mittelmeer fließt; diese Ebene war in alter und neuer Zeit sehr oft der Kampfplatz der feindlichen Heere. Südlich von der Ebene zieht ein Höhenzug ans Meer, welcher mit dem Vorgebirge Karmel endigt (180 m); dasselbe bildet die Grenze zwischen den Gebieten der Phö­ nizier (im N.) und der Philister (im S.). Südlich von Galiläa erheben sich die Hochländer von Samaria (Gebirge Ephraim) und Judäa (Gebirge Juda), der eigentliche Schauplatz der Geschichte Israels; beide Hochländer sind jetzt unbewaldet und bieten den Herden nur spärlichen Graswuchs. In Samaria war zuerst die Hauptstadt S i ch e m (Nabulus, mit etwa 27 000 Einw.), wo noch jetzt ein lleiner Rest der Religionsgemeinde der Samariter *) Dieser Name ist wohl erst durch Hieronymus aufgekommen; in der Bibel heißt der See „Salzmeer", „Meer der Steppe", „östliches Meer" (im Gegensatz zum Mittelmeer, dem westlichen Meer). Das Tote Meer ist etwas größer als der Genfer See. 2) Früher war derselbe über 100 m höher; auch der Jordan füllt jetzt sein altes Flußbett nicht mehr aus. ») Vgl. Theol. Encykl.» 14, 580—582. *) Vgl. Nr. 107 e. ‘) Vgl. Nr. 113 d.

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zu finden ist (etwa 170 Seelen); die spätere Hauptstadt war S a m a r i a (heute ein Dorf Namens Sebasüje). In I u d ä a zieht sich durch das Land von N. nach S. noch ein höheres Plateau, auf welchem die größeren Orte liegen, namentlich Jerusalems. Eine Meile südlich von Jerusalem liegt Bethlehem, wo noch heute die Geburtsgrotte Jesu in der von Kaiser Justinian I. (527—565) erbauten Kirche gezeigt wird2). Südlich davon liegt Hebron (etwa 22 000 Einw.) mit der Grabeshöhle Abrahams (1. Mose 23), über welcher sich heute eine (nur für Mohammedaner zugängliche) Moschee befindet. Der Hafen für Jerusalem ist Joppe oder I a f a (etwa 47 000 Einw.), heute mit Jemsalem durch eine Kunststraße (65 km) und durch eine Eisenbahn (87 km) verbunden. Nördlich von Joppe lag C ä s a r e a, in der römischen Zeit die Hauptstadt von Palästina, jetzt ein Leines Dorf, in welchem seit 1884 Bosniaken angesiedelt sind3).4 * In * der Nähe des Toten Meeres lag Jericho, früher durch seine Palmengärten berühmt*), ein irdisches Paradies; heute liegt in der Nähe ein armseliges Dorf in öder Um­ gebung s), wie ja überhaupt das ganze Land Palästina unter der Herrschaft der Türken und ihrer Vorgänger zurückgekommen ist. c. *) Die Hauptstadt des Landes ist heute, wie früher, Jerusalem, etwa 780 m über dem Mittelmeer, aber 1160 m über dem Toten Meer liegend, von jenem 12 Stunden, von diesem 8 Stunden entfernt. Man wird sie erst gewahr, wenn man ihr ziemlich nahe ist, da sie rings von Bergen umgeben ist; von W. her muß man erst bis auf 10 Min. herankommen, von O. her erst den Olberg ersteigen, von N. her erst bis auf 30 Min. herankommen, um die Stadt zu erblicken. Rings um die Stadt ziehen sich Täler, welche sie im Altertum gegen feindliche Angriffe und Wurfmaschinen sicherten; nur im Nordwesten hängt die Stadt mit dem Hochlande zusammen, auf welchem sie liegt, und reicht von dort nach Süden wie eine vorgestreckte Hand zwischen die umgebenden Täler hinein. Da nun die Täler auch in die Stadt hineinziehen (oder doch früher hineinzogen, da manche von ihnen jetzt durch Schuttmassen der öfters zerstörten Stadt ausgefüllt sind), so zerfiel die Stadt in vier Teile: den süd­ östlichen, Zion oder später die Stadt Davids7), den nordöstlichen mit dem Tempel, nur in der Chronik Moria genannt, densüdwestlichen mit der Oberstadt, den nordwestlichen, die von Osten nach Westen sich hinüberziehende Bezetha8). l) Genaueres über Jerusalem siehe unten c. 2) Vgl. Nr. 107 d. *) In C, wurde im Jahre 1101 von den Kreuzfahrern der angebliche h. Gral gefunden. 4) Die Rose von Jericho wächst nicht in Jericho, sondem in der Wüste Juda, in Ägypten, Arabien und Syrien. *) Vgl. Säbelet, S. 119—120 und 158. •) Vgl. Säbelet, Palästina (1910), S-18—84. ’) Der Name Zion bezeichnet in der Sprache der Psalmen und Propheten öfters den nördlich von Zion gelegenen Tempelberg (Moria) oder auch das ganze Jemsalem, beide als die Wohnstätte Gottes. Da nun häufig mit Zion die Stadt Jemsalem als bewohnte Stadt gemeint ist, so bezeichnet Zion auch die Einwohnerschaft von Jemsalem oder die ganze Gemeinde Israels. Die hebräische Sprache betrachtet aber die Stadt und ihre Einwohnerschaft als weibliche Wesen, und deshalb sagt man statt „Zion" auch „Tochter Zion" (nicht „Zions"); die christliche Dichtung versteht unter Zion die neutestamentliche Heilsgemeinde. 8) So nach den neueren Forschungen, während er der Zion im Westen angesetzt wurde, an welchem dieser Name heute haftet. . aber Senzinger, Archäologie, 2.Aufl. §9, 2 und Säbelet, Palästina (1910), S. 28 s.

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92 24. Land und Leute von Kanaan; die Ansiedelung der Israeliten re. Als David die noch immer in den Händen der Ureinwohner (der Jebusiter) gebliebene Stadt eroberte (welche damals angeblich I e b u s hieß — Richt. 19, 10 — nach den Tell-Amarna-Briefen schon damals „Urusalim"), deren Stärke auf dem Berge Zion beruhte, da machte er sie zu seiner Residenz, und seitdem hieß sie Jerusalems. Er baute sich auf dem Zion einen Palast und brachte in einem Zelte bei demselben die Bundeslade unter, so daß nunmehr Jemsalem der politische und der religiöse Mittelpunkt des Landes war; aber erst Salomo baute auf dem Tempelberge (Moria) den Tempel. Auf dem Südabhange des Tempelberges baute aber Salomo auch noch einen neuen Königspalast, der seitdem die Residenz der jüdischen Könige war. An diese beiden östlichen Teile schloß sich später im Norden die Bezetha an, welche sich allmählich auch nach Westen hin ausdehnte, wo heute die Grabeskirche steht. Die ganze Stadt wurde nach und nach befestigt, und zu der ältesten Mauer kamen später eine umfassendere zweite und dritte hinzu, so daß jeder Teil der Stadt eigentlich eine besondere Festung war, weshalb Titus bei der Erstürmung der Stadt immer aufs neue belagern und stürmen mußte. Auch heute ist die Stadt ummauert, aber das heutige Jerusalem ist nicht ganz das alte, sondern teils darüber hinausgreifend (Grabeskirche), teils dahinter zurückbleibend. Auf den Trümmern des zerstörten Jerusalem erbaute Kaiser Hadrianus (117—138) eine neue Stadt, AeliaCapitolina,zu welcher den Juden der Zutritt bei Todesstrafe verboten war; an der Stelle des jüdischen Tempels wurde ein Tempel des Jupiter errichtet. Der Kaiser Constantinus baute in der Stadt, welche nun wieder Jerusalem hieß, im Nordwesten die heilige Grabeskirche; später wurde die Stadt der Sitz eines Patriarchen, der freilich nur einen sehr kleinen Sprengel hatte. Da wurde im Jahr 637 Jerusalem von den Mohammedanern erobert, und sie nannten die Stadt, die ihnen nächst Mekka als der heiligste Ort der Welt gilt, el Kuds d. h. das Heiligtum. Auf dem alten Tempelplatze steht heute eine Moschee, der sogen. Felsendom (oder die Omar-Moschee), zu welchem der Zutritt den Christen bis in die Neuzeit verboten war. Noch heute herrschen in Jerusalem die Türken, aber die Mehrzahl der etwa 70 000 Bewohner bilden die 45 000 Juden, neben denen 15 000 Christen (darunter 8000 Anhänger der morgenländischen Kirche) und 10 000 Mo­ hammedaner in Jerusalem wohnen. Die Juden haben sich seit Constantinus wieder in Jerusalem angesiedelt, und sie haben eine Anzahl Synagogen in der Stadt; jeden Freitag Nachmittags 4 Uhr versammeln sie sich an einem noch heute stehenden Reste der alten Tempelmauer, um zu beten und zu klagen. Unter den Christen spielen die Griechen die erste Rolle, die hier einen Pa­ triarchen und viele Klöster haben, welche sich in Jerusalem durchweg die Auf­ nahme der Pilger zur Aufgabe gemacht haben; besonders haben auch die Russen eine stattliche Kirche in Jerusalem erbaut. Auch die von der griechischen Kirche getrennten Parteien, Nestorianer (Armenier) und Monophysiten, haben eigene Heiligtümer. Die Lateiner (etwa 4000 Seelen) haben jetzt gleich­ falls einen besonderen Patriarchen und mehrere Kirchen und Klöster. Die Zahl der Evangelischen ist nur klein (1600); sie standen in der Zeit von 1841 *) Vgl. Nr. 34 L.

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bis 1887 unter einem von England und Preußen gemeinsam errichteten Bis­ tum; doch ist dieser Vertrag im I. 1887 aufgehoben worden, und der Bischof wird jetzt nur von englischer Seite ernannt. Die Evangelischen haben neben fünf Kirchen (darunter die im 1.1898 in Anwesenheit des Deutschen Kaisers eingeweihte Erlöserkirche) und mehreren Schulen auch eine Diakonissenstation (mit etwa 40 Diakonissen aus Kaiserswerth) und mehrere Wohltätigkeitsanstalten. Als gemeinsames Heiligtum aller Christen gilt die Kirche des heiligen Grabes (den Griechen und Lateinern gehörig), welche in unregelmäßigem Bau alle Stätten des Leidens und der Auferstehung Jesu einschließt: im Osten die Schädelstätte (Golgatha), im Westen das heilige Grab (eine Grotte, nur so groß, daß immer drei Pilger hineinkönnen); alle christlichen Parteien (außer den Evangelischen) halten in dieser Kirche abwechselnd Gottesdienst1). In Jerusalem und seiner Umgebung ist fast jeder Stein und jeder Weg, jedes Haus und jeder Platz von der christlichen Sage umrankt; die neuere Wissenschaft ist bemüht, Licht in dies Dunkel der Sage und Geschichte zu bringen, und mancher schöne Fund hat die auf diese Arbeit gewendete Mühe reichlich belohnt2). d *). Das Klima von Kanaan ist, der Lage des Landes entsprechend, sub­ tropisch, an der Küste und auf dem Gebirge mehr gemäßigt, im Jordantal und namentlich am Toten Meer fast tropisch. Jahreszeiten gibt es in Palästina nur zwei: Sommer und Winter, d. h. eine regenlose und eine regnerische Zeit. Die Regenzeit beginnt im Oktober, wo der „Frühregen", wie ihn die Lutherbibel nennt, das Land zur Bestellung tauglich macht. Eigentliche Wintermonate sind nur Januar und Februar, wo aber auch nur auf den Höhen Schneefall eintritt. Im März und April treten die für das Gedeihen des Getreides unentbehrlichen „Spätregen" ein. Mit dem Mai beginnt der fast regenlose Sommer; in diesem Monat, zum Teil schon früher, wird das Getreide reif. Pflanzen und Tiere in Palästina stimmen im ganzen mit denen der Mittelmeerländer überein. Von den Getreidearten haben Weizen und Gerste die größte Bedeutung. Weinstock, Olbaum, Granatbaum und Feigenbaum werden unter den fruchttragenden Bäumen besonders hervorgehoben. Die Ceder war der schönste Waldbaum; die Rose ist wohl erst nach dem Exil in Palästina eingeführt worden4). Unter den Haustieren spielten Schaf und Rind die größte Rolle, daneben Ziege und Esel; das im Zehngebot noch nicht genannte Pferd hat sich erst seit der Königszeit in Israel eingebürgert, aber mehr in den vornehmen Kreisen als im Volke; das Kamel wurde wenig benutzt. Biene und Hund waren im Hause noch nicht zu finden; der einzige V 0 g e l irrt Hause war zunächst die Taube; das Huhn, erst im N e u e n Testament erwähnt, ist wohl bei der Rückkehr aus dem Exil aus Babylonien mitgebracht worden; die Katze wird in der Bibel nicht erwähnt. Unter den wilden Tieren war der Löwe besonders bedeutend, der heute aus Palästina verschwunden ist. Ein sehr ge­ fürchtetes Tier war auch die Heuschrecke. *) Vgl. Nr. 133. 2) So wurde im Sommer 1880 in der Ausmündung eines alten Tunnels eine althebrähche Inschrift entdeckt. Vgl. Nr. 39 b. 3) Auf die weltlichen Altertümer des Volkes Israel genauer einzugehen, wird in der Schule nicht möglich sein; hier muß alle irgend verfügbare Zeit für die Darstel­ lung der Religion Israels verwandt werden. 4) Wo Luther von der Rose spricht, ist meist an eine Lilie zu denken.

94 24. Land und Leute von Kanaan; die Ansiedelung der Israeliten rc. Gegen früher hat Palästina heute mehr verloren als gewonnen; früher galt es als ein Land, das von Milch und Honig fließt; Milch und Honig sind Götterspeise (wie Nektar und Ambrosia) x); aber „wo der Türke herrscht, da wächst kein Gras"; eine bessere Regierung würde das Land bald bedeutend emporbringen. e. Kanaan vor der Einwanderung der Israeliten*2). In der Zeit vor der Einwanderung der Israeliten war das Land Kanaan von einer Bevölkerung bewohnt, welche in alten Denkmälern und in den von ihnen be­ wohnten Höhlen, ja, sogar in einer unlängst aufgefundenen unterirdischen Stadt (bei dem alten Edrei) Spuren ihres Daseins hinterlassen haben, ohne daß es aber möglich ist, ihre Abstammung zu erkennen. Auf diese uns unbekannte Urbevölkerung von Kanaan folgten als zweite Schicht der Bevölkemng die Kanaaniter, Phönicier, Philister, Aramäer und Hethiter — sämtlich Semiten, mit Ausnahme der Hethiter, deren zahlreiche Inschriften noch nicht sicher entziffert sind, und den Philistern, welche den Hethitern verwandt, aber bald semitisiert worden sind. Die Hethiter, welche einst das mächtigste Volk in Vorderasien waren, herrschten zur Zeit des Auszugs der Israeliten über den Norden von Palästina, die Ägypter über den Süden3). Als aber die Israeliten in Kanaan einwanderten, da war die Herrschaft der Ägypter und der Hethiter über Kanaan bereits erschüttert oder vielleicht schon gänzlich beseitigt, indem verschiedene Völker vom Mittelmeer her sowohl in Ägypten einfielen, als auch in Kanaan vordrangen (hier namentlich die Philister); „in der Eroberungszeit und in der Richterzeit sind auch nicht die geringsten Spuren von ägyptischer Herrschaft über Palästina in den biblischen Urkunden wahr­ zunehmen" 4). Durch diesen Umstand wurde es den Israeliten wesentlich erleichtert, Kanaan zu erobern.

f. In das Land Kanaan sind also (im 14. Jahrh, vor Chr.) aus Ägypten her unter Moses' und Josua's Führung die Israeliten eingewandert. Die Völker Kanaans bildeten zu Moses' Zeit zwar lauter einzelne Gemeinwe>en, waren aber trotzdem für die Israeliten nicht verächtliche Feinde, da sie den einwandernden Nomadenscharen der Israeliten hinsichtlich der Kultur weit überlegen waren. Aber ihre Sittenlosigkeit war so weit vorgeschritten, daß die Israeliten mit Recht glauben durften, an ihnen ein Gericht Gottes zu vollziehen, wenn sie sie bekämpften und ausrotteten. Aber die Israeliten haben diese gänzliche Ausrottung der Kanaaniter zunächst nicht vollzogen, sondern in vielen Gebieten haben sich dieselben lange erhalten; ja, im Norden des Landes blieben sie zahlreicher als die Israeliten, so daß diese Gegend der Kreis der Heiden (Galiläa — G'lil Haggojim, vgl. Jes. 8, 23) genannt wurde. Die Kämpfe der Richterzeit galten vornehmlich den Kanaanitem und den Philistem; erst David und Salomo haben die Unterwerfung beider Völker vollendet, aber ohne sie gänzlich auszurotten; ein Teil derselben hat im Lande der Phönizier Aufnahme gefunden. Daß die Israeliten sich mit den ihnen stammverwandten Kanaanitem nicht zu einem Volke und Staate verschmolzen haben, hatte vomehmlich *) Vgl. Benzinger, Hebräische Archäologie, 2. Ausl., S. 66, Anm. 1. 2) Vgl. Kittel, Die Wiche Wissenschaft (1910), S. 3A-45. 3) In diese Zeit (vgl. unten h) führen uns die Funde von Tell Amarna (296 Briefe — gefunden im 1.1889); vgl. Hommel, Geschichte des alten Morgenlandes (Göschen), §21. 4) Kittel, Geschichte der Hebr. II, S.56.

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feilten Gmnd in der besonderen Religion, durch welche die Israeliten sich bott den Kanaanitern unterschieden; als Verehrer des einen Gottes ver­ abscheuten sie den Götzendienst, wie die Sittenlosigkeit ihrer Stammgenossen; aber die Kultur der von ihnen besiegten Völker haben sie sich allmählich an­ geleignet (5. Mose 6, 10 s). Später haben die benachbarten oder sie beherr­ schenden Völker auf das äußere und innere Leben der Israeliten einen teils heilsamen, teils verderblichen Einfluß gewonnen, aber ihre eigentümliche Religion haben die Israeliten nicht aufgegeben. g. Im Lande der Kanaaniter haben sich nun im Zeitalter des Moses und Josua die Israeliten in folgender Weise angesiedelt. DenOstendesLandes haben schon zu Moses' Zeit die Stämme Rüben (dessen Gebiet im Süden an das Land der Moabiter stieß), Gad und der halbe Stamm Manasse eingenommen, im Norden und im Süden in stetem Kampfe mit den Nachbarn begriffen; im Osten von Rüben und Gad wohnten die Ammoniter. Vom West jordanlande haben den Süden des Landes die Stämme Simeon, Juda und Benjamin eingenommen. Der im äußersten Süden wohnende (im Süden an die Edomiter und Amalekiter anstoßende) Stamm Simeon ist allmählich in dem großen Stamme Juda fast verschwunden. Auch der Stamm Benjamin, im Norden von Juda angesiedelt, obwohl längere Zeit Juda feiMich gesinnt (aus Benjamin stammte Saul, aus Juda David), hat sich doch später enger an Juda angeschlossen, namentlich seitdem der König David die im Stamme Benjamin liegende Stadl Jerusalem den Ureinwohnem, die sie noch immer besaßen, abgenommen und zur Hauptstadt des ganzen Landes gemacht hatte. Die Hauptmasse des Südens aber, im Osten vom Toten Meere, im Westen von dem Gebiete der Philister begrenzt, gehörte betn Stamme Juda, der schon beim Auszuge aus Ägypten an der Spitze des Volkes erscheint, besonders aber seit dem Königtum seines Stammgenossen David hervortritt. Später bildete der Stamm (nebst den Stämmen Simeon und Benjamin) das Reich Juda; das nachexilische Reich erstand vornehmlich aus diesem Stamme, und so wurde seitdem der Name „Juden" herrschend statt des früheren „Israeliten"; aus diesem Stamme ist der Messias, „der Löwe aus dem Stamme Juda" (Off. Joh. 5, 5), hervorgegangen. Die Mitte des Westiordanlandes bewohnten die Stämme Dan, Ephraim und die Hälfte von Manasse, alle drei im Westen wohnend, im Osten Jsaschar, an den Jordan anstoßend. Der unbedeutende Stamm Dan hat später noch ein kleines Gebiet im äußersten Norden des Landes auf dem Ostufer des Jordans erobert und behauptet. Auch Jsaschar ist trotz seines größeren Stammgebietes unbedeutend geblieben. Das Hauptgebiet der Mtte aber gehörte dem „Hause Josephs", d. h. den Stämmen Ephraim und Manasse (der Hälfte des letzteren); namentlich der Stamm Ephraim war einer der mächtigsten Stämme; aus ihm ist später Jerobeam hervorgegangen, der Gründer des Zehnstämmereichs; in späterer Zeit war dies Land der Sitz der Samariter. DenNordendesWestjordanlandes haben, abgesehen von der Ansiedelung eines Teils der Daniter, die Stämme Ässer (im Westen) und Sebulon und Naphthali (im Osten) eingenommen. Diese drei Stämme haben

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keine Bedeutung für die Geschichte des Gesamtvolkes gewonnen, vielmehr hat in ihren Gebieten das Heidentum bald wieder die Oberhand erhalten, so daß der Norden des Landes bald den Namen „Kreis der Heiden" (Galiläa) erhalten hat. Aber dies verachtete Heidenland ist der Hauptschauplatz der Tätigkeit Jesu gewesen; in Nazareth hat er zuerst gewohnt, in Kapernaum und der Umgegend vornehmlich gepredigt; nur Jesu Geburtsort (Bethlehem) und der Ort seines Todes und der Auferstehung (Jerusalem) gehörten dem Stamme Juda an. Daß der Stamm Levi kein zusammenhängendes Gebier im heiligen Lande erhalten hat, ist bekannt. h. Die Kultur der von den Israeliten unterworfenen Kanaaniter war zwar auch beeinflußt worden durch die Kultur der Ä g y p t e r, welche um das Jahr 1400 den Süden von Kanaan beherrschten; aber noch einflußreicher war die b a b y l o n i sch­ ass y r i s ch e Kultur gewesen, welche sich schon im 16. Jahrhundert v. Chr. in Kanaan verbreitet hatte, so daß die babylonische Sprache mit ihrer eigentümlichen Schrift (der Keilschrift) die Verkehrssprache in Kanaan war, deren sich sogar die ägyptischen Statthalter in Kanaan im Verkehr mit ihrem König bedienten1). Unter diesen Ein­ flüssen hatte die Kultur der älteren Bevölkerung von Kanaan bereits eine Höhe erreicht, welche weit über die Kultur der einwandernden Israeliten emporragte2).* * * * * Ms nämlich das Volk Israel in Kanaan einzog, bildete noch die Viehzucht die Grundlage des Hausstandes; die Herde gab mit geringer Mühe das beste Teil der Nahrung und Kleidung her. Die Wohnung, aller Geräte bar, deren Fortschaffung lästig gewesen wäre, und zunächst noch ein leicht bewegliches notdürftiges Obdach, konnte, bei Ärmeren vielleicht oft Menschen und Tiere zugleich beherbergend, kein Muster von Reinlichkeit sein. Jede Haushaltung mußte sich selbst genügen in allem, was die Beschaffung der Lebensbedürfnisse oder die Verfertigung der nötigen Kleider und der sonst etwa nötigen Dinge betraf; Mühlstein und Backtrog waren die wichtigsten Hausgeräte, erst später auch der Webstuhl. Kunst und Handwerk waren allgemein, aber darum auch überall noch in ihrer Kindheit. Die unvorsorgliche Wirtschaft konnte, so kümmerlich und roh die Nahrung war, niemals vor Hungersnot schützen. Durch die Einwanderung in Kanaan und den damit gegebenen Übergang vom Nomadenleben zum Ackerbau wurde natürlich das ganze Leben der Israeliten um­ gestaltet. An die Stelle des Zeltes trat das Haus, aus dem wandernden Herden­ besitzer wurde ein ansässiger Landmann und Ackerbürger, und das alte Israel war ein echtes Bauernvolk8). Auch auf geistigem Gebiete machte sich der Einfluß der in 1) Das zeigen bekanntlich die Urkunden von Tell-Amarna; vgl. H o mmel, Geschichte des alten Morgenlandes (Göschen), § 21. 2) Daß wir Modernen die Übergeordneten in unseren Gesuchen mit überschwenglichen Titeln anreden, daß wir ihnen gegenüber in unterwürfiger Ergebenheit ersterben und des zum Zeichen die gezückte Lanze des sog. Ergebenheitsstriches auf die breit dargebotene Brust unseres Namens setzen, sind viele gewohnt aus der römischen Kaiserzeit her­ zuleiten, wo man den Kaisern als Göttern opferte und Einzelne sich den Manen des Kaisers feierlich devovierten. Aber die Ursprünge dieser Höflichkeitsformen liegen in viel älteren Zeiten, nämlich in den Formen des altägyptischen Lebens, wie sie uns auch in den Tell-Amarna-Briefen entgegentreten. Vgl. den Briefschluß eines Tell-Amarna-Briefes: „Wenn der König mir schriebe: „pflanze einen ehernen Dolch in dein Herz und stirb, würde ich nicht vollbringen die Forderung des Königs?" 8) Es ist auffallend, daß es 1. Mose 4, 2 heißt: „Abel (der jüngere Sohn) ward ein Schäfer, Kain aber (der ältere Sohn) ward ein Ackermann", da bekannt-

24. Land und Leute von Kanaan; die Ansiedelung der Israeliten rc. 97 Kanaan vorhandenen höheren Kultur unter den Israeliten geltend, indem die Schrift wohl erst jetzt unter ihnen mehr verbreitet wurde und die ersten Aufzeichnungen von Ereignissen aus der alten Zeit gemacht wurden. Daß durch die Berührung mit den Kanaanitern auch die R e l i g i 0 n Israels beeinflußt wurde, ist anderwärts dargelegt. i. Den Israeliten standen unter ihren Nachbarvölkern am nächsten die Moabiter, die Ammoniter und die Edomiter. Die Moabiter standen den Israeliten wohl am nächsten unter diesen drei Völkern; sie verehrten als ihren Gott (oder Haupt­ gott) Kemosch, ihre Sprache steht der Hebräischen ganz nahe1).* *Ihr * S. Gebiet grenzte im Westen an das Tote Meer, im Süden an das Land der Edomiter, im Osten an die syrische Wüste, im Norden war die Grenze wechselnd, den ins Tote Meer sich ergießen­ den Arnon bald überschreitend, bald nur erreichend. Gegen die heranziehenden Israeliten sollte ihnen Bileam helfen (4. Mose 22); in der Richterzeit hatten sie sogar den Jordan überschritten; David unterwarf sie seinem Scepter (Psalm 60, 10); nach der Teilung des Davidischen Reiches gewannen sie ihre Selbständigkeit wieder, und König Mesa behauptete dieselbe glücklich (2. Kön. 3); später wurden sie von den Assyrern und den Babyloniern unterworfen. In der späteren Zeit verschwindet ihr Name aus der Geschichte, da ihr Land, wie das der Edomiter, von arabischen Stämmen besetzt wurde, welche hier das nabatäische Reich gründeten. Östlich von den Moabitern und den eingewanderten Israeliten wohnten die Ammoniter; ihre Hauptstadt war Rabbath Ammon; ihr Gott hieß Moloch. Auch sie wurden von David unterworfen; später wurden sie den Assyrern und den Babyloniern untertan. Am meisten haben sich aber die Israeliten mit den E d 0 m i t e r n berührt. Ihr Gebiet erstreckte sich vom Ost- und Westjordanlande nach dem Süden hinunter, zu beiden Seiten der Arabah, der Fortsetzung des Ghor vom Toten Meer bis zum Meerbusen von Akaba; an demselben besaßen sie die Hafenstädte Elath und Ezjongeber, zu welchen die Karawanen aus Arabien und Indien ihre Waren brachten; dieser Handelsverkehr machte Edom reich und mächtig. Dieses Land wurde von David unterworfen, und auch nach der Teilung des Reiches blieb Edom dem Reiche Juda untertan. Aber um das Jahr 850 wurde Edom wieder selbständig und behaup­ tete seine Selbständigkeit bis zum Vordringen der Assyrer (c. 720), wo es diesem lich der Ackerbau j ü n g e r ist als die Viehzucht. Wenn die biblische Überlieferung das natürliche Verhältnis umkehrt, indem sie dem älteren Sohne den Ackerbau, dem jüngeren die Viehzucht zuweist, so erscheint dies als ein Ausdruck des hohen Mers des Ackerbaus bei den Semiten; nur semitische Tradition kann den Ackerbau schon mit den Anfängen unseres Geschlechts verbinden; die Semiten waren schon längst zum Ackerbau übergegangen, als die Arier noch Hirten waren. — Richtiger, als die römische Sage, welche den Hirten Romulus zum Städtegründer macht, läßt aber dann die semitische Überlieferung den Ackerbauer Kain als Städte­ gründer erscheinen. — Vgl. H ö r n e s, Urgeschichte der Menschheit (1895, Göschen), S. 64—65. — Vgl. aber Guthe-Wagner, Geogr.6 I, § 310: Der Anbau von Nutzpflanzen geht in seinen Anfängen der Einführung von Haustieren in die mensch­ liche Wirtschaft voraus; jedenfalls finden wir ihn weit verbreitet bei der Mehrzahl der Naturvölker, die noch kein Haustier ausnutzen, und in den ältesten Überlieferungen treten die Berufe von Landmann und Hirt, wie bei Kain und Abel, als neben einander betrieben aus. *) Das zeigt die Inschrift des Königs Mesa, welche in der Neuzeit gefunden worden ist, ein Dokument für die Geschichte des 9. Jahr­ hunderts vor Chr. ; vgl. 2. Könige 3. 7 Hei brich, Heilige Geschichte. 3. Hust.

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25. Der Pentateuch und das Buch Josua.

mächtigen Volke, ebenso wie seine Nachbaren, untertan wurde. Ms an die Stelle der Assyrer die Babylonier traten (c. 600), wurden die Edomiter diesen unter­ tan. In der nachexilischen Zeit wurden die Edomiter im O st e n der Arabah durch die Nabatäer aus ihrem Lande verdrängt, und seitdem wohnten sie nur noch im Westen der Arabah, dem nach ihnen benannten Jdumäa (südlich von Judäa). Dieses Gebiet wurde von den Makkabäern unterworfen, und die Bewohner zur An­ nahme der Beschneidung und des jüdischen Glaubens gezwungen. Aus diesem erst spät judaisierten Edomitervolke stammte der König Herodes, der den Juden schon darum niemals als rechter Jude gegolten hat. Nicht so nahe, wie die genannten Völker, standen den Israeliten ihre anderen Nachbarn. Den Küstensaum nördlich vom Karmel bewohnten die Phönicier, zu denen die Israeliten stets in einem freundlichen Verhältnis gestanden haben; König Hiram von Tyrus war Salomos Freund. Feindlich standen den Israeliten lange Zeit die Philister gegenüber, welche das Küstenland südlich vom Karmel innehatten und lange Zeit auch einen Teil des Westjordanlandes beherrschten; erst unter David ist es den Israeliten gelungen, das Joch der Philister abzuschütteln. Von Norden her drangen allmählich die Aramäer oder Syrer gegen die Israeliten vor (Hauptstadt Damaskus), bis sie selbst von den Assyrern unterworfen wurden. Trotzdem drang ihre Sprache (das Aramäische) noch immer weiter vor und hatte um die Zeit Christi alle andren semitischen Sprachen aus Palästina ver­ drängt 1). Später ist das Aramäische von dem Arabischen verdrängt worden und wird heute in Syrien nur noch in drei Dörfern des Antilibanon gesprochen. Heute haben die Juden zwar noch eine gemeinsame Religion, aber nicht mehr eine gemein­ same Sprache, sondern sie sprechen die Sprache des Landes, in welchem sie ihren Wohn­ sitz haben; am meisten ist unter den heutigen Juden neben dem Arabischen und dem Spanischen das Deutsche verbreitet.

Hl. Die Geschichtsbücher des mosaischen Zeitalters-). 25. Der Pentateuch und das Buch Josua. a. Die schriftlichen Urkunden, aus welchen wir fast ausschließlich unsere Kenntnis des mosaischen Zeitalters und der israelischen Gesetzgebung ge­ winnen, sind der Pentateuch und das Buch Josua, welches den Abschluß des Pentateuchs bildet, und darum werden beide Schriften, zumal da sie auch einen gleichartigen Ursprung haben und in derselben Zeit entstanden sind, von den neueren Gelehrten unter dem Namen des Hexateuchs zusammen­ gefaßt. Der Name des Pentateuchs ist im Hebräischen thorah, d. h. Gesetz, im Griechischen und im Lateinischen pentateuchus (masc.), später, aber selten, auch pentateuchum3), schon im 4. Jahrh, auch quinquelibri Mosis, die fünf Bücher Mosis. Das Buch Josua hat seinen Namen von dem Helden, dessen Werk in ihm beschrieben wird. *) Vgl. Nr. 6 b und 98 b und 113 e. 2) Vgl. die Vorbemerkung zur ersten Periode. — Der Lehrer wird die Besprechung vieles Abschnitts vielleicht mit Nr. 51 verbinden. 8) Pentateuch d. h. Fünfbuch, von teuchos, welches im späteren Griechisch auch in der Bedeutung „Futteral" (für eine in demselben steckende Pergamentrolle) gebraucht wird, so daß also Pentateuch ein aus fünf Rollen bestehendes Werk bezeichnet.

26. Die Frage nach der Entstehung des Pentateuchs.

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b. Die Einteilung des Pentateuchs ist uraltl), und die einzelnen Bücher erscheinen so, wie sie uns vorliegen, bereits als selbständige Bücher; die Ab­ trennung des Buches Josua vom Pentateuch war bereits erfolgt, als die Sama­ ritaner von den Juden den Pentateuch (nicht aber das Buch Josua) über­ nahmen; dieselbe ist also wohl erfolgt, als der Pentateuch einschließlich des Priestergesetzes unter Esra zum Gesetzbuch der Gemeinde wurde; ein Gesetzbuch ist aber das Buch Josua nicht. Die Namen der fünf Bücher des Pentateuchs beruhen im Hebräischen auf dem ersten oder einem der ersten Worte, womit sie anfangen (vgl. die he­ bräische Bibel), im Griechischen und im Lateinischen auf dem Inhalt oder dem Anfang ihres Inhalts (Genesis d. h. Schöpfung, Exodus d. h. Auszug, Leviticus d. h. Gesetze über den von den Priestern abzuhaltenden Kultus2), Numeri d. h. Volkszählungen, Deuteronomium d. h. Mederholung des Ge­ setzes) »). c. Der Inhalt des Pentateuchs ist teils Geschichtserzählung, welche mit der Schöpfung der Welt beginnt und mit dem Tode Moses' schließt, teils Gesetzgebung. Der Pentateuch stellt aber dar, nachdem die Urgeschichte der Menschheit erzählt worden 'ist, wie Gott sich das Volk Israel zu seinem Eigen­ tum erwählt und gemacht hat, also die Urgeschichte des Volkes Israel, wie er das Volk Israel aus Ägypten erlöst hat, und wie er durch die Gesetzgebung in diesem Volke das Reich Gottes begründet hat. Das Buch Josua zeigt, den Pentateuch abschließend, wie Gott seinem Volke das Land Kanaan gegeben und in demselben das Gottesreich errichtet hat. Fünf Hauptabschnitte sind also in den sechs Büchern dem Inhalte nach zu unterscheiden: die Urgeschichte der Menschheit, die Urgeschichte des Volkes Israel, die Erlösung des Volkes aus Ägypten, die Gesetzgebung, die Eroberung des heiligen Landes. Diese Bücher sollten also dem Volke Israel zeigen, wie es zum Volke Gottes geworden ist, und wie es sich verhalten müsse, um ein Volk Gottes zu sein. 26. Die Frage nach der Entstehung des Pentateuchs'). Nach der Annahme der alten Juden und Christen sollten die fünf Bücher Mosis von Moses selber geschrieben sein, höchstens mit Ausnahme der letzten 8 Verse, die seinen Tod erzählen (obwohl auch diese Verse noch manche dem Moses zuschrieben)'), und das Buch Josua von Josua, mit Ausnahme der letzten 5 Verse. Mer nach vereinzelten Vorgängem in der alten Kirche wurde schon in der Reformationszeit von Gelehrten beider ’) Aber nicht ursprünglich, jedoch älter als die griech. Übersetzung des A. T. ') Wenn der Bischof im Mittelalter seine Geistlichen um sich versammelte, so erllärte er ihnen wohl einen Abschnitt dieses Buches, da sein Inhalt angeblich auch für den christlichen Priester gelten sollte, und an seine Besprechung des Leviticus schloß er dann die Rügen, die er zu erteilen hatte; daher heißt es noch heute „jemandem die Leviten lesen." — Mt den eigentlichen Leviten hat das Buch nichts zu tun. 3) Dieser Name beruht auf der falschen Übersetzung von 5. Mose 17, 18 („dies andre Gesetz" statt „eine Abschrift dieses Gesetzes"). ') Vgl. das Programm von Schönthal, 1883, Nr. 549: Sch mit», Der alttestamentliche Religionsunterricht. Eine kurze Übersicht über die Entwickelung der Hexateuchfrage findet der Lehrer in der Theol. Encykl. * s. v. „Pentateuch" und „Josua, Buch" und in der Zeit­ schrift für den Rel.-Unt. 1897. ') Vgl. unten Nr. 95.

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26. Die Frage nach der Entstehung des Pentateuchs.

Kirchen behauptet, daß Moses nicht den ganzen Pentateuch geschrieben haben lernte1). Diese Behauptung ist in der neueren Zeit von fast allen Gelehrten als richtig erkannt worden, und heute gibt es in Deutschland keinen Forscher mehr, der den ganzen Pentateuch als ein Werk des Moses betrachtete *). Die einstimmige Verwerfung dieser alten Annahme (aber sie war nur eine An­ nahme) beruht auf folgenden Gründen. a. In der Genesis ist nirgends ein Verfasser des Buches angegeben. In den drei mittleren Büchem wird zwar gesagt (2. Mose 17,14 s; 24,1 s; 34,28; 4. Mose 33, 2), daß Moses einzelne Punkte seines Lebens und Wirkens selber in ein Buch geschrieben habe; aber das gilt eben nur von einzelnen Ab­ schnitten, nicht von den drei Büchem; aber es ist nicht selbstverständlich, daß uns diese Aufzeichnung des Moses noch buchstäblich vorliegt. Überdies ist in diesen Büchem als ältere Schrift ein „Buch der Kriege Jehovahs" (4. Mose 21, 14 b) angeführt, welches kurz vor dem Tode Moses' geschrieben sein müßte. Moses hätte danach ein anderes B u ch als Grundlage für die Darstellung seines eigenen Werkes benutzt; das ist undenkbar. So führen also die eigenen Angaben der drei mittleren Bücher zu der Erkenntnis, daß diese Bücher als Ganzes nicht von Moses herstammen können. Im Deuteronomium wird nun allerdings Moses als Verfasser „dieses Gesetzes" bezeichnet: aber dieser Ausdruck ist nicht auf den ganzen Pen­ tateuch, sondem nur auf das Deuteronomium zu beziehen (vgl. 4, 8 und 27,1 und Kap. 31). Und zwar ergibt kich bei näherer Bettachtung, daß ein späterer Schriftsteller die von Moses hergeleiteten (aber nicht aufgezeichneten) Gesetze im Deuteronomium seinen Zeitgenossen in freier Fassung darbietet; einen Vers wie 6. Mose 33, 4 („Moses hat uns das Gesetz geboten") kann doch Moses nicht geschrieben haben '). Daß vollends die letzten acht Verse nicht von Moses herstammen können, ist für jeden llar, der nicht durch Vorurteile beherrscht ist. So enthalten also alle fünf Bücher kein einziges Zeugnis für die mosaische Abfassung des ganzen Pentateuchs. b. Wenn man nun den Pentateuch selbst bettachtet, um seinen Ursprung aus ihm selber zu erkennen, so behaupteten früher allerdings manche Forscher, daß derselbe offenbare Spuren der mosaischen Abfassung an sich trage. Im Pentateuch finden sich manche Spuren einer altertümlichen Sprache; aber daraus folgt nicht die Mfassung des Pentateuchs durch Moses. Da die vier ersten Bücher auf älteren Quellenschriften bemhen, wie alsbald dargelegt werden wird4), und da namentlich die Gesetzessprache auch anderwärts (z. B. im Lateinischen und im Deutschen) Mertümliches gern festhält, so braucht zur Erklärung der alten Sprache nicht auf Moses hingewiesen zu werden, wenn ihn sonst nichts als Verfasser verrät; namentlich aber für das Deutero­ nomium mit seiner von den andem Büchem völlig verschiedenen Sprache kann diese Behauptung unmöglich richtig sein, wenn auch die älteren Bücher von Moses herstammen sollten. Gerade aus der S p r a ch e des Pentateuchs kann man vielmehr erkennen, daß derselbe nicht aus der mosaischen Zeit *) Luther in den Tischreden: „Was täte es, wenn auch Mose den Pentateuch nickt selbst geschrieben hätte?" 2) Aber vgl. das Programm des kath. Gymn. von Neuß, 1903, S. 17—18. 3) Vgl. König. Einl. § 41 sin. ') Vgl. Nr. 27.

26. Die Frage nach der Entstehung des Pentateuchs.

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herstammen, sondern erst in Kanaan geschrieben sein kann. Wenn der W e st e n durch das Wort Meer bezeichnet wird, so kann diese Bezeichnung erst in Kanaan aufgekommen sein; wenn die Familie durch das Wort Haus (nicht, wie bei denArabem, durch das Wort Zelt), wenn die S p e i s e durch das Wort Brot bezeichnet wird, so weist das ebenfalls auf die bereits voll­ zogene Ansiedelung des Volkes in Kanaan hin; für Moses waren solche Ausdrucksweisen nicht möglich. Im Pentateuch zeigt sich sodann eine genaue Kenntnis der ägyptischen Sitte und Sprache. Aber auch diese Wahrnehmung beweist nichts für Moses als Verfasser des Pentateuchs; der Prophet Jesaias und das Buch Hiob zeigen eine ebenso genaue Kenntnis Ägyptens; diese kann int Pentateuch ebenso­ wohl auf die zu Grunde liegenden alten Quellenschriften wie auf den in späterer Zeit lebenden Verfasser zurückgeführt werden; für Moses als Verfasser des Pentateuchs ist sie nicht beweisend. Sodann enthält der Pentateuch allerdings Gesetze, welche nur für die mosaische Zeit paßten; aber die G e s e tz e stammen vielleicht aus dieser Zeit her, doch nicht ihre Aufzeichnung, welche aus verschiedenen Gründen auch von einem späteren Verfasser erfolgt sein kann, obwohl sie für s e i n e Zeit nicht mehr paßten. Auch die int Pentateuch vorhandene genaue Kenntnis der G e s ch i ch t e der mosaischen Zeit ist, soweit diese Behauptung überhaupt richtig ist, nicht ein Beweis für die mosaische Abfassung des Pentateuchs. Me angeblich aus dem Pentateuch selbst gewonnenen Beweise für die Wfassung desselben durch Moses sind für dieselbe nicht beweisend. c. Dagegen ergibt sich für jeden Unbefangenen ganz unzweifelhaft, daß der Pentateuch und namentlich das Deuteronomium erst nach der Eroberung Kanaans, also nach Moses' Tode, geschrieben sind, da sie in vielen einzelnen Stellen die Erobemng Kanaans durch die Israeliten voraussetzen. So heißt es 1. Mose 12, 6 und 13, 7: „Die Kanaaniter waren damals im Lande" — also offenbar zur Zeit des Schriftstellers nicht mehr. 1. Mose 36, 31 heißt es von den Edomitern, daß sie Könige gehabt haben, „bevor ein König herrschte über die Kinder Israels" — hiermit ist offenbar das Königtum in Israel als bestehend vorausgesetzt. 1. Mose 40, 15 sagt Joseph: „Ich bin gestohlen aus dem Lande der H e b r ä e r" — so kann Joseph nicht gesprochen und Moses nicht geschrieben haben. „B i s a u f d i e s e n T a g" (5. Mose 3, 14) heißen die Dörfer Jairsdörfer, welche kurz vorher erobert worden waren — das kann doch nicht nach ein paar Monaten geschrieben sein, nachdem Moses sie erobert hatte (was übrigens auch erst kurz vor seinem Tode geschehen ist). Und in ähnlicher Weise besteht etwas „bis auf diesen Tag" noch an 10 Stellen des Pentateuchs und an 12 Stellen des Buches Josua, was eben erst geschehen oder getan worden wäre, wenn die betreffenden Bücher aus der mosaischen Zeit stammten. Der Tod des Moses und vollends die Lobrede auf ihn (5. Mose 34) kann nicht von Moses selbst, ja nicht einmal bald nach Moses' Tode ge­ schrieben worden sein. d. Dagegen hat die genauere Betrachtung des Pentateuchs und auch des Buches Josua zu der heute von allen Forschem anerkannten Wahmehmung

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27. Die Quellenschriften des Pentateuchs.

geführt, daß diese Bücher auf verschiedenen Quellenschriften beruhenx); wenn Moses als Schriftsteller aufgetreten wäre (er ist aber nur als der Führer und Gesetzgeber seines Volkes anzusehen), so würden wir von ihm wohl ein s e l bst ä n d i g e s Werk erhalten haben, nicht aber ein solches, welches aus ver­ schiedenen Quellenschriften zusammengearbeitet ist; jedenfalls hätte er doch seine Erlebnisse und Taten selbständig erzählt. Das Resultat dieser Unter­ suchungen über die Quellenschriften des Hexateuchs wird unten dargelegt werden *). e. Die obigen Betrachtungen zeigen also, daß der Pentateuch als Ganzes nicht von Moses herrührt; sodann aber hat man in der neueren Zeit erkannt, wie alsbald genauer gezeigt werden wird, daß derselbe überhaupt nicht von einem einzigen Verfasser herstammt, sondem auf verschiedenen Quellenschriften beruht. Zunächst scheidet sich deutlich von den andern Büchern das Deutero­ nomium ab, von ihnen so verschieden sowohl in Sprache als Inhalt, wie etwa das Evangelium Johannis von den drei anderen Evangelien. Für die Haupt­ masse der vier ersten Bücher sind mindestens drei Quellenschriften anzunehmen. Beide Resultate der Forschung, die Ablehnung der mosaischen Urheberschaft und die Annahme mehrerer Quellenschriften für den Pentateuch, aus welchen derselbe allmählich zusammengestellt worden ist (wie eine Evangelienharmonie aus den Evangelien), werden heute in Deutschland von allen evangelischen Forschern als richtig anerkannt.

27. Die Quellenschriften des Pentateuchs. a. Der Pentateuch, ja sogar der Hexateuch (d. h. Pentateuch und Buch Josua) beruht, wenn man von den wenigen einzelstehenden Stücken desselben absieht, wie alle Forscher heute anerkennen, auf verschiedenen Quellenschriften, welche man noch ziemlich sicher von einander trennen kann. Die hebräischen Geschichtschreiber pflegen nämlich die Quellenschriften so zu benutzen, daß sie ganze Stücke wörtlich oder nur wenig geändert an einander reihen und zur Herstellung der Übereinstimmung und des Zusammenhanges nur weniges Eigene einschieben. Dadurch ist es möglich ge­ worden, eine Sonderung der aus verschiedenen Quellen entnommenen Bestandteile des Pentateuchs vorzunehmen, wie sie jetzt auch für weitere Kreise in einer neuen Übersetzung des Alten Testaments vorliegt8). Die Notwendigkeit einer Unterscheidung verschiedener Quellen im Pentateuch und im Buch Josua ergibt sich aber aus folgenden Wahrnehmungen. a. Zunächst aus der Sprache der Bücher und ihrer Ver­ schiedenheit in den einzelnen Erzählungen. Der Gottesname Jehovah gehört nach 2. Mose 6 der älteren Zeit noch nicht an, welche dafür Elohim, El und El Schaddaj gebrauchte 4). * * Bon 2. Mose 6 an ist nun in der Tat der Name Jehovah der gewöhnliche. Aber er findet sich doch auch schon vorher. Man hat nämlich bis 2. Mose 6 einen auffallenden Wechsel der Gottesnamen wahrgenommen, der nut daraus zu erklären ist, daß mindestens zwei Quellenschriften angenommen *) Das wurde zuerst behauptet im Jahre 1753 (vgl. Nr. 27 a). 2) Vgl. Nr. 27. ^ Kauksch, Die heilige Schrift des Alten Testaments. 3. Ausl. 1908. 4) Vgl. Nr. 58.

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werden, in deren einer Jehovah, in der andern Elohim der übliche Gottes­ name ist; die erstere nannte man den Jehovisten, die andere den Elobisten1). Da nun diese Eigentümlichkeit im Gebrauch der Gottesnamen auch mit anderen Verschiedenheiten der Sprache wie auch der Geschichtsdarstellung verbunden ist, so hat man den Unterschied des Jehovisten und des Elohisten auch über 2. Mose 6 hinaus bis zum Ende des 4. Buches verfolgen können, obwohl nun fast st e t s der Gottes­ name Jehovah gebraucht wird. Auch hat man später unter den Abschnitten des Elohisten eine Verschiedenheit wahrgenommen, welche zur Annahme zweier Elobisten ge­ führt hat, von denen der eine heute als die Priesterschrist bezeichnet wird.^A, Dagegen weicht das Deuteronomium von den andern Büchern in der Sprache so sehr ab, daß es einem besonderen Verfasser zugeschrieben werden muß. Während in diesen der Berg der Gesetzgebung „Sinai" heißt, heißt er im Deuteronomium fast stets „Horeb"; die Stistshütte wird im Deuteronomium fast niemals erwähnt, und viele Besonderheiten der Sprache sind dem Deuteronomium eigen. ß. Das ergibt sich ebenso ausdemgeschichtlichenJnhalt der Bücher. Die Doppelberichte, welche wir vielfach über dasselbe Ereignis haben, weisen auf eine doppelte Quelle der Erzählungen hin; so z. B. die beiden Schöpfungsgeschichten 1. Mose 1 und 2, die beiden Berichte über Sarahs Wegnahme durch einen fremden König 1. Mose 12 und 20, die beiden Berusungsgeschichten des Moses 2. Mose 3—5 und 6—7. Auch haben manche Abschnitte eine Stellung, welche nur begreiflich wird, wenn der Schriftsteller verschiedene Quellen zusammengearbeitet hat. Die Genealogie des Moses in 2. Mose 6, 14—27 unterbricht in störender Weise die geschichtliche Er­ zählung. 2. Mose 19, 25 und der darauf folgende Vers 20,1 passen nicht zu einander. Ferner finden sich chronologische Widersprüche und Unklarheiten, welche an Moses oder auch nur an einen jüngeren Zeitgenossen desselben als Erzähler zu denken nicht gestatten. Das Vorhandensein der Stiftshütte wird 2. Mose 33, 7 s voraus­ gesetzt, aber erst in K. 40 wird sie errichtet. Von Priestern ist schon 2. Mose 19, 22 und 24 die Rede, obwohl ihre Erwählung erst 2. Mose 28 und ihre Einweihung erst 3. Mose 8 berichtet wird. Über die mittleren 38 Jahre des Wüstenzuges ist aus den verschiedenen Berichten keine Klarheit zu gewinnen. Auch sonst finden sich in den Erzählungen Widersprüche, welche sich nur durch die Annahme verschiedener Quellen erklären. Die Stistshütte steht nach den meisten Stellen in der Mitte des Lagers, nach 2. Mose 33, 7 s und 4. Mose 11, 26 und 30 steht sie außerhalb desselben. Der Schwiegervater des Moses heißt bald Reguel, bald Jether oder Jithro. Aaron stirbt auf dem Berge Hör, aber nach 5. Mose 10, 6—9 schon in Moserah vor dem Berge Hör. Die Edomiter stehen nach 4. Mose 20 in feindlichem, nach 5. Mose 2 in freundlichem Verhältnis zu Israel. Me diese Wahrnehmungen sind nur zu erklären durch die Annahme verschiedener Quellenschriften, welche erst allmählich zu einem Buche vereinigt worden sind. 7. Noch viel zahlreicher und bedeutender sind aber die Widersprüche in der Gesetzgebung, sowohl innerhalb der mittleren Bücher selbst, als besonders zwischen diesen und dem Deuteronomium. Nach 2. Mose *) Das hat zuerst (aber nur für das 1. Buch Mosis) der französische Arzt Jean Astrue in Montpellier im Jahre 1753 erkannt. Derselbe war aber der Meinung, daß Moses diese beiden von ihm vorgefundenen Quellenschriften (und noch andere) zu einem Buche zusammengestellt habe.

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20, 20 s darf an mehr als einem Orte geopfert werden, was 3. Mose 17 und im Deuteronomium durchaus verboten wird. Die Gesetze über die Erstgeburten der Tiere in 2. Mose 13 und 34 sind mit denen in 3. Mose 27 und 4. Mose 18 und 5. Mose 15 nicht zu vereinigen. In den Gesetzen über den Zehnten und über die Freilassung hebräischer Knechte finden sich ebenfalls unlösbare Widersprüche. Diese Widersprüche sind nur zu erllären durch die Annahme, daß die Gesetze weder von einem Ver­ fasser noch zu derselben Zeit niedergeschrieben worden sind. Auch diese Wahrnehmungen nötigen wiederum zu der Annahme, daß im Penta­ teuch verschiedene Quellenschriften zu einem Ganzen vereinigt worden sind. b.1) Wenn man nun von den im Pentateuch enchaltenen älteren Stücken (Bundes­ buch, einzelne prosaische und poetische Stücke) und vom Deuteronomium und den ihm verwandten einzelnen Stücken des Hexateuchs absieht, so scheidet sich der übrig bleibende Teil des Hexateuchs zunächst in zwei große Teile, die man als eine pro­ phetische und eine priesterliche Schrift von einander unterscheiden darf. a. Die prophetische Schrift ist nun nicht eine geschlossene Einheit, sondern besteht selber wieder aus zwei Teilen. Der eine derselben, welcher in der Urgeschichte nur den Gottesnamen E l o h i m gebraucht und auch in der mosaischen Zeit noch vielfach gebraucht, wird der Elohist (E) genannt (früher derjüngere Elo hist, im Gegensatz zum älteren Elohisten, der heute sogenannten Prte­ ste r s ch r i f t). Der andere Teil dieser Schrift, welcher von Anfang an den Gottes­ namen Iehovah gebraucht, wird der I e h o v i st (J) genannt2). Der Elohist ist sicher nachzuweisen von 1. Mose 20—Jos. 24, der J eh o v ist von 1. Mos. 2, 4 b — Richter 2; da diese beiden Schriften einander ähnlich sind, so ist es nicht immer möglich, sie genau von einander zu sondern; dagegen ist es leichter, dieselben vom Deuteronomiker und von der Priesterschrift zu unterscheiden. Daß dieser Teil des Hexateuchs in seinen beiden Grundschriften (JE) vom Deuteronomium (D) nicht abhängig, sondern älter als dieses ist, ist heute allgemein zugestanden. Wenn in der Zeit vor dem 8. Jahrhundert zunächst einzelne Lieder und Geschichten ausgezeichnet worden waren, so sind im 8. Jahrhundert als die ersten größeren Schriften die Schriften des I e h o v i st e n und des E l o h i st e n entstanden. Diese beiden Schriften ge­ hören zum Größten, was die Litteratur aller Zeiten hervorgebracht hat, und sie sind zugleich die klassischen Zeugen der Eigenart des hebräischen Geistes in der Zeit vor dem Auftreten der großen Propheten des 8. Jahrhunderts. Der ältere von beiden, etwa ein Zeitgenosse des Elia, c. 860, ist der Jehovist; er stammt aus Juda; der jün­ gere ist der Elohist; er stammt aus dem Nordreiche; sein Buch mag etwa um das Jahr 760 entstanden sein3). Daß beide Schriften nach älteren Quellen gearbeitet sind, versteht sich von selbst; von dem Elohisten wird dies sogar durch mehrfache Aussagen in seiner Schrift ausdrücklich ausgesprochen; die wichtigste der in ihm enthaltenen Quellenschriften ist das sogenannte Bundesbuch mit dem Dekalog (2. Mose 19, 1—23, 19 oder 24, 11), von welchem anderwärts Genaueres gesagt hritb4). Das Bundesbuch (und 2. Mose 34, 17—26) ist der einzige Abschnitt von JE, welcher Gesetze enthält. *) Kittel, Geschichte der Hebr. I, § 8. 2) In den wissenschaftlichen Büchern wird der Kürze halber das Deuteronomium mit D bezeichnet, die Priesterschrift meist mit? (Dillmann: A), die dritte Hauptschrift mit JE (Wellhausen) oder gesondert mit J (Dillmann: 0) und E (Dillmann: L). 2) Kittel2 II, 398—408; andere Forscher sind anderer Meinung. 4) Vgl. Nr. 54.

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ß. Als einen jüngeren Bestandteil des Pentateuchs betrachtet man mit Recht das Deuteronomium (D), ebenfalls eine Schrift von prophetischem Charakter, ver­ faßt nicht lange vor der Reform des Gottesdienstes unter dem König Josia (621), aber beruhend auf älterer Grundlage. Von dem Verfasser des Hauptteils dieses Buches (Kap. 5—-26), dem Deuteronomiker, glauben viele Kritiker noch einen Bearbeiter (den sogenannten Deuteronomisten) unterscheiden zu müssen, welchem der Anfang (K. 1,1—4, 43) und der Schluß des Buches (K. 27 und 29—34) zugehören. Die Verbindung dieser Schrift mit JE wird vor oder im Exil oder bald darauf erfolgt sein. y. Ms die jüngste Quellenschrift des Pentateuchs betrachten heute die meisten Forscher (im Gegensatz zu den älteren Forschern, welche dieselbe wenigstens für ä l t e r hielten, als das Deuteronomium)*) die sogenannte Priesterschrift (P; 1. Mose 1— Josua 24)2), weniger ein Geschichtsbuch als ein Gesetzbuch, in welcher vornehmlich das Ceremonialgesetz des jüdischen Volkes verzeichnet ist; auch diese Schrift beruht aber auf älteren Grundlagen. Diese Schrift ist nicht eine prophetische Schrift, sondern, von einem Priester verfaßt, trägt sie einen entschieden priesterlichen Charakter. Diese Schrift ist bald nach ihrer Entstehung mit der Schrift JED verbunden worden, und zwar in so geschickter Weise, daß Juden und Christen bis zur Neuzeit den Pentateuch für das Werk eines Schriftstellers (des Moses) gehalten haben 8). c. So ist also nach der Meinung aller gegenwärtigen Forscher der Pentateuch (zu welchem ursprünglich auch das Buch Josua gehörte) nicht ein Werk des Moses, sondern ein aus der Verbindung früher getrennter Quellenschriften entstandenes, aber trotzdem nach seinem Inhalt einiges Werk8).

28. Die Geschichtserzählung der Quellenschriften des Pentateuchs; das Buch Josua3). Wenn für den Israeliten der Pentateuch vorwiegend ein G e s e tz b u ch war, wie ja derselbe in der hebräischen Bibel auch als das Gesetz bezeichnet wird, so sind doch für u n s mindestens ebenso interessant die im Pentateuch und im Buche Josua erzählten Geschichten, welche uns die Ursprungsgeschichte des Volkes Israel erkennen lassen. Für den geschichtlichen Inhalt des Hexateuchs haben aber die Quellenschriften, welche dem großen Buche zu Grunde liegen, nicht die gleiche Bedeutung. Sehr gering ist der geschichtliche Inhalt des Deuteronomiums; viel bedeutender ist derselbe in der Priesterschrift, für welche derselbe allerdings hinter der Gesetzgebung zurücktritt; dagegen sind der Jehovist und der Elohist vorwiegend *) Genaueres über diese Frage siehe oben Nr. 4. 2) Ms ein Vorläufer der Priesterschrift gilt das sogen. Heiligkeitsgesetz (3. Mose 17—26). 3) Abweichend von dem Urteil der meisten heutigen Kritiker sagt H o m m e l (Gesch. des alten Morgenlandes, 1908, S. 94 u. 165): „Die drei Quellenschriften (J E P) erscheinen als von verschiedenem Standpunkt aus geschriebene, wohl ziemlich gleichzeitige Verarbeitungen der zahlreich vorhandenen uralten Volks- und Priester-Überliefe­ rungen. Im Deuteronomium stammt die Partie Kap. 12—26, 15 wohl eben­ falls aus alter Zeit, nämlich aus der Richterzeit. Von dem Streben, diese Quellen­ schriften zu unterscheiden (wie das in dem Bibelwerke von Kautzsch geschieht), wird man wohl bald zurückkommen." 4) Das 1. Buch Mosis beruht wesentlich auf J und E, nur etwa ein Sechstel desselben auf P. Im 2. Buche beruhen auf P namentlich Kap. 25—31 und 35—40, das Übrige auf JE. Das 3. B. M. beruht ganz aus P, das 4. B. M. zum größten Teil; das Buch Josua beruht auf JE und P. 6) Nach Dillmann, Kommentar zum Hexateuch III.

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geschichtliche Schriften. Wenn man nun annehmen darf, daß diesen Quellenschriften selber wieder ältere Überlieferungen zu Grunde liegen, so wird man namentlich auf die Frage geführt, wie weit sich auch für die Geschichtserzählung des Pentateuchs mosaische Überlieferungen nachweisen lassen. Auch h i e r ist nun, wie bei der Überlieferung der Gesetze, zuzugestehen, daß zwar an sich der An­ nahme schriftlicher Aufzeichnungen des Moses nichts im Wege steht, daß wir aber darauf verzichten müssen, von dem uns Erhaltenen irgend etwas seinem Wortlaute n a ch mit Sicherheit als von Moses selbst herstammend zu bezeichnen. Die wenigen von Moses selbst und die aus noch älterer Zeit herstammenden Überlieferungen über die vormosaische Zeit sind uns nur in den erst längere Zeit nach Moses entstandenen Quellenschriften des Pentateuchs erhalten. Von denselben, als G e s ch i ch t s quellen, soll nun im folgenden etwas genauer gesprochen werden *). a. Die beiden im Hexateuch benutzten Quellenschriften des Jehovisten und des Elohisten sind fast nur geschichtlichen Inhalts, und sie haben viele Stoffe mit einander gemeinsam. Die Darstellung der Geschichte ist in beiden Schriften prophetischer, nicht priesterlicher Art2). Die Darstellung des Jehovisten beginnt mit der (zweiten) Schöpfungs­ geschichte (1. Mose 2, 4 b) und schließt im 1. Buch Mose mit Kap. 50 (Jakobs Be­ gräbnis). Die Erzählung geht dann über auf Moses, dessen Leben und Wirken im 2.—4. Buch Mose dargestellt wird; vom 3. Buch Mose gehört ihm nichts, vom 5. Buch Mose gehören ihm nur einige Abschnitte aus den letzten Kapiteln an; dagegen ist dieser Bericht im Buche Josua wieder stärker vertreten. Die mit dem Elohisten oder mit der Priesterschaft gemeinsamen Stücke hat der Jehovist zum Teil in eigentümlicher Gestalt (z. B. die Schöpfungsgeschichte)8), teils aber auch in einer von der Darstellung des Elohisten so wenig verschiedenen Fassung, daß der Redaktor des Pentateuchs beide Berichte oft so verschmolzen hat, daß es kaum noch möglich ist, beide Berichte von einander zu sondern. Die Kunst der Darstellung ist bei dem Jehovisten beson­ ders entwickelt. Die überlieferten Volkserzählungen weiß er nicht nur trefflich wiederzugeben, sondern er versteht es auch, an dieselben Lehren und Mahnungen in geschickter Weise anzuknüpfen. b. Die Darstellung d es Elohisten ist erst von 1. Mose 20 an sicher nach­ zuweisen, und sie reicht von da bis Kap. 50. Im 2. Buch Mose gehört diesem Erzähler neben vielem Geschichtlichen die älteste Gesetzgebung an, das Bundesbuch (K. 19,1—24,11). Auch das dritte Buch Mose enthält manche Berichte, die von ihm herstammen; dagegen ist dieser Schriftsteller im 4. Buch Mose gar nicht und im 5. Buch fast gar nicht wahrzunehmen. Im Buche Josua sind die Berichte des Elohisten und des Jehovisten so sehr mit einander verschmolzen, daß eine Sonderung meistens nicht mehr möglich ist. Obwohl wir das Werk dieses Erzählers nur in Bruchstücken und vielfach nur in Überarbeitungen besitzen, so ist doch so viel zu erkennen, daß es von der ältesten Sagengeschichte an (vielleicht von Abraham an, mit dem die Er­ zählung des Elohisten beginnt: 1. Mose 20) eine fortlaufende, anschauliche Zusammen­ stellung dessen gab, was man über das Mertum Israels und seine Erlebnisse bis zur Festsetzung in Kanaan wußte und erzählte. Namentlich diesem Berichte ver­ danken wir die beste Darstellung der ägyptischen Verhältnisse; auch für die Lokal1) Von den in den verschiedenen Quellenschriften des Pentateuchs enthaltenen Gesetzgebungen wird anderwärts gesprochen; vgl. Nr. 53—56. 2) Vgl. Nr. 1, B und C. 8) Vgl. meine Glaubenslehre2 Nr. 22.

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sagen ist dieser Bericht ergebnisreich. Die Darstellung des Elohisten ist, noch mehr als die des Jehovisten, von prophetischem Geiste getragen. c. Auch d i e Priesterschrift enthält nicht bloß Gesetze, sondern hat auch geschichtlichen Inhalt. Wenn auch den größten Teil dieser Schrift die Beschreibung der Gesetze und Einrichtungen der Gemeinde einnimmt, so sind doch einerseits die Ge­ setze und Einrichtungen in der Regel nach ihrer Entstehung geschichtlich angeknüpft1), und andrerseits sind viele Erzählungsstoffe aufgenommen, welche mit jenen nur in loserem Zusammenhange stehen, aber zur Fortführung des geschichtlichen Fadens dienen, an welchem die allmähliche Herausbildung Israels zu dem in Kanaan an­ gesiedelten Gottesvolke nachgewiesen wird. Des Verfassers Absicht war es also, von der Entstehung und von den Ordnungen des israelitischen Gottesstaates eine Darstellung zu geben. Die Gründung desselben ist ihm wesentlich das Werk der Mose-Josua-Zeit, und darum ist ihm die Beschreibung dieser Zeit die Hauptsache. Aber da nach der Überlieferung diese Gründung schon durch die Vorgänge in der Patriarchenzeit angebahnt war, und das Wesen der Patriarchen ohne Eingehen auf ihre Stellung zur übrigen Bölkerwelt nicht gezeichnet werden konnte, so erforderte es der geschichtliche Zweck des Verfassers, auch diese Vorgeschichte in seinen Abriß aufzunehmen. So beginnt denn diese Schrift mit 1. Mose 1 und gibt bis K. 50 einen Abriß der Geschichte von der Schöpfung bis zur Übersiedelung des Jakobhauses nach Ägypten. In den drei nächsten Büchern ist das Leben und das Werk des Moses dar­ gestellt. Im Deuteronomium gehört der Priesterschrist fast nur der Bericht über Moses' Tod an (5. Mose 34, 8 s). Vom Buche Josua gehört ihm die Hauptmasse des zweiten Teils an (K. 13—24). Vieles, was die Priesterschrift heute nicht erzählt, ist früher gewiß in ihr enthalten gewesen, aber weggelassen worden, weil der Re­ daktor des Pentateuchs dafür die Berichte der anderen Quellenschriften eingesetzt hat. Wenn nun die Priesterschrift in der geschichtlichen Darstellung von den andern Quellenschriften ergänzt wird, so daß alle diese Darstellungen sich zu einem Ganzen verbinden, so ist doch die Darstellung der Geschichte in dieser Schrift sehr verschieden von der der andern Pentateuchquellen. Die Geschichtserzählung ist für ihn nicht die Hauptsache, sondern die Darstellung der Gesetze und Sitten des Gottesvolkes. Darum gibt er nicht, wie der Jehovist und der Elohist, ausführliche geschichtliche Erzählungen, wie sie der Sagenschatz des Volkes den andern Erzählern in reicher Fülle dargeboten hat, sondern er beschränkt sich.auf den Kern der Geschichte, und statt einer ausführ­ lichen Erzählung gibt er einen Geschichtsabriß, den er auch chronologisch zu fundamentieren sucht; für ihn sind die in der Geschichte enthaltenen Gedanken wichtiger, als die Plastik der Erzählung. d. Da das Deuteronomium es sich zur Aufgabe gemacht hat, der in Kanaan einziehenden neuen Generation das Gesetz darzulegen und einzuschärfen, so ist der geschichtliche Inhalt dieses Buches sehr gering. Nachdem in K. 1—4 dem Volke die wichtigsten Erlebnisse seit der Gesetzgebung am H o r e b (wie in diesem Buche fast stets gesagt wird statt S i n a i) ins Gedächtnis zurückgerufen worden sind, folgt der Hauptabschnitt (K. 5—26), enthaltend die Erklärung des Gesetzes, woran sich mahnende Reden anschließen (K. 27—30). Dagegen ist der Schlußteil (K. 31—34) geschicht­ lichen Inhalts, indem er Moses' letzte Anordnungen und seinen Tod darstellt. e. Dagegen ist nun wieder d a s B u ch I o s u a, wie die Schriften des Jeho­ visten und des Elohisten, ein vorwiegend geschichtliches Buch. Obwohl dasselbe, *) Z. B. der Sabbath an die Schöpfungsgeschichte.

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seitdem der Pentateuch durch Esra zum Gesetzbuch der Gemeinde geworden war, von demselben geschieden (und daher auch von den Samaritanern nicht mit über­ nommen wurde), ja sogar der zweiten Abteilung der heiligen Schriften (den sogen. Propheten) zugewiesen wurde, so wird dieses Buch doch von der W i s s e n s ch a f t mit dem Pentateuch verbunden und als der sechste Teil des ersten Hauptteils der Bibel (des Hexateuchs, wie die Wissenschaft sagt) angesehen. Dieses Buch hängt nämlich nicht bloß sachlich mit dem Pentateuch zusammen, indem es erzählt, wie Josua ausgeführt hat, was Moses begonnen hat (Eroberung und Verteilung des heiligen Landes), sondern auch in seiner Entstehung stimmt es mit dem Pentateuch überein, indem auch im Buche Josua dieselben Quellenschriften zu Grunde liegen, wie in den andern Büchern des Hexateuchs, vornehmlich der Jehovist und der Elohist, Weniger die Priesterschrift, mehr dagegen der Deuteronomist, dessen Dar­ stellung dem Buche seine letzte Gestalt gegeben hat. Den geschichtlichen Inhalt des Buches bildet, wie schon oben bemerkt, die Eroberung (K. 1—12) und Verteilung des heiligen Landes, nebst den letzten Maßnahmen Josuas zur Sicherung der Bundes­ treue des Volkes (K. 13—24); das Buch schließt mit dem Tode Josuas.

29. Das Ergebnis der Kritik über die Entstehung des Pentateuchs und des Buches Josua. a. „Es sind nur wenige Stücke des Pentateuchs, welche dem Moses und seiner Zeit zugeschrieben werden. Versetzt man sich aber in die Verhältnisse jener Zeit und in die Lage des Moses, so wird es uns auch gar nicht wahr­ scheinlich sein, daß er viele Schriftstücke verfaßt habe. War auch der Schrift­ gebrauch zu Moses' Zeit bei den Israeliten schon ziemlich gewöhnlick, so war doch das Wanderleben in der Wüste keine günstige Zeit für Schrifrstellerei. Besonders aber ist Moses, der vielbeschäftigte Führer des Volkes, nicht in der Lage gewesen, viel zu schreiben. Überhaupt war Moses ein Mann der Tat; ein solcher pflegt nur dann zum Griffel zu greifen, wenn es schlechterdings notwendig ist. Darin ist er Samuel und Elias ähnlich; auch Jesus hat uns deshalb nichts Schriftliches hinterlassen. Nicht mit Worten, sondern nur durch Taten konnte Moses seine Aufgabe lösen. Namentlich aber ist es von vom herein nicht wahrscheinlich, daß Moses die Geschichte seiner Zeit, d. h. also vornehmlich seines eigenen Lebens und Wirkens, selber aufgezeichnet haben sollre. Die Aufzeichnung gleichzeitiger Begebenheiten kommt überhaupt nur in Zeiten der entwickellsten litterarischen Tätigkeit vor; sonst gibt man höchstens chronikartige Angaben über Personen und Orte mit kurzen Notizen über einzelne wichtige Vorfälle, wie die vielleicht von Moses selbst herstammende (aber später überarbeitete) Darstellung des Wüstenzuges in 4. Mose 33. Daß auch von der Gesetzgebung nur wenig (Dekalog und Bundesbuch) von Moses selbst aufgezeichnet (aber auch nicht in der ursprünglichen Form erhalten) sein dürfte, ist oben bemerkt worden"1). b. „Der gegenwärtige Stand der Pentateuchkritik ist nun dieser, daß alle Kritiker der neueren Zeit einstimmig das Vorhandensein mehrerer Quellen­ schriften anerkennen, welche von mehreren Verfassern herrühren. Auch werden die einzelnen Bestandteile, zumal in der Genesis, von den verschiedenen For*) Riehm, Einleitung, § 19.

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schern vielfach in gleicher Weise von einander gesondert. Es darf als anerkannt gelten, daß sich im Pentateuch mindestens vier verschiedenartige Bestandteile finden: diejenige Schrift, zu welcher die Priestergesetzgebung gehört; die jehovistische Schrift; die elohistische Schrift; die deuteronomischen Bestandteile. Mehr und mehr wird ferner anerkannt, daß die einzelnen Quellenschriften ursprünglich selbständige Urkunden waren; ferner, daß von dem Deuteronomiker noch ein deuteronomischer Überarbeiter des Deuteronomiums, ja des ganzen Hexateuchs, der Deuteronomist, zu unterscheiden ist. Anerkannt ist endlich die Priorität des Bundesbuchs im Vergleich zu allen andern Gesetzes­ schriften, wie auch die Priorität des jehovistischen und des elohistischen Werkes im Vergleich mit dem Deuteronomium. Die Hauptstreitfrage ist gegenwärtig die über das Mer der Priesterschrift mit der Priestergesetzgebung, ob sie nachdeuteronomikch und nachexilisch sei, oder vordeuteronomisch."x) c. Als im Jahre 444 das aus dem Exil zurückgekehrte Volk durch Esra auf das Gesetz verpflichtet wurde (Nehem. 8—10), da galt diese Verpflichtung dem Priestergesetz oder dem ganzen Gesetz, wie es uns heute im Pentateuch vorliegt, wie es aber dem jüdischen Volke bis dahin nicht bekannt war; denn im Jahre 621 war das Volk nur auf das Deuteronomium verpflichtet worden; jetzt erstreckte sich diese Verpflichtung auch auf das P r i e st e r g e s e tz, welches Esra, wie es ausdrücklich heißt (Esra 7, 14), aus Babylonien mit­ gebracht hatte. Wie sind nun die verschiedenen Quellenschriften zu dem einen Gesetzbuch vereinigt worden? d. Wenn das Deuteronomium als der jüngste Bestandtell des Pentateuchs angesehen wird, wie man früher meinte, so fragt es sich, wann und wie die drei anderen Bestandteile, der Jehovist, der Elohist und die Priester­ schrift, mit einander verbunden worden sind. Wenn noch Riehm meinte, daß als die Grundlage des Pentateuchs die Priesterschrift anzusehen sei, mit welcher die drei anderen Quellenschriften verbunden worden seien, so nahmen andere Forscher an, daß zuerst der Jehovist und der Elohist mit einander verbunden worden seien und erst mit dieser Gesamtschrift die Priesterschrift verbunden worden sei2); anderes) lassen die drei Schriften zugleich mit einander verbunden werden. Den Abschluß hat dann der Pentateuch durch die Ver­ bindung des Deuteronomiums mit den drei anderen, bereits mit einander verbundenen Schriften gefunden, was wohl während des Exils (oder erst nach dem Exil) geschehen ist. e. Wenn dagegen die Priesterschrift als die jüngste Quellenschrift des Pentateuchs angesehen wird, so nimmt man an, daß zuerst der Elohist mit dem Jehovisten verbunden worden sei, dann mit dieser Schrift das Deute­ ronomium, und zuletzt mit dem aus den drei anderen Quellenschriften zu­ sammengesetzten Buche auch noch die Priesterschrift. Auch diese Verbindung wird in die Zeit des Exils gesetzt *)• f. Die jedenfalls nicht vor dem Exll zusammengestellte Schrift galt seit dieser Zeit als das Gesetzbuch der Juden. Da nun das Volk nur auf das G e s e tz verpflichtet wurde, so kam das mit den anderen fünf Büchem zugleich entstandene Buch Josua hierbei nicht in Betracht, und es wurde nunmehr

0 Riehm, Einleitung, I, S. 163. *) So auch Strack. *) Z. B. Dill­ mann. «) So mit W e l l h a u s e n auch König.

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zu einem besonderen Buche, welches sogar betn zweiten Teil der heiligen Schrift, den sogen. Propheten, zugewiesen wurde. Wenn nun auch nach betn Abschluß des Pentateuchs neue Gesetze in denselben nicht mehr aufgenommen worden sind, so hat doch die Gestaltung und Revision des Textes auch später noch fortgedauert, was sich daraus ergibt, daß die griechische Übersetzung und der sarnaritanische Text des Pen­ tateuchs vielfach andere Lesarten darbieten, als wir heute im hebräischen Texte finden. g. Wenn so allerdings der Pentateuch nicht in betn Sinne eine einheit­ liche Schrift ist, tote man das früher glaubte, wo man ihn von Moses Wort für Wort geschrieben sein ließ, so ist er trotzdem ein einheitliches Werk insach licher Hinsicht, da über die grundlegenden Momente der israe­ litischen Religion und Geschichte in diesem zusammengesetzten Buche dennoch eine unverkennbare Übereinstimmung vorhanden ist. Der Pentateuch ist „die Evangelienharmonie des A l t e n Bundes", wie wir eine solche für den Neuen Bund gewinnen, wenn wir uns für den Gebrauch in Kirche und Schule die vier Evangelien zu einem einheitlichen Leben Jesu zusammen­ stellen *)• h. Als die Juden nach der Rückkehr aus dem Exil von den Samaritanern sich trennten, da haben diese von den Juden den Pentateuch übernommen, und er ist ihre heilige Schrift bis auf den heutigen Tag; die anderen Schriften des A.T. haben sie nicht übernommen2). *) Schon die alte syrische Kirche hat, sogar für den Gebrauch in der Kirche, eine Evangelienharmonie besessen. 2) Der sarnaritanische Pentateuch ist in einer der alt­ hebräischen ähnlichen Schrift aufgezeichnet; er ist an etwa 6000 Stellen von unserm hebräischen Texte verschieden.

Zweite Periode. Das Volk Israel im Zeitalter des Königtums, der Untergang der beiden Reiche und die Wieder­ herstellung des Reiches Juda. Wie Gott das Königtum in Israel begründet und manchmal und mancherlei Weise durch die Propheten zu seinem Volke geredet hat.

Vorbemerkung für den Lehrer. Dieser Abschnitt stellt die Geschichte des Volkes Israel in der Zeit von den Richtern bis zum Exil und der Wiederherstellung Judas dar. Auch hier muß sich der Unterricht in der Sekunda, eine gewisse Bekanntschaft mit der Sache voraus­ setzend, auf die Hauptpersonen und die Haupttatsachen der Geschichte beschränken. Namentlich aber muß die Geschichte der. getrennten Reiche auf die Hervorhebung der Epoche machenden, besonders der für die Religion wichtigen Momente beschränkt werden. Auch zum Verständnis dieser späteren Zeit gehört einige Kenntnis der gleichzeitigen orientalischen Geschichte; ich habe deshalb auch hier einige hierher gehörige Darlegungen eingeschoben, welche der Lehrer, soweit sie ihm nötig scheinen, ver­ werten mag. Für die Lektüre wird auch bei diesem Abschnitt wenig Zeit bleiben; ich habe, absehend von den rein geschichtlichen Abschnitten, auf einige besonders wichtige Abschnitte hingewiesen; dagegen wäre es wünschenswert, für die Lektüre der Propheten, besonders Jesaias, Jeremias und des zweiten Jesaias, Zeit zu gewinnen; die Be­ trachtung der messianischen Weissagung im Zusammenhange, wie auch der israelitischen Frömmigkeit, wie sie uns in den „Schriften" entgegentritt, bleibt zwei besonderen Abschnitten vorbehalten, welche schon in der zweiten Auflage dieses Buches mit der Dar­ stellung der Gesetzessrömmigkeit zu einem Ganzen verbunden worden sind.

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30. Die Geschichtsbücher vom Zeitalter der Richter tc.

A. Hon den Richtern bis ;um Untergange der beiden Reiche. 30. Die Geschichtsbücher vom Zeitalter der Richter bis zum Unter­ gänge der beidm Reiche: die Bücher der Richter, Ruth, Samuels uud der Könige'). a. Wie die Geschichte des mosaischen Zeitalters in einem zusammen­ hängenden Geschichtswerke dargestellt ist (Pentateuch und Josua), so ist auch die Geschichte der Zeit von den Richtern bis zum Untergange der beiden Reiche zusammenhängend dargestellt, nämlich in den Büchem der Richter (zu welchem das Buch Ruth als eine Ergänzung anzusehen ist), Samuels und der Könige, welche ebenso, wie der Pentateuch und das Buch Josua, ein Ganzes bllden. Die Darstellung beginnt imBuchederRichter, anknüpfend an das Brich Josua, mit der Darstellung der Zeit der Richter, als deren letzter Simson dargestellt ist. Aber das folgende Buch, dieBücherSamuels, führt in Wahrheit erst den letzten Richter vor, nämlich Samuel, mit welchem die Zeit der Richter endet und eine neue Zeit beginnt, die Zeit des Königtums; die Ge­ schichte der beiden ersten Könige, Sauls und Davids, der Nachfolger Samuels, wird , ebenfalls noch in den beiden Büchern Samuels dargestellt. Das letzte Buch, welches die Geschichte dieses Zeitalters darstellt, die Bücher der Könige, beginnt mit der Geschichte Salomos und stellt dann neben einander die Geschichte der beiden getrennten Reiche bis zu ihrem Untergange dar2). Wie diese Bücher sind nun zwar allerdings zunächst G e s ch i ch t s bücher, aber in der h e b r ä i s ch e n Bibel werden dieselben nicht mit Unrecht als prophetische Bücher bezeichnet; diejenigen Männer, welche diese Bücher geschrieben haben, haben ihre Zeitgenossen nicht vor allem über die Geschichte ihres Volkes belehren wollen, sondern sie haben ihnen die Geschichte als einen Spiegel für ihr L e b e n vorgehalten, damit sie aus der­ selben lernen sollen, daß „die Furcht Gottes der Weisheit Anfang, aber die Sünde der Leute Verderben ist." Daß die Überschrift dieser Bücher nicht ihre Verfasser, sondern ihren Inhalt angibt, versteht sich von selbst. Auch diese Bücher sind wie alle Geschichtsbücher der Bibel, auf Grund älterer Urkunden und Darstellungen von Männern versaßt worden, deren Namen uns nicht bekannt sind. Ihre heutige Gestalt haben diese Bücher erst in der Zeit des Exils erhalten. b **). Nachdem in einer doppelten Einleitung (K. 1,1—2,5 u. 2,6—3,6) ein Überblick über die Eroberung des Landes gegeben (ein Seitenstück zum Buche Josua) und alsdann der Zustand des Volkes nach Josuas Tode geschildert worden ist, stellt derHauptteildesBuchesderRichter(K. 3, 7—16, 31) die Wirk') Vgl. Kittel, Gesch. des Volkes Israel. 2. Ausl. II, § 1. 2. 3. 28—31. s) Nach, ihrem Inhalte gehören hierher auch die als Ergänzung zu den älteren Geschichtsbüchern anzusehenden Bücherder Chronik; vgl. Nr. 45. *) Die folgenden Abschnitte sind nursürdenLehrer bestimmt.

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famkeit der einzelnen Richter dar, deren zwölf x) (aber nur fünf von größerer Be­ deutung: Ehud, Barak, Gideon, Jephtha, Simson) vorgeführt werden: Othniel, Ehud, Debora und Barak, Gideon, Abimelech, Thola, Jair, Jephtha, Jbzan, Elon, Abdon, Simson. Ein zweifacher A n h a n g des Buches (K. 17—18 und K. 19—21) erzählt zwei Einzelgeschichten als Belege für den Verfall des Volkes in der Richterzeit. Auch dieses Buch ist nicht das Werk eines Verfassers, sondern beruht auf verschiedenen Urkunden, welche oft einfach neben einander gestellt sind. Daher ist auch die zweifache Einleitung zu begreifen; beide knüpfen an das Buch Josua an, stammen aber gewiß nicht von demselben Verfasser her. Der Hauptteil des Buches, welchem auch die zweite Einleitung angehört (K. 2, 6—16,31), rührt vonein em Verfasser her, beruht aber ebenfalls auf älteren Urkunden (darunter das jedenfalls sehr alte Siegeslied der Debora), welche die Geschichte einzelner Stämme und Stammeshelden darstellten. Auf Grund solcher Erzählungen hatte zunächst ein älterer Geschichtschreiber ein Richterbuch geschrieben, aus welchem die erste Einleitung (K. 1,1—2, 5) und der Schluß des heutigen Buches (K. 17—21) stammen. Erst aus der Zeit nach Josia (621) kann die zweite Einleitung, der Hauptteil unseres Richterbuches und das ganze Buch in seiner heutigen Gestalt herstammen, da der Ver­ fasser des heutigen Buches offenbar das Deuteronomium und das Buch Josua kennt. So hat denn das Buch der Richter wohl erst in der Zeit des Exils seine heutige Gestalt erhalten. Der Schluß des Buches bildet einen Übergang von der Richterzeit zur Königs­ zeit, in welcher nicht mehr galt, was hier von der Richterzeit gesagt wird, daß „jeder tat, was ihm recht deuchte" (Richter 21, 25). So hängt dies Buch mit den darauf folgenden Büchern Samuels zusammen. Daß auch in der Zeit des Abfalls von Gott und der Unterdrückung durch die Feinde das Volk Israel von Gott nicht verlassen und das Gottesreich nicht ganz unter­ drückt wurde — das will der Verfasser des Buches dem Leser zeigen. Wenn nun, wie man annimmt, dies Buch im Exil geschneben oder wenigstens erst vollendet worden ist, so wurde dasselbe als Trostbuch für die Exulanten geschrieben, und auch dieser Schriftsteller gehörte zu denjenigen Propheten, denen Gott im Exil im Herzen zurief: „Tröstet, tröstet mein Volk!" (Jes. 40, 1.) Und seine trostreiche Geschichtspredigt hat sich in der Rückkehr aus dem Exil als richtig erwiesen. c. In der griechischen, in der lateinischen und in der Lutherbibel steht hinter dem Buche der Richter als eine Art von Anhang zu demselben das B u ch R u t h, dessen Geschichte in der Richterzeit spielt. Dasselbe steht in der hebräischen Bibel zwar unter den „Schriften", dem letzten Teil der Bibel, gehört aber vielleicht seiner Entstehung nach noch in die vorexilische Zeit, wo das Judentum dem Heidentum noch nicht so feindselig gegenüberstand, wie nach dem Exil2). Das Haus Davids, an welches sich für die Juden so große Hoffnungen knüpften, wird in diesem Buche in seiner Vor­ geschichte vorgeführt; eine Moabitin Ruth, welche edler handelt als viele Kinder des Volkes Gottes gehandelt hätten, ist die Urgroßmutter des Königs David, und dadurch auch Jesu Christi geworden — eine Predigt von der Aufnahme auch der Heiden in das Reich Gottes. *) Dabei ist Samgar, der nur nebenbei (K. 3, 31 und 5, 6) erwähnt wird (oder Abimelech?), nicht mitgezählt. 2) Neuere Forscher weisen dasselbe aber der e xi l i s ch e n (König) oder der nachexilischen Zeit zu (z. B. Kautzsch). Hei brich. Heilige Geschichte. 3. Ausl.

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d. An das Buch der Richter, wenn auch nicht genau anschließend, knüpft das B u ch S a m u e l s an, erst später in zwei Bücher geteilt, indem es zunächst die Ge­ schichte von Samuel erzählt; Samuel ist aber der Begründer des Königtums im Volke Israel; so war es denn angemessen, daß in demselben Buche auch noch die Geschichte von Saul und von David dargestellt wurde. Daß der Verfasser des Buches nicht Samuel sein kann, versteht sich von selbst, da die Erzählung des Buches weit über seinen Tod hinausreicht. Vornehmlich aus zwei Quellenschriften schöpfend, außerdem auch aus den seit Davids Königtum geführten Reichsjahrbüchern, und wohl auch mündliche Überlieferungen benützend, haben zunächst zwei Schriftsteller die im Sa­ muelsbuche erzählte Geschichte behandelt, und auf diesen beiden Schriften beruht das heutige Samuelsbuch, welches wesentlich der Zeit vor Hiskia angehört (da der Gottes­ dienst an mehreren Opferstätten noch nicht für verboten gilt, wie das seit Hiskias und Josias Reformation der Fall war)1), aber seine heutige Gestalt einem deuteronomistischen und einem nachexilischen Redaktor verdankt. Das Buch ist eine Geschichts­ urkunde von hohem Werte; wenn auch öfters hier, wie in allen biblischen Geschichts­ büchern 2), die Quellen unvermittelt neben einander gestellt sind, so tut das seinem Werte keinen Eintrag. Da dies Buch die Einsetzung des Königtums berichtet8) und namentlich Davids Königtum ausführlich darstellt, so stellt es diejenige Periode in der Geschichte des Volkes Israel dar, in welcher das ATliche Gottesreich seinen Höhepunkt erreicht hat. Aber indem nun an David die messianische Hoffnung geknüpft ist, weist das Buch über diesen Höhepunkt der israelitischen Geschichte hinaus auf ein noch voll­ kommeneres Gottesreich der Zukunft, von welchem dann die Propheten genauer gepredigt haben, und welches durch Jesus Christus begründet worden ist. So ist auch dies Buch noch für den Christen von Bedeutung. e. Die Bücher der Könige, in welchen die Geschichte der Zeit von Salomo bis zum Untergange der beiden Reiche dargestellt ist, bildeten früher in der hebräischen Bibel — bis zum Jah^e 1518 — (wie die Bücher Samuels) nur e i n Buch, das Königsbuch; dasselbe zerfällt in drei Hauptteile, welche die Geschichte des Gottes­ reiches zuerst unter Salomo, alsdann bis zum Untergange Israels, endlich bis zum Untergange Judas darstellen. Das Buch will nicht die Königsgeschichte oder die poli­ tische Geschichte Israels darstellen, sondern vornehmlich die Geschichte des Gottes­ reiches. Daher wird der Tempelbau ausführlich behandelt, dann der Abfall von Gott zum Bilder- und Götzendienst und die Ausrottung des letzteren, sodann die Reformen Hiskias und Josias genauer dargestellt, und von jedem Könige wird sein Verhältnis zum Gesetz Gottes angegeben — bisweilen fast das einzige, was von einem Könige gesagt wird; das Buch ist eben eine Geschichte des Gottesreiches. Für die Geschichte der Könige gab es nun in beiden Reichen Reichsjahrbücher, welche ein besonderer Beamter zu führen hatte. Aus diesen Jahrbüchern hat, mit Benutzung auch anderer Quellen, ein späterer Schriftsteller das in der Chronik stets citierte „Buch der Könige Israels und Judas" zusammengestellt, und auf diesem Buche beruht sowohl unser Königsbuch als auch die Chronik; die letztere hat aber neben dem von ihr citierten „Buch der Könige" auch schon unser heutiges Königs­ buch benutzt4). Dasselbe ist aber offenbar im Exil verfaßt, und zwar vor dem 1.536, *) Vgl. Nr. 39 und 41. 2) Vgl. Nr. 1 A. 3) Daß die Einsetzung des Königstums ebenfalls nach zwei verschiedenen Quellen erzählt ist, ist unten dargelegt; vgl. Nr. 32. 4) Wie es zu begreifen ist, daß in diesem einen Buche von Salomo's Tod bis zum Untergange des Reiches Israel 260 Jahre (nach den Königen Juda's) und 241

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da sich über die Rückkehr gar keine Andeutung findet. Wenn in einzelnen Stellen Dinge als „bis auf diesen Tag" bestehend angeführt werden, welche im Exil nicht mehr vorhanden waren, so erklärt sich dies daraus, daß auch dieser Schriftsteller ältere Quellen buchstäblich aufnimmt, ohne sie nach dem Zusammenhange umzugestalten1). Der: Verfasser des Königsbuches unterscheidet sich deutlich von dem des Samuelbuches, ind) Die genauere Darstellung dieses Abschnittes ist oben gegeben, Nr. 25—29. s) Die folgenden Abschnitte, Nr. 52—56, eine weitere Ausführung des vorher­ gehenden Abschnittes, sind nur für den Lehrer bestimmt.

52. Moses' Bedeutung für die israelitische Religion.

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Patriarchen sehr von einander ab. Während der Jehovist den Namen Jehovah (der doch nach der Erzählung des Elohisten erst dem Moses geoffenbart worden ist, 2. Mose 6, 3), Opfer und Mar, den Unterschied der reinen und der unreinen Tiere, wie auch levitische Priester schon vor der Offenbarung am Sinai vorhanden sein läßt (womit er wohl die mosaische Religion als die Urreligion der Menschheit bezeichnen will), läßt dagegen der Verfasser der Priesterschrift von seinem mehr geschicht­ lichen Standpunkte aus die Religion der Patriarchen als einfacher erscheinen, als noch nicht der späteren Religion entsprechend. Aber auch aus dieser Quellen­ schrift allein kann ein geschichtliches Bild der vormosaischen Religion nicht ge­ wonnen werden, da die Erzählungen dieser Quellenschrift doch ebenfalls nicht als streng geschichtlich betrachtet werden können. Um nun eine wissenschaftlich begründete Erkenntnis der vormosaischen Religion zu gewinnen, haben die Forscher die Religion der anderen semitischen Völker unter­ sucht, und durch Vergleichung der verschiedenen semitischen Religionen suchen sie die Urreligion der Semiten zu erkennen. Derselben steht, wie man heute meint, die Religion der Araber vor Mohammed am nächsten, und vornehmlich nach dieser Religion wird heute von den Forschern ein Bild der Urreligion der Semiten entworfen. b. Auf der Urreligion der Semiten beruht nun allerdings die Religion der Stammväter des Volkes Israel; wie aber aus der semitischen Religion die hebräische geworden ist, das läßt sich nicht anders erklären, als es die Bibel tut, wenn sie Abraham, den Stammvater des Volkes, mit dem sich ihm offenbarenden Gotte einen Bund schließen läßt. Die Religion Israels beruht nämlich zwar auf der Religion der Semiten, aber zur Religion I s r a e l s ist sie geworden durch Gottes Offenbarung an Männer, welche für die Offenbarung Gottes empfänglich waren. Durch solche Männer ist das Volk Israel einerseits davor bewahrt worden, mit den andern Semiten dem Heidentum anheimzufallen, und andrerseits empor­ geführt worden zu einer höheren Stufe der Religion, welche zunächst das Eigentum einer Familie, dann eines Stammes wurde. Das uranfängliche nationale Selbstbewußtsein Israels zeigt nun neben der Gewißheit, daß das Volk durch Moses zur verfaßten Gemeinde des wahren Gottes geworden sei, immer zugleich die andere, daß die religiöse Würde der Väter, als der Repräsentanten einer deutlich davon zu unterscheidenden Vorzeit, der ausreichende Grund gewesen sei, weswegen gerade das Volk ihrer Nachkommenschaft und nicht ein a n d e r e s zur Gemeinde des wahren Gottes geworden sei. Die Gestalten der Patriarchen sind also nicht Phantasiebilder, beruhend auf den Naturvorgängen oder den Himmelserscheinungen (wie Zeus usw.), oder in Menschen verwandelte ursprüng­ liche Götter (wie z. B. Siegfried) oder Projektionen des Selbstbewußtseins des späteren Volkes Israel als des monotheistischen Volkes in den leeren Raum der Vorzeit, sondern als die geschichtlichen Begründer der von Moses zur Volksreligion gemachten Religion Israels anzusehen. Nur die Macht der geschichtlichen Überlieferung konnte die Ge­ schichtschreibung Israels bewegen, über Moses, den Begründer der Gemeinde des Monotheismus, zurückzuweisen auf die Stammväter des Volkes, als die ersten Be­ gründer des Monotheismus, und es entspricht aller geschichtlichen Erfahrung, wenn die Begründung der eigentümlichen Religion Israels auf einen bestimmten einzelnen Mann, auf Abraham, zurückgeführt wird. Wenn der Gott Israels als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs bezeichnet wird, so bezeichnet dagegen Abraham Gott niemals als den Gott seiner Väter, sondern als den Gott, der zu i h m geredet habe,

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und bekundet damit die Tatsache einer religiösen Differenz zwischen ihm und seinen Vätern, das Bewußtsein, daß seine Trennung von seinen Verwandten der Ursprung einer neuen Religion geworden sei. Diese Religion Abrahams, welche also wesentlich als das Erzeugnis der durch innere und äußere Erlebnisse bewirkten Umgestaltung der überkommenen Religion seiner Vorfahren anzusehen ist, ist natürlich nicht gänzlich verschieden von der Religion der andern Semiten und der nächsten Verwandten Abrahams, und sie zeigt auch den Einfluß der kanaanäischen Kreise, mit denen er und seine Nachkommen in Berührung gekommen sind (Beschneidung und Kindesopfer), aber sie ist doch wesent­ lich verschieden von der Religion sowohl dieser als aller anderen Völker, und auf dieser Verschiedenheit beruht ihre Bedeutung für die Weltgeschichte1). c. Die nach Ägypten wandernden Nachkommen Abrahams waren aber kaum im stände, den Glauben ihrer Stammväter festzuhalten, sondern neigten sich mehr und mehr dem Heidentum zu. Da beginnt nun mit der Erlösung aus Ägypten ein neues Stadium der Offenbarung im Volke Israel, in welchem es sich darum handelte, auf dem alten Grunde fortbauend, das ganze Volk auf Grund der von ihm erfahrenen Gottestaten zum gläubigen Anschluß an den einen, mächtigen und heili­ ge n G o t t emporzuheben, damit es freiwillig die Aufgabe übernehme, sein ganzes Leben nach dem Willen Gottes zu gestalten, oder, um mit dem A. T. zu sprechen, in den Bund mit Gott einzutreten. Damit nun aber das Bewußtsein der wunderbaren Taten Gottes und des mit Gott in dieser großen Zeit geschlossenen Bundes nicht all­ mählich immer schwächer und zuletzt ganz vergessen würde, mußte dasselbe in gewissen Einrichtungen und Ordnungen verkörpert werden. Solche Einrichtungen zu treffen, war die Sache des großen Propheten, der an der Spitze des Volkes stand. Aus Mose's Wort hin verpflichtete sich das Volk, das Eigentum des Gottes zu werden, dem es seine Erlösung aus Ägypten verdankte (damit wurde der Bund zwischen Gott und dem Volke geschlossen), und auf Grund der Bundschließung nach bestimmten, dem neuen Verhältnis zu Gott entsprechenden Ordnungen sein ganzes Leben zu gestalten. d2). Das Werk der Befreiung Israels aus Ägypten und seine religiöse Er­ neuerung führt nämlich die Überlieferung auf einen einzelnen Mann, auf Moses, zurück. Stehen wir damit auf geschichtlichem Boden oder hat die dichtende Sage diese Gestalt frei gebildet? Wenn die Ereignisse jener Zeit im allgemeinen geschichtlich feststehen, so fordern sie zu ihrem Verständnis eine Persönlichkeit ähnlicher Art, wie die Quellen sie uns in Moses vorführen. Das Volk Israel war in Ägypten nichts weniger als eine Nation; gerade eine solche mußte erst geschaffen werden; den unterdrückten und geknechteten Massen, die in Gefahr waren, das eigene Selbst zu verlieren, mußte erst der Geist der Zusammengehörigkeit und der Selbstbehauptung wieder eingehaucht werden. Aber ein solches Werk vollzieht sich nicht von selbst; es wird nur vollbracht, wenn als treibende Kraft eine die andern überragende, den Gedanken des Volkstums mit heiliger Begeisterung in ihnen zur Flamme entfachende Persönlichkeit hinter der großen Masse steht. Beim Auszuge aus Ägypten ist nun Israel ein Volk geworden; dazu hat es sich sicherlich nicht selber gemacht; dazu ist es von Moses gemacht worden. Sodann setzen die Ereignisse jener Zeit, der Auszug und die Kämpfe mit den Feinden, eine feste einheitliche Leitung voraus; der ungeordnete Volkshaufe, welcher *) Klostermann, Geschichte Israels, S. 28—36. 2) Kittel, Geschichte der Hebräer I, §24. Kittel, Die ATliche Wissenschaft (1910), S. 127 s.

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geknechtet in Ägypten lebte, bedurfte eines Führers, der im stände war, die Menge zu beherrschen und den Feinden entgegenzutreten, eines umsichtigen Führers und tüchtigen Feldherrn, wie ihn die Überlieferung in Moses an die Spitze des Volkes stellt. Endlich läßt sich auch die religiöse und sociale Neubildung im Volke Israel, wie sie dem Volke am Sinai zu teil geworden ist, nicht loslösen von einer historischen Persönlichkeit. Bahnbrechend neue Gebilde auf dem Gebiete der Religion und Sitte vollziehen sich nicht spontan aus den Tiefen des Volkslebens heraus; sie schlummern hier, aber sie steigen nicht auf, ohne daß ein von ihnen in seinem innersten Wesen erfaßter Geist sie in sich vorfindet, ergreift, erkennt und verkündet und so zum reli­ giösen und moralischen Heros, zum Propheten seines Volkes wird. Ms der Begründer der religiösen und socialen Erneuerung seines Volkes wird aber Moses von der Über­ lieferung bezeichnet, und so darf derselbe mit Recht als eine geschichtliche Person be­ trachtet werden. e1). Da heute als erwiesen angesehen werden darf, daß die israelitische Religion nicht anderswoher entlehntest, so bleibt nichts übrig, als daß der von Moses gepredigte Glaube im Innern der Seele des Moses selbst entstanden ist. Angeregt von außen her, teils abgestoßen, teils angezogen von einzelnen Ideen der ägyptischen und der semitischen Religion, mag er wohl in der Einsamkeit der Wüste das wahre Wesen Gottes gesucht und gefunden haben. Hier muß durch seine Seele ein Gedanke davon geblitzt sein, daß das Größte, was er seinem Volke geben könne, die Erkenntnis der Gottheit sei. Damit trat er für sein Volk (und für die Menschheit) in einen Kampf ein, wie er, seitdem die Welt steht, auf dem Gebiete des Geistes und der Gesittung gewaltiger nicht gekämpft worden ist. Die Naturreligion mit ihrer die Menschen knechtenden, ihre natürliche Freiheit wie ibre sittliche Würde verachtenden Tendenz mußte den Völkern mehr und mehr das Erbgut der Gesittung und Menschlichkeit rauben; Moses hat mit seiner Stiftung für sein Volk und die Welt den Weg zur Freiheit und Menschenwürde und zur Entfaltung reiner Menschlichkeit erkämpft. W i e aber in Mose's Seele jenes neue und erhabene Wissen von Gott entstand — das bleibt das Geheimnis seines großen Geistes; aus der Zeitgeschichte läßt sich eine geniale Neubildung, vollends auf religiösem Gebiete, nicht erklären. Der Historiker steht hier vor einem Geheimnis, für welches sich eine Lösung nur zeigt, wenn in diese Lücke unsers Wissens ein Faktor eingesetzt wird, dessen Recht streng historisch nicht mehr zu erweisen ist. Nur eine unmittelbare Be­ rührung Gottes selb st mit dem Menschen kann die wahre Gottes­ erkenntnis erzeugen oder den Menschen ihr näherbringen; denn in sich selbst findet der Mensch nur die Welt und sein eigenes Ich; aus beidem entsteht nur das H e i d e n t u m. Leuchtete aber in Moses der Gedanke auf, daß Gott weder die Welt noch das idealisierte Bild des Menschen sei, sondern daß er der Herr des Lebens und der Schöpfer der sittlichen Gebote sei: so hatte er dieses Wissen nicht aus seinerZeitund nichtaus sich selbst, sondern erhalte es aus unmittelbarer Offenbarung dieses Gottes in seinem Gemüte.

f. Das Gesetz von Hammurabi (vgl. Nr. 16 g) und das Gesetz Mosis: Kittel, Die ATliche Wissenschaft (1910), S. 20—32 und 202—205. ') Nach Kittel, Geschichte der Hebräer I, S. 226—228. Hei brich. Heilige Geschichte. 3. Ausl.

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53. Die Entstehung und Entwickelung des mosaischen Gesetzes.

g. Die kananäische und die israelitische Religion: Kittel, Die ATliche Wissenschaft (1910), S. 39—45 und 132—149 und Kittel, Geschichte des Volkes Israel, 2. Ausl., II, § 12?).

53. Die Entstehung und Entwickelung des mosaischen Gesetzes. a. Nach der Annahme des späteren israelitischen Volkes ist das ganze mosaische Gesetz auf einmal, und zwar schon bei der Begründung des Gottesstaates, durch Mosegegeben worden, und zwar der Dekalog auf dem Sinai (nach späterer Überlieferung sieben Wochen nach dem Auszuge — also am Pfingstfest), das übrige Gesetz teilweise noch am Sinai, teilweise auf der weiteren Wüstenwanderung, teilweise auch erst in der letzten großen Rede, welche Moses im Gefilde Moabs an das Volk gehalten hat. Der Gedanke an eine im Laufe der Jahrhunderte erfolgte Fortbildung und Um­ gestaltung des Gesetzes lag also den Israeliten fern; der geschichtliche Sachverhalt steht aber mit diesem Glauben nicht im Einklang; die heutige Wisienschaft fragt mit Recht danach, wie das Gesetz Mosis nach der Geschichte entstanden ist, und wie sich dasselbe weiter entwickelt hat. b. Nicht wenige Bestimmungen des mosaischen Gesetzes (z. B. die Beschneidung) beruhen auf Sitten und Satzungen der vormosaischen Zeit. Andere Gesetzes­ bestimmungen sind offenbar erst in der n a ch m o s a i s ch e n Zeit entstanden, da sie Einrichtungen (z. B. das Königtum) betreffen, welche in der mosaischen Zeit noch gar nicht vorhanden waren. Die spätere Entstehung mancher Gesetze ergibt sich auch daraus, daß über manche Gegenstände verschiedene, sich widersprechende Gesetze vorhanden sind, welche offenbar nicht in derselben Zeit, sondern nach einander entstanden sind und gegolten haben. Auch durch die Geschichte wird die Annahme bestätigt, daß das mosaische Gesetz nicht auf einmal entstanden ist. Zwar kennt auch schon die ä l t e r e Zeit ein Gesetz, aber noch viele Jahrhunderte nach Moses hat es offenbar kein Buch gegeben, welches als die Urkunde des durch Moses gegebenen Gesetzes anerkannt gewesen wäre. Das Gesetz Gottes war vornehmlich ein Gegenstand mündlicher Über­ lieferung, und infolge dessen konnte auch das Gesetz — zu seinem Vorteil — allmählich weiter entwickelt und unmerllich umgestaltet und dadurch lebendig erhalten werden; die spätere Zeit lebte in dem Glauben, daß sie das alte Gesetz unverändert vor sich habe, und biefet Glaube war nicht unberechtigt, da sich ja das s p ä t e r e Gesetz aus dem älteren normal entwickelt hatte. Aber die Wissenschaft ist nun natürlich auch berechtigt zu fragen, wie und wann sich diese Entwickelung vollzogen habe. c. Aus die Frage nach der Entstehung und Entwickelung des Gesetzes gibt nun die Wissenschaft heute die übereinstimmende Antwort, daß im Gesetz drei Teile zu unterscheiden seien, die Gesetzgebung des sogen. Bundesbuches (2. Mose 19,1—23, 19 oder 24, 11), die des Deuteronomiums (im 5. Buch Mosis) und die des Priester­ gesetzes (in den mittleren Büchern Mosis enthalten), und daß diese drei Gesetzgebungen verschiedenen Zeitaltern angehören. Übereinstimmung herrscht sodann auch noch darüber, daß als die älteste Gesetzgebung die des sogen. Bundesbuches anzusehen sei. Dagegen ist noch streitig, welche von den beiden anderen Gesetzgebungen die ältere sei, die des Deuteronomiums oder die des Priestergesetzes; während nämlich von der *) Über die Abschnitte f und g mag sich der Lehrer aus der angegebenen Litteratur orientieren, damit er auf etwaige Fragen des Schülers oder anderer Leute Antwort geben kann.

54. Die älteste Gesetzgebung des Volkes Israel.

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älteren Theologie (z. B. Riehm, Dillmann) das Priestergesetz als älter betrachtet wurde, wird in der neueren Zeit von vielen, ja, jetzt wohl von den meisten ATlichen Forschern (seit Vatke, Reuß, Wellhausen) das Deuteronomium für älter als das Priester­ gesetz angesehen. So viel steht jedenfalls fest, daß das Gesetz des Deuteronomiums eher zur öffentlichen Anerkennung gelangt ist (im Jahre 621), als das Priester­ gesetz (im Jahre 444). Über diese Streitfrage ist oben Genaueres gesagt worden *). So hat also das durch Moses gegebene Gesetz, als eine lebendige Macht sich weiterentwickelnd, von der einfachsten Form, im Bundesbuch, ausgehend, im Laufe der Jahrhunderte sich im Volke Israel weiterentwickelt — einerseits zu dem von prophetischem Geiste erfüllten Gesetz des Deuteronomiums, andrerseits zu dem von priesterlichem Geiste erfüllten Priestergesetz. d. Mit dieser Entwickelung des G e s e tz e s hängt es natürlich zusammen, daß auch die israelitische Frömmigkeit erst allmählich diejenige Gestalt gewonnen hat, in welcher sie uns nach dem Exil entgegentritt, wo ja erst das ganze Gesetz zur Herrschaft gekommen ist; in den früheren Zeiten hat die israelitische Frömmigkeit eine weniger entwickelte Gestalt gehabt. Man darf sich also nicht darüber wundern, daß die ältere Zeit in so vielen Punkten dem Priestergesetz nicht entsprochen hat; die ältere Zeit kannte ja zunächst nur das Bundesbuch, und erst seit der Zeit des Königs Josia auch das Deuteronomium; aber die Forderungen beider Gesetzgebungen gingen lange nicht so weit als die des Priestergesetzes. Wenn man nun auch annehmen darf, daß außer den aufgeschriebenen Satzungen noch manches andere Gebot bestanden hat und beobachtet worden ist, welches nur in der Überlieferung lebte, so hat doch jedenfalls die ältere Frömmigkeit eine andere Gestalt gehabt, als die der späteren Zeit. Ja selbst, als im Jahre 621 das Deuteronomium anerkannt worden war, und manche neue Forderungen ausgestellt und durchgesetzt wurden (namentlich die Einheit des gottesdienstlichen Ortes), sind doch bei weitem noch nicht alle Forde­ rungen des Briestergesetzes aufgestellt worden; erst durch das t i e ft e t» gesetz ist die eigentümlich-jüdische Frömmigkeit zur Entfaltung gekommen, wie sie uns nach dem Exil entgegentritt. e. Mit dem Priestergesetz, welches im oder nach dem Exil mit der ältesten Gesetzgebung und dem mit derselben bereits verbundenen Deuteronomium meinem Buche (dem Pentateuch) vereinigt worden ist, war für den Juden sein „Gesetz", wie es im Pentateuch enthalten ist, abgeschlossen — und doch nicht abgeschlossen, denn auch nach dem A b s ch l u ß des Gesetzes sind einerseits doch noch neue gesetzliche Einrichtun­ gen getroffen worden (z. B. das Purimfest und die anderen späteren Feste), teils haben die Schriftgelehrten durch ihre Auslegung des vorhandenen Gesetzes neue Forderungen aufgestellt, welche kaum noch als im Gesetz selbst begründet angesehen werden können.

54. Die älteste Gesetzgebung des Bottes Israel. a. Ms die älteste Gesetzgebung betrachtet man heute allgemein die des nach 2. Mose 24, 45 benannten „Bundesbuchs" (2. Mose 19,1—23,19 oder 24,11), welches vornehmlich den Dekalog (2. Mose 20) und in einem zweiten Abschnitt (2. Mose 20, 22—23, 19) sogen. „Rechte" d. h. einzelne gesetzliche Bestimmungen für Gottesdienst und Leben enthält. *) Vgl. Nr. 4.

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54. Die älteste Gesetzgebung des Volkes Israel.

Diese Gesetzgebung gehört, wie man heute allgemein annimmt, der ä l t e st e n Quellenschrift des Pentateuchs an, dem aus dem Jehovisten und dem (älteren) Elohisten entstandenen Geschichtswerke (JE), und zwar gehört diese Gesetzsammlung dem Elohisten cm1). Daß dieselbe in unserer Überlieferung nicht in der ältesten Form vorliegt, wird alsbald gezeigt werden; aber daß sie jedenfalls viel älter ist, als das Geschichtswerk, in welchem sie enthalten ist, kann nicht bezweifelt werden. b. Der Erzähler von 2. Mose 24, 45 muß eine Überlieferung gekannt haben, daß Moses selbst ein „Buch des Bundesgesetzes" geschrieben habe. Es ist nun heute allgemein anerkannt, daß unter dem von Moses geschriebenen Buche nicht der ganze Pentateuch, ja, nicht einmal auch nur die eigentliche Gesetzgebung desselben gemeint sein kann, daß das Gesetz des Deuteronomiums und das Priestergesetz mindestens in der F o r m, in welcher uns beide vorliegen, aber gewiß auch nicht nach ihrem ganzen Inhalt, nicht von Moses selber herstammen. Dagegen wird allgemein anerkannt, daß unter dem dem Moses zugeschriebenen „Bundesbuche" ein Abschnitt des 2. Buches Mose gemeint sei, nämlich 2. Mose 19, 1—23, 19 oder 24, 11 *). Dieser Abschnitt zerfällt aber nach K. 23, 3 in zwei Teile: „Die Worte Jehovahs" (— Zehngebot) und „die Rechte". Der Dekalog stammt nach der (allerdings jetzt vielfach bezweifelten) Überliefemng von Moses her3); die Zusätze bei den Geboten, welche in den beiden Überlieferungen (2. Mose 20 und 5. Mose 5) von einander ab­ weichen, werden allerdings auf den Steintafeln nicht gestanden haben, wofür die abweichende Form dieser Zusätze in den beiden Überlieferungen spricht, wie auch der Umstand, daß einzelne Zusätze bereits den Aufenthalt im heiligen Lande voraussetzen (der Fremdling in deinen Toren). Im Text der Gebote selber ist nur die Ab­ weichung in der Ordnung des letzten Gebotes beim Deuteronomiker beachtenswert, welcher, das Gesetz Moses* seiner Zeit anpassend, das „Weib" dem „Hause" voran­ stellt; bei ihm wird also das Weib nicht mehr zum Eigentum gerechnet, sondern hat bereits eine höhere Stellung gewonnen. 'Die Form des Zehngebots im Exodus ist also älter, als die im Deuteronomium. Über den I n h a l t des Dekalogs wird unten genauer gesprochen werden4). Der zweite Teil des Bundesbuchs (2. Mose 20, 22—23, 19 oder 24,11) umfaßt die sogen. „Rechte" und gehört ebenfalls unzweifelhaft zu den ältesten Gesetzsamm­ lungen des Pentateuchs. Das zeigt sich namentlich in der hier offenbar gestatteten M e h r h e i t von Opferstätten (20, 24 s), während das spätere Gesetz die E i n h e i t derselben fordert. In seiner jetzigen Form rührt dieser zweite Teil des Bundes­ buchs, wie eine genauere Betrachtung zeigt, ebenfalls nicht von Moses her, sondern das ursprüngliche mosaische Rechtsbuch ist ebenfalls in späterer Zeit frei be­ arbeitet worden. c. Es ist also fraglich, wieviel von dem Wortlaute dieses von Moses selbst verfaßten Bundesbuches in unserer Überliefemng erhalten geblieben ist; daß aber dem Erzähler für das Bundesbuch jedenfalls eine schriftliche Vorlage zur Verfügung stand, und daß die uns heute vorliegende Form des Bundesbuchs — abgesehen von einzelnen Spuren späterer Überarbeitung — erheblich über die Zeit des Königtums hinaufreichen kann, läßt sich nicht verkennen. Nur d i e Frage läßt sich erheben, ob das Bundesbuch den Wüstenaufenthalt oder die Ansässigkeit im Lande Kanaan voraussetzt. 0 Vgl. Nr. 27. 2) Die Meinungen über die Abgrenzung dieses Abschnittes gehen auseinander. 3) Gegen Wellhausen. 4) Vgl. Nr. 61.

54. Die älteste Gesetzgebung des Volkes Israel.

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Da nun in der Darstellung des Bundesbuchs die Ansässigkeit in Kanaan nicht als eine Tatsache der Zukunft sondern als bereits vorhanden angenommen wird, so muß als Zeit der Abfassung die Zeit der Ansässigkeit in Kanaan angenommen werden. „Jeden­ falls dürfte also das Bundesbuch in der uns vorliegenden Gestalt nicht von Moses herrühren; aber wahrscheinlich liegen demselben die von Moses festgestellten Rechtsordnungen zu Grunde, haben aber später eine Umarbeitung erfahren; für dieselbe aber bis zur K ö n i g s z e i t herabzugehen (W ellh aus en), liegt kein Grund vor" *). „Bei der regen Berührung zwischen Kanaan und Babylonien muß als unleugbare Tatsache angenommen werden, daß der bekannte Kodex Hammurabi (vgl. Nr. 16 g), wenn nicht seinem Wortlaut nach, so doch seinem Hauptinhalte nach, im alten Kanaan bekannt war. Bei der vielfachen Berührung des Bundesbuches mit dem Hammurabi-Gesetz folgt daraus, daß das Bundesbuch eine gewisse Kenntnis des Hammurabi-Gesetzes voraussetzt. Da nun das Bundesbuch eine Anzahl von Be­ stimmungen besitzt, die sich nur aus einer sehr stützen Periode des israelitischen Lebens verstehen lassen, so wird man wohl anzunehmen haben, daß das Bundesbuch nach kürzerem oder längerem Wohnen im Lande Kanaan hergestellt wurde, sobald sich das Bedürfnis, ein eigenes Recht zu haben, für Israel herausstellte. Dies Bedürfnis aber wird, da die Kanaaniter jedenfalls ihr Recht hatten, früh erwacht sein. Das Bundesbuch macht den Eindruck, als sei es entstanden, indem das Recht eines bestimm­ ten Gaues und seines Heiligtums übernommen und nach den Anregungen Moses' für die Jahveh-Religion zurechtgemacht worden sei" *). d. Der Dekalog. Vgl. Nr. 61 a. e3). Selbst wenn nun die Gesetzsammlung des Bundesbuchs erst einer späteren Zeit entstammen sollte, so sind wir durch dieselbe dennoch in den Stand gesetzt, einen Einblick in die ä l t e st e n israelitischen Rechtsverhältnisse zu gewinnen. Der soziale Zustand, welcher in demselben geregelt wird, ist ein solcher, wie wir ihn auf Grund der historischen Berichte für das alte Israel voraussetzen müssen. Das Nomadenvolk ist bereits großenteils zum Ackerbau übergegangen, aber Viehzucht und Viehbesitz bleiben ein Hauptbestandteil der Volkswohlfahrt. Der Zustand dieser Gesellschaft ist sehr primitiv, der Begriff „Kapital" ist völlig unbekannt, darum auch das Zinsnehmen verboten (2. Mose 22, 24), und sowohl was die Rechtsgrundsätze angeht, als auch was die Ausführung der Strafen betrifft, steht diese Gesellschaft noch auf dem Stand­ punkte der Wüstenbewohner. Die Bestimmungen über den Kultus sind nicht zahl­ reich und sehr einfach. Von den Festen sind nur der Sabbath, die drei großen Feste und das Sabbathjahr genannt; die E i n h e i t des gottesdienstlichen Ortes wird nicht gefordert; auch der Laie darf opfern; die Priester stammen (aber nur vorwiegend, nicht ausschließlich) aus dem Stamme Levi; die spätere Unterscheidung von Priestern und Leviten ist noch nicht vorhanden. Aber wenn nun auch der Zustand der Gesellschaft, welchen diese Gesetzgebung regelt, noch auf einer niedrigen Entwickelungsstufe steht, so muß man dagegen vor dem G e i st e, der den Gesetzgeber beseelt, die höchste Ehrerbietung haben. In ernsten Fällen will er strenges Recht, aber Billigkeit in der Strafe oder Schaden­ ersatz in Sachen von geringerer Bedeutung. Für die Witwen und Waisen, für Frauen und Mädchen, für Arme und Fremdlinge, ja für Sklaven und Sllavinnen, kurz für r) Vgl. Wildeboer, Einl. (1895) §7, 3. 2) Kittel, Gesch. des Volkes Israel, 2. Aufl., II, S. 107—109 und Kittel, Wiche Wissenschaft (1910), S. 20—32. ») Wildeboer, Einl. §7.

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die Rechtlosen in der alten Gesellschaft ergreift er Partei und erinnert daran, daß hinter dem Gesetze Jehovah, der gerechte Richter, steht, der sich nicht verspotten lasse. f. Wenn nun auch diese Gesetzgebung nicht eine vollkommene, für alle Zeiten gültige genannt werden kann, so muß man doch anerkennen, daß dieselbe hohen ethi­ schen Principien, wie sie im Zehngebot ihren Ausdruck gefunden haben, im praktischen Leben Achtung zu verschaffen gesucht hat. In der auf das Bundesbuch folgenden zweiten Gesetzgebung, der des Deuteronomiums, sehen wir deutlich die fort­ dauernde (und das Volk tiefer umfassende und durchdringende) Wirksamkeit des Geistes Gottes, und so sehen wir in der Geschichte Israels die Werkstätte der Vor­ bereitung für die volle Offenbarung der göttlichen Liebe in Jesus Christus.

55. Die Gesetzgebung des Deuteronomiums *). a. Der Dekalog und das Bundesbuch waren im Volke Israel schon seit alter Zeit vorhanden, und sie wurden auch beobachtet; aber trotzdem war allmählich in den Glauben und den Gottesdienst des Volkes so viel vom Heidentum der alten Kanaaniter und der benachbarten heidnischen Völker eingedrungen, daß eine Reformation dringend erforderlich war. Ein Programm zu einer solchen hatte, wie man annimmt, ein uns unbekannter Prophet vor dem König Josia entworfen und im Tempel deponiert in der Hoffnung, daß seine Mahnung in einer besseren Zeit beachtet werden würde. Eine solche bessere Zeit kam unter dem König Josia. Als im 16. Jahre dieses Königs (621) dies Buch zufällig gefunden2) und dem Könige überbracht wurde, da machte dasselbe auf ihn einen solchen Eindruck, daß er beschloß, nach der Anweisung desselben den Gottesdienst zu reformieren. Sein Vorhaben führte er aus, und seitdem galt im Volke Israel nicht mehr bloß das Bundesbuch, sondern auch das Deuterono­ mium als ein von Moses dem Volke Israel gegebenes Gesetz. b. Dasjenige Gesetz nämlich, welches der Reformation des Königs Josia im I. 621 zu Grunde gelegt wurde, ist, wie man heute allgemein annimmt, das Deute­ ronomium — abgesehen von dem wenig umfangreichen Bundesbuche die erste um­ fassende Aufzeichnung des an Moses' Namen geknüpften Gesetzes. Wenn man früher glaubte, daß das von Moses selber 800 Jahre vorher aufgezeichnete Gesetz (das ganze Gesetz, wie es im Pentateuch enthalten ist), welches durch unglückliche Zufälle als verloren galt, jetzt wieder in einem der Vernichtung entgangenen Exemplare zum Vorschein gekommen sei, so darf diese Meinung heute als aufgegeben betrachtet werben; das gefundene Buch war ja für den König und das ganze Volk ein n e u e s Buch, das noch niemals jemand gesehen hatte, und welches wohl erst kurze Zeit vorher entstarden war. Der Verfasser des Buches*8) *legt * die Satzungen und Rechte, welche nach seiner Ansicht im Volke Israel gelten sollen, dem sein Volk verlassenden Moses in den Mrnd, welcher noch einmal seine Stimme erhebt, um mit der ganzen Wärme und Innigkeit eines scheidenden Lehrers dem Volke seine Bundespflichten vorzuhalten und es zu treuem Festhalten an seinem Gott zu ermahnen. Daß diese Darstellung aber nur nne *) Vgl. Kittel, Die Wiche Wissenschaft (1910), S. 61—65und Kittel, Gesch. des Volkes Israel, 2. Ausl., II* § 54. 2) Aber nicht von dem Finder ge­ macht: Kittel (ATliche Wissenschaft, 1910, S. 62 — gegen Kautzsch8). 8) Aber uns er 5. Buch Mosis ist eine Bearbeitung des gefundenen ursprüng­ lichen Buches.

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schriftstellerische Form ist, daß das Buch dem Moses nur in den Mund gelegt ist, ist heute allgemein zugestanden. c. Das Deuteronomium ist nämlich von den andern Büchern des Pentateuchs überhaupt, wie auch seine Gesetzgebung von der der andern Bücher, namentlich von der des Priestergesetzes, wesentlich betfd)ieben*). Die eigentliche Gesetzgebung dieses Buches, welche in K. 5—26 enthalten ist, ist (im Gegensatz zu der sür die P r i e st e r bestimmten der mittleren Bücher) be­ rechnet sür ein Volk, welches längst im Lande Kanaan seßhaft ist. Das ergibt sich namentlich aus dem hier vorhandenen Königsgesetz (17, 14—20), welches erst nach der Entstehung des Königtums gegeben sein kann. Ja, der Verfasser blickt schon auf eine Zeit hin, wo das Königtum durch Üppigkeit und Habsucht verweltlicht war. Was das Geschichtsbuch (1. Kön. 10, 23—29) rühmend von Salomo erzählt, wird hier dem Könige verboten: viele Pferde zu halten, viel Silber und Gold aufzuhäufen und viele Weiber zu nehmen. Diese Dinge erscheinen dem Gesetz­ geber nicht als ein Gnadengeschenk Gottes, wie dem Geschichtschreiber (1. Kön. 10, 23. 3,13), sondern als eine tadelnswerte Üppigkeit. Ja, es wird sogar schon dem Könige angedroht, daß er mit seinem Volke ins Exil geführt werden solle (5. Mose 28, 36). Auch andere Dinge lassen auf ein späteres Zeitalter dieses Buches schließen. Darauf weist aber namentlich die mit der prophetischen Predigt übereinstimmende Verinnerlichung der Gesetzesforderungen hin; die äußere Beschneidung soll zur inneren werden; Gott soll man von Herzen dienen; die Liebe Gottes und die Liebe zum Nächsten werden immer aufs neue für die Hauptsache erklärt. Auch die Sprache des Buches führt auf eine spätere Zeit. Der Verfasser dieses Buches kennt die frühere Gesetzgebung und auch schon prophetische Schriften. Er selber ist ein Prophet, der eine Reformation in Israel herbeiführen will, wie sie Josia herbeigeführt hat. Er selber hat übrigens in seiner Gesetzespredigt sein Werk nicht dem Moses zugeschrieben, aber wohl geschieht das in den Anfangs- (K. 1,1—4, 43) und in den Schluß-Kapiteln (K. 27 und 29—34), welche ein anderer Verfasser (der Deuteronomist) geschrieben oder wenigstens ein Redaktor überarbeitet hat. Diese Berufung auf Moses, als Urheber auch dieses Gesetzes, darf als berechtigt gelten, da das Deuteronomium ja nur die Gesetzgebung Mosis erneuern und streng durchführen wollte; aber daß dasselbe nicht buchstäblich von Moses her­ stammen kann, das zeigen schon K. 33, 4: „Moses hat u n s das Gesetz geboten," und K. 1, 5, dessen Schreiber sich im Westjordanlande befindet: „Jenseits des Jor­ dans, im Lande Moab, unternahm es Moses..." So hat denn wohl ein Prophet, welcher nicht lange vor Josia gelebt bat, dieses Gesetzbuch geschrieben und dasselbe im Tempel niedergelegt, wo es dann zu Josias Zeit gefunden wurde. d. Unter den in diesem Buche ausgestellten Gesetzen befinden sich nun ohne Zweifel manche, welche von ihm zum erstenmal aufgestellt worden sind (Einheit des gottesdienstlichen Ortes); aber auch mit diesen neuen Forderungen glaubt der Urheber dieses Gesetzes nicht Neues zu fordern, sondern nur alte Forderungen aus­ zubauen. Andere Forderungen sind zwar in diesem Gesetzbuch zuerst aufgezeichn e t worden, waren aber schon vorher aus älteren Gesetzen entwickelt worden. Endlich aber sind im Deuteronomium auch ältere Gesetze enthalten, welche jchon vorher auf*) So König (Einl. §47sin.) mit Wellhausen gegen Dillmann im Kommentar zum Pentateuch Bd. III, S. 605 s.

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gezeichnet worden waren; namentlich ist die Gesetzgebung des Bundesbuchs dem Verfasser des Deuteronomiums offenbar bekannt und von ihm als Muster und als Quelle benutzt worden. e. Wenn die Predigt der Propheten in Übereinstimmung mit dem Dekalog stets gelautet hatte „Gerechtigkeit, nicht Opfer," so ist zwar diese prophetische Predigt auch dem Deuteronomium eigen; aber wenn die Gerechtigkeit im Volke Wurzel schlagen sollte, so schien es doch nötig, einen Kultus zu fordern, welcher das Volk zur Gerechtigkeit führen sollte und konnte. Daher wurde auch in dieser von einem Propheten verfaßten Gesetzgebung ein Kultus gefordert, aber allerdings eine Reformation des bestehenden Kultus für nötig gehalten. Die hauptsächlichste Forderung des neuen Gesetzes, durch welche der bestehende Kultus wesentlich umgestaltet wurde, war die, daß es fortan im ganzen Reiche Juda für den einen Gott auch nur ein einziges Heiligtum geben sollte, nämlich den Tempel zu Jerusalem. Nach der älteren Gesetzgebung war es gestattet, Gott an jedem Orte anzubeten, und so gab es seit alter Zeit überall Märe Gottes, namentlich auf den Höhen, als den natürlichen Mären. Aber der zunächst unverfängliche Höhen­ dienst war allmählich mit so vielen heidnischen Bräuchen verbunden worden, daß er vom Götzendienst kaum noch zu unterscheiden war. Dem gegenüber konnte nur e i n s helfen: die Beseitigung der Höhen und die Concentration des Gottesdienstes auf den Tempel zu Jemsalem. Beides ist von Josia unternommen und allmählich durchgesetzt worden. Daß mit dieser Coneentrierung des Gottesdienstes auch manches andere ältere Gesetz geändert werden mußte, versteht sich von selbst. Die bisherigen Höhen­ priester sollten anderweitig versorgt werden, so daß nunmehr für den einen Tempel auch nur e i n Priesterstand vorhanden war. Jedes Opfer sollte fortan nur in Jemsa­ lem dargebracht werden; daher wurde fortan die Schlachtung im Hause, ohne daß man zugleich, wie bisher, ein Opfer darbrachte, freigegeben. Ebenso sind, der weiter fortgeschrittenen Kultur des Volkes entsprechend, die sittlichen Fordemngen und die staatlichen Gesetze erweitert und umgestaltet wordenx). f. Durch dieses Gesetzbuch wurde fortan die Religion Israels vornehmlich bestimmt, und durch die Befolgung dieses Gesetzes ist das Judentum vor dem Unter­ gänge bewahrt worden. Die im Jahre 722 nach dem Exil weggeführten Israeliten sind dort verschollen und im Heidentum untergegangen; die Exulanten des Jahres 586 haben unter den Heiden ihre Nationalität und ihre Religion behauptet; das verdankten sie dem erst nach dem Jahre 722 und nur im Reiche Juda durch den König Josia im Jahre 621 zur Herrschaft gebrachten Gesetz und der durch dasselbe begründeten Sitte und Frömmigkeit. g. Aber nicht bloß für die Religion, sondern auch für die Litteratur des jüdischen Volkes hat das Deuteronomium eine große Bedeutung gewonnen. Wenn es vor demselben nur Geschichtsbücher gab, welche die ältere Geschichte Israels erzählten (Jehovist und Elohist), in denen allerdings auch das Bundesbuch Platz gefunden hatte, so wurden nunmehr diese beiden Geschichtsbücher (zunächst mit einander, dann auch) mit dem Deuteronomium zu einem Ganzen verbunden, welches für das Volk Israel der Anfang seiner heiligen Schrift wurde. Aber dabei wurden nun die älteren Erzäh­ lungen nicht bloß zusammengestellt, sondern auch zum Teil im Geiste des Deuterono­ miums umgestaltet, so daß man den Geist dieses Buches auch in anderen Teilen des *) Eine ausführliche Darstellung dieser neuen Gesetzgebung findet der Lehrer bei W i l d e b o e r, Die Litteratur des A. T. (1895) § 11, 3.

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Hexateuchs wahrnehmen kann. Wenn aber im Hexateuch auch noch eine andere Überarbeitung der alten Geschichten (im Geiste der Priesterschrift) wahrzunehmen ist, so sind dagegen die Bücher der Richter, Samuel's und der Könige fast aus­ schließlich im Geiste des Deuteronomiums gehalten oder überarbeitet1). Daß nun die historischen Bücher im Sinne des Deuteronomiums umgestaltet oder alsbald geschrieben wurden, ist gar wohl zu begreifen. Da die Geschichtsbücher des Volkes Israel nicht wissenschaftlichen Zwecken dienten, sondern dazu geschrieben wurden, um das Volk in der Frömmigkeit zu fördern, so wurde in denselben nach dem Maßstabe des Deuteronomiums die Vergangenheit des Volkes beurteilt. Nach diesem Gesetz mußte aber des Volkes Tun verurteilt, mußte sein Untergang als eine Folge seiner Sünde dargestellt werden, durfte ihm eine Hoffnung auf eine bessere Zukunft nur dann in Aussicht gestellt werden, wenn es das Gesetz Gottes halte. Inwieweit diese Geschichtsbetrachtung berechtigt ist, ist anderwärts gezeigt worden2).

56. Das Priestergesetz. a3). Wenn man nun das Gesetz des Bundesbuchs und das des Deuterono­ miums aus dem Pentateuch ausscheidet, so bleibt noch eine Gesetzgebung übrig, welche sich nach Inhalt und Ausdruck deutlich von den anderen Gesetzgebungen des Pentateuchs sondert, das Priestergesetz. Dasselbe ist enthalten in der sog. Priesterschrift, über deren Umfang gegenüber den andern Quellen des Pentateuchs unter den Gelehrten eine fast vollständige Übereinstimmung herrscht. Diese Gesetz­ gebung umfaßt 2. Mose 12, K. 25—31, K. 35—40, sodann 3. Mose ganz und die meisten Gesetze im 4. Buch. Der Name „ P r i e st e r s ch r i f t" ist durchaus treffend, da vornehmlich in d i e s e r Schrift das Ceremonialgesetz enthalten ist, und da auch die in ihr enthaltene Geschichte wesentlich vom priesterlichen Standpunkte aus dar­ gestellt ist. b. Wenn man nun in der älteren Zeit die Priesterschrift, mit welcher ja die Bibel beginnt (erste Schöpfungsgeschichte) und welche den Rahmen für die ganze Geschichtserzählung des Pentateuchs bildet, für die älteste Quellenschrift des Pentateuchs erklärte, so hat sich in der neueren Zeit das Urteil so sehr geändert, daß fast alle ATlichen Forscher, auch wenn sie sonst von Wellhausen abweichen, diese Schrift, namentlich auch die in ihr enthaltene Gesetzgebung, für den j ü n g st e n Teil des Pentateuchs halten. Nach Batke, Graf, Wellhausen usw. ist nämlich diese Schrift nicht, wie man früher annahm, die ä l t e st e Quellenschrift des Pentateuchs, sondern die j ü n g st e, und ihr Ursprung datiert in ihren ersten An­ fängen aus der exilischen, in der Hauptsache aber aus der nachexilischen Zeit; Esra hat diese früher nicht vorhandene, sondern eben erst entstandene Schrift aus Babylonien mitgebracht und zur Gmndlage seiner Reformation gemacht, durch welche erst die eigentümliche, angeblich schon in der mosaischen Zeit vorhandene Frömmigkeit be­ gründet worden ist. Wenn diese sogen. Wellhausensche Hypothese zuerst gar keinen Beifall gefunden hat, so ist dieselbe heute fast allgemein anerkannt. Trotzdem unterliegt dieselbe viel­ fachen Bedenken, welche ihr von anderen Forschern gegenübergestellt worden sind. x) Dagegen repräsentieren die Bücher der Chronik, Esra und Nehemia die vom Geiste des Priestergesetzes durchdrungene Geschichtschreibung. *) Vgl. oben Nr. 1 und Nr. 30. 3) Vgl. Kittel, Geschichte der Hebr. I, § 9 s.

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56. Das Priestergesetz.

Über diese Streitfrage der heutigen ATlichen Wissenschaft ist oben genauer gehandelt tooTben*); hier soll nur das, was für die folgende Darstellung erforderlich ist, dar­ gelegt werden. c. Wenn in der alten Zeit allerdings als geschriebenes Gesetz zuerst nur das Bundesbuch und dann das des Deuteronomiums vorhanden gewesen sind (wie Wellhausen mit Recht annimmt), nicht auch das Priestergesetz (wie die Theo­ logen der älteren Zeit glaubten), und wenn die Priester ihre Funktionen gewiß nicht aus einem Gesetzbuch, sondern durch Überlieferung erlernten, die sich um so leichter vererbte, als sie ja in der Regel vom Vater auf den Sohn überging, so ist damit doch nicht ausgeschlossen, daß nicht allmählich im Kreise der Priesterschaft einzelne Auf­ zeichnungen über bestimmte Gesetzesgruppen entstanden, welche, auf dem Grunde der alten Überlieferung ruhend, doch naturgemäß dieselbe nicht in ihrer ursprüng­ lichen, sondern in der im Laufe der Zeit modificierten Gestalt darboten. Eine solche besondere Gesetzesgruppe ist vielleicht das sogen. Heiligkeitsgesetz (3. Mose 17—26), welches den Israeliten zeigt, wie durch die Forderung, daß sie heilig sein sollen, wie Jehovah, ihr Tun gestaltet werden müsse. Auf Grund solcher einzelnen Aufzeich­ nungen ist, wie man glaubt, allmählich eine umfassende schriftliche Darstellung des Priestergesetzes entstanden, deren Abschluß zwar nicht erst nach dem Exil erfolgt ist (wie Wellhausen behauptet), aber doch erst nach dem Deuteronomium, kurz vor oder während des babylonischen Exils 2). „Ein dunkles Bewußtsein von dem Zeugnis der Geschichte, daß das Priestergesetz in der Zeit von Josua bis zum Exil nicht bekannt gewesen und nicht beobachtet worden ist, hat sich in der phantastischen Überlieferung erhalten, das Gesetz Mosis sei verloren gewesen und von Esra wiederhergestellt worden: in Wahrheit hat das Priestergesetz in der älteren Zeit nicht bestanden, sondern erst kurz vor Esra ist es entstanden, und erst durch Esra ist es zur Anerkennung gebracht worden" 8). d. Daß nun diese Gesetzgebung, obwohl sie doch nicht buchstäblich von Moses her­ stammt, dennoch im Pentateuch dem Moses zugeschrieben wird, ist nicht als eine unberechtigte Behauptung anzusehen. Auch die gottesdienstliche Gesetzgebung wurde im Volke Israel — und gewiß mit Recht — in ihrer Grundlage auf Moses zurück­ geführt; daß aber eine Weiterentwickelung derselben ausgeschlossen gewesen wäre, oder daß dieselbe vom Schriftsteller als solche hätte bezeichnet werden müssen — das ist eine unberechtigte Forderung, welche das Wesen der biblischen wie aller alten Ge­ schichtschreibung verkennt; dieselbe bezweckt nicht, wie schon oben dargelegt ist, eine wissenschaftliche Belehrung (die sie ja auch gar nicht hätte geben können), sondern eine „Unterweisung zur Gottseligkeit", auch hier, wo sie von den äußerlichen Forde­ rungen des Gottesdienstes handelt. e*4). Welches ist nun der Inhalt dieser Gesetzgebung? Um seiner Sünde willen war das Volk Israel dem Untergange anheimgefallen; das Volk war politisch vernichtet, aber dasheilige Land und derheilige Gottesberg, auf welchem der Tempel gestanden hatte, waren nicht vernichtet; da erwachte nun die Hoffnung auf eine Wiederherstellung des Volkes in seinem Lande und auf eine Wiederherstellung des Kultus aus seinem heiligen Berge. x) Vgl. Nr. 4. 2)* König: im Exil, Kittel: e. 900—600; Dillmann: c. 800. 8) Vgl. Nr. 14A, Id; Smith-Rothstein, Das Alte Testament (1894), S. 259. 4) Vgl. Smend, AMche Religionsgeschichte (1893), § 19; Kautzsch, Abriß der ATlichen Litteraturgesch. S. 178 s.

56. Das Priestergesetz.

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Wenn nun trotz der Rückkehr des Volkes in das heilige Land ein nationaler Staat nicht hergestellt wurde, da das jüdische Volk den fremden Herrschern politisch unter­ tan blieb, so wurde dagegen der K u l t u s Jehovahs wiederhergestellt, und so wurde die Wiederherstellung des K u l t u s die Hauptfrage der zurückkehrenden Exulanten. Der Kultus der nachexilischen Gemeinde wurde aber hauptsächlich eine Anstalt zur Sühne der Sünde, von welcher man sich seit dem Exil viel mehr als früher bedrückt fühlte; daher die vielen Opfer, die vom Priestergesetz gefordert und von den Juden mit großem Eifer dargebracht wurden. Aber noch wichtiger als d e r G o t t e s d i e n st ist für das Leben die c e r e moniale Sitte, und hier machte nun das Priestergesetz das alltägliche Leben des Juden zu einer unablässigen Übung im Gehorsam gegen den Willen Gottes. Auf Schritt und Tritt hat der Jude Ceremonialgebote zu erfüllen; ja, im fremden Lande, wo die Teilnahme am Kultus von Jerusalem unmöglich war, unterschied sich der Jude vom Heiden vornehmlich durch die ceremoniale Sitte. Unter den Ceremonialgesetzen spielen aber die größte Rolle das Sabbathgebot und die Beschneidung, welche in der späteren Zeit als die Hauptkennzeichen des Judentums angesehen wurden. Das ganze Priestergesetz zielte also vornehmlich darauf hin, daß das jüdische Volk ein heiliges Volk werde; das ist es geworden durch strenge Absonderung von den Heiden und durch strenge Beobachtung der vielen Gesetze, welche ihm eine — freilich zunächst äußerliche — Heiligkeit sicherten. Heilig aber wird das Volk, in­ dem es Jehovah als den Herrn alles Raums, aller Zeit, alles Besitzes und alles Lebens anerkennt. Da dies aber unmöglich ist, so begnügt sich Jehovah damit, daß ein T e i l des Raumes und der Zeit, des Besitzes und des Lebens ihm zugewiesen wird. So ist denn, obwohl alles Land Jebovahs Eigentum ist, doch e i n O r t sein be­ sonderes Eigentum, die Stiftshütte mit der Bundeslade. Obwohl alle Zeit Gott heilig ist, so sind ihm doch besonders geweiht der Sabbath und die Feste. Obwohl aller Besitz Gottes Eigentum ist, so sind doch besonders ihm und seinen Stellvertretern, den Priestern, die Opfer und andere Gaben geheiligt. Obwohl alle Personen Jehovah angehören, so werden doch als sein besonderes Eigen­ tum angesehen die Erstgeborenen, die Leviten und die Priester. So war das ganze Leben des jüdischen Volkes getragen von dem Gedanken, daß es Gott geweiht sei, daß das Volk ein h e i l i g e s Volk sei. f1). Wenn nun in der Tat, wie man gesagt hat, der Kultus das Interesse des priesterlichen Gesetzgebers so sehr in Anspruch nimmt, daß bei ihm die sittlichen Gebote hinter den ceremoniellen zurücktreten, so ist es doch zu viel gesagt, „daß ihm die Rein­ heit der Schüsseln mehr gegolten habe als die des Herzens"2). Er verkennt durch­ aus nicht den Wert der sittlichen Gebote, aber er will neben denselben noch etwas anderes geben, ein Opfersystem, welches das Volk in seiner Reinheit vor Gott be­ wahren sollte, als das von Gott in seiner Gnade verordnete Mittel, um von den täg­ lichen (nicht mutwilligen) Übertretungen gereinigt zu werden. Dagegen wird aller­ dings die große Frage „Wie wird der Sünder vor Gott gerecht?" in diesem Gesetz nicht beantwortet. Die Antwort auf d i e s e Frage sucht der fromme Israelit, wie die Psalmen bezeugen, in dem prophetischen Worte, aus welchem er erkennt, daß es *) Wildeboer, Einl. S.325 8.

2) Reuß §379.

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BCD. 57. Das Wesen der Gesetzesreligion.

Gottes Gnade allein ist, welche die Sünde tilgt, und daß man allein durch Gottes gnädigen Ratschluß zum Volke Gottes überhaupt gehört. g. Wenn sodann die Propheten, und gerade auch während des Exils der zweite Jesaias, immer wieder darauf hingewiesen hatten, daß der Gott Israels auch der Gott der H e i d e n werden solle, so ist diese Hoffnung zunächst nicht erfüllt worden; zunächst nach dem Exil hat sich Israel vielmehr — und zwar wesentlich infolge des Priestergesetzes — gerade von den Völkern schärfer abgesondert, als jemals vorher; durch die von diesem Gesetz geforderte Heiligkeit des Volkes mußte ja die Kluft zwischen dem jüdischen Volke und den Heiden noch erweitert werden. Aber diese Absonderung von den andern Völkern war notwendig, wenn die Religion Israels rein erhalten werden sollte. h. Die durch das Priestergesetz eingeführte Ordnung des Lebens ging nun den Juden so sehr in Fleisch und Blut über, daß das spätere Judentum völlig unzu­ gänglich war für die Versuchungen zum Heidentum abzufallen, welche für die Vor­ fahren so verlockend gewesen waren. Das war eine Folge des Priestergesetzes, ohne welches sich die zurückgekehrten Juden in der Völkerwelt ebenso verloren haben würden, wie die zehn Stämme im Exil verschwunden sind. Ohne das Judentum aber auch kein Christentum — so war also das Priestergesetz von großer Bedeutung auch für die Entstehung des Christentums'

BCD. 57. Das Wesen der Gesehesreligionx). Nicht um seiner äußeren Geschichte, sondem um seiner Religion willen ist das Volk Israel für uns von Bedeutung; seine Religion ist näm­ lich, nachdem sie durch Moses begründet und durch die Propheten weiter­ entwickelt worden ist, die Grundlage des Christentums geworden. Im folgen­ den soll nun diese Religion in derjenigen Form, welche sie durch Moses er­ halten hat, dargestellt werden. Dieser Abschnitt, welcher die Religion Israels in ihrer durch Moses be­ gründeten und später weiterentwickelten gesetzlichen Form, dieGesetzesr e l i g i o n, darstellt, zerfAlt aber in drei Hauptteile. Im ersten Teil wird die B e g r ü n d u n g der Gemeinschaft mit Gott dargestellt; Moses, als der Begründer des Glaubens an Jehovah, als Mittler des Bundes mit Gott, als Urheber des Gesetzes, wird hier dargestellt. Der zweite Teil zeigt, wie G o t t mit dem Volke Israel in Gemeinschaft tritt, indem er in diesem Volke herrscht als sein König, wie er sich gegenwärtig zeigt in seinem Heiligtum, und wie er dem Volke nahekommt an den von ihm eingesetzten F e st e n. Der dritte Teil zeigt, wie das V o l k mit seinem Gott in Gemeinschaft tritt. Israel ist ein heiliges Volk; aber es tritt mit seinem Gott nicht in eine unmittelbare, sondem in eine durch Priester und Opfer vermittelte Gemeinschaft. Drei Hauptgedanken sind es also, die uns in jedem der drei Hauptteile dieses Abschnitts entgegentreten, zuerst: Name Gottes, Bund Gottes,'Gesetz 1) Zusammenfassung der folgenden Abschnitte für den Schüler; derselbe wird sich aber diesen Überblick erst dann einprägen können, nachdem der ganze Ab­ schnitt durchgenommen worden ist.

58. Der Gott Israels und sein Name.

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Gottes; sodann: Gottes Gegenwart in Israel, das Heiligtum Gottes, die Feste des Herrn; endlich: die Heiligkeit Israels, das Priestertum, das Opfer. Im folgenden soll nun die Gesetzesreligion nach der hier gegebenen Gliedemng dargestellt werden.

B. Die Hegründung der Gemeinschaft mit Gott. 58. Der Gott Israels und sein Name. „Du sollst nicht andere Götter haben neben mir." 2. Mose 20,3. „Der Herr unser Gott ist ein e i n i g e r Herr." 5. Mose 6, 4. „Ich binderallmächtige Gott, wandle vor mir und sei fromm!" 1. Mose 17.1. (Lesen: Psalm 29.) „Ich bin erschienen Abraham, Isaak und Jakob, daß ich ihr a l l m ä ch t i g e r Gott sein wollte; aber mein Name Herr (Iehovah) ist ihnen nicht geoffenbaret worden." 2. Mose 6, 3. „I h r sollt heilig sein, denn i ch bin h e i l i g, der Herr, euer Gott. 3. Mose 19.2. a. Da schon die Stammväter des Volkes Israel nur e i n e n Gott an­ gebetet hatten, so hat die Bedeutung Moses' für den Glauben Israels nicht darin bestanden, daß er sein Volk von der bis auf seine Zeit bestehenden Ver­ ehrung vieler Götter zu der Verehrung eines Gottes geführt hat; die „anderen Götter", denen zu dienen er seinem Volke verbietet (2. Mose 20, 3), sind zunächst und vomehmlich die Götter der Ägypter, zu denen Israel abzu­ fallen in Gefahr war, aber im ganzen doch nicht abgefallen war. Von diesem Gotte sind allerdings viele Israeliten in allen Zeitaltern seiner Geschichte immer wieder abgefallen *), aber das war eben ein A b f a l l von Gott, gegen den die frommen Propheten und Könige immer aufs neue gepredigt und gewirkt haben. Dagegen war nach der Rückkehr aus dem Exil die Neigung zum Götzen­ dienst aus dem Volke für immer verschwunden — wohl gerade auch infolge seiner nahen Berührung mit dem Götzendienst seiner Dränger; seit dem Exil wird nur noch der eine Gott von den Juden verehrt; „sie eifern um Gott, wenn auch mit Unverstand" (Röm. 10, 2) — so sagt der Apostel Paulus von Israel in demselben Briefe, in welchem er (K. 2 und 3) die Sünde des Volkes so ernst gerügt hatte. So betet denn der Israelit nur einen Gott an; aber daß es ü b e r h a u p t nur e i n e n Gott gibt, das haben erst die Propheten allmählich erkannt; das Volk sah zunächst in den anderen Götten: ebenfalls existierende Wesen, und nur für I s r a e l hatten dieselben keine Bedeutung. Die Einzigkeit Gottes ist zuerst ausgesprochen 5. Mose 6, 4: „Jehovah, unser Gott, ist ein e i n z i g e r Jehovah", und diese Stelle ist das eigentliche Glaubensbekenntnis des späteren Judentums geworden. b. Moses hat aber seinem Volke auch nicht einen neuen Gott anstatt des bisher von ihren Stammvätern verehrten Gottes verkündigt, sondem er hat den alten Gott der Stammväter des Volkes El schaddaj (= der all­ mächtige Gott), dem viele untreu geworden waren, aufs neue gepredigt, allerdingsuntereinemneuenNamen, dem Namen I e h o -) Vgl. Nr. 64 d.

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58. Der Gott Israels und sein Name.

v a h. Dem neuen Namen entsprach nun freilich auch ein neuer und tieferer Inhalt des Gottesbegriffs, und dieser neue Inhalt seines Gottesglmubens macht Moses zum Religionsstifter. Der Gott der Pattiarchen war vornehm­ lich derallmächtige Gott;schon zu Abraham hatjaGottgesagt(1. Mose 17,1): „Ich bin der allmächtige Gott, wandle vor mir und sei fromm." Der Gott des Moses ist nun aber nicht bloß der allmächtige, sondern auch derheilige Gott (3. Mose 19, 2)1). Trotzdem aber war es der Gott der Väter, indessen Aufttage er auftrat, d.h. der Gott, der auch schon vor Moses der Gott des Volkes Israel gewesen war. Der Gott Israels ist also eine sittliche Macht, ein heiliger Gott. Wenn aber Jehovah schon darum ein heiliger Gott ist, weil er von allen anbeut Wesen geschieden ist, so ist er doch besonders durum heüig, weil er im Gegensatz steht zu den sündigen Menschen, gegen die srch sein Eifer strafend wendet (2. Mose 20, 5). Und als der Heilige gibt er nun seinem Volke, zudem er in ein besonders nahes Verhältnis getreten ist, ein Gesetz, durch welches dasselbe hellig werden soll, wie sein Gott heilig ist: „J h r sollt heilig sein, denn i ch bin hellig, der Herr, euer Gott." 3. Mose 19, 2. So ist also der Gott Israels von den Göttern der Heiden (welche vor­ nehmlich als mächtige Wesen bettachtet werden) wesentlich verschieden, und der Israelit darf keinen andem Gott anbeten, als Jehovah. c*). Wenn die israelitische Religion von der Religion der andern Völker so sehr verschieden ist, so muß natürlich auch der Gottesbegriff des israelitischen Volkes von dem der andern Völker verschieden sein. Worauf beruht diese Verschiedenheit des Gottesbegriffs der Israeliten von dem der andern Völker? Auch das israelitische Volk hat, wie man annehmen darf, nicht von vornherein denjenigen Gottesbegriff gehabt, den wir später bei ihm finden; auch in dieser Religion ist eine Entwickelung des Gottesbegriffs wahrzunehmen. Auch im Volke Israel oder vielleicht richtiger in dem Urvolke der Semiten waren es zunähst imponierende Naturerscheinungen, welche die Ahnung des Göttlichen hervorriefen, besonders auch das im Morgenlande noch viel mehr, als bei uns, majestätisch auf­ tretende Gewitter. Auch Jehovah, der noch später so oft mit dem Gewitter in Ver­ bindung gebracht wird 3), könnte ursprünglich (wie der Zeus der Griechen) ein Ge­ wittergott gewesen sein4). Aus diesem Ursprünge der Gottesidee wäre es zu erklären, daß die alte Zeit auch bei den Israeliten Gott vornehmlich als den A l l m ä ch t i g e n betrachtet hat. Wenn man nun aber fragt, woher es gekommen sei, daß dieser Gott (von dem man, wie bei allen andern Völkern, natürlich zunächst irdische Güter erwartete) allmählich zu einem heiligen Gotte geworden sei (der dem Menschen nicht bloß irdische Güter gibt, sondern auch sittliche Forderungen an ihn stellt), und zwar in einem so hohen Grade, wie bei keinem andern Volke (und auch so hohe sittliche Forderungen stellt, wie bei keinem andern Volke), so wird diese Frage von den heu­ tigen Forschern noch in zweifacher Weise beantwortet. Während die einen glauben, daß diese Vettiefung des Gottesbegriffs erst allmählich unter dem Einfluß besonders beanlagter Persönlichkeiten, und zwar wesentlich erst durch die Propheten des 8. Jahr*) Aber in dem Namen „Jehovah" ist der Begriff der Heiligkeit nicht ent­ halten. 3) Nur für den Lehrer. a) Vgl. Psalm 29. 4) Die 2. Mose 3 gegebene Etymologie dieses Gottesnamens wäre dann allerdings wissenschaftlich nicht aufrechtzuerhalten, sondern als Volksetymologie anzusehen.

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Hunderts, bewirkt worden sei, glauben andere (und wohl mit Recht), daß dieselbe wesentlich bereits durch Moses auf Grund der ihm zu teil gewordenen Offenbarung bewirkt worden sei.

d. Wenn nun auch der Gott Israels von vornherein höher steht, als die Götter der Heiden, so steht doch, wie die g a n z e Offenbarung des A. T., auch die Predigt des A. T. von G o t t noch nicht auf der Höhe des N. T. Daß Gott über der Welt stehe, war auch dem Israeliten unzweifelhaft; aber das Volk dachte doch Gott in vieler Hinsicht noch recht menschlich, und erst allmählich sind diese Schranken der Gotteserkenntnis überwunden worden. Gott ist zwar dem Menschen nicht ferne, aber doch eigentlich nicht oll« geg enwärtig; er ist im Paradiese, er thront auf dem Sinai, er wohnt in der Süsshütte, im Tempel, in Jemsalem; daß man weder nach Jemsalem noch nach Garizim zu gehen brauche, um recht zu beten, hat das A. T. noch nicht deutlich verkündigt. Daß Gott gerecht sei, weiß auch das A. T.; aber daß der gerechte Gott sogar das Volk Israel tiertilgen könne, nicht bloß die Heiden, haben erst die Propheten zum großen Ärger des Volkes gepredigt, und die Erfahrung hat ihre Predigt bestätigt. Daß der gerechte Gott auf Erden nicht jedem vergilt nach seinem Tun, sondern daß der Fromme unglücklich und der Gottlose glücklich sein könne — dies Problem des Buches Hiob war so lange nicht zu lösen, als der Glaube an ein ewiges Leben fehlte. Daß Gott nicht bloß gerecht, sondem auch g ü t i g sei, war auch dem A. T. bekannt; aber daß Gott ein V a t e r sei nicht bloß des ganzen Volkes, sondern auch jedes einzelnen Menschen, das ist erst int N. T. deutlich verkündigt worden. So stand Israels Glaube an Gott zwar hoch über dem Glauben der Heiden, aber erst im N e u e n Testament ist eine auch unserem Glauben entsprechende Predigt von Gott zu finden. e1.) Für seinen Gott hat nun das Volk Israel auch einen besonderen Namen; während andere Gottesnamen auch von anderen Göttern gebraucht werden, kommt dieser besondere Name nur dem Gotte Israel zu. Dieser Name wird aber von den Christen *) Jehovahs) ausgesprochen, von den Gelehrten Jahveh, von den Juden gar nicht, sondern dafür ein anderer Gottesname ausgesprochen, da sie schon in der nachexilischen Zeit (auf Gmnd der mißverstandenen Stelle 3. Mose 24,16) zu der Meinung kamen, dieser heilige Gottesname dürfe, um ihn vor Entweihung zu schützen, nicht ausgesprochen werden *). So kennen wir denn zwar die Konsonanten dieses Gottesnamens: Jhvh, aber nicht die Aussprache desselben h. Die Juden J) Über die hebräischen Gottesnamen vgl. in der Theol. Encykl. die Artikel „Elohim" und „Jahve". -) Vgl. Theol. Encykl? Bd. 8, S. 530, Zeile 56—60 und dazu die Berichtigung in Bd. 9, S. 811. 3) Ich schreibe (gegen Kuenen, Volksrel. und Weltrel. S. 307, Anm. 1) durchgehends Jehovah und Jahveh (mit h am Ende, obwohl das h am Ende nicht ausgesprochen wird noch werden darf), um dem Worte die Vierzahl der Konsonanten zu erhalten, und um bei „Jahveh" das e nicht (für den des Hebräischen Unkundigen) zu einem tonlosen deutschen e werden zu lassen. Auch ist diese Schreibung vorzuziehen, um der in gelehrten Büchern vor­ kommenden Schreibweise „Jhvh" näher zu bleiben. *) Vgl. Nr. 49 k. ‘) Das He­ bräische wird in der alten Zeit ohne Vokale geschrieben; vgl. Nr. 14A, II.

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sprechen dafür meist Adonaj und setzen infolgedessen beim Schreiben die Vokale dieses Wortes unter die Konsonanten des ersteren Wortes (abgesehen von dem ersten Vokal), sodaß es scheinbar Jehovah lautet, wie die Christen fälschlich sprechen. Wenn aber Adonaj in demselben Satze dabei steht, so sprechen sie dafür Elohim und nun wird Jehovih geschrieben, aber (hoffentlich, da es eine Unsorm ist) nicht gesprochen1). Die Gelehrten nehmen heute an, daß dieser Name Jahveh zu sprechen sei (Jmperf. Kal von einem alten Verbum, welches bedeutet „sein"). Als nämlich Mose (3. Mose 3, 13) Gott nach seinem Namen fragt, da sagt dieser: Ich bin der ich bin (vgl. Off. Joh. 1, 4 u. 4, 8), und du sollst sagen: „Ich bin" hat mich zu euch gesandt; indem Moses dann die 1. Person in die 3. Person umsetzt, sagt er: „Er ist" hat mich zu euch gesandt. Gewöhnlich deutet man den Namen als „der Seiende", wofür in gelehrten Schriften meist „der Ewige" gesagt wird 2). Nach 2. Mose 6, 3 hat die vormosaische Zeit diesen Gottesnamen noch nicht gekannt (oder wenigstens nicht gebraucht); der Gott der Patriarchen heißt, wie oben bemerkt, El schaddaj. Woher nun aber dieser neue Gottes­ name stammt, und wie er zu deuten ist, ist uns nicht bekannt3). f. Luther übersetzt den Gottesnamen Jehovah mit HERR, den Namen Adonaj mit HErr, den Namen E l o h i m mit G o t t. Wenn in der Bibel der Gottesname Jahveh sehr oft (von 1. Sam. 1, 3 an) verbunden ist mit dem Worte „Zebaoth", so ist diese Bezeichnung wohl zu verstehen nach 1. Sam. 17,14, wo Gott genannt wird: „Gott der Schlachtreihen Israels", so daß also das letzte Wort zeigt, an w e l ch e Schlachtreihen oder Heerscharen bei dieser Bezeichnung Gottes zu denken ist; Gott wird damit als der Führer des Volkes Israel im Kriege bezeichnet. In der späteren Zeit (seit Amos) wird Gott mit diesem Namen als der Herr der himm­ lischen Heerscharen bezeichnet, sei es der Engel oder der Sterne, welche ebenfalls (wie die Heerscharen des Volkes Israels) Gotte zur Verfügung stehen im Kampfe gegen seine Feinde, oder ihn, von dem Feinde abgesehen, als den Herrn der ganzen Welt bezeichnen4). g. Daß aber der Glaube des Volkes Israel an e i n e n Gott, ja, daß sogar der den Gott Israels besonders bezeichnende Name Jehovah (Jahveh) aus Babel herstamme, ist zwar in der neueren Zeit behauptet, aber nicht bewiesen worden. Die Babylonier beteten, ebenso wie die anderen Semiten, viele Götter an, nicht einen Gott, und wenn sich bei ihnen wirklich auch der Name Jehovah (Jahveh) fände, so würde er eben nur einen Gott, nicht den einen Gott, bezeichnen.

59. Der Bund Gottes mit dem Volke Israel. „Ich will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein." 3. Mose 26,12. 2. Mose 19, 1—20 und 24, 1—8. 5. Mose 4, 23-40. K. 29. 3. Mose 26. Josua 1,1—9. 24,1—28. Richter 2, 6—13. a. Durch Moses ist nun nicht nur die Religion der Patriarchen in ihrer Reinheit wiederhergestellt und von allem Einfluß der ägyptischen Religion ’) Es ist, was auch sonst geschieht, auch hier geschehen: die Konsonanten des Textes sind mit den Vokalen von Elohim versehen. 2) Eine dichterische Verkürzung dieses Gottesnamens ist Iah, z. B.Hallelujah d.h. Lobet den Herrn. 3) Vgl. Theol. Enchkl? 8, S. 536—540. «) Vgl. Theol. Encykl.» Bd. 21 s. v. Zebaoth. — Die griechische Bibel übersetzt das Wort „Zebaoth" öfters mit dem Worte pantokrator (Allgewaltiger), welches aus ihr auch in die Osfenb. Johannis (und in den ersten Glaubensartikel: „Der Allmächtige") eingedrungen ist.

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befreit worden, fonbem Moses hat auch den Gmnd zu einer neuen Gestalt dieser Religion (der Gesetzesreligion) gelegt. Man würde aber seine Reli­ gionsstiftung falsch auffassen, wenn man glaubte, daß er diese Religion vor­ nehmlich, wie die späteren Propheten, durch die Predigt, durch die Ver­ kündung neuer Religionswahrheiten, gestiftet habe. Moses war zwar ein großer Prophet; dies Bewußtsein, welches er selber von seiner Stellung zu Gott, und welches seine Zeitgenossen darüber hatten, war wohlbegründet; aber nicht durch die Predigt hat Moses seine Religion gestiftet, sondern, vomehmlich durch die großenTaten, die er vollbrachthat: einerseits durch die Erlösung Israels aus Ägypten und seine Führung nach Kanaan, andrerseits durch die Bundschließung und die Gesetzgebung am Berge Sinai. b. Mt dem Volke Israel, welches sich Jehovah durch die Erlösung aus Ägypten zum Eigentum erworben hatte (2. Mose 19, 5), hat Gott am Berge Sinai durch Moses einen Bund geschlossen, durch welchen Jehovah als der Gott des Volkes Israel in besonderem Sinne und das Volk Israel als sein besonderes Eigentum anerkannt wurde. Durch die Erlösung aus Ägypten war nämlich der Glaube des Volkes an Gott, als seinen Helfer in der Not, und der Gedanke, daß Gott ihm besonders nahe stehe, erweckt und die Willig­ keit zum Gehorsam gegen Gott erhöht worden. Wenn nun Gott dem Volke Israel damals als sein besonderer Gott erschien, so war das zwar eine Schranke des Glaubens an Gott — denn Gott war ja auch damals der Gott aller Völker — aber das Volk konnte eben nur glauben an Gott auf Grund der i h m zu teil gewordenen Offenbarung, der Rettung aus der Hand der Ägypter; auf Gmnd dieser Erfahmng konnte es zunächst nur an einen ihm besonders nahe stehenden Gott glauben; die Über­ windung dieser Schranke des Glaubens ist später — wiedemm aus dem Wege der Ofsenbamng Gottes in der Geschichte — erfolgt. Moses legte nun dem aus Ägypten erlösten Volke die Fordemngen Gottes vor, welche es erfüllen müsse, um mit Gott in einen Bund zu treten, und das Volk versprach, den­ selben nachzukommen. Ter Bund bemht also zunächst auf Gottes Entgegen­ kommen, aber allerdings auck auf Israels freiem Willen; er ist vor allem eine Tat Gottes, aber Israel muß „in den Bund eintreten" (3. Mose 29,12). Die Bundschließung erfolgte nun, wie überhaupt im Mertum (nicht bloß bei den Israeliten), unter der Darbringung eines Opfers (2. Mose 24, 4—5), durch welches Gott zum Zeugen des Bundes gemacht wurde; an das Opfer schloß sich oft auch eine Mahlzeit, welche ein Zeichen der Gemeinschaft zwischen den Bundschließenden war (so auch hier, natürlich ohne persönliche Teilnahme Gottes — 2. Mose 24,11). Eine ganz besondere Handlung bekräftigte außerdem den am Sinai geschlossenen Bund. Nachdem nämlich Dankopfer geschlachtet worden waren, wurde das aufgefangene Blut zur Hälfte in Becken getan, zur Hälfte an den Mtar gesprengt. Nachdem sich darauf das Volk verpflichtet hatte, den Bund mit Gott zu halten, wurde es aus den Becken mit der zweiten Hälfte des Blutes besprengt mit den Worten: „Das ist das Blut des Bundes, den der Herr mit euch macht auf Grund aller dieser (im Bundesbuche aufgezeichneten) Worte." Das Blut war in zwei Hälften geteilt worden, um auf die beiden bundschließenHetdrtch, Heilige Geschichte. 3. Must.

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den Teile hinzuweisen; das Volk wird mit dem Blute besprengt, um dadurch seine Gemeinschaft mit Gott anzudeuten, denn die Verwandtschaft unter den Menschen beruht ja auf der Gemeinschaft des Blutes. Diese Form der Bund­ schließung ist sonst im A. T. nicht angewandt worden; daß sie wiederkehrt im N. T. (beim heiligen Abendmahl, der Erinnerungsfeier an die (Stiftung des Neuen Bundes), ist bekannt. c. Die Idee der Bundesgemeinschaft zwischen Gott und Israel ist nun die Hauptidee der Alttestamentlichen Religion. Durch die Berufung Abrahams und die Lebensfühmng der Patriarchen vorbereitet, wird der Bund Gottes mit dem Volke Israel auf Gmnd der Erlösung aus Ägypten in der Gesetzgebung am Berge Sinai geschlossen, als ein Bund, dessen Wesen am einfachsten und deutlichsten bestimmt wird durch das Wort: „Ich will euer Gott sein und ihr solltmein Volk sein" (3.Mose 26, 12). Als seinen Gott hat nämlich Israel Gott kennen gelernt vor allem in der Ausfühmng aus Ägypten; diese Erlösung ist die grundlegende Offen­ barung seiner Gottheit für Israel; daher heißt es im Zehngebot mit Reckt: „Ich, der Herr, bin dein Gott, der ich dich aus Agyptenland, dem Diensthause, geführt habe" (2. Mose 20, 2); diese Erlösungstat Gottes nimmt für den Is­ raeliten dieselbe Stellung ein, welche für den Christen das Erlösungswerk Christi einnimmt1). Dem erlösten Volke hat nun Gott am Berge Sinai sein Gesetz gegeben, er hat ihm das Land Kanaan zum Wohnsitz gegeben, und er waltet fortan als König in seiner Mtte, der durch auserwählte Organe sein Volk regiert. Israel ist aber als Gottes Eigentum ein Königreich von Priestern (Luther: ein priesterlich Königreich) und ein heiliges Volk (2. Mose 19,4—5). Das Volk sollte nicht bloß äußerlich und innerlich makellos, sondern auch heilig sein, wie Gott heilig ist (3. Mose 19, 2), und sein ganzes Leben sollte in allen Beziehungen, in Religion und Sittlichkeit, im Familien- und im Staatsleben von Gottes Gesetz bestimmt werden. Gottes Volk ist aber Israel mir, wenn es Gottes Gebote hält; wenn es gottlos ist, so hat es die strengsten Strafen von Gott zu erwarten. Gott wird allerdings sein Volk nicht für immer verstoßen (3. Mose 26, 44 s); er wird es nur züchtigen, damit es sich bekehre, und dann ist die Bundesgemeinschaft wiederhergestellt. ä.Aber die Wirklichkeit hat derJdee zunächst und für lange Zeit nicht entsprochen; die Grundgedanken der Bundes­ gemeinschaft sind doch nicht sofort vom ganzen Volke, sondern nur von einzelnen Männern völlig erfaßt worden. Aber doch schon Moses selbst hat es erreicht2), daß die Grundgedanken seiner Religionsstiftung in der Ordnung eines Gottes­ dienstes, welcher an die Bundeslade und die Stiftshütte sich anschloß, in der Einführung des Aaronitischen Priestertums und in der Sabbathfeier zur Gel­ tung kamen. Als Josua das heilige Land erobert hatte, wurde das National­ heiligtum, die Stiftshütte, in Silo aufgestellt (Jos. 18, 1); aber neben dem­ selben gab es von alter Zeit her noch viele andere heilige Stätten, an welchen die Kanaaniter ihren Gott Baal verehrten, wo nunmehr die Israeliten Jehovah anbeteten. Aber als nun auch Josua tot war und alle seine älteren Zeitgenossen, x) Wir lassen deshalb in unserm Katechismus mit Recht die Worte von der Erlösung aus Ägypten weg; wir müßten dafür von dem Erlösungswerke Christi sprechen. -) Gegen Reuß und Wellhausen.

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die noch die großen Werke des Herm an Israel gesehen hatten, da kam ein anderes Geschlecht auf, das den Herrn nicht kannte, und nun verließen viele Israeliten den Gott ihrer Väter und dienten den Göttern der Kanaaniter (Richter 2, 6—12). Zwar immer wieder fand die wahre Religion Vertreter, besonders in den Richtern, welche Gott gegen die Kanaaniter unter den Israe­ liten erweckte; aber selbst unter den damaligen Frommen wurde der Bilderdienst üblich und manche andere altüberlieferte, aber vom Gesetz verbotene Übung wieder ausgenommen; lesen wir doch sogar von einem Menschenopfer (Richt. 11, 31)! e. So ist also das Gesetz Mosis, soweit es damals überhaupt schon vor­ handen war, in der nächstfolgenden Zeit zwar nicht ganz vergessen, aber auch nicht allgemein beobachtet worden; die mosaischen Überlieferungen wurden vornehmlich in dem Heiligtum in Silo bewahrt, und auf der Gmndlage der altmosaischen Ordnungen hat sich dann in der späteren Zeit die Gesetzgebung weiter entwickelt, und diese weiter entwickelte Ordnung hat später (zuerst im Gesetz des Deuteronomiums, dann im Priestergesetz) ihre Aufzeichnung und unter Josia (621, das Deuteronomium) und unter Esra (444, das Priester­ gesetz) ihre Anerkennung gefunden. Erst seit Esra war das g a n z e mosaische Gesetz bekannt und anerkannt.

60. Das Gesetz Gottes. „I h r sollt heilig sein, denn I ch bin heilig, der Herr, euer Gott." 3. Mose 19,2. 5. Mose 4, 5-14 und 32—40. 2. Sam. 7, 23—24. Ps. 19. Röm. 2, 17—29. Röm. 7,7—25. Matth. 23,4. 11,28—30. Gal. 4, 4—5.3,24. a. „Ich bin heilig, der Herr (Jehovah), euer Gott" — als solchen Gott hatte sich der Herr durch Moses in Israel offenbart (3. Mose 19, 2), und das war und blieb seitdem der Glaube Israels. Wenn nun Israel mit diesem Gotte in eine Bundesgemeinschaft trat, so mußte es ebenfalls heilig werden. Aber wenn das Volk Israel heilig sein sollte, wie Gott heilig ist, so mußte ihm auch gesagt werden, was es zu tun und zu lassen habe; das geschah im Gesetz, welches dem Volke Israel durch Moses gegeben wurde. Was nun Israel an seinem Gesetz hatte, das hat die Bibel selbst immer aufs neue ausgesprochen; ein göttliches Licht hat in der Tat dem Volke Israel in seinem Gesetze geleuchtet, herrlicher als alle Gesetzgebungen der Heiden, erst übertroffen von der Predigt dessen, der da gekommen war, um dies Gesetz auch nicht aufzuheben, sondem zu erfüllen. Das wahre Wesen Gottes wie auch die wahre Frömmigkeit und Sittlichkeit des Menschen war im Gesetz Mosis im Princip verkündet, wenn auch freilich noch nicht alle Grundsätze des Gesetzes schon damals sofort zur Geltung und Ausführung gebracht werden konnten. b. Mer das Gesetz und die Frömmigkeit nach dem Gesetz haben allerdings auch noch ihre Schranken. So wendet sich das Gesetz zunächst nur an das e i n e Volk Israel, um dies Volk zu wahrer Frömmigkeit zu führen; aber schon das Gesetz, noch deut­ licher aber die an das Gesetz sich anschließende Predigt der Propheten, läßt allmählich immer deutlicher erkennen, daß das Gesetz Gottes für alle Völker bestimmt sei.

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Das Me Testament weist schon darauf hin, „daß alle Menschen Brüder sind, daß auch der Sllave ein Mensch ist; aber die Schranke des Men Testaments ist auch in dieser Beziehung (abgesehen von der Duldung der ©Baberei) nicht zu verkennen, wenn es 2. Mose 21, 20—21 heißt: „Wer seinen Knecht oder Magd schlägt mit einem Stabe, daß er stirbt unter seinen Händen, der soll darum gestraft werden. Bleibt er aber einen oder zween Tage am Leben, so soll er nicht darum gestraft werden, denn es ist sein Geld" — der Sllave wird also schließlich doch nicht als ein Mensch, sondern als eine Sache angesehen1). Der Bund Gottes war sodann im Gesetz ein Verhältnis des ganzen Volkes zu Gott, wogegen das Verhältnis des einzelnenMenschen zu Gott noch zurücktrat; erst im Prophetismus tritt dieser Gedanke mehr hervor. Obwohl sodann schon das Gesetz Furcht und Liebe gegen Gott als das Princip der Frömmigkeit betrachtet, so stehen doch im Gesetz die einzelnen Gebote noch unvermittelt neben einander, ohne dem höchsten Gebote der Liebe zu Gott und den Brüdern untergeordnet zu sein. Eine Unterscheidung von Sitten-, Ceremonial- und Staatsgesetzen wird nämlich zwar von uns gemacht, um zu bestimmen, was vom mosaischen Gesetze bleibende Be­ deutung habe; aber in der Gesetzgebung selber wird diese Unterscheidung nicht gemacht; hier werden die verschiedensten Gebote neben einander und die ungleichwertigsten (Ceremonialgesetze und Sittengesetze) einander gleich­ gestellt und ihre Übertretung mit gleich strengen Strafen bedroht. Erst auf einem höheren Standpunkte, der aber schon im Gesetz wenigstens angedeutet (5. Mose 30, 11—14) und in den Propheten deutlich ausgesprochen ist (Jer. 31, 33), wird anerkannt, daß vor allem das H e r z des Menschen für Gott gewonnen werden, und daß aus diesem die wahre innere Frömmigkeit ohne Zwang hervorgehen müsse. Femer hat das Gesetz für den Gottesdienst viele äußere Gebräuche und Ordnungen vorgeschrieben, so daß das Volk leicht in totem Werkdienste die wahre Frömmigkeit erblicken konnte. Aber ohne äußeren Gottesdienst kann eine Volksreligion, auch das Christentum, nicht bestehen. Um nun die Befolgung des Gesetzes zu sichern, waren schwere Strafen für den Gesetzesübertreter festgesetzt; aber trotzdem waltet doch im mosai­ schen Gesetz eine unverkennbare Humanität. Daß im Gesetz für nach unserer Meinung staatliche Dinge religiöse Strafen festgesetzt sind, weil Staat und Religion nicht von einander getrennt sind, ist richtig; die Beeinflussung der Staatsgesetzgebung durch die äußere Kirchengewalt (in Israel, wie in der katholischen Kirche) ist zwar vom Übel; aber auch unser Staat will ein christ­ licher Staat sein, indem er seinen Untertanen mehr als Gerechtigkeit sichert (vgl. die neuere Socialgesetzgebung). c. So hat das Gesetz Mosis schon die höchsten Ideen ausgesprochen oder wenigstens angedeutet, aber noch nicht verwirklicht; das ist 9 Dieser Vers (2. Mose 21,21) wurde für den anglikanischen Bischof Colenso von Natal der Anstoß zu freierer Ausfassung der Bibel. Als ihn nämlich der ihm bei der Arbeit helfende Eingeborene zweifelnd fragte, ob das wirklich Gott gesagt habe, da schlug dem ehrlichen Manne das Herz, und er gelangte von hier aus zu einer freieren Auffassung der Bibel, unter Aufgebung der buchstäblichen Jnspirationslehre.

61. Der Dekalog, das Grundgesetz des Volkes Israel.

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die Aufgabe des Christentums, allerdings auch noch heute seine noch nicht gelöste Aufgabe. Zur wahren Frömmigkeit konnte nämlich das mosaische Gesetz die Menschen noch nicht führen, teils wegen seiner eigenen Unvollkommenheit, teils wegen der für jedes Gesetz unüberwindlichen Macht der Sünde im Menschen (Röm. 7,7—25); schließlich war sogar durch die Phari­ säer aus dem Gesetz Gottes ein schweres Joch und eine unerträgliche Bürde geworden (Matth. 23, 4; 11, 28—30), weil sie sich nur an den Buchstaben, nicht an den Geist des Gesetzes hielten. Wer als nun die Zeit erfüllet war, da sandte Gott seinen Sohn, auf daß er die, so unter dem Gesetz waren, von dieser Knechtschaft erlösete, daß sie die Kindschaft empfingen (Gal. 4, 4—5); aber es war für Paulus nicht leicht, die Christen zur Freiheit vom Gesetz zu führen. Aber wenn auch das Gesetz selbst den Menschen nicht zur Freiheit führen konnte, so war es doch der E r z i e h e r (Zuchtmeister) zur Freiheit in Christus (Gal. 3, 24), wie noch heute der Mensch nur durch die Unterwerfung unter die Autorität zur Freiheit sich entwickeln kann1). 61. Der Dekalog, das Grundgesetz des Volkes Israels. 2. Mose 20,1-17. 5. Mose 5, 6-21. 3. Mose 19,1-18 u. V. 30-37 (P). 5. Mose 6. 7. 11. 22.1—12. 23, 19—25. K. 24. 25, 1-4 u. V. 5-10 u. V. 13—16. Das ganze Gesetz warJsrael'sFreude und Stolz; aber als sein größ­ tes Heiligtum galten die beiden Gesetzestafeln, welche in der Bundeslade aufbewahrt waren; auf diesen beiden Tafeln war nämlich das Grundgesetz des Gottesreiches aufgezeichnet, welchem zu gehorchen das Volk dem Moses versprochen hatte. Die beiden Tafeln enthielten zehn Gebote (2. Mose 34,28), den Dekalog; dieselben sind (nachdem die zerschlagenen ersten Tafeln von Moses selbst erneuert worden waren) mit dem ersten Tempel zu Gmnde gegangen. Was hat auf diesen Tafeln gestanden? a. Daß auf diesen beiden Tafeln unser Dekalog gestanden habe, ist eine so tief mit der überkommenen Auffassung vom A. T. zusammenhängende Vor­ stellung, daß man sich nur schwer und ungern von ihr trennen würde. Neuere Forscher haben allerdings geglaubt, diese Meinung aufgeben zu müssen"). Es wird nämlich vor allem immer unerllärlich bleiben, wie die im ganzen Israel vor Salomo und im Nordreiche bis zu seinem Ende stets (auch von Elias und andern Propheten) unangefochten bestehende Verehrung Gottes im Bilde bei dem Vorhandensein eines jede bildliche Darstellung des Volksgottes ver­ bietenden Gesetzes möglich gewesen sei. Deshalb kam man auf die Frage, ob nicht die Zusammenfassung der Grundgedanken des ATlichen Gesetzes in dieser Form erst das Ergebnis einer Zeit sei, in welcher der bildlose Dienst Gottes im Nationalheiligtum den Kampf gegen die Unbefangenheit der alten *) Diesen Gedanken findet der Lehrer der Prima (für den Unterricht in der philos. Propädeutik) trefflich entwickelt in der für die Schule sehr brauchbaren Ab­ handlung von Deinhardt: „Bon der Entwickelung des Menschen zur Willens­ freiheit" (Festprogramm von Bromberg 1867, wieder abgedruckt in Deinhardts kleinen Schriften 1869.) *) Der Lehrer vergleiche D i l l m a n n, ATliche Theologie § 50 und 51, und H. Schultz, ATliche Theologie § 22. ") H. Schultz, ATliche Theologie S. 153 s.

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Volkssitte aufnahm. Das glaubte man um so eher annehmen zu dürfen, da man wahrnahm, daß das Sabbathgebot von 2. Mose 20 sicher in einer durch das Priestergesetz beeinflußten Form vorliegt. So kam man zu der Annahme, daß auf den beiden Gesetzestafeln ein anderer Dekalog gestanden habe, als der unsrige, und schon Goethe hatte darauf hingewiesen, daß dieser Dekalog uns vielleicht in 2. Mose 34, 10—28 vorliege (wo freilich Gußbilder ebenfalls verboten sind)1), und daß erst eine spätere Zeit an die Stelle dieses Dekalogs den u n s r i g e n gesetzt habe. Dieser Dekalog von 2. Mose 34 lautet aber nach Kautzsch (Bibelüber­ setzung) also: 1. Du sollst dich vor keinem anderen Gotte niederwerfen. 2. Du sollst dir keine gegossenen Gottesbilder machen. 3. Das Fest der ungesäuerten Brote sollst du halten zur Zeit des Monats Hlbib, 4. und ein Wochenfest sollst du dir einrichten szur Zelts der Weizenernte, 5. und das Herbstfest an der Wende des Jahres. 6. Me Erstgeburt gehört mir. 7. Du sollst das Blut meines Opfers nicht zusammen mit Gesäuertem schlachten, 8. und das Opfer des Passahfestes soll bis Tagesanbruch nicht mehr vorhanden sein. 9. Das Beste der Erstlinge deines Ackerbodens sollst du zum Hause Jahveh's, deines Gottes, bringen. 10. Du sollst ein Böcklein nicht in der Mich seiner Mutter kochen. „Und Jahveh sprach zu Mose: Schreibe dir diese Worte auf, denn auf Grund dieser Worte schließe ich mit dir und Israel einen Bund. Und er verweilte dort bei Jahveh vierzig Tage und vierzig Nächte, ohne Brot zu essen und Wasser zu trinken, und schrieb auf die Tafeln (die Worte des Bundes) die zehn Worte.". — Nur der Dekalog von Kap. 34 wird ausdrücklich als „die zehn Worte" bezeichnet. „Dieser Dekalog ist — so sagt Kautzsch zu 2. Mose 34, 26 — eine reine Kultusgesetzgebung, gerichtet an das Familienoberhaupt. Der Standpunkt ist der der Volksreligion, wie sie sich nach der Eingewöhnung in Kanaan gebildet hatte und von den Propheten als ungenügend betrachtet wurde. Gegenüber dem Dekalog von Kap. 20 ist der von Kap. 34 der ältere; dagegen ist die wenig­ stens noch durchscheinende Grundlage des Dekalogs von Kap. 20 älter — und wertvoller — als der Dekalog von Kap. 34." Neuere Forscher sind aber immer wieder zu der Meinung zurückgekehrt, daß u n s e r Zehngebot (allerdings nur in seiner ursprünglichen Form) auf den beiden Tafeln gestanden habe und auf Moses zurückzuführen sei2). b. Wie lautete nun der ursprüngliche Dekalog? Da zwei Berichte den Dekalog wiedergeben (2. Mose 20 u. 5. Mose 5), welche nicht genau mit einander übereinstimmen, so ist es nicht möglich, die buchstäbliche Fassung *) Aber zehn Gebote gewinnt man in 2. Mose 34 nur dadurch, daß man 2 oder 3 Gebote beseitigt. 2) Wildeboer, Einl. § 1. Kittel, Geschichte der Hebräer 1,179. Kittel, Die ATI. Wissenschaft (1910), 6. 30—31.

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des Dekalogs zu erkennenx); doch sind die Unterschiede sachlich unbedeutend und fast nur in den (wahrscheinlich nicht als ursprünglich anzusehenden) E r Läuterungen der Gebote enthalten2); der Hauptunterschied ist der, daß es im 5. Buch Mose nicht an e r st e r Stelle heißt: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hau s", sondern „W e i b". Aber dieser Unterschied ist nicht so groß, wie es zunächst scheinen könnte, denn die beiden Gebote sind ja im Grundtext e i n Gebot, und so sind denn nur die Objekte des Begehrens im letzten Gebot in den beiden Texten verschieden geordnet. Dadurch wird also die Folge der Gebote nicht geändert. Aber allerdings darf man annehmen, daß das 5. Buch Mose gegenüber dem 2. Buch Mose bereits einen höheren Standpunkt in der Schätzung des Weibes einnimmt, indem dasselbe nicht mehr einfach zum Eigentum des Mannes gerechnet, sondern seinem Eigentum gegenübergestellt wird. Wie nun die zehn Gebote auf die beiden Tafeln verteilt gewesen sind, ist nicht überliefert; weder die Katholiken und die Lutheraner mit ihrer Teilung von drei und sieben, noch die Griechen und die Reformierten mit ihrer Teilung von fünf und fünf Geboten können ihre Behauptung beweisen; aber wahrscheinlich ist die griechisch-reformierte Teilung des Dekalogs s a ch l i ch die richtige, ohne daß damit als sicher gelten darf, daß die beiden Tafeln äußerlich diese Teilung gehabt haben. Nach der griechisch-reformierten Zählung zerfällt nämlich das Zehngebot in zwei Fünfgebote, von welchen das erste die Pflichten gegen Gott, das zweite die gegen den Nächsten enthält. Dagegen haben die Katholiken und die Lutheraner auf der ersten Tafel nur drei Gebote, indem sie das Verbot der Abgötterei und des Bilderdienstes in eins zusammenziehen, oder vielmehr das letztere weglassen, und das Elterngebot der zweiten Tafel zuweisen; für die zweite Tafel gewinnen sie dann doch noch sieben Gebote, indem sie das zehnte Gebot in z w e i Gebote zerlegen. Aber die Teilung des l e tz t e n Gebotes ist ebenso wenig berechtigt, wie die Weg­ lassung des B i l d e r v e r b o t s3). Der Dekalog von 2. Mose 20 und 5. Mose 5 enthält nun die Grundordnun­ gen des religiösen und des sittlichen Lebens, und zwar in d e r Weise, daß (ebenso wie im Vaterunser) die Religion der Sittlichkeit vorangestellt und dadurch als ihre Grundlage bezeichnet wird. Den zwei Geboten (Feiertag und Eltern) stehen aber acht Verbote gegenüber, da der natürliche Wille des Menschen dem Bösen zugeneigt ist und durch Gottes Gebote bekämpft werden muß. Die Gebote aber gebieten und verbieten fast sämtlich zunächst nur die äußere Tat, aber das letzte (vom Begehren) vielleicht auch schon die böse Be­ gierde. o. Das Fünfgebot der ersten Tafel enthält aber folgende Gebote: *) Ebenso wenig wie beim Vaterunser und bei den Abendmahlsworten. 2) Die eigentlichen 10 Gebote ohne Erläuterungen bestehen im Grundtext aus 28 -i- 26 — 54 Wörtern. 3) Paulus (Rom. 13,9) hat wobl von dieser Teilung nichts gewußt. — Manche katholische Katechismen folgen aber hierbei der Form von 5. Mose 5, indem sie als neuntes Gebot hinstellen: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib", wäh­ rend Luther, sich an 2. Mose 20 anschließend, als neuntes Gebot aufstellt: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten H aus." „Nur bei der Annahme des Textes von 5. Mose 5 hätte die Zweiteilung des Begehrverbotes einen Sinn." ( D i l l m a n n, Kommentar zu 2. Mose 20.)

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1. Auf die Anrede („Ich bin... habe") *) folgt das erste Gebot (2. Mose 20, 3), welches alle Abgötterei verbietet 2). 2. Das zweite Gebot verbietet den Bilderdienst (2. Mose 20, 4—5a). An diese Gebote ist das angeschlossen, was Luther nicht mit Unrecht als Schluß aller Gebote hingestellt hat. Diese Änderung Luthers hängt wohl auch damit zusammen, daß das Bilderverbot im katholischen und im luthe­ rischen Katechismus fehlt; die Katholiken konnten dasselbe nicht mehr brauchen, seitdem in der Kirche der Bilderdienst aufgekommen war; die Reformierten haben dasselbe wieder aufgenommen. 3. Das dritte Gebot verbietet den Mißbrauch des Namens Gottes zu schlechtem Zwecke. 4. Das vierte Gebot fordert die Feier des Sabbaths als den dem Volke Israel obliegenden Gottesdienst3). Moses hat also bereits eine gottesdienst­ liche Einrichtung für das Reich Gottes für nötig gehalten, aber bestimmte Kultushandlungen, z. B. Opfer, werden im Grundgesetz Israels noch nicht gefordert. Wenn also später die Propheten den äußerlichen Kultus ihrer Zeitgenossen bekämpften, und wenn im Christentum derselbe ganz weg­ gefallen ist, so wird damit das Grundgesetz des Mosaismus nicht um­ gestoßen. 5. Das fünfte Gebot fordert Achtung und Ehre für die in der menschlichen Gesellschaft bestehenden Autoritäten, zunächst für die Eltern. Dieses Gebot ist der ersten Tafel zuzurechnen, die Eltem sind die Repräsentanten Gottes auf Erden, und die Pflicht sie zu ehren ist eine religiöse Pflicht; die Pflichten gegen Gott und die Eltem (wie auch gegen den König) sind im A. T. oft neben einander gestellt. Das Fünfgebot derzweitenTafel wahrt die Heiligkeit des Lebens, der Ehe, des Eigentums und der Ehre des Nächsten, und verbietet vielleicht sogar das Begehren des H e r z e n s nach dem Gute des Nächsten; aber man darf nicht übersehen, daß als Nächster damals doch nur der Volksgenosse galt, noch nicht jeder Mensch — das ist erst im Christentum gefordert und erreicht worden. 6. Das sechste Gebot sichert zunächst die Heiligkeit des menschlichen Lebens gegen Mord und Totschlag. Der Mensch ist nach dem Bilde Gottes geschaffen, und dämm ist sein Leben und seine Freiheit heilig zu achten; das gilt vomehmlich für den Israeliten, aber in gewisser Beschränkung auch für den Ausländer. Zwar wird die Leibeigenschaft eines Israeliten nicht gänzlich verboten, aber durch das Gebot der Freilassung im Sabbath- oder im Jubel-Jahr *) einge­ schränkt. Auch der fremde Sklave steht unter dem Schutze des Gesetzes, auch dem Kriegsfeinde gegenüber gelten Vorschriften der Menschlichkeit. 7. Das siebente Gebot sichert die Heiligkeit der Ehe und des auf ihr bemhenden Familienlebens. Zwar wird im mosaischen Gesetz die Polygamie 0 Dieselbe betrachten die Juden als das erste „Wort", und das Verbot der Abgötterei und des Bilderdienstes werden dann als zweites Gebot zusammengefaßt. 2) Der Urtext ist vielleicht richtiger zu übersetzen: „Du sollst keinen anderen Gott haben neben mir". Daß andere Götter überhaupt nicht e x i st i e r e n, ist hiermit noch nicht behauptet; vgl. Nr. 68 d. 8) Über dies Gebot und über seine verschiedene Begründung in den beiden Dekalogen von 2. Mose 20 und 5. Mose 5 vgl. unten Nr. 65. 4) Vgl. Nr. 65.

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und die Auflösung der Ehe durch den Mann (wenn auch ein Entlassungsschein für das Weib gefordert wird) noch nicht beseitigt; aber es wird doch der Willkür gesteuert. Der Ehebrecher wird mit dem Tode bestraft, die Ehe unter nahen Verwandten wird verboten, den Frauen und Jungfrauen gegen Frevel des Mannes Schutz zugesichert, die Mutter dem Vater gleichgestellt. 8. Das achte Gebot sichert das Eigentum; das Gesetz sucht sogar der Familie das Eigentum dauernd zu erhalten, indem es nur den Verkauf der Emten bis zum Jubeljahr') gestattet; dann soll der Besitz wieder der früheren Familie zufallen. 9. Das neunte Gebot verbietet, durch falsches Zeugnis des Nächsten Leben und Eigentum zu gefährden. 10. Das zehnte Gebot verbietet auch, Pläne zu fassen und Anschläge zu machen, um sich mit einem Schein des Rechtes das Eigentum des Nächsten anzueignen, wohl noch nicht, wie Jesus dies Gebot vertieft hat, auch die auf diese Güter gerichtete böse Lust, als die innere und letzte Quelle des bösen Tuns2). d. Im Dekalog ist das Grundgesetz des Volkes Israel enthalten; die andern Gesetze können teils als eine Ausführung des Sittengesetzes im Dekalog betrachtet werden, teils sind sie die S t a a t s g e s e tz e, welche die Beobach­ tung des Dekalogs erzwingen sollen, teils sind sie Religionsgesetze, also eine Ergänzung und Weiterentwickelung des Sabbathgebots. Von den letzteren kommt in den betreffenden Abschnitten des Buches das Wichtigste zur Darstellung; von den Sittengesetzen und den Staatsgesetzen sind unten (e) einige zusammengestellt zur Lektüre und Besprechung, soweit die Zeit dies gestattet. Hier soll nur noch etwas genauer darauf hingewiesen werden, wiedas ATliche Gesetz für die Armen gesorgt hat. Das mosaische Gesetz geht (wie das des Lykurgus in Sparta) davon aus, daß jeder Israelit einen Acker besitzen soll, von dem er seinen Lebensunterhalt gewinnt. Es sollte nun möglichst der Besitz in der Familie erhalten bleiben und die Vereinigung mehrerer Güter meiner Hand verhindert werden. Wer aus Not sein Erbgut ver­ kaufen mußte, der sollte es doch im Jubeljahre3), welches alle 50 Jahre gefeiert wurde, wieder zurückerhalten4), so daß sich also der Kaufpreis nach dem Werte der bis zum nächsten Jubeljahr noch zu erwartenden Emten richtete. Um das Gut der Familie zu erhalten, ging dasselbe, wie es scheint, ungeteilt auf den Erstgeborenen über, neben welchem allerdings die anderen unversorgten Kinder als Mitbesitzer standen, die vom Ertrage des Gutes unterhalten wurden. Wenn der Besitzer starb, ohne einen Erben zu hinterlassen, so galt es als Pflicht des nächsten Verwandten des Verstorbenen, die Witwe zu heiraten, und sein ältester Sohn galt dann als Sohn des verstorbenen Mannes und wurde sein Erbe6). Durch alle diese Bestimmungen sollte verhindert *) Vgl. Nr. 65 und unten d. 2) „Die bloße Begierde als solche ist vielleicht im Deuteronomium verboten, nicht aber imGrundtext"; so H. Schultz, Mliche Theologie § 22,1 sin. und Kittel; dagegen betrachtet Dillmann, ATliche Theologie § 50a, als eigentlichen Gegenstand dieses Verbotes das Begehren. 3) Vgl. Nr. 65. 4) Vgl. das englische Gesetz, wonach verkaufter Gmnd und Boden nach 99 Jahren wieder an den ursprünglichen Besitzer zurückfällt. 5) Schwagerehe (levir = Schwager; daher Leviratsehe).

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werden, daß der Besitz sich in wenigen Händen concentrierte; jeder Israelit sollte im Besitze eines Gutes sein. Daß trotz dieser Bestimmungen doch auch mancher Israelit sein Eigentum verlor und nicht wiedererhielt, versteht sich von selbst. Für diese besitzlosen Leute sorgte nun das Gesetz dadurch, daß es jedem gestattete vom Acker oder Weinberg des andern zu essen (aber nicht mitzunehmen), so viel er wollte, bei der Ernte die Nachlese zu halten, im Sabbathjahr (dem je siebenten Jahr)1), wo der Acker nicht bestellt werden durfte, das dann von selber Wachsende zu nehmen. So war es denn im Volke Israel in der alten Zeit eine Ausnahme, daß man einen Bettler traf; Barmherzigkeit gegen den Notleidenden, besonders auch gegen Witwen und Waisen, galt als jedermanns Pflicht. Die spätere pharisäische Frömmigkeit betrach­ tete sogar das von ihr sehr empfohlene Almosengeben als ein Mittel, sich Vergebung der Sünden zu verschaffen (Tob. 4,11; 12, 9; Sirach 3, 33; Dan. 4, 24). Daß Jesus dieser pharisäischen Lehre entgegentrat, ist bekannt; die christliche (wenigstens die evangelische) Frömmigkeit erweist den Armen Gutes, nicht um sich selber den Himmel zu verdienen, sondern aus Liebe zu den Brüdern. So hat schon das ATliche Gesetz nach Kräften für die Armen gesorgt.

e. Ausgewählte Gesetze, geordnet nach dem Dekalog2).

I. Erste Eafel. 1. und 2. Gebot. 3. Mose 19,1—2. 3. Mose 24, 15—16. 2. Mose 22, 19. 5. Mose 4, 15—19. 5. Mose 17, 2—7. 2. Mose 23, 32—33. 34, 11—16. 3. Gebot. 5. Mose 18,9—14. 4. Mose 6,22—27. 4. Mose 15,37-41. 2. Mose 13, 8—16. 4. Gebot. 2. Mose 31, 12—17. 5. Gebot. 2. Mose 21,15 u. 17. 3. Mose 19,32. 5. Mose 21,18-21. 5. Mose 15,12—18. 3. Mose 25, 39—55. 2. Mose 22, 27. 5. Mose 17, 14-20.

II. Zweite Eafel. 6. Gebot. 2. Mose 21, 12—14. 16. 18—21. 26—27. 28—32. 5. Mose 22, 8. 4. Mose 35, 9—34. 7. Gebot. 5. Mose 24, 1—4. 8. Gebot. 2. Mose 22, 1—13. 23, 4—5. 5. Mose 25, 13—16. 9. Gebot. 1. Mose 23, 1-3. 6-8.5. Mose 24, 17-18. 5. Mose 19, 15-21. 25, 1—3. 17, 8—11. 10. Gebot. (Liebe gefordert). 3. Mose 19, 18. 2. Mose 22, 21—23. 3. Mose 19, 33—34. 5. Mose 24, 19—22. 23, 25-26. 2. Mose 22, 24—26. 5. Mose 24, 14—15. 20, 10-20. 25,4. 3. Mose 22, 28. 2. Mose 23, 19 b. 5. Mose 23, 6-7. ZusammenfassungundSchlußderGebote. 3. Mose 19 (exkl. V. 19-29). *) Dasselbe wurde ursprünglich nicht von allen Besitzern gleichzeitig gefeiert; daher gab es in jedem Jahr nichtbestellte Felder. 2) 3. Mose 19 ist gleichsam eine Umschreibung des ganzen Zehngebots; die Verse 19—29 mögen aber in der Schule nicht gelesen werden.

62. Gottes Gegenwart im Volke Israel.

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C. Die Gemeinschaft Gottes mit dem DotKe Israel. 62. Gottes Gegenwart im Volke Israel. „Ich will unter ihnen wohnen und will ihr Gott sein." 3. Mose 26,11—12. Ezech. 37, 27. Ofs. 21, 3. „Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das int Wasser unter der Erde ist. Bete sie nicht an, und diene chnen nicht!" 2. Mose 20, 4—5. a. Der Gott, der sich dem Volke Israel unter einem neuen Namen geoffenbart, der mit ihm einen Bund geschlossen und ihm ein Gesetz gegeben hat, ist nun auch mit seinem Volke in eine dauernde Gemein­ schaft getreten. Zwar wird ja Gott auch bei den Israeliten als im H i m m e l wohnend gedacht, aber damit ist schon in der alten Zeit nur der Gedanke der Erhabenheit Gottes über die Welt ausgesprochen, und der Gott des H i m m e l s offenbart sich auf E r d e n. Gott ist nun aber ein Geist und darf nach dem Gesetze nicht unter einem Bilde dargestellt werden; der Bilderdienst war verboten (2. Mose 20,4—5), und wenn nach Salomo's Tode im Reiche Israel der Bilderdienst eingeführt wurde, so hat doch nach dem Exil derselbe keinen Anllang mehr gefunden; die Heiden wunderten sich sehr darüber, daß die Juden von chrem Gotte kein Bild hattenl). Aber darum ist Gott dem Volke nicht ferne, sondern er wird als in seinem Volke wohnend gedacht, zwar noch nicht, wie die Propheten und Christus lehren, im H e r z e n der Gläubigen, aber wohl in der Bundeslade, in der Stiftshütte und im Tempel, also im N a t i o nalheiligtüm. b. Der im Volke Israel wohnende Gott ist nun der König dieses Volkes (2. Mose 15, 18), aber zunächst nur der König Israels, erst nach der Predigt der Propheten auch der König aller Völker (Jer. 10, 7). Der König ist aber nach der israelitischen Anschauung einerseits der Richter, andrer­ seits der Kriegsherr seines Volkes (aber nicht der Oberpriester, wie z. B. bei den Römern). So wird denn Jehovah als der oberste Richter und als der oberste Kriegsherr Israels betrachtet (Ps. 5, 3); Recht wird in seinem Namen gesprochen (5. Mose 1,17), Israels Kriege sind Kriege Jehovahs (2. Mose 17, 8 s). Aber es gibt in Israel zunächst kein ständiges Amt, welches der Träger der Königsgewalt Gottes wäre; bisweilen gibt es gar keine ein» heitliche Leitung des Volkes; wenn es eine solche gibt, so sind die Träger der­ selben nur Stellvertreter Gottes; ein erbliches Königtum ist eigentlich ein Widerspruch gegen das Königtum Gottes^). So ist Israel eine Theo­ kratie^), aber nicht ein hierarchischer Staat; das Priestertum hat den Kultus zu leiten, aber nicht das Volk zu regieren; eine Hierarchie da­ gegen stellt einen besonderen heüigen Stand, den Priesterstand, an die Spitze des Volkes (wie der Papst und die katholische Priesterschaft an der Spitze der Christenheit zu stehen verlangen); im Volke Israel hat fast niemals ein Priester die höchste Gewalt besessen. *) Vgl. Nr. 64 c. 9, 466, Z. 36 s.

2) Vgl. Nr. 32.

3) So zuerst Josephus; vgl. Theol. Encykl?

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63. Die Bundeslade, die Stiftshütte und der Tempel.

c. Das Königtum Jehovahs ist nun zwar im Mosaismus auf das Volk Israel beschränkt, aber dadurch ist der Verkehr mit anbetn Völkern nicht ausgeschlossen: es gilt jedoch noch nicht als Israels Ausgabe, die andern Völker dem Gotte Israels zu unterwerfen: dieselben haben und verehren ihre eigenen Götter: nur im Volke Israel wird das Reich Gottes aufgerichtet. Dagegen wird im Aufträge Gottes alles gebannt d. h. vernichtet, was dem Reiche Gottes in Israel widerstrebt, sowohl die Kanaaniter, welche die Aus­ richtung des Gottesreiches in Kanaan verhindern wollen, als auch alle Frevler gegen die Gmndordnungen des Reiches Gottes; denn das Reich Gottes ist ein Reich des Guten und der Heiligkeit, und dasselbe wird m i t G e w a l t gegen alles Böse aufrechterhalten. 63. Die Bundeslade, die Stiftshütte und der Tempel. „Von dem Gnadenstuhl, der auf der Lade des Zeugnisses ist, will ich mich dir bezeugen und mit dir reden." 2. Mose 25, 22. „In der Hütte des Sttfts will ich mich den Kindern Israel bezeugen, und will unter den Kindem Israel wohnen und ihr Gott sein." 2. Mose 29,43 il 45. 2. Mose 25, 10-22. Ps. 24'). Jer. 3, 16-17. (2. Makk. 2, 1-8.) Röm. 3, 24—26. a. Wenn auch Gott unsichtbar ist und durch kein Bild dargestellt weiden darf, so will er doch im Volke Israel wohnen. Als der sinnbildliche Ort der Gegenwart Gottes gilt aber dem Volke Israel vornehmlich die Bundesl a d e. Für die beiden Gesetzestafeln hatte nämlich Moses auf Gottes Befehl eine Lade angefertigt, in welcher dieselben verwahrt wurden. Diese Lade, die Bundeslade, befand sich bis zu Samuels Zeit in der Stiftshütte, von welcher alsbald die Rede sein wird; später war sie von derselben getrennt, und David brachte sie nach Jemsalem (Ps. 24)'), wo sie dann durch Salomo im Tempel aufgestellt wurde. Mit dem Tempel ist auch die Bundeslade zu Gmnde gegangen, und der neue Tempel hatte keine Bundeslade mehr, wie schon Jeremias (3,16—17) darauf hingewiesen hatte, daß man im vollkommenen Gottesreiche keiner Bundeslade mehr bedürfen werde *). Die Bundeslade (die für sie errichtete Sttftshütte nur um der Bundeslade willen) gilt nun den Israeliten als der sinnbildliche Ort der besonderen Gegenwart Gottes; in ihr sind nämlich die beiden Gesetzestafeln enthüben; im Gesetz aber hat Gott sich dem Volke Israel geoffenbart, und in dieser Offen­ barung ist Gott im Volke gegenwärttg. Der im Gesetze sich ossenbarmde heilige Gott ist aber, wie es scheint, in der Bundeslade auch dargesellt als der a l l m ä ch t i g e Gott in den S i n n b i l d e r n der über dem Dickel schwebenden beiden Cherubsgestalten, welche vielleicht Sinnbilder der die Erscheinung Gottes herbeiführenden Gewitterwolke sind, da sich bekanwlich nach der Naturanschauung der alten Völker Gott besonders im Gewitter offenbart3). Unter Donner und Blitz hat Gott sich auch am Sinai geoffen­ bart; als Nachbild dieser Offenbarung ist auch die Wolkensäule anzusehen in ') Psalm 24, 2 im Mittelalter gedeutet: Quia ipse super Maria (maria) hindavit eam. *2) Vgl. dagegen die spätere Sage und Hoffnung: 2. Makk. 2, 1—8. 3) Vgl. Ps. 18, 11 (und die griechische Ägis).

63. Die Bundeslade, die Stiftshütte und der Tempel.

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welcher Gott sich offenbarend gedacht wird; immer wieder erscheint die Wetter­ wolke als Sinnbild der Gegenwart Gottes auch noch in der Predigt der Pro­ pheten. Aber da Israel seinen Bundespflichten nicht vollständig nachkommt, so kann Gott in Israel nur wohnen, wenn er dem Volke als gnädiger Gott seine Sünde vergibt. Und auch dieser Gedanke, daß der im Gesetz sich offen­ barende Gott ein gnädiger Gott ist, ist an der Bundeslade sinnbildlich ausgedrückt, nämlich in dem D e ck e l der Bundeslade; derselbe heißt vielleicht „Sühngerät", und bei dem größten Feste Israels, am großen Versöhnungstage, wird gerade dieser Deckel vom Hohenpriester mit Opferblut besprengt, um dem ganzen Volke Vergebung seiner noch ungesühnten Sünden zu verschaffen. Auf diesen Deckel als Sühngerät (bei Luther: „Gnadenstuhl") weist auch noch das N. T. hin (Röm. 3, 25), obwohl doch derselbe damals nicht mehr vor­ handen war; aber Paulus findet mit Recht erst in Christus die vollkommene Versöhnung unserer Sünden *). b. Für die Bundeslade wurde nun die Stiftshütte angefertigt, welche dem Israeliten (aber nur um der in ihr aufbewahrten Bundeslade willen) als Stätte der Offenbarung Gottes galt; sie heißt deshalb in der Bibel „das Zelt der Zusammenkunft", nämlich Gottes mit seinem Volke; „StiftsHütte" heißt sie bei Luther, wie eine Kirche eine „Stiftskirche" heißen kann, als eine zu gottesdienstlichem Zwecke gestiftete Hütte (d. h. Zelt). Die StiftsHütte war aber nicht dazu gestiftet — wie Luther den Ausdruck versteht — daß das Volk Israel bei ihr zusammenkomme, sondern sie sollte das Volk Israel, welches kein Büd Gottes besitzen durste, dennoch in sinnenfälliger Weise der Gegenwart seines Gottes versichern — ein niederer Standpunkt des Glaubens, der im Christentum natürlich überwunden ist. Dieses Zelt (oder bewegliche Haus) war aber in folgender Weise gebaut2). In einem Hofe, dem sogenannten V o r h o f, der nur nach Osten einen Eingang hatte, stand das Zelt der S t i f t s h ü t t e. Vor derselben stand im Borhof der Brandopferaltar, an welchem die von den Israeliten in den Vorhof gebrachten Tiere Gott geopfert wurden. Die Stiftshütte, deren Wände aus hölzernen Bohlen bestanden (nur die Ostseite war durch einen Vorhang gebildet), zerfiel in zwei Teile, das Heilige und dasAllerheiligste. Im Heiligen standen der Räucheraltar, auf welchem durch die Priester die Rauchopfer dargebracht wurden (Sinn­ bilder des Gebetes)2), derSchaubrottis ch, auf welchen an jedem Sabbath zwölf Brote als Dank für das von Gott geschenkte tägliche Brot gelegt wurden, und der siebenarmige Leuchter (zunächst ein Sinnbild der sieben alten Planeten — dann aber auch des göttlichen Lichtes: das Volk Israel ist ein von Gott erleuchtetes Volk, die Heiden wandeln in Finsternis). Im Merheiligsten befand sich nur die B u n d e s l a d e. Die Kostbarkeit der zur Stiftshütte verwendeten Stoffe und die Kunst ihrer Bearbeitung machte sie zu einer würdigen Wohnung Gottes. Aber Y) Vgl. über diese Stelle die Glaubenslehre2, Nr. 44 und 65. 2) Auf das Bauwerk und feine Symbolik im einzelnen einzugehen, liegt der Schule fern; der Lehrer vergleiche den Artikel „Stiftshütte" in R i e h m s Handwörterbuch und in der Theol. Encykl.2 (93b. 19). 3) Vgl. aber auch Theol. Encykl? 16, 406, Zeile 1—24.

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63. Die Bundeslade, die Stiftshütte und der Tempel.

jeder Israelit.durfte Gott nur soweit nahen, als ihm Gottes Gnade dies ge­ stattete. Das Volk durfte zwar in den Vorhof eintreten, aber der Priester brachte das Opfertier zum Altar: nur die Priester durften das Heilige betreten; das Allerheiligste durfte nur der Hohepriester, und auch nur einmal im Jahre, betreten. Für das Volk gab es also noch keine voll­ kommene Gemeinschaft mit Gott; so wies die Stiftshütte sinnbildlich auf die Zeit hin, wo Gott mit den Menschen in eine vollkommene Gemeinschaft treten werde (Offenb. 21, 3). c1). Wenn nun die ältere Zeit die im Priestergesetz beschriebene Stiftshütte als wirklich vorhanden betrachtete, so kamen neuere Forscher zu dem Ergebnis2), daß die im Priestergesetz beschriebene Stiftshütte nicht als das U r bild, sondern als das Nach bild des jerusalemischen Tempels anzusehen sei, welches in Wirklichkeit gar nicht existiert habe. Was das Deuteronomium fordere, daß der Kultus an einen einzigen Ort gebunden sei, das setze das Priestergesetz als vorhanden voraus, indem es als das einzige rechte Heiligtum der alten Zeit die in der alten Zeit gar nicht vorhandene Stiftshütte betrachte. Aber wenn es auch eine solche Stifts­ hütte nicht gegeben habe, wie das Priestergesetz sie zeichnet, so habe es doch, wie auch W e l l h a u s e n zugibt3), ein Zelt für die Bundeslade gegeben, nur einfacher, wie dasselbe in den älteren Quellenschriften des Pentateuchs und in den älteren Geschichtsbüchern vorausgesetzt werde — das ist z. B. auch die Meinung von R i e h m4) und Kittel3), welche in dieser Beziehung mit W e l l h a u s e n übereinstimmen. Die von Moses für die Bundeslade errichtete einfache Stiftshütte war in der Zeit Josuas in S i l o aufgestellt; aus der späteren Zeit fehlt uns jede sichere Kunde über den Ort, wo die Stiftshütte sich befunden habe; die Bundeslade war bekanntlich von den Philistern erbeutet und nicht mehr in die Stiftshütte zurückgebracht worden; die Stiftshütte scheint in dieser Zeit bald hier bald da gestanden zu haben, vielleicht auch im Kriege zerstört und neu errichtet worden zu sein. Als David die Bundeslade nach Jerusalem brachte, stellte er sie zwar in einem Zelte auf, aber, wie es scheint, in einem von ihm selbst neu errichteten Zelte, so daß wir annehmen müssen, daß die alte (bez. auch die an deren Stelle getretene neue) Stiftshütte nicht mehr vorhanden war. Wenn nun David in einer Zeit, wo die Israeliten nicht mehr in Zelten wohnten, für die Bundeslade wieder ein Z e l t (nicht ein H a u s) errichtet hat, so muß man wohl annehmen, daß dieselbe nach der Überlieferung auch früher in einem Zelte untergebracht gewesen sei; daß aber David das von ihm errichtete Zelt möglichst kost­ bar eingerichtet hat, wie es für das Heiligtum Gottes sich ziemte, versteht sich von selbst. Wenn nun die Berichte über die mosaische Stiftshütte an Schwierig­ keiten leiden, welche die Forscher nicht beseitigen können, so kann es nicht für unwahr­ scheinlich gehalten werden, daß die im 2. Buch Mose gegebene Beschreibung zwar in den für die religiöse Anschauung wesentlichen Punkten der mosaischen Stiftshütte entspricht, aber in anderer Beziehung nach der d a v i d i s ch e n Stiftshütte oder dem salomonischen Tempel entworfen ist. So hat es also allerdings schon in der alten Zeit eine Stiftshütte gegeben, aber nicht eine so kostbare, wie das Priestergesetz sie zeichnet, sondern eine viel einfachere, 0 Nur für den Lehrer. 2) Vgl. Wellhausen, Proleg. A, 1. 3) Prolegomena4 S. 40, oben. 4) Handwörterbuch s. v. 6) Geschichte der Hebräer I, S. 215 und Theol. Encykl? 19 s. v.

63. Die Bundeslade, die Stiftshütte und der Tempel.

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welche im Laufe der Zeit wohl mehrmals erneuert worden ist, und welche in Wirk­ lichkeit nicht, wie das Priestergesetz fordert und die Chronik annimmt, das e i n z i g e Heiligtum des Volkes Israel gewesen ist.

d. 1) Ms Salomo in Jerusalem statt der bisherigen Sttftshütte für die Bundeslade einen Tempel baute, nahm er für diesen Bau die Stiftshütte zum Vorbilde -); nur wurde der Tempel noch einmal so groß und mit größerer Pracht gebaut; unseren Kirchen gegenüber blieb freilich auch der Tempel ein Leines Gebäude, etwa einer Dorfkirche entsprechend (15 m hoch, 10 m breit und 30 m lang). Auch der Tempel bestand aus dem Allerheiligsten (von gleicher Länge, Breite und Höhe, wie bei der Sttftshütte, nur mit zweifacher Ausdehnung der Maße) und dem Heiligen. An der Ostseite, wo der Eingang war, befand sich eine Vorhalle, an deren Front zwei mächtige Säulen standen. Im Allerheiligsten stand auch hier die Bundeslade zwischen zwei Cherubsgestalten; im Heiligen ebenso der Rauchopferaltar, der Schaubrotttsch und (statt des einen siebenarmigen) zehn goldene Leuchter. Um den Tempel zog sich ein doppelter Vorhof; im innern Vorhof stand der Brandopferaltar und das eherne Meer, ein großes Becken mit Wasser, welches die Priester gebrauchten, um sich vor dem Beginn der Dienstleistungen Hände und Füße zu waschen; der äußere Vorhof war noch von allerlei Nebengebäuden um­ geben. Die Sttftshütte (ohne die Bundeslade) wurde in den Obergemächern des Tempels untergebracht. e. Der Tempel Salomos hatte über 400 Jahre bestanden, als er bei der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar vernichtet wurde. Nach dem Exil wurde wieder ein Tempel gebaut, aber viel dürftiger als der Salomonische, wie es den Mitteln der ärmlichen jüdischen Kolonie entsprach. Ein dritter Tempel wurde später durch Herodes d. Gr. gebaut, viel größer und schöner als der Salomonische gewesen war, und mit verschwenderischer Pracht aus­ gestattet. Diesen Tempel hat Jesus betteten, und von ihm hat er geweissagt, daß kein Stein auf dem andern bleiben werde; diese Weissagung ist im Jahre 70 n. Chr. in Erfüllung gegangen. Auf der Stätte des zerstörten Tempels wurde im Jahre 136 vom Kaiser Hadrianus ein Jupitertempel errichtet. Jetzt steht auf dem eigentlichen Tempelplatze eine große Moschee (der sogen. Felsen­ dom) und südlich davon noch eine zweite Moschee. Das jüdische Volk besitzt seit dem Jahre 70 keinen Tempel mehr, und deshalb kann es auch keine Opfer mehr darbttngen, die ja in der späteren Zeit nur noch im Tempel dargebracht werden durften; der heuttge jüdische Gottesdienst vollzieht sich in den Syn­ agogen, den Versammlungshäusern der Gemeinde, welche nach dem Exil allmählich aufgekommen sind3). Den Synagogen, nicht dem Tempel, ent­ sprechen unsere heutigen Kirchen, in welchen sich die feiernde Gemeinde zum Gottesdienste versammelt; ein äußeres Haus Gottes, welches als Gottes Wohnstätte betrachtet würde, besitzt die Christenheit nicht4). *) Vgl. Nr. 35 c. 2) Vgl. Brugsch, Steininschrift S. 294 s., wo auf die Übereinstimmung des Salomonischen Tempels mit den ägyptischen Tempeln hin­ gewiesen ist. 3) Zuerst erwähnt in Psalm 74, 8 (wahrscheinlich um 350 gedichtet). 4) Das gilt allerdings nur von der evangelischen Kirche; die Katholiken lassen wieder, wie Juden und Heiden, angeblich in ihren Kirchen die Gottheit (in der Hostie) leibhaftig wohnen.

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64. Der Höhendienst, der Bilderdienst und der Götzendienst :c. 64. Der Höhendienst, der Bilderdienst und der Götzendienst; Jerusalem und der Tempel.

a. 2. Mose 20, 24. 1. Kön. 3, 2. 3. Mose 17, 3—9. 2. Kön. 23,1—20. b. Ps. 27, 4. 84, 11. Mal. 3, 1. 1. Kön. 8, 27. Apg. 7, 47—50. Joh. 4,19—25. Matth. 23,37—24, 2. 1. Kor. 3,16. 2. Kor. 6,16. Gal. 4,25 s. Offenb. 21, 2—4. c. 2. Mose 20, 4-5 a. 5. Mose 4, 15—18. d. 2. Mose 20, 3. Jes. 44, 6-20. Ps. 115. Jer. 2, 4-28. a. Stistshütte und Tempel waren das National Heiligtum des Volkes Israel, aber der Gottesdienst war in der alten Zeit nicht an das Heiligtum des Volkes gebunden, denn die ältere Gesetzgebung weiß ja noch nichts von dem Gebote der E i n h e i t der Kultusstätte, da es 2. Mose 20, 24 heißt: „An jeglichem Orte, woselbst ich meines Namens Gedächtnis stiften werde, will ich zu dir kommen und dich segnen." Und so haben die Israeliten von der Zeit der Patriarchen an bis zu den Königen Hiskia und Josia unbefangen auf den „Höhe n" ihren Gottesdienst gehalten, auf denen ja auch die anderen semittschen Völker ihre im Himmel wohnend gedachten Götter besonders gern verehrten. Josua opferte auf dem Berge Ebal, Samuel zu Ramah, David zu Bethlehem, zu Hebron und auf Zion, Elia auf dem Karmel, und 1. Kön. 3,2 heißt es (ohne tadelnde Bemerkung): „Das Volk opferte auf den Höhen, denn damals war noch kein Haus dem Namen Jehovahs gebaut." Auch als Salomo den Tempel gebaut hatte, wurde in dieser Beziehung nichts geändert; der Tempel wurde allmählich das vornehm st e Heiligtum be§x Volkes Israel, aber er war nicht das einzige Heiligtum, nicht einmal in dem späteren Reiche Juda. Erst Hiskia begann damit, und Josia setzte es durch (der Forderung des in dieser Zeit entstandenen 5. Buches Mosis entsprechend), daß der Höhendienst gänzlich beseitigt und der Tempel die einzige Kultusstätte nicht bloß für den National-, sondem für jeglichen Gottesdienst wurde. Da­ mit kam erst zur Geltung, was die nachmosaische Gesetzgebung (5. Mose 12. 3. Mose 17) forderte, daß der e in e Gott Israels auch nur an e i n e m Orte verehrt werdet). Daß man später den früher allgemein geübten und als nicht verboten bettachteten Höhendienst sowohl in der Gesetzgebung verbot als auch mit Ge­ walt ausrottete, das hatte in der vielfachen Ausartung dieses Dienstes zum Bilderdienste, ja, zum Götzendienste, aus welchem ja auch bei den Israeliten die Gottesverehrung auf den Höhen herstammte2), seinen Grund, und durch Josia wurde der Höhendienst wirklich unterdrückt, und nach dem Exil ist er nicht wieder aufgelebt. Aber das berechtigte Verlangen des Menschen nach Verehrung Gottes nicht bloß an einem, sondem an jedem Otte fand in anderer Weise seine Befriedigung. Vielleicht schon im Exil, wo es keinen Tempel gab, waren als Orte des Gottesdienstes (abgesehen vom Opfer) die S y n *) Mezger, Hilfsbuch III, S. 13, Anm. 5: „Es wäre wahrlich an der Zeit, daß solche Zeugnisse der Bibel (Wer die Berechtigung des Höhendienstes) mit voller Unmnwundenheit in höheren Schulen vorgelegt und die Folgerungen daraus gezogen würden." -) Vgl. K i t t e l, Geschichte der Hebr. II, S. 88-90.

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agogen entstanden, und nach der Rückkehr sind neben dem Tempel an allen Orten, sogar in der Heidenwelt, für die Juden Synagogen errichtet worden; damit war der alte Höhendienst in besserer Weise wieder erstanden. Seit der Zerstörung des Zehnstämmereiches und seit der Unterdrückung des Höhenkultus durch Josia galt nun den frommen Israeliten, auch den Propheten des Volkes, Jerusalem mit dem Tempel als der eigentliche und alleinige Wohnsitz Jehovahs, und dies Ansehen Jemsalems war seitdem für die Dauer befestigt; seitdem galt Jemsälem allein als der Ort, den der Herr sich erwählt habe'). Wie das Gottesreich, so könne auch Jemsälem und der Tempel nicht zerstört werden, das war fortan der Glaube Israels, selbst der Propheten; Jesus und seine Jünger haben es erfahren, was es heiße, von der Z e r st ö r u n g des Tempels zu sprechen (Matth. 26, 61. Apg. 6, 13 s. 21, 28s). Daher Lagen die Frommen, wenn sie von Jerusalem und dem Tempel fern sind, über ihre Entsemung von G o t t (Ps. 27,4. 84,11. 42, 2 s. 43, 3 s). Auch die Zerstömng Jemsalems hat diesen Glauben nicht zerstört; sehnsüchtig dachten die Verbannten an^ Jerusalem (Ps. 137), und sie glaubten an die Wiederherstellung der heiligen Stadt und des Tempels^). Aber als nun beides erfüllt und das vollkommene Gottesreich doch noch nicht erschienen war, da hoffte man von der Zukunft, daß der Herr in vollkommener Offenbamng zu seinem Tempel kommen und alle Weissagungen erfüllen werde (Mal. 3, 1). Die Christenheit besitzt kein äußeres Haus Gottes, welches als Gottes Wohnstätte betrachtet würde, und sie ist damit erst dem Worte Salomos voll­ kommen gerecht geworden, welches dieser König bei der Tempelweihe ge­ sprochen hat: „Der Himmel und aller Himmel Himmel mögen dich nicht fassen; wie sollte es denn dies Haus tun, das ich gebaut habe?" (1. Kön. 8,27; vgl. Apg. 7, 47—50.) Die Christenheit betet weder ausschließlich in Jemsälem noch in Garizim, sondem aller Orten betet sie zu Gott in Geist und Wahrheit (Joh. 4, 19—25). Mochte auch Jemsälem mit dem Tempel zerstört werden (Matth. 23, 37—24, 2), der wahre Tempel Gottes bestand weiter, denn der wahre Tempel Gottes ist die Christenheit: „Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid, und [toeil] der Geist Gottes in euch wohnet?" (1. Kor. 3, 16; vgl. 2. Kor. 6,16.) Die Christenheit ist schon jetzt — oder sie s o ll es wenig­ stens sein, und sie wird es dereinst vollkommen sein — „die heilige Stadt, das neue Jemsälem, von Gott aus dem Himmel herabgefahren, die (wahres Hütte [Stiftshütte] Gottes bei den Menschen, und [beim] bei ihnen wird Gott sein, und sie werden sein Volk sein, und er wird ihr Gott sein" (Off. Joh. 21, 2—4; vgl. Gal. 4, 25 s). b8). Das nachexilische Judentum war davon überzeugt, daß Gott nur (meinem *) So hatte das Deuteronomium sich ausgedrückt, ohne Jemsälem zu nennen. 2) Daß aber nach der Rückkehr aus dem Exil die Samariter sich einen besonderen Tempel auf dem Garizim, und daß Juden, wie wir jetzt wissen, in Elephantine (bei Assuan, in Ägypten) sich einen besonderen Tempel gebaut haben, erschien den Juden im h. Lande als ein Frevel. Vgl. Lehmann-Haupt, Israel (1911), S. 175 bis 181. Auch daß, als Antiochus den Tempel in Jemsälem entweiht hatte, ein Ver­ wandter des Hohenpriesters nach Ägypten floh und in Leontopolis einen neuen Tempel baute, wurde von vielen Juden nicht gebilligt. 8) Wellhausen, Prolegomena A, I. — Nur für den Lehrer. 14 Hetdrtch, Heilige Geschichte. 3. Stuft.

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Orte, nämlich in Jerusalem, in rechter Weise angebetet werden könne und dürfe. Aber diese Einheit des gottesdienstlichen Ortes hat weder tatsächlich noch rechtlich von Anfang an bestanden, sondern sie hat sich erst im Laufe der Zeit herausgebildet. Wie das geschehen ist, zeigt einerseits die historische Überlieferung, und andererseits die drei Schichten der im Pentateuch enthaltenen Gesetzgebung. a. In der älteren Zeit haben nicht bloß die gewöhnlichen Israeliten, sondern auch die Vertreter des Volkes an den verschiedensten Orten Opfer dargebracht und Gottesdienst abgehalten, und nirgends wird das als eine Sünde bezeichnet1). Als der Tempel gebaut war, galt es zwar s p ä t e r als ein Unrecht, daß auch noch an anderen Orten Gottesdienst gehalten wurde, aber faktisch war weder im Reiche Israel, noch auch nur im Reiche Juda der Tempel der einzi g e Ort des Gottes­ dienstes; von allen späteren Königen wird in den geschichtlichen Büchern tadelnd bemerkt, daß sie die Höhen nicht abgeschafft haben. Aber dieser Tadel entspricht erst dem späteren Standpunkt der Verfasser der betreffenden Geschichtsbücher, nicht aber der Auffassung der älteren Zeit, welche keine Sünde zu tun glaubte, wenn sie auch an anderen Orten Gott verehrte; zwar im fremden Lande könne man Gott nicht verehren, wie man damals meinte, aber in Kanaan durfte Gott, wie man meinte, überall verehrt werden (2. Kön. 5, 17). Diesem geschichtlichen Stand­ punkte entspricht die Gesetzgebung des Bundesbuchs (2. Mose 20, 24—26), wenn sie erklärt: „An jedem Orte, wo ich meinen Namen ehren lasse, will ich zu dir kommen und dich segnen." ß. Wenn nun schon früher der Tempel in Jerusalem (obwohl nicht das einzige Heiligtum des Volkes) die anderen Heiligtümer an Ansehen überstrahlt hatte, so stieg sein Ansehen erst r e ch t, als das Reich Israel im Jahre 722 zerstört wurde, und noch mehr, als Sanheribs Angriff auf Jerusalem vereitelt wurde: seit­ dem glaubte man sogar, Jerusalem und der Tempel könnten niemals zerstört werden. Aber die anderen Heiligtümer bestanden auch damals weiter neben dem Tempel von Jerusalem. Wenn nun schon von H i s k i a berichtet wird, daß er versucht habe, die anderen Heiligtümer zu beseitigen, so ist doch von einem Erfolge dieser Maßregel in der Wirklichkeit nichts zu spüren; erst unter dem König I o s i a ist wirklich die Be­ seitigung der anderen Heiligtümer ernstlich gefordert (in der Gesetzgebung des Deutero­ nomiums Kap. 12) und erstrebt worden (621). Zwar ihre Beseitigung ist auch da­ mals noch nicht völlig gelungen, aber es stand doch seitdem als Forderung fest, daß der Tempel zu Jerusalem das einzig berechtigte Heiligtum des jüdischen Volkes sei. 7. Daß nun die anderen Heiligtümer auch wirklich beseitigt wurden, das ist erreicht worden durch den im Jahre 586 erfolgten Untergang des Reiches Juda und das darauf folgende babylonische Exil. Der Heimat völlig entfremdet, kehrte aus dem Exil ein Volk zurück, welchem es völlig in Fleisch und Blut übergegangen war, daß der wiederhergestellte Tempel in Jerusalem das einzige rechte Heiligtum des jüdischen Volkes sei. Diesem Standpunkte der nachexilischen Zeit, welche es als selbstverständlich betrachtet, daß es nur ein einziges Heiligtum geben könne, ent­ spricht das Priestergesetz, wenn es v 0 r a u s s e tz t, daß nur an e i n e m Orte, näm­ lich in der Stiftshütte, Gott von jeher angebetet worden sei, und natürlich auch nur angebetet werden dürfe. x) Vgl. I.Kön. 3, 2: Das Volk opferte auf denHöhen, denn bis dahin war noch kein Haus dem Namen des Herrn gebaut.

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Die Richtigkeit der hier angegebenen Tatsachen wird allgemein anerkannt; nur über den aus denselben gezogenen Schluß, daß das Priestergesetz als die j ü n g st e Gesetzgebung anzusehen sei, sind die Gelehrten nicht einig, wie anderwärts darge­ legt ist1).

c. Dagegen war schon im Zehngebot der Bilderdienst untersagt (2. Mose 20, 4—5); der geistige Gott sollte nicht unter einem Bilde verehrt werden, damit nicht das Bild an die Stelle Gottes trete. Ein solches Verbot erschien dem Gesetzgeber nötig, da die Hebräer aus ihrer Urheimat den Bilder­ dienst (2. Mose 19) mitgebracht hatten und sogar bis zu Davids Zeit beibehielten (1. Sam. 19,13); erst durch Josia wurden alle Bilder vernichtet (2. Kön. 23, 24). Zu diesen nationalen Gottesbildern kam nun (durch die Berührung mit Ägypten, wie man gewöhnlich annimmt2)) noch die Verehmng Gottes unter dem Bilde des Stiers, vorübergehend schon zu Mosis Zeit, dauemd durch Jerobeam, welcher in den beiden von ihm errichteten Heiligtümern Jehovah unter dem Bilde eines Stiers verehren ließ3). Dieser Bilderdienst, die „Sünde Jerobeams", hat sich im Reiche Israel bis zum Untergange des Staates, ja, noch daMer hinaus, erhalten^). In der späteren Zeit galt nicht bloß ein Bild der Gottheit, sondern jedes lebendigen Wesens als verboten3), und das Kaiser­ bild auf den Münzen und den Fahnen entheiligte nach jüdischer Meinung das heilige Land schon als Bild — abgesehen von der Verehrung des Kaisers als Gott. d. Vor allem aber war im Zehngebot der G ö tz e n d i e n st untersagt, und auch dies Gebot war für die Israeliten sehr notwendig. Wenn sich auch einst ihre Stammväter von den andern Semiten gerade deshalb abgesondert hatten, weil sie nicht mit ihnen Heiden werden, sondern den Glauben an den einen Gott festhalten wollten (Jos. 24, 2—3), so sind sie doch immer wieder, durch die Berührung mit den andern Völkern dazu verführt, in Götzendienst verfallen. Am nächsten lag den Israeliten die Verehrung des von den Kanaanitem, in deren Lande sie sich ja ansässig gemacht hatten, verehrten Baal (sprach­ lich = Bel, dem Hauptgotte der Babylonier und Assyrer), mit welchem Namen (= Herr) alle Nordsemiten die von ihnen verehrte Gottheit bezeichneten3).* Baal ist aber (wenn auch nicht ursprünglich, so doch später vorwiegend) der Sonnengott, und als solcher sowohl segenspendend7) wie auch verderben1) Über die Frage nach dem Alter des Priestergesetzes vgl. Nr. 56. 2) Vgl. jedoch Nr. 20. — Die alten Israeliten kamen ja aus Ägypten, und Jerobeam war als Flüchtling daselbst gewesen. 3) Daß wir von einem goldenen Kalbe sprechen, beruht auf einem Worte des Propheten Hosea (K. 8, 6), welcher das Gottesbild, den S t i e r, spottend ein Kalb nennt. 4) Etwas den Bildern Ähn­ liches sind die auch im israelitischen Kultus üblichen Steinsäulen und Baumpfähle (letztere bei Luther: „Hain"), Nachbildungen der früher als Sitz der Gottheit betrachteten heiligen Steine und Bäume. 6) So noch heute im Islam. 3) In demselben Sinne bezeichneten die Moabiter ihren Gott als König (Melech); die Juden aber sprachen dieses Wort später M o l e ch, indem sie ihm die Vokale des Wortes Boscheth (= Schande) gaben, was man dafür lesen sollte; unsere Aussprache des Wortes „Molo ch", die schon in der griechischen und in der lateinischen Bibel üblich ist, bemht darauf, daß man den unbetonten Vokal der zweiten Silbe des Wortes dem der ersten Silbe gleichgemacht hat. — Vgl. Anm. 2 auf S. 124. ') Vgl. die phönicischen Eigennamen „Hannibal" d. h. Baal ist gnädig

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bringend, indem er mit der Glut seiner Strahlen alles Leben ertötet. Um seinen Zom zu versöhnen, brachte man ihm und den ihm entsprechenden anbetn Göttern sogar Kinderopser*l); die gewöhnlichen Opfer waren natür­ lich Tieropfer; die hauptsächlichsten Orte seiner Verehrung waren die Höhen, als natürliche Märe für den Gottesdienst. Da das Wort Baal ursprünglich ein Appellativum ist, welches „Herr", „Besitzer" (nämlich des Landes) bedeutet, so begreift es sich leicht, daß der Gott je nach dem Orte seiner Verehrung und nach der ihm zugeschriebenen Bedeutung verschiedene Beinamen erhielt, so daß von verschiedenen Göttern dieses Namens die Rede ist. Ws ein solcher wird im A. T. namentlich der in Ekron verehrte Fliegenbaal erwähnt (2. Kön. 1)*), der als „Baal Sebub" (Belzebub) in der späteren Zeit (wie das N. T. zeigt) als ein b ö s e r Gott, ja, als das H a u p t der bösen Mächte betrachtet wurde *). Diese ver­ schiedenen Gestalten des Baal sind unter den „B a a 1 i nt" (Plural von Baal) der Lutherbibel zu verstehen. Als Gemahlin des Baal wurde Astarte verehrt ‘). Die Verehrung des Baal war im^ Reiche Israel besonders durch Jsebel gefördert worden; auch als das Königshaus des Ahab ausgerottet wurde, bestand dieser Götzendienst weiter. Erst nach dem Exil hat das jüdische Volk diesen Götzendienst, wie den Götzendienst überhaupt, aufgegeben. e. Gegen den Götzendienst vor allem, aber auch gegen den Bilderdienst und in der späteren Zeit auch gegen den zum Bilder- und Götzendienst ent­ arteten Höhendienst, richten sich nun die Strafandrohungen namentlich des späteren Gesetzes und die Predigt der Propheten. Im Volke Israel soll Gott wohnen, aber nicht die Götzen; die Gemeinde soll die Braut oder Gattin ihres Gottes sein, nicht als Ehebrecherin einem andern Gotte sich zuwenden — unter diesem Büde wird das Verhältnis zwischen Gott und Israel im A. wie int N. T. besonders oft dargestellt. Aber es hat lange gedauert, ehe die Mahnung der Propheten gefruchtet hat; erst durch die Berührung mit den Heiden im Exil ist die Neigung zum Götzendienste wie zum Bilderdienste im (entsprechend dem hebräischen Namen Johannes d. h. Jehovah ist gnädig) und Hasdrubal d. h. Hilfe des Baal (entsprechend dem hebräischen Namen Elieser). l) Z. B. in Karthago dem dem Baal entsprechenden Moloch noch kurz vor der Zerstörung der Stadt (146 vor Chr.); es war also vom Standpunkt der Weltgeschichte aus gut, daß Hannibal nicht die Römer besiegt hat — sonst wäre das Kinderopfer auch in Italien wieder eingeführt worden: in Afrika hat erst der Kaiser Liberias das Kinderopfer unterdrückt. — Wenn Abraham, wie die Kanaaniter, unter denen er wohnte, seinen Sohn ebenfalls opfern wollte, so hat er es doch nicht getan; dagegen hatIephtha allerdings seine Tochter geopfert. — Warum es im A. T. in der Regel heißt, daß die Kinderopfer dem ammonitischen Moloch dar­ gebracht worden seien, wissen wir nicht zu erklären, da ja solche Opfer auch den Göttern der verwandten Völker dargebracht wurden. Aber die Kinder wurden nicht, wie man nach einer jüdischen Bolkssage annahm, lebendig in die glühend gemachten Arme des Götzenbildes gelegt, sondern (wie jedes Brandopser) zuerst geschlachtet und dann erst verbrannt. Diese Opfer fanden aber bei den Israeliten vornehmlich statt in dem Tal Hinnom bei Jerusalem. Dieses später verabscheute Tal Hinnom (hebr.: Ge­ hinnom) ist dann zur Bezeichnung des Ortes der Verdammten geworden (griechisch: Geenna). a) Weil er die Fliegenplage entweder herbeiführt oder beendet. *) Im R. T. lautet dieser Name vielleicht „Belzebul"; vgl. Theol. Enchkl? s. v. *) Vgl. Theol. Euch kl? s. v. Astarte.

65. Die heiligen Zeiten.

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Volke Israel völlig unterdrückt worden; nach dem Exil „eifern die Juden um den einen Gott, wenn auch mit Unverstand", und gerade ihr früher oft preisgegebener Glaube an den einen Gott, derunterkeinemBilde dargestellt werden dürfe, war die den Heiden in der griechisch-römischen Zeit seltsam erscheinende Eigentümlichkeit der Juden, für welche diese selbst den Tod zu erleiden bereit waren.

65. Die heiligen Zeiten»). 2. Mose 20, 8-11 (B). 5. Mose 5, 12—15 (D). 2. Mose 31, 12—17 und 35, 2-3 (P). Ps. 92. 2. Mose 23,14-17 (B). 3. Mose 23 (P). 25, 1—7 und 18—22. 25, 8—17 und 23—55 (P). Das Passahsest: 2. Mose 12, 1—13, 10 (P). Der große Versöhnungstag: 3. Mose 16 (P)ä). Wenn Gott in seinem Volke wohnen will, so soll ja das g a n z e Leben des Volkes ihm geweiht sein, und dieser Gedanke ist auch schon im Judentum erfaßt worden. Wer wie es für Gott trotz seiner Mlgegenwart einen b e sonderen Ort gibt, wo er in Israel wohnt, das Nationalheiligtum, so gibt es auch, obwohl dasganzeLebendes Menschen ihm geweiht sein soll, in der Woche einen besonderenTag, den Sabbath, an welchen sich die Feier des siebenten Jahres und des fünfzigsten Jahres anschließen, und im Jahre ebenfalls besondere Feste, welche Gott besonders geweiht sind. Diese besonderen heiligenZeitendes Volkes Israel sollen im folgen­ den dargestellt werden. a. Schon bei ihrer Trennung von ihren Stammgenossen, den andem Semiten, haben die Israeliten, wie andere Überlieferungen der Vorzeit, so vielleicht auch die siebentägige Woche und vielleicht auch schon eine Aus­ zeichnung des siebenten Tages als eines Ruhetages') in die neue Heimat mitgenommen: aber von einer Sabbathfeier im Sinne der Juden haben diese Völker trotzdem nichts gewußt. Mer auch die Israeliten haben vor Moses den Sabbath noch nicht gefeiert *), wie schon die alten Lehrer der Kirche be­ merkt haben mit dem Hinweis darauf, daß also der Sabbath nicht als eine unabänderliche Einrichtung auch noch für die Kirche gelten dürfe. Erst durch M o s e s ist die Sabbathfeier für das Volk Israel zum Gesetz geworden. Seit­ dem war der Sabbath ein dem Herm angehöriger, also heiliger Tag, an welchem das Volk sich aller Arbeit enthalten sollte, um Gott zu Ehren zu mhen. „Der Stillstand der Geschäfte wird aber nicht, wie man gewöhnlich meint, gefordert, damit Zeit gewonnen werde für religiöse Erbauung und Gottesdienst; nicht Gottesdienst wird gefordert, sondern Ruhe für Gott oder Gott zu Ehren. Israel soll seine Gottangehörigkeit wie in anderen Dingen so auch in der l) Die Feiertage sind bei dieser Stellung des Abschnittes als Tage betrachtet, an denen Gott mit dem Menschen in Gemeinschaft tritt; es wäre natürlich auch berechtigt, dieselben als Tage zu betrachten, an denen der Mensch mit Gott in Gemeinschaft tritt. Ich habe die erstere Betrachtung vorgezogen, um die heiligen Zeiten neben die heiligen Orte stellen zu können, welche ebenfalls von dem Stand­ punkte aus dargestellt sind, daß an ihnen G o t t mit dem Menschen in Gemeinschaft tritt. ') B = Bundesbuch, D — Deuteronomium, P --- Priestergesetz. l * Vgl. 3) jedoch Riehm, Handwörterbuch' s. v. Sabbath, Nr. 1 und Theol.Encyll? Band 17 s. v. Sabbath und Band 21 s. v. Woche. 4) Für das Hirtenleben paßt auch das Sabbathgesetz nicht, da dasselbe keinen derartigen Ruhetag gestattet.

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65. Die heiligen Zeiten.

Sphäre der Zeit zum Ausdruck bringen; die anderen Tage gehören der Arbeit, der Sabbath gehört Gott. Insofern ist die Sabbathfeier ein Symbol, aber das geistigste Symbol dieser Religion, und mehr als Symbol, denn diese äußere Darstellung der Gottangehörigkeit der Gemeinde durch Ruhe für Gott ist zu­ gleich ein sich zu Gemüte führen dieser Gottangehörigkeit, und durch ihre regelmäßige Wiederkehr eine beständige Erinnerung des Israeliten an seine Bestimmung, Gott ganz anzugehören; daher ist sie recht eigentlich ein Zeichen des Grundgedankens des mosaischen Bundes"J), und darum wird auch die Entheiligung des Sabbaths mit dem Tode bestraft. Die Sabbathfeier wird aber in der älteren Fassung des Dekalogs (2. Mose 20) damit begründet, daß auch Gott, wie die (erste) Schöpfungs­ geschichte es darstellt, am siebenten Tage von seinem Schaffen geruht habe. Die jüngere Fassung des Dekalogs (5. Mose 5) begründet die Sabbathfeier durch die Hinweisung auf die Ausführung Israels aus Ägypten; durch dieselbe hat sich nämlich Gott das Volk Israel zum besonderen Eigentum erwählt, und die Sabbathfeier ist nun dazu bestimmt, daß das Volk sich immer aufs neue Gott zum Eigentum ergebe. Zur Sabbathfeier vereinigte sich aber das Volk am Nationalheiligtum, oder es nahm, wer davon fern war, wenigstens im Geiste an dieser Feier Anteil; als die Synagogen entstanden, konnte sich jeder Israelit an der ge­ meinsamen Sabbathfeier beteiligen, wie das ja noch heute bei den Juden mit lobenswertem Eifer geschieht. So hatten die Juden an ihrem Sabbath einen Tag der Freude, und der 92. Psalm, der nach der Überschrift für den Sabbath gedichtet ist, rühmt mit Recht, wie köstlich es sei, den Herrn zu preisen, was ja besonders am Sabbath geschehen soll. Aber aus diesem Tag der Freude haben später die Pharisäer einen Tag der Qual gemacht, indem sie mit ihren peinlichen Gesetzesvor­ schriften jede Arbeit, auch die geringste und unschuldigste, verboten; gegen diese Gesetzesauslegung hat Jesus immer aufs neue gekämpft. Die christliche Kirche hat an die Stelle des Sabbaths den Sonntag gesetzt, und diesen Freuden­ tag hat zwar die Kirche Englands sich wieder zu einem Tage der Qual gemacht, das deutsche Volk ist aber auf diese engherzige Anschauung nicht eingegangen. Für den Christen ist der Sonntag aber nicht bloß ein Tag der Ruhe und der Gemeinschaft mit Gott in einem Leben der Arbeit mitten in der Welt, sondern auch ein Hinweis auf die ewige Ruhe, die für das Volk Gottes im Himmel vorhanden ist (Hebr. 4, 9—11). b. An die Feier des siebenten Wochentages schließen sich die Feier des siebenten und des fünfzigsten Jahres, des Sabbathjahres und des Jubeljahres, an. Nachdem das Land sechs Jahre getragen hatte, sollte es im siebenten Jahre brach liegen, und was von selber wuchs, sollte den Armen und den Tieren des Feldes gehören; auch sollte den Armen das geliehene Geld im Sabbathjahr nicht abgefordert werden. Nachdem aber das Sabbathjahr siebenmal gefeiert worden war, sollte am Schluß der ganzen Periode das fünfzigste Jahr, das Jubeljahr oder *) Dillmann, Kommentar zu 2.Mose 20.

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Halljahr, gefeiert werden*). Auch im Jubeljahr sollte der Acker nicht bestellt werden; außerdem aber sollten die Leibeigenen freigelassen und jedes verkaufte Grundstück an die Familie des ursprünglichen Besitzers zurückgegeben werden. In diesen Festen war also der Gedanke, welcher der Sabbathfeier zu Grunde lag, noch stärker ausgesprochen: es ist eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes, welche dasselbe zur Gemeinschaft mit Gott führt. Außerdem aber sollte sogar (im Jubeljahr) alle Not vom Volke genommen und alles wieder in den gottgemäßen Zustand zurückgeführt werden. Daß nun diese idealen Forderungen des Gesetzes nicht wirklich durch­ geführt worden sind, ist kein Wunder; vor dem Exil hat die Feier des Sabbath­ jahres selten, die Feier des Jubeljahres allerdings (abgesehen von dem Brach­ liegen des Ackers) stattgefunden; nach dem Exil ist das Jubeljahr ganz in Wegfall gekommen, aber dafür das Sabbathjahr regelmäßig gefeiert worden. Heute betrachten sich die Juden, auch wenn sie Ländereien besitzen, an diese Gesetze nicht mehr gebunden, da dieselben nur für das Land K a n a a n ge­ geben seien, da es 3. Mose 25, 2 ausdrücklich heiße: „Wennihrindas Land kommt, das ich euch geben werde, so soll das Land seinen Sabbath dem Herrn feiern." c. Diesen Festen des siebenten Tages und des siebenten und des fünf­ zigsten Jahres stehen nun die I a h r e s f e st e gegenüber, ursprünglich nur Emtefeste, welche später daneben zu Festen geschichtlicher Vorgänge geworden sind: das Passah-, das Pfingst- und das Laubhütten-Fest. An diesen drei Festen sollten alle männlichen Glieder des Volkes Israel zum Nationalheilig­ tum kommen und an dem gemeinsamen Gottesdienste teilnehmen. Wenn nun auch eine streng gesetzliche Feier dieser Feste, wie die strenge Beobachtung des Gesetzes überhaupt, erst für die spätere Zeit nachzuweisen ist, so gehört doch die Gesetzgebung auch für diese Feste der älteren Zeit an. Die drei Feste haben aber folgende Bedeutung. a. Das erste der drei Jahresfeste, das P a s s a h f e st, ist aus der Ver­ bindung des eigentlichen Passahfestes (des ersten Festtages) mit dem sieben­ tägigen Fest der ungesäuerten Brote entstanden. Das eigenlliche Passahf e st war ursprünglich vielleicht ein Frühlingsfest, an welchem die Erstgeburt der Herde Gott geopfert wurde. Aber dieser Gedanke trat später mehr und mehr zurück gegenüber der historischen Bedeutung des Festes, als des Ge­ dächtnisfestes zu Ehren der Erlösung aus Ägypten. Am 14. Nisan (im Früh­ lingsmonat) sollte daher jeder Israelit für sein Haus gegen Wend ein fehler­ freies einjähriges Lamm (oder eine Ziege) schlachten und dasselbe (ohne ihm ein Bein zu zerbrechen) braten und mit ungesäuertem Brot und bitteren Kräutern verzehren. Dieses Lamrck galt nunmehr nicht mehr als ein Dank­ opfer für den Besitz der Herde, sondern (2. Mose 12, 27) als ein Opfer des Vorübergehens, d. h. der Verschonung (Pesach) des Herm, der an den Kindern Israels in Ägypten vorüberging, als er die Ägypter plagte; daher der Name *) Hebräisch: Jahr des Jobel (= Posaune, durch deren „Hall" es angekündigt wird); Vulgata: annus jubileus; danach der deutsche Ausdruck.

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Passah (aramäisch pis-cha, mit Artikel am Ende des Wortes)1). Das Blut des Tieres sollte den Israeliten mit Gott versöhnen; die Sitte, das Blut an die Türpfosten zu streichen, ist aber bei den Juden abgekommen, dagegen noch heute ein Rest derselben bei den Samaritanem erhalten. Das Passahmahl ist ein Opfermahl, in welchem Gott mit jedem israelitischen Hause aufs neue in Gemeinschaft tritt, weshalb eben diese Mahlzeit nicht von einzelnen, sondern von der ganzen Familie genossen wird. Später durfte das Passahlamm nur in Jerusalem geschlachtet werden, weshalb gerade zu diesem Feste besonders viele Juden nach Jerusalem kamen; wie die Festfeier später stattgefunden hat, ist unten dargelegt ^). Im Neuen Bunde ist das Passahlamm zum Vorbilde Jesu Christi ge­ worden (1. Kor. 4, 7), durch dessen am Passahfest erfolgten Opferwd den Menschen Versöhnung zu teil geworden ist, so daß wir nunmehr der wahren Gemeinschaft mit Gott teilhaftig werden, welche durch die Blutbesprengung bei der «Stiftung des Men Bundes nur im Sinnbilde gewährt werden konnte. Das Essen des Passahlammes an dem eigentlichen Passahfeste eröffnete aber das mit diesem Tage beginnende siebentägige (also im ganzen achttägige) Fest der ungesäuerten Brote — ursprünglich wohl ein Dankfest für das neu geschenkte Brot, weshalb die Erstlingsgarbe der zuerst von den Getreidearten reifenden Gerste geopfert und das neue Brot in der einfachsten Form (unge­ säuert) genossen wurde. Nach der späteren geschichtlichen Deutung des Festes wurde diese Sitte mit dem Auszug aus Ägypten in Verbindung gebracht, wo die Israeliten den Brotteig ungesäuert mit sich nahmen. Diese Sitte des Genusses ungesäuerter Brote hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten, während das Passahmahl seit der Zerstörung des Tempels nicht mehr gefeiert werden kann. ß. Mit dem Pfing st feste wurde die durch das Passahfest eröffnete Getreideemte abgeschlossen. Dies Fest fiel auf den 50. Tag nach Ostern und wurde früher an e i n e m, später an z w e i Tagen3) gefeiert; an ihm wurden zwei Weizenbrote, als Erstlingsgabe der nunmehr vollendeten Emte, dem Herm dargebracht. Eine historische Bedeutung haben diesem Feste die Juden erst nach der Zerstörung Jerusalems gegeben, indem sie es als Fest der 0 „Die ourchgesehene Ausgabe von Luthers Bibel die sonst in der Rechtschrei­ bung ziemlich sorgfältig ist, hat seltsamer Weise die Schreibung des Wortes Passah mit h am Ende beibehalten, offenbar von der Voraussetzung ausgehend, daß das h in Passah, wie in Noah und Jephthah, einem hebräischen ch entspreche, da das Fest aus hebräisch p6sach heißt. Aber Passah entstammt nicht unmittelbar der hebräischen, sondern der durch das Aramäische beeinflußten griechisch-lateinischen Form pascha. So wenig man die entsprechend gebildeten Wörter, wie Abba, Martha, Gabbatha, Golgatha u. s. w. mith am Ende schreibt, so wenig sollte man Passah schreiben, sondern P a s s a. Aber eine andere Frage über dieses Wort soll hier ausgeworfen werden, mit der Bitte um Beantwortung von sprachmndiger Seite. Seit wann läßt sich die Form P a s s a, d. h. die Zusammenziehung von s—ch in ss, nachweisen? Mir ist diese Zusammenziehung bis jetzt nur aus Luther's Bibel bekannt, und sie kehrt im eng­ lischen passover wieder. Ist sie, da sie in der romanischen Sprache sich nicht findet, nur germanisch? Gelegentlich wird auch der Hinweis erlaubt sein,- daß Luther das Fremdwort nur im Alten Testament beibehalten, dagegen im 91 e u e n Test., wo pascha 29 mal vorkommt, regelmäßig verdeutscht hat."—Nestlein Ly on's Z eitschrist für den deutschen Unterricht 1903, Heft 7. S. 453-464. -) Vgl. Nr. 131 b. -) Vgl. unten e.

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Gesetzgebung betrachteten, da ja Israel (2. Mose 19, 1) im dritten Monat nach dem Auszuge an den Sinai gekommen war. Daß am jüdischen Pfingstfeste durch die Ausgießung des heiligen Geistes die christliche Kirche begründet worden ist, ist bekannt. 7. Das letzte der drei Jahresfeste ist das L a u b h ü t t e n f e st. Dasselbe wurde im 7. Monat sieben (später acht, heute sogar neun) Tage lang gefeiert; es war zunächst ebenfalls ein Erntefest, das Fest der nunmehr vollendeten ganzen Emte, auch der Obst- und Weinemte, wobei man im Weinberge oder im Obstgarten im Freien in Zelten wohnte; dann aber wurde es ebenfalls daneben ein historisches Fest, gefeiert zum Gedächtnis daran, daß Gott die Kinder Israels während ihres Wüstenaufenthalts in Hütten wohnen ließ, und darum wurde es nun auch von denen, die an der Weinemte nicht beteiligt waren, durch das Wohnen in zu diesem Zwecke errichteten Hütten gefeiert1). Diesem Feste entspricht kein christliches Fest. d. Eine besondere Stelle unter den jüdischen Festen nimmt der Ver­ söhnungstag ein, am zehnten Tage des siebenten Monats gefeiert, der einzige Tag, an welchem das Fasten geboten war, was auf die besondere Würde dieses Tages hinweist. An diesem Tage wurde nämlich durch den Hohenpriester alle noch ungesühnte Sünde des Volkes vom letzten Jahre gesühnt. Zu diesem Zwecke mußte der Hohepriester erst seine eigene Sünde sühnen, dann erst konnte er die Sünde des Volkes sühnen. Zuerst ging er deshalb mit dem Blute des für ihn selber, dann mit dem Blute des für das Volk geschlachteten Tieres in das Wlerheiligste und besprengte damit den Deckel der Bundeslade und das Mlerheiligste. Dann wurde auch das Heilige und der Rauchopferaltar durch Besprengung mit Opferblut entsühnt, da sie eben­ falls durch die Sünde Israels befleckt waren. Endlich aber fand noch eine ganz besondere Handlung statt. Für das Volk waren nämlich zwei Ziegen­ böcke zur Sühne gestellt worden; aber nur der eine wurde geopfert, der andere wurde vom Hohenpriester, indem er seine Hand auf ihn legte und dabei ein Sündenbekenntnis ablegte, in sinnbildlicher Weise mit der Sünde des ganzen Volkes vom letzten Jahre beladen2) und nach der Wüste geführt. Durch den ersten Bock wurde die Sünde gesühnt, durch den zweiten hinweg­ ge s ch a f f t — beides wurde sonst durch eine einzige Handlung, das Opfer, ausgedrückt; hier sind beide Momente besonders dargestellt'). Der zweite Bock wurde aber dem Wüstendämon Asasel zugeschickt, einem bösen Geiste, der in der Weise des späteren Satan als ein Gott feindliches Wesen betrachtet wurde *). Dieses Fest nimmt also unter den Festen eine besondere Stelle ein, indem der Hohepriester dabei fungiert, indem das Allerheiligste von ihm betreten wird, und indem das Volk Gottes mit seinem Heiligtum und seiner Priesterschaft von der Sünde desganzenJahres entsündigt wird. Aber auch diese Sühne war doch nur eine sinnbildliche Sühne; die wirkliche ') Über den bei diesem Feste üblich gewordenen Fackeltanz siehe R i e h m s Handwörterbuch' s. v. Laubhüttenfest Nr. 3 und Theol. Encykl.' 11,306, Zeile 19—30. ') Bon ihm stammt unser deutsches Wort „S ü n d e n b o ck". ') Vgl. die Bitten: „Vergib uns unsere Schuld" und „Bewahre uns vor demBösen!" *) Vgl. Rieh m's Handwörterbuch und Theol. Encykl.' s. v.

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und dauernde Versöhnung ist, wie der Hebräerbrief zeigt (K. 9), erst durch Jesus Christus den Menschen zu teil geworden *). e. Zu den im mosaischen Gesetz verordneten Festen sind später noch einige neue hinzugekommen. So wurde nach dem Exil der siebente Neumond des im Frühjahr beginnenden festlichen Jahres zum bürgerlichenNeujahrsf e st e gemacht, wie es noch heute von den Juden gefeiert wird, und zwar an zwei Tagen, damit alle Juden, auch wenn der Kalender, wie das damals leicht vorkam, nicht überall derselbe war, doch wenigstens einen Tag gemein­ sam feierten3). Die im Buche Esther berichtete Errettung der Juden gab angeblich3) Veranlassung zum Purimfeste, welches einen Monat vor dem Passah an zwei Tagen noch heute gefeiert wird. Der makkabäischen Zeit gehört das Fest der T e m p e l w e i h e an4), von Judas Makkabäus gestiftet zum Andenken an die nach der Entweihung durch Antiochus Epiphanes erfolgte neue Einweihung des Tempels. Dasselbe wurde acht Tage lang gefeiert; es heißt auch das Lichterfest, weil es besonders durch Beleuchtung der Syn­ agogen und Häuser gefeiert wurde; am ersten Tage wurde aber ein Licht angezündet, an jedem folgenden Tage eins mehr; diese Sitte erinnerte wohl an das Mederanzünden der heiligen Lichter im Tempel. Die Sage erzählte, daß bei der neuen Einweihung des Tempels noch ein wenig Ol in einem Gefäße gefunden worden sei, welches, obwohl scheinbar nur für e i n e n Tag genügend, dennoch für a ch t Tage ausgereicht habe — ein Vorbild der Sage von Chlod­ wigs Salbung. Daß man auch (aber mit Unrecht) geglaubt hat, das christliche Weihnachtsfest mit seinem Lichterschmuck des Christbaums an das Tempel­ weihfest anknüpfen zu dürfen, ist anderwärts gezeigt worden5). Die Zer­ störung Jerusalems und des Tempels ließ noch zwei neue Feste entstehen; die Zerstörung Jerusalems durch die Römer fiel aber angeblich auf den Tag der ersten Zerstörung durch Nebukadnezar, der angeblich auch der Tag war, an welchem Moses wegen des goldenen Kalbes die ersten Opfer­ tafeln zerbrochen hatte. Auch der Tempel ist beidemal angeblich an demselben Tage zerstört worden. f. So ergab sich für das jüdische Volk folgender Festkalender6). Im Monate Nisan, dem ersten des gottesdienstlichen Jahres (also im Frühjahr), wird das Passahfest acht Tage lang gefeiert. Im dritten Monat wird das Pfingstfest zwei Tage lang gefeiert. In den vierten und fünften Monat fallen dieFeste der Eroberung Jerusalems und derZer­ st örung des Tempels. Der eigentliche Festmonat ist der siebente *) Der vor betn Anfang des Versöhnungstages stattfindende Abendgottesdienst der Synagoge wird eröffnet mit dem Gebete Kö 1 Nid r e , dessen Schlug lautet: „Unsere Gelübde seien keine Gelübde, und unsere Schwüre keine Schwüre." Inwiefern sich an dieses Gebet mit Unrecht die Meinung geknüpft hat, daß die Juden den Eid als nicht gültig ansehen, zeigt Strack in der Theol. Euch kl? s. v. Kol Nidre. — Die Melodie, in welcher dies Gebet gesungen wird, war eine Lieblingsmelodie von M o l t k e, der sich dieselbe gern von Joachim auf der Violine vorspielen ließ. 2) An die heutige Datumsgrenze, für welche diese Einrichtung ebenfalls paßt, ist natürlich bei dieser Einrichtung nicht gedacht worden. 3) Vgl. aber Kautzsch3 EinleiMng zum Buch Esther. 4) Schon erwähnt Ps. 30, 1 (Theol. Encykl? 7, S. 24. Zeile 24). •) Vgl. Kirchengeschichte3 Nr. 75. •) Uber den jüdischen Kalender im all­ gemeinen vgl. Theol. Encykl? 7, S. 17—19 und 8, 524—529.

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Monat (int Herbst); auf den ersten und zweiten Tag desselben fällt das Neu j a h r s f e st x), auf den zehnten Tag das V e r s ö h n u n g s f e st, auf den 16. bis 23. Tag das Laubhüttenfest. In den neunten Monat fällt das T e m p e l w e i h f e st, in den zwölften das P u r i rn f e st. Da die späteren Juden die eintägigen Feste (ausgenommen den Ver­ söhnungstag) und die Anfangs- und Schlußtage der mehrtägigen Feste doppelt feierten, um es zu erreichen, daß auch bei Kalender-Differenzen alle Juden wenigstens einen Tag gemeinsam feiern, so ist die Zahl der Feiertage größer geworden, als sie in der alten Zeit war; sie werden aber alle auch noch von den heutigen Juden streng gefeiert. g. An den jüdis chen Festkalender hat sich nun, wie anderwärts ge­ zeigt ist 2), das ch r i st l i ch e Kirchenjahr mit seinem.Festcyklus angeschlossen, wie das schon durch die evangelische Geschichte bedingt war, deren Haupt­ ereignisse bekanntlich auf das jüdische Oster- und Pfingstfest fielen. Die alten Christen fühlten sich an die jüdischen Feste nicht mehr gebunden (Gal. 4, 9—11), und sie wiesen mit Recht darauf hin, daß für den Christen jeder Tag ein Festtag sei; doch hat das Bedürfnis der gemeinsamen Feier auch bei den Christen die Feier besonderer Tage veranlaßt, zunächst des Sonntags, dann auch der christlichen Feste; aber für uns beruht die Feier des Sonntags und der Feste nicht auf göttlicher Anordnung, wie bei den Juden; vgl. Augsb. Konfession, Art. 15 und 28. h8). Wenn oben die Festgesetzgebung des Volkes Israel in derjenigen Gestalt dargestellt worden ist, wie sie im Priestergesetz vorliegt, so ist doch auch in d i e s e rn Punkte der Gesetzgebung — wie bei der Gesetzgebung über das Heiligtum — eine Entwickelung wahrzunehmen, wie von allen Forschern zugestanden wird. Ob aber diese Entwickelung von Wellhausen richtig gezeichnet, und daß der von ihm daraus gezogene Schluß auf das Alter des Priestergesetzes richtig sei, wird von anderen Forschern bestritten. Wenn Wellhausen aus dem Mangel an Nachrichten über vorexilische Fest­ feiern, welche dem Priestergesetz entsprochen haben, den Schluß zieht, daß dieses Gesetz vor dem Exil nicht vorhanden gewesen sei, so zeigt sich hier besonders deutlich die Mangelhaftigkeit des argumentum e silentio. Daß die Festgesetze des Bundes­ buchs und des Deuteronomiums vor dem Exil vorhanden waren, ist unbestritten — und doch wie wenige Festfeiern weist uns die Geschichte auf, die ihnen entsprochen hätten! Nach den Andeutungen der geschichtlichen und der prophetischen Bücher wäre eigentlich nur das Laubhüttenfest wirklich gefeiert worden. Was will es also besagen, daß von einer Feier des Versöhnungstages weder vor noch nach dem Exil berichtet wird! Auch das ist nicht richtig, daß erst im Priestergesetz den bis dahin rein agrarischen Festen eine historische Bedeutung beigelegt worden sei. Eine historische Bedeutung ist dem Passahfest auch schon im Bundesgesetz beigelegt (2. Mose 23 und 34); andrer­ seits ist der agrarische Charakter der Feste auch im Priestergesetz meist noch festgehalten (3. Mose 23; anders allerdings 4. Mose 28—29). *) Aber diese Ansetzung des Neujahrsfestes gehört erst der s p ä t e r e n Zeit an; die ältere Zeit läßt das Jahr im Frühling beginnen. 2) Vgl. Kirchengeschichte8 Nr. 74. 3) Vgl. Wellhausen, Proleg. A 3 und Theol. Encykl.8 7, S. 19bis 24 .— Nur für den Lehrer.

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So ist auch in der Festseier eine Entwickelung wahrzunehmen; aber über den Gang derselben stimmen die Forscher noch nicht überein, und ebensowenig darüber, ob die Gesetzgebung des Priestergesetzes als erst nach dem Exil entstanden an­ zusehen sei.

D. Die Gemeinschaft des DolKes mit Gott. 66. Die Heiligkeit des Volkes Gottes'). „Ihr sollt mir ein heiliges Volk sein." 2. Mose 19,5. „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr euer Gott." 3. Mose 19, 2. Wenn nun zunächst G o t t mit dem Volke Israel in Gemeinschaft tritt, so muß doch auch das Bolk mit Gott in Gemeinschaft treten; das geschieht aber dadurch, daß Israel ein h e i l i g e s Volk wird. Wie geschieht das? a. Gott hat sich das Volk Israel zu seinem Eigentum erwählt, aber eben das Volk als Ganzes, nicht die einzelnen Israeliten; deshalb wird man durch die Geburt ein Glied des Reiches Gottes, nicht durch eine Be­ kehrung. Zwar können auch Fremdlinge in das Reich Gottes auf­ genommen werden, aber nur durch Aufnahme in den israelitischen Volks­ verband ; daß auch andere Völker, ohne Israeliten zu werden, den Gott Israels anbeten und Glieder des Reiches Gottes werden, ist ein dem Mosaismus noch fremder Gedanke, der zwar von den Propheten bereits ersaßt, aber noch nicht verwirklicht wird. Aber zu der Aufnahme in das Reich Gottes wird doch für den einzelnen Israeliten noch ein besonderer Weiheakt erfordert, nämlich die am achten Tage nach der Geburt an jedem Knaben zu vollziehende Beschneidung. Dieselbe wird vom mosaischen Gesetz als bereits vor­ handen vorausgesetzt (3. Mose 12,3), und da die Israeliten sie mit den Arabem gemein haben, so wird in der Tat ihre Entstehung in die Zeit der Patriarchen zurückreichen, wie 1. Mose 17 berichtet wird2). Durch die Beschneidung, einen sinnbildlichen Reinigungsakt, wurde also der e i n z e l n e Israelit dem Volke Gottes persönlich einverleibt, und erst durch die Beschneidung gewann er persönlichen Anteil an dem Bunde Jehovahs mit seinem Volke — eine Hindeutung auf das v o l l k o m m e n e Gottesreich, in welches der Mensch nicht durch die leibliche Geburt, sondem erst durch die Wiedergeburt eintritt. b. Das Volk Gottes sollte aber „einzeiliges Volk' sein (2. Mose 19, 5—6). Israel ist zwar schon als Gottes auserwähltes Volk ein heiliges Volk, aber es hat doch auch noch die Aufgabe ein heiliges Volk zu w e r d e n, indem es seine Heiligkeit in seinem Leben betätigt. Heilig ist aber nur, wer von jedem sittlichen Makel frei ist; indes im Volke Israel galten auch gewisse äußerliche Verunreinigungen als sittlich befleckend, aber allerdings erst dann, wenn man die im Gesetze gebotene Reinigung unterließ. ') Bgl. R i e h m s Handwörterbuch s. v. Reinigkeit und Theol. Encykl * Bd. 16 s. v. Reinigungen, und Bd. 18 s. v. Speisegesetze, wo der Lehrer Genaueres findet; die Schule kann hier auf alles Einzelne nicht eingehen; einiges davon ist unten besprochen; vgl Nr. 119. 2) Sie ist wohl von den Ägyptem entlehnt. — Außer bei den Juden ist sie noch heute üblich bei den Mohammedanern, bei manchen Böllern Afrika's und Amerika's, ja sogar bei den koptischen und den abessinischen Christen.

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Eine solche Vemnreinigung zieht sich der Israelit zu durch den Genuß des Fleisches der unreinen Tiere oder auch der reinen Tiere, wenn sie nicht regelrecht geschlachtet (so daß das Blut abgelassen war), sondem umgekommen waren1). Ebenso verunreinigt die Berührung eines Leichnams, ja, auch schon der Auf­ enthalt in seiner Nähe; endlich auch der Aussatz. Wer aber unrein geworden ist, der muß sich bestimmten Anordnungen unterziehen, um nicht seine Un­ reinheit auf andere zu übertragen, und um selber wieder rein zu werden; aber diese Reinigung wird bewirkt durch äußerliche Handlungen, nicht durch eine Reinigung des Herzens. c. So steht also auch in dieser Beziehung die Gesetzesreligion noch auf dem Standpunkte einer äußerlichen Frömmigkeit, welcher erst im Christen­ tum überwunden worden ist; „wir dürfen aber diese vergänglichen Dinge nicht verachten, sondem müssen darin eine göttliche Ordnung erkennen, welche ein wichtiges Hilfsmittel zur Herbeifühmng der vollendeten Gottesosfenbamng bildete"2). d8). Wo aber die letzten Ursprünge des israelitischen Ceremonialgesetzes liegen, das ist für uns mit einem unzerreißbaren Schleier bedeckt; doch werden wir gewiß nicht irren, wenn wir den Stoff, aus welchem dieses Gesetz gebildet ist, für uralt halten, für viel älter, als die ATliche Religion. Die alten Sitten, welche demselben zu Grunde liegen, haben sich der Gesetzgebung als Stoff gefügt, wenn auch oft als widerwilliger und schwer anzueignender. Wenn wir diese Entstehung des im Ceremonialgesetz enthaltenen Stoffes voraussetzen, so zeigt sich uns um so großartiger und folgerichtiger seine Entfaltung im Gesetz. In allen Lebenszuständen soll sich der Charakter eines heiligen Volkes Ausdmck schaffen; darum tritt das Ceremonialgesetz bis in seine kleinsten Einzelheiten mit dem Ansprüche einer religiösen Forderung auf, ganz wie das Sittengesetz; die Satzungen, welche das äußere Leben regeln, sind gleichsam das heilige Gewand, in welchem allein das Volk seinem Gotte geziemend nahen kann. In der ältesten Zeit hat Israel auf diese Lebensformen ein großes Gewicht gelegt, allerdings nicht im Gehorsam gegen ein geschriebenes Gesetz, sondem in reli­ giösem Hängen an den volkstümlichen Überlieferungen der Väter. Die Propheten haben auf das Ceremonialgesetz ein sehr geringes Gewicht gelegt, und auch das Deutero­ nomium betont vomehmlich die s i t t l i ch e Seite des Gesetzes. Aber schon Hesekiel legt auf das Ceremonialgesetz ein großes Gewicht, und im Exil wurde, als der Kultus aufhörte, die Beobachtung der in der Fremde allein noch möglichen heiligen Satzungen, namentlich der Speisegesetze und des Sabbathgebots, zum Kennzeichen der frommen Israeliten. Nach dem Exil erschien das Ceremonialgesetz den Juden sehr wichtig, ja, schließlich noch wichtiger als das Sittengesetz, und diese Denkweise tritt uns später verkörpert im Pharisäismus entgegen. Daß nun aber, wenn nicht die Entstehung (wie Wellhausen annimmt), so doch wenigstens die genauere Ausführung des Gesetzes über die Heiligkeit des *) Unreine Tiere sind z. B. auch Hase und Storch. Das Blut auch der reinen Tiere soll vom Menschen nicht genossen, sondern Gott geweiht werden. Der Blut­ genuß ist noch heute auch in der morgenländischen Kirche (nach Apostelgesch. 15) ver­ boten. 2) Riehm, Handwörterbuch s. v. Reinigkeit. s) £>. Schultz, AMche Theologie8 § 23.

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67. Das Priestertum im Volke Gottes.

Volkes Israel, das Ceremonialgesetz, erst der exilischen Zeit angehöre, wird von den neueren Forschern allgemein behauptet. e1). Wer aber eine deutlichere Vorstellung von dem gewinnen will, was in Israel für das Tun eines Frommen und Gerechten gegolten hat, der muß sich nicht zuerst an die Gesetzgebung halten, sondern auf die vorbildlichen Gestalten der Väter und der Helden Mraels und auf diejenigen Züge achten, welche in Liedern und Sprüchen besonders hervorgehoben sind. Wenn die neuere Geschichtsforschung in den Gestalten der ältesten israelitischen Geschichte nicht streng historische Gestalten, sondern Gestalten der Sage erblickt, so ist damit der Bibel nichts von ihrem Werte für die F r ö m m i g k e i t genommen; die Sage ist vielmehr in höherem Grade, als die Geschichte, geeignet, eine Trägerin des heiligen Geistes zu werden. In der G e s ch i ch t e drückt nämlich jede Gestalt nur annähernd und unvollkommen das aus, was der in einem Volke wirkende Geist will; in der S a g e aber ist es dieser Geist s e l b st, der die Gestalten ausprägt zu Jdealgestalten, welche vom Geiste Gottes durchdmngen und getragen sind. So ist die Besonderheit Israels als des Volkes der Religion in keiner geschichtlichen Gestalt so wahr und lebensvoll ausgedrückt, wie in den Gestalten der V ä t e r s a g e. Abraham ist lehrreicher für die ATliche Offenbarung, als alle Könige von Saul bis Zedekia. In Jakob ist der Israelit wahrer gezeichnet, als in irgend einer Gestalt der Königsbücher oder der Chronik. Auf ihrer Idealität, nicht auf ihrer G e schichtlichkeit, beruht der besondere Wert der Patriarchengeschichte. Außer den Patriarchen tritt uns besonders David als eine ideale Gestalt entgegen, hinter welchem die späteren Könige, auch die frömmsten, zurückstehen. Ideale Persön­ lichkeiten sind dagegen in größerer Zahl unter den Propheten zu finden, auch unter denen, deren Name uns nicht bekannt ist. Das Musterbild der H a u s f r a u ist gezeichnet in den Sprüchen Sal. (K. 31,10—31); das Bild eines Gerechten ist in der Person Hiobs gezeichnet. Daß aber alle diese idealen Personen nicht ohne Mängel gewesen sind, ja, daß sogar die israelitische Sittlichkeit selber noch nicht frei von Mängeln war, versteht sich von selbst; auch in sittlicher Beziehung wird das Judentum vom Christentum übertroffen.

67. Das Priestertum im Volke Gottes. „Der Herr hat den Priester erwählt, daß er stehe am Dienst im Namen des Herrn." 5. Mose 18, 5. 2. Mose 19, 5-6. 4. Mose 16, 5 b. 2. Stofe 28,1. Der mosaische Segen: 4. Mose 6, 22—27. a. Als Gottes erwähltes und heiliges Volk war ganz Israel ein Volk von Priestern, ein „priesterlich Königreich", welches seinem Gott nahen durfte und sollte. Vor der Gesetzgebung am Sinai gab es daher noch kein besonderes Priestertum im Volke Israel, der Hausvater opferte und betete für die Seinigen, der Fürst für den Stamm; auch später sehen wir noch vielfach die Könige und andere Israeliten ohne Vermittelung eines Priesters opfern. b. Mer des Volkes Heiligkeit war allerdings noch mangelhaft und sein Priestertum noch unvollkommen. Wenn daher das allgemeine Priester­ tum den Israeliten um seiner Sünde willen noch nicht zur vollen Gemeinschaft r) H. Schultz, ATliche Theologie', S. 16 und 150 s.

67. Das Priestertum im Volke Gottes.

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mit Gott führte, so bedurfte es für ihn noch eines besonderen Priestertums, äßte das Volk durch Gottes Erwählung zum allgemeinen Priestertum gelangt, so beruht dasbesonderePriestertum ebenfalls auf Gottes Erwählung (4. Stofe 16,5b). Zwar nimmt schon der ganze StammLevi eine gewisse Mittelstellung zwischen Gott und dem Volke ein, aber das besondere Priestertum ist doch nur auf die NachkommenAarons übertragen. Ihr besonderes Priestertum bemht aber freilich nicht auf einer besonderen inneren Heilig­ keit, die sie doch eigentlich haben sollten (die doch aber stets nur ein persönliches, nicht ein erbliches Gut ist), sondern auf einer größeren äußeren Heiligkeit, die von ihnen gefordert wird, und auf einer äußeren Weihe, die ihnen zu teil wird. Die strengsten Anforderungen dieser Art werden an den Hohen­ priester gestellt. Die Vermittelung des Priesters wird aber nur für den Gottesdienst gefordert, um das O p f e r Gott darzubringen und um das Volk zu segnen1). Aber erst allmählich ist der ganze Gottesdienst in ihre Hände gekommen, namentlich seitdem der Tempel Salomos zum National­ heiligtum Israels geworden, und besonders seitdem der Höhendienst Beseitigt und der Tempel zur alleinigen Stätte des öffentlichen Gottesdienstes geworden war. Seitdem durfte beim Gottesdienste am Nationalheiligtum der gewöhnliche Israelit nur den Vorhof betreten, um zu beten und zu opfern; die Opfer durfte nur der Priester an den Wtar bringen, und das Heilige durfte nur der Priester, das Mlerheiligste sogar nur der Hohepriester, und zwar nur einmal im Jahre, betreten. Durch diese Anordnungen wurde dem Volke zum Bewußt­ sein gebracht, daß seine Heiligkeit noch mangelhaft und daß sein Priestertum noch unvollkommen sei. Außerdem haben die Priester (und auch die Leviten) die Gesetzesüberlieferung zu wahren und die richtige Erllärung und Beobachtung desselben zu über­ wachen. Aber eine Predigt hat es im Gottesdienste Israels nicht gegeben 2). dieselbe ist erst im Synagogen-Gottesdienste aufgekommen, und von der Synagoge ist sie in die christliche Kirche gekommen. c. Die Vorrechte des Stammes Levi und der Priesterschaft waren, obwohl sie kein besonderes Stammgebiet besaßen, nicht gering. Als Wohnsitz wurden ihnen in 48 Städten Häuser und Viehtriften zugewiesen; außerdem wurden ihnen der Zehnte und die Erstlinge nebst manchen anderen Einkünften, namentlich auch bei den Opfern, überwiesen. Die niedrigste Stellung nahmen die Leviten ein, welche nur die geringeren Dienste beim Tempel zu besorgen hatten. Der eigentliche Opfer­ dienst lag in den Händen der P r i e st e r. Das Haupt der Priesterschaft war der H o h e p r i e st e r, der allein berechtigt war, einmal im Jahre das Merheiligste zu betreten, um das ganze Volk mit Gott zu versöhnen. Wer weder der Hohepriester, noch die Priesterschaft überhaupt hat in Israel jemals eine *) Der auch noch bei uns übliche sogen, mosaische Segen sührt in schöner Steigerung (auch der Z a b l der Worte im Grundtext von 3 zu 5 und zu 7) in drei Gliedern von der Bitte um äußere Segnung und Bewahrung zu der Bitte um die Gnade Jehovahs als g e i st l i ch e Segnung, und schließlich zu der Bitte um die Gewährung desFriedens oder Heils, in welchem alle leibliche und geistige Wohlfahrt beschlossen ist. :) Noch weniger natürlich vorher; 1. Moses, 26 u. 12, 8 u. 26, 25 sind bei Luther unrichtig übersetzt.

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große politische Rolle gespielt; Israel war zwar eine T h e o k r a t i e *), aber keine Hierarchie. Nach dem Exll haben die Priester ihr Ansehen sogar bald an die Sckriftgelehrten abtreten müssen, und seitdem der Tempel zerstört ist, gibt es im jüdischen Volke überhaupt kein Priestertum mehr. d.2) Daß in der vormosaischen Zeit das Volk Israel noch kein Priestertum ge­ kannt hat, wird allgemein zugestanden. Mer daß nun durch Moses, wie es im Priester­ gesetz dargestellt wird, sofort das Priestertum in seiner Gliederung (Leviten, Priester, Hoherpriester) eingesetzt worden sei, das wird von W e l l h a u s e n und anderen Forschern bestritten, inbem sie auf folgendes hinweisen. a. Wie nach dem ältesten Gesetz überall ein Altar errichtet werden durfte, so durfte auch jeder Israelit selber opfern; dazu bedurfte es keines Priesters. Dagegen bedurfte ein Gotteshaus eines Priesters, damit derselbe das darin aufgestellte Gottesbild bewache und das von der Gottheit in irgend einer Weise gegebene Orakel verkünde. Zwar war dieses Priesteramt nicht an eine bestimmte Mstammung ge­ knüpft, aber es war doch natürlich, daß sich bald ein erbliches Priesteramt bildete. Daher finden wir in der älteren Zeit an den heiligen Orten der Israeliten zwar Priester aus verschiedenen Stämmen, aber doch auch schon ein erbliches Priestertum, z. B. das Priestertum des Hauses Eli. ß. Eine höhere Stellung errang das Priestertum, als der Tempel gebaut wurde. Zwar war ja die Priesterschaft des Tempels vom Könige abhängig, aber sie gewann doch mit dem steigenden Ansehen des Tempels auch selber an Ansehen. Daß sie den Tempel bewachte, war nicht mehr nötig, da diese Aufgabe niederen Aufsehern zufiel; dafür wurde es ihre Aufgabe, das Opfer darzubringen, während früher jeder Israelit selber opfern durfte. An die Stelle des früher begehrten Losorakels (durch Urim und Thummim)3) trat die Belehrung über sittliche Fragen, die man vom Priester in zweifelhaften Fällen forderte. Der ganze Stand schloß sich allmählich, indem sich das Amt meist in der Familie vererbte, zu einem besonderen Stamme zusammen, der nach alter Sitte sich auch eine gemeinsame Abstammung zuschrieb, und da Moses dem Stamme Levi angehört hatte, so galt Jakobs Sohn Levi als der Ahnherr der Priesterschaft. Der Stamm Levi war aber in den Kämpfen mit den Kanaanitern zu Grunde gegangen und hatte deshalb auch kein Stammgebiet erhalten; die Priesterschaft n a n n t e sich also nur nach Levi, ohne in Wirklichkeit von Levi herzustammen. 7. Wenn gegenüber dieser Ansicht W e l l h a u s e n s von der Entstehung des Priestertums D i l l m a n n bei der älteren Auffassung geblieben ist4), so wird von H. S ch u l tzö) folgende (mit der Überlieferung mehr übereinstimmende) Ansicht von der Entstehung des Priestertums aufgestellt. Es ist eine harte Zumutung Wellhausens, daß man sich überreden soll, die priesterlichen Leviten, durch keinerlei wirllichen Verwandtschaftszusammenhang ver­ bundene Berufspriestev, seien lediglich durch Irrtum mit dem untergegangenen Stamme Levi der Volkssage in Verbindung gebracht worden, weil sie durch ihren Beruf zu einer Art von künstlichem Stamme zusammengewachsen waren. Viel l) Diesen Ausdruck hat zuerst Josephus gebraucht (in seiner Schrift gegen Apion 2, 16); vgl. Nr. 62b, Anm. *) Vgl. Wellhausen, Prolegomena A, 4 und 5. — Nur für den Lehrer. 8) Siehe Riehms Handwörterbuch und Theol. Encyll.8 Bd. 20 8. v. 4) D i l l m a n n, ATliche Theologie § 16, S. 127—129. 8) H. Schultz, ATliche Theologie5,* S. * 136s.

67. Das Priestertum im Volke Gottes.

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wahrscheinlicher erscheint die Annahme, daß Levi, der Stamm des Moses, einer der ältesten Führerstämme Israels, durch ihn zugleich, wie die Überlieferung angibt, als heiliger Stamm mit den Vorrechten des öffentlichen Priestertums ausgestattet worden ist. Als politisch führender Stamm ist Levi in den Kämpfen mit den Kanaa­ nitern bis zur Bedeutungslosigkeit und zum Verluste selbständiger Existenz abge­ schwächt worden (so daß er kein besonderes Stammgebiet erhalten hat), wie Rüben in den Kämpfen mit Moab, Simeon wohl im Kampfe mit den Wüstenvölkern. In seinen Resten sah sich nun Levi darauf angewiesen, den von Moses ihm zugeteilten Anspruch auf den Dienst Jehovahs geltend zu machen; er hat seinen Anspruch durch­ gesetzt und ist dadurch schließlich der geistige Herrscherstamm in Israel geworden. o. Die Priester haben aber, wie die neueren Forscher annehmen, eine größere Bedeutung namentlich infolge der Verlegung der Bundeslade an den Königssitz ge­ wonnen, und besonders der glänzende Tempel, den Salomo baute, bot ihnen einen natürlichen Mittelpunkt und günstige Daseinsbedingungen. Bald gewann nun die Priesterschaft in Jerusalem eine höhere Stellung, als die der andern Heiligtümer. Als nämlich vom Deuteronomium gefordert und von Josia durchgesetzt wurde, daß der Tempel in Jerusalem als die einzig-berechtigte Kultusstätte galt, da sollten die nach der Zerstörung der anderen Heiligtümer brotlos gewordenen Priester der Priesterschaft von Jerusalem eingegliedert werden und an ihren Einkünften teil­ nehmen. Diese Forderung des Deuteronomiums konnte aber in Wirklichkeit nicht durchgeführt werden, sondern es bildete sich jetzt das (später als ursprünglich angesehene) Verhältnis heraus, daß das eigentliche Priestertum in den Händen der Priesterschaft von Jemsalem blieb, während die Priester der anderen Heiligtümer nur für die n i e d e r e n Dienste ant Tempel verwandt wurden, welche bisher von Sklaven und Fremden ausgeführt worden waren. Für diese niederen Tempeldiener kam jetzt der Name Leviten auf, welcher früher alle Priester bezeichnete. Wie der Unterschied der Leviten und der Priester, so ist auch der der Priester von dem Hohenpriester erst später entstanden; wenigstens einen so l ch e n Hohen­ priester, wie das Priestergesetz ihn zeichnet, hat es vor dem Exil nicht gegeben. e. *) Die Darlegung Wellhausens wird nun, wie man glaubt, durch die Geschichte bestätigt; während nämlich nach der P r i e st e r s ch r i f t der nach dem Exil bestehende Priesterstaat schon als in der Wüste von Moses eingerichtet dargestellt wird, so zeigt die Geschichte ein anderes Bild. Von dem im Priestergesetz er­ wähnten Heere von 22 000 Leviten und von vielen Priestern ist weder in der Wüste noch später etwas zu finden; der Priester der Lade ist Moses (nicht Aaron), und ihm dienen nicht 22 000 Leviten, sondern der einzige Knabe Josua. Auch später ist selten von einem Priester die Rede. Neben Eli sind Priester seine beiden Söbne, und ihnen dient ein Knecht. Zu denselben kommt später der Knabe Samuel, kein Levit, und derselbe schläft — im vollsten Widerspruche gegen das Priestergesetz — jede Nacht bei der Bundeslade. Auch die Könige haben nur wenige Priester gehabt, und nicht immer aus dem Stamme Levi, und dieselben standen als Beamte unter dem Könige, nicht unter dem Hohenpriester, von dem in der alten Zeit nichts zu hören ist. In der alten Zeit hat nämlich das Priesterrecht der Leviten nicht als ein a u s schließliches Recht auf a l l e Opfer und sonstigen heiligen Handlungen gegolten, sondern nur als ein Privileg für die öffentlichen Opfer, die eine bestimmte *) ©ment), Wiche Religionsgeschichte (1893), § 4. Heldrich, Heilige Geschichte. 3. Stuft

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68. Das Opfer im Volke Gottes.

Technik voraussetzten; dem Hausvater, dem Stammhaupte, dem prophetischen Führer und dem Könige war eine priesterliche Tätigkeit beim Opfer durchaus nicht verboten. Erst seitdem das Volk aus dem Exil zurückgekehrt war, aber keinen König an seiner Spitze hatte, gab es eine wirklich so mächtige und zahlreiche Priesterschaft, wie das Priestergesetz schon für die alte Zeit annimmt, bestehend aus dem Hohenpriester, den Priestern und den Leviten, und das Oberhaupt des eines weltlichen Herrschers entbehrenden nachexilischen Volkes war wirklich der Hohepriester. Aber nicht lange hat die Priesterschaft sich dieses großen Ansehens erfreut; an die Stelle der Priester traten allmählich die Schriftgelehrten, und zur Zeit Jesu stehen den meist sadducäischen Priestern die pharisäischen Schriftgelehrten gegenüber als die wirklichen Führer und Herren des jüdischen Volkes. e. Was sich erst allmählich entwickelt hatte, wurde also vom Priester­ gesetz, wie die neueren Forscher glauben, als ursprünglich geltende und durchgeführte Ordnung dargestellt. Auch hier glaubt Wellhausen die drei Perioden der israelitischen Geschichte nachweisen zu können, die er auch in anderen Beziehungen gefunden zu baben glaubt. Die älteste Zeit (vertreten im jehovistischen Gesetz) weiß noch nichts von der Notwendigkeit eines besonderen Priestertums; die spätere Zeit (vertreten im Deuteronomium) hält das Priestertum für notwendig, aber kennt noch nicht den Unterschied von Priestern und Leviten und weiß nichts von einem Hohenpriester, welcher Unterschied erst in der nachexilischen Zeit (durch das Priestergesetz) zur Geltung gebracht worden ist. Mt der Zerstörung Jerusalems und des Tempels sind auch das Hohepriestertum und das Priestentum zu Grunde gegangen; der heutige Rabbiner ist kein Priester. Dagegen gibt es noch heute Juden, die als Abkömmlinge Levi's betrachtet werden und im Synagogen-Gottesdienst ge­ wisse Vorrechte genießen. Auch hier versteht es sich von selbst, daß nicht alle Forscher mit Wellhausen über­ einstimmen.

68. Das Opfer int Volke Gottes. „Es soll niemand leer vor dem Herrn erscheinen." 5. Mose 16,16. „Die Seele sDas Lebens des Fleisches ist im Blute, und ich habe es euch ge­ geben an den Mar, um eure Seelen zu versöhnen; denn das Blut versöhnt mittels der Seele." 3. Mose 17, 11. „Ohne Blutvergießen geschieht nach dem Gesetz keine Vergebung." Hebr. 9,221). a. Die Gemeinschaft des Volkes Israel mit Gott beruht, wie die Gemeinschaft mit Gott in der Religion überhaupt, auf dem Glauben an den sich ihm offenbarenden Gott; Gott aber hatte sich den Israeliten besonders durch die Erlösung aus Ägypten, durch die Bundschließung und die Gesetz­ gebung am Sinai geoffenbart. Die Gemeinschaft mit Gott betätigt sich in der Sittlichkeit, und die Grundforderungen der Sittlichkeit enthält der Dekalog. Die Gemeinschaft mit Gott sprichtsichausin dem auf dem Gottvertrauen beruhenden Gebet. Für den Gebetsverkehr mit Gott gibt nun das Gesetz keine Bestimmungen; der Israelit betet in seinem Hause und braucht dazu keinen Priester. Aber zum G e b e t, als dem Aus­ druck der Gemeinschaft mit Gott, kommt nun für den Israeliten noch das l) So sagen auch die Rabbinen: Theol. Encykl.3 14, 395, Zeile 39—40.

68. Das Opfer im Volle Gottes.

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Opfer hinzu, in welchem ebenfalls seine Gemeinschaft mit Gott zur Dar­ stellung kommt; ja, der Israelit darf überhaupt nicht, wenn er betet, „leer vor dem Herrn erscheinen", d. h. der Betende soll zugleich ein Opfer bringen (5. Mose 16, 16) oder wenigstens, wenn er nicht im Heiligtum betet, ein solches geloben. Wenn nun in der älteren Zeit vomehmlich private Opfer dargebracht werden, so hat das Opfer in der s p ä t e r e n Zeit vomehm­ lich eine Bedeutung für den Gottesdienst desganzenBolkes gewonnen, indem die ununterbrochene Gemeinschaft Gottes mit seinem Volke auf dem ununterbrochenen Opferdienst bemht, welcher aber an das Nattonalhelligtum und an die priesterliche Vermittelung gebunden ist. Der einzelne Israelit betätigt seine Teilnahme an diesem Gottesdienste seines Volkes durch seine Anwesenheit beim Opfer im Vorhof des Heiligtums, denn wenigstens an den drei großen Festen ist es seine Pflicht, beim Opfer des Volkes zugegen zu sein. b. Das Opfer ist aber nicht eine Erfindung der Israeliten, sondem in allen alten Religionen vorhanden, und auch im Volke Israel ist gewiß schon vor dem Gesetz Mosis eine feste Opfersitte herrschend geworden, welche man nicht übertteten durfte. Aber diese Ordnungen galten nicht für a l l e Heilig­ tümer gleichmäßig, und ihre Beobachtung war die Sache des P r i e st e r s, nicht des Volkes. Bei allen Völkem, auch bei den Israeliten, war aber das älteste Opfer dasMenschenopfer. Da Gott dem Menschen das Leben gegeben hat, so bettachtet sich der Mensch unter Umständen auch als verpflichtet, sein Leben der Gottheit wiederzugeben, also sich selbst zu opfern, in der Meinung, dadurch das Wohlgefallen Gottes und das ewige Leben zu gewinnen. Statt sich selber zu opfern, opferte man später andere, namenüich Kriegs­ gefangene und Sklaven, oder man vergoß wenigstens etwas von ihrem Blute, ohne sie zu töten, indem man sie z. B. am Altar geißelte (in Sparta). Daß auch im Volke Israel das Menschenopfer einst üblich war, zeigen die Geschichten von Jsaak's Opferung, die allerdings nur beabsichtigt war, und von Jephtha's Opfer, welches wahrscheinlich dargebracht wurde. An die Stelle des Menschenopfers trat später das Tieropfer, wie die Erzählung von Jsaak's Opferung und die von der Opferung der Iphigenie zeigen. Neben das Tieropfer trat, als der Ackerbau dem Hirtenleben zur Seite trat, das Opfer der Feldfrüchte. Beiderlei Opfer, Tieropfer und Fmchtopfer, und zwar nur bestimmter Tiere und Früchte, sind nun auch später vom Volke Israel ausschließlich dargebracht worden, während das Menschen­ opfer verboten war. c. Wenn nun in der ältesten Zeit der Mensch annahm, daß die Gottheit der menschlichen Gaben bedürfe oder wenigstens durch dieselben erfreut werde, so glauben dagegen (mit den höher stehenden Heiden) die Israeliten, daß das Opfer der Gottheit darum gefalle, weil der Mensch ihr durch das Opfer seine Huldigung beweise. Gott bedarf nicht der Nahmng (Ps. 50, 8—13), wie die Heiden und natürlich auch die Israeliten in der alten Zeit und manche gewiß auch noch später glaubten, sondern der Mensch opfert, weil Gott an der Ge­ sinnung des Opfemden Wohlgefallen hat. d. Die Opferung findet aber im allgemeinen in der Weise statt, daß der Opfemde das Tier oder eine andere Gabe in die Nähe des Altars bringt,

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68. Das Opfer im Volke Gottes.

womit er erklärt, daß er diese Gabe Gott darbringen wolle. Dem Tiere legt er seine Hand auf, um dasselbe sinnbildlich zum Träger seiner religiösen Gesinnung zu machen, welche darauf gerichtet ist, Gott für etwas zu danken oder ihn um etwas zu bitten. Diese Absicht bringt aber der Opfernde zur Ausführung durch die Schlachtung des Tieres, wodurch dasselbe Gott übergeben wird, indem es ganz oder zum Teil an den Mar gebracht wird. Diesem Tun des Menschen entspricht nun als Tun Gottes die Annahme des Opfers, welche sich am deullichsten dadurch vollzieht, daß dasselbe von dem als hellig geltenden Opferfeuer verzehrt wird und im Rauche zum Himmel, dem Wohnsitz Gottes, emporsteigt. In dem Emporsteigen des Opferrauches zum Himmel fand der Mensch eine Gewähr für die Annahme seines Opfers seitens der Gottheit e. Die Opfer entspringen aber entweder dem Bewußtsein, der Sünden­ vergebung und Heiligung noch zu bedürfen (meist Mutige Opfer), oder dem Bewußtsein, schon geheiligt zu sein (meist unblutige Opfer). Erst auf Grund der blutigen Opfer werden auch unblutige Opfer seitens der durch die blutigen Opfer als geheiligt geltenden Gemeinde dargebracht. Unblutige Opfer sind aber die Speiseopfer der einzelnen Israeliten, und seitens der Gemeinde die durch die Priesterschast im Heiligen dargebrachten Rauchopfer und auch die im Heiligen beständig aufgelegten Schaubrote. f. Durch sittliche wie auch durch körperliche Vemnreinigung wird nämlich, wie oben bemerktx), der Mensch ein Sünder. Der Sünder aber hat Schuld auf sich geladen und hat Strafe zu erwarten, bei äußerlicher Verunreinigung allerdings erst dann, wenn er die im Gesetz gebotene Reinigung unterläßt. Um nun die Gemeinschaft zwischen dem Sünder und dem heiligen Gott wieder herzustellen, bedarf es der Sühnel2), welche aber nur möglich ist bei Sünden, welche nicht „mit erhobener Hand" (d. h. in geflissentlicher Widersetzlichkeit gegen Gott), sondern „in Verirrung" begangen worden sind. Durch die Sühne wird nicht etwa die für ein Unrecht gesetzlich feststehende Strafe aufgehoben, sondern nur die Gemeinschaft mit Gott für den Sünder wieder hergestellt. Das Mittel der Sühne ist aber für das Volk Israel das (meist blutige, in ver­ schiedene Arten zerfallende) Opfer. Während nun die Sünde int allgemeinen durch das sogen. Brandopfer (und das Friedensopfer) gesühnt werden soll, geschieht die Sühnung der einzelnen Sünden durch das Sündopfer und die der Rechts­ verletzungen überhaupt (die ja stets von einzelnen ausgehen, nicht vom Volke) durch das Schuldopfer. Das Blut des Tieres wird aber beim Sündopfer entweder nur an den im Vorhof stehenden Brandopferaltar gesprengt (beim Opfer des gemeinen Mannes und des Stammesfürsten) oder an die Hörner des Räucheraltars im Heiligen und an den Vorhang des Merheiligsten (beim Sündopfer der Gemeinde und des Hohenpriesters); bei jenen wird das Fleisch des Tieres von den Priestem verzehrt, bei diesen außerhalb des Lagers ver­ brannt. l) Vgl. Nr. 66. 2) Nicht aber die Vergänglichkeit des Menschen, sondern die Sünde (R i e h m gegen R i t s ch l), und weniger die Sünde überhaup t, als bestimmte einzelne Sünden fordern Sühne.

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Auch zur Entsündigung desganzenVolkes wurden nämlich Sündopfer dargebracht, und zwar zunächst an jedem Neumond und an den drei großen Jahresfesten. Die umfassendste Entsündigung des ganzen Volkes aber fand am großen Versöhnungstage statt. Wie das Passahfest die jährliche Erneuerung der Bundesgemeinschaft für den einzelnen Israeliten ist, so ist der Versöhnungstag die jährliche Sühnung des ganzen Volkes1). Diese Sühnung durch Opfer kann aber nur vom Priester bewirkt werden, und Opfern und Sühnen ist gerade die Hauptaufgabe des Priestertums. g *). Wie wird nun aber der Sünder durch das Opfer mit Gott versöhnt? Daß Gott nicht bloß dem Frommen, sondem auch dem Sünder gnädig sein will, das ist eine der Grundvoraussetzungen des Wen Bundes; aber freilich nur gegen denjenigen kann Gott gnädig sein, welcher auch das ernstliche Verlangen hat, von der ihn drückenden Schuld der Sünde stet zu werden. Gottes Gnade und des Menschen Reue sind also die Voraussetzungen der Sündenvergebung im Men, wie auch noch im Neuen Bunde. Aber dem Wesen des Men Bundes entsprechend, muß im A l t e n Bunde diesem inneren Vorgänge zwischen Gott und Mensch auch eine äußere Realität entsprechen, durch welche derselbe nicht bloß versinnbildlicht, sondern auch, wie das We Testament annimmt, verbürgt wird. Daß Gott gnädig ist, wird verbürgt durch den heiligen Ort, den Mar, den er als Stätte der Gnade eingesetzt hat, und durch das zu diesem Zwecke geordnete Priestertum; nur am Mar und durch den Priester wird dem Sünder die Gnade Gottes zu teil. Daß der Sünder bußfertig ist, dokumentiert er durch eine äußere Gabe, ein Opfer, welches er Gott darbringt. Zu einer solchen Gabe gilt aber als am meisten geeignet ein Tier; „das Blut des Tieres ist von Gott dem Menschen gegeben, seine Seele zu sühnen" (3. Mose 17,11). Ohne Opfer, Altar und Priester gibt es also im Men Bunde keine Vergebung der Sünde. Daß nun aber Gott dem Opfernden auch wirklich vergibt, das erkennt derselbe aus der Annahme des Opfers durch Gott: das Blut wird an den Mar gesprengt; der Rauch der verbrannten Fleischstücke steigt gen Himmel, zu Gott, empor; das übrige Fleisch wird, als eine heilige Sache, von den von Gott eingesetzten Priestern verzehrt. Ohne diese äußeren Zeichen der Annahme des Opfers seitens Gottes wird im Men Bunde der Sünder der Gnade Gottes nicht gewiß; „ohne Bluwergießen geschieht nach dem Gesetz keine Vergebung" (Hebr. 9, 22). Aber die Gnade Gottes kann nur demjenigen zu teil werden, welcher sich n i ch t m i t A-b s i ch t gegen Gott vergangen hat; für einen mutwilli­ gen Sünder gibt es im Men Bunde keine Vergebung; seine Seele wird ausgerottet aus der Mtte des Volkes. Daß aber etwa das ganze Volk Israel einmal, weil es sich mutwillig gegen Gott versündigt hat, von Gott verstoßen werden könnte, und wie es dann wieder zu Gnaden angenommen werden sollte — d a v o n ist im eigentlichen Gesetz nirgends die Rede. ß. Wie erlangt nun der Mensch durch das Opfer Vergebung der Sünde? Das Opfer im allgemeinen ist eine Gabe des Menschen an Gott, durch welche er den ihn bewegenden frommen Gefühlen und Wünschen einen sinnl) Vgl. Nr. 65.

-) Dillmann, Wiche Theologie § 56.

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66. Das Opfer im Volke Gottes.

lichen Ausdruck gibt, und durcy deren Annahme an seinem Altar ihn Gott seiner Gnade versichert. Seine Gefüble und Wünsche spricht aber der Mensch beim Opfern aus und gibt sie dem Tiere mit, indem er seine Hand auf dasselbe legt. Damit ist aber nicht gesagt, wie die ältere Theologie annahm, daß das Tier stellverttetend die Sünde auf sich nimmt und für den Menschen die von i h m verdiente Strafe, den Tod, erleide (satisfactio vicaria)1);2 die Notwendigkeit des Opfers beruht nicht auf dem Zorn Gottes (wie die ältere Theologie lehrte), sondern auf der Heiligkeit Gottes,- welcher mit dem Sünder nicht ohne weiteres in Gemeinschaft toten kann. Vielmehr ist die ATliche Anschauung die, daß durch das Blut des Tieropfers die Sünde oder der Smrder vor Gott bedeckt wird. Wenn aber der Sünder durch das Blut des geopferten Tieres vor Gott bedeckt wird, so wird er dadurch vor Gott gereinigt und geweiht. Daß diese Weihe durch Blut betonst wird, hat mit Sühne oder Strafe gar nichts zu tun, sondern beruht auf der alten Vorstellung, daß durch die Gemeinschaft des B l u t e s die Gemeinschaft des Lebens — hier nicht der Menschen unter einander, sondern der Menschen mit Gott — begründet, bez. erneuert wird. Wenn diese Gemeinschaft bei der Bundschließung begründet worden ist, so wird sie bei jedem Opfer erneuert. Dieser ursprüngliche Gedanke, auf welchem die Heiligkeit des Opferblutes beruht, ist allerdings im Gesetz nicht mehr ausgesprochen; in demselben wird einfach vorausgesetzt, daß das Opferblut die Unreinheit des Sünders wegnimmt und in die Gemein­ schaft mit Gott versetzt. Wenn der Sünder vor dem heiligen Gott erscheinen soll, so bedarf es eines Priesters, der ihn zu Gott führt, und einer Weihung, damit Gott seine Unwürdigkeit nicht ansieht. Dieses „hochzeitliche Kleid", in welchem er vor Gott erscheinen kann, verleiht ihm die Gabe, die er Gott darbringt (denn „es soll niemand leer vor dem Herrn erscheinen" [5. Mose 16,16] — ebensowenig wie vor dem König), besonders aber das Blut des von ihm dargebrachten Opfers *). Zwar ist ja nun das Tierblut, wenn man es recht betrachtet, nicht ge­ eignet, des Menschen Sünde zu bedecken, wie der Hebräerbrief mit Recht sagt (K. 9, 9 u. 14; K. 10, 1—4); aber die durch dasselbe im A. T. bewirkte Vergebung der Sünden beruht ja auch nicht auf der inneren Kraft des Tier­ blutes, sondern auf der göttlichen Gnade, welche das Opfer als Sühnmittel eingesetzt hat, und auf der vom Menschen zu erfüllenden Bedingung, daß er seine Sünde bereut. Daß aber des Menschen Reue und sein Verttauen auf Gottes Gnade auch ohne Opfer genügen, um Vergebung der Sünden zu erlangen — das wird im G e s e tz des Alten Bundes nicht angenommen. 7. Wenn nun im Gesetz des Mten Bundes natürlich vor allem der äußere Vorgang der Versöhnung betont wird, so wird dagegen in den Propheten und in den „Schriften" wie auch in den Apokryphen vornehmlich der innere Vorgang derselben betont; von ihnen wird immer wieder darauf hingewiesen, daß das bloße äußere Opfer dem Menschen noch nicht Vergebung der Sünden verschaffe. Aber aus dieser Erkenntnis haben diese Frommen nicht etwa den Schluß gezogen (den w i r ziehen), daß das x) Gegen diese Annahme spricht auch die Anordnung, daß der Arme nicht ein Tier, sondern ein Speisopfer als Sündopfer darbringen darf: 3. Mose 5, 11—13. 2) H. Schultz, ATliche Theologie6, S. 265 s.

68. Das Opfer im Volke Gottes.

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äußere Opfer zu beseitigen seix), daß dasselbe wenigstens in dem messianischen Reiche aufhören werde; nur gegen die Überschätzung des äußeren Opfers ist zunächst ihre Predigt gerichtet, und damit stimmen sie ja sogar mit dem Geiste des Gesetzes selber überein (Hos. 11, 8; Jes. 43, 25; Mich. 7, 20). Wenn von den Propheten und in den „Schriften" wie auch in den Apo­ kryphen im Gegensatz zu dem äußeren Opfer die innere Umkehr des Sünders betont wird, die sich in einem frommenWandel äußert, so hat sich allerdings später an diese Predigt der Irrtum angeschlossen, daß durch gute Werke (z. B. Almosengeben) die Sündenvergebung verdient werde; aber das ist erst die Meinung des nachexilischen Judentums. 8. Wenn in dieser Betonung des inneren Moments beim Opfer die Propheten mit dem Gesetz übereinstimmen, so sind sie doch in anderer Hinsicht über das Gesetz entschieden hinausgeschritten. Zuvörderst predigen die Propheten auch von Vergebung der mut­ willigen Sünde, für welche es im G e s e tz kein Opfer gibt, sondern welche daselbst mit Ausrottung aus der Gemeinde bedroht ist. Wenn das für den einzelnen Israeliten allerdings mehr nur angedeutet als aus­ geführt wird (Hesek. 18 u. 33), so wird dagegen unzweifelhaft für das Volk als Ganzes eine Vergebung auch der mutwilligen Sünde als mög­ lich angesehen, und zwar ohne Opfer (welches ja auch im Gesetz für diesen Fall gar nicht vorgesehen war), aus bloßer göttlicher Barmherzigkeit (Jes. 43, 22—25). Mit dieser Predigt näherten sich die Propheten der Predigt desN.T. vom verlorenen Sohne, welcher von Gott aus reiner Gnade wieder zum Sohne angenommen wird (am meisten Jes. 54, 6—10). Aber daß der Mensch, der Vergebung der Sünden von Gott erhalten hat, nun auch seinerseits seinem Mitmerychen die Schuld erlassen müsse, diese Forderung Jesu geht über das A. T. hinaus. e. Aber Propheten und Dichter und Apokryphen sprechen auch manchmal in einer Weise vom Opfer, daß man glauben möchte, daß sie dasselbe minde­ stens für entbehrlich, wenn nicht gar für verwerflich gehalten haben. (Vgl. Jes. 1,11-18; Jer. 6, 20; 7, 22-24; 8,10. Hosea 11, 8; Joel 2,13; Amos 5, 21-27; Micha 6, 6-8; 7, 18: Mal. 1,10; Judith 16,19; Weisheit 12,19; Tob. 3,14; Sirach 7,9; 34,23; 35,1—15; 2,13; 21,1; 18,12; Gebet Manche. — Luk. 18, 12 ist das O p f e r nicht genannt.) Diese Erkenntnis der Pro­ pheten ist jedoch trotz der Zerstörung des Tempels, welche dazu führen konnte (und im neueren Judentum wirklich dazu geführt hat) im Judentum zunächst nicht herrschend geworden. Schon der Prophet Hesekiel konnte sich das neue Gottesreich nicht ohne Priester und Opfer denken; vollends das nach dem Exil zur Anerkennung gebrachte Priestergesetz hat den äußeren Kultus mehr betont, als das jemals früher geschehen war.' So war denn dem nachexilischen Judentum die Predigt der Propheten von der Wertlosigkeit des äußeren Kultus wieder ferner getreten, erst im Christentum ist dieselbe zur Anerkennung gekommen. Aber selbst im Christen*) Dieser Erkenntnis kommen am nächsten Ps. 32 und 51; aber auch in Psalm 51 ist das Opfer (nach den Schlußversen, die der nachexilische Dichter dieser Verse hinzufügt) nur so lange als entbehrlich betrachtet, bis der zerstörte Tempel wieder her­ gestellt ist.

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68. Das Opfer im Volke Gottes.

tum ist das Opfer nicht ganz verschwunden; die katholische Kirche legt ja noch heute auf das Meßopfer das größte Gewicht; erst die evangelische Kirche hat sich zu der Erkenntnis erhoben, daß es seitens des Christen keines anderen Opfers bedürfe als des Opfers der Hingabe des Herzens an Gott. h1). über die Entstehung und allmähliche Ausbildung des Opfers haben neuere Forscher folgende Ansicht aufgestellt.

Schriftgelehrte an Jesum mit der Frage heran, ob sich der Mensch aus j e d e m Grunde von seinem Weibe scheiden dürfe. Ihnen antwortete Jesus, es habe zwar Moses die Scheidung gestattet, aber nur um ihrer Herzenshärtigkeit !) „Wenn der Bruder etwas gegen dich hat", ist nicht nach dem deutschen Ausdruck zu verstehen (= er ist auf dich böse), sondern: „wenn er eine gerechte Klage gegen dich hat", welche die Wohlgefälligkeit des Opfers vor Gott ausschließt. — Das Opfer zu unterbrechen, galt den Pharisäem für verboten. *) Des Achilles Unversöhnlichkeit war schuld an dem Tode des Patroklos. — Der „Heller" (quadrans) — säst 2 Pfennig.

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119. Jesu Predigt von der Gerechtigkeit.

willen, die leicht noch schlimmere Übel in der Ehe herbeiführen könne, als eine Scheidung; aber nach der ursprünglichen, in der Schöpfungsgeschichte ausgesprochenen Bestimmung Gottes sei die Ehe unlösbar; die Ehe sei von Gott eingesetzt, und jede Ehe solle im Himmel geschlossen sein (oft ist sie es freilich nicht), und darum solle der Mensch sie nicht willkürlich lösen, damit er nicht zum Ehebrecher werde. Auf diesem Standpunkte steht (allerdings auch nicht völlig) die katholische Kirche, die ja überhaupt die Scheidung nicht aner­ kennt und dem Geschiedenen keine zweite Ehe erlaubt (aber andere Hilfsmittel weiß, um das Verbot zu umgehen). Jesus selber aber erkennt in der Berg­ predigt und auch Matth. 19 an, daß es doch seinem Jünger erlaubt sei *), die Ehe aufzulösen, nämlich wenn der andere Teil die Ehe durch Ehebruch bereits tatsächlich aufgelöst hat2). Wenn nun Paulus (1. Kor. 7, 10—17)3) erklärt er alleinige Konsul gewesen sei. 2) Barabbas heißt: Sohn des Vaters — ein merkwürdiger Name für den, der dem rechten „Sohn des Vaters" gegenübergestellt wurde. Das Hebräer-Evangelium deutete den Namen als „Sohn des Lehrers", da der Lehrer auch Vater genannt wurde (was Jesus bekämpft Mt. 23, 9). Noch seltsamer ist es, wenn dieser Mann Jesus Barabbas geheißen hat, wie in manchen Hand­ schriften geschrieben steht. Vgl. H o f m a n n, Leben Jesu nach den Apokryphen, S. 360-361.

132. 'Der Tod Jesu (Freitag).

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Da nun Pilatus nicht wagte, dem Volke geradezu entgegenzutreten, so suchte er in anderer Weise das Volk umzustimmen. Wer gekreuzigt werden sollte, der wurde zuvor gegeißelt. Jesu Rücken wurde also von den Soldaten entblößt und blutig geschlagen, und nach der Geißelung hängten sie ihm, dem angeblichen Judenkönig, einen Purpurmantel um, wie ihn die Soldaten trugen, flochten aus Dornen eine Krone und setzten sie auf sein Haupt und gaben ihm ein Rohr, ein angebliches Scepter, in die Hand. In dieser Gestalt führte Pilatus Jesum heraus vor das Volk, und indem er sagte: „Sehet, welch ein Mensch!" (Ecce homo!) hoffte er das Mitleid des Volkes zu erregen und Jesum loslassen zu können1). Ms nun trotzdem die von den Oberen aufgehetzte" Volksmenge bei ihrer Forderung beharrte, daß Jesus gekreuzigt würde, da erwiderte Pilatus un­ willig: „So nehmet i h r ihn hin und kreuzigt ihn, denn i ch finde keine Schuld an ihm" (Joh. 19, 6). Das durften sie aber nicht, und darum versuchten sie nunmehr auf eine andere Weise, Pilatus zur Kreuzigung Jesu zu bewegen. Bisher hatten sie dem heidnischen Richter gegenüber Jesum immer nur als einen Aufrührer dargestellt; aber Pilatus hatte die Nichtigkeit dieser Anllage durchschaut. Nunmehr brachten sie erst das vor, womit sie bisher zurückgehalten *) Was die Soldaten hier mit Jesus in Jerusalem machen, das hat wenige Jahre später (int I. 38) in Alexandria der judenfeindliche Pöbel zur Verhöhnung des vom Kaiser Caligula zunächst mit einer kleinen Herrschaft im jüdischen Lande betrauten Herodes Agrippa I. (des späteren Königs des ganzen jüdischen Landes 41—4a) an einem Wahnsinnigen getan. Wie die römischen Soldaten auf diese Form der Verspottung^gekommen sind, hat man neuerdings erllären gelernt. Es war im römischen Heere Sitte, jährlich das Fest des Saturnus zu feiern. Wen das Los traf, der legte königliches Gewand an, wurde als Saturnus von Soldaten begleitet, durfte dreißig Tage lang sich allen Lüsten zügellos hingeben, wurde aber danach dem Saturnus als Opfer dargebracht. Dieses Maskenspiel feierten im I. 38 die Soldaten, die dasselbe jedes Jahr feierten und das dem Volke wohl bekannt war, in Alexandria mit einem Wahn­ sinnigen zur Verspottung des Judenkönigs, und einige Jahre vorher in Jerusalem mit dem angeblichen Judenkönige zu seiner und des jüdischen Volkes Verspottung. In Jerusalem stimmt diese Scene sogar vollständig mit dem Saturnalienscherze überein. Der erlöste Saturnus muß sterben, wie einst Saturnus gestürzt worden ist, wie Osiris und Simson, wie Heralles und Adonis, wie Baldur und Siegfried — alles Gestalten, in welchen die Sonne personifiziert ist, welche täglich aufgeht aber auch untergeht, welche auch in jedem Jahre einen Höhepunkt erreicht, von dem sie wieder herabgestürzt wird. Der Segen spendende Sonnengott (der in diesen Ge­ stalten zu sehen ist) stirbt aber, wenn er am höchsten steht (am Johannistage, dem 24. Juni nach dem alten Kalender); auch Jesus ist gestorben, und zwar gleichfalls, als er mit seinem Einzuge in Jerusalem den Höhepunkt der Anerkennung von seiten des Volkes erreicht hatte; das „neue Licht", das in die Welt gekommen war, geht unter im Tode, wie der alte Sonnengott, vor dem Tode noch verspottet durch die Nachahmung einer aus dem Kultus des Sonnengottes herstammenden Sitte. Mer wie die Sonne aufs neue hervorkommt, so auch Jesus, das wahre Licht der Welt: auch er ist aus dem Tode wieder hervorgegangen zu neuem Leben. — Vgl. Christ!. Welt 1900, Nr. 15, nach Wendland, Hermes, Band 33 (zu den jüngst veröffent­ lichen Märtyrer-Akten des h. Dasius). — Ein andrer Forscher ( R e i ch ) hat auf eine ähnliche Scene im antiken Mimus (der Theaterposse), ein dritter (Vollmar, Jesus und das Sacäenopfer. Gießen, 1905) auf ein Fest des Volkes der Sake'n hin­ gewiesen, dessen Feier in der Hinrichtung eines vorher mit königlichen Ehren über­ häuften Gefangenen gipfelte. 3t H et brich. Heilige Geschichte. 3. Ausl.

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132. Der Tod Jesu (Freitag).

hatten, daß Jesus sich nämlich für den Gottessohn 4) erklärt und deshalb nach ihrem Gesetz den Tod verdient habe. Aber diese Anklage bewirkte gerade das Gegenteil von dem, was sie bewirken sollte. Von Göttersöhnen redeten ja auch die Heiden, und wenn nun auch Pilatus an allem zweifelte, so war doch sein Unglaube nicht entschieden genug, um nicht doch in ihm den Ge­ danken aufkommen zu lassen, daß es vielleicht doch Götter gebe und er vielleicht in dem seltsamen Gefangenen, der auf ihn gewiß einigen Eindruck gemacht hatte, einen Göttersohn vor sich habe. So fragte er denn Jesum nach seiner Abstammung, und als derselbe ihm nichts erwiderte, sagte er zu ihm: „Weißt du nicht, daß ich Macht habe dich loszulassen oder dich zu kreuzigen?" Darauf erwiderte ihm Jesus: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre!" Dies Wort machte auf Pilatus einen solchen Ein­ druck, daß er den Juden aufs neue erklärte, er finde keine Schuld an diesem Menschen. Aber die Juden wußten doch ihren Willen bei Pilatus durchzusetzen. Sie hatten schon früher einmal, als sie mit Pilatus nicht zufrieden waren, sich an den Kaiser gewandt, und derselbe hatte ihnen recht gegeben2); auch jetzt hielten sie ihm den Kaiser vor als denjenigen, den er zu fürchten habe, indem sie sagten: „Wenn du diesen losläßt, so bist du kein Freund des Kaisers, denn dieser Jesus will sich zum König machen wider den Kaiser." Das wirkte endlich bei Pilatus; den Kaiser fürchtete er schließlich doch mehr als Gott; so entschloß er sich endlich, Jesum den Juden preiszugeben. Er setzte sich also auf den Richterstuhl und sprach das Endurteil, daß Jesus den Kreuzestod erleiden solle (condemno, ibis in crucem). Das tat Pilatus trotz der Fürbitte seiner Frau 3), in dem Bewußtsein, daß er Unrecht tue, weshalb er sich vor dem Volke die Hände wusch; das Volk aber erklärte sich bereit, diese Schuld auf sich zu nehmen: „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder." g. Die Strafe der Kreuzigung. Das Kreuz, an welches verurteilte Verbrecher im Morgenlande, aber auch von den Römern (doch nicht römische Bürger) angeheftet wurden, war zunächst ein ein­ facher Stamm, dann auch ein Stamm mit einem Querholz, welches oben aufgelegt (also dem lat. T entsprechend) oder in der Mitte befestigt wurde (die gewöhnliche Kreuzesform). Jesus ist wohl an einem Kreuze der gewöhnlichen Form befestigt worden; das von ihm getragene Holz war das Querholz, nicht der für einen einzelnen Menschen zu schwere senkrechte Stamm; an dem emporragenden Stamme über dem Querholz wurde die Aufschrift befestigt. Der Körper hatte vielfach eine Stütze an einem in der Mitte befindlichen hervorragenden Sitzholz; aber das von der späteren christlichen Kunst dargestellte Stützbrett für die Füße ist unerweislich — wahrscheinlich nur ein künstlerischer Ersatz des aus ästhetischen Gründen weggelassenen Sitzbrettes4). *) So bezeichnen die Juden (in Übereinstimmung mit dem A. T.) den Messias, weil Pilatus von einem Messias nichts weiß. a) Pilatus wollte einst dem göttlich verehrten Kaiser zu Ehren goldene Schilde, wenn auch nicht mit dem B i l d e, so doch mit dem N a m e n des Kaisers in Jerusalem aufstellen; aber Tiberius befahl auf die Bitte der Juden, die Schilde aus Jerusalem nach Cäsarea zu schaffen. Vgl. auch oben Nr. 90 b. 8) Vgl. Nr. 134 d. 4) Vgl. Theol. Encykl.3 s. v. „Kreuz und Kreuzigung".

132. Der Tod Jesu (Freitag).

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An das Kreuz wurde der Vemrteilte mit Stricken hinaufgezogen, dann an demselben befestigt, indem man die Hände x) und wohl auch die Füße mit Nägeln (also mit 2, 3 oder 4 Nägeln, je nachdem Hände und Füße zusammen oder einzeln durchbohrt wurden) an dem Kreuze befestigte2). Aber die Nägel hätten den Körper vielleicht kaum festgehalten, wenn nicht das Sitzholz denselben mitgehalten hätte. Die Kreuzigung war „die grausamste und schrecklichste Strafe" (crudelissimum teterrimumque supplicium, vgl. Cic. Verr. V, 64), die erst durch die Folterqualen der Christen des Mittelalters übertroffen worden ist. Der Vemrteilte sollte sterben, und doch genügte die ihm zugefügte Qual nicht, um ihn schnell zu töten; es dauerte meist zwölf Stunden, oft bis zum andern, ja bis zum dritten Tage, ehe er den Tod fand. Ein bei Zeiten vom Kreuze abgenommener Mensch konnte allenfalls wieder hergestellt werden2). Vollzogen wurde die Kreuzigung durch Soldaten (vielleicht vier, wie auch sonst diese Zahl vorkommt, vgl. Apg. 12, 4), welche von einem Offizier (Centurio) befehligt wurden; die Soldaten erhielten die Kleider des Verbrechers, da derselbe nackt am Kreuze befestigt wurde. Bei den Römern blieben die Gekreuzigten am Kreuze hängen und wurden nicht begraben; die Juden gestatteten, ja forderten die Abnahme des Leichnams, Samit nicht das Land vemnreinigt würde, wie ihr Gesetz sagte. Das an den beiden Schächern stattfindende Zerbrechen der Beine war sonst eine besondere Strafe, die hier nur angewandt wurde, um den Tod zu beschleunigen und die Leichname vor dem Sabbath abnehmen zu können. Der nach der Kreuzigung Jesu erfolgte La n z e n st i ch war eine Ausnahmemaßregel, von der wir sonst nichts hören; nur t) kam auch sonst vor, daß man den Tod Gekreuzigter durch einen Speerstich unter Sie Achsel beschleunigte.

h. Der Gang nach Golgatha. Luk. 23, 26-32. Das Todesurteil wurde nach alter Sitte auch sofort vollstreckt; um die Mittagszeit (Joh. 19,14) oder noch früher, gegen 9 Uhr (Mark. 15, 25), wurde Jesus zusammen mit zwei andern Verurteilten4) von den mit der Kreuzigung beauftragten Soldaten nach einem Hügel vor der Stadt geführt, der von seiner Gestalt den Namen Golgatha, d. h. Schädelstätte, führte5). Der Ver­ urteilte mußte sein Kreuz (das Querholz) selber tragen4); da aber Jesus nach den Qualen der letzten Nacht unter der Last des schweren Holzes zusammen­ brach, so ergriffen die Soldaten einen Juden, der ihnen gerade begegnete, *) Wenn kein Querholz da war, wurden die Hände über dem Kopfe an den Stamm genagelt. 2) Über diese Nägel vgl. H o f m a n n, Leben Jesu nach den Apokryphen, S. 375—376. 3) Von drei Gekreuzigten, die bei der Belagemng .Jemsalerns aus die Fürbitte des Josephus bei Titus vorn Kreuze wieder herab­ genommen wurden, kam, obwohl sie nur kurze Zeit gehangen hatten, trotz sorgfältiger Pflege nur einer mit dem Leben davon. 4) Eine der vorlutherischen Bibeln be­ zeichnet dieselben als die „Schächer am Kreuz"; das seltene Wort „Schächer" (in Luthers Bibel nicht vorkommend, aber z. B. im Nibelungenliede) bedeutet „Straßen­ räuber" ; bie Legende nennt ihre Namen und erzählt ihre Geschichte; vgl. Hofmann, Leben Jesu nach den Apokr., § 30. — Daß man dem Lästerer den linken Platz zugeschrieben hat, bemht auf Mt. 25, 41. 6) Vgl. Nr. 133. Ä) Daher schon in den Reden Jesu die Redensart: „Sein Kreuz auf sich nehmen."

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132. Der Tod Jesu (Freitag).

Simon von Kyrene, und nötigten ihn, sür Jesus das Kreuz zu tragen. Das war ein glücklicher Zufall, der diesen Mann zu Jesus und bald wohl auch zum Glauben an Jesum führte; seine Söhne werden im Neuen Testament als Christen genannt (Mark. 15, 21). Eine Anzahl Frauen gab Jesu auf seinem letzten Gange das Geleit und beklagte sein Schicksal. Er aber sagte zu ihnen: „Ihr Töchter von Jerusalem, weinet nicht über mich, sondem weinet über euch selbst und über eure Kinder! Wenn das geschieht am grünen Holz, was soll aus dem dürren werden?" i. Jesus am Kreuze. Luk. 23, 33 u. 39—43. Joh. 19, 25-27. Mark. 15, 34. Joh. 19, 28. 19,30. Luk. 23, 46. a. Ms die Soldaten am Platze der Hinrichtung angekommen waren, boten sie den Verurteilten der j ü d i s ch e n Sitte gemäß, um ihre Qual zu lindem, einen betäubenden Trank an (Wein mit Myrrhen gemischt); aber Jesus wies denselben zurück, da er mit klarem Bewußtsein auf sich nehmen wollte, was Gottes Wille über ihn verhängt hatte. Nunmehr wurde er nebst den beiden Verbrechem ans Kreuz gehängt, er in der Mitte, die andem zu beiden Seiten, und über den Kreuzen wurden die Tafeln befestigt, welche die Schuld der Gekreuzigten bezeichneten. Über dem Kreuze Jesu war zu lesen *): „Jesus von Nazareth, der Juden König" (Jesus Nazarenus rex Judaeorum, abgekürzt bei uns: J. N. R. J.), wie Pilatus zu schreiben befohlen hatte trotz des Protestes der Juden, welche verlangten, daß er schreibe, Jesus habe behauptet, der König der Juden zu sein (Joh. 19, 21—22). Die Kleider der Gekreuzigten fielen den Soldaten zu, und diese verteilten dieselben unter sich durch das Los2). ß. Während nun Jesus am Kreuze hing, wurde er von den Vorübergehenden verspottet; aber er litt schweigend auch diesen Schimpf. Mer wohl werden uns von den Evangelisten sieben Worte überliefert, welche Jesus am Kreuze gesprochen hat, die letzten Worte unseres sterbenden Heilandes (deren Aufeinanderfolge freilich nirgends angegeben wird), in der Predigt und in den Siebern der Kirche, wie auch in der christlichen Musik immer aufs neue verherrlicht. Wie wir im Vatemnser in den drei ersten Bitten nicht an uns selber, sondem an Gott denken und erst in den vier letzten an uns selber, so hat auch Jesus (nach der üblichen Ordnung der Worte) in den drei ersten Worten nicht an sich selber, sondem in göttlicher Liebe an seine Mitmenschen gedacht; erst die vier letzten Worte beziehen sich auf ihn selber *). Ms er nämlich von den Kriegsknechten am Kreuze befestigt worden war, da betete Jesus (Luk. 23, 34): „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" Jesus hat die Feindesliebe nicht bloß geboten, sondem auch geübt, und der erste christliche Märtyrer, Stephanus, hat sie von ihm gelernt, indem auch er gebetet hat: „Herr, behalte ihnen diese Sünde nicht!" ') Nach Joh. 19, 20 in den drei im Lande üblichen Sprachen: in hebräischer (aramäischer), in griechischer und in lateinischer Sprache. 2) Vgl. Nr. 134 e. a) Bon den sieben Worten Jesu am Kreuz ist eins im Evang. Matth, (und Mark.), drei im Evang. Lucä, drei im^Evang. Joh. enthalten.

132. Der Tod Jesu (Freitag).

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Ein zweites Wort entlockte Jesu einer der mit ihm gekreuzigten Schächer. Ms nämlich der eine derselben ihn verhöhnte, wie die unten stehenden Un­ gläubigen, und ihm zurief: „Bist du der Sohn Gottes, so hilf dir selber und uns" — da schalt ihn der andere mit den Worten: „Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Und zwar sind w i r mit Recht darin; wir empfangen, was wir mit unseren Taten verdient haben; diese tfhbet hat nichts Unrechtes getan." Er hatte, vielleicht schon früher, jedenfalls aber jetzt von dem am Kreuz hängenden Jesus einen^Eindruck bekommen, der ihn sprechen ließ: „Herr, gedenke an mich, wenn du (als König) in (mit) deinem Reiche kommst!" Und Jesus erwiderte ihm, mehr als Irdisches verheißend (Luk. 23,43): „Wahrlich,ichsagedir, heute nochwirstdumitmir (bei Gott) i m P a r a d i e s e s e i n!" *) Das dritte Wort Jesu richtete sich an die ©einigen. Zwar waren ja alle Jünger bei seiner Gefangennehmung geflohen; aber als er nun starb, da war er doch von den Seinen nicht ganz verlassen; unter dem Kreuze standen wenig­ stens Johannes und dessen Mutter, wie auch die Mutter Jesu. Da wandte sich nun Jesus an seine Mutter und sagte zu ihr (Joh. 19, 26—27): „Weib, (nach heutiger Sprache: „Frau" — freilich nicht: „Mutter", noch weniger: „Gebenedeite Mutter" oder gar: „Mutter Gottes") siehe, dasistdein Sohn", und zu Johannes sagte er: „Siehe,das ist deine Mutter!" Sein Lieblingsjünger sollte bei Maria an s e i n e Stelle treten. Die drei ersten Worte Jesu galten andern, die vier letzten Worte bettafen ihn selber. „Eli,eli,lama sabachthani" (aramäisch, statt des hebräi­ schen „asabthani") d. h.: „MeinGott,meinGott, warumhast dumichverlasse n?" so betet Jesus (Matth. 27, 46. Mark. 15, 34) mit den Worten seines Vorläufers David (Ps. 22), als er nicht nur des Leibes, sondern auch der Seele Qual für uns am Kreuze erduldete, zwar noch immer an „seinem" Gott festhaltend, aber doch „verlassen" sich fühlend2). Bald darauf rief Jesus (Joh. 19, 28): „Michdürste t", und ein Soldat reichte ihm auf einem Mopstengel3) einen Schwamm, den er in das im Morgenlande übliche Gettänk (Essig mit Wasser)4) getaucht hatte. Darauf sprach Jesus (Joh. 19,30): „Esistvollbrach t", und bald darauf verschied er mit dem Worte (Luk. 23, 46): Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!" Unter wunderbaren Naturerscheinungen5) ist Jesus nach einem Leiden von nur wenigen Stunden verschieden, in der Zeit, wo dieWassahlämmer im Tempel geschlachtet wurden (etwa Nachmittag 3 Uhr); der römische Hauptmann, der an seinem Kreuze stand •), empfing von dem Tode Jesu einen solchen Eindruck, daß er sagte: „Wahrlich, dieser Mensch ist ein Sohn eines Gottes gewesen" — auch die Heiden sprachen ja von Söhnen ihrer Götter. ') Eine apokryphische Erzählung von der Erfüllung dieses Wortes siehe bei H o s m a n n. Leben Jesu nach den Apokr. (1851), § 101. a) Über die aramäische Form dieses Wortes vgl. oben Seite 435, Anm. 8. ’) Eine Pflanze mit einem 1 Meter hohen Stengel. *) Auch das gewöhnliche Getränk der römischen Soldaten und der Sklaven. ‘) Über die Finsternis vgl. Schneller I, v, Karfreitag. ®) Diese Soldaten könnten Deutsche gewesen sein, wie es in Geibels „Tiberius" dargestellt ist, da wir aus späterer Zeit die Nachricht haben, daß im heiligen Lande eine deutsche Legion gestanden habe.

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133. Die via dolorosa; das heilige Grab.

k. Das Begräbnis Jesu. Joh. 19, 31-42. Der Freitag, an welchem Jesus starb, war derjenige Tag, an welchem des Abends das Passahmahl gehalten wurde; der folgende Sonnabend war der erste Osterfeiertag. Damit nun nicht am Festtage die Hingerichteten noch vielleicht lebend oder tot an den Kreuzen hingen, hatten die jüdischen Oberen den Pilatus gebeten, dieselben noch vor dem Beginn des Sabbaths töten zu lassen, damit sie vom Kreuze abgenommen und begraben werden könnten. Pilatus gewährte den Juden diese Bitte, und so wurden denn, um sie rascher zu töten, den beiden mit Jesus gekreuzigten Schächern die Beine zerschmettert. Als das an Jesus ebenfalls geschehen sollte, sahen die Soldaten, daß er bereits tot war; um sich aber über seinen Tod zu vergewissern, stach ihn einer der Soldatenx) mit der Lanze in die Seite, und Johannes, der unter dem Kreuze stand, sah Blut und Wasser aus der Seite herausfließen. So ward Jesu, als dem rechten Passahlamm, „kein Bein gebrochen". Als nun Jesus tot war, da fand ein Mitglied des Synedriums, Joseph von Arimathia, ein heimlicher Anhänger Jesu, den Mut, Pilatus um den Leichnam Jesu zu bitten, damit er ihn bestatten könne. Als Pilatus ihm diese Bitte gewährte, da nahm derselbe den Leichnam Jesu vom Kreuze ab und brachte ihn nach seinem Garten, wo er ein neues (für ihn selber bestimmtes) Grab besaß, welches in einen Felsen gehauen war. An der Beisetzung beteiligte sich auch Nikodemus, ebenfalls ein Mitglied des Synedriums und ein heim­ licher Anhänger Jesu. Ein gewaltiger Stein wurde vor das Grab Jesu ge­ wälzt; auch der Gottessohn war gleich uns Sündern „gestorben und begraben".

133. Die via dolorosa; das heilige Grab*). a. Daß in Jerusalem noch der aus 14 Stationen bestehende „Schmerzensweg" (die via dolorosa) des zum Tode geführten Erlösers gezeigt wird, und daß an vielen Orten eine Nachbildung dieses Weges zu finden ist, ist bekannt; eine Beschreibung desselben findet der Leser z. B. in Baedekers Palästina (1910)»). b. G o l g a th a i), wo Jesus gekreuzigt worden ist, muß, da bei der Kreuzigung von „Hinausführen" (Mark. 15, 20) und „Hinausgehen" (Matth. 27, 32; Joh. 19, 17) gesprochen wird, außerhalb der Stadt Jerusalem gelegen haben, vielleicht an einer Straße, da von „Vorübergehenden" die Rede ist (Matth. 27, 39; Mark. 15, 29). Der Name wird in der Bibel als „Schädelstätte" gedeutet, aber nicht etwa als Hinrichtungs­ platz (solche gab es damals nicht) mit herumliegenden Schädeln (diese hätten nach dem jüdischen Gesetz das Land verunreinigt), sondern wegen seiner Gestalt6), weil 2) Nach der Sage der Hauptmann Longinus, mit der (in Antiochia gefundenen) Lanze. Vgl. Nr. 134 f. 2) Vgl. Theol. Encykl.3 s. v. „Grab, das heilige", und Baedeker, Palästina (1910), S. 32-47. 3) Vgl. daselbst S. 44—47, 41, 40 und 37. 4) Abgeleitet von dem hebräischen Worte „Gulgolelh", d. h. Schädel, in aramäischer Form mit nachgesetztem Artikel „Gulgulta" oder „Gulgalta", im grie­ chischen Texte des N. T.: Golgatha (mit Weglassung des zweiten l), also: „der Schädel". 6) Nach einer jüdischen Sage ist Golgatha der Schädel Adams, und in dieser! Erhöhung befand sich sein Grab. Vgl. Theol. Encykl.3 7, 45 s.

133. Die via dolorosa; das heilige Grab.

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der Platz wie ein Schädel aus der Ebene hervorragte (Luk. 23, 33); es wird also wohl ein Hügel bei Jerusalem gewesen sein*). Das Grab Jesu war nach der Bibel in der Nähe von Golgatha in einem Garten (Joh. 19, 47). Wenn diese Stätten nun heute, wodieheiligeGrabeskirche über ihnen erbaut ist, in Jerusalem selbst liegen, und zwar im nordwestlichen Teile der Stadt, im Christenviertel, so ist natürlich der Zweifel berechtigt, ob man die richtigen Plätze des Todes und des Begräbnisses Jesu getroffen habe. Ja, man möchte fast wünschen, daß die Grabeskirche nicht am richtigen Orte erbaut sei, damit derselbe nicht so sehr durch die abergläubische und unwürdige Feier entweiht werde, durch welche er noch heute vielfach entweiht wird, indem z. B. noch heute am Ostersonnabend von den griechischen Priestern aus der heiligen Grabkapelle den Gläubigen Feuer dargereicht wird, welches sich angeblich selbst entzündet hat2). Auch ist es nicht selbstverständlich, daß die Christen die heiligen Stätten stets im Gedächtnis behalten haben, namentlich in einer Stadt, welche gänzlich zerstört worden ist. Die Auffindung derselben durch den Kaiser Constantinus ist kein ganz ausreichender Beweis für die Richtigkeit seiner Annahme- daß der von ihm niedergerissene Venustempel in der Tat an diese Stelle gesetzt worden war, um dieselbe den Christen zu verleiden, wie auf dem Tempelplatz der Juden ein Jupitertempel gebaut worden war — dafür fehlt jede geschichtliche Kunde. So glauben denn auch neuere Forscher, Golgatha an einer anderen Stelle gefunden zu haben, welche dem Berichte von der Kreuzigung Jesu an einem Orte außerhalb der Stadt besser entspricht. Doch ist man in der neuesten Zeit wieder der Meinung, daß die heutigen heiligen Stätten zur Zeit Jesu außerhalb der Stadt gelegen haben, und somit echt sein können. Auf dieser Stelle, deren Echtheit also dahingestellt bleiben muß, hat der Kaiser Constantinus im Jahre 336 eine oder vielmehr mehrere Bauten errichtet. Dieselben wurden im Jahre 614 bei einem Einfall der Perser in Jerusalem durch Feuer gänzlich zerstört2). Bald darauf wurden neue Heiligtümer erbaut; nach abermaliger Zer­ störung wurden sie im Jahre 1048 wiederum aufgebaut. In diese Grabeskirche sind die Kreuzfahrer im Jahre 1099 nach der Eroberung Jerusalems feierlich einge­ zogen. Um das Jahr 1145 wurde nun eine Erweiterung der Gebäude vorgenommen, wie sie wesentlich noch dem heutigen Gebäude zu Grunde liegt. Indes auch diese Kirche wurde vielfach beschädigt, ja im Jahre 1808 durch Feuer gänzlich zerstört. Die heutige Grabeskirche, welche sowohl den Hügel Golgatha als auch das heilige Grab (und noch viele andere heilige Orte) enthält, stammt aus dem Jahre 1810, und ist wesentlich von den Griechen und den Armeniern erbaut worden, ist aber gemein­ sames Eigentum der Lateiner, Griechen und Armenier; das Recht, die Schlüssel der Kirche zu verwahren, besitzt aber seit Jahrhunderten eine mohammedanische Familie. Die Kuppel wurde im Jahre 1868 durch Napoleon III. und Alexander II. von Ruß­ land erneuert. Die von vielen Kapellen und Seitengebäuden umgebene im romanischen Stil gebaute dreischiffige Kirche des heiligen Grabes erstreckt sich von Westen nach Osten *) Deshalb als Nachbildung die Calvarien - B e r g e der kath. Kirche (mit den zu ihnen führenden Leidensstationen; calvaria d. h. Schädel). 2) Vgl. Baede­ ker, Palästina (1910), S. 41. *) Damals wurde auch das angeblich von Constantins Mutter Helena gefundene Kreuz Christi entführt, aber im Jahre 628 nach Jerusalem zurückgebracht.

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134. Das Leiden des Herrn in der Sage.

in einer Länge von 42 m und einer Breite von 38 m. An dieses Hauptgebäude schließt sich die Kapelle der Kreuzigung an, in welcher sich über den Boden der Kalksteinfels erhebt, auf welchem angeblich die drei Kreuze gestanden haben. Unter der Haüptkuppel befindet sich, wie eine Kirche in der Kirche, das heilige Grab, dessen Kammer nur 2 m lang und breit und ein wenig höher ist. Diese heiligen Stätten den Mohammedanern zu entreißen, war das Streben der im Mittelalter immer aufs neue unternommenen Kreuzzüge; aber die Christen sind nach einem zweihundertjährigen Kampfe wieder aus dem heiligen Lande ver­ drängt worden, und noch heute sind die Mohammedaner die Herren von Jerusalem und dem heiligen Lande.

134. DaS Leiden des Herrn in der Sage1). Vom Leiden des Herm erzählt außer der Bibel die Sage manches, was so schön ist, daß es die Beachtung verdient, die es gefunden hat. Einiges aus diesem christlichen Sägenschatz soll im folgenden mitgeteilt werden. a2). Als Jesus, das schwere Kreuzesholz auf dem Rücken, durch die Straßen von Jerusalem zur Hinrichtung abgeführt wurde, da stand er, wie die Sage erzählt, vor Ermattung einmal ein wenig still, und dabei lehnte er sich an ein Haus, um aus­ zuruhen. Aber der Eigentümer desselben, ein Schuhmacher Namens Ahasverus, der mit der Menge gerufen hatte: „Kreuzige ihn," hatte das kaum bemerkt (er stand in der Tür, ein Kind auf dem Arm), als er herzusprang und Jesu zurief: „Mache dich fort, wohin du gehörst; du sollst hier nicht ruhen!" Da nahm Jesus sein Kreuz wieder auf, sah dem Juden ernst ins Gesicht und sagte zu ihm: „I ch gehe zur Ruhe, d u aber sollst ohne Ruhe fortan wandern, bis ich wiederkomme!" Alsbald fuhr ein Geist der Unruhe in Ahasverus; nachdem er die Kreuzigung mit angesehen, zog er, ohne noch einmal zu Weib und Kind zurückzukehren, in die Weite, aus einem Lande ins andre; als er vierzig Jahre später wieder nach Jerusalem kam, fand er alles in Trümmern. Endlich war er hundert Jahr alt geworden; da wurde er so schwach, daß er glaubte, er werde sterben; aber er erwachte wieder, wie aus einer Ohnmacht, und war wieder so kräftig, wie er mit dreißig Jahren gewesen war, als er Jesum von seinem Hause trieb. Wiederum durchlebte er siebzig Jahre und wurde schwächer und schwächer, bis er nach einer Ohnmacht sich wieder neu gekräftigt fühlte. So lebt er noch heute und wandert noch immerdar umher, als ein alter Mann von hoher Gestalt mit langen über die Schultern herabhängenden Haaren, mit einem einfachen Rocke belleidet, ohne Schuhe; Speise und Trank nimmt er nur sehr wenig an; Gew, das man ihm schenkt, verteilt er bald wieder unter die Armen; er kennt aller Länder Sprachen und weiß von allem zu erzählen, was seit Jesu Tode geschehen ist; bei der Wiederkunft des Herrn hofft auch er Gnade zu erlangen. Im 16. und 17. Jahrhundert glaubten die Leute vielfach, diesen seltsamen Fremdling, „denewigenJude n", gesehen zu haben. b. In ansprechender Weise hat das deutsche Volk einige Pflanzen und Tiere *) Der Lehrer findet eine Zusammenstellung der meisten hierher gehörenden Stoffe bei H o f m a n n, Leben Jesu nach den Apokryphen (1851), § 77—104. a) Aber diese Erzählung ist vor dem Jahre 1602, wo sie in Deutschland ge­ druckt erscheint, in keiner Handschrift nachzuweisen; sie ist also nicht als eine alte Sage, sondern als eine neuere Dichtung anzusehen. Vgl. Theol. Encykl? s. v. Jude, der ewige.

134. Das Leiden des Herrn in der Sage.

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mit dem Leiden Jesu in Verbindung gebracht. Tief zur Erde herab läßt dieTrauerweide ihre Zweige hängen: von ihr sind nach der Sage die Ruten genommen worden, mit denen die Kriegsknechte den Herm Jesus vor der Kreuzigung gegeißelt haben. Hoch zum Himmel empor streckt dagegen die T a n n e ihre Äste aus: an ihr hat der Erlöser den Tod erlitten, daraus ist sie stolz, und immerdar grünt sie, weil Jesu Blut an ihr herabgeslossen ist. Unter dem Kreuze stand ein blühender Rosenstrauch; damals gab es aber nur weiße Rosen; da floß das Blut des Herrn auf sie herab, und seitdem gibt es auch r o t e R o s e n'). An das Leiden Jesu erinnert ganz besonders die Passionsblume: die drei Narben stellen die Nägel des Kreuzes dar, der rotbesprengte Fadenkranz die Dornenkrone, der gestielte Fruchtknoten den Kelch, die fünf Staubkölbchen die fünf Wunden, die dreilappigen Blätter die Lanze, die Ranken die Geißeln. Unter dem Kreuze Jesu blühte nämlich, wie die Rose, so auch die Passionsblume; die Blutstropfen aus den Wunden des Gekreuzigten flössen in ihren Kelch. Die E s p e aber blieb beim Tode Jesu stolz und unbeweglich; darum traf sie der Fluch, daß sie hinfort auch bei dem leisesten Lüftchen erzittern solle. Das alte Sprichwort sagt noch heute von einem furchtsamen Menschen: „er zittert wie Espenlaub." Als der Herr nun am Kreuze hing, da hatten die Juden kein Mitleid mit ihm; aber die S o n n e verbarg ihr Antlitz, um sein Leiden nicht mit ansehen zu müssen, und die Bö gel des Himmels betrauerten den frommen Dulder. Das Rotkehl­ chen flog immer um seine Nägelwunden her, und bemühte sich, ihn loszumachen — vergebens, davon ist sein Gefieder um die Brust so rot geworden; das gute Böglein legt auf jede Leiche, die unbestattet daliegt, ein Zweiglein, um sie nach Kräften zu bedecken. Und der Kreuzschnabel flog immer hin und her am Kreuze und versuchte mit seinem Schnabel die starken Nägel herauszuziehen — umsonst; sein Schnabel ist davon krumm geworden. Dies zarte Böglein nährt in derselben Zeit seine Jungen, wo Maria ihr Söhnlein in Bethlehems Stall gepflegt hat, in der Weih­ nachtszeit a); wo dieser Vogel nistet, da schlägt kein Blitz eitt8). Zwei andere Tiere, den P e l i k a n und den Wundervogel P h ö n i x, hat schon die alte Kirche mit Jesu Tod und Auferstehung in Verbindung gebracht, und in der christlichen Kunst spielen beide noch heute eine Rolle. Vom Pelikan erzählte man, daß er, wenn seine Jungen von der Schlange getötet würden, sich mit dem Schna­ bel die Brust aufritze und durch sein Blut dieselben wieder lebendig mache. Die durch die Schlange zur Sünde verführten Menschen werden durch Christi vergossenes Blut vom Tode befreit — diesen Gedanken fanden die Christen in dem von ihnen gebrauchten Sinnbilde des Pelikans. Dagegen ist der Phönix das Sinnbild der Auferstehung geworden; dieser Wundervogel, den alten Ägyptern ein Sinnbild einer astronomischen Periode4), sollte nach der Sage nach einer bestimmten Zeit in seinem Neste immer l) Diese Erzählung beruht wohl auf der Erzählung der Griechen, daß die Göttin Aphrodite, als sie den Leichnam ihres Lieblings Adonis suchte, sich an einem Dorne geritzt habe, und daß durch das ihrem verletzten Fuße entströmende Blut eine weiße Rose (die Lieblingsblume der Göttin der Schönheit) in eine rote Rose verwandelt worden sei. l2) Naturgeschichtlich richtig. 3) Der H e ch that in seinem Kopfe „das Leiden Christi", d.h. Kreuz, Hammer und Nägel; derselbe wird aufbewahrt und schützt das Haus vor allerlei Unheil. — Drechsler, Sitte, Brauch und Volksglaube in Schlesien II, S. 222 (1906). 4) Dieser Wundervogel wird wohl auch in der Bibel erwähnt, nämlich Hiob 29, 18: „Und ich dachte, in meinem Nest werde ich sterben unv gleich dem Phönix meine Jahre mehren."

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134. Das Leiden des Herrn in der Sage.

verbrennen und aus der Asche wieder verjüngt hervorgehen — so ist er zum Sinnbild der Auferstehung geworden. c. Der Kaiser Tiberius war, wie die Sage erzählt, schwer erkrankt, und kein Arzt vermochte ihn zu heilen. Da vernahm er, im jüdischen Lande sei ein großer Arzt zu finden, der alle Kranken durch sein bloßes Wort gesund mache. Sofort schickte er einen Gesandten dahin, um diesen Mann nach Rom zu holen. In Jerusalem erfuhr derselbe alsbald, daß dieser Wundermann von Pilatus gekreuzigt worden sei; als er den Pilatus fragte, wie er denselben habe ohne des Kaisers Genehmigung kreuzigen dürfen, warf dieser alle Schuld auf die Juden, die so ungestüm seinen Tod gefordert hätten. Da vernahm der Gesandte des Kaisers, der Gekreuzigte solle auf­ erstanden sein, und alsbald ließ er den Joseph von Arimathia, der ihn begraben hätte, zü sich rufen, um darüber Gewisses zu erfahren. Derselbe erzählte, Jesus sei aller­ dings am dritten Tage vom Tode auferstanden, aber am vierzigsten Tage danach sei er gen Himmel gefahren. Nun befahl der Gesandte, den Pilatus zu fesseln und mit nach Rom zu nehmen, damit der Kaiser selbst über ihn um seines Frevels willen das Urteil spräche. Ehe nun aber der Gesandte die Rückreise antrat, suchte er von dem gekreuzigten Jesus noch mehr zu erfahren. Da hörte er von dem Bilde Jesu, das die fromme Veronika besaß *); er ließ dieselbe vor sich kommen, und sie zeigte ihm das Bild; auch sie mußte mit ihm nach Rom fahren. Als er nach Rom kam, erzählte er dem Kaiser alles, was er erfahren hatte; da befahl Tiberius, den Pilatus ins Gefängnis zu werfen, Veronika aber mit dem Bilde mußte vor ihn kommen. Als er das Bild ansah, wurde er, weil er an Jesum glaubte, gesund; fortan stellte er dasselbe in seiner Hauskapelle auf und wurde ein Christ; Veronika und der Gesandte wurden reich beschenkt. — Die Geschichte weiß von dem allen nichts. d. Tiberius hatte nach der Sage den Pilatus, weil er Jesum unschuldig ans Kreuz geschlagen, zunächst ins Gefängnis werfen lassen; nach einiger Zeit ließ er ihn vor sich führen, um das Todesurteil über ihn zu sprechen. Als aber Pilatus vor ihn trat, war auf einmal aller Zorn des Kaisers verschwunden: er begrüßte ihn freundlich, und kein Wort des Unwillens kam über seine Lippen. Als Pilatus aber kaum hinausgegangen war, da war Tiberius noch zorniger als zuvor, und er schalt sich selber, daß er diesen Frevler so freundlich behandelt hätte. Pilatus wurde wieder­ um vor den Kaiser geführt, und wieder vermochte der Kaiser nicht anders als freundlich mit ihm zu sprechen; kaum hatte er ihn entlassen, so war er wieder entschlossen, ihn zum Tode zu verurteilen. Lange forschte man vergebens danach, woher es komme, daß Pilatus eine so wunderbare Macht über den Kaiser ausübe; endlich entdeckte man, daß der Statthalter unter seinem Gewände ein fremdländisches Kleid trüge; es war der ungenähte Rock des Heilandes. Einer der Soldaten, die Jesum gekreuzigt, hatte denselben durchs Los erhalten; Pilatus hatte ihm den Rock abgekauft, weil er ahnte, daß dem Kleide Wunderkräfte beiwohnen möchten. Diesen Rock mußte Pilatus jetzt ablegen, und nun wurde er aufs neue vor den Kaiser geführt. Diesmal schützte ihn nichts vor dem Zorn des Tiberius; derselbe verurteilte ihn zum schändlichsten Tode, den man ersinnen könne. Pilatus aber kam dem Henker zuvor, indem er sich selbst im Gefängnis tötete. Ms das der Kaiser erfuhr, sagte er, er sei in Wahrheit des schänd­ lichsten Todes gestorben, da er sich ja mit eigener Hand umgebracht habe. Sein Leich*) Vgl. Kirchengeschichte 8 Nr. 78: Jesu Bild hatte sich auf dem Tuche^abgedrückt, das sie ihm auf dem Wege nach Golgatha dargereicht hatte.

134. Das Leiden des Herrn in det Sage.

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nam soll zuerst in die Tiber, dann in die Rhone und endlich in den See auf betn Pilatus­ berge in der Schweiz geworfen worden sein; überall soll derselbe Unwetter und Über­ schwemmung erregt haben; an jedem Karfreitag schleppt nach der Sage der Teufel denselben aus dem See auf einen Thron, wo er sich die Hände wäschtx). Die Frau des Pilatus, in der Sage Procla oder Claudia Procula genannt, soll später Christin geworden sein und wird sogar in der griechischen Kirche als Heilige verehrtl2). e. Besonders viel, nur leider gar zu viel, wußte die Kirche von dem heiligen Rocke desHeilandeszu erzählen. Die eine von den vielen Erzählungen, die ganz Widersprechendes berichten, lautet also. Ein frommer Bischof in Trier hatte schon immer gehört, daß in einer in der Kirche befindlichen niemals geöffneten Kiste besonders merkwürdige Reliquien sein sollten; einige meinten, der ungenähte Rock, andre, der Purpurmantel, andre, die Schuhe des Heilandes seien darin. Nach langen Beratungen schrieb der Bischof ein allgemeines Fasten aus und ermahnte alle, zu Gott zu beten, daß er sie die Heiligtümer sehen lasse. Darauf kamen Volk und Geist­ lichkeit in der Kirche zusammen, und ein Mönch sollte das Wagnis auf sich nehmen, die heilige Kiste zu öffnen und hineinzusehen. Er blickte hinein — durch ein rätsel­ haftes Gottesgericht wurde er aber mit Blindheit geschlagen, so daß er nichts in der Kiste sah. Später fand sich auf einmal der ungenähte Rock in einem Altar des heiligen Nikolaus und wurde von da im Jahre 1196 in den Altar des heiligen Petrus gebracht; die heilige Helena, die Mutter des Kaisers Constantinus, die ja so viele Reliquien auf­ gefunden hat, sollte auch ihn in Palästina gesunden und aus besonderer Anhänglichkeit der Kirche in Trier geschenkt haben. Längere Zeit war das kostbare Heiligtum in Trier nicht mehr öffentlich gezeigt worden; da bereitete der Bischof von Trier vom 18. August bis zum 7. Oktober 1844 den gläubigen Katholiken die große Freude, den „Herrgottsrock" wieder öffentlich auszustellen. Über eine Million Menschen sollen in dieser Zeit nach Trier gekommen sein. Seitdem wird diese Ausstellung von Zeit zu Zeit wiederholt; die Ausstellung des Jahres 1891 hat fast 2 Millionen Pilger nach Trier geführt. Denselben ganzen heiligen Rock, wie die Kirche in Trier, oder wenigstens Stücke von ihm behaupten nun freilich auch viele andere Kirchen zu besitzen; auch in griechischen Kirchen wird derselbe mehrfach gezeigt. Ja, was noch schlimmer ist, im Jahre 1843 hat Papst Gregor XIV. den heiligen Rock zu Argenteuil (in Frank­ reich) für den echten Rock des gekreuzigten Erlösers erklärt, während doch im Jahre 1514 Papst Leo X. den Rock zu Trier für diesen Rock des Gekreuzigten erklärt hatte. Es muß den Jesuiten überlassen bleiben, uns zu erklären, wie diese beiden Aussprüche zweier unfehlbarer Päpste mit einander zu vereinigen sind, da eben diese beiden (wie die etwa zwanzig andern) heiligen Röcke derselbe Rock sein sollen, der dem Erlöser vor seiner Kreuzigung abgenommen worden ist2). l) Zu dieser Sage gibt es noch eine Vorgeschichte, in welcher Pilatus zum Deutschen wird (geboren in Forchheim) oder zum ^Franzosen oder Spaniet. 2) K l o p st o ck, der diese Frau in seiner Messiade bekanntlich an einer der schönsten Stellen seines Gedichtes vorführt, nennt dieselbe Portia: ich weiß nicht, aus welchem Grunde. — Vgl. Hofmann, Leben Jesu nach den Apokryphen, § 79. — In der älteren Zeit galt auch P i l a t u s als christensreundlich,.und die ägyp­ tische Kirche erzählte von einem Märtyrertum desselben; in der äthiopischen Kirche wird noch heute Pilatus als Heiliger verehrt. 3) Die wissenschaftliche Unhaltbar­ keit der Überlieferung von dem heiligen Rock in Trier hat nach der berühmten

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134. Das Leiden des Herrn in der Sage.

f. Auch von dem Kreuze C h r i st i weiß die Sage viel zu erzählen. Als Adam merkte, daß er sterben werde, da schickte er seinen Sohn Seth zum Paradiese, damit er den Engel um einen Zweig vom Baum des Lebens bitte, durch welchen Adam sein Leben zu behalten hoffte. Seth erhielt den Zweig, aber er fand bei seiner Rückkehr den Vater schon tot1).2 Er pflanzte nun den Zweig auf Adams Grab, und derselbe erwuchs zu einem Baume, der bis zu Salomos Zeit gestanden hat. Da wurde der Baum gefällt, um beim Tempelbau verwandt zu werden; aber die Bauleute verwarfen den Baum, er wurde in den Teich Siloah geworfen, und hier lag er bis zur Zeit Christi. Als der Herr gekreuzigt werden sollte, sahen die Soldaten den Stamm auf dem Wasser schwimmen; sie zogen ihn heraus, und so ward Christus an diesem Stamme, dem Lebensbaum, gekreuzigt. — Das Kreuz Christi ist der Lebensbaum, das ist der schöne Gedanke dieser Sage. Golgatha, wo der Herr gestorben ist, ist aber nach der Sage die Stätte, wo Adam begraben worden ist; so werden wir uns nicht wundern, wenn öfters unter dem Kreuze Adam und Eva dargestellt sind; durch Christi Tod sollen sie nach der Sage alsbald zum Leben erweckt worden sein. Auch die Schädel, die unter dem Kreuze oft zu sehen sind, bezeichnen nicht etwa Golgatha als „Schädelstätte", sondern als das Grab unserer ersten Eltern. Auch das Kreuz des Herrn wird noch heute gezeigt. Helena, die Mutter des Kaisers Constantinus, eine eifrige Christin, hat, wie man erzählte, nicht bloß das Grab des Herrn, sondern sogar das Kreuz C h r i st i wieder aufgefunden. Die drei Kreuze samt der Überschrift des Pilatus befanden sich aber in demselben Grabe; um das Kreuz des Erlösers herauszufinden, ließ der Bischof von Jerusalem eine gichtbrüchige Frau herbeiholen und sie der Reihe nach auf die drei Kreuze legen; das dritte machte sie sofort gänzlich gesund, es war demnach das Kreuz Christi. Die Kaiserin ließ die eine Hälfte des Kreuzes in Jerusalem, die andere nahm sie mit nach Constantinopel, wo sie der Bildsäule des Kaisers Constantinus eingefügt wurde; das sollte der neuen Stadt Glück bringen. Mit den Nägelna) des Kreuzes, die Helena ebendaselbst gefunden, ließ Constantinus seinen Helm und den Zaum seines Pferdes beschlagen, um dadurch in den Schlachten siegreich zu sein. Von dem Kreuzesholz in Jerusalem brachten später die Pilger kleine Stückchen nach dem Abendlande, und dieselben waren bald so zahlreich verbreitet, daß man es doch erklären mußte, woher es käme, daß das halbe Kreuz so viele Splitter liefere; man erzählte sich deshalb, so viel man von diesem Holze wegnehme, so viel wachse alsbald wieder nach; es kann also niemals zu Ende gehen. Auch die heiligeLanze,mit welcher Jesus, angeblich von dem römischen Soldaten L o n g i n u s3), in die Seite gestochen worden war, wurde später auf­ gefunden (nämlich in Antiochia beim ersten Kreuzzuge)4). Schrift von Gildemeister und S y b e l (1844) neuerdings wieder Kauf­ mann dargelegt (1899). l) Nach einer anderen Darstellung bittet Seth um Ol von dem Baume des Erbarmens; aber ec erhält uir die Verheißung, daß nach 5500 Jahren der Sohn Gottes auf die Erde kommen und seinen Vater mit dem Ol der Barmherzigkeit salben werde. Vgl. Goethe, Reineke Fuchs 10, 21—23. 2) Die Erzählung spricht von zwei Nägeln. 3) So heißt nach einer andern Sage der römische Hauptmann, welcher in Jesus einen Gottessohn erkannte. 4) Eine andere heilige Lanze, die des Märtyrers Mauritius, diente den deutschen Kaisern als Szepter; vgl. Kirchengeschichte3 Nr. 11 k, Anm.

135. Der Eindruck des Todes Jesu auf seine Jünger.

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Line besonders große Rolle im Denken des Mittelalters spielte bekanntlich der heilige Gral, diejenige Schüssel, aus welcher Jesus seinen Jüngern das heilige Abendmahl gereicht hatte und in welcher das Blut Jesu nach dem Lanzen­ stich aufgefangen worden war; die Gralsage ist bekanntlich in Wolframs von Eschen­ bach großem Gedichte „Parcival" zur Darstellung gekommen. Wir Evangelischen glauben weder, daß der heilige Rock noch daß das Kreuz Jesu, noch die anderen genannten Reliquien noch heute vorhanden sind, und selbst wenn dieselben noch vorhanden wären, so würden wir ihnen nicht eine solche Ver­ ehrung erweisen wie die Katholiken.

135. Der Cmtbnttf des Todes Jesu auf fritte Jünger. Luk. 24, 13—27 und 9—11. Jesus war gestorben, sein Leib ruhte im Grabe, und seine Seele war bei Gott, „im Paradiese", wie er dem gläubigen Schächer gesagt hatte. Mer durfte das nun das Ende seines Lebens sein? Der Eindruck des Todes Jesu auf seine Jünger mußte sehr groß sein. Ms am dritten Tage nach dem Tode Jesu (Sonntag) zwei seiner Anhänger miteinander von Jerusalem nach dem nahe gelegenen Flecken Emmaus wan­ derten, da redeten sie traurig und verzagt über den Tod ihres Meisters; „er war ein Prophet, mächtig von Taten und Worten, und wir hofften, er sollte Israel erlösen". Aber diese Hoffnung war vereitelt worden durch seinen Tod. Zwar hatten sie darum den Glauben an Jesum nicht ganz aufgegeben; er hatte ihnen sa seinen Tod vorausgesagt und auf seine Wiederkunft hingewiesen. Aber wenn nun nicht die Auferstehung Jesu erfolgt wäre, so hätten sie eben nur auf seine Wiederkunft sich verlassen, und dieser Glaube an seine Wiederkunft wäre ihre Religion geworden, die sie andern verkündet hätten; sie hätten sich dann nur dadurch von den Juden unterschieden, daß sie sagten, der Messias sei bereits einmal auf der Erde gewesen, werde aber erst später das Reich Gottes aufrichten, während die Juden nicht glauben, daß er bereits einmal auf der Erde gewesen sei. Aber mit der Zeit wäre dieser Glaube an die Wiederkunft Jesu in Herrlichkeit, wenn er sich nicht bestätigt hätte, allmählich erloschen; dann wäre das Wirken Jesu auf Erden vergeblich gewesen; dann gäbe es heute kein Christentum. Da ist nun in den Jüngern der Glaube entstanden, daß Jesus vom Tode auferstanden sei, und auf diesem Glauben beruht es, daß ttotz des Todes Jesu das Christentum besteht. Aber ist die Auferstehung Jesu auch kein leerer Wahn? Ms die Jünger davon vernahmen, haben sie zunächst nicht daran geglaubt; diese Botschaft deuchte ihnen ein „Märlein", und sie wollten sie nicht glauben. Haben sie recht daran getan, daß sie daran geglaubt haben, und dürfen auch wir an diese Botschaft glauben? 136. Die Tatsächlichkeit der Ausersteh««g Jesu. a. Der Zweifel an der Auferstehung Jesu. Auch uns geht es zunächst nicht anders, als diesen Jüngem. Zwar nicht mehr das würde uns irre machen (wie schon Lessing gegen den Wolfenbüttler

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136. Die Tatsächlichkeit der Auferstehung Jesu.

Fragmenttsten bemerkt hat), daß Widersprüche in den Berichten über die Auf­ erstehung vorhanden sind, die wir vielleicht nicht mehr beseitigen können. Wir kennen in der Geschichte gar viele Dinge nicht ganz genau, sondern haben über dieselben verschiedene Berichte; aber trotzdem zweifeln wir nicht an der Richtig­ keit der Tatsache. Vielleicht gelingt es einmal den Forschern, die verschiedenen Berichte zu einem Ganzen zu verbinden; aber selbst, wenn es nicht gelingt, ist aus d i e s e m Grunde die Tatsache der Auferstehung nicht zu bezweifeln. Aber ist die Auferstehung Jesu eine Tatsache? Diese Tatsache ist ein Wunder, und zwar ein so großes Wunder, daß wir an dasselbe ebenso wie die ersten Jünger nicht ohne weiteres glauben, sondem nur dann, wenn uns dies Wunder durch Zeugen berichtet wird, an deren gutem Willen und sicherem Wissen wir nicht zweifeln können. Welches sind denn nun solche Zeugnisse? Das sind nicht bloß unsere Evangelien, die etwa 40 oder mehr Jahre nach der Auferstehung Jesu und nur zum Teil von Augenzeugen geschrieben» sind; sondern es gibt einen älteren Zeugen für den Glauben der Jünger Jesu an die Auferstehung ihres Meisters, nämlich den Apostel Paulus, der in dem 15. Kapitel seines ersten Korintherbriefes die Auferstehung Jesu als die Grund­ lage des Glaubens an unsere Auferstehung betrachtet und genauer bespricht. Aber liegt denn nun auch diesem Glauben der Jünger Jesu, der ja (g e g e n den Wolfenbüttler Fragmenttsten) *) nur als ein ehrlicher und überzeugter Glaube derselben angesehen werden kann, auch nicht eine bloße Einbildung, sondem eine wirkliche Tatsache zugmnde? Der Rattonalismus, welcher alle Wunder bestritt, leugnete zwar nicht die Auferstehung Jesu, aber er betrachtete Jesum nur als s ch e i n t o t. Die Kreuzigung ist ja zunächst nicht tödlich, namentlich nach so wenigen Stunden, wie Jesus am Kreuze gehangen hat; der Lanzenstich könnte vielleicht nicht so tief gedmngen sein, um tödlich zu fein; die Beine waren ihm ja nicht zer­ schmettert worden. So kam Jesus angeblich scheintot ins Grab. Die Kühle des Grabes und die Spezereien darin, vielleicht auch die Mitwirkung von Freunden, welche den Scheintod erkannten, ließen Jesum wieder ins Leben zurückkehren, wie ja in der Tat Leute, die vom Kreuz beizeiten (aber noch lebend!) wieder abgenommen wurden, am Leben blieben. Aber gegen diese Annahme des Rattonalismus hat S t r a u ß mit Recht gefugt2): „Ein halbtot aus dem Grabe Hervorgekrochener, siech Umherschlei­ chender, der Stärkung und Schonung Bedürfttger und am Ende doch dem Leiden Erliegender (wie der Rattonalismus annimmt, um das baldige Ver­ schwinden Jesu aus dem Kreise der Seinen zu erklären) konnte auf die Jünger unmöglich den Eindruck des Siegers über Tod und Grab, des Lebensfürsten, machen, der ihrem späteren Auftteten zugrunde lag." Heute sucht, wer an die Tatsache der Auferstehung Jesu nicht zu glauben vermag, dieselbe anders zu erklären. Der Glaube der Jünger, der heute all­ gemein als ein durchaus ehrlicher Glaube anerkannt wird, soll bemhen auf einer Reihe von Visionen, die den ersten Jüngern bis zu Paulus (vor Damaskus) zu teil geworden seien, als sie, durch den Tod Jesu aufs höchste *) Vgl. Thrändorf im Jahrbuch für miss. s) Leben Jesu 1864, S. 298.

Pädagogik 21, 271—275.

136. Die Tatsächlichkeit der Auferstehung Jesu.

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erregt, des Trostes bar und doch so sehr bedürftig waren. Ms Sterbenden hatten die Jünger ihren Meister am Kreuze zuletzt gesehen, und nun erscheint er ihnen nach der neueren Annahme ohne tatsächliche Auferstehung als ein Verklärter; wie ist das möglich? Renan weist in seinem Leben Jesu darauf hin, daß der Glaube an die Auferstehung Jesu wesentlich auf dem ersten Zeugnis der Maria Magda­ lena beruht, also einer Frau, die, einst von bösen ©elftem besessen, dann von Jesus geheilt, vermutlich eine sehr erregte Natur und eine feurige Anhängerin Jesu gewesen sei. Sie konnte es nicht fassen, daß der von ihr geliebte Meister tot sein sollte, und so hatte sie infolge ihrer Erregung und ihres Glaubens beim Gange nach dem Grabe eine Erscheinung, die sie als eine Tatsache be­ trachtete, und die nun von allen Anhängern gleichfalls als Tatsache betrachtet wurde, ja sogar gleiche Erscheinungen vor ihren Augen hervorrief. Aber den Jüngern erschien ja diese erste Nachricht von der Auferstehung Jesu als ein „Märlein" (Luk. 24,11), und auch nachher haben sie noch vielfach gezweifelt. Und da sollte die Einbildung der erregten Frau auf besonnene Männer, und nicht bloß auf einzelne, sondern auf den ganzen Jüngerkreis, ja auf fünfhundert Anhänger Jesu (1. Kor. 15) so ansteckend gewirkt haben, daß sie alle etwas sahen, was gar nicht zu sehen war? Aber war das möglich, wo ein Gang nach dem Grabe Jesu jeden Glauben niederschlagen mußte, ja, wo der aus dem Grabe hervorgeholte Leichnam für die jüdischen Oberen ein unwiderleglicher Beweis für die Unrichtigkeit des Glaubens an die Auf­ erstehung Jesu gewesen wäre? Und wenn nun dieser Glaube auf einer Vision beruht hätte, wäre es nicht wunderbar, daß die Jünger den, nach dem sie ebenso verlangten wie Maria Magdalena, zuerst nicht erkannt haben? Und wird nicht von den Aposteln selbst Vision und Tatsache deutlich unterschieden? Petms wußte bei seiner Befreiung aus dem Gefängnis zunächst nicht, daß ihm solches wahrhaft geschehe, sondern er glaubte, er sehe ein Gesicht (Apg. 12,9); in dem ihm erscheinenden Tuch mit den reinen und unreinen Tieren erkennt Petms richtig eine Vision (Apg. 10), ebenso Paulus in dem ihm erscheinenden Mann aus Macedonien (Apg. 16). So hätten die Jünger gewiß auch eine Vision von Jesus richtig als Vision aufgefaßt, aber sie würden nicht geglaubt haben, daß er aus dem Grabe auferstanden sei. Das würde auch schon dämm nicht geschehen sein, weil die Jünger Jesu und ihre jüdischen Zeitgenossen die Auferstehung erst am jüngsten Tage erwarteten; sie hätten eine Vision Jesu dann so gedeutet, daß er bei Gott sei, und sie hätten dann wohl gehofft, daß er bald wiederkommen werde, um sein Reich aufzurichten; daß s i e dasselbe aufrichten sollten, hätten sie schwerlich angenommen. So wäre die christliche Kirche nicht gegründet worden. b. Die Tatsache der Auferstehung Jesu. Daß die Jünger Jesu an seine Auferstehung geglaubt haben, wird also heute nicht mehr bestritten; auch das wird nicht mehr geleugnet, daß Jesus wirklichtot gewesen ist; das wird allerdings noch vielfach behauptet, daß die Auferstehung Jesu nicht eine Tatsache», sondern nur eine oft wieder­ holte Vision gewesen sei; aber dabei bleibt vieles unerklärlich, wie oben gezeigt worden ist. So können wir denn nicht umhin, uns mit den Jüngern

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136. Die Tatsächlichkeit der Auferstehung Jesu.

Jesu selber dem Glauben zuzuwenden, daß die Auferstehung Jesu eine wirk­ liche Tatsache war. Diese Tatsache ist allerdings ein Wunder. Worin hat nun dies Wunder bestanden? „Die Geschichte kann nur bezeugen, daß das Grab Jesu offen und leer gefunden und der Auferstandene leibhaftig den Seinen erschienen ist; aber mit keuscher Zurückhaltung bedecken die Evangelien das Geheimnis des Wunders in der Osterfrühe" *), und auch die eigentümliche Art des neuen Lebens des Auferstandenen. Nicht in sein früheres Leben ist nämlich Jesus zurückgekehrt, wie die von ihm erweckten Verstorbenen oder wie ein vom Scheintod zum Leben Erwachender. Aber auch nicht bloß die Seele des abgeschiedenen Hei­ landes ist den Jüngern wahrhaftig erschienen. Vielmehr war Jesus schon durch die Auferstehung (nicht erst durch die Himmelfahrt) dem irdischen Leben entrückt und in das verklärte Leben versetzt worden, und als Verklärter ist er seinen Jüngern wiederholt erschienen, aber ohne mit ihnen in die bisherige Lebensgemeinschaft zu steten. Wir kennen ja nun freilich nicht aus eigener Anschauung das Leben der Abgeschiedenen* 2);* aber daß es ein solches gibt, bestreitet der Christ ja nicht, ja, auch die Anhänger der anderen Religionen nicht, sondern nur der Materialist. Daß aber Jesus aus diesem sonst für die Erde nicht zugänglichen Sein dennoch auf Erden erschien, war notwendig, wenn die Jünger den Glauben an Jesus festhalten sollten. So ist es kein Wunder, daß hier ein Wunder geschah; ohne dies Wunder gäbe es kein Christen­ tum. Wenn nun der Rationalismus noch heute danach strebt, das Wunder der Auferstehung Jesu durch eine Umdeutung hinwegzuräumen, teils weil dieselbe nicht wohl für einen nebensächlichen sagenhaften Zug im Leben Jesu erklärt werden kann, teils weil sie die Persönlichkeit Jesu in einem höheren Lichte erscheinen läßt, als der Rattonalismus ihn sehen will, so muß der Supra­ naturalismus natürlich gerade an diesem Wunder um so mehr festhalten. Wenn man nämlich auch einzelne Wunder im Leben Jesu als sagenhaft betrachten darf, ohne darum den Kern des Glaubens preiszugeben, so ist es dagegen unmöglich, den Glauben an das Wunder der A u f e r st e h u n g preiszugeben, ohne damit zugleich den Glauben an den Jesus der Bibel aufzugeben, denn nur der a u f e r st a n d e n e Jesus ist der Jesus der B i b e l. c.8) Die Verschiedenheit der Berichte über die Auferstehung4).* * * Die Abweichungen der Auferstehungsberichte voneinander sind seit L e s s i n g berühmt geworden, und die Abweichungen sind in der Tat vorhanden; sie sind nicht, *) Weiß, L. I? II, 569. 2) Die Mitteilungen der Spiritisten über das Leben der Abgeschiedenen halten wir nicht für glaubwürdig. 8) Diese Darlegung ist nur für den Lehrer bestimmt; ich habe das Resultat des Beyschlagschen Lebens Jesu kurz zusammengefaßt. 4) Die Auferstehunasberichte. Mark. 16, 1—8 = Mt. 28, 1—10 = Luk. 24, 1—12: Das leere Grab. 1. Kor. 15, 5—8: Jesus erscheint dem Petrus, den 12 Jüngern, den 500 Jüngern, dem Jakobus (dem Bruder Jesu), allen Aposteln, dem Paulus. Luk. 24, 13—49—53: Jesus erscheint zwei Jüngern auf dem Wege nach Emmaus, darauf allen Jüngern in Jerusalem, und befiehlt ihnen zuletzt in Je r u s a l e m zu bleiben, „bis daß ihr angetan werdet mit Kraft aus der

136. Die Tatsächlichkeit der Auferstehung Jesu.

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wie Götze gegen L e s s i n g zu zeigen versuchte, in bloßen Schein aufzulösen. Mer das ist zunächst nicht wunderbar. Während die Leidensgeschichte eine irdisch-reale, in geschlossenem Zusammenhang sich entwickelnde Geschichte ist und darum in fest­ geordneter Darstellung uns entgegentritt, ist die Auferstehungsgeschichte eine ge­ heimnisvolle und aus vereinzelten Erscheinungen bestehende Geschichte, bei welcher eine zusammenhängende Überlieferung nicht entstehen konnte. Aber wegen der Ver­ schiedenheit und Zusammenhangslosigkeit der Überlieferung darf man bei dieser Tatsache noch weniger an der Tatsächlichkeit des Geschehenen zweifeln, als man wegen der Differenzen mehrerer Geschichtschreiber über eine geschichtliche Tatsache die Wirklichkeit der Tatsache bezweifelt. Die große Hauptsache, daß Jesus auferstanden sei, war den Jüngern gewiß; aber über die e i n z e l n e n Erscheinungen des Auferstandenen konnte sich eine zusammenhängende Erzählung nicht bilden, da sie.eben nicht miteinander zusammenhingen; schon früh machte sich ein Zug zu sum­ marischer Zusammenfassung geltend; so faßt Matthäus die Erscheinungen in Galiläa in eine einzige zusammen (von der er allein spricht), und Lukas im Evangelium die in Jerusalem (ohne von den galiläischen Erscheinungen zu sprechen); nur Johannes erzählt von Erscheinungen in Jerusalem u n d in Galiläa. Ebenso darf es uns nicht überraschen, wahrzunehmen, daß keins von unseren vier Evangelien eine Himmelfahrt Jesu erzählt. Matthäus und Johannes schließen einfach mit der Auferstehung; bei Lukas sind die Worte „und fuhr aus gen Himmel" (24, 51) ein späterer Zusatz, und bei Markus wird die Himmelfahrt nur in dem erst später hinzugefügten Schlußwort (16, 9—20) berichtet. Für die älteste Gemeinde fielen Auferstehung und Himmelfahrt zusammen; wenn Jesus selber zu den Jüngem von Emmaus sagt (Luk. 24, 26): „Mußte nicht Christus solches leiden und zu seiner Herrlichkeit eingehen?" — so sind in dem „Eingehen zur Herrlichkeit" offenbar Auf­ erstehung und Himmelfahrt zusammengefaßt; j e d e Erscheinung des Auferstandenen endete mit einer Himmelfahrt; wir feiern heute die letzte Himmelfahrt des den Zwölfen erschienenen Jesus als kirchliches Fest; aber hinter derselben liegt noch die Erscheinung Jesu an Saulus vor Damaskus. Aber mit der Himmelfahrt ist Jesus von den Seinen nicht geschieden, sondern er ist dadurch erst recht in den Stand gesetzt worden, den Seinen nahe zu sein, wie ja gerade der Auferstandene selber gesagt hat: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende." Wenn man nun versucht, die verschiedenen Berichte von den Erscheinungen des Auferstandenen zusammenzufassen, so ergeben sich zunächst die Erscheinungen vom Ostermorgen, darauf die an die Emmausjünger, die an Petrus und die an die Jünger am Abend. Acht Tage darauf erfolgt die Erscheinung an Thomas, ebenfalls noch in Jerusalem. Als die Jünger nach der Festwoche nach Galiläa zurückkehrten, ist Höhe". Darauf führte er sie nach Bethanien und schied von ihnen [späterer Zusatz: „und fuhr auf gen Himmel"^. Mt. 28, 16—20. Jesus erscheint den 11 Jüngern in Galiläa. Joh. 20: Jesus erscheint der Maria Magdalena und den 11 Jüngern in Ze­ rns a l e m. Joh. 20: Jesus erscheint 7 Jüngern in Galiläa. Mark. 16, 9—20 (späterer Zusatz): Jesus erscheint der Maria Magdalena, den Emmausjüngern und den 11 Jüngern in Jerusalem, unb darauf „ward er aufgehoben gen Himmel". Apostelgesch. 1, 1—12: Jesus erscheint den Jüngern in Jerusalem 40 Tage lang und fährt alsdann vom Olberge gen Himmel. Hei brich. Heilige Geschichte. 3. Ausl. 35

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137. Die Erscheinungen des Auferstandenen; die Himmelfahrt.

ihnen Jesus daselbst ebenfalls (einmal oder mehrmals) erschienen. Die letzte Erscheinung (abgesehen von der Erscheinung vor Saulus) hat in Jerusalem stattgefunden (Apg. 1), wohin die Jünger noch vor dem Pfingstfeste, dem Worte Jesu gemäß, zurück-, gekehrt waren. Seine Lehraufgabe hatte Jesus vor seinem Tode vollendet, und zusammen« hängende Reden fallen deshalb nicht in die Zeit nach der Auferstehung; aber wohl ist die Taufe von ihm in dieser Zeit eingesetzt worden. Vorher hat Jesus weder getauft noch von der Taufe gesprochen; wenn trotzdem nach seiner Auferstehung sowohl die älteren Jünger als auch Paulus in die Gemeinde Jesu durch die Taufe aufnehmen, so muß die Taufe in der Tat, wie Matthäus berichtet (K. 28), in der Zeit nach der Auf­ erstehung von Jesus selber eingesetzt worden sein.

137. Die Erscheinungen des Auferstandenen; die Himmelfahrt/). a. Ostermorgen: Mark. 16, 1—8. Joh. 20, 3—18. b. Die Emmaussünger und Petrus: Luk. 24, 13—35. c. Jesus im Jüngerkreise: 1. Kor. 15, 5. (Luk. 24, 33—35.) Joh. 20, 19—23. Luk. 24, 44-49. Joh. 20, 24-29. d. Die Erscheinungen in Galiläa: 1. Kor. 15, 6. Matth. 28, 18—20. 1. Kor. 15, 7. Joh. 21. e. Letzte Erscheinung in Jerusalem: Apg. 1, 4—9. Matth. 28, 18—20. Luk. 24, 52-53. f. Die Ausgießung des h. Geistes: Apg. 2, 1—412). a. Als nach dem Ablauf des ersten jüdischen Osterfesttages (Sonnabend) in der Frühe des Sonntags einige galiläische Frauen, unter ihnen Maria Magdalena, zum Grabe Jesu gingen, um die vorher nur flüchtig vorgenommene Einbalsamierung des Leichnams Jesu ordentlich vornehmen zu können, da fanden sie das Grab leer, und eine Engelsbotschaft verkündete ihnen, daß Jesus auferstanden sei. Maria Magdalena verkündete dem Petrus und Johannes, daß das Grab leer sei, und diese fanden es also. Als die Jünger sich wieder entfernt hatten, erschien Jesus selber, und zwar zuerst der Maria Magdalena, und diese verkündete es sofort den Jüngern, daß sie den Auf­ erstandenen gesehen habe. b. Am Nachmittage des Auferstehungstages erschien Jesus zwei Jüngem, deren einer Kleophas hieß, die wohl dem weiteren galiläischen Jünger­ kreise angehörten. Als diese nämlich auf dem Wege nach Emmaus, wo sie wohl in der Festzeit ihre Herberge hatten, traurig miteinander über ihren Meister sprachen, da erschien er ihnen, und nun zeigte er ihnen aus der Schrift, daß sein Tod und seine Verherrlichung dem Ratschluß Gottes entsprächen. c. Freudig begaben sich die beiden Jünger zu den Zwölfen nach Jemsalem, um ihnen ihr Erlebnis mitzuteilen; von ihnen erfuhren sie, daß auch dem Petrus Jesus schon erschienen war. *) Wenn der Lehrer nicht die Zeit findet, im einzelnen auf diesen Abschnitt einzugehen, so mag er sich mit einigen besonders charakteristischen Momenten be­ gnügen. 2) Es dürste sich empfehlen, diesen Abschnitt (der natürlich unten wiederkehrt) hier noch anzufügen, wie ja auch an die Besprechung des Osterfestes die des Pfingst­ festes angeschlossen wird.

137. Die Erscheinungen des Auferstandenen; die Himmelfahrt.

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Am Abend desselben Tages erschien Jesus auch noch dem ganzen Kreise seiner engeren und weiteren Jünger und beauftragte sie, in Jerusalem zu bleiben, um in diesem Mittelpunkte des Judentums die neue Gemeinde zu begründen. Acht Tage darauf (Sonntag) erschien Jesus auch noch dem Thomas, der ihn bisher noch nicht gesehen hatte, um auch diesen Jünger zum Glauben zu führen. d. Die Jünger waren nämlich die ganze Festwoche hindurch in Jerusalem (Joh. 20, 26) geblieben, und erst mit den andem Festpilgern kehrten sie in der folgenden Woche nach Galiläa zurück, um dort ihre Beziehungen zur Heimat zu lösen; bald darauf sind sie aber, einem Worte Jesu nachkommend, wieder nach Jerusalem zurückgekehrt. In Galiläa ist nun Jesus ebenfalls seinen Anhängern erschienen; fünf­ hundert derselben (die er in Jerusalem nicht besaß) haben ihn hier auf einmal gesehen (1. Kor. 15, 6); hier ist er dem Jakobus erschienen (1. Kor. 15, 7), seinem Bruder, durch welchen dann jedenfalls auch die anderen Brüder und die Mutter zum Glauben an seine Auferstehung geführt worden sind, so daß die Seinigen schon vor dem Pfingstfeste sich an die Gemeinde Jesu in Jemsalem anschlossen (Apg. 1,15). In Galiläa ist er auch dem Petrus und sechs andern seiner Jünger noch einmal erschienen und hat denselben, obwohl er ihn verleugnet hatte, doch wieder als das Oberhaupt seiner Gemeinde aner­ kannt (Joh. 21)1). e. Als nun die Jünger nach Jerusalem zurückgekehrt waren, da erschien ihnen Jesus zum letzten Male auf dem Olberge2); hier wird er die Taufe eingesetzt haben; segnend ist er von ihnen geschieden, vielleicht mit der Hin­ weisung darauf, daß er fortan ihnen nicht mehr erscheinen werde. f. Vierzig Tage hindurch war Jesus seinen Jüngern immer aufs neue erschienen, so daß sie nunmehr an seiner Auferstehung nicht mehr zweifelten. Vom Olberge, wo sie ihren Meister zum letzten Mal erblickt hatten, kehrten sie nach Jerusalem zurück „mit großer Freude", und als nun das jüdische Pfingst­ fest kam, da wurden sie erfüllt von dem Geiste Gottes, den ihnen Jesus ver­ heißen hatte, und nun wagten sie mit ihrer Botschaft von der Auferstehung Jesu, an der sie bis dahin allein sich erfreut hatten, hinauszutreten in d i e W e l t, und durch ihre Predigt von dem Auferstandenen ist die christliche Kirche gegründet worden'). *) Aber von einem Nachfolger des Petrus ist auch hier keine Rede. ') Vgl. Baedeker, Palästina (1910), S. 71. ') Der Abschnitt über Ostern und Pfingsten ist in der neuen Auflage (ebenso wie der Abschnitt über das Weihnachtsfest) der Kirchengeschichte (und dem Kirchenbuch) beigegeben worden. Dafür ist unten (Nr. 140) ein Abschnitt über die apokryphischen Apostelgeschichten usw. beigegeben. Durch diese Einfügung wird die Zählung der Abschnitte der dritten Auflage in Übereinstim­ mung erhalten mit der zweiten Auflage, nur ist die frühere Nr. 139 jetzt Nr. 138, und Nr. 140 jetzt Nr. 139.

Fünfter Abschnitt. Das Christentum im Zeitalter der Apostel. Wie die Apostel hingegangen sind in alle Welt, um alle Menschen zu Jüngern Jesu Christi zu machen. Vorbemerkung für den Lehrer. Durch die Lektüre der Apostelgeschichte und ausgewählter Abschnitte aus den Briefen des Neuen Testaments lernt der Schüler die hier kurz dargestellten Tat­ sachen und Zustände genauer kennen; dazu bietet die Darstellung des Buches einige Zusätze, namentlich auch den Llbschluß der Geschichte der Apostel, welche der Lehrer als Ergänzungen der Apostelgeschichte dem Schüler vorzuführen fiat1).* Die hier gegebene Zusammenfassung der Kirchengeschichte im apostolischen Zeitalter bildet einerseits mit der Geschichte des Untergangs des jüdischen Volkes, welche hier an­ geschlossen werden kann, den Abschluß der heiligen Geschichte, und andererseits den Anfang der Kirchengeschichte, und kehrt deshalb dort wieder, aber, weil nur für die Wiederholung berechnet und nur der Kirchengeschichte dienend, in kürzerer Form und in Verbindung mit der weiteren Geschichte des Christentums unter den alten Völkern.

Einleitung'). 138. (139.) Die zwölf Apostel-). Joh. 1, 35-52. Mark. 1,16—20. 2,13-17. 3,13—19. Matth. 9, 35—10, 42. Luk. 10, 1—16. 10, 17—20. Matth. 11, 25-30. Matth. 16, 13-20. 18, 18—20. 28. 18—20«). a. Ms Jesus aus der Wüste zurückkehrte, wo er die Versuchung, ein weltlicher Messias im Sinne seiner Zeitgenossen zu werden, von sich gewiesen l) Vgl. Rambeau, Bemerkungen zur Behandlung der Apostelgeschichte. Programm von Burg, 1890, Nr. 223. *) Daß der Lehrer das neue Halbjahr, bzw. jeden neuen Abschnitt der heiligen Geschichte immer wieder mit der zusammen­ fassenden Übersicht der heiligen Geschichte (und einer mehr oder weniger vollstän­ digen Besprechung des Abschnittes über die Bibel) beginnen möge (Nr. 10), ist anderwärts bemerkt worden. 3) Vgl. die letzte Anmerkung zu Nr. 137. 4) Die 4 Apostellisten (Mark. 3, Matth. 10, Luk. 6, Apg. 1) stimmen darin überein, daß als Nr. 1 Petrus, als Nr. 5 Philippus, als Nr. 9 Jakobus Alphäi, als Nr. 12 Judas

138. (139.)

Die zwölf Apostel.

549

hatte, da begann er in der Nähe des Täufers selbständig aufzutreten, aber mit derselben Predigt wie dieser: „Tut Buße, denn das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen." Jesu Absicht war nun darauf gerichtet, das g a n z e Volk Israel zu gewinnen und zu einer höheren Stufe der Frömmigkeit empor­ zuführen. Aber nicht auf einmal konnte er das Volk für sich gewinnen, ja, er hat es schließlich überhaupt nicht gewonnen. Dafür schlossen sich e i n z e l n e Juden an ihn an und wurden Gläubige oder auch Jünger, die ihm beständig nachfolgten. Das taten zuerst einige von den Jüngern Johannis, durch dessen Predigt auf Jesum hingewiesen, als die ersten Johannes und Andreas, von diesem veranlaßt Simon, sein Bruder (und vielleicht Jakobus — vgl. V. 42 „zuerst"), darauf von Jesus selbst dazu aufgefordert, Philippus, und, durch diesen veranlaßt, Nathanael. Mit dieser Berufung war aber zunächst nureinpersönlichesundvorübergehendes Verhältnis zwischen Jesus und diesen Männern hergestellt; erst später sind sie f ü r i m m e r seine Nachfolger, seine Apostel geworden, die auch trotz manches Grundes zum Zweifel, den das unscheinbare Wirken Jesu ihnen (ebenso wie dem Täufer) erregte, an ihrem Glauben festgehalten habenx). Nachdem sich nämlich die Jünglinge, welche sich ihm angeschlossen, nach einiger Zeit wieder von ihm getrennt hatten, um zu ihrer alten Beschäftigung zurückzukehren, wurden sie und einige andere Galiläer von Jesus nach einiger Zeit aufgefordert, ihr bisheriges Leben für immer aufzugeben und mit ihm von Ort zu Ort zu ziehen, damit sie dereinst sein Werk fortsetzen und seine Lehre der Nachwelt überliefern und das Salz der Erde und das Licht der Welt werden könnten. Zu dieser beständigen Nachfolge berief er zunächst die ihm bereits bekannten Brüderpaare Simon2) und Andreas, Jakobus und Johannes; darauf den Zöllner Levi (= Matthäus), etwas später Philippus und Bartholomäus (= Nathanael), Thomas, einen zweiten Jakobus (den Sohn des Mphäus), Judas (den Sohn des Jakobus, mit dem Zunamen Lebbäus oder Thaddäus), Simon von Kana (oder Simon den Eiferer d. h. einen Anhänger der Zeloten, der fanatischen Römerfeinde) und endlich Judas Jscharioth (oder nach Joh. 6, 71: Judas, den Sohn Simons, des Jscharioth, d. h. eines Mannes aus der Stadt Kerioth im Stamme Juda — also der einzige Nicht-Galiläer). Diese zwölf Männer hat Jesus aus der größeren Schar der ihm zeitweilig oder auch fortwährend (Apg. 1,21—23) nachfolgenden Männer zu seinen „Aposteln" erwählt (ein Titel, den auch Sendboten der Judengemeinde führten, welche den Zusammenhang Jerusalems mit den Jscharioth genannt sind; auch stehen in den 3 Gruppen von je 4 Jüngern immer dieselben Jünger, aber nicht ganz in derselben Ordnung; die einzige Abweichung des Lukas von Mark, und Matth, besteht darin, daß er an Stelle des Thaddäus bei Markus und Matthäus einen zweiten Judas, Sohn des Jakobus, nennt — beide Namen be­ zeichnen wohl denselben Mann. *) So läßt sich Joh. 1, 35—52 mit der synop­ tischen Darstellung (Mark. 1, 16—20. 8, 27—30) vereinigen. 2) Die jüdische Form des Namens „Symeon" findet sich im N. T. nur Apg. 15, 14 und 2. Petr. 1, 1; dieselbe ist verdrängt worden durch die Form „Simon", die auch den Griechen ge­ läufig ist. Der ihm von Jesus gegebene (Theol. Enzykl.3 15, 187, Zeile 17—39) aramäische Beiname „Kephas" (= Fels) lautet in griechischer Übertragung „Pe­ tras" — ein auch den Griechen nicht unbekannter Name. Kephas ist nicht der­ selbe Name, wie Kaiphas Kajaphas, d. h. Deuter. Der Vater des „Jonassohnes" Petrus (Mt. 16, 17) heißt „Johannes", wovon „Jonas" eine kürzere Form ist.

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139. (140.) Die Apostelgeschichte.

Judengemeinden der Zerstreunng vermittelten). Ihre Zwölfzahl wies darauf hin, daß sie für das ganze Volk Israel bestimmt seien: als Israel ungläubig blieb, da sind sie die Stammväter des n e u e n Gottesvolkes geworden. Sie lebten mit Jesus zusammen aus einer gemeinsamen Kasse, welche von wohl­ habenden Freunden immer aufs neue gefüllt wurde, und hatten bei dem einfachen Leben des Morgenlandes keine große Sorge um das tägliche Brot. An dieses umherziehende Leben war man damals und besonders in dieser Gegend mehr gewöhnt, als wir heute; in dieser Weise zogen die Galiläer oft nach Jerusalem zu den Festen und wieder zurück; die Nacht verbrachte man unter Zelten, die man mit sich trug, oder wohl auch unter dem freien Himmel. b. Wenn Jesus zunächst allein gepredigt hatte, so beschloß er, nachdem er Jünger (nicht bloß die zwölf, sondern auch noch andere) gewonnen und genügend vorbereitet hatte, auch diese im jüdischen Lande einmal umher­ zusenden, damit sie, ebenso wie er, das Herannahen des Gottesreiches ver­ kündeten und durch Zeichen und Wunder, die sie taten, die Erscheinung desselben bestätigtenx). In einer längeren Rede wies er sie hin auf das, was sie zu tun und zu erwarten hätten, und darauf sandte er sie aus, und zwar nur nach den Städten von Galiläa, auf die sich seine Wirksamkeit bis jetzt beschränkt hatte. Jesus selbst begab sich in dieser Zeit allein nach Jerusalem zum Purim­ feste (März 28; vgl. Joh. 5). Als Jesus von Jerusalem nach einigen Wochen (wahrscheinlich nach Kapernaum) zurückkehrte, fanden sich auch seine Jünger wieder zu ihm und erzählten mit Freuden von dem Erfolge ihrer Tätigkeit. c. Aber nicht so sehr für die Zeit seines Lebens, als vornehmlich für die Zeit nach seinem Tode brauchte Jesus Jünger, welche das von ihm begonnene Werk der Predigt in Israel und dann auch unter den Heiden fortsetzen sollten. Ihnen hat er, zuerst dem Petrus als dem ersten Gläubigen (Matth. 16, 19), dann allen (Matth. 18, 18) die Schlüssel zu seinem Himmelreich übergeben, daß sie in das Gottesreich aufnehmen sollten den, der an Jesum glaube. Nach Gottes Absicht sollte nun durch die Predigt Jesu und seiner Jünger das Juden­ tum zum vollkommenen Gottesreiche umgestaltet werden; dann wäre heute kein besonderes Judentum vorhanden. Aber da, wie schon Jesus erkannte, nicht alle Juden an ihn glaubten, so hat allerdings schon er selber daran ge­ dacht, daß aus den Juden (Und später auch aus den Heiden — aber noch nicht durch Jesus) eine besondere Gemeinde der an ihn Glaubenden gebildet werden solle (Matth. 16, 18 u. 18, 17; 28, 18—20). Wie dieselbe gegründet worden ist und sich weiter entwickelt hat, das erzählt die Apostelge­ schichte. 139. (140.) Die Apostelgeschichte. a. Unsere Kunde von der Wirksamkeit der Apostel verdanken wir zwar zunächst ihren Briefen; aber wie mangelhaft wäre dieselbe, wenn wir nur diese Briefe besäßen! Eine zusammenhängende Darstellung des aposto*) Der Aussendunq der Zwölf steht bei Lukas noch eine Aussendung von siebzig Jüngern gegenüber; wahrscheinlich hat Jesus zuerst jene, dann auch diese ausgesandt

(Beyschlag).

13S» (140.) Die Apostelgeschichte.

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lischen Zeitalters zu geben wäre unmöglich, wenn wir nicht außer den Briefen noch eine andere Schrift besäßen, die sogenannte Apostelgeschichte. Diese Schrift ist nach ihrer eigenen Angabe (1, 1) von demselben Ver­ fasser, der das dritte Evangelium geschrieben hat, zunächst für denselben Mann, Theophilus (den wir nicht weiter kennen), geschrieben worden; aber während seinem Evangelium noch drei andere zur Seite stehen, steht die Apostel­ geschichte einzig da und kann nur durch die Briefe der Apostel ergänzt werden; sie ist also für uns von höchstem Werte. Wer ist aber ihr Verfasser? b. Ein Mann namens Lukasx) wird uns dreimal im N. T. genannt: Philem. 24 als „ Mitarbeiter " des Paulus, Kol. 4, 14 als „ derge liebte Arzt" (den Maler kennt erst die spätere Sage), und endlich 2. Tim. 4,11 als „allein bei Paulus ausharre n.d er Genoss e". Me drei Briefe weisen uns nach Rom, als Aufenthaltsort des Lukas. Nun erzählt aber die Apostelgeschichte, die doch gewöhnlich von ihren Personen schlechtweg als von Fremden redet, an vier Stellen in der ersten Person Pluralis („wir"). Wenn das nicht buchstäbliche Entlehnung aus einer fremden Quellenschrift ist (was allerdings manche Forscher glauben), so hat, da andere Männer als Lukas an den betreffenden Stellen kaum in Betracht kommen können, wahrscheinlich Lukas an den bezeichneten Ereignissen, welche vor dem obengenannten Aufenthalt in Rom geschehen sind, persönlich teilgenommen2). Er ist danach schon auf der zweiten Missionsreise mit Paulus zusammengewesen und hat ihn von Troas bis Philippi begleitet (Apg. 16, 10—17). Hier muß er zurückgeblieben sein, bis Paulus ihn am Schlüsse seiner dritten Missionsreise bei der Rückkehr durch Macedonien mit nach Jerusalem nahm (Apg. 20, 5—15; 21, 1—18). Endlich hat er den gefangenen Paulus von Cäsarea nach Rom begleitet (Apg. 27, 1—28, 16); nach Rom, als Aufenthaltsort des Lukas, weisen ja nun auch die oben genannten drei Stellen des Neuen Testaments. Diesem Genossen des Paulus wird nun von der alten Kirche wie das Evangelium, so auch die Apostelgeschichte zugeschrieben, und beide Schriften stimmen in der Sprache so sehr mit einander überein, daß man an der Einheit des Verfassers nicht wohl zweifeln kann. Ob nun allerdings Lukas der Ver­ fasser dieser Schriften sei, ist in der Neuzeit vielfach bezweifelt worden; andere Forscher aber glauben an Lukas als dem Verfasser beider Schriften festhalten zu dürfen. Wenn nun, wie sich von selbst versteht, das Evangelium vor der Apostelgeschichte geschrieben worden ist, so wird die letztere etwa um das Jahr 80 geschrieben worden sein; wer aber diese Schrift als nur n a ch d e n Aufzeichnungen des Lukas von einem anderen Verfasser geschrieben betrachtet, der wird dieselbe etwas später geschrieben sein lassen. c. Wenn nun Lukas in seinem Evangelium Jesum Christum als den Urheber unseres Heils dargestellt hat, so zeigt er in der Apostel­ geschichte, wie die Predigt des Heils durch Petrus zu den Juden und vornehmlich durch Paulus zu den Heiden gekommen ist; eine genauere Angabe ihres Inhalts ergibt sich aus der Darstellung des apostolischen Zeitalters. *) „Lukas" ist eine Umformung eines lateinischen Namens (Lucanus) und der Träger dieses Namens war ein Herden chri st. 2) Über die Frage, ob der „Wirbericht" noch weiter greife, vgl. Theol. Enzykl? 11, S. 693, Z. 19—48.

552 140. Apokryphische Apostelgeschichten, Briefe -und Lehrschristen rc. Was Lukas in dieser Schrift erzählt, hat er natürlich zum Teil von andern erfahren (und zwar zum größten Teil); anderes hat er, wie oben bemertt, selbst erlebt; wahrscheinlich hat er auch hier, wie bei seinem Evangelium, schon schriftliche Aufzeichnungen benützen können. Daß er mit der Gefangen­ schaft des Paulus schließt, ohne den ihm gewiß bekannten Tod des Apostels zu erzählen, erscheint zunächst seltsam; aber die Schrift hat einen angemessenen Schluß: in I e r u s a l e m hat die Predigt des Evangeliums begonnen, und bis Rom ist sie nun bereits vorgedrungen; damit ist der Sieg des Christen­ tums gewährleistet. Unter diesen Umständen kam das weitere (den damaligen Lesern der Schrift bekannte) Schicksal des Paulus nicht mehr in Betracht, ebenso wenig wie das spätere Schicksal des Petrus, von welchem ja Lukas ebenfalls nichts berichtet, und noch weniger das ebenfalls nicht berichtete Schicksal der anhexn Apostel. d. Wenn so das p e rs önl i ch e S ch i cks al der Apostel gegenüber dem von Lukas dargelegten Ergebnisihrer Predigt zurücktritt, so ist es auch nicht wunderbar, daß andere interessante, ja, zürn Teil recht wichtige Ereignisse, die wir aus den Briefen des Paulus kennen, nicht erwähnt sind; so die Wirren in den Gemeinden von Galatien und in Korinth, wie auch der Streit des Paulus mit Petrus in Antiochia, und viele Einzel­ heiten aus dem Leben des Paulus und auch der älteren Apostel — das alles kam eben nicht in Betracht, wo es galt, die Verbreitung des Evan­ geliums darzustellen. Manches ist vielleicht auch nicht ganz genau erzählt, die Gegensätze des apostolischen Zeitalters sind vom Schriftsteller nicht in der Schärfe erfaßt, wie sie uns aus den Paulinischen Briefen entgegentreten; aber nicht um die Gegensätze zu mildern, sondern im Geiste einer Zeit, von welcher dieselben nicht mehr in ihrer ganzen Schärfe erkannt wurden, sind dieselben in der Apostelgeschichte in i h r e r Weise dargestellt. e. Aber wenn auch unsere Apostelgeschichte mancher Ergänzung bedarf (und dieselbe zum Teil ja auch aus den Briefen des N. T. erhält), so steht sie doch unendlich hoch über den apokryphischen Apostelgeschichten, welche ihr ebenso nachgebildet worden sind, wie den älteren die apokryphischen Evan­ gelien, die sich in grellen Abenteuerlichkeiten und Geschmacklosigkeiten über­ bieten und für uns beinahe wertlos sind *).

140. Apokryphische Apostelgeschichten, Briefe und Lehrschristeu, Kirchenordnuugen und Apokalypsen"). Wie den kanonischen Evangelien apokryphische zur Seite stehen, so stehen auch den kanonischen Schriften der Apostel und über die Apostel apokryphische Schriften zur Seite: Apostelgeschichten, Briefe und Lehrschriften, Kirchenordnungen und Apokalypsen. Bon ihnen soll im folgenden einiges gesagt werden.

a. Apostelgeschichten; die Abgarsage. Nachdem es der Kirche unter Constantinus möglich geworden war, sich ungestört im römischen Reiche einzurichten, wuchs in immer steigendem Grade die Neigung 2) Vgl. Nr. 140.

2) Nach Hennecke, Apokryphen des N. T. I, 356s.

140. Apokryphische Apostelgeschichten, Briefe und Lehrschristen rc. 553

Nachrichten aus der Anfangszeit des Christentums zu gewinnen oder mit nur ge­ ringem Anhalt an vorhandenen Quellen den alten Berichten unvermerkt hinzuzu­ fügen. Da die Nachrichten der kanonischen Apostelgeschichte nicht ausreichten, so wandte man sich an andere Schriften, welche nach ihr entstanden waren; zwar ent­ hielten dieselben vielfach, wie man wahrnahm, gefährliche Lehren, aber ihre Geschichtserzählungen hielt man nicht für unrichtig. Allerdings nicht die ganzen Bücher, aber wohl einzelne Erzählungen derselben haben sich durch das ganze Mittelalter hindurch bis zur Neuzeit im Munde des Volkes erhalten, z. B. die Erzählung von der Begegnung Jesu mit Petrus vor dem Tore Roms. Zu diesen Apostelgeschichten gehören folgende Schriften. а. Die Petrusakten, welche als eine Fortsetzung der kanonischen Apostel­ geschichte gelten wollen, erzählen, wie Paulus Ron: verläßt, um nach Spanien zu reisen, wie darauf Petrus nach Rom kommt und den in Rom erschienenen 'Zauberer Simon überwindet (wobei ein Hund und ein Kind von sieben Monaten reden), wie Petrus in Rom gekreuzigt wird (in der Weise, wie es z. B. in dem Gedichte von Kinkel und imten^ dargestellt ist). ß. Die Paulusakten erzählen unter anderm die Legende von der heiligen Thekla, welche von Paulus bekehrt wird durch „das Wort von der Enthaltsamkeit ^Ehelosigkeit) und der Auferstehung" (das sind hier die zwei Hauptstücke des Christen­ tums) und aus dem Feuer und von den wilden Tieren, denen sie vorgeworfen wird, in der wunderbarsten Weise errettet wird. Y« Die Johannesakten berichten von dem Wirken des Johannes in EphesuS und von seinem Tode — nicht aber die Geschichte vom „geretteten Jüng­ ling" (welche von Clemens Alexandrinus erzählt wird) und die Erzählung von der beständigen Ermahnung zur Liebe (die von Hieronymus erzählt wird). Hier wird erzählt, wie Johannes den Artemistempel in Ephesus zerstört (den erst die Goten im I. 262 zerstört haben), wie er die ibn auf dem Lager belästigenden Wanzen für eine Nacht aus dem Lager hinausweist, wie er sein Grab sich selber graben läßt und dann selber hineinsteigt. Spätere Sagen berichten dann, daß seine Jünger am fol­ genden Tage das Grab leer gefunden hätten (er sei lebendig in den Himmel auf­ genommen worden), oder er schlafe nur im Grabe, und sein Atem setze den Staub über dem Grabe beständig in Bewegung 2). 8. Die Andr easakten erzählen namentlich des Apostels Tod 3). б. Die Th omasakten erzählen von der Wirksamkeit des Thomas, der zunächst in Persien und in Baktrien gepredigt hatte, in Indien. Als einmal die Zug­ tiere vor dem Wagen nicht weiterkönnen, läßt er vier besonders starke wilde Esel herzurufen, die gehorsam nun den Wagen ziehen, dann noch auf sein Geheiß Dämonen austreiben und predigen. Das schon in alter Zeit in Indien verbreitete (nestorianische) Christentum führte die Sage auf den Apostel Thomas zurück (Thomaschristen)4). *) Vgl. Nr. 147. 2) Vgl. das Gedicht von Binder: Das Grab zu Ephesus. 8) j'9lber das schräg stehende Andreaskreuz ist erst eine Erfindung des Mittelalters. — Woher es kommt, daß gerade Andreas, der Lobredner der Ehelosigkeit, im Mittelalter von den heiratslustigen Mädchen um einen Mann gebeten wurde/ wissen wir nicht. Vgl. Hennecke, Apokryphen II, 561—562. 4) Über die Thomassage vgl. Hennecke, NTliche Apokryphen, und das interessante Programm von Radolfzell, 1911: Heck, Hat der heilige Apostel Thomas in Indien das Evangelium gepredigt? (Der Vers, hält die Überlieferung für glaubwürdig.)

554 140. Apokryphische Apostelgeschichten, Briefe und Lehrschristen rc. C Endlich gehört hierher — und zwar im besonderen zu den Thomasakten — auch die A b g a r s a g e. Die Thomasakten schließen mit der Erzählung von dem in Indien erfolgten Märthrertode des Thomas; aber „einer der Brüder trug des Thomas Gebeine in die Gegenden des Westens über" — und zwar nach Edessa, wie man später sagte. In Edessa hatte wohl nach einer älteren Erzählung Thomas gewirkt; als dieser aber in Indien gewirkt haben sollte, trat an seine Stelle Thaddäus (Addai), und man glich beide Überlieferungen dadurch aus, daß Thomas den Thaddäus nach Edessa gesandt habe. Bon der Begründung des Christentums in Edessa erzählt nun aber Genaueres die A b g a r s a g e, welche etwa um das Jahr 250 entstanden sein mag; ihre Tendenz ist, die Kirche von Edessa auf Christus selbst zurückzuführen. Der Inhalt der Sage ist folgender. Von schwerem körperlichen Leiden geplagt, bittet Abgar, der König von Edessa, brieflich Jesum, zu ihm zu kommen und ihn zu heilen, und bietet ihm gleichzeitig Edessa als ständigen Wohnsitz an. In seiner Antwort lehnt Jesus des Königs Bitte zunächst ab, verheißt aber nach seiner Himmelfahrt einen seiner Jünger zu senden, um Abgar zu heilen und ihm und den Seinen das „Leben" zu bringen. Die Ver­ heißung Jesu geht in Erfüllung durch die Sendung eines der 70 Jünger, des Addai oder Thaddäus, der in Edessa das Christentum begründet. Der Brief Jesu ist niemals in die Bibel aufgenommen, aber als wunder­ wirkende Reliquie zuerst am Stadttor zu Edessa angeschlagen worden, dann auch an anderen Orten, sogar noch bis ins 19. Jahrhundert hinein, wo er noch an den Türpfosten englischer Bauernhäuser befestigt war. Dieser Jesusbrief an Abgar lautete aber also: „Selig bist du, daß du an mich glaubtest, ohne mich gesehen zu haben. Denn es steht geschrieben über mich, daß die, die mich gesehen haben, nicht an mich glauben, und daß gerade die, die mich nicht gesehen haben, glauben und leben würden. Wenn du mir aber geschrieben hast, ich möge zu dir kommen, so ist es nötig, daß ich alles, um deswillen ich gesandt bin, hier erfülle und nach der Erfüllung so aufgenommen werde zu dem, der mich gesandt hat. Und wenn ich aufgenommen bin, will ich dir einen meiner Jünger senden, damit er dein Leiden heile und Leben dir und den Deinigen darbiete."

b. Briefe und Lehrschriften *). Außer den apokryphischen Apostelgeschichten gibt es auch eine Anzahl von Briefen und Lehrschriften, welche für unsere Kenntnis der Gründungsgeschichte der Kirche in Betracht kommen. Die ä l t e st e n Schriften des N. T. sind die Briefe des Paulus, und dieMehr z a h l der NTlichen Schriften sind ja die Briefe (21 von 27 Schriften). Nach dem Vorbilde der NTlichen Briefe sind nun bald auch andere Briefe von angesehenen Christen geschrieben worden. Daß aber diese zunächst für eine einmalige Settftre in einer bestimmten Ge­ meinde berechneten Briefe allmählich zu einer Briefsammlung vereinigt wurden, x) Die Verfasser dieser und einiger anderer Schriften werden gewöhnlich als „apostolische Väter" bezeichnet, nämlich: Barnabas, Hermas (vgl. Nr. 155 c, ß), Clemens von Rom, Ignatius, Polykarpus und der Verfasser des Briefes an Diognetos.

140. Apokryphische Ap stelgeschichten, Briefe und Lehrschriften re,

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entsprach dem Brauch der damaligen Zeit, welche bereits Briefsammlungen kannte (Briefe des Aristoteles und des Cicero). Daß aber Briefe oft zu A b h a n d l u n g e n wurden, entsprach ebenfalls der Sitte der damaligen Zeit (vgl. die Episteln des Horaz), und derartigen Brief-Abhand­ lungen treten bald Abhandlungen zur Seite, in welchen die Briefform ganz abge­ streift ist; wer den Römerbrief liest, merkt ja in vielen Kapiteln gar nichts mehr davon, daß er einen B r i e f vor sich hat. Die wichtigsten Briefe und Lehrschriften sind aber folgende. а. In einer großen Anzahl von Handschriften der lateinischen Bibel ist als ein Brief des Apostels Paulus ein „Brief an die Laodicener" enthalten (20 Verse). Man vermißte nämlich den im Kolosserbriefe (4, 16) erwähnten Laodicenerbrief, und so wurde ein solcher erdichtet. ß1). Dem N. T. beigefügt sind in einer alten griechischen Handschrift (dem codex Alexandrinus) und in der syrischen und in der äthiopischen Bibelübersetzung zwei angebliche Briefe des Clemens, des dritten oder vierten Bischofs von Rom, der erste wirklich ein Brief, der zweite in Wahrheit eine Predigt2). Der Brief ist im Namen der Gemeinde von Rom geschrieben an die Gemeinde von Korinth, und ermabnt diese zur Beilegung der in ihr eingetretenen Spaltung. Der Brief ist etwa um Las.Iahr.-95 geschrieben; die Überlieferung läßt ihn von Clemens, dem Bischof der Gemeinde, geschrieben sein, und diese Überlieferung darf hinsichtlich der Person des Verfassers als richtig angesehen werden. Die Predigt stammt dagegen gewiß nicht von Clemens, sie ist aber für uns wertvoll als die älteste Predigt, die wir besitzen; sie wird etwa aus dem Jahre 140 stammen 2). y. Ein dem Hebräerbriefe ähnlicher Brief, welcher ebenfalls die Christen vor dem Rückfall ins Judentum warnt, ist der in der Zeit von 117—130 geschriebene Brief, welcher fälschlich dem Barnabas, dem Genossen des Paulus, beigelegt und darum auch in alten Handschriften (im codex Sinaiticus) dem N. T. beigegeben, aber später davon gesondert wurde4). б. Dagegen sind die Briefe des Bischofs Ignatius von Antiochia und der Brief des Polykarpus von Smyrna nirgends als kirchlicher Lesestoff ange­ sehen worden, ebensowenig die Schrift eines unbekannten Verfassers, dessen Zeit­ alter verschieden bestimmt wird (150—310), derBriefanDiognetos, der jünger ist, als die oben genannten Schriften. Derselbe zerfällt, abgesehen von dem erst später beigefügten Schlüsse (Kap. 11 und 12) in drei Teile: im ersten Teile werden das Heidentum und das Judentum besprochen (Kap. 2—4); im zweiten Teil werden der Gottesdienst und das Leben der Christen dargestellt (Kap. 6—8, 6); im dritten Teil behandelt der Verfasser die Frage, warum das Christentum so spät in die Welt gekommen ist. Namentlich der mittlere Teil des Briefes hat demselben eine sehr große Anerkennung verschafft, von der man allerdings in der neueren Zeit etwas zurück­ gekommen ist. *) Vgl. Theol. Enzykl? Bd. 4: „Clemens von Rom". 8) „Der Brief selbst zeigt [ebenso wie der Römerbrief des Paulusj, daß es damals noch keinen Bischof in Rom gab." Theol. Enzykl? 4, 164, Zeile 24—25. 3) Über andere, dem Clemens zugeschriebene Schriften, die sogen. Clementinen, vgl. Theol. Enzykl? s. v. „Clementinen". — Der in diesen Schriften enthaltene Erzählungsstoff reicht in der Faustsage bis auf unsere Tage herab. Vgl. Theol. Enzykl? 4, S. 175, Zeile 53—58. bei der gewöhnlichen Dar­ stellung geblieben, da die Differenz der Anschauungen für die Schule kaum in Be­ tracht kommt. **) Theol. Encykl.3 10, 543—546. •) Wie schon ein Jude aus Ephesus das dortige Heidentum bekämpft hat, kann^der Lehrer erfahren aus H^aus raths Neutest. Zeitgeschichte II (1872), S. 642—645. 7) Vgl. unten Nr. 146; der Epheserbrief ist mehr allgemein gehalten.

145. Die zweite und die dritte Misfionsreise des Paulus.

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Heiden toegen der befürchteten Verachtung der in Ephesus besonders eifrig verehrten Artemis („Diana" — Luther überträgt stets die griechischen Namen ins Lateinische, weil das griechische Altertum damals noch sehr wenig be­ kannt war). Paulus selber weist 1. Kor. 15, 32 (wenn der Ausdruck nicht bildlich gemeint ist) darauf hin, daß er in Ephesus zum Kampf mit wilden Tieren vom Statthalter verurteilt worden sei (er sagt leider nicht, wie er dem Tode entgangen ist), und 2. Kor. 1, 8—10 weist er auf eine andere Drangsal hin, ohne sie zu nennen. Sodann rühmt er, daß in Ephesus Priska und Aquilas für sein Leben ihr eigenes Leben eingesetzt haben (Röm. 16, 4 — nach der unten gegebenen Beziehung dieses Abschnitts) *), und Röm. 16, 7 von Andronikos und Junias, daß sie mit ihm in Gefangenschaft geraten sind*2).* Im 2. Briefe an Timotheus (1, 15) klagt freilich Paulus: „Stile in Asien haben sich von mir abgewandt." Daß aber die Gemeinde auch nach des Paulus Weggang nicht zu Grunde gegangen ist, zeigt der nach dem Weggang von Ephesus geschriebene Abschnitt Röm. 16, 1—20; das weitere Schicksal dieser Gemeinde ist aber an den Namen des Johannes geknüpfts). Ms Paulus aus Ephesus vertrieben wurde, begab er sich zunächst nach Macedonien, und dann, nachdem er wohl noch die römische Provinz Jllyrikum besucht hatte (Röm. 15,19), begab er sich nach Achaja, wo er wohl vornehmlich in Korinth verweilte. Über Macedonien zurückreisend trat er — unddamit endet die dritte Missionsreise — die längst beabsichtigte Reise nach Jerusalem an, trotz schlimmer Ahnungen und Warnungen; die von ihm unter seinen Gemeinden gesammelte Kollekte für die Christen in Jeru­ salem sollte diese Gemeinde, welche in ihm einen Feind des von den Juden­ christen noch beobachteten mosaischen Gesetzes sah, ihm günstig stimmen; aber es ist anders gekommen, als Paulus gehofft hatte. 6. An die Gemeinden von Asien sind nun drei Briefe gerichtet, der Brief an die E p h e s e r, der an die K 0 l 0 s s e r und der an P h i l e m 0 n (in Kolossä?), sämtlich während einer Gefangenschaft des Paulus geschrieben; einige Forscher denken an Rom, andre4) an Cäsarea. Der Brief an die E p h e fei und der an die Kolosser sind ihrem Inhalte nach mit einander nahe verwandt und dürften deshalb kurz nach einander (und zwar zuerst der an die Kolosser) geschrieben sein, der erstere an die von Paulus selber gegründete Gemeinde in Ephesus 5),6 *der zweite an die von einem seiner Schüler, Epaphras oder Epaphroditus, gegründete Gemeinde in Kolossä (Kol. 1, 7) in Phrygien (in dem inneren Kleinasien) •). Der dritte Brief ist an ein Glied *) Vgl. Nr. 146. 2) Nach Apg. 19, 31 nahmen sich des Apostels beim Aufstande „etliche der Obersten in Asien" an, „die Paulus' gute Freunde waren". Diese „Obersten in Asien" sind nach dem Grundtext die „Asiarchen", d. h. die Vorsteher und Leiter (der wirkliche und die früheren) der Feste und Spiele in der Provinz „Asm" — ein Amt, das nur reiche Leute verwalten konnten. Vgl. M 0 m m s e n, Röm. Gesch. V, S. 318. 8) Vgl. Nr. 149. 4) Reuß, Weiß und andere. 6) Derselbe wird heute meist, da ihm alle persönlichen Beziehungen fehlen (während Paulus doch so lange in Ephesus gewirkt hatte) und in der Überschrift in V. 1 in den alten Handschriften die Worte „in Ephesus" nicht vorhanden sind, für ein allgemeines Rundschreiben an die Christen in Asien gehalten, welches entweder von Paulus oder von einem uns unbekannten späteren Schriftsteller herstamme. *) Ein an die (wohl ebenfalls von Epaphras gegründete) Gemeinde von LaoHeid r t ch, Heilige Geschichte. 3. Ausl. 37

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146. Rückblick und Ausblick; Briefe des Paulus; der HebrLerbrief rc.

der Gemeinde von Kolossä oder einer benachbarten Stadt, anPhilemon, gerichtet, welchem Paulus einen ihm entlaufenen und von ihm jetzt in der Ge­ fangenschaft bekehrten Sklaven Onesimus zurückschickt, mit der Bitte, den Sklaven so aufzunehmen, als käme er selber zu ihm. Auch der arme Sklave ist dem großen Apostel nicht zu gering, um sich seiner anzunehmen.') Me drei Briefe, besonders die beiden ersten, sind vielfach dem Apostel abgesprochen worden, werden aber auch von ganz unbefangenen Forscheme) für echt gehalten.

146. Rückblick und Ausblick; die Briefe des Paulus; der Hebräer­ brief und der Barnabasbrief. 1. Kor. 1—4. 2. Kor. 10—12. 1. Kor. 9. Röm. 1, 1—17. 15, 14—33»). a. Aus einem Verfolger des Christentums war Paulus der eifrigste Prediger desselben geworden, der sich schließlich mit Recht rühmen durfte, mehr für das Evangelium getan zu haben, als die andem Apostel, der aber namentlich den Jrrlehrem gegenüber sich seiner Bedeutung wohl bewußt war. So ist es denn Paulus nicht zu verargen, daß er sich in den Korintherbriefen selber seiner Tätigkeit und seiner Erfolge rühmt; seine Taten stimmen voll­ ständig zu seinen Worten. Und neben seinen Leistungen weist er besonders auch darauf hin, daß er in durchaus uneigennütziger Weise, ohne einen Lohn dafür zu beanspmchen oder zu erhalten, in den Gemeinden das Evangelium gepredigt habe; seinen Unterhalt erwarb er sich nämlich durch ein Handwerk, welches er nebenbei trieb (er war Zeltmacher) *). Verheiratet ist er nicht ge­ wesen; oft war er körperlich leidend. Aber noch mehr, als er für den Glauben getan hat, hat er um Christi willen gelitten, und vomehmlich auf diese Leiden gründet er seinen Ruhm. Durch persönliche Wirksamkeit und mündliche Predigt unter Entbehmngen und Leiden hat nun Paulus seine Gemeinden gegründet; aber wenn dieselben sich gesund weiterentwickeln und durch Jrrlehrer nicht verwirrt werden sollten, mußte er sie immer aufs neue selber besuchen oder durch seine Schüler auf­ suchen lassen. Das hat er gleichfalls getan; aber es genügte noch nicht. So sah sich Paulus genötigt, seine Gemeinden durch B r i e f e im rechten Glauben zu stärken und zu rechtem Wandel zu ermahnen. Er hat gewiß mehr Briefe geschrieben, als die dreizehn, die wir noch besitzen'), von denen die ersten neun an sieben Gemeinden, die vier letzten an drei einzelne Männer gerichtet sind. „Gegen die Echtheit der größeren und wichtigeren derselben ist kein emstlicher Zweifel erhoben worden *); auch mehrere der beanstandeten lassen sich noch mit zureichenden Gründen verteidigen, und nur über einige wenige scheinen bicea gerichteter Brief des Paulus (Kol. 4,16) ist nicht mehr vorhanden; der noch vorhandene (lateinische) Laodicener-Brief gilt allgemein als unecht. *) Vgl. Nr. 154 b. ') Reuß und andere. 8) Wenn es an Zeit fehlt, so mag sich die Lektüre auf die über das Leben des Apostels besonders gut orientierenden Stellen des Römerbriefs und 2. Kor. 10—12 beschränken. *) Vgl. Nr. 143 a, Sinnt. *) Derloten sind mindestens e t n Brief an die Korinther (1. Kor. 5, 9) und ein nach Laodicea gerichteter Brief (Kol. 4, 16). *) Auch die Echtheit dieser Briefe ist allerdings in der neuesten Zeit bezweifelt worden.

146. Rückblick und Ausblick; Briefe des Paulus; der Hebräerbrief rc.

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die Akten im ungünstigen Sinne geschlossen zu sein"l), was natürlich andere Forscher bestreiten. Die ältesten Briefe des Paulus sind die an die Thessalonicher und an die Galater; demnächst wurden die Briese an die Korinther und die Römer geschrieben; aus der Zeit der Gefangenschaft des Apostels stammen die Briefe an die Kolosser, an Philemon und an die Epheser, wie auch der Brief an die Philipper, der jüngste unbezweifelte Brief des Apostels, unzweifelhaft in Rom geschrieben. Außer den 13 Paulinischen Briefen in unserer Bibel gibt es übrigens noch andere angebliche Briefe des Paulus, welche heute sämtlich als untergeschoben gelten *). Unter den Briefen des Paulus sind aber die bedeutendsten die vier in unserer Bibel voranstehenden: der an die Römer, die zwei an die Korinther und der an die Galater; von dem letzten ist schon oben gesprochen worden *); von den andern soll, soweit sie noch nicht besprochen sind, hier das Erforderliche gesagt werden. b. Als Paulus auf seiner dritten Missionsreise in Ephesus weilte, emp­ fing er Nachrichten aus Korinth — er ist vielleicht auch von Ephesus einmal auf kurze Zeit nach Korinth gereist; auch schrieb die Gemeinde an ihn einen Brief, den er beantwortete (1. Kor. 5,9) — der eigentliche erste, aber verlorene Brief an die Korinther4). Später schickte er seinen Schüler Timotheus nach Korinth, um die Verhältnisse daselbst zu ordnen; aber derselbe konnte in Korinth nichts ausrichten. Eine neue Gesandtschaft der Gemeinde, welche ihn wegen verschiedener Dinge um Rat fragen sollte, veranlaßte ihn, noch von Ephesus aus unsern ersten Korintherbrief zu schreiben, in welchem er auf diejenigen Dinge genauer eingeht, welche in der Gemeinde Irrungen veranlaßt hatten; es sind dies vomehmlich die Parteien, welche sich in Korinth gebildet hatten (S. 1—4), die Frage über Ehebmch, Ehe und Ehelosigkeit (K. 5—7), die Frage wegen des Götzenopfers (Ä. 8—11), die Frage über die Wundergaben (K. 12—14) und die Frage wegen der Auferstehung (K. 15). Von diesen fünf Dingen soll hier nur das erste etwas genauer besprochen werden, auf die anbetn (abgesehen von der zweiten Frage) ist an andern Orten des Buches eingegangen worden'). Es hatten sich nämlich in der Gemeinde vier Parteien gebildet, welche sich nach Paulus, nach Apollos (einem Juden aus Alexandria, der Stätte jüdisch-heidnischer Gelehrsam­ keit, welcher nach Paulus' Weggang selbständig, aber nicht gegen Paulus gepredigt hatte), nach Kephas (Petrus, der vielleicht einmal in Korinth ge­ wesen sein könnte) und nach Christus nannten. Paulus bekämpft dies Partei­ treiben und ermahnt zur Einigkeit. Er weiß sich wesentlich eins mit Apollos; die Anhänger von Kephas und Christus sind jedenfalls Judenchristen, die einen des Petrus Anhänger, die andern vielleicht Anhänger des Jakobus, *) Reuß; aber auch die letzten (dem Paulus abgesprochenen) bleiben trotzdem wertvolle Urkunden des christlichen Glaubens. *) Zu denselben gehört z. B. der noch vorhandene Briefwechsel des Apostels mit seinem Zeitgenossen, dem bekannten Philosophen S e n e c a in Rom. ') Vgl. Nr. 144. 4) Wenn außer diesem noch ein anderer Brief des Paulus an die Korinther, wie manche Forscher annehmen, verloren gegangen ist, und außerdem Kap. 16—13 des 2. Briefes, wie unten be­ merkt, einem besonderen (vor unserem zweiten Briefe geschriebenen) Briefe an die Korinther angehörten, so hätte Paulus nach Korinth fünf Briefe ge­ schrieben. •) Vgl. Nr. 114 b (K. 8) und Nr. 154