Handbuch der deutschen Literatur für die oberen Klassen höherer Lehranstalten: Eine nach den Gattungen geordnete Sammlung poetischer und prosaischer Musterstücke nebst einem Abriss der Metrik, Poetik, Rhetorik und Literaturgeschichte [2. Aufl., besorgt von J. E. Heinrichs. Reprint 2019] 9783111459141, 9783111091891


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German Pages 789 [802] Year 1872

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Handbuch der deutschen Literatur für die oberen Klassen höherer Lehranstalten: Eine nach den Gattungen geordnete Sammlung poetischer und prosaischer Musterstücke nebst einem Abriss der Metrik, Poetik, Rhetorik und Literaturgeschichte [2. Aufl., besorgt von J. E. Heinrichs. Reprint 2019]
 9783111459141, 9783111091891

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Handbuch der

-kitscht« fittmler für

die oberen Massen höherer Lehranstalten. Eine nach den Gattungen geordnete Sammlung poetischer und prosaischer Musterstiicke nebst einem Abriß der Metrik, Poetik, Rhetorik und Literaturgeschichte.

Bon

Aielih «nd Heinrichs. Zweite Auflage,

besorgt von

Dr. I. E. Heinrichs, Professor am König!. Kadetten-Corps und an der Konigstädtischen Realschule zu Berlin.

Berlin. Berlag von Georg Reimer.

1872.

Vorrede zur et ft en Auflage.

Bei der Bearbeitung des vorliegenden Handbuchs der deutschen Literatur ist

es unser Bestreben gewesen, das erforderliche Material für den gesammtcn deutschen Unterricht in den oberen Klassen höherer Lehranstalten zu liefern und in dieser Beziehung namentlich denjenigen Anforderungen zu genügen, welche in dem den

deutschen Unterricht auf den preußischen Gymnasien betreffenden Ministcrial-Reskript

vom 13. Dezember 1862 und in den erläuternden Bemerkungen zu der UnterrichtSund Prüfungsordnung der Real- und der höheren Bürgerschulen vom 6. Oktober

1859 gestellt werden.

Demnach haben wir als Einleitung zuerst einen Abriß der

Metrik, Poetik, Rhetorik und Literaturgeschichte gegeben und auf diesen mehr als fünfhundert poetische und prosaische Musterstücke folgen lassen, welche als Beispiel­

sammlung für die Poetik und Literaturgeschichte und gleichzeitig als Stoss zu Übungen

im Lesen und im Vortrage, zum Theil auch als Vorbilder für stilistische Arbeiten dienen sollen.

Wir haben diese Musterstücke nach den Gattungen der Literatur

geordnet und jedem Abschnitte eine kurze Charakteristik der betreffenden Gattung

vorangesetzt.

Diese Einleitungen sind in der Weise abgefaßt worden, daß sie dem

Lehrer nur als Leitfaden für den Vortrag und als Grundlage für die mit den

Schülern anzustellenden Erörterungen dienen sollen, während die weitere Ausführung und die Begründung der mündlichen Erklärung vorbehalten bleiben.

Aus diesem

Grurde sind z. B. in der Metrik nur die gebräuchlicheren Versmaße und die im

Deutschen häufig angewandten Odenstrophen angeführt worden, während wir unS in d:m Abrisse der Literaturgeschichte darauf beschränkt haben, eine übersichtliche Darstellung des Entwickelungsganges unserer National - Literatur zu geben und die Bedeckung, welche die ausgewählten Lesestücke für denselben haben, kurz nachzuweisen. In Betreff der Zweckmäßigkeit derartiger Mustersammlungen bemerken wir, daß

durch sie keineswegs die Lektüre vollständiger klassischer Werke ausgeschlossen werden

soll, daß sie aber das einzige Mittel sind, die Jugend mit den Schätzen unserer epischen und lyrischen Poesie in umfassender Weise bekannt zu machen, während sie zugleich den großen Vortheil gewähren, daß der Lehrer die Proben, Beispiele und

Muster, die er bei seinem Vortrage über die Literaturgeschichte mitzutheilen für nöthig

findet, nicht selbst vorzulesen braucht, sondern von den Schülern lesen lassen kann, wodurch nicht allein das Verständnis derselben, sondern gleichzeitig auch die namentlich in den oberen Klassen sehr vernachlässigte Fertigkeit im schönen und sinngemäßen

Lesen gefördert wird.

Was aber die von uns getroffene Auswahl betrifft, so sind

wir bemüht gewesen, auf allen Gebieten der Literatur dasjenige auszuwählen, was

den wissenschaftlichen Sinn der Jugend zu fördern, ihren Charakter zu bilden und

sie für daS Gute, Wahre und Schöne zu begeistern geeignet ist.

Von diesem

Grundsätze sind wir nur in den Fällen abgewichen, wo die Rücksicht auf die Literatur­

geschichte uns auch zur Aufnahme solcher Stücke bewogen hat, die jetzt vor einer

strengen ästhetischen Kritik nicht mehr bestehen können.

Wie auf dem Gebiete der

Poesie der epischen Dichtung, so ist auf dem der Prosa der historischen Darstellung

mit Rücksicht auf die in der Jugend vorherrschende Neigung für das Thatsächliche

ein größerer Umfang eingeräumt worden.

Dagegen sind die dem Drama entnom­

menen Proben auf ein geringes Maß beschränkt worden, weil der Charakter der dramatischen Werke das Abtrennen einzelner Theile nicht wohl gestattet.

Lieder,

welche in weitverbreiteten Liederbüchern oder im Gesangbuche Aufnahme gefunden haben, haben wir von unserer Sammlung ausgeschlossen, während bei der Auswahl der prosaischen Lesestücke auf die von den Schülern zu bearbeitenden Aufsätze be­

sondere Rücksicht genommen worden ist.

In einzelnen Fällen haben wir der Raum­

ersparnis wegen oder aus pädagogischen Rücksichten eine Kürzung der ausgcwähltcn Stücke vorgenommen; doch haben wir uns wesentliche Änderungen nur äußerst selten erlaubt.

Dagegen haben wir die Orthographie überall aus die gegenwärtig herrschende

Schreibweise zurückgeführt.

Die Aufnahme einiger mittelhochdeutscher Lesestücke, die

wir im Anhänge zusammcngestellt haben, rechtfertigt sich durch das gegenwärtig all­ gemein hervortretende Streben unseres Volkes, mit seinem ursprünglichen Wesen

und Geiste sich näher bekannt zu machen, und durch die wiederholentlich kund­ gegebenen Forderungen angesehener und erfahrener Schulmänner nach Aufnahme

des Mittelhochdeutschen in den Lehrplan der höheren Lehranstalten.

Doch glaubten

wir die Mittheilung solcher Proben' auf das geringste Maß zurückführen zu müssen,

da zu einer eingehenderen Beschäftigung mit dem Mittelhochdeutschen auf unseren Schulen schwerlich die nöthige Zeit zu beschaffen sein wird.

Durch die Auswahl

Vorrede.

V

solcher Stücke, welche vorher bereits in der Übersetzung mitgetheilt worden sind, ist die Hinzufügung eines Glossariums überflüssig geworden.

Wenn unser Handbuch auch nicht als der zweite Theil des im vorigen Jahre in demselben Verlage von unö herausgegebenen snunmehr bereits in 3. Auflage bei

G- Reimer in Berlin erschienenen^ deutschen Lesebuchs Austritt, so findet eS doch eine gewisse Ergänzung durch dasselbe, insofern diejenigen Stücke, die ihrem Inhalte nach sich mehr zur Lektüre in den unteren Klassen eigneten imb deshalb dem Lesebuche

zugetheilt wurden, nicht auch in das Handbuch der Literatur herübergenommen worden

sind.

So sind die Dichtungen Arndtö, um nur einige berühmtere Dichter her­

vorzuheben, im Lesebuch stärker vertreten als in dem vorliegenden Handbuche; ebenso

sind drei Gedichte Bürgers ersterem zugewiesen worden und aus gleichem Grunde

haben auch einige Dichtungen Gellerts,

Gleims,

Goethes,

Herders,

Rückerts, Schillers und Uhlandö dem Lesebuche zugethcilt werden müssen. Übrigens hoffen wir, daß das Handbuch, obwohl zunächst für die Schule berechnet,

doch auch außerhalb derselben den Freunden der deutschen Literatur zu eingehender Beschäftigung mit den Schätzen derselben geeigneten Stoff darbieten wird.

Berlin, am 1. Mai 1863.

Dielitz.

Heinrichs.

Vorrede zur zweiten Auflage.

Der Abriß

sichtlich

der

Literaturgeschichte

der Darstellung

besonders

hat eine

durch Kürzung

durchgreifende der

zu

rücksichtlich des Inhalts durch noch größere Beschränkung

und Wichtigste erfahren.

Änderung rück­

ausgedehnten Sätze,

auf

das Wesentlichste

Die eben vergangenen Kriegsjahre haben auch in diesem

Handbuche die ihnen gebührende Berücksichtigung durch Hinzufügung mehrerer auf

diese große Zeit bezüglicher Stücke gefunden. enthaltenen Musterstücken

Rücksichtlich

sind

aus

Von den in der ersten Auflage

verschiedenen Gründen

der Orthographie sind die Regeln,

welche der

einige

fortgeblieben.

Verein der Berliner

Vorrede.

V

solcher Stücke, welche vorher bereits in der Übersetzung mitgetheilt worden sind, ist die Hinzufügung eines Glossariums überflüssig geworden.

Wenn unser Handbuch auch nicht als der zweite Theil des im vorigen Jahre in demselben Verlage von unö herausgegebenen snunmehr bereits in 3. Auflage bei

G- Reimer in Berlin erschienenen^ deutschen Lesebuchs Austritt, so findet eS doch eine gewisse Ergänzung durch dasselbe, insofern diejenigen Stücke, die ihrem Inhalte nach sich mehr zur Lektüre in den unteren Klassen eigneten imb deshalb dem Lesebuche

zugetheilt wurden, nicht auch in das Handbuch der Literatur herübergenommen worden

sind.

So sind die Dichtungen Arndtö, um nur einige berühmtere Dichter her­

vorzuheben, im Lesebuch stärker vertreten als in dem vorliegenden Handbuche; ebenso

sind drei Gedichte Bürgers ersterem zugewiesen worden und aus gleichem Grunde

haben auch einige Dichtungen Gellerts,

Gleims,

Goethes,

Herders,

Rückerts, Schillers und Uhlandö dem Lesebuche zugethcilt werden müssen. Übrigens hoffen wir, daß das Handbuch, obwohl zunächst für die Schule berechnet,

doch auch außerhalb derselben den Freunden der deutschen Literatur zu eingehender Beschäftigung mit den Schätzen derselben geeigneten Stoff darbieten wird.

Berlin, am 1. Mai 1863.

Dielitz.

Heinrichs.

Vorrede zur zweiten Auflage.

Der Abriß

sichtlich

der

Literaturgeschichte

der Darstellung

besonders

hat eine

durch Kürzung

durchgreifende der

zu

rücksichtlich des Inhalts durch noch größere Beschränkung

und Wichtigste erfahren.

Änderung rück­

ausgedehnten Sätze,

auf

das Wesentlichste

Die eben vergangenen Kriegsjahre haben auch in diesem

Handbuche die ihnen gebührende Berücksichtigung durch Hinzufügung mehrerer auf

diese große Zeit bezüglicher Stücke gefunden. enthaltenen Musterstücken

Rücksichtlich

sind

aus

Von den in der ersten Auflage

verschiedenen Gründen

der Orthographie sind die Regeln,

welche der

einige

fortgeblieben.

Verein der Berliner

Vorrede.

VI

Gymnasial- und Realschullehrer (Berlin 1871) aufgestellt hat, möglichst konsequent

befolgt worden, da eS gar zu wichtig ist, endlich einmal auf diesem Gebiete des deutschen Unterrichts eine Einigung der Lehrer wenigstens den Schülem gegenüber

herbeizuführen.

Wenn hier und da noch einige Abweichungen und Inkonsequenzen

beim Drucke stehen geblieben sind, so wolle man dieselben gütigst entschuldigen, da

die Durchführung der neuen Schreibweise durch die Geläufigkeit der herkömmlichen noch

allzusehr erschwert wird.

Für die bei der Korrektur deS Buches mir geleistete treue

Hülfe sage ich dem Herrn Dr. F. Basedow herzlichsten Dank.

Berlin, am 30. Juli 1872.

Heinrichs.

Dre mit einem f versehenen Stücke sind neu hinzugefügt. Tie bei einzelnen Stücken in ( ) stehenden Zahlen bezeichnen die Nummer des Stückes in der ersten Auflage. Seite

Seite

C. Von der Darstellung........................ Einleitung............................................................1 Der Stil................................................ Erster Abschnitt. Poesie und Prosa ... 1 Die Tropen.......................................... Zweiter Abschnitt. Die Lehre von der DeröDie Figuren.................................... kunst (Metrik)............................................... 2 D. Von dem Vortrage.............................. A. Von der Silbenmessung (Prosodie) . 2 Fünfter Abschnitt. Übersicht der Literatur­ B. Von den Versfüßen............................ 3 geschichte ................................................ C. Bon den Versen..................................4 Einleitung ................................................ D. Von den Versmaßen und den gebräuch­ Erster Hauptabschnitt. Die alte Zeit. . licheren Strophen............................ 6 Erste Periode. Bis zur Mitte des 12ten E. Von den Odenstrophen.................... 10 Jahrhunderts.............................. Dritter Abschnitt. Die Lehre von den Gat­ Zweite Periode. Bis zum Anfänge der tungen der Dichtkunst (Poetik) ... 11 Reformation ....... A. Die Poesie............................................. 12 Erster Zeitr aum. Bis zum Schluß des I. Die epische Poesie............................ 12 13ren Jahrhunderts .... II. Die lyrische Poesie............................ 12 Zweiter Zeitraum. Bis zur Refor­ III. Die dramatische Poesie .... 13 B. Die Prosa................................................... 14 mation . . . . . • • • Zweiter Hauptabschnitt. Die neue Zeit . I. Die historische Prosa............................ 14 II. Die wissenschaftliche Prosa ... 14 Erste Periode. Bis zur Thronbesteigung III. Die oratorische Prosa .... 15 Friedrichs des Großen .... Vierter Abschnitt. Die Lehre von der Rede­ Erster Zeitraum. Bis zum Anfänge kunst (Rhetorik)........................................15 des 17 ten Jahrhunderts. . . Zweiter Zeitraum. Bis zur ThronA. Von der Erfindung.................................. 15 a. Der Eingang........................................15 besteigmng Friedrichs des Großen b. Die Darlegung.................................. 16 Zweite Period e. Bis auf die Gegenwart c. Die Begründung.................................. 16 Erster ZeiK aum. Bis zum Ende der d. Die Widerlegung.................................. 18 Sturm- und Drangperiode 1785 e. Der Schluß ........................................18 Zweiter Zeitraum. Bis auf die Ge­ B. Von der Anordnung..................................18 genwart ....................................

A. I.

19 19 19 20 21

21 21 23 23

25 25

29

31 31 32

33 37

37 50

Poesie.

Die epische Dichtung.

a. Epische Dichtungen, die ihren Stoff aus der Sagenwelt schöpfen. 1.

Die Sage und Mythe.

Einleitung.........................................................56 1. Chidher. Rückert....................................... 56 2. Sigurds Jugend. (Nach der Wilkinasage.) Vollmer........................................57

3. Siegfried und Kriemhilde. (Nach dem SiegsriedZlieLe.) Vollmer ... 59 4. -f-Vom heiligem Gral und vom Könige Artus. Wilnnar......................................... 60 5. Roland. (NachTurpinS Chronik.) Menzel 63 6. Das Vogelmest. Lenau............................. 63

vm 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.

Inhalt.

Der fahrende Hornist. Strachwitz Das Riesenspielzeug. Chamiffo . . Der Jäger am Mummelsee.. Kopisch . Mummelsees Rache. Schnezler. . . Die Jungfrau von Stubbenkammer. Chamiffo Die Fürstentafel. Herder .... Lorelei. Heine Frau Hitt. K. E. Ebert .... Zwei Liebchen. Mörike Der gestrichene Scheffel. Kopisch . .

2. Die Legende. Einleitung 1. Wie Joseph mit der Jungfrau und dem Kinde floh. Schwab 2. Petrus. Kinkel 3. Der gerettete Jüngling. Herder . . 4. Die wiedergefundenen Söhne. Herder 5. Christophorus. Simrock 6. DasBrotdes heiligenJodokuS. Kosegarten 7. Das Amen der Steine. Kosegarten . 8. Der Mönch zu Heisterbach. Wolfg.Müller 9. Die heilige Regiswind von Laufen. Kerner 10. Rosen. Herder 11. Sankt Peter mit der Geiß. Hans Sachs

12. Legende.

Goethe.....................................

3. Das Märchen. Einleitung . .......................................... 1. Aus den Abassiden Platen .... 2. Abdallah. Chamiffo 3. Das Schlaraffenland. Nach Hans Sachs 4. Vom Däumchen. Tieck 5. Dornröschen. Aus „Reinhart" vonJähnS

4. Die Ballade und Romanze. Einleitung 1. Edward. Herder 2. Lenore. Bürger 3. Der wilde Jäger. Bürger .... 4. Der Schatzgräber. Goethe .... 6. Der Fischer. Goethe 6. Der König in Thule. Goethe . . . 7. Der Zauberlehrling. Goethe . . . 8. Kassandra. Schiller 9. Die Kraniche des JbykuS. Schiller . . 10. Der Ring des PolykrateS. Schiller . 11. Ritter Toggenburg. Schiller . . . 12. Der Gang nach dem Eisenhammer. Schiller 13. Der Taucher. Schiller 14. Der Kampf mit dem Drachen. Schiller 15. Der Wirthin Töchterlein. Uhland . . 16. Das Schloß am Meere. Uhland . . 17. Das Glück von Edenhall. Uhland . . 18. Graf Eberhard der Rauschebart. Uhland 19. Des Sängers Fluch. Uhland . . . 20. Bertran de Born. Uhland .... 21. Das Opfer. Schwab 22. Graf Guarinos'Rettung. Aus d. Span. übers, von Diez.....................................

Seite . 64 23. Die Warnung. A. W. v. Schlegel 65 24. Arion. A. W. v. Schlegel . . . . 66 25. Die Löwenbraut. Chamiffo .... 66 26. Die beiden Särge. Kerner .... 27? Die nächtliche Heerschau. Zedlitz . . 67 28. Die Wallfahrt nach Kevlaar. Heine . 67 29. Belsazar. Heine 69 30. Die Glocken zu Speier. Oer ... 69 31. Die Tauben von San Marko. Geibel . . . 70 32. Des Deutschritterö Ave. Geibel 71 5. Das Epos. 71

71 72 73 74 75 77 77 78 78 79 79 80

81 81 83 87 88 89

93 94 94 97 99 100 100 101 102 103 105 106

Einleitung

128 130 132 133 133 134 135 135 136 137

138

a. Das heroische Epos. Einleitung 138 1. Aus Homers Ilias 138 Die Verwundung des MenelaoS durch Pandaros 139 Ares wird vom DiomedeS verwundet 141 Hektor und Andromache 142 2. Aus Homers Odyssee 144 Odysseus entfernt sich von der Kalypso 144 3. AuS Vergils Äneis 148 Die Zerstörung von Troja . - . .148 4. Das Hildebrandslied 150 5. Aus „Walther und Hildegunde" . . . 151 6. Aus dem Nibelungenlied 158 Kriemhild und Siegfried .... 158 Wie Günther zur Brunhild nach Island fuhr , ... 159 Wie Siegfried verrathen ward . . .162 Wie Siegfried erschlagen ward ... 165 Wie Günther und Hagen und Kriemhild erschlagen wurden 169 7. Aus dem Gudrunliede 173 Wie Herwig Gudrun im Kampfe errang 173 Von der Schlacht auf dem Wülpensand 175 Wie es Gudrun in der Fremde erging . 178 Wie Ortwein und Herwig zu Gudrun kamen 179 Wie Gudrun lachte • 181 Wie Gerlinde gestraft ward . . . 184 8. Aus dem Rosengarten zu Worms . - 185 Wie der Mönch Jlfan aus dem Kloster genommen ward . 185 Wie Dietrich in Zorn gerieth und Sieg­ fried besiegt ward 187 Wie Jlfan heimkehrte 190

b. Das religiöse Epos. 107 110 Einleitung 1. Aus Dantes göttlicher Komödie - . 112 Graf Ugolino 115 2. Aus Klopstocks Messias 115 Christi Gelöbnis 116 Sammas Erlösung 116 Maria und Portia 123 124 c. Das romantische EpoS. 125 Einleitung................................................ 1. Aus Hartmanns von Aue armem Heinrich 127

101 191 191 193 193 195 198

201 201

Inhalt.

IX Seite

Seite

2. Aus Wielands Oberon......................205 d. Das idyllische Epos. Der Befehl des Kaisers......................205 Einleitung........................................................ 242 Die Arsführung des Befehls . . . 211 1. Aus I. H. Voß' Luise........................... 242 3. Aus Herders Cid................................. 216 2. Aus Goethes Hermann und Dorothea . 247 4. Aus E. Schulzes bezauberterRose . . 223 e. Das komische Epos. 5. Aus Rückerts Rostem undSuhrab . . 226 6. Aus Grüns letztem Ritter . . . .233 Einleitung . . . .............................. 265 Die Martinswand........................... 233 Aus Zacharias Renommist...........................266 Deutscher Brauch................................. 235 f. Das Thierepos. Max und Dürer................................. 236 Abfahrt von Innsbruck..................... 237 Einleitung..................................................... 269 Aus Goethes Reineke Fuchs. Reinekes An­ 7. Aus Kinkels Otto der Schütz . . . .238 Mann und Jüngling........................... 238 kläger ........................................................ 269 Der Meisterschuß................................. 240

b.

Epische Dichtungen, die ihren Stoff aus dem wirklichen Leben schöpfen.

6. Die poetische Erzählung. Einleitung........................................................274 1. Deutsche Treue. Schiller .... 274 2. Johannes Kant. Schwab .... 274 3. Der Neuer und der Bodensee. Schwab 276 4. Der Deckant. Immermann .... 277 5. SimonideS. Apel......................................277 6. Die drei Zigeuner. Lenau .... 278 7. Der Postillon. Lenau................................ 279 8. Die drei Indianer. Lenau . . . - 279 9. Botenari. Grün......................................280 10. Am Strande. Grün................................280 11. Der treue Gefährte. Grün .... 281 12. Zwei Heimgekehrte. Grün .... 281 13. Hans Euler. Seidl................................ 281 14. Der todte Soldat. Seidl .... 282 15. Das Licht am Strande. Vogl . . . 282 16. Schwerting, der Sachsenherzog. K, E, Ebert........................................................284 17. Die nackten Weisen. Rückert ... 285 18. Der Tod des CaruS. Platen ... 285 19. Harmosan. Platen................................ 286 20. Das Grab des Busento. Platen . . 286 21. Die Türkenkugel. Geibel . . . .287 22. Alexander Jpsilanti auf MunkacS. Wilh. Müller................................................. 287 23. Schelm von Bergen. Heine.... 288 24. j Ein eisernes Kreuz. Dyherrn ... 289 25. Das Gesicht des Reisenden. Freiligrarh 289 26. Unter den Palmen. Freiligrath . . 290 27. Der Löwenritt. Freiligrath . . . . 290 28. Die letzten Worte des Pfarrers zuDrottning auf Seeland. Schelling . . . 291

29. Die Sonne bringt es an den Tag. Chamifso.........................................................294 30. Francias Tod. Chamisfo .... 295 31. Eppelin von Gerlingen. Prutz. . . 295 32. Der Räuber und das Kruzifix. Prutz 296 33. BoleSlav. Gruppe.................................297 34. Die Exekution. Scherenberg . . . 298 35. Die Jagd des Mogul. Strachwitz . . 299 36. Psaumis und Puras. Kopisch . . . 300 37. Ein Weihnachtsfest. Dyherrn . . 302 38. Wickher. Wolfg. Müller .... 302 39. Magyarentod. Vogl.................................303 40. Karl XII. und der pommersche Bauer Müsebäck. Meinbold...........................303 41. Der Todestag dcs Herrn. Stöber . . 305 42. -st Der 19. Juli 1870. Hesekiel ... 306 43. Albrecht Dürer und Kaiser Maximilian. Witte , 7 : 307 44. Deutscher Witz. Fischer...........................307 7.

Die Idylle.

Einleitung .......... 308 1. Amyntas. Geßner................................ 308 2. Der siebzigste Geburtstag. Voß . . 309 3. Das Fischermädchen inBurano. Platen 313 8.

D er Roman.

Einleitung.........................................................314 9.

Die Novelle.

Einleitung.........................................................315 Irrthum. Zschokke....................................... 315

e. Episch - didaktische Dichtungen. 5. 6. Einleitung....................................................... 318 7. 1. Von einem Schneider. Burkard WaldiS 318 8. 2. Der Antheil des Löwen. Luther . . 319 9. 3. Der Hirsch und der Eber. Hagedorn . 319 10. 4. Das Gespenst. Gellert.......................... 319 11.

10.

Die Fabel.

Der Maler. Gellert.................................320 Die Geschichte von dem Hute. Gellert. 320 Die junge Schwalbe. Lessing . . . 321 Der Rabe und der Fuchs. Lessing . . 321 Der Rangstreit der Thiere. Lessing . 322 Der Knabe und die Schlange. Lessing . 322 Zeus und das Pferd. Lessing ... 323

Inha.I 1.

X

Seite

Seite

Die Eiche und das Schwein. Lessing . 323 16. Lebensworte. Fröhlich...........................334 Der Hänfling. Lichtwer........................... 323 17. Wiederfinden. Fröhlich........................... 334 Die Sonne und die Thiere. Willamow 324 b. Die Parabel. Die Frösche. Goethe................................. 324 Einleitung........................................................ 334 1. Der Jüngling. Gellert........................... 334 11. Die Allegorie, Parabel und 2. Drei Freunde. Herder.......................... 335 Paramythie. 3. Die ewige Bürde. Herder .... 335 4. Der Sturmvogel und die Schiffenden. a. Die Allegorie. Krummacher............................................ 336 Einleitung.........................................................324 5. Das Gesicht des Arsenins. Kosegarten 336 1. Die drei Ringe. Lessing........................... 324 6. Salomon und der Säemann. Rückert . 337 2. Das Kind der Sorge. Herder . . . 325 c. Die Paramythie. 3. Der Strom. (Mahomets Gesang.) Goethe......................................................... 326 Einleitung........................................................ 337 4. Adler und Taube. Goethe .... 327 1. Die Schutzwehr. Krummacher . . . 337 2. Davids Harfe. Krummacher . . . 338 5. Seefahrt. Goethe....................................... 327 6. Zueignung. Goethe................................. 328 3. Zeus und das Schaf. Krummacher . 338 7. Das verschleierte Bild zu Sais. Schiller 329 8. Die Theilung der Erde. Schiller . . 330 12. Das Räthsel. 9. Das Mädchen aus der Fremde. Schiller 330 10. Die Pilger. Pfefsel................................. 331 Einleitung......................................... 338 11. Das Vergnügen und der Schmerz. Wil­ 1. Das Auge. Räthsel. Schiller . . 339 lamow .........................................................331 2. Morgenstern. Charade. Körner . . 339 12. Die Ulme zu Hirsau. Uhland . . . 331 3. Schleier. Logogryph. Körner. . . 339 13. Tod und Leben. Rückert........................... 332 4. Verschieden. Homonyme. Schleiermacher 339 14. Baumpredigt. Grün................................. 333 5. Leben. Palindrom. Körner . . . 339 15. Symbol. Sturm....................................... 333 6. Der Räthselmann. Rückert.... 340 12. 13. 14. 15.

II.

Die lyrische Dichtung, a.

Das Lied.

1. Das eigentliche Lied. 9. Das gegen Frankreich vereinigte .........................................................341 Deutschland. Goethe .... 349 Einleitung 10. Ein Deutschland. Rinne .... 349 «. Geistliche Lieder .............................................341 1. Gebet. Geibel .......................................341 11. Der Rhein. Herwegh........................... 349 12. Der deutsche Rhein. Becker . . . 350 2. Gebet um Frieden. Jmmermann . 341 13. Freiheit. Schenkendors .... 350 3. Osterfest. Agnes Franz . . . . 341 14. Die Fünf des ersten Freiheitskampfes. 4. Die Auferstehung. Novalis . . . 342 Giesebrecht............................................ 351 5. Die sieben Tage der Woche. Rückert. 342 15. Held Friedrich. Firmenich .... 351 6. Die Ehre Gottes aus der Natur. Gel­ 16. Zur Feier des 18. Oktober. Hey . 351 lert .........................................................342 7. Gott im Ungewitter. Uz ... . 343 17. Scharnhorst. Schenkendorf . . . 352 18. Blücher am Rhein. Kopisch . . . 352 8. Vertrauen. Cramer........................... 343 19. f Am dritten September 1870. Geibel 352 9. Zuflucht. Geibel.................................344 10. Gottes Treue. Meyer.......................... 344 y. Kriegslieder.................................................. 353 1. Morgenlied. Köhler.......................... 353 11. Kreuzlied. Walther v. d. Vogelweide. Übersetzt von Simrock .... 344 2. Soldaten-Morgenlied. Schenkendorf 353 12. Via crucis, via lucis. Kosegarten . 345 3. Reiterlied. Schiller...........................354 4. Gebet vor der Schlacht. Körner . . 354 ß, Vaterlands- und Heldenlieder .... 346 1. Sehnsucht nach dem Vaterlande. Gleim 346 5. Trinklied vor der Schlacht. Körner . 354 6. Gebet während der Schlacht. Körner 355 2. An mein Vaterland. Lenau . . . 346 7. Siegeslied nach der Schlacht beiLowo3. Frühlingsgruß an das Vaterland. sitz. Gleim...............................355 Schenkendorf....................................... 347 8. Der Landsturm. Rückert .... 356 4. Unsere Muttersprache. Schenkendorf. 347 9. Vorwärts. Uhland.................. 357 5. In der Fremde. A. W.v. Schlegel . 348 10. Kriegslied für die freiwilligen Jäger. 6. Deutschlands Ehre. Walther von der Bogelweide. Übersetzt von Simrock 348 Fouque.................................... 357 11. Lützows wilde Jagd. Körner . . 357 7. Weihelied. Claudius........................... 348 12. Die Leipziger Schlacht. Arndt . . 358 8. Deutschland. Rückert...........................349

Inhalt. Seite

XI Seite

13. Auf die Schlacht von Leipzig. Rückert 359 41. Waldlieder. K. E. Ebert.... 378 14. Geharnischte Sonette. Rückert . . 359 42. Im Gebirge. Lenau................. 378 15. f Kriegslied. Geibel......................... 361 43. Der Jäger Abschied. Eichendorfs . 378 16. fHurrah, Germania ! Freiligrath . 361 44. Frühling ist da. Hammer . . . 379 ck. Wanderlieder............................................ 362 45. Frühlingswiederkehr. Liber . . . 379 1. Der Mai ist gekommen! Geibel . . 362 46. Frühlingslied. Gruppe .... 379 47. Im Frühling. Lenau.................. 379 2. Fröhlichen Wanderers Lied. Thorbecke 362 48. Der Frühlingsabend. Matthisson . 379 3. Wanderlied. Goethe......................... 363 4. Ins Freie! Grüneisen .... 363 49. Frühlingsahnung. Uhland . . . 380 5. Wanderlied. Rückert......................... 363 50. Frühlingsruhe. Uhland .... 380 6. Zuversicht. Tieck............................... 364 51. Frühlingslob. Uhland .... 380 7. Wanderlied. Kugler......................... 364 52. Frühlingstrost. Uhland .... 380 53. Künftiger Frühling. Uhland . . 380 8. Der wandernde Musikant. Eichendorff 365 9. Morgenlied. Wolf......................... 365 54. Maienwonne. Walther von der Vogel­ weide. Übersetztvon Simrock . . 380 10. Morgenwanderung. Geibel . . . 365 55. Mailied. Goethe............................... 381 11. Das Schifflein. Uhland .... 365 56. Herbstlied. Geibel............................... 381 s. Lebensernst und Lebenslust in Liedern . 366 57. Nebel. Lenau.................................... 381 1. Andacht. Tieck.................................... 366 58. Sehnsucht nach dem Hochlande. Burns. 2. Gottes Nähe. Arnim......................... 366 Übersetzt von Freiligrath .... 381 3. Das letzte Gericht. Dies irae. Mes­ 59. Lied des Lebens. Herder .... 382 send erg . 366 60. Zufriedenheit. Miller .... 382 4. Wanderers Nachtlied. Goethe . . 366 61. Die Gunst des Augenblicks. Schiller 382 5. Wanderers Nachtlied. Goethe . . 367 62. Fischerlied. Overbeck......................... 383 6. Hoffnung. Geibel............................... 367 63. Aufmunterung zur Freude. Holty . 383 7. Hoffnung. Schiller......................... 367 64 (65). Bundeslied. Goethe . . . 384 8. Ermunterung. Salis......................... 367 65 (66). Geselligkeit. Dach .... 384 9. Lebenslied. Matthisson .... 368 66 (67). Trinklied. Opitz .... 384 10. Nachklang. Eichendorff .... 368 67 (68). Rheinweinlied. Claudius . . 385 11. Abschied. Spitta............................... 368 68 (69). Ermahnung zur Weisheit. Gleim 385 12. Abschiedslied. Volkslied .... 369 69 (70). Tischlied. ' Goethe .... 386 13. Abschied. Heine............................... 369 14. Scheiden. Volkslied......................... 370 15. Wiedersehn. Goeriug......................... 370 2. Die Ode. 16. Die reinen Frauen. Walther von der Bogelweide. Übersetzt von Born . 370 Einleitung...................................... n. . . 386 17. Liebesreim. Wernher von Tegernsee . 371 1. An den Grosphus. Horaz. Übersetzt 18. Rastlose Liebe. Goethe .... 371 von Ramler..................................... 386 19. Nähe des Geliebten. Goethe . . . 371 2. Das Landleben. Hölty .... 387 20. Segen. Heine.....................................371 3. Der Harz. F. L. v. Stolberg . . 388 21. Des Mädchens Klage. Schiller . . 371 4. An die Stadt Berlin. Ramler . . 389 22. Schäfers Klagelied. Goethe . . . 372 5. An Ebert. Klopstock..........................389 23. Thränen. Horn............................... 372 6. Der Zürchersee. Klopstock . . . 391 24. Trost in Thränen. Goethe . . . 372 7. Dem Erlöser. Klopstock .... 392 25. Der Liebe Dauer. Freiligrath . . 373 8. Der Eislauf. Klopstock .... 393 26. Ein getreues Herze wissen. Flem­ 9. Die frühen Gräber. Klopstock . . 394 ming 373 10. Heidelberg. Hölderlin .... 394 27. An das Herz. Bürger .... 373 11. Rückkehr in die Heimat. Hölderlin . 394 28. Sonntagsfrühe. Spitta .... 374 12. Ehemals und jetzt. Hölderlin . . 395 29. Morgendämmerung. Eichendorff . 374 13. Der Vesuv im Dezember 1813. Platen 395 30. Morgenlied eines Landmanns. Clau­ dius ..................................................... 374 31. Morgenlied. Reinick..........................375 3. Der Dithyrambus. 32. Abendlied. Claudius......................... 375 Einleitung ...................................................... 395 33. Die Nacht. Lenau............................... 375 Dithyrambe. Schiller............................... 395 34. Die Nacht. Tieck............................... 376 35. Zauber der Nacht. Lenau . . . 376 36. Um Mitternacht. Rückert . . .376 4. Der Hymnus. 37. An den Mond. Goethe .... 376 . . 395 .... 38. An die Natur. F. L- v. Stolberg . 377 Einleitung 1. Der 67. Psalm. Luther . . . . 396 39. Meeresstille und glückliche Fahrt. . . 396 2. Lob der Gottheit. Gellert Goethe................................................377 . . 396 3. Psalm. Klopstock 40. Im Walde. Eichendorff .... 377

Inhalt.

XII

Seite

Serie

4. Das Gebet des Herrn. Klopstock . 397 5. Vater unser. Mahlmann .... 398 6. Herr, du bist groß. Seidl . . . 398

7. Friedrich der Große. Schubart . . 399 8, Scharnhorst, Blücher und Gneisenau. Bercht............................................... 401

d.

Die elegische Dichtung.

Einleitung................................................... 402 | 5.

!

Die Elegie im weiteren Sinne.

;

(Poetische Schilderung ; beschreibendes Gedicht.)

Einleitung................................................... 1. Pompeji und Herkulauum. Schiller 2. Venedig. Platen............................ 3. Sanssouci. Geibel...................... 4. Aus dem Schlachtfelde von Aspern. Grün............................ 5. Die schone Buche. Mörike . . . 6. Die Eichbäume. Hölderlin . . . 7. Begrüßung des Meeres. Grün . . 8. Das Lied von der Glocke. Schiller . 9. Der Spaziergang. Schiller . . . 10. Das eleusische Fest. Schiller . . 11. Siebente römische Elegie. Goethe . 12. Der Wanderer. Hölderlin . . . 6.

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403 403 404 406

407 407 408 409 409 413 418i 420 ; 420i

Die Elegie im engeren Sinne.

Einleitung................................................... 422 1. Elegie bei dem Grabe meines Vaters. Hölty............................................ 422 2. Die Sauger der Vorwelt. Schiller . 423 3. Vor Rauchs Büste der Königin Luise. Körner................................................ 423 4. Klage um drei junge Helden. Arndt. 424 5 (6). Die Gräber zu Ottensen. Rückert 425 6 (7). Epilog zu Schillers Glocke. Goethe 426

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7. Die Herolde. ! Einleitung................................................... 428 ! 8. Die Satire. Einleitung..................................................... 428 1. Philisters Begeisterung. Jmmermann 428 2. Spindelmanus Rezension der Gegend. Kerner . ........................................ 428 3. Der Rezensent. Uhland .... 429 4. Zweite Parabase aus der verhängnis­ vollen Gabel. Platen .... 429 5. Abendentzückungeu. Gruppe . . 430 6. Dummheit. Kopisch......................... 430

4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

Der epische Hexameter. Schiller. . 431 Die achtzeilige Stanze. Schiller . 432 Der Kaufmann. Schiller . . . 432 Die Johanniter. Schiller . . . 432 Der Säemaun. Schiller .... 432 Lessings Nathan. Platen .... 432 Die Ebene von Marathon- Geibel . 432 Grab des Themistokles am Piräeus. Geibel ............................................... 432 12. Piger. Logau.................................... 433 13. Pravus. Logau............................... 433 14. Auf Kepler. Kästner......................... 433 15. Was Hippokrene aus deutsch heißt. Kästner................................................433 16. Auf einen Trauerspiel - Dichter. Kästner............................................... 433 17. Die alternden Dichter. Kästner . . 433 18. Bavs Gast. Lessing......................... 433 19. Auf die Galathee. Lessing . . . 434 20. An einen Lügner. Lessing . . . 434 21. Auf den Tod eines Affen. Lessing . 434 22. Das schlimmste Thier. Lessing . . 434 23. Kunz und Hinz. Lessing .... 434 24. Die Sinngedichte an den Leser. Lessing 434 25. Der Redner. Göckingk .... 434 26. Kritik über ein Drama. Göckingk . 434 27 (28). Aus den Lernen. Goethe und Schiller . . . „............................... 435 28 (29). An einen Übersetzer Miltons. Haug............................................... 437 29 (30). Prozesse. Haug......................... 437

*

10.

Das Lehrgedicht.

Einleitung..................................................... 438 1. Die Macht des Gesanges. Schiller . 438 2. Aus Neubecks Gesundbrunnen . . 438 a. Lob des Eisens.............................. 438 b. Lob der Bewegung......................... 440 3. Aus Goethes Metamorphose der Thiere 441 4. Aus Schefers Laienbrevier .... 443 5. Der Weg der Erde. Rückert . . . 445 6. Der Mensch im Wollen. Aus Tiedges Urania . ........................................ 445 7. Aus Rückerts Weisheit des Brahmanen 446 11.

9.

Das Epigramm.

Einleitung..................................................... 431 1. Fluch und Segen. Walther von der Vogelweide.......................................... 431 2. Gott als Kläger. Walther von der Vogelweide.......................................... 431 3. Aus eine Degenklinge. Kästner. . . 431

Die Gnome.

Einleitung . ............................................. 448 1. Sprüche von Logau.............................448 2. In ein Stammbuch. Lessing . . . 448 3. Spruch. Lessing............................... 448 4. Sprüche von Herder...................... 448 5. Sprüche von Goethe....................... 449 6. Sprüche von Schiller....................... 451

7. 8. 9. 10. 11. 12.

Inhalt.

XIII

Seite

Seite

12. Die poetische Epistel. Sprüche von WilhelmMüller . . 452 Einleitung..................................................... 454 Sprüche von Rückert................. 452 1. Über das Lesen. Goethe .... 454 Perlen von Rückert....................... 453 2. An Goethe. Platen......................... 458 Im Regen. Kerner................. 454 3. An Georg Herwegh. Geibel . - . 458 Wirklichkeit. Bauernfeld.... 454 i 4. -h An Wolfgang im Felde. Freiligrath . 459 Spruch. Bodenftedt............. 4541

Die dramatische Dichtung.

III.

2. Die Komödie (das Lustspiel) 1. Die Tragödie. Einleitung..................................................... 459 und die Posse. 1. Aus Sophokles' Antigone .... 461 2. Aus Shakspeares Julius Cäsar . . 468 Einleitung......................................................513 1. Aus Lessings Minna von Barnhelm . 514 3. Aus Shakspeares König Johann . . 474 2. Aus Raupachs Schleichhändlern . . 516 4. Aus Shakspeares König Heinrich VI. 1. Theil............................................... 480 5. Aus Lessings Emilia Galotti . . . 484 6. Aus Schillers Wallenstein .... 489 a. Wallensteins Lager......................... 489 3. Das musikalische Drama. b. Die Piccolomini......................... 493 c. Wallensteins Tod......................... 497 Einleitung..................................................... 517 a. Die Oper. Einleitung......................... 517 Das Schauspiel. b. Die Operette. Einleitung .... 518 c. Die Kantate und das Oratorium. Ein­ Einleitung..................................................... 499 leitung ................................................ 518 1. Aus Shakspeares Kaufmann von Veued. Das Vaudeville oder Singspiel. Ein­ dig . ....................................... 499 leitung ................................................518 2. Aus Shakspeares König Heinrich IV. e. Das Melodrama. Einleitung ; . . 518 1. Theil................................................505 3. Aus Goethes Iphigenie auf Tauris . 507 1

B. I. a.

Prosa.

Die historische Prosa.

Die erzählende Prosa.

1. Die athenische Erziehung nach den Ge­ setzen Solons. Duncker .... 519 2. Die olympischen Spiele. E. Curtius . 521 3. Die, Schlacht bei Marathon. Duncker . 526 4. Die Schlacht am Granikns. Pfizer . 529 5. DerKrieggegendieSeeränber. Mommsen 530 6. C. Julius Cäsar. Mommsen . . . 532 7. Tiberius. Schlosser............................... 534 8. Die politischen Parteien in der Rennbahn zu Konstantinopel. Wilken . . . 535 9. Die Sachsen und die Wenden. Giesebrecht..................................................... 538 10. Heinrichs IV. Jugend. Voigt ... 539 11. Die Schlacht bei Hastings. Lappenberg 542 12. Der deutsche Orden. Voigt .... 545 13. Walther von der Vogelweide. Uhland 546 14. Konradin, der Letzte Hohenstaufe. Rau­ mer .......................................................... 552 15. DeutscherAnbau in Schlesien im 13.Jahr­ hundert. Freytag............................... 555 16. Der Bund in Rütli. I. v. Müller . 558

17. Karl V. Ranke ....... 560 18. Luther auf dem Reichstage zu Worms. Marheineke.......................................... 563 19. Gefaugennehmung der Grafen Egmont und Hoorn. Schiller......................... 566 20. Die Schlacht bei Lützen. Schiller . . 568 21. Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst. Häusser ................................................ 574 22 (23). Friedrich der Große bei Prag. Heinel................................................... 576 23 (24). Friedrich der Große bei Zorndorf. Heinel .......... 577 24 (25). Der Überfall bei Hochkirch. Archenholtz..................................................... 579 25 (26). Friedrich der Große. Eylert . . 582 26 (27). Der Fluchtversuch Ludwigs XVI. Dahlmann......................... \ . . 587 27 (29). Die Völkerschlacht bei Leipzig. Kohl­ rausch .................................. ... 590 28 (30). Die Erstürmung des Montmartre. Dropsen................................................ 595 29 (31). Die Schlacht bei Belle-Alliance. Varnhagen v. Ense............................... 598

Inhalt.

XIV

Seite

30 (32). Charakter Friedrich Wilhelms III. Eylert........................................... 603 31. 7 Der Kampf im Walde von Sadowa am 3. Juli 1866. v. Zychlinski ... 606 32. 1-Die Erstürmung Weißenburgs am 4. August 1870. Heinrichs . . . 608 33. -j-Bei Mars la Tour am 16. August 1870. F. v. Koppen.............................. 611

9. 10. 11. 12. 13.

14. 15. 16. 17. b. Die beschreibende Prosa. 18. 1. Das Gewitter. Müller.................... 616 19. 2. Das Pferd. Meyer......................... 617 20. 3. Deutschland. Luden......................... 619 21. 3 a. f Die Erleuchtung Berlins am 21. Sep­ tember 1866. Holtze.................... 620 22. 4. Brockenreise. Heine......................... 621 5. Der Rhein und die Donau. Mendelssohn 623 23. 24. 6. Deutschlands vorzüglichste Laubhölzer, Eiche, Buche und Linde. Masius . 623 25. 7. Die Pfalz. Hallesche Jahrbücher . . 625 8. Triest. Pirch.................................. 627 26.

II. a.

Seite

Der Petersburger Winter. Kohl . . 628 Norwegens Natur. Mügge .... 631 Die Wasserwelt der Alpen. Tschudi . 633 Der Steinadler. Tschudi , . . . 637 Die Kantone am Vierwaldstätter See. Mügge...................................... 638 Eintritt in Italien. Knapp .... 641 Genua. Knapp und Leo.................... 642 Neapel. Kephalides......................... 644 Das neapolitanische Volk. Goethe . . 645 Granada. Hailbronner..................... 649 Lissabon. Willkomm......................... 651 Jerusalem und die umliegenden heiligen Orte. Hackländer......................... 653 Kairo. Hailbronner ...... 657 Der südliche Sternhimmel in der heißen Zone. A. v. Humboldt .... 658 Ein Tag unter dem Äquator. Martins 659 Die Hauptstadt Mexiko. Mühlenpfordt 661 Die Llanos des Orinoko. A. v. Hum­ boldt ........................................... 663 DieSüdsee-Jnseln (Oceanien). Schouw 668

Die wissenschaftliche Prosa.

Philosophie.

1. Aus Mendelssohns Phädon .... 670 2. Das Temperament. Kant .... 675 3. Das Gefühl vom Erhabenen und Schö„ neu. Kant.................................. 677 4. Uber die Verbindung der deutschen Völker und Provinzen zur Humanität. Herder 679 5. Roms Einrichtungen zu einem herrschen­ den Staats- und Kriegsgebäude. Her­ der,,............................................... 680 6. Der Übergang der Feudalherrschaft in die Monarchie. Hegel......................... 683 7. -j-Unser Bildungsweg. Wiese . . . 686 8. 1-Alterthum und Neuzeit — Synthesis und Analysis. Wiese.................... 687 9. f Über die zunehmende Verminderung der Allgemeingültigkeit sittlicher Begriffe. Wiese........................................... 689 10 (7). Synonyma............................. 691 a. Schwärmerei. Fanatismus. Enthu­ siasmus. Begeisterung. Wieland 691 b. Beherzt. Muthig. Kühn. Tapfer. Herzhaft. Eberhard .... 692 e. Ehrgeiz. Ehrliebe. Ehrbegierde. Ehr­ sucht. Eberhard.................... 692 d. Geist. Seele. Gemüth. Herz. Eber­ hard ...................................... 693 e. Müssen. Sollen. Eberhard . .694 11 (8). Über Fußreisen. Baur .... 694

b. Sprache und Literatur. 1. Poesie und Prosa. Mundt .... 697 2. Homer, verglichen mit andern Epikern. F. v. Schlegel............................. 699 3. Die zwei klassischen Perioden unsrer Na­ tionalliteratur. Vilmar .... 700 4. Aus Lessings hamburgischer Drama­ turgie ............................... 703 a. Von der Schauspielkunst .... 703 b. Von den dramatischen Charakteren . 704 5. Über Schiller und seine Geistes entwickelung. W. v. Humboldt . . . .705 6. Wallensteins Lager von Schiller. Hoff­ meister ...................................... 709

c. K u n st. 1. Laokoon. Winckelmann.................... 711 2. Aus Lessings Laokoon......................... 712 a. Die Gruppe des Laokoon .... 712 b. Über homerische Gemälde .... 714 d. Naturwissenschaft. 1. Der gestirnte Himmel. A. v. Humboldt 719 2. Die Schwefelsäure. Liebig .... 722 3. Der Instinkt. Baer.........................726

Inhalt.

III. a.

XV

Die oratorische Prosa.

Geistliche Beredsamkeit.

b.

Weltliche Be redsamkeit. Seite

Seite

1. Betrachtungen über den gestirnten Him­ mel. Zollikofer...................................... 729 2. Rede an Nathanaels Grabe. Schleier­ macher ........................................................733

Anhang. 1. 2. 3. 4. 5.

1. Anrede Friedrich s IE. am seine Generale vor der Schlacht blei Leuthen . . . 2. Friedrich Wilhelm III. an sein Volk. . 3. Die Vaterlandsliebe:. Fichte . . . 4. f Kaiser Wilhelm am das deutsche Volk.

736 736 738 743

Briefe.

C. Plinius seinem Cornelius TacituS . 744 6. Rabener an Gellert................................ 746 7. Gellert an Rabener................................ 747 8. Goethe an Schiller................................ 748 9. Schiller an Goethe...................................... 749 10.

W. v. Humboldt an Schiller . Schiller an W. v. Humboldt . Die Königin Lui^e oni ihren Vater Theodor Körner an seinen Vater . Blücher an den Kaiser Alexander

. . . .

. 750 .751 . 753 . 754 . . 755

Sprachproben. 1. Aus Ulfilaö Bibelübersetzung. Das Vater unser............................................ 756 2. Das Lied von Hildebrand und Hadubrand 756

3. Aus dem Nibelungenlied........................... 757 4. Aus Hartmanns von Au e armem Heinrich 768 5. Lieder Walthers von der Vogelweide . 771

Einleitung. Erster Abschnitt.

Poesie und Prosa. §. 1. Die Literatur ist im wetteren Sinne der Inbegriff alles bessert, was von einem Volke geschrieben worden, uii engeren Sinne die Sammlung derjenigen Schriftwerke, welche von der allmählichen Gei ntwickelung desselben Zeugniß ablegen. Sie hat zu ihren Grundlagen die Sprache (das Werkzeug für die Darstellung der Empfindung und des Gedankens), deren für das Auge erkennbares Abbild die Schrift ist, und den Jdeenstoff, der aus der Natur und aus der Geschichte genommen ist. Das Geschehen aber, die Ge­ schichte, ist nicht blos ein äußeres; es giebt auch ein inneres Geschehen, welches die philosophiscben Vorstellungen bildet. §. 2. Die Sprache und der Jdeenstoff können je nach ihrer Verschiedenheit sehr verschiedene Verbindungen eingehen; dadurch werden die Gattungen der Literatur erzeugt, zunächst der oberste Gegensatz Poesie und Prosa. Beide haben denselben Stoff ge­ meinsam, unterscheiden sich aber in der Art und Weise, wie dieser Stoff erfaßt und behan­ delt wird. Die Poesie erfaßt ihn mit der Phantasie, die Prosa mit dem Verstände, so daß Gegenstand der ersteren nicht der Gedanke selbst, sondern sein Bild sein Symbol), also der Gedanke im Bilde, in der Nachahmung, Gegenstand der Prosa aber der Gedanke selbst, der Begriff ist. Diese Verschiedenheit deö Inhalts bedingt auch die Verschiedenheit der Form, der Sprache. Die Poesie, auf der Phantasie beruhend, verlangt „geflügelte Worte", verlangt eine freiere, doch aber durch die Gesetze des Rhythmus gebundene Sprache, eine rhythmisch: melodische Sprache, zu welcher bisweilen die Musik als ein fast nothwen­ diges Erforderniß hinzutritt. Die Prosa dagegen, als die Darstellung des Thatsächlichen der Begriffe durch den Verstand und für den Verstand, erfordert eine Sprache, welche durch die Gesetze des Verstandes geregelt und in dieser Weise gefeffelt, aber von den Banden des Rhythmus und der Melodie entbunden ist. A n m. Die Phantasie als die geistige Kraft des Menschen, vermöge deren er sich vorzustellen ver­ mag, was seine äußeren Sinne nicht wabrnehmen, ist entweder producirend (schaffend) oder reproducirend, d. h. durch die Erinnerung das neu erzeugend, was die Sinne schon früher einmal wahrgenommcn. Ihre Gebilde, entweder wahr oder doch wahrscheinlich, unterscheiden sich streng von den phantastischen als solchen, die von der vernunftgemäßen Wahrheit der Natur und des Lebens abweichen.

§. 3. Unbeschadet ihrer Verschiedenheit können Poesie und Prosa ihren Stüff auf eine gleiche doppelte Weise auffassen. Sie bringen ihn entweder als einen gegebenen, mit den Sinnen ergriffenen (receptiv) auch mit vorherrschender Sinnlichkeit zur Darstellung, oder sie verarbeiten ihn mehr selbstthätig, innerlich und stellen ihn danach als selbstthätig, innerlich erzeugt (produktiv) auch mit überwiegender Innerlichkeit (Empfindung, Bewußt­ sein) hin. Die erstere Art der Darstellung, die objektive, kebrt mehr die Thatsache DleUtz u. Heinrick>s, Handb. d. deutsch. Literatur, r. Aufl.

1

2

Einleitung.

hervor, gleichviel ob diese sagenhaft oder geschichtlich ist, die letztere, die subjektive, bringt mehr die innerliche Verarbeitung des thatsächlich Gegebenen, die durch letzteres hervorgerufene Empfindung, das Gefühl, zum Ausdruck. A n m. Wie die objektive Darstellung sich, auch auf das Gefühl, die Empfindung, den Begriff erstrecken kann, doch so, daß sie als Äußerliches aufgefaßt und vorgetragen werden, so kann auch die subjektive Darstellung zu ihrem Gegenstände sich die Thatsache wählen; sie muß die­ selbe aber als innerlich neu verarbeitet oder in neuer, eigenthümlicher Berbindung (Kom­ bination) zur Darstellung bringen.

§. 4. Die Poesie als die Thätigkeit der Phantasie will den Menschen ergreifen, be­ geistern, erheben und dadurch das Leben selbst verschönern. Sie wendet sich deshalb stets dem Schönen zu, d. h. allem, was verhältnißmäßig und vollendet in seinen Theilen ist und zugleich eine höhere Idee veranschaulicht. Sie erwählt zu ihrem Gegenstände alles, was poetisch, d. h. im Stande ist, den Menschen zu begeistern, und treibt den Begeisterten zur Mittheilung, um auch in anderen Theilnahme für das zu erwecken, wovon er selber erregt worden ist. Giebt der Begeisterte (poetisch Erregte) diesem Drange nach, giebt er ihm Ausdruck, so wird er zum Künstler (Maler, Bildhauer, Musiker, Dichter), der sich eines Materials (der Farben, des Erzes oder Steines, der Töne, der Sprache) bedienen muß, um seine innerlichen Gebilde zu versinnlichen, zu veranschaulichen. Anm. Der Name Poesie bezeichnet vielerlei, nicht blos die natürliche, angeborene Anlage zum Dichten, sondern auch deren Produkte, nicht blos gewisse Momente im Leben und Erscheinungen in der Natur, welche besonders ergreifen und eine der Wirkung eines guten Gedichtes ähnliche Wirkung zeigen, sondern auch die Kunst des Dichtens selbst.

§. 5. Die Poesie als Kunst (Dichtkunst) bezweckt zunächst die lebendige Gestaltung eines Bildes für die Phantasie vermittelst der Sprache. Sie gehört also zu den redenden Künsten; sie unterscheidet sich aber von der Geschichtschreibung, Beredsamkeit und Philo­ sophie dadurch, daß sie nicht auf einen äußeren Zweck, nicht auf Belehrung über wirkliche Zwecke, nicht auf Anregung zum Handeln unmittelbar gerichtet ist, sondern einzig und allein auf die Bersinnlichung des Schönen vermittelst der Sprache. Anm. Kunst ist die aus der Bereinigung von Wissen und Vermögen (Können) entspringende Fertigkeit (Kunst des Arztes; Sprachkunst, Redekunst).

§. 6. Die Sprache, deren die Poesie sich bedient, ist durchaus verschieden von der Sprache der Prosa (vgl. §. 2). Die Poesie verschmäht die Sprache des gewöhnlichen Le­ bens und tritt in eigenen Formen auf, die besonderen Gesetzen unterworfen sind, in den poetischen Formen. Die Kenntniß derselben, die zum klaren Verständniß des Wesens der Poesie durchaus nothwendig ist, wird durch die Lehre von der Verskunst (Metrik) ver­ mittelt. Anm. Obgleich die Poesie bisweilen in dem Gewände der Prosa auftritt, so ist doch ihre Sprache, meist poetische Prosa genannt, sehr von der wirklich prosaischen Darstellung verschieden, die auf Klarheit und Deutlichkeit ausgeht; auch ihr oberstes Gesetz ist die Schönheit. Umgekehrt erscheinen oft in den Formen der Poesie Produkte, die nur durch diese Formen der Poesie an­ gehören, während sie um ihres Inhaltes willen durchaus zur Prosa gezählt werden müssen.

Zweiter Abschnitt. Die Lehre von der Verskunst (Metrik). A.

Von der Silbenmessung (Prosodie).

§. 7. Die Prosodie oder Silbenmessung lehrt den Werth der Silben rücksichtlich der Zeit oder Kraft erkennen, die zu ihrer Aussprache erforderlich ist. §. 8. Die Silben gleichen in dieser Beziehung den Noten in der Musik. §. 9. Je nach der zu ihrer Aussprache erforderlichen Zeit werden die Silben in lange (Zeichen: Mond), kurze (Zeichen: der Mond) und in mittelzeitige Silben (Zeichen: - oder ~) eingetheilt.

Die Lehre von der Verskunst (Metrik).

3

§. 10. Die zur Aussprache der Silben erforderliche Zeit hängt von ihrer Bedeut­ samkeit ab. Anm. Die griechische und lateinische Prosodie bestimmt den Werth der Silben nach der Länge oder Kürze des in ihnen befindlichen Vokals, nach der Quantität deffelben (wie die deutsche in dem einen im §. 16. erwähnten Falle). In der französischen Metrik werden die Silben nur gezählt. (Quantitirender, accentuirender, numerirender Rhythmus.)

ß. 11.

Ihrer Bedeutsamkeit nach zerfallen die Silben in Haupt- und Nebensilben.

§. 12. Hauptsilben sind diejenigen, in denen die Grundbedeutung des Wortes liegt, während die Nebensilben nur zur Bildung der verschiedenen Wörterklassen deffelben Wort­ stammes dienen. Anm. Die einfachen und abgeleiteten Wörter haben nur eine Hauptsilbe; die zusammengesetzten haben deren mehrere, von denen die erste am stärksten betont ist.

§. 13. Die Hauptsilben erfordern wegen ihrer größeren Bedeutsamkeit zu ihrer Aussprache doppelt so viel Zeit, wie die Nebensilben; sie werden demnach mit dem vollen Accent gesprochen und sind lang (hochtonig). 1. Anm. Eine Ausnahme macht das Adjektivum: lebendig. 2. Anm. Demnach werden auch die Nebensilben lang gebraucht werden müssen, welche durch den scharfen Accent besonders hervorgehoben werden.

§. 14. Den Hauptsilben gegenüber sind die Nebensilben, welche nicht mit dem vollen Accent gesprochen, vielmehr in der Umgangssprache gewöhnlich unbetont gelassen werden, kurz (tieftonig). 1. Anm. Daher, daß die Nebensilben unbetont gelassen werden, kommt das sogenannte Ver­ schlucken derselben, wovor nicht genug gewarnt werden kann. 2. Anm. Während die Länge zwei Zeittheile (zwei Morä) enthält, enthält die Kürze nur einen Zeittheil (eine Mora); erstere gleicht also der Viertelnote in der Musik, letztere der Achtelnote.

§. 15. Jedes einsilbige Wort ist lang (hochtonig); doch sind diejenigen einsilbigen Wörter kurz (tieftonig), welche schon in der Aussprache mit dem Worte, zu welchem sie ge­ hören, eng verbunden werden, da sie für sich allein keinen vollständigen Begriff ausdrücken, besonders a) die einsilbigen Formen des Geschlechtswortes, b) die einsilbigen Formen der persönlichen Fürwörter, c) die meisten der einsilbigen Verhältnißwörter, nämlich diejenigen, welche weder einen gedehnten Vokal, noch einen Umlaut oder Diphthongen enthalten, d) die Präposition zu vor dem Infinitiv. Der Mann. Ich singe.

Das Pferd; daher: aufs Pferd!

Du horst.

An mich.

Zu reden.

§. 16. Andrerseits aber gellen einige Nebensilben, besonders: at, bar, haft, heil, keil, lein, lings, sal, sam, schäft, thum, wärts durchaus für lang, weil in ihnen ein sehr gedehnter Vokal enthalten und darum zu ihrer Aussprache mehr Zeit erforderlich ist, als zu der Aussprache der übrigen Nebensilben. §. 17. Andere Nebensilben werden nur dann lang gebraucht, wenn sie im Verse neben mehreren kurzen Silben und an einer Stelle stehen, an welcher eine lange Silbe erforderlich ist; sie erhalten also erst durch ihre Stellung im Verse ihre jedesmalige Gel­ tung und heißen mittelzeitig. §. 18. Die Fremdwörter sind entweder unverändert oder verändert in die deutsche Sprache herübergenommen. Ist in den ersteren die vorletzte Silbe (penultima) lang, so wird sie betont und daher auch im Deutschen lang gebraucht; ist sie aber kurz, so erhält die drittletzte Silbe (antepenultima) deck Ton und wird lang. Die veränderten Fremd­ wörter haben entweder ihre fremde Endung verloren oder eine deutsche Endung erhalten; im ersteren Falle wird die nunmehrige letzte Silbe betont und lang, im anderen Falle aber werden sie wie ursprüngliche deutsche Wörter behandelt.

Einleitung.

4

B. Von den Versfüßen. §.19. Versfüße sind die einzelnen Theile des Verses, welche durch das Ton­ gewicht für sich ein Ganzes bilden.

Ich sehe oft um Mitternacht,

-

- ii-

Wenn ich mein

- in Werk gethan.

Und niemand mehr im Hause wacht,

-

- in

-

in -1

Die Stern' am Himmel an.

Claudius.

§. 20. Der Versfuß besteht aus mindestens zwei Silben und entweder aus gleichen oder ungleichen Zeitth eilen.

Anm. Versfüße mit gleichen Zeittheilen sind im Deutschen eigentlich unmöglich; denn selbst in Wörtern wie Mondschein hat die erste Silbe wegen der auf ihr ruhenden stärkeren Betonung eine größere Zeitdauer, so daß die beiden Längen keineswegs von gleichem Werthe sind. §.21. Der Anzahl der Silben nach werden die Versfüße in zweisilbige, dreisilbige und mehrsilbige eingetheilt. §. 22. Die im Deutschen gebräuchlicheren Versfüße sind: a. die zweisilbigen:

— Spondeus: Mondschein, Postpferd, sattsam. ~ - Jambus: Gesang, erhebt, gethan. - ~ Trochaeus: leben, Hülfe, heilig. - Pyrrhichius: fröh-lrcher, froh-er Ge-sang.) b. die dreisilbigen:

-

v -

-

Dactylus: lieblicher, kräftigen, Kinderchen. Anapaestus: Kamerad, Geograph, es gelang. Creticus oder Amphimacer: Rebensaft, Himmelfahrt, silberhell. Amphibrachys: ergießen, Gerede, Karosse.

c. der viersilbige:

- v - Choriambus: Vogelgesang, Kindergeschrei. 1. Anm. Da jedes zweisilbige Wort eine Hauptsilbe haben muß, die der stärkeren Betonung wegen lang ist, so bildet kein deutsches Wort für sich allein einen Pyrrhichius. 2. Anm. Die im Deutschen weniger gebräuchlichen Versfüße sind: ----- Molossus: Heimatland, Kirchthurmuhr, Abschiedsschmaus. - - Tribrachys: lieb-lrcher Ge-sang. — P>acchius: Geburtstag, Gesangsfest. - ~ Antibacchius: freudvolle, heimatlich,Tonkünstler. — - Antispastus: hervorragend, emporziehend.) §.23. Jeder Versfuß muß eine To uh ebung (Arsis) und eine To n se n kun g (Thesis) haben. Die Tonhebung, welche durch einen von der Rechten zur Linken gezogenen Strich (- - -) bezeichnet wird, muß im Deutschen immer die hochtonige Silbe treffen. §. 24. Je nach der Stellung der Arsis im Versfüße unterscheidet man steigende und fallende Versfüße. (Steigende Versfüße: Jambus - -, Anapäst - fallende: Trochäus Daktylus - - -.)

Anm. Der Spondeus kann je nach der Stellung der Arsis (- - oder - -) zu den steigenden oder fallenden Versfüßen gerechnet werden. §. 25. Von dem Metrum, der Zusammenstellung von Versfüßen zu einem Ganzen, muß man den Rhythmus, die Gleichmäßigkeit der Zeitdauer in der Tonhebung und Tonsenkung, wohl unterscheiden.

Anm. Um den Rhythmus richtig zu erkennen, bedarf es einer sorgfältigen Prüfung des Metrums.

6. Von den Versen. §. 26. Der Vers ist eine rhythmische Reihe, welche ein Ganzes bildet und in ihrem Anfang und Ende durch das Ohr geregelt ist. §. 27. An dem Ende des Verses tritt, um denselben als ein Ganzes zu bezeichnen, eine meist nicht bedeutende Pause ein. Durch diese Pause wird die letzte Silbe des Verses mittelzeitig (anceps), kann daher ebenso gut eine Länge, wie eine Kürze sein.

5

Die Lehre von der Verskunst (Metrik).

§. 28. Von den Versfüßen werden die Wortfüße des Verses unterschieden, welche durch die einzelnen Wörter gebildet werden; der Artikel mit dem Hauptwort, das Fürwort mit seinem Zeitwort, die Präposition mit ihrem Kasus werden als ein Wort gerechnet. §. 29. Auf dem Widerstreit der Vers- und Wortfüße beruht zum Theil die Schön­ heit der Verse. Das wiederholte Zusammenfallen der Vers- und Wortfüße macht die Verse zu eintönig. Eintönig sind Verse, wie die folgenden: Lieben Freunde, es gab schönre Zeiten. . . . Traute Heimat meiner Lieben. . . . Junges Sinngrün drängt sich dichter. . . . Schön in dieser Beziehung sind die folgenden Verse: Ich hätte Herzzerreißendes zu singen, Wollt' ich enthüllen, was tief in mir lodert. . . . Wie ost Seefahrt kaum vorrückt, mühvolleres Rudern Fortarbeitet das Schiff, dann plötzlich der Wog' Abgründe Sturm aufwühlt und den Kiel in den Wallungen schaukelnd dahinreißt. . . . §. 30. Der Widerstreit der Vers- und Wortfüße bewirkt den Verseinschnitt oder die Cäsur. Diese entsteht dann, wenn das Ende des Wortfußes in den Versfuß hinein­ fällt und ein größerer Abschnitt im Gedanken eintritt. Jeder längere Vers bedarf einer

Cäsur. Hast du Capri gesehn || und des felsenum gürteten Eilands Schroffes Gestad || als Pilger besucht, ]| dann weißt du, || wie selten Dorten || ein Landungsplatz [| für nahende Schiffe || zu spähn ist. Wie rasche Pfeile || sandte mich Archilochos Vermischt mit fremden Zeilen, |j doch im reinsten Maß, Im Rhythmenwechsel meldend || seines Muthes Sturm. Hoch trat und fest auf || dein Kothurngang, || Äschylos. §. 31. Die Cäsur wird männlich genannt, wenn der Einschnitt nach einer Länge, weiblich, wenn er nach einer Kürze eintritt. Auf die Postille gebückt | zur Seite des wärmenden Ofens Saß der redliche Tamm | in dem Lehnstuhl, welcher mit Schnitzwerk Und braunnarbichtem Jucht, | voll schwellender Haare geziert war, Tamm, | seit vierzig Jahren in Stölp, | dem gesegneten Freidorf, Organist, | Schulmeister zugleich | und ehrsamer Küster. §. 32. Fällt aber das Ende des Versfußes mit dem Ende des Wortfußes zusammen, und ist dabei zugleich ein größerer Ruhepnnkt im Gedanken vorhanden, so entsteht der Versabschnitt oder die Diärese. Oft nun faltend die Händ' und oft mit lauterem Murmeln Las er die tröstenden Sprüch' und Ermahnungen; || aber allmählich Starrte sein Blick, und er sank in erquickenden Mittagsschlummer. §. 33. Die Schönheit der Verse wird auch befördert durch möglichste Vermeidung des den Rhythmus abschwächenden Hiatus, der Elision und der Konsonantenhäufungen. Der Hiatus entsteht durch das Zusammentreffen zweier Wörter, von denen das erste mit einem Vokale auslautet, das zweite mit einem Vokale anlautet. Die Elision oder Ausstoßung eines Vokals und zwar des ersten von zwei auf einander folgenden Vokalen ist besonders ungeschickt, wenn sie in der Wegwerfung eines nicht tonlosen Vokals vor einem Konsonanten besteht. Zu bedeutende Konsonantenhäufungen rufen gewöhnlich einen starken Mißklang hervor. §. 34. Die Wortstellung im Verse ist eine freiere; sie darf aber, wenn sie auch von der Wortstellung in der Prosa vielfach abweicht, doch nicht unnatürlich sein.

Welchen König der Gott über die Könige Viel zu theuer durchs Blut blühender Jünglinge Mit einweihendem Blick, als er geboren ward, Und der Mutter und Braut nächtliche Thrän' erkauft, Sah vom hohenOlymp, dieser wird Menschenfreund Lockt mit Silbergetön ihn die Unsterblichkeit Sein und Vater des Vaterlands! In das eiserne Feld umsonst! Klopstock.

6

Einleitung.

§. 35. Die Verse heißen vollständig (akatalektisch), wenn der letzte Versfuß unver­ kürzt, unvollständig (katalektisch), wenn er verkürzt ist. Den zweisilbigen Versfüßen kann nur eine Silbe fehlen, den dreisilbigen aber entweder zwei (katalektisch in sillabam) oder auch nur eine (katalektisch in bisillabum). §. 36. Die Verse sind entweder äußerlich unverbunden aneinandergereihr oder durch den Reim mit einander verbunden. Man unterscheidet drei Arten des Reims: die Alli­ teration, die Assonanz und den eigentlichen Reim. §. 37. Die Alliteration, der Anreim oder Stabreim, besteht in einem Gleich­ klange, welcher dadurch bewirkt wird, daß die bedeutendsten Wörter zweier Verse mit dem­ selben Konsonanten anlauten. Er hält die Verse wie Stäbe zusammen. In der altdeutschen Literatur wurde er bis auf Otfried (9. scc.) gebraucht, in der Neuzeit aber nur hin und wieder in einzelnen Strophen und Versen versucht. Roland der Ries', am Rathhaus zu Bremen Steht er im Standbild standhaft und wacht; Roland der Ries', am Rathhaus zu Bremen, Kämpfer einst Kaiser Karls in der Schlacht. Rückert.

~ Wonne webt von Thal und Hügel, Weht von Flur und Wiesenplan, Weht vom glatten Wasserspiegel; Wonne weht mit weichem Flügel Des Piloten Wange an.

Bürger.

§. 38. Assonanz ist der Gleichklang, welcher darin besteht, daß verschiedene auf­ einanderfolgende Wörter eines Verses oder auch die Schlußwörter der Verse denselben Vokal enthalten. Dringe tief zu Berges Klüften, Wolken folge hoch zu Lüften, Muse ruft zu Bach und Thale Tausend aber tausend Male.

Betrogen wird gar leicht, wer auf den Freund gehofft. Wie selten ist der Treuste treu bis in den Tod! Es todter unaufhaltsam oft ein schnelles Wort; Doch in der Liebe blüht für alle Schmerzen Trost.

Goethe.

§. 39. Reim im eigentlichen Sinne nennen wir den Gleichklang in der Endsilbe, welcher auS der Gleichheit der Vokale und Konsonanten hervorgeht. Durch Otfried in unsere Sprache eingeführt, wirkt er wahrhaft harmonisch, wenn er rein ist, d. h. wenn die sich deckenden Konsonanten und Vokale durchaus gleichartig sind. Man unterscheidet die männlichen (stumpfen) Reime von den weiblichen (klingenden — zweisilbig — oder glei­ tenden — dreisilbig). Gut — Blut — Wuth. Reitend — streitend. Veraltete — gestaltete — verwaltete.

§. 40. Die Verse folgen entweder in derselben Gestalt auf einander, oder mehrere Verse von mehr oder minder verschiedener Form werden zu einem Ganzen verbunden, welches Strophe genannt wird. D.

Von den Versmaßen und den gebräuchlicheren Strophen.

§. 41. Die gebräuchlichsten Versmaße sind die trochäischen und jambischen, die daktylischen und anapästischen. §. 42. Die längeren trochäischen, jambischen und anapästischen Versmaße werden (nach dem Muster der griechischen und römischen Metrik) meist dipodisch gemessen, so daß 2 Versfüße zu einem Ganzen vereinigt werden. Die daktylischen Versmaße werden monopodisch gemessen, so daß jeder Versfuß für sich gezählt wird. Die Verse heißen also, jenachdem sie ein, zwei, drei u. s. w. Dipodien enthalten, Monometer, Dimeter, Trimeter, Tetrameter, Pentameter, Hexameter. Jambischer Dimeter Trochäischer Anapästischer Daktylischer -

---- | --*.l w

\ -iw _ ~

------j ------- - | -- -

§. 43. Die trochäischen Versmaße werden in sehr verschiedener Lange gebraucht und fast immer gereimt. Merkenswerth sind besonders der trochäische Tetrameter:

7

Die Lehre von der Verskunst (Metrik).

mach dessen zweiter Dipodie eine Diärese erforderlich ist, und die Hendekasillaben, die statt des zweiten Trochäus einen Daktylus enthalten. Wüstenkönig ist der Löwe; will er sein Gebiet durchfliegen, Wandelt er nach der Lagune, in dem hohen Schilf zu liegen. Wo Gazellen und Giraffen trinken, kauert er im Rohre; Zitternd über dem Gewalt'gen rauscht das Laub der Sykomore. Freiligrath.

Hendekasillaben. Haben lärmend gescheucht die frommen Vögel, Schwalben hatten an meinem Haus gesiedelt, Die auswanderten, wie mit Sack und Packe Jeden Morgen mich weckend mit Gezwitscher; Musen wandern, wo aufgeschlagen werden Handwerksleute, bestellt vom Herrn des Hauses, Philosophische Lehrsystemsgerüste. Anzutünchen das Haus und auszuflicken, Rückert.

§. 44. Unter den jambischen Versmaßen sind die gebräuchlichsten: die Nibe­ lungen-Strophe, der Senarius oder Sechsfüßler, der Alexandriner, der fünffüßige Jambus, das Sonett, die Stanze, die Terzine und das Ritornell. §. 45. Die Nibelungen-Strophe, wie sie jetzt (besonders von den schwäbischen Dichtern) gebraucht wird, enthält in jeder ihrer vier Zeilen zwei durch eine Cäsur scharf von einander getrennte Theile, deren erster ein dimeter iamb. catal. in sillabam ist, Während der zweite aus drei Jamben besteht. In beiden Theilen sind Anapästen (Chamisso) zulässig. Ist denn im Schwabenlande verschollen aller Sang, Wo einst so hell vom Staufen die Ritterharfe klang? Und wenn er nicht verschollen, warum vergißt er ganz Der tapfren Völker Thaten, der alten Waffen Glanz? Uhland.

A n m. Die mittelalterliche Nibelungen-Strophe enthält in jedem der beiden Theile der vier Zeilen drei Hebungen mit Ausnahme des zweiten Abschnittes der letzten Zeile, welcher deren vier hat. Die Senkungen sind fakultativ bis auf diejenige nach der dritten Hebung des ersten Theiles.

Ez troumde Kriemhilte in tilgenden, der si pflac, wie si einen valken wilden züge manegen tac, den ir zwen am erkrummen, daz si das muoste sehen: ir enkunde in dirre werlde nimmer leider sin geschehen. Nibelungen-Lied. §. 46. Der sechsfüßige Jambus, Senarius oder jamb. Trimeter, der von den Griechen und Römern vorzugsweise in ihren Tragödien verwandt worden ist, besteht aus drei jambischen Dipodien, an deren ungeraden Stellen statt der Kürze auch eine Länge ^Spondeus statt Jambus) zulässig ist. Er verlangt die Cäsur gegen die Mitte, am liebsten hinter der ersten Silbe der zweiten Dipodie, und wird nicht gereimt. — | ~y | 1. Anm. Die griechischen und römischen Dichter haben den Tribrachys für den Jambus häufiger, den Daktylus und Anapäst sehr selten zugelaffen. Die Deutschen haben sich eine ähnliche Freiheit nur in den Eigennamen erlaubt. Der Jambe. Wie rasche Pfeile sandte mich Archilochos, Vermischt mit fremden Zeilen, doch im reinsten Maß, Im Rhythmenwechsel meldend seines Muthes Sturm. Hoch trat und fest auf dein Kothurngang, Äschylos; Großart'gen Nachdruck schafften Doppellängen mir Sammt angeschwellten Wörterpomps Erhöhungen. Fröhlicheren Festtanz lehrte mich Aristophanes, Labyrinthischeren: die verlarvte Schaar anführend ihm, Hingaukl' ich zierlich in der beflügelten Füßchen Eil'. Schlegel.

2. Anm. Der in satirischen Gedichten (nicht gar häufig) gebrauchte Choliamb e (hinkende Jam­ bus) ist eine Abart des Trimeters insofern, als er statt des letzten Jambus einen Trochäus hat. Geht diesem ein reiner Jambus vorauf, so ist die bezweckte Wirkung um so auffälliger. Der Choliambe scheint ein Vers für Kunstrichter, Die immerfort voll Naseweisheit mitsprechen Und eins nur wissen sollten: daß sie nichts wissen. Wo die Kritik hinkt, muß ja auch der Vers lahm sein.

8

Einleitung.

Wer sein Gemüth labt am Gesang der Nachteulen Und, wenn die Nachtigall beginnt, das Ohr zustopft, Dem sollte man's mit scharfer Dissonanz abhaun. Schlegel.

§. 47. Aus dem jambischen Trimeter wird der sogenannte Alexandriner, wenn statt der erwähnten Cäsur die Diärese hinter dem dritten Versfüße eintritt. Dieser in scharf getrennte Hälften vzv_v_||Vz~_^(V) auseinanderfallende und deshalb in längeren Gedichten unerträgliche Vers wird auch gereimt und wächst dann um des weib­ lichen Reimes willen öfter um eine Silbe. Von Opitz bis auf Klopstock im Epos und Drama fast ausschließlich gebraucht, mußte er endlich dem Hexameter und dem fünffüßigen Jambus weichen; er ist aber, besonders durch Rückert und Freiligrath, in der neueren Zeit wieder angewandt worden. Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden. Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein; Wo itzund Städte ftehn, wird eine Wiese sein, Aus der ein Schäferskind wird spielen mit den Heerden: Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden. Was itzt so Pocht und trotzt, ist morgen Asch' und Bein, Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein. Gryphius.

§. 48. Für das deutsche Drama ist seit Lessings Nathan der fünffüßige Jambus gebräuchlich geworden. Er besteht bald aus 5, bald aus Füßen und entbehrt gewöhn­ lich des Reimes. An allen Stellen sind Spoudeeu, bei Eigennamen ist auch der Daktylus und rückstchtlich der Cäsur große Freiheit gestattet, Vor grauen Jahren lebt' ein Mann im Osten, Der einen Ring von unschätzbarem Werth' Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein Opal, der hundert schöne Farben spielte,

Und hatte die geheime Kraft, vor Gott Und Menschen angenehm zu machen, wer In dieser Zuversicht ihn trug. Aus Lessings Nathan.

§. 49. Die Terzine besteht aus drei zur Strophe verbundenen Zeilen von 51/2 Jamben. Die erste und dritte Zeile sind gereimt, während die zweite stets den Reim für die erste und dritte Zeile der folgenden Strophe angiebt (aba, beb, ede, ded u.s.w.). Der letzten Strophe wird oft behufs des Abschlusses eine vierte Zeile hinzugefügt und mit der zweiten durch den Reim verbunden. Das Meer, wie es von tausend Perlen triefe. Das Meer kann sich nicht messen mit der Erde, Ob auch den Himmel es zum Richter riese.

Die Glut zu löschen.auf dem Feuerherde Im Erdenhaus, hat stürmend sich verbündet Der grimmen Wogengeister nasse Heerde;

Doch sturmfest ist das Erdenhaus gegründet, Und durch Gebirgesschlöte, feuerspei'ude, Ist seiner Feueressen Kraft verkündet. Rückert.

tz. 50. Die Stanze oder Ottaverime besteht aus acht Zeilen von 5^/2 jam­ bischen Füßen, welche derartig verbunden sind, daß die erste, dritte und fünfte, ebenso die zweite, vierte und sechste, endlich die siebente und achte Zeile auf einander reimen (abababcc). Oft enthalten die zweite, vierte und sechste Zeile nur fünf Füße und sind dann durch männlichen Reim zusammengeschlossen. Dem Schwane, der, sein eigner Leichensänger, Die Seele läßt in seinem Lied entschweben. Vergleicht der Dichter sich, wiewohl er länger Scheint nach gesungnem Liede noch zu leben; Doch ringet sich vom Leben, ihrem Dränger, Die Seel' in jedem Liede los: nur eben. Daß böser Zauber gleich zurück sie zwinget. Wo sie von neuem stets zu sterben ringet. Rückert.

Wohl mancher mag die weiße Nos' erheben, Die still im Schooß den keuschen Frieden trägt; Ich werde stets den Preis der rothen geben, Aus welcher hell des Gottes Flamme schlägt. So feuchten Glanz, solch glühend Liebesleben, So lauen Duft, der Sehnsucht weckt und hegt, Solch kämpfend Weh, verhüllt in tiefe Nöthe, Ich acht' es süß, ob's auch verzehr' und tödte. Schulze,

ß. 51. Das Sonett besteht aus vierzehn durch Sinn und Reim zu einem Ganzen verbundenen Zeilen von je jambischen Füßen und zerfällt in zwei Haupttheile. Der

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Die Lehre von der Verskunst (Metrik).

erste Haupttheil enthält zwei Strophen von je vier Zeilen, von denen die erste, vierte, fünfte und achte, ebenso die zweite, dritte, sechste und siebente durch den Reim verbunden sind. Der zweite Haupttheil besteht aus zwei dreizeiligen Strophen, in denen die erste, dritte, fünfte, ferner die zweite, vrerte und sechste Zeile sich reimen. Bisweilen wird auch ein dreifacher Reim in den beiden letzten Strophen gebraucht. Gewöhnliche Reimstellung: abba abba cdc dcd. Anm. In dem ersten Haupttheil haben einige Dichter die zweite, dritte, sechste und siebente Zeile um eine Silbe kürzer gemacht und durch den männlichen Reim verbunden. Zwei Reime heiß' ich viermal kehren wieder Und stelle sie, getheilt, in gleiche Reihen, Daß hier und dort zwei eingefaßt von zweien Im Doppelchore schweben auf und nieder; Dann schlingt des Gleichlauts Kette durch zwei Glieder Sich freier wechselnd, jegliches von dreien. In solcher Ordnung, solcher Zahl gedeihen Die zartesten und stolzesten der Lieder. Den werd' ich nie mit meinen Zeilen kränzen, Dem eitle Spielerei mein Wesen dünket Und Eigensinn die künstlichen Gesetze: Doch, wem in mir geheimer Zauber winket, Dem leih' ich Hoheit, Füll' in engen Grenzen Und reines Ebenmaß der Gegensätze. Schlegel.

Anm. Der S o n e t ten kra n z besteht aus fünfzehn Sonetten, die so gebildet sind, daß die Schluß­ zeile des vorhergehenden die Anfangszeile des folgenden, die Anfangszeile des ersten aber die Schlußzeile des vierzehnten ist. Das fünfzehnte Sonett (das Meistersonett) ist aus den ersten Zeilen der vierzehn vorhergehenden Sonette zusammengesetzt. Durch alle fünfzehn zieht sich ein Hauptgedanke hindurch.

§. 52. Das Ritornell enthält nur drei Zeilen von 5^/2jambischen Füßen. Die erste und dritte Zeile werden auf einander gereimt, während die zweite an diesen Reim durch Assonanz und Alliteration nur anklingt. O Herrin unbegrenzter Schönheitsreiche! Geschmückt an Anmuth und gekrönt an Treue! Ich messe meiner Liebe Himmelsstriche t So schön ist keine Blum' im Frühlingsthaue, Und fürchte nicht, daß ich an Macht dir weiche. Wie du mir ewig gleich und immer neue. Rückert.

Anm. Von den übrigen der Fremde entlehnten jambischen Maßen dürften noch zu erwähnen sein 1) die (besonders von Zedlitz in seinen „Todtenkränzen" gebrauchte) Canzone; ihre aus abwechselnd elf- und siebensilbigen Jamben gebildeten Zeilen sind zwar rücksichtlich ihrer Anzahl keinem Zwange unterworfen (es werden deren gewöhnlich sechzehn, dreizehn oder elf zu einer Strophe verbunden), werden aber doch zu durchausgleichmäßig gebildeten Strophen vereinigt. Diese bestehen aus drei Theilen, nämlich aus den beiden Füßen, aus dem Schweife oder der coda, die sich mit ungetrenntem Reim an den durch eine logische Pause von ihr getrennten zweiten Fuß anlehnt, und aus der Schlußstrophe. die rückstchtlich der Verszahl meist mit der coda übereinstimmt Die Wahl der Reimverschlingung in den „Füßen" ist dem Dichter über­ lassen; 2) das Triolett, welches meist aus acht bis zwölf jambischen oder auchtrochäischen Versen besteht. Die beiden ersten Verse, welche den Hauptgedanken enthalten, werden am Schluß der Strophe wiederholt, der erste auch in ihrer Mitte. Das Triolett eignet sich be­ sonders zu scherzhaften Gedichten. Triolett. Umsonst.

Wer einmal sich nicht freuen mag. Dem fruchten nicht Ermunterungen. Es flieht der Freude Huldigungen, Wer einmal sich nicht freuen mag,

Und wird ihm auch den ganzen Tag „Freut euch des Lebens!" vorgesungeu. Wer einmal sich nicht freuen mag. Dem fruchten nicht Ermunterungen. Raßmann.

§. 53. Unter den daktylischen Versen ist der Hexameter der gebräuchlichste. Er besteht eigentlich aus sechs Daktylen; doch ist an die Stelle des letzten ein Trochäus getreten (oder wegen der sillaba anceps an der letzten Stelle ein Spondeus). Der fünfte Daktylus wird in der Regel rein erhalten, während die vier anderen mit Spvndeen (Tro­ chäen sind möglichst zu vermeiden!) vertauscht werden können. Der Hexameter hat ent-

10

Einleitung.

weder in dem dritten oder in dem zweiten und vierten Fuße die Hauptcäsur. lische Cäsur ist eine Diärese hinter dem vierten Fuße.

Die buko­

Der Hexameter. Gleichwie sich dem, der die See durchschifft, auf offener Meerhöh' Rings Horizont ausdehnt und der Ausblick nirgend umschränkt ist. Daß der umwölbende Himmel die Schaar zahlloser Gestirne Bei hell athmender Luft abspiegelt in bläulicher Tiefe: So auch trägt das Gemüth der Hexameter; ruhig umfassend. Nimmt er des Epos Olymp, das gewaltige Bild, in den Schooß auf Kreisender Flut, urväterlich so den Geschlechtern der Rhythmen, Wie vom Okeanos quellend, dem weithin strömenden Herrscher, Alle Gewässer auf Erden entrieselen oder entbrausen. Schlegel.

§. 54. Mit dem Hexameter wird häufig der sogenannte daktylische Pentameter zur Zweizeile, dem Distichon, verbunden. Dieser sogenannte Pentameter besteht aus zwei durch eine Diärese scharf getrennten Theilen. Beide Theile enthalten je zwei Daktylen und eine nachfolgende lange Silbe; während aber im ersteren die Daktylen mit Spondeen vertauscht werden dürfen, müffen im zweiten Theile die Daktylen durchaus rein erhalten werden. Schema: Anm.

Das elegische Versmaß besteht aus aufeinanderfolgenden Distichen.

Im Hexameter steigt des Springquells silberne Säule: Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab. Schiller.

E.

Von den Odenstrophen.

§. 55. Unter den Odenstrophen sind die sapphische, die alkäische und die asklepiadeische Strophe die gebräuchlichsten. §. 56. Die sapphische Strophe enthält vier Zeilen. Die drei ersten, die ein­ ander vollkommen gleich sind, bestehen aus zwei trochäischen Dipodien, welche durch einen Daktylus vvn einander getrennt sind. Den Abschluß der Strophe bildet der adouische Vers

Noch an Reiz fürs Auge. Bezeug' es jeder, Schon und glanzreich ist des bewegten Meeres Wellenschlag, wenn tobenden Lärms es anbraust; Der zum Rand abschüssiger Kratertiese, Während Nacht einhüllt die Natur, mit Vorwitz Doch dem Feu'r ist kein Element vergleichbar, Staunend emporklimmt. Weder an Allmacht, Platen.

§. 57. Die alkäische Strophe enthält ebenfalls vier Zeilen. Die beiden ersten enthalten nach vorangehendem Auftakt eine trochäische Dipodie und zwei Daktylen; der dritte Vers ist aus zwei trochäischen Dipodien mit vorgesetztem Auftakt, der vierte aus zwei Daktylen und nachfolgender trochäischer Dipodie gebildet.

Der Seraph stammelt und die Unendlichkeit Bebt durch den Umkreis ihrer Gefilde nach Dein hohes Lob, o Sohn! Wer bin ich, Daß ich mich auch in die Jubel dränge?

Vom Staube Staub! Doch wohnt ein Unsterblicher Von hoher Abkunft in den Verwesungen Und denkt Gedanken, daß Entzückung Durch die erschütterte Nerve schauert!

Die Lehre von den Gattungen der Dichtkunst (Poetik).

11

Auch du wirst einmal mehr wie Verwesung sein, Der Seele Schatten, Hütte, von Erd' erbaut, Und andrer Schauer Trunkenheiten Werden dich dort, wo du schlummerst, wecken. Anfang von KlopstockS Ode „bcm Erlöser".

§. 58. Von der aSklepiad eischen Strophe giebt es vier Arten: doch werden von diesen im Deutschen meistens nur gebraucht die dritte, welche aus drei kleineren asklepiadeischen und dem nachfolgenden glykonischen Verse besteht:

- -1 - - - — - (glykon. Vers) und die vierte, die aus zwei kleineren asklepiadeischen, dem sogenannten pherekratischen und dem glykonischen Verse gebildet ist.

-

Dritte asklepiadeische Strophe-

(pherekrat. Vers) Vierte asklepiadeische Strophe.

Welchen König der Gott über die Könige Mit einweihendem Blick, als er geboren ward. Sah vom hohenOlymp, dieser wirdMenschenfreund Sein und Vater des Vaterlands!

Der verkennet den Scherz, hat von den Grazien Keine Miene belauscht, der es nicht fassen kann, Daß der Liebling der Freude Nur mit Sokrates Freunden lacht.

Anfang von Atopftocfd Ode „Friedrich V."

Anfang von Klopstocks Ode „an Gleim."

Dritter Abschnitt.

Die Lehre von den Gattungen der Dichtkunst (Poetik). §. 59. Durch die verschiedenen Arten, wie der Jdeenstoff erfaßt und dargestellt wird (vgl. §. 3), entstehen die verschiedenen Gattungen der Literatur. Auf dem Gebiete der Poesie erhalten wir zuerst das Epos im weiteren Sinne als die objektive Darstellung des Geschehenen, sodann die Lyrik als die subjektive Darstellung des Empfundenen, auf dem Gebiete der Prosa aber die Geschichtschreibung als die objektive Darstellung des Geschehenen und die wissenschaftliche (philosophische) Darstellung als die subjektive Darstellung des Gedachten. Die Verbindung der objektiven und subjektiven Darstellung läßt auf jenem Gebiete das Drama, auf diesem Gebiete die Beredsam­ keit entstehen. Wie im Drama unter vollständiger Aufhebung des Objektiven und Sub­ jektiven der Dargestellte zugleich dargestelltes Objekt und handelndes Subjekt ist, so sind in der Beredsamkeit das thatsächlich Gegebene und die denkende, wissenschaftliche (philosophische) Betrachtung aufs innigste verschmolzen. §. 60. Da die Poesie (nach §. 5) nicht den Zweck der Belehrung verfolgt, so ist zwar Lehrpcesie eigentlich keine Poesie; andrerseits aber ist die Zahl der guten und schönen Dichtungen, welche mit dem wahren Zwecke der Poesie auch die Belehrung verbinden, so groß, daß die didaktische Poesie, in welcher die Belehrung als Zweck hervortritt, als berechtigt zur Aufnahme unter die Gattungen der Poesie erscheint. Die didaktischen Ge­ dichte bilden nicht eine besondere Gattung, sondern sind der epischen, lyrischen oder drama­ tischen Poesie zuzuweisen, jenachdem in ihnen das epische, das lyrische oder das dramatische Element vorwiegt. Ann. Diejenigen sogenannten Gedichte, in denen die Lehre ohne alle poetische Auffassung, ohne jeden poetischen Gehalt vorgetragen wird, sind durchaus zur Prosa zu rechnen.

12

Einleitung.

A. I.

Die Poesie. Die

epische Poesie.

§.61. Die epische Poesie bringt den äußerlich und sinnlich gegebenen Stoff äußerlich und sinnlich zur Darstellung. Dieser Stoff, den ihr theils die Natur, theils die Handlung des Menschen bietet, wird dabei so sehr die Hauptsache, daß der Dichter, ganz und gar der Idee des Großen und Ewigen in der Natur und Geschichte hingegeben, seines eigenen Wesens sich völlig entäußert und nur der Dolmetsch seines mit Begeisterung er­ griffenen Stoffes ist. Die That, Handlung, Begebenheit wird als schon vergangen erzählt, auch weun der Dichter zu größerer Belebung der Darstellung dieselbe durch den sprachlichen Ausdruck bis­ weilen in die Gegenwart rückt. Die Menschenthätigkeit selber wird dargestellt, nicht die durch sie hervorgerufenen Empfindungen, der Gegenstand als ein gewordener, nicht als ein werdender, die That selbst, nicht die Eindrücke derselben auf des Dichters Gemüth. Der epische Dichter erzählt nicht nur, daß die Menschen und wie sie handeln; er beschreibt auch, was ihnen begegnet, mit ihnen sich begiebt; er beschreibt zugleich die Lagen, Zustände und Umgebungen, in denen sie sich befinden. Bisweilen erscheinen diese Beschreibungen los­ gelöst von jeder Handlung, also als selbständig und bilden dann die Abart der lyrischen Dichtung, welche man poetische Schilderung zu nennen pflegt. Es ist gleichgiltig, ob der Stoff, welchen der Dichter benutzt, wirklich oder durch die Phantasie des Dichters erfunden ist; doch muß er unter Vermeidung von Anachronismen auf natürliche Weise (ohne einen deus ex machina) entwickelt und durchweg objektiv dar­ gestellt werden. §. 62. Die epischen Dichtungen, deren einige im Gewände der Prosa aufzutreten pflegen (Märchen, Roman, Novelle, Parabel), werden am zweckmäßigsten nach ihrem Inhalte eingetheilt: a) in solche, die ihren Inhalt vorzugsweise aus der Sagenwelt schöpfen: 1. Sage und Mythe; 2. Legende; 3. Märchen; 4. Ballade und Romanze; 5. Epos; d) in solche, die ihren Inhalt aus dem wirklichen Leben nehmen: 6. Poetische Erzählung; 7. Idylle; 8. Roman; 9. Novelle; c) in solche, die den epischen Stoff zum Träger bestimmter Gedanken machen (episch­ didaktisch) : 10. Fabel; 11. Allegorie, Parabel, Paramythie; 12. Räthsel.

II.

Die lyrische Poesie.

§. 63. Die lyrische Poesie ist subjektiv und innerlich: sie stellt die ewigen Ideen des menschlichen Geschlechtes mit vorherrschender Empfindung dar. Sie will nicht die Er­ scheinungen der äußeren Welt als solche darstellen, sondern die Empfindungen und Gedanken wiedergeben, die durch die Erscheinungen im Dichter hervorgerusen sind. Diese Empfin­ dungen aber müssen innere Wahrheit haben; denn nur solche erwecken in dem Hörer das gleiche Gefühl und finden in aller Herzen den gewünschten Wiederhall. Den Unter­ schied zwischen der epischen und lyrischen Poesie bildet also die Art der Behandlung des Gegenstandes. Die lyrische Poesie ist mehr sinnig, mehr reflexiv, nur ist die Reflexion nicht schlechthin und offen dargelegt, wie in der Prosa, sondern eingehüllt in Bilder. Selbst das Thatsächliche ist aus der lyrischen Poesie nicht ausgeschlossen, wie ja auch der epische Dichter wohl einmal seine Empfindungen über das, was er erzählt, enthüllen darf (Ballade); aber es ist nicht ihr Zweck; sie verdeutlicht nur durch dasselbe den Gedanken. In der lyrischen Poesie herrscht eine größere Freiheit, eine mannigfaltigere Kombina­ tion, meist auch eine größere Tiefe der Gedanken. Daher ist die Lyrik oft minder klar und verständlich; sie deutet oft nur an und verlangt, daß man hinzudenke. Ihr ist daher auch ein kurzer Ausdruck angemessen; ihr paßt besonders diejenige Form, in der ein größerer

Die Lehre von den Gattungen der Dichtkunst (Poetik).

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Wechsel des Rhythmus stattfindet. Je größer dieser ist, desto größer müssen auch die Mittel sein, um das Mannigfaltige zu einer Einheit zusammenzuschließen, und eben der Ausdruck dieser Einheit der Mannigfaltigkeit im Rhythmus ist die Strophe. Im allgemeinen muß der lyrische Dichter auf die Form die größtmögliche Sorgfalt verwenden, weil er zumeist durch sie vor der Vergcsienheit sich schützen kann, die ihm besonders droht; denn die Ideen, Anschauungen und Bestrebungen seiner Zeit werden leicht der Nachwelt unverständ­ lich, wenn sie nicht auf Gegenstände sich beziehen, welche für die ganze Menschheit ewig wichtig bleiben. Mit der lyrischen Poesie steht die Musik, die der durch den Ton gegebene unmittelbare Ausdruck der Empfindung ist, in enger Berbindung. §. 64. Bei der Eintheilung der lyrischen Poesie in ihre Arten bietet der Umstand einige Schwierigkeit, daß viele lyrische Dichtungen nach ihrer äußeren Form benannt werden, als: Sonett, Stanze, Terzine, Madrigal, Canzone, Triolett, Ghasel u. s.w. Die äußere Form bietet aber keinen brauchbaren Eintheilungsgrund. Zweckmäßiger ist die Ein­ theilung, welche sich auf den Ursprung der Gefühle gründet, die den Inhalt der Lyrik bilden, und die Behandlungsweise des Gegenstandes berücksichtigt, die durch den Inhalt bedingt ist. Die Gefühle des Menschen aber entspringen entweder aus dem erregten und bewegten Gemüthe des Dichters oder ans der ruhigen Betrachtung, bei welcher nicht selten die Reflexion ganz besonders vorwiegt. Danach erhalten wir als die beiden Hauptarten der lyrischen Poesie a) daö Lied, zu welchem 1. daö eigentliche Lied, 2. die Ode, 3. der Dithyrambus, 4. der Hymnus zu rechnen sind; b) die elegische Dichtung, zu welcher 5. die Elegie im weiteren Sinne, 6. die Elegie im engeren Sinne, 7. die Heroide — und mit vorherrschender Reflexion 8. die Saure, 9. das Epigramm, 10. das Lehrgedicht, 11. die Gnome und 12. die poetische Epistel gehören.

III.

Die dramatische Poesie.

§. 65. Die dramatische Poesie ist die Verschmelzung d e r e p i s ch e n u n d lyrischen Poesie, da sie einerseits eine Darstellung von Thatsachen ist, wie das Epos sie auch bietet, andrerseits aber auch die Tiefe des Gemüths der handelnden Personen ent­ hüllt. Sie unterscheidet sich jedoch auch von beiden wesentlich. Das im Zwiegespräch (Diverbium) enthaltene Faktische nämlich wird nicht als vergangen erzählt wie im EpoS, sondern eö geschieht, entwickelt sich, schreitet vor unsern Augen fort, es wird auö der Ver­ gangenheit in die unmittelbare Gegenwart gerückt. Das Drama erzählt also nicht, schildert nicht, — es stellt dar. Daö lyrische Element besteht nicht in der unmittelbar zum Ausdruck gebrachten Empfindung, sondern in der Äußerung des Willens, der zu den Handlungen drängt und aus ihnen sich erkennen läßt. Darin liegt zugleich die innige Verschmelzung beider Elemente: auö der Empfindung geht das Faktische unmittelbar in der dramatischen Darstellung hervor, so daß beides sich gegenseitig Wurzel ist; die Empfindung (das Innere) und die Thatsache (das Äußere) sind wie Leib und Seele auf daS innigste mit einander

verbunden. A n m. Nur in den sogenannten lyrischen Partien, welche vereinzelt im Drama vorkommen, ge­ langen die Empfindungen, Gedanken und Reflexionen unmittelbar zum Ausdruck.

§. 66. Die dialogische Darstellung ist ein ferneres und wesentliches Merk­ mal des Dramas, welches durch sie die genaueste Nachahmung deS Lebens wird. Sie bezweckt den Fortschritt und die Entwicklung der Handlung, die innere Verknüpfung der verschiedenen Elemente zu einem gemeinsamen Ganzen und bewirkt dadurch die Spannung in dem Ge­ müthe des Zuschauers. Diese in sich geschloffene, lebhaft fortschreitende und stetig ent­ wickelte Handlung muß aber als die symbolische Darstellung einer höheren Idee anftteten, wenn das Drama ein poetisches Kunstwerk sein soll. Und weil nun jegliche Poesie Einheit

Einleitung.

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verlangt, so muß auch in dem Drama, in dem ja die Thatsache und die Empfindung ver­ bunden ist, die Einheit der Handlung und der Empfindung vorhanden sein. Diese Einheit der Handlung beschrankt sich darauf, daß der Konflikt der beiden einander entgegengesetzten Haupthandlungen bis zu einem gewissen Ziele fortgeführt werde. Die (sogenannte aristo­ telische) Einheit des Raumes und der Zeit, welche von den Franzosen als unver­ brüchliches Gesetz hingestellt wird, hat selbst bei den Alten niemals als ein unverbrüchliches Gesetz gegolten; doch pflegt aus der Einheit der Handlung meist mehr oder weniger auch die Einheit des Raumes und der Zeit zu folgen.

§. 67. Die umfangreichere Handlung bietet selbst Abschnitte, gewissermaßen Ruhe­ punkte in ihrem Fortschritte, in ihrer Entwicklung dar. Sie bedingt daher die Eintheilung des Dramas in verschiedene Akte oder Aufzüge, die von den Alten durch eingefügte Chorgesänge, von den Neueren durch Pausen getrennt werden. Diese Akte sondern von einander zunächst die nähere Angabe (die Exposition) der Berhältnisse, in denen die gegen­ überstehenden Parteien für sich und in ihrem Gegenüber sich befinden, und die erste Ein­ leitung der Handlung, sodann die Fortführung derselben, ihre Verwicklung und die Herbei­ führung des Konflikts, endlich die Lösung dieses Konflikts, also die Ausgleichung der Wirkung und Gegenwirkung, die Katastrophe. Für weniger umfangreiche Handlungen genügen dem­ nach drei Akte. Da aber meist die Darstellung des Kampfes selbst, die Fortführung und die Verwicklung der Handlungen eine ausgedehntere Veranschaulichung, also auch eine größere Zeit in Anspruch nehmen, so wird der zweite Abschnitt zumeist wieder in drei Theile zer­ legt, deren erster den Beginn der Handlungen, der zweite und dritte aber ihre Fortent­ wicklung und den Konflikt anzugeben haben. Dadurch ist die meist festgehaltene Fünfzahl der Akte herbeigeführt worden. Die Akte selbst zerfallen wieder in Scenen oder Auf­ tritte, deren Anfang durch das Auftreten einer neuen Person bedingt wird. §. 68. Das Drama zerfällt zunächst in zwei Hanptcharaktere, in die Tragödie und in die Komödie. Erstere ist die Darstellung des Menschen in seinem Ringen nach den höchsten Gütern des Lebens, letztere die Darstellung des Menschen in seinem auf nichtige und gemeine Zwecke gerichteten Streben. Zu beiden haben die Neueren das musikalische Drama, die Verbindung der Dichtkunst und der Tonkunst, hinzugefügt. Als eine Abart der Tragödie wird das Drama im engeren Sinne oder das Schauspiel, als eine Abart der Komödie die Posse genannt. Das musikalische Drama umfaßt die Oper und Operette, deren Abarten die Kantate und das Oratorium, das Vaudeville oder Sing­ spiel und das Melodrama sind.

B. I.

Die Prosa.

Die historische

Prosa.

§. 69. Die historische Prosa bringt den Stoff zur Darstellung, welcher objektiv vorhanden, von außen gegeben, bereits fertig ist. Ihre Aufgabe ist es, diesen Stoff über­ sichtlich zu gruppiren und wohlgeordnet hinzustellen, damit er leicht überblickt, klar an­ geschaut und genau ersaßt werden kann. Sie wird eingetheilt in die beschreibende und in die erzählende Darstellung, jenachdem sie die Dauer oder den Wechsel, das Verharren oder die Veränderung, den Raum oder die Zeit, die Natur oder die Geschichte zu ihrem Gegenstände sich erwählt; immer aber bleibt sie auf das Wirkliche und Sinnliche, also auf die Thatsache selbst gerichtet.

II.

Die wissenschaftliche Prosa.

§. 70. Die wissenschaftliche oder philosophische Prosa ist die Darstellung des zwar äußerlich gegebenen, von dem Darsteller aber innerlich (subjektiv) erfaßten Gegen-

Die Lehre von der Redekunst (Rhetorik).

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standeS, der in Folge der geistigen Verarbeitung und Durcharbeitung als neu und eigen­ thümlich prorucirt erscheint. Der denkende Mensch macht wie die ganze Natur, so auch sich selbst zum Gegenstände seiner wissenschaftlichen Betrachtungen. Dieser Gattung der Prosa, deren Aufgabe es ist, den Gedanken, die Idee durch deutlichen Ausdruck zu vollstem Verständniß zu bringen, fällt wie im allgemeinen die Philosophie, so im besondern die Philosophie ter Geschichte anheim, welche auf die Ideen ihr Gewicht legt, die an der Hand der Thatsachm entwickelt werden.

III.

Die

oratorische Prosa.

§. 71. Vie die dramatische Poesie eine Verschmelzung der epischen und lyrischen Poesie, so ist dic oratorische Prosa eine innige Verbindung der historischen und philo­ sophischen (wifferschaftlichen) Prosa. DaS Faktische, das thatsächlich Gegebene, also das Historische bi.det die Grundlage, auf welcher sich das Denken, die Reflexion erhebt, so daß aus dieser Veceirigung ein neuer, eigenthümlicher Stoff hervorgeht, der aber als momentan erzeugt dargcstellt, auf die Zukunft gerichtet wird. Der Redner will überreden oder über­ zeugen, immer ater zum Handeln, zur Thätigkeit antreiben und anreizen. Jenachdem der Gegenstand der Rede ein religiöser oder weltlicher ist, unterscheidet man die Beredsamkeit in eine geistliche und weltliche.

Anm. Dir Briese gehören ihrem Inhalte nach entweder zu der historischen oder zu der philo­ sophischen cder zu der oratorischen Prosa.

Vierter Abschnitt.

Die Lehre von der Redekunst (Rhetorik). §. 72. Tie Rhetorik (ars bene dicendi) müßte eigentlich, wie die Poetik über die drei Gattungen ter Poesie, sich über alle drei Gattungen der prosaischen Darstellung ver­ breiten; sie frßt aber, schon von Aristoteles, Cicero und Quintilian in ihren Grundzügen festgestellt, vorzugsweise die oratorische Prosa ins Auge und zerfällt in die Lehre von der Erfindung r?n der Anordnung, von der Darstellung und von dem Vorträge. A.

Von

der Erfindung.

§. 73. Fir die Rede, deren Gegenstand entweder ein ganz allgemeiner oder ein besonderer, mb ter en Zweck entweder ein erweisender (oratio demonstrativa) oder berath­ schlagender (er. celiberativa) oder gerichtlicher (or. forensis) ist, wird der Stofs durch die Er find uns (kventio) ausgesucht und für die fünfHaupttheile der Rede vertheilt. Diese sind: der Eingang (exordium), die Darlegung (expositio oder narratio), die Begründung (confirmatio oder probatio), die Widerlegung (confutatio oder reprehensio) und der Schluß (peroratio oder conclusio).

§. 74. a) Der Eingang, durch welchen der Redner sich des Hörers Zuneigung gewinnen (captatio benevolentiae), ganz besonders aber ihn auf die zu behandelnde Sache aufmerksam naden will, muß einfach, natürlich und den Sachen, wie Personen an» gemessen sein. Rücksichtlich seiner Ausdehnung muß er in richtigem Verhältnisse zu dem Haupttheile dcr Rede stehen, welcher die Darlegung, Begründung und Widerlegung umfaßt, und mit ihm kng zusammenhangen, ohne etwas vorwegzunehmen, was in den Haupttheil selber gehört. Dm geeignetsten Stoff für den Eingang liefert daher entweder die Bedeut­ samkeit und Wichtigkeit der Sache selbst oder die Absicht und der Zweck des Redners oder endlich die näheren Umstände, welche den Ort, die Zeit und die Personen betreffen. Sehr häufig und nit zutem Erfolg wird der Eingang von dem Gegensatze des Themas selber hergeleitet.

Einleitung.

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§. 75. b) Die Darlegung der Sache, welche bei der gerichtlichen Rede in der einfachen, klaren und übersichtlichen Erzählung der zu Grunde liegenden Thatsache besteht, umfaßt zunächst die genaue, durchaus bestimmte Aufstellung des Hauptsatzes, unterscheidet denselben durch die meist sogleich hinzugefügte Erörterung von seinem Gegensatze und schützt ihn vor etwa möglichen Zweideutigkeiten und Mißverständnissen. Sodann umfaßt sie die Theilung des Gegenstandes, die entweder eine Eintheilung (Division) ist, d. h. die Darstellung des Allgemeinen (des Begriffes) nach den unter ihm enthaltenen Geschlechtern, Gattungen, Arten, oder eine Zertheilung (Partition), d.h. die Zerlegung des Ganzen in seine äußeren, neben einander liegenden Theile. Die Eintheilung muß rücksichtlich des Theilungsgrundes (fundamentum divisionis) fruchtbar und angemessen, hinsichtlich ihrer Glieder vollständig, richtig und möglichst beschränkt, endlich auch stetig und folgerecht, braucht aber nicht immer streng logisch oder zweigliedrig (dichotomisch), sondern kann auch vielgliedrig (polytomisch) sein. Sie wird auf das Thema selbst oder auf die Beweisgründe und die vermuthlichen Gegengründe oder auch auf die nebensächlichen Verhältnisse an­ gewandt, welche Zeit, Ort und Person betreffen.

§. 76. c) Die Begründung entnimmt ihre Beweisgründe, welche entweder sicher oder wahrscheinlich oder zweifelhaft sind, a) aus den äußeren Quellen (loci, totcoi* daher die Topik). Zu diesen werden gerechnet: eine etwa früher schon ergangene Entschei­ dung (praeiudicinm), die allgemeine Annahme (Fama), die Zeugenaussage (testimonium) und der Eid (ins iurandum); ß) aus den inneren Quellen, deren hauptsächlichste fol­ gende sind: 1. die Worterklärung (confirmatio per etymologiam), so daß die Bedeutung, Abstammung, die Verwandtschaft, ja sogar der bloße Gleichklang des Wortes als Begrün­ dung dient) 2. die Begriffserklärung oder Definition; diese besteht in der Darstellung der inneren Größe eines Begriffs oder in der Angabe seines Inhalts, d. h. in der Auf­ zählung sämmtlicher wesentlicher Merkmale, die in dem Begriffe enthalten sind. Gewöhnlich wird sie ausführlicher gemacht als die eigentlich philosophische Definition; 3. die Aufzählung der Theile (c. per enumerationem partium), so daß von der Wahrheit des Ganzen auf die Wahr­ heit der Theile geschlossen wird; 4. die Angabe der Ursachen und der Wirkungen; 5. die Angabe der mit der Sache verbundenen näheren Umstände, welche man in dem Verse quis? quid? ubi? quibus auxiliis? cur? quomodo? quando? genauer bezeichnet hat; 6. die Angabe des Gegensätzlichen oder auch des Ähnlichen und Unähnlichen, selbst mit Anwendung von Fabeln und Parabeln; 7. die Anführung von bildlichen Vergleichen (c. per comparata), von entweder wirklichen oder singirten Beispielen; endlich 8. die Anführung von Aus­ sprüchen anderer (c. per testimonia). Die Begründung bedient sich vorzugsweise der verschiedenen Formen des Sch lusses, d. h. der Vermittelung zweier Urtheile durch ein drittes, welches zu beiden in einem be­ stimmten Verhältnisse steht. Der Schluß besteht aus dem Ober- und Untersatze (propositio maior und minor) und aus dem Schlußsätze (conclusio); er tritt aber nicht eben häufig in dieser Grundform auf:

Alle Menschen können irren, Cajus ist ein Mensch, Cajns kann irren.

Öfter tritt er-in der hypothetischen Form auf, so daß dem Obersatze, der ein hypo­ thetisches Urtheil enthält, ein kategorisches als Untersatz folgt, in welchem die Bedingung entweder gesetzt oder verneint wird:

Wenn in einem Dreiecke der eine der drei Winkel — 1R ist, so ist das Dreieck rechtwinklig, Nun ist im /\ABC der oder > noch -< als Za.

Folglich ist er — Za.

Die bisher genannten Schlußformen treten meist unvollständig oder abgekürzt auf, also als Enthymeme. Alle Menschen sind sterblich; folglich bin ich sterblich.

Am häufigsten aber erscheint der Schluß in der Form entweder synthetisch oder analytisch aneinandergereiheter Schlüsse und zwar als Kettenschluß (sorites): Alle flüssigen Körper sind wägbar. Wasser ist ein flüssiger Körper. Wasser ist wägbar.

Nebel ist Wasser. Nebel ist wägbar.

rer indessen meist entweder den Untersatz ausläßt, bis auf den ersten, mit welchem dann der Kettensatz anfängt, oder die Obersätze, bis auf den ersten, der vorausgeht. Er erscheint aber auch als verschmolzener Schluß (Epicheirema), der dadurch entsteht, daß an einen der drei Sätze eines vollständigen Schlusses die Begründung desselben durch einen beson­ deren Satz augeknüpft wird. Dieser aber bildet mit demjenigen, an den er geknüpft wird, und dem zur Ergänzung nöthigen Satze, den man auffinden muß, wieder einen förmlichen Schluß (Nachschluß), so daß also jener angefügte Satz, der einen solchen vertritt, zugleich mit dem Hauptschluß verschmilzt. Der Fleißige verdient Achtung, weil er seine Pflicht thut. Cajus ist fleißig.

Cajus verdient Achtung.

Die Begründung geschieht auch durch den indirekten Beweis oder durch die Induktion. Während der indirekte Beweis (argnmentatio apagogica oder deductio ad absurdum) von dem Gegensatze dessen ausgeht, was bewiesen werden soll, und dann nach­ weist, daß diese Annahme zu einer unwahren oder widersinnigen Folgerung führt, schließt die Induktion aus vielen ähnlichen Fällen auf die Wahrheit entweder der allgemeinen Be­ hauptung oder des einzelnen, gerade erwähnten Falles, also von vielem auf alles oder auf einzelnes. In Rücksicht auf die Induktion ist wohl zu beachten, daß eine Ausnahme von der zu beweisenden Thatsache bisher niemals vorgekommen sein darf. Übrigens muß bei der Beweisführung die Trockenheit und Dürre, welche in der starren Schlußform liegt, durch mancherlei Hülfsmittel, besonders durch Erweiterung des Ausdrucks und durch Aus­ schmückung, z. B. durch Fabeln, Parabeln, Erzählungen, Sprichwörter, Gnomen, d. h. durch alles gemildert werden, was Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit herbeiführt. Allein die Begründung, bei welcher nicht genug die Lehre eiugeschärft werden kann, daß derjenige gar nichts beweise, der zu viel beweist (qui nimium probat, nihil probat), hat sich beson­ ders auch vor einigen bestimmten Fehlern zu hüten, so zunächst vor der Erschleichung des Grundsatzes, der sogenannten petitio principii, welche einen Zusammenhang da setzt, wo

er entweder gar nicht oder nur ungenügend vorhanden ist, Es ist ein Gewitter und zugleich Feuer ; folglich bat es eiugeschlagen. Tielitz u. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur.

2. Aufl.

Einleitung.

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oder auch als Beweisgrund aufführr, was erst selbst bewiesen werden müßte. Sie muß sich ferner hüten vor dem Kreisläufe im Beweise (circulus in demonstrando) , welcher zur Be­ gründung eines Beweisgrundes (Prämisse) das anwendet, was überhaupt bewiesen werden soll (Schlußsatz), sodann vor dem Sprung im Beweise (saltus in demonstrando), welcher unerläßliche Beweisgründe fortläßt, endlich vor der Veränderung des Schlußsatzes (mutatio elenchi), welche darin besteh:, daß schließlich etwas Anderes bewiesen wird, als was bewiesen werden sollte. §. 77. d) Die Widerlegung soll die Gegengründe, die entweder wirklich und bestimmt erhoben oder vom Redner selbst vorweg ausgestellt sind oder in gewisien Vor­ urtheilen und allgemein verbreiteten Ansichten bestehen, mindestens schwächen, meistens aber völlig beseitigen. Sie wird im allgemeinen so ausgeführt, wie die Begründung selbst; doch dürfen die Gegengründe, wenn sie in bestimmt erhobenen Gegenbehauptungen bestehen, durchaus nicht verändert, wenn es aber nur als möglich angenommene Einreden sind, nicht zu peinlich gesucht und zu weit hergeholt werden; auch müssen sie gehörig bewiesen sein und der Erfahrung nicht geradezu widersprechen. §. 78. e) Der Schluß ist nach Quintilians Erklärung (eins duplex ratio ess. posita aut in rebus aut in affectibus. Herum repetitio est cwav.Eyalcdürfis, quibusdam Latinorum enumeratio) dazu bestimmt, daö Wesentliche und Hauptsächlichste des In­ halts kurz zusammenzufassen oder der Aufgabe des Redners gemäß, ut doceat ac moveat, auf das Gefühl der Zuhörer besonders einzuwirken. Er muß, wenn ersteres geschickt aus­ geführt werden soll, die Hauptpunkte kurz und klar, aber zugleich in einem wärmeren und gehobneren Tone und unter einem neuen Gesichtspunkte aufstellen, und wenn daS zweite nicht zu leerer Phraseologie werden und seine Wirkung geradezu verfehlen soll, der Abglanz wahrhafter, wirklich empfundener Seelenstimmung sein. Übrigens gestattet das Wesen des Schluffes eS sehr wohl, von der Rekapitulation und der besonderen Gefühlserregung ganz, und gar abzusehen und statt dessen die Rede (den Aufsatz) mit Folgerungen zu schließen, die unmittelbar aus der Sache selbst sich ergeben, oder auch mit Betrachtungen, die an dieselbe sich eng anlehnen. Die Gefühlserregung hängt eben nur mit den Sitten und Gebräuchen des Alterthums zusammen Ulli) ist in der neueren Zeit mindestens überflüssig geworden, zumal jeder einzelne Theil der Rede aus dem Herzen des Redners strömen und in das Herz, des HörerS eindringen soll. B.

Von der Anordnung.

§. 79. 3ft der für die Rede (den Aufsatz) erforderliche Gedankenstoff durch Nach­ denken (Meditation) herbeigeschasst, so ist eS die Aufgabe der Disposition (Anordnung des Stoffs), diesen Gesamnnstosf zu sortiren (d. h. das Gleichartige zusammenzustellen, das Unbrauchbare auszuscheiden, das Brauchbare nach bestimmten Gesichtspunkten zu ordnen), für die einzelnen Theile der Rede zu sondern und innerhalb derselben wiederum mit Rück­ sicht auf den Zweck des Ganzen zu gruppiren. Die Disposition also ist die planmäßige Anordnung deS Stoffes für die Einleitung, für den Schluß und für die übrigen drei Theile, welche zusammen gewöhnlich die Abhandlung genannt werden. Wir behalten diese Benen­ nung gern bei, weil sich die Lehre von der Anordnung nicht blos auf die Reden, sondern ganz allgemein auf jeden Aufsatz bezieht. Sind die für den Eingang, die Einleitung, er­ forderlichen Gedanken ausgesondert und so geordnet worden, daß sie unmittelbar auf die Abhandlung und das in derselben zu behandelnde Thema hinführen, so wird für diese selber eine zweckmäßige, gute Disposition gemacht werden müssen. Diese verlangt zunächst, daß die Theilung (je nach der Natur des Themas eine Partition oder Division) geschickt ausgeführt, daß also vor allem ein fruchtbarer und zweckgemäßer Theilungsgrund aufgesucht wird. Dieser einmal gewählte Theilungsgrund muß sodann genau durchgeführt, die einzelnen.

Die Lehre von der Redekunst (Rhetorik).

19

EimheilungSglieder dem Ganzen genau fubordinirt, sich selber gehörig koordinirt, endlich alle Glieder in sachgemäßer oder logischer Ordnung aufgeführt werden. Dieselben For­ derungen gelten für alle ferneren Theilungen (Subdivisionen). Eine weitere Anleitung für die Disposition zu geben, ist nicht gut möglich; die beste Übung im DiSponiren gewährt die

Zergliederung der Gedankenfolge in mustergültigen Reden und Aufsätzen.

C.

Von der Darstellung.

§. 80. Die Darstellung (elocutio), welche dem gesammelten und wohlgeordneten Gedankenstoff den angemeffenen sprachlichen Ausdruck geben soll, oder der Stil (stilus, = ©riffel) hängt eben so sehr von der ganzen Persönlichkeit des Redners wie von dem Gegenstände selber ab. Man unterscheidet den einfachen, den mittleren und den erhabenen Stil (genus dicendi tenue, medium, sublime). Der Stil muß zunächst in Bezug auf die Grammatik vollkommen rein von Barbarismen (Latinismen, Gräcis­ men u. s. w.), Solöcismen, Provinzialismen und von Wörtern, Wort- und Satzverbin­ dungen sein, die der betreffenden Sprache fremdartig sind oder gar ihr widerstreben. In Bezug auf die Logik muß die Darstellung erstens vollkommen klar und bestimmt sein, so daß der auszudrückende Gedanke nicht nur leicht erfaßt und verstanden werden kann, son­ dern auch kurz und genau (präcis) wiedergegeben wird unter Vermeidung jeder Zwei- oder Vieldeutigkeit, des Pleonasmus und der Tautologie, so wie der Unverständlichkeit, die durch Häufung von Relativ-Sätzen oder von Partizipien hervorgebracht wird. Zweitens aber bedarf sie geschickter Gliederung, so daß das Thema oder der Grundgedanke und die Beziehung der ihm untergeordneten Gedanken auf daffelbeüberallscharf hervortrete, Neben­ gedanken nicht zu Hauptgedanken gemacht und deshalb in zu großer Breite und Ausführ­ lichkeit vorgetragen werden. In Bezug auf die Ästhetik muß die Darstellung im all­

gemeinen einer schönen, lieblichen Hülle gleichen, mit welcher das Gerippe (die Disposition) umgeben worden ist, und daher durchweg die Gesetze deö Schönen befolgen. Danach muß sie zunächst den für das Ganze angemeffensten Ton wählen, beibehalten und, wo er geändert werden muß, allzuschroffe Übergänge möglichst vermeiden, stets die Würde bewahren und natürlich sein (nichts ist widerlicher als der Schwulst oder Bombast!), ohne das Streben, neu und eigenthümlich zu sein, allzusehr in den Hintergrund zu drängen. Sodann muß die Darstellung die Gesetze des Wohllautes genau beachten, der sich wie in den Lautverhältniffen der einzelnen Wörter (Euphonie), so in dem Bau ganzer Sätze und Perioden (Eurhythmie, Numerus) bekundet und sich bei lauter Recitation sofort.Hernehmlich macht. Zuletzt endlich und vor allem muß sie lebendig sein. Je lebendiger aber^desto anschaulicher

und wärmer wird sie sein; denn das Leben weckt Leben und giebt Leben, und das warme, erregte Gefühl weckt und erzeugt Gefühle. Dieser Lebendigkeit dienen besonders die Tro­ pen und Figuren, die durch Abstraktion auS schöner, lebendiger Darstellung zu erlernen und nur dann wirksam sind, wenn sie, vom Darsteller ungesucht, wie unmittelbar und von selber entstanden in der Darstellung sich zeigen. §. 81. Die Tropen (tqotzoi, Wendungen) beruhen auf der Jdeenassocianon, der Weckung einer Vorstellung durch eine zu ihr gehörige andere. Sie wird durch die Sprache selber veranlaßt, welche nicht Begriffe, sondern nur Vorstellungen zu bezeichnen vermag, und entstehen, wenn man ein Wort nicht zur Bezeichnung der von ihm eigentlich auSgedrückten Vorstellung, sondern zu einer anderen verwendet, die mit jener in Beziehung stehl und von ihr geweckt wird. So erinnert uns die Ursache an die Wirkung, die Eigenschaft an den mit ihr behafteten Gegenstand, der Theil an das Ganze, das Besondere an den Theil, der Ort an das, was an ihm, die Zeit an das, was in ihr geschieht, das Konkrete überhaupt an daS Abstrakte. Und darin eben liegt ihre Bedeutsamkeit: sie wollen und sollen das Geistige, Abstrakte versinnlichen, veranschaulichen; zugleich aber auch nähren sie die Phantasie , denn statt einer Vorstellung wecken sie ihrer mindestens zwei.

20

Einleitung.

Unter den Tropen sind besonders hervorzuheben die Metapher, die Metonymie und die Synekdoche. a) Die Metapher (von übertragen) drückt recht eigentlich das Wesen der Tropen aus, weil sie lediglich auf der Ähnlichkeit der Vorstellungen beruht, z. B. B l ü t e

deS Lebens für Jugend; der Schatten der Seele für Leib. Sie ist daher auch der gebräuchlichste Tropus und begreift die Personifikation (Der Ruh' Gespielin, Stunde des Todes, komm! — Mein Lied besingt den Helden) und die Allegorie, die bis in das Einzelne ausgeführte Metapher, unter sich. b) Die Metonymie oder Namenvertauschung setzt die Ursache für die Wirkung, das Attribut für den Gegenstand, den Stoff für die daraus verfertigte, die Person für die ihr gehörige Sache, den Ort und die Zeit für das, was an ihm und in ihr geschieht. (Kurfürst Johann war ein Cicero. — Das Eisen traf ihn in die Brust.) Verwandt mit ihr ist der Euphemismus, der das Üblein Gutes wandelt (das gastliche statt des ungast­ lich enMeeres; denletztenTagfeiern statt sterben), und die (allerdings meist spöttische) Ironie, die statt der Sache selbst ihr Gegentheil giebt. c) Die Synekdoche (von o'vrsxjftfo/icu, zusammenfafsen) setzt den Theil für das

Ganze (Haupt für Mensch), das Besondere statt des Allgemeinen (derSüd für Wind), das Bestimmte für das Unbestimmte (tausendrnal für unzählig oft). Sie wird zur Hyperbel, wenn in dem zuletzt erwähnten Falle eine Übertreibung sich sichtbar macht,

und zur Litotes, wenn durch eine Verkleinerung des Ausdrucks die Größe desielben her­ vorgehoben werden soll (eine nicht kleine Zahl für eine sehr große Zahl). §. 82. Figuren nennt man int allgemeinen alle Abweichungen von dem ruhigen Fortschritte der Rede, durch welche der Ausdruck eine eigenthümliche, charakteristische Ge­ stalt erhält (daher figurae, Sie sollen von stärkerer, heftigerer Gemüths­ bewegung des Darstellenden zeugen und im Hörer (Leser) ebenfalls eine größere Wärme des Gefühls Hervorrufen. Sie beruhen also auf der richtigen Erkenntniß, daß die größere Erregtheit des Gemüths auch in der Sprache und zwar nicht blos in dem Klange und der Bewegung der Wörter (Wortfiguren, figurae verborum), sondern auch in der Ver­ bindung und Bewegung ganzer Sätze (Satzfiguren, figurae sententiarum), in letzterem Falle sich besonders darin zeigt, daß der Ausdruck bald eiligst dahinfliegt, bald bei der Sache, die ihn mehr zu feffeln scheint, länger verweilt, sie genauer ausdrückt, sie öfter wiederholt. Was der Mime durch Mienen und Gesten, sucht der Sprachklinstler durch Wort und Satz zu versinnlichen. Gemäß der Natur der Sache sind der Figuren fast unzählige; wir be­ schränken uns aber auf die Anführung der allerbedeutendsten und gebräuchlichsten. Als solche sind unter den W or ifi g uren besonders hervcrzuheben, und zwar a) als Klangfiguren: die Alliteration (Glück und Glaö), die Assonanz, der Reim, die Onomatopöie (die Nachahmung deS Hör- und Sichtbaren durch die Wörter, z. B. risch und rasch!); b) als Figuren der Wiederholung der Wörter: die Anaphora (Wiederholung desielben Wortes am Anfänge der Sätze, z.B. Gieb mir, die du mir gleich erschufst! Ach, gieb sie mir, die leicht zu geben!), die Epiphora (Wiederholung desselben Wortes am Ende der Sätze, z. B. Meine Ruh' ist hin, meine Freud' ist hiu!), die Symploke (die Verbindung der Anaphora und Epiphora, z.B. Dann will ich lurch die ganze Natur ein tiefes Geheul hören, ein tiefes Geheul am dunklen, verfinsterten Throne und ein Geheul in der Seelen Gesild, ein Geheul in den Sternen, da, wo der Ewige wandelt, das will ich hören und Gott sein!) und die Paronomasie (der Glüchklang der Wörter bei verschiedener Bedeutung), auf der auch daö Wortspiel beruht; c) alSFiguren der Wortverbindung: das Polysyndeton (die Wiederholung des Verbindungswortes, z. B. Und es wallet und siedet und brauset und zischt, wie wenn Feuer mit Wrsier sich mengt), daS Asyndeton (die Auslassung desielben, z. B. Er ruft mit lechzender Zunge: Mich dürstet! Ruft's, trank, dürstete, bebte, ward bleicker, blutete, ruhte), die Ellipse

Übersicht der Literatur-Geschichte.

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(die Auslassung eines leicht zu ergänzenden Wortes), der Pleonasmus (der überflüssige Gebrauch eines leicht entbehrlichen Wortes), das Zeugma (die Beziehung eines Wortes, besonders des Prädikats, auf zwei oder mehrere, während es nur auf eines oder einzelne derselben paßt, z.B. Milch und Blumen auf das Grab streuen) und die Inversion (die Abweichung von der gewöhnlichen und natürlichen Wortstellung, z. B. Er theilte mir mit daS theuerste Geheimniß seines Lebens). Unter den Sahfiguren sind a) von denen, welche eine Abweichung von der ge­ wöhnlichen Form der Behauptung und Erzählung zeigen, die Frage, die Antwort, der Zweifel, die Verbesserung, das Zugeständniß oder die Einräumung, die Vorwegnahme, die scheinbare Übergehung oder Auslassung, die Einschie­

bung oder Parenthese, der Ausruf, der Wunsch, das Gebet und die Anrede oder Apostrophe, deren Abart die Vision ist, die bedeutendsten, b) Von den Satz­ figuren, welche eine Steigerung oder Erweiterung des Gedankens ausdrücken, sind vor­ zugsweise zu nennen: das schmückende Beiwort (epithetonornans), die Synonymie (Bezeichnung der Sache durch mehrere sinnverwandte Wörter), dieJndividualisirung (die genauere Bezeichnung des Gegenstandes nach seinem Umfange oder nach seinen Theilen), die Häufung (cumulatio; Zusammenstellung gleichartiger Sätze), die Steigerung (gradatio) und zwar vom Größeren zum Kleineren oder vom Kleineren zum Größeren, e) Unter den Satzfiguren, welche sich auf die Gegenüberstellung der Gedanken und Sätze beziehen, sind besonders erwähnenswerth: der Vergleich (comparatio: Bild, Gegenbild und tertium comparationis), der Parallelismus (die Nebcneinanderstellung gleich­ artiger Gedanken), derGegensatz (Antithese; die Zusammenstellung von Ungleichartigem) nebst dem Kontraste (der Zusammenstellung von Gleichartigem unter Hervorhebung des Ungleichartigen) und das Paradoxon (die Zusammenstellung des scheinbar Unverein­ baren; z. B. Am größten ist der Große in dem Kleinen). Der Gebrauch der Tropen, wie der Figuren wird äußerst uuangeuehm, ja widerlich, wenn er nicht ganz vollkommen ungesucht erscheint; Anfänger können vor zu häufiger An­ wendung besonders der Frage, der Antwort und des Ausrufes nicht genug gewarnt werden.

D. Pon dem ® ort rage. §.83. Als Hauptbedingung eines guten Vortrages, welcher die Rede erst zu ihrer vollen Bedeutung erhebt, aber von der ganzen Persönlichkeit des Redners vollständig ab­ hängt, muß vollkommene Wahrheit hingestellt werden. Wie jedes Wort, jeder Satz aus der vollsten Überzeugung des Redners, so muß jeder Ton, jede Miene, jede Handbeweguug aus seinem Innern hervorgehen. Der Redner soll sich ganz in seinen Gegenstand versenken, ihn ganz zu dem seinigen machen; dann wird er ihn auch als seinen Gegenstand vortragen, und der Vortrag wird ihm in den allermeisten Fällen gelingen. Die ins Einzelne gehende Anweisung zu einem guten Vortrage giebt die Deklamarorik; die Schule leitet durch Deklamations- und Redeübnngen dazu an.

Fünfter Abschnitt. Übersicht der Literatur-Geschichte. Einleitung.

§.84. Die Geschichte der deutschen Literatur stellt den Entwicklungsgang dar, den die Literatur des deutschen Volkes mit Ausschluß der angelsächsischen und nordischen Literatur, sowie auch der von Deutschen, aber in fremder Sprache verfaßten Schriften im Laufe der Jahrhunderte genommen hat, um darin wie in einem untrüglichen Spiegel die geistige Ausbildung des Volkes in Bezug auf Familie und Staat einerseits, Wissenschaft, Kunst und Glauben auf der anderen Seite erkennen zu lassen.

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Einleitung.

§. 85. Die deutsche Sprache hat mit der Entwicklung der Literatur gleichen Schritt gehalten. Sie zerfiel schon in den ältesten Zeiten in mehrere Dialekte: in das Gothische, welches als die erste Gestaltung des Deutschen erscheint und sich nur in der Bibelübersetzung des Bischofs Ulfila erhalten hat, in das Angelsächsische und in das Nordische. Das Angelsächsische, mit dem Romanischen gemischt, ist die Grundlage des Englischen, das Nordische aber die Grundlage des Dänischen und Schwedischen geworden. Im Innern Deutschlands theilte sie sich in das Oberdeutsche und Niederdeutsche. DaSOber­ deutsche umfaßte den südlichen und mittleren, also den gebirgigen Theil Deutschlands mit der allemannischen oder schwäbischen Mundart (im Südwesten), der bairisch-östreichischen (im Südosten) und der fränkischen (in der Mitte Deutschlands). DaS Niederdeutsche in dem nördlichen Theile Deutschlands, also im Flachlande, begriff die niederländische, friesische und sächsische (diese nebst der westfälischen) Mundart in sich. Das Oberdeutsche und Niederdeutsche unterscheiden sich nicht allein durch Wörter und Wortformen, sondern auch durch phonetische Verschiedenheiten innerhalb gemeinsamer Wortstämme. Die Grenzscheide zwischen beiden wird ungefähr durch eine Linie bezeichnet, welche man sich aus der nördlich von der Sieg liegenden Gegend zwischen Minden und Kaffel, Nordhausen und Göttingen hindurch über die Saalemündung nach Wittenberg, von hier nach Lübben an der Spree, weiter nach Kroffen an der Over und von hier aus in nordöstlicher Richtung nach der oberen Warthe gezogen denkt. Das Niederdeutsche blieb (abgesehen von einzelnen Versuchen, die im achtzehnten Jahr­

hundert von I. H. Voß, in der neueren Zeit von Grote und Fritz Reuter gemacht, aber meist mißglückt sind) eine Mund art des deutschen Volkes, gestaltete sich nicht zur Schriftsprache und verflachte sich endlich zum Plattdeutschen. Dagegen bildete sich aus dem Oberdeutschen allmählich eine allgemeine Schriftsprache, das Hochdeutsche, im Gegensatze zu allen Dialekten heraus. Dieses wurde bald die gemeinsame Sprache des gebildeten Theiles des gesammten deutschen Volkes, erfuhr aber im Laufe der Jahrhunderte wieder manche Um­ gestaltung. Man unterscheidet drei wesentlich von einander verschiedene Formen in der or­ ganischen Entwicklung deö Hochdeutschen, nämlich daS Althochdeutsche, d-SMittelhochdeutsche und das Neuhochdeutsche. Das Althochdeutsche, vom siebenten bis znr zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts herrschend, war schon im neunten Jahrhunderte völlig entwickelt und schön und reich an Bildsamkeit der Wörter, an Stämmen und an'-Wörtern zur Be­ zeichnung äußerer, ja selbst geistiger Gegenstände. Namentlich übertraf es rücksichtlich des WohlklangeS, sowie der größeren Bestimmtheit der grammatischen Formen alle übrigen deutschen Mundarten, von denen wir etwas wissen. Danach aber fängt die Sprache, da nichts, was in seiner Art das Höchste, zugleich auck dauernd ist, an Reichthum der Vokale (es tritt daS unbetonte c ein), an Bildsamkeit, an Wortreichthnm zu verlieren an. Dafür aber bildet sich in dem Mittelhochdeutschen, welches bis zum Schluffe des Mittel­ alters die herrschende Schriftsprache verblieb, eine feinere Nüancirung der Begriffe, sowie die Möglichkeit heraus, die Gedanken bestimmter auszudrücken. Allmählich wurde sie für den Dichter ein vollkommenes Werkzeug mit fester Form, bequemem Reim, geschickten Konjunktionen, einfachem und edlem Periodenbau. Aber schon nach der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts fangen die Dialekte an sich mehr hervorznthun. Die Verwilderung, welche zur Zeit des Interregnums in allen staatlichen Verhältnissen herrscht, äußert ihren ver­ derblichen Einfluß auch auf die Sprache: Roheit und Schlaffheit vernichten die Sprache der Poesie, und nur eine Fortbildung der Prosa zeigt sich im fünfzehnten Jahrhundert. Vom sechzehnten Jahrhundert an arbeitet sich die Sprache durch Unrichtigkeit und steife Gelehr­ samkeit hindurch zu dem Neuh o chd eutsck en, also zu der Gestalt, die man erst nach der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts als vollständig ausgebildet betrachten darf. Es beruht vorzugsweise auf der meißnischen (obersäckffischen) Mundart und verdankt seinen Ursprung zunächst dem großen Reformator, Martin Luther. Im siebzehnten Jahrhundert wurde

Übersicht der Literatur-Geschichte.

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eS vielfach gepflegt und besonders gegen den eindringenden und um sich greifenden Gebrauch der fremden Sprachen geschützt. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts erlangte es die reinen und festen Formen, durch welche es sich als die gemeinsame Sprache aller Gebildeten unserer Nation bis auf den heutigen Tag behauptet hat. Die Veränderungen, welche das Hochdeutsche seit dem Ende deS vorigen Jahrhunderts erlitten hat, sind, einzelne an sich unbedeutende Wandlungen des Geschmacks abgerechnet, äußerst gering. §. 86. Die deutsche Literatur, welche unter den Literaturen aller Völker dadurch her­ vorragt, daß sie zweimal sich zur herrlichsten Blüte entfaltet hat, fängt eigentlich mit frag­ mentarischen Notizen an, da für unsere Geschichte und Literatur keine einheimischen Quellen fließen. Nach kurzer Blüte der epischen Volkspoesie im neunten Jahrhundert, welche schon in der folgenden Zeit an bestimmter Form und an Tiefe der Sagen verliert, erhebt sich die Poesie zu der größten künstlerischen und bewußten Ausbildung, so daß die Lyrik und die erzählende Dichtung ums Jahr 1200 die höchste Vollendung erreichen. Allein diese Blüte dauert nur bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts. Von da ab beginnt die lange Zeit des Verfalls, herbeigeführt durch eine theils aus Roheit, theils aus Künstelei hervorgegangene Verwilderung der künstlerischen Form, obgleich auch diese Zeit nicht ganz ohne Anklänge an die entschwundene Zeit der herrlichen Blüte ist. So herrscht denn im vierzehnten und fünf­ zehnten Jahrhunderte der Widerstreit zwischen der Ausbildung des Bürgerstandes und der Gelehrsamkeit; beide, mit einander vermischt, stehen dann im Kampfe gegen die Überreste

der alten Dichtung und veranlassen den Verfall der Volksbildung. Diesem Verfalle und dem völligen Hinsterben aller Poesie setzt endlich die Reformation einen gewaltigen Damm entgegen. Die Form reinigt sich zuerst von den Spuren deS Verderbens; dann erstarkt endlich auch, aber sehr langsam der Inhalt; er verjüngt sich, verschönt sich und bindet sich mit der schönen Form. So entwickelt sich nach vielen Versuchen, Bemühungen und Kämpfen während des sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts wieder eine zweite Blüte, die den Schluß des vorigen und den Anfang des jetzigen Jahrhunderts mit ihrem Glanz erfüllt und in der Vereinigung Goethes und Schillers ihre höchste Entfaltung findet. Deutlich unterscheiden sich in dem Entwicklungsgänge unserer Literatur zwei Haupt­ abschnitte, auf deren Grenze die Reformation wie ein Markstein sich erhebt. Sie trennt die alte, vom Geiste des gläubigen Christenthums getragene Zeit von der neuen, in welcher -an die Stelle der liefen Innigkeit des Christenthums die freie, schöne, auf dem neu belebten Studium deö hellenischen Alterthums erwachsene Humanität getreten ist. Allein diese beiden Hauptabschnitte, in deren jedem die Literatur zu ihrer höchsten Blüte sich erhoben hat, zeigen wieder je zwei Stufen der Entwicklung. Der erste Hauptabschnitt umfaßt etwa vom vierten Jahrhundert bis zur Mitte des zwölften die älteste Zeit, aus welche dann bis zur Reformation die alte Zeit selber mit der Entfaltung ihrer höchsten Pracht und mit dem trostlosen Anblick ihres Verfalles folgt. In dem zweiten Hauptabschnitte bildet die Thronbesteigung Friedrichs deS Großen eine außerordentlich bedeutende Epoche und trennt die neue von der neueren Zeit, aus welcher letzteren wieder sich etwa vom Jahre 1785, dem Ende der sogenannten Sturm- und Drangperiode, an bis zu dem 1805 erfolgten Tode Schillers die zweite klas­ sische Zeit heraushebt.

Erster Hauptabschnitt. Die alte Zeit. Erste Periode.

Die älteste Zeit. Vom vierten Jahrhundert bis zur Mitte des zwölften Jahrhunderts. I.

Die Poesie.

§. 87. Auö den schriftlichen Aufzeichnungen römischer Schriftsteller erhalten wir die Kunde von unserer ältesten Poesie. Von ihnen erfahren wir, daß unsere deutschen Vorfahren

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Einleitung.

den Gesang außerordentlich liebten und pflegten, ohne eine Sängerkaste zu besitzen (barditus ist nichts als ein KriegSgesang in dumpfem Tone, der durch Anlegung des geöffneten MundeS an die Schildeswölbung hervorgerufen wurde), daß sie den Gott Tuisco und dessen Sohn Mannus als die Stammväter des Volkes und den Hermann (Harimannus; hari, her! — Heer) als den Befreier Deutschlands feierten. Überreste von diesen ältesten Ge-^ dichten besitzen wir nicht. Ferneren Liederstoff gewährte besonders die durch und durch mythologische Siegfriedssage. Die Personen derselben mögen wohl ursprünglich Dämonen und Götter gewesen sein, wie ja auch von Siegfried keine eigentlichen Helden-, sondern ausschließlich Wunderthaten erzählt werden. Durch die Völkerwanderung im vierten und fünften Jahrhundert wuchs der Liederstoff. Die Thaten des Gothenkönigs Theoderich des Großen (Dietrichs von Bern), von welchem der Frankenkönig Chlodwig sich einen Zitherspieler senden ließ, und seines Lehnsmannes Hildebrand, sowie dessen Sohnes Hadubrand, wurden vielfach besungen, ebenso die Kriegszüge des Hunnenkönigs Attila (Etzel), dessen Vernichtung auf den katalaunischen Feldern schon früh ein Gegenstand der Poesie geworden sein muß. Einen reichen Stoff für die erzählenden alten Gesänge der alten Deutschen lieferten ferner die Thaten und der Untergang der Helden aus der B u r g u n d e r s a g e, der Könige Gunther (Gundahari), Gernot (Gernot oder vielmehr Godomohari) und Giselher (Gisalahari), als deren Vater Gibich (Gibico) genannt wird, und endlich die Schicksale ihrer Schwester Kriemhild. Aus diesen Gesängen erwuchs später das herrliche Nibelungen-Lied, wie das Gudrunlied aus den Liedern des nördlichen Deutschlands, welche von dem Friesenkonige Hetel und seiner Tochter Gudrun, dem Normannenkönige Ludwig und seinem Sohne Hartmut und dem sangeskundigen Dänenkonige Horand singen. tz. 88. Karl der Große hat sich nicht blvö durch Gründung von Klosterschulen und durch Heranziehung gelehrter Männer des Auslandes z. B. des Angelsachsen Alkuin, des Peter von Pisa, deS Paulus Diaconus aus Forli in Italien, an seinen Hof ein großes Verdienst um die Ausbreitung der Bildung unter seinen Völkern erworben, sondern auch durch seine eigenen Bemühungen um Erlernung deS Lesens und Schreibens und durch sein ausgezeichnetes Wirken im Frieden, wie durch seine Heldenthaten im Kriege. Nach einer alten Notiz wird ihm aber auch eine Sammlung, d. h. eine schriftliche Aufzeichnung der alten Gesänge zugeschrieben, die späterhin durch Ludwig den Frommen vernichtet worden sein soll, weil ihm diese heidnischen Gesänge ein Greuel gewesen. Daher zunächst wohl kommt es, daß wir von dem reichen Liederschätze jener Zeit nichts übrig haben als: 1) ein Bruchstück des Liedes von Hildebrand und Hadubrand, welches aus dem achten Jahrhundert stammt, zur Sammlung Karls des Großen aber wohl nicht gehört hat. Es ist enthalten auf dem ersten und letzten Blatte einer Kasseler Handschrift. Eine wichtige Probe ältester Poesie, erzählt es von dem Streite, der sich zwischen Hadubrand und seinem Vater Hildebrand entspann, als dieser aus der Verbannung in die Heimat zurückkehrte; 2) das Gedicht Walther von Aquitanien, welches in lateinischen Hexametern von einem Mönche in St. Gallen verfaßt ist. §. 89. Den Geistlichen war behufs der Befestigung des Christenthums sehr daran gelegen, alles, was in dem deutschen Volke die Sehnsucht nach der verlorenen alten Götter­ welt wiederum wachrufen und einen Rückfall ins Heidenthum herbeiführen konnte, zu be­ seitigen. Sie traten deshalb nicht allein feindselig gegen die bisherige deutsche Volkspoesie auf, sondern suchten sie auch durch eine geistliche Poesie zu ersetzen, die ihren Stoff aus der kirchlichen Gelehrsamkeit der damaligen Zeit schöpfte. Die beiden merkwürdigsten unter diesen Dichtungen sind die beiden Evangelien Harmonien, welche in neuerer ZeüHeliand und Krist genannt worden sind. Erstere, die altsächsische, gehört zu einem größeren Werke, das die Geschichte von der Schöpfung an bis zum Erwe des neuen Testaments erzählt har. Sie hält sich genau an die Berichte der Evangelisten ohne

Übersicht der Literatur-Geschichte.

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etwas Wichtiges zu übergehen. Sie soll von einem Bauern verfaßt sein, den Ludwig der Fromme damit beauftragt und außerdem eine göttliche Stimme dazu berufen habe. Die zweite, die althochdeutsche, ist von Otfried, einem Benediktiner-Mönche von Weißen­ burg im Elsaß, verfaßt und von ihrem Verfasser dazu bestimmt, den Deutschen als ein christliches Heldengedicht zu dienen. §. 90. Daß aber neben der geistlichen Poesie doch auch noch eine weltliche Poesie fortgedauert hat, zeigt das sehr interessante Ludwigslied. Dieses stammt auS dem neunten Jahrhundert und verherrlicht den Sieg, welchen Ludwig III., ded Sohn Ludwigs des Stammlers, im Jahre 881 bei Saucourt über die Normannen erfochten hat. Es muß unmittelbar nach der Schlacht gedichtet sein. §. 91. Als von Otto I. die erste Verbindung zwischen den deutschen Königen und Italien angeknüpft und unter seinen Nachfolgern so sehr befestigt wurde, daß über Italien Deutschland vernachlässigt wurde, da hörte auch die eigentliche deutsche Dichtung fast ganz auf. Der folgenden, ereignißreicheren Zeit blieb es vorbehalten, sie nicht blos aus ihrem Schlummer wachzurütteln, sondern sie ihrer ersten Blüte entgegenzuführen. §.92. Die ältesten deutschen Gedichte sind in alliterirenden Versen geschrieben. Die Alliteration trifft die betonten Wörter, die Liedstäbe, dient zur Zusammenhaltung der einzelnen Verse und wird wegen der Ähnlichkeit derselben mit znsammengefügten Stäben

auch Stabreim genannt. Im Hildebrandsliede, in welchem sich die Alliteration über je zwei zusammenhängende Halbverse erstreckt, ist sie ganz vollständig. In derselben Form ist der Heliand geschrieben, während durch Otfried in seinem Stift der Reim eingeführt worden ist. Er bediente sich vierzeiliger Strophen und zwar so, daß je zwei Langzeilen, in deren jeder vier stark betonte Wörter sein müssen, durch den Reim innig verbunden werden, der hier nicht blos Zierat, sondern wirkliches Bindemittel ist. An genaue Reime, die erst seit 1186 in Deutschland üblich wurden, ist bei Otfried noch nicht zu denken; er reim: auf eine Silbe, ohne daß vollständige Kongruenz in den Konsonanten und Vokalen vorhanden ist; ja es finden sich auch einzelne ungereimte Langzeilen. Das Lndwigslied endlich besteht auS ungleichzeiligen, gereimten Strophen; mir der Hebung des Tones im Liede tritt auch die sechszeilige Strophe ein. II.

Die Prosa.

§. 93. Das älteste, aber auch bedeutendste prosaische Werk auS dieser Zeit hat Ulfila, der von 348 bis 388 Bischof der Westgothen war, in seiner Bibelübersetzung hinterlassen, die sich mit Ausnahme der beiden Bücher von den Königen und der beiden Bücher Samuelis über das alte und neue Testament erstreckte, aber nicht vollständig auf uns gekommen ist. Im Codex argenteus zu Upsala findet sich der größte Theil der Evan­ gelien rebst einigen Bruchstücken des paulinischen Briefes an die Römer, wozu durch einen vom Kardinal Mai 1817 zu Mailand anfgefundenen Palimpsest noch die paulinischen Briefe and einige Bruchstücke des alten Testaments gekommen sind. Die übrigen prosaischen Werke sind meist lateinisch geschrieben und durchweg geistlichen Inhalts.

Zweite Periode.

Die alte Zeit. Von der Milte des zwölften Jahrhunderts bis zum Anfänge der Reformation.

Erster Zeitraum. Bon der Milte des zwölften bis zum Schluffe des dreizehnten Jahrhunderts.

I.

Die Poesie.

§. 94. Während der alten Zeit, die bis zur Reformation hinreicht und namentlich in ihren Anfänge die erste Blütezeit unserer Literatur in sich schließt, herrschte bei Hoch

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Einleitung.

und Gering, bei Reich und Arm, am Hofe der Fürsten wie im Kreise des Volkes in ganz Deutschland eine Liedeslust und Gesangesfröhlichkeit, wie niemals wieder; eS sah aus, als wäre daS ganze deutsche Volk zu einer einzigen Sängerfamilie geworden. Gewichtige Ursachen führten diese Lust am Gesänge und in Folge derselben die erste Blütezeit unserer Nationalliteratur herbei. Das glorreiche Kaisergeschlecht der ritterlichen Hohenstaufen, erfüllt von Heldenmuth und Kampfeslust, ließ den Glanz des deutschen Kaiserthrones weit­ hin aufleuchten über die übrigen christlichen Throne und war nicht blos selber ein der ver­ herrlichenden Poesie würdiger Gegenstand, sondern pflegte auch in allen seinen Gliedern die edle Kunst des Gesanges und Dichtens. Nicht minder einflußreich auf die Poesie jener Zeit waren aber auch die Kreuzzüge. Diese, an sich schon die Geister erregend, näherten die Deutschen den sangeSkundigen und sangeslustigen südlichen Völkern und spornten sie zur Nachahmung an. Zugleich eröffneten sie ihnen den sagenreichen und wunderbaren Orient, die nie versiegende Quelle herrlichen Liederstoffes und gewährten ihnen einen fast unerschöpflichen Schatz neuer Ideen, neuer Bilder, neuer Anschauungen. §.95. So gelangte unsere Literatur zu ihrer erstenBlütezeit, welche durch ursprüngliche Natürlichkeit und durch vollkommene Volksthümlichkeit ausgezeichnet war; sie brach aber nicht plötzlich und auf einmal herein, sondern wurde durch eine Zeit des Überganges allmählich herangeführt. Diese dauerte etwa von 1150 bis 1190. Sie

trug die sicheren Zeichen des hereinbrechenden Gesangesfrühlings zwar bereits an sich, erinnerte aber doch in der Sprache und im Versbau auch noch an die eben vergangene Zeit. Jener fehlte es nämlich an völliger Reinheit, diesem mangelte die Sorgfalt und Strenge und der genaue Anschluß an den Gang der Erzählung. Von dem Hofe der thüringischen Landgrafen, an welchem als eifrigster Altmeister Heinrich vonVeldeke den Mittelpunkt strebsamer Dichter bildete, ging die neue Kunstrichtung aus, die später den Namen der höfischen Dichtung erhielt. Sie blieb aber schon jetzt nicht ohne Einfluß auf die Dichtungen dieser Vorbereitungszeit. Diese Dichtungen sind entweder geistlichen Inhalts, wie das Annolied, welches die Geschichte der Welt von der Schöpfung bis auf den zu Köln'1075 verstorbenen Erzbischof Anno erzählt, und die Erzählung vom PilatuS; oder sie sind weltlichen Inhalts, wie das Rolandslied oder die Roncevalschlacht, das vom Pfaffen Konrad auf den Wunsch der Gemahlin Heinrichs deS Löwen verfaßt sein soll, die Erzählung vom Könige Rother und das vom Pfaffen Lamprecht gedichtete Alexanderlied. Hieher sind auch die Gedichte zu rechnen, in denen die ersten Anfänge lyrischer Kunst sich zeigen und eine bewundernswürdige Tiefe und Innigkeit deS Gefühls sich kundgiebt. Ihre Verfasser sind besonders der von Kürenberg, ferner Spervogel, der in seinen Liedern vornehmlich die Jungfrau Maria lob­ preisend verherrlicht, Dietmar von Aist und, vor allen hervorragend, Heinrich von Deldeke, dessen Eneit (eine Bearbeitung der Äueassage) als die eigentliche Vorläuferin der höfischen Poesie angesehen werden darf. §. 96. Auf diese Vorbereitungs- und Übergangszeit folgt die erste Blütezeit, welche ein Jahrhundert umfaßt und bis zum Schluffe des dreizehnten Jahrhunderts reicku. Sie läßt eine zwiefache Gestalt der Poesie, die Natur- oder Volksdichtung und dieKunst- oder Hofdichtung, unterscheiden. Ihre Verschiedenheit, die sich beson­ ders rücksichtlich der epischen Dichtungen geltend macht, zeigt sich ebensosehr in dem Inhalte wie in der Form und rücksichtlich der Sänger. Den Stoff für die Volksdichtung liefern die Thaten deS Volkes selber; ihr gehört alles an, was mit dem Leben, mit der Erfahrung, der Anschauung und Geschichte des Volkes innig verbunden und verwachsen ist. Was das Volk bewegt und erregt und in Thätigkeit setzt, das spricht der Sänger aus; so ist er eigentlich der Mund des ganzen Volkes, seine Dichtung daS eigentliche Geschichtsbuch desselben. Des Dichters Auffassung und Persönlichkeit tritt ganz zurück, und sein Name wird vergessen. In der höfischen Poesie dagegen bilden die eigenen Erlebnisse des Dichters,

Übersicht der Literatur-Geschichte.

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seine persönlichen Erfahrungen und seine Anschauungen den Hauptgegenstand der Dich­ tung. Er malt daö Leben nicht, wie es ist, sondern wie es ihm erscheint. Er halt sich nicht an die nationalen Gesangesstoffe, er borgt sie vom AuSlande, um sie in deutsche zu verwandeln, sie als deutsche zu behandeln, indem er an ihnen seine poetische Kraft und Begabung versucht. Daher tritt auch der Dichter in den Vordergrund; er wünscht, daß sein Name bekannt werde, und nennt sich. Die Volkspoesie also ist objektiv, die Hofpoesie subjektiv. Was die Form betrifft, so treten die Volksdichtungen in der Helden- oder Nibelungenstrophe auf, während die höfischen Dichtungen in den sogenannten kurzen Reimpaaren verfaßt sind, d. h. in paarweise gereimten Zeilen von drei oder vier Hebungen. Während endlich als die Vertreter der Volkspoesie die fahrenden Sänger überall da erscheinen, wo eine größere Volksmenge beisammen ist, wird die höfische Poesie von den Adligen gepflegt. Der Vortrag jener war schmucklos, aber natürlich und kräftig, der Vortrag dieser allerdings kunstvoller und kunstreicher, aber auch weit weniger kräftig und natürlich.

A. Die Volksdichtung. a) Die epische Poesie. §. 97. Die epische Volksdichtung entnimmt ihren Stoff zunächst den folgenden sechs Sagenkreisen: dem fränkischen, dessen Hauptheld Siegfried von Santen ist, dem burgundischen, der die Sagen von den Königen Gunther, Gernot und Giselher, von ihrer Schwester. Kriemhild und ihren Mannen enthält, dem ostg ethisch en, der von Dietrich von Bern und seinen Recken, den Wölflingen, erzählt, dem hunnischen, dessen Mittelpunkt der in der Etzelburg (Ofen) residirende. Etzel bildet, dem norddeutschen (friesisch-dänisch-normannischeu), deffen Sagen von dem Hegelingenkönige Hetel und seiner Tochter Gudrun, von dem sangeökundigen Däuenkönige Horant, von den Normannen­ königen Ludwig und Hartmut bandeln, und dem lombardischen, der aus den Sagen von den Königen Rother, Otnit, Hugdierrich und seinem Sohne Wolfdietrich besteht. Sie hat viele herrliche Dichtungen aufzuweisen, zunächst die beiden größten deutschen Helden­ dichtungen, in denen mehrere Sagenkreise vereint erscheinen, das Nibelungenlied und daö Gndrunlied. Ersteres schließt zwanzig ursprüngliche und alte Lieder in sich und ist aus zwei Theilen, Siegfrieds Tod und der Nibelunge Noth, zusammengesetzt, denen als Anhang die „Klage" angefügt ist. DaS Gudrunlied ist der griechischen Odyssee ver­ gleichbar. Der epischen Volksdichtung gehören ferner mehrere Gedichte an, deren Inhalt nur aus einem Sagenkreise geschöpft ist, besonders das Lied vom gehörnten Sieg­ fried, das Eckenlied (oder Eckenausfahrt) und König Lau rin (oder der kleine Rosengarten), endlich auch diejenigen Dichtungen, die nur eine weitere Ausführung von einzelnen Theilen einzelner Sagen bilden, unter denen der Rosengarten zu Worms mit der komischen Persönlichkeit des Mönches Jlsan besonders intereffant ist. An die Heldendichtung lehnt sich die Thiersage, welche aus der ältesten Zeit und der innigen Verbindung des Menschen mit der Natur stammt. Sie wurde zuerst in Reineke dem Fuchs von Heinrich dem Glichesäre bearbeitet, deffen Bearbeitung im Anfänge des dreizehnten Jahrhunderts eine. Umarbeitung erfuhr; dann wurde sie im fünf­ zehnten Jahrhundert von dem Westfalen Nikolaus Baumann ins Plattdeutsche über­ tragen und gab die Veranlassung zu der Thierfabel (dem Bispel). Diese benutzte daö Thierleben als ein Abbild des menschlichen Lebens und wurde vorzüglich von Stricker („dieWelt"), von Ulrich Boner („derEdelstein") und von Gerhard von Minden (Bearbeitungen von äsopischen Fabeln) gepflegt, der dem vierzehnten Jahrhundert an­ gehört. Tie epischen Gedichte mit vorherrschend didaktischer Tendenz (Lehr- und Spruch­ gedichte-, wie Freidanks Bescheidenheit, Hugo von Trimbergs Renner, der Windsbecke und

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Einleitung.

die Windsbeckin, sind vom geringerem Werthe, weil sie sämmtlich des poetischen Gehalte­ mehr oder weniger entbeh-ren.

b) Die lyrische Poesie. §. 98. DaS Volk hat gewiß auch in dieser Zeit eigentliche Lieder besessen, aber wir haben keine derselben übrig. Sicherlich pflanzten sie sich von Munde zn Munde fort, wurden deshalb nicht ausgezeichnet und meist durch die kunstvolleren höfischen Lieder verdrängt. So tritt denn das eigentliche Volkslied erst dann hervor, als die Hofpoesie verstummt.

c) Die dramatische Poesie. §. 99. Die allerersten Anfänge der dramatischen Dichtung fallen allerdings schon in diese Zeit; allein sie sind so schwach, daß es besser ist, sie zugleich mit ihrer allmählichen Fortbildung zu betrachten, die den späteren Jahrhunderten angehört.

B. Die Hosdichrung. a) Die epische Poesie. §. 100. Die episch en Dichtungen der höfischen Poesie zerfallen in Heldendichtnngen, Legenden und poetische Erzählungen. Die Heldengedichte schöpfen ihren Stoff aus fremdländischen Sagenkreisen, nämlich aus dem französischen von Karl dem Großen und seinen Helden, aus dem spanischen vom heiligen Gral, aus dem brittischen vom Könige Artus und seiner Tafelrunde und endlich aus dem antiken, der die alten griechischen und römischen Sagen, besonders die Trojasage, die Äneassage und die Sagen

von Alexander dem Großen enthält. Die höfischen Dichter haben durch ihre Bearbeitungen diese Sagen jedoch in vollkommen deutsche verwandelt. Der spanische und brittische Sagen­ kreis sind in den deutschen Dichtungen stets mit einander vereinigt; beide zusammen mit dem französischen heißen die romantischen. Unter den Verfassern höfischer Heldendichtuugen strahlen besonders hervor: Herr Wolfram von Eschenbach, dessen hechberühmtes Gedicht Parcival der Gral- und Artus­ sage angehört, Herr Hartmann von Aue, der sich durch die dem brittischen Sagenkreise zugehörigen Dichtungen Er ec und Iw ein ausgezeichnet hat, Meister Gottfried von Straßburg, der Verfasser von Tristan und Isolde, und Meister Konrad von Würz­ burg, dessen Trojanerkrieg sich besonders durch eine wohlklingende Sprache und gut­ gebaute Verse auszeichner. §. 101. Die Leg endendichtnngcn dieser Zeit gewähren einen rührenden Blick in das kindliche Glanbensleben des deutschen Volkes, in welches wir uns aber hineindenken muffen, wenn wir diese Dichtungen gehörig würdigen wollen. Der Legende vom heiligen Gregor auf dem Steine von Hartmann von Aue kann füglich der heilige Alexius Konrads von Würzburg an die Seite gesetzt werden. Die poetischen Er­ zählungen sind zum Theil ernsten Inhalts, wie Hartmanns von Ane armer Hein­ rich und Rudolfs von (Snttf guter Gerhardt, zum Theil aber auch launigen Inhalts, und unter diesen ist besonders der Pfaffe Amis berühmt, der von Stricker verfaßt und in dem „Abte von Sank: Gallen" von Bürger als Vorbild benutzt worden ist.

b) Die lyrische Poesie. §. 102. Die lyrische Poesie, deren Gegenstand vorzugsweise die den Deutschen eigen­ thümliche Minne ist, singt von der Liebeöfreude und dem Liebesleide des jugendlichen Herzens, das in schüchterner Verschämtheit der Geliebten Namen öffentlich zu nennen nicht über sich zu gewinnen vermag. Sie singt von dem Frühlinge, dem Mehrer und Pfleger der Liebe, und von dem Winter, ihrem bösen Feinde; sie singt aber auch in vollster Hul­ digung das Lob und den Preis der Frauen ; sie singt in ernsten Tönen ihre Loblieder auf

Übersicht der Literatur-Geschichte.

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die heilige Jungfrau Maria (himmlische Minne) und auf den Erlöser; sie singt von der Vergänglichkeit und Hinfälligkeit alles Irdischen; sie singt endlich von den Pflichten des Kaisers, von dem Rechte und Unrechte des Papstes gegen Kaiser und Reich, indem sie hier nahe an die didaktische Dichtung heranstreift. Sie erscheint in der Form von Liedern, Leichen und Sprüchen. Die Sprüche gehören fast ganz der didaktischen Poesie zu und erscheinen in einzelnen Strophen. Der Leich, d. h. „Spiel, Spiel auf der Zither", wurde zuerst von der geistlichen Poesie gebraucht, später aber auch für die weltliche verwandt. Er ist in keiner bestimmt erkennbaren Strophe oder doch in sehr verschiedenen Strophen verfaßt und deshalb durchweg mit Noten bezeichnet. Dadurch unterscheidet er sich sehr genau von den Liedern, deren Melodie nur der ersten Strophe vorgesetzt ist, und deren Stro­ phen nach einem bestimmten Gesetze gebaut sind. Diese Strophe, für den Gesang bestimmt, sollte schon durch ihre Form musikalisch wirken. Sie bestand aus drei Theilen; die beiden ersten Theile, die Stollen, waren vollkommen gleichmäßig gebaut und bildeten zusammen den A u f g e s a n g; der dritte Theil, der Abgesang, hatte verschiedenen Bau. Die Minnesänger, die dem ritterlichen Stande (Herren) mit vereinzelten Aus­ nahmen (Meister) angehörten, sangen ihre Lieder, die sie nicht aufschreiben, sondern durch mündliche Tradition verbreiten ließen, in ihren Kreisen unter ihren Standesgenossen. Als die bedeutendsten (vgl. §. 95, Ende) sind Walther von der Vogelweide, Nilhart von Riuwenthal in Baiern, Ulrich von Lichtenstein, Heinrich Frauenlob (von Meißen), Reinmar von Zweter, Kaiser Heinrich VI., König Wenzel von Böhmen und Markgraf Otto IV. mit dem Pfeile von Brandenburg zu erwähnen. Erst als der Minnesang seinem Untergange entgegeneilte, wurden Sammlungen der Minnelieder veranstaltet, unter denen die Manessesche Sammlung die berühmteste ist. Sie stammt aus dem vierzehnten Jahr­ hundert, befindet sich in Paris und enthält Lieder von 140 Minnesängern.

II.

Die Prosa.

§. 103. In dieser Zeit, wo die Lust am Gesänge so rege, der Sinn für Rhythmus und Reim so lebendig war, konnte die Prosa eine Stätte nicht finden; sie blieb beschränkt auf die geistliche Beredsamkeit, auf Sammlungen von Rechten und Gesetzen, auf öffentliche Urkunden und wurde auch auf diesem Gebiete vielfach durch die lateinische Sprache ver­ drängt. Wo sie aber verwendet wurde, wie in dem Schwabenspiegel und dem Sachsenspiegel, der auf jenem zumeist beruht und das sächsische Stadt- und Landrecht enthält, da zeigte sie sich für prosaische Darstellung im Ganzen genugsam brauchbar.

Zweiter Zeitraum.

Vom Schluffe des dreizehnten bis zum Anfänge des sechzehnten Jahrhunderts (bis zur Reformation). I.

Die Poesie.

§. 104. Mit dem Untergange der Hohenstaufen begann auch die Blüte unserer Poesie zu welken. Das heilere Gesangesleben schwand von den Burgen und aus den Palästen; es schwand auch, wenngleich langsamer, aus den Kreisen des Volkes. Mannig­ facher Art waren die Ursachen des schnellen Verfalles der deutschen Poesie in dieser Zeit. Die Einheit des deutschen Volkes zerriß, das Nationalbewußtsein erstarb nach dem Tode des letzten Hohenstaufen, und weder eine größere Unternehmung nach außen, noch eine gemeinsame That im Inneren des Reiches festigte sie von neuem. Der Kaiser Rudolf von Habsburg und alle seine Nachfolger richteten ihr ganzes Streben auf Gründung und Be­ festigung ihrer Hausmacht; die Fürsten und Herren dachten nur auf Vermehrung ihrer Macht, ihres Ansehens und ihres Reichthums. Staat und Kirche, Fürsten und Papst haderten mit einander ununterbrochen und häuften gegenseitig Vorwürfe und Verwün­ schungen auf einander, zu denen das Räuberleben (Faustrecht) auf der einen, zügellose

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Einleitung.

Sittenlosigkeit auf der anderen Seite reichliche Veranlassung boten. Trübe, traurige, verderbenbringende Ereignisse aller Art, wie Mißwachs und Überschwemmung, HungerS-

noth und Pestilenz, verscheuchten auf lange Zeit alle Fröhlichkeit und Freudigkeit aus den Häusern der Bürger und den Palästen der Fürsten. Der allmählich reichgewordene Bür­ gerstand nahm sich der von den Ritterburgen vertriebenen Poesie an, pflegte sie aber auf handwerksmäßige Weise. Der Geist wurde von dem Streben nach Höherem und Edlerem auf das Niedere, Materielle abgelenkt und durch die neuen im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert gemachten Erfindungen und Entdeckungen in die Ferne hingerichtet. Die Erfindung der Buchdruckerkunst im besonderen wandelte die auf Gesang und lauten Vor­ trag berechnete Dichtung in eine für die stille Lektüre geschriebene Reimerei um; sie förderte ferner die Gelehrsamkeit, die vom vierzehnten Jahrhundert an in Deutschland sich aus­ breitet und die Gründung von Gelehrtenschulen (Prag, Heidelberg, Leipzig) veranlaßt. Die Gelehrsamkeit aber bahnte im Gegensatz gegen die alten vaterländischen Dichtungen das Studium der römischen und griechischen Gedichte an und forderte zur Nachahmung derselben in lateinischen Verifikationen auf. So eilte die Poesie jener Zeit mit schnellen Schritten ihrem völligen Untergänge ent­ gegen, vor welchem sie erst durch die Reformation bewahrt werden sollte.

a. Die epische Dichtung. §♦ 105. Die alten vaterländischen Heldendichtungen, wiewohl noch eine Zeit lang vom Volke unvergesien, blieben dennoch nicht in ihrer ursprünglichen Volksthümlichkeit erhalten. Sie wurden, und zwar nicht die bedeutendsten derselben, das Nibelungen- und Gudrunlied, sondern die weniger bedeutenden Sagen von den Königen Otnit, Hugdietrich und Wolfdierrich, Laurin und dem Rosengarten zu Worms, in dem Heldenbuche um­ gebildet und verunstaltet, vas von Kaspar von der Roen verfaßt ist. Noch geschmackloser waren die Um- und Nachbildungen, die mit den Heldendichtnngen der höfischen Poesie vor­ genommen wurden und in "em Buche der Abenteuer enthalten sind.

b. Die lyrische Dichtung. §. 106. Obwohl sich der Minnegesang noch am längsten seinen Reichthum an liefen Empfindungen und den Schmuck seiner anziehenden Form erhielt, so ging dennoch auch diese Dichtung bald von den Rittern zu den Bürgern, von den Herren zu den Meistern über und wandelte sich um in den Meistergesang. Neben dem Handwerke und in ähnlicher Weise wie dieses wurde der Meistergesang von den ehrsamen Bürgern besonders süddeutscher Städte (Mainz,, Straßburg, Nürnberg, Augsburg, Regensburg, Ulm) sonntags und in den Feierabendstunden nach fest bestimmten Regeln (Tabulatur) gepflegt. In ihren freien Gesellschaften (Singeschulen) sonderten sich die Meistersänger nach bestimmter Rang­ ordnung in Schüler, Schulfreunde, Singer, Dichter und Meister, aus welchen letzteren der Vorstand (das Gewerk) gewählt wurde, nämlich der Büchsen-, Schlüssel-, Merk- und Kronmeister. Den Gesängen war nur ein ehrbarer, sittlicher, frommer Inhalt erlaubt, der deshalb am zweckmäßig sten aus der Bibel zu schöpfen war. Tie beim Hauptsingen für würdig befundenen Lieder wurden mit dem Hauptpreise, der silbernen Kette mit der Denkmünze, oder nur mit dem Kranze gekrönt, der aus seidenen Blumen gewunden und kostbar verziert war. Der Meistergesang trug nur zur Belebung der Sittlichkeit unter dem Handwerkerstande, durchaus nicht zur Hebung der Poesie bei. Wunderbarer Weise erhielt er sich in einzelnen Städten, nachdem längst die zweite Blüte der Poesie sich zu ent­ falten begonnen hatte, in Nürnberg z. B. bis 1770, in Ulm sogar biö 1830. Von größerer Bedeumnz ist das Vo lkslied, das seinem Inhalte nach in ein welt­ liches und in ein geisilickes zerfällt. Tie Anfänge des weltlichen Volksliedes reichen gewiß in die erste klassische Zeit binein (§. 98); seine Blüte, die in den Anfang

Übersicht der Literatur-Geschichte.

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des sechzehnten Jahrhunderts fällt, welkte gleich hin, sobald man Volksliedersammlungen zu veranstalten, es also aus dem Munde des Volkes, seiner einzigen gedeihlichen Stätte, auf das todte Blatt zu übertragen begann. Es singt alles, was der Einzelne erlebt hat, aber in aller Herzen seinen Wiederhall und Nachklang findet, und verbindet mit den Worten eine kunstlose, aber ansprechende Melodie. Das geistliche Volkslied, welches zunächst an die Lieder der göttlichen Minne anknüpfte, trat nach allmählicher Verdrängung des lateinischen Gesanges beim Gottesdienst, der sogenannten Leisen (von Kyrie eleison), etwa mit dem Ende des vierzehnten Jahrhunderts auf. Es wurde der Vorläufer des späteren eigentlichen Kirchenliedes, da es religiöse Empfindungen des Dichters aussprach,

c. Die dramatische Dichtung. §. 107. Die dramatische Dichtung knüpfte an den religiösen Kultus an und wurde deshalb auch, besonders in Frankreich, häufig Mysterium genannt. Sie entnahm ihren Inhalt aus der Religion und diente zunächst zur Veranschaulichung des durch Christus vollbrachten Erlösungswerkes. Diese Aufführungen (Passions-, Oster-- und Weihnachts­ spiele) wurden anfänglich in die Kirche, später als Volksspiele in das Freie verlegt. Sie wurden anfangs in lateinischer, später in arg verwilderter deutscher Sprache und in regel­ losem Versbau vorgetragen. Durch allmähliche Einstechtung weltlicher Scenen gaben sie die nächste Veranlassung zu dem weltlichen Schauspiel, wie die durch Muthwillen und Scherz gewürzten Fastnachtsspiele, die in den Familienkreisen zur Fastnachtszeit veranstaltet wurden, den ersten Keim zur Komödie enthielten. II.

Die Prosa.

§. 108. Der auf das Praktische und Materielle gerichtete Sinn dieser Zeit war, je ungünstiger für die Förderung der Poesie, desto günstiger und förderlicher für die Ver­ breitung und Entwickelung der Prosa. Die Geschichte, früher in die poetische Form gekleidet oder, besonders von den Geistlichen, in lateinischer Sprache verfaßt, fiel mehr und mehr den Laien anheim. Diese machten die deutsche Sprache für diese Gattung der Prosa geltend und legten den Grund zur deutschen historischen Prosa. Dieser stellte sich bald die Beredsamkeit würdig zur Seite, als die bedeutendsten Kanzelredner sich der deutschen Sprache in ihren Reden bisweilen, in ihren religiösen Lehr- und Erbauungs­ büchern fast ausschließlich zu bedienen begannen. Ihre vorzugsweise fördersame Ent­ wicklung endlich fand die Prosa durch die mehr und mehr beliebten Übersetzungs­

versuche aus den fremden Sprachen, besonders der lateinischen.

Iwerter Hauptabschnitt. Die neue Zeit. Erste Periode.

Die neue Zeit. Vom Anfänge der Reformation bis zur Thronbesteigung Friedrichs des Großen.

§. 109. Das Christenthum, das vom Beginne der deutschen Literatur auf dieselbe einen bedeutenden Einfluß ausgeübt hat, fängt von den mancherlei Schlacken, die sich im Laufe der Jahrhunderte ihm angesetzt haben, frei zu werden und seine ursprüngliche Rein­ heit wiederzugewinnen an. In Folge dessen ruft es auch auf dem Gebiete der Literatur das Ringen nach Läuterung und Reinigung hervor und weckt auch hier das Streben, zu geistiger Tiefe, zu geistigem Gehalte zurückzukehren, die schöne Form mit wahrem Inhalte zu verbinden und endlich wieder national zu werden. Diese Rückkehr zum Guten, diese Entfaltung der zweiten Blüte war aber unmöglich ohne siegreiche Bewältigung der ent-

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Einleitung.

gegenstehenden feindlichen Elemente; ein Kampf war nothwendig; aber der Kampf führte zum Siege: die deutsche Literatur drang durch Nacht zum Licht.

Erster Zeitraum. Vom Anfänge der Reformation bis zum Anfänge des siebzehnten Jahrhunderts. §. 110.

I. D i e P o e s i e. In dieser Zeit, die den Übergang- von der alten Zeit in die neue bildet,

gewann die Gelehrsamkeit, die sich immer mehr ausbreitete und auf das ausschließliche Studium nicht blos der römischen, sondern auch der griechischen Schriften sich erstreckte, einen immer größeren Einfluß auf die deutsche Literatur. Sie machte freilich zunächst das Nationalbewußtsein unsicher, erschloß aber wie zur Entschädigung dafür den Deutschen eine Fülle von neuen Anschauungen und weckte sie zu neuem geistigen Leben. Es galt nun, diese neuen Anschauungen mit deutschem Geiste aufzunehmen, die neuen fremden Stoffe mit den einheimischen aufs innigste zu verschmelzen, sie in deutsche umzuwandeln. Das blieb aber einer späteren Zeit aufbehalten, dieser Zeit gelang es nicht. Sie erhob sich nur bis zu einer sogenannten Gelehrtenpoesie, die ihr höchstes Streben darauf richtete, den fremdländischen Mustern nachzuarbeiten; sie beschränkte sich in ihrem Gewinne darauf, wenigstens gute Muster sich zu wählen. Aber auch hierzu wurde in diesem ersten Zeitraum nur der Weg gebahnt. Neben einer solchen Gelehrsamkeit vermochte die volksmäßige Poesie nicht länger ihr Dasein zu fristen; sie erstarb bis auf das Volkslied völlig, das aus ihr sich erhob. Nur das Kirchenlied gelangte zu schöner Blüte in Folge der größeren Glau­ bensfrische und Glaubensinnigkeit, die durch die Reformation hervorgerufen war. Der Kampf zwischen dem hinsterbenden Alten und dem frisch emporstrebenden Neuen förderte hier wie überall und immer die Satire, die Spottdichtung. Die dramatische Dichtung endlich schritt in ihrer allmählichen Entwickelung weiter fort.

a. Die epische Poesie. §. 111. An die Stelle des volksmäßigen und höfischen Epos, das fast ganz ver­ gessen ist, sind kleinere poetische Erzählungen getreten, die meist belehrenden In­ halts sind, oft sogar nur werthlose Reimereien enthalten. Nur in geringer Zahl sind sie durch Inhalt und Form anziehend, und dann haben sie meist den bedeutendsten Dichter jener Zeit zum Verfasser, Hans Sachs. 1494 zu Nürnberg geboren, lebte er daselbst bis zu seinem Tode 1576 als Schuhmacher; in der Kunst des Meistergesanges wurde er durch den Leineweber Nunnenbeck unterwiesen. Seine Dichtungen sind theils ernsten (Histori und Geschicht), theils scherzhaften Inhalts (Fabeln und gute Schwenk) und lesbar, wenn der Stoff aus dem bürgerlichen Leben gewählt ist. Ausgezeichnet durch edle Sprache und lebendige Darstellung ist auch Johann Fisch arts Erzählung von einer Wasser­ fahrt von Zürich nach Straßburg, die so schnell vollendet worden, daß ein von Zürich mitgenommener Hirsebrei noch warm in Straßburg ankam. Die Fabel fand nach dem Vorgänge des Hans Sachs ihre vorzüglichste Pflege durch Erasmus Alberns und Burkard Waldis. b. Die lyrische Poesie. §. 112. Auch die lyrische Poesie verliert des Bodens immer mehr: der Meister­ gesang entbehrt wie den poetischen Inhalt von Anfang an, so nun auch eine erträgliche Form, da das feinere Gefühl für Rhythmus und Reim den Meistersängern schnell ab­ handen kommt. Das Volkslied, einer kurzen Blüte genießend, wird durch die gelehrte Poesie erdrückt und verdrängt. Nur das evangelische Kirchenlied entwickelt sich, begünstigt durch den frischen Hauch, der in Folge der Reformation das Christenthum durch­ weht. Die evangelischen Christen strömen in ergreifenden Worten die Glaubensinnigkeit aus, von denen ihr Herz durchdrungen ist, an ihrer Spitze Martin Luther (geb. 1483,

Übersicht der Literatur-Geschichte.

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gest. 1546), ihm würdig sich anreihend Paul Speratus (von Sprotten), Nicolaus Decius und Nicolaus Hermann.

c. Die dramatische Poesie. §. 113. Durch den Einfluß des Studiums der griechischen, besonders aber der römischen Schauspiele nimmt die dramatische Dichtung einen ersten Anlauf zu größerer Regelmäßigkeit in der Anlage der Stücke, auch wohl zu angemessener Bertheilung des Inhalts; sie vermag sich aber noch nicht hinlänglich von dem religiösen Stoffe loszureißen. Die Aufführung der Stücke geschieht noch durch Handwerker und Studenten in Schulen, in den Rathhäusern, auch wohl im Freien. Hans Sachs, der auch hier nicht Unbe­ deutendes leistete (er hat 206 Tragödien, Komödien und Fastnachtsspiele hinterlaffen!), strebte danach, die dramatische Dichtung volköthümlich zu machen, und sein Streben blieb nicht ohne Erfolg. Die Theilnahme für die dramatische Poesie wuchs, die gesteigerte Theilnahme veranlaßte kurz vor dem Ausbruche des dreißigjährigen Krieges bereits in einzelnen Städten regelmäßige Aufführungen; ja ein Herzog von Braunschweig hielt sich eine eigene Schauspielergesellschaft, und großen Beifall ernteten englische Komödianten, welche 1600 in Deutschland umherzogen. II.

Die Prosa.

§. 114. Die Prosa, die sich zuletzt der allgemeinen Verderbnis nicht hatte entziehen können und eine entsetzliche Verwilderung der Formen zeigte, wurde durch Luthers An­ strengung und Sorgfalt und durch sein mühsames Forschen aus ihrer Verderbnis hervor­ gezogen, gereinigt, geläutert, gekräftigt. Die neuhochdeutsche Sprache wurde durch ibn geschaffen, durch seine Bibelübersetzung (1534), durch seine Predigten und seine vielen Sendschreiben an Fürsten und Städte befestigt und, auch mit Hülfe der Buchdruckerkunst, verbreitet. Sie ward mehr und mehr allgemein angenommene Schriftsprache, auf deren fernere Ausbildung die religiösen Streitschriften nicht ohne Einfluß blieben. Die prosaischen Schriften dieser Zeit bestehen in Volksbüchern (vom Till Eulenspiegel; das Lalenbuch; vom Schwarzkünstler Dr. Faust), in Sprichwörtersammlungeu, kleineren Unterhaltungsbiichern und Länderbeschreibungen. Sie sind einer weiteren Anführung nicht werth; doch möge hier die von Valentin Jckelsamer verfaßte deutsche Grammatik alö die älteste (1522) erwähnt werden.

Zweiter Zeitraum. Vom Anfänge des siebzehnten Jahrhunderts bis zur Thronbesteigung Friedrichs des Großen.

I.

D i e P o e s i e.

§. 115. Die Nachahmung fremdländischer Muster, die im vorigen Zeiträume zuerst eingetrrien ist, schreitet schnell vorwärts und führt jetzt zu einem vollständigen Siege der fremden Elemente über die deutschen. Die deutsche Anschauung wird vernichtet, das deutsche NationalitätSgefühl wird erstickt, und die herrliche Poesie des deutschen Mittel­ alters schwindet selbst aus der Erinnerung des Volks. Der dreißigjährige Krieg mit seinen Schrecken und das politische Übergewicht Frankreichs vernichten das deutsche National­ bewußtsein, verderben die deutsche Sitte, verunreinigen die deutsche Sprache. Zu dieser unerträglichen Abhängigkeit vom Auslande in Betreff der Poesie gesellt sich die Gelehr­ samkeit, die ihren Einfluß immer mehr erweitert und jetzt noch weit entschiedener als vorher an die Stelle aller und jeder volkSthümlichen Dichtung die gelehrte Poesie setzt. Diese schöpft ihren Inhalt nicht aus dem eigenen Herzen des Dichters; sie bietet nicht das, was der Dichter selbst empfunden, selbst gefühlt hat; sie bringt vielmehr das, was der Dichter gelesen, was er von anderen Dichtern und nicht einmal von den besten Dichtern des Alter­ thums, sondern von deren ungeschickten, albernen Nachtretern, von holländischen, italieniDieliz u. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur. 2. Aufl.

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Einleitung.

schen, französischen Dich.tern gelernt hat. An die Nachahmung derselben bindet er sich dann mit völliger Aufopferung seiner Selbständigkeit. Und was die gelehrte Poesie bringt, beruhet nicht auf der Plharttasic, fondern auf dem Verstände, und ist nicht für das Volk^ sondern für die Gelehrten gedichtet. Dazu gesellte sich ferner die verkehrte Ansicht, die man von der Poesie hatte. Sie galt nicht mehr für eine himmlische Gabe) sie wurde an­ gesehen wie jede andere Disciplin, welche nach bestimmten Regeln gelehrt, also auch erlernt werden kann, fast wie ein Handwerk, mindestens galt sie für eine erlernbare Fertigkeit im Reimen. WaS Wunder, wenn in Folge dieser Ansicht die größte Sorgfalt nicht auf den Inhalt, der erborgt war, sondern auf die Form gerichtet wurde. Bald fand die Meinung, weite Verbreitung, der gute Dichter müsse vor allem mit der griechischen und römischen Mythologie vertraut, mit einer Kenntnis der schönsten Stellen aus den bedeutendsten (namentlich lateinischen und französischen) Dichtern reichlich ausgestaltet und glücklich sein in der Wahl sinnreicher Beiwörter! War es zu verwundern, daß eine Poesie, von ber man eine so geringfügige Ansicht hatte, zu vorzugsweiser Anfertigung von Gelegenheits­ gedichten sich erniedrigte? Trotz aller dieser Mißstände ist aber dennoch ein Fortschritt der Poesie gegen die vorhergehende Zeit unverkennbar. Weder die Form, noch der Inhalt wurde vernachlässigt. Der Inhalt war zwar Nicht aus den besten Quellen geschöpft und fast durchweg erborgt und gestohlen, aber er war doch bereichert, hie und da auch vertieft worden. Die Form war vor fernerer Verwilderung geschützt, ja sie wurde nun allmählich mehr, als nothwendig war, berücksichtigt. Vor allem suchte man für die Metrik feste Grundsätze und für die Sprache Reinheit zu gewinnen. Wie für die Herstellung der Metrik Martin Opitz, so sind für die Reinigung der Sprache, weniger für die Hebung der Poesie selber, von großer Bedeutung die in dieser Zeit hervortretenden Sprachgesellschaften. Die wichtigste derselben, die fruchtbringende Gesellschaft oder der Palmenorden, wurde 1617 zu Weimar von mehreren Fürsten und Edelleuten, die deutschgesinnte Ge­ nossenschaft 1643 von Philipp vonZesen zu Hamburg gegründet. Die Gesellschaft der Pegnitzschäfer, 1644 von Harsdörfer und Klai gestiftet, verbreitete die nicht allein geschmacklose, sondern auch unnatürliche Schäferpoesie. Die Mitglieder endlich des von Johann Rist 1656 begründeten Elbschwanenordens betrieben die Poesie als etwas ganz Äußerliches.

Die Pflege dieser Poesie fiel zunächst dem nördlichen Deutschland anheim. Sie ging von Schlesien aus, wo schon früh die Gelehrsamkeit ihren Sitz und ihre Stätte gefunden hatte; sie gewann aber ihre Anhänger besonders in den protestantischen Ländern, welche auch die Gelehrsamkeit in Folge der Reformation mit besonderer Vorliebe ausgenommen hatten. In diesen Zeitraum fallen auch die Anfänge nicht blos des Romans (Amadis), der an die Stelle der uniergegcrngeuen Heldensage getreten und dem Auslande abgeborgt ist, sondern auch seiner (aus Italien stammenden) Schwester, der Novelle. Diese bot zuerst in Übersetzungen, nachher in freieren Nach- und Umbildungen Helden- und Liebesgeschichten oft in wunderlichster Vermischung dar und verbreitete dadurch den Geschmack an den Robinsonaden, die durch den Robinson Crusoe des Engländers Daniel Defoe ver­ anlaßt worden sind. Um eine anschaulichere Übersicht dieses Zeitraums zu ermöglichen, ist es besser, der in ihm hervortretenden Eigenthümlichkeit zu folgen und die Dichter und ihre Erzeugnisse nach den einzelnen Schulen und nicht nach den poetischen Gattungen zu gruppiren. §♦ 116. Den Anbruch der neuen Zeit verkündeten besonders Friedrich von Spee (Trutznachtigall) und Georg Rudolf Weckherlin, indem sie zwar noch hie und da in volksmäßigem Tone dichteren, aber schon rücksichtlich des Inhalts nach fremdländischen Mustern sich zu richten begannen. Die neue Zeit in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit trat

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durch die erste schlesische Schule hervor, als deren Vater mit Fug und Recht Martin Opitz genannt werden darf. Opitz (1597 zu Bunzlau am Bober geboren und nach mancherlei Irrfahrten 1639 zu Danzig an der Pest als königl. polnischer ReichShistoriograph gestorben) drang in seinem Buche „von der deutschen Poeterei" (1624) auf die Silbenmessung statt der Silbenzahlung und brachte den Alexandriner zur Geltung. Durch seine inhaltsleeren Gedichte hat er sich keinen Anspruch erworben, in der deutschen Literatur genannt zu werden, wohl aber durch sein erfolgreiches Streben, die deutsche Poesie unter den Gelehrten an die Stelle der lateinischen zu setzen. Bedeutender als Opitz ist Paul Flemming (1609 im sächsischen Voigtlande geboren und 1640 nach weiten Reisen in Hamburg gestorben), der auS Herzensdrang dichtete und die Empfindungen seiner Seele offenbarte. Er zählt zu den besseren Lyrikern dieser Zeit („In allen meinen Thaten u. s. w.") und kann selbst in den Gelegenheitsgedichten seine poetische Begabung nicht ganz verleugnen. Auch Friedrich von Logau (in Schlesien 1604 geboren und 1655 ge­ storben) ragt durch sein dichterisches Talent weit über seine Zeitgenossen hervor. Die Dar­ stellung seiner wahrhaften, nicht erheuchelten Empfindungen fesselt durch Gewandtheit; die meisten seiner Epigramme und Sinngedichte sind vortrefflich. Weniger bedeutend ist Andreas Gryphius (1616 zuGroß-Glogau geboren und nach vielen schweren Mißgeschicken und großen Reisen 1664 in seiner Vaterstadt gestorben). Er verdankt seine Erwähnung nur seinen Leistungen in der dramatischen Dichtung. Der dreißigjährige Krieg hatte nämlich auf diese Gattung der Poesie ganz besonders nachtheilig eingewirkt, und erst die Dichter der ersten schlesischen Schule vermochten nach dem Vor­ gänge Opitz' in den Deutschen für das Drama einiges Interesse anzufachen. Leider be­ nutzten sie zumeist unbrauchbare Muster (besonders die italienischen Schäferstücke- und die Tragödien des Seneca). Andreas Gryphius nun, der mit unverkennbarem Talent für die dramatische Dichtung begabt war, aber elenden Mustern folgte und daher geschmackloser, unnatürlicher, nach Effekt haschender Darstellung huldigte, förderte diese Gattung zunächst dadurch, daß er den Inhalt regelmäßig über einzelne Akte und Scenen vertheilte. Unter den verschiedenen Zwergschulen der ersten schlesischen Schule, welche die neue Poesie in Deutschland verbreiteten, ist keine so bedeutend, wie die der Königsberger Dichter. Diese schaarten sich um Simon Dach, den Verfasser der schönen geistlichen Lieder „Ich bin ja, Herr, in deinerMacht", und „O wie selig seid ihr doch, ihr Frommen" und auch des weltlichen, volksthümlichen Liedes „Ännchen von Tharau", und zeigen in ihren Dichtungen natürliche Herzlichkeit, innige Wärme und lebendige Empfindung. Merk­ würdig ist der Rosenorden (die Schule der Hamburger Dichter), der von Philipp von Zesen geleitet wurde und die „Reinlichkeit" der deutschen Sprache herstellen wollte, dabei aber in die tollsten Albernheiten verfiel. §. 117. Die Dichter der zweiten schlesischen Schule schloffen sich an Christian Hofmann von Hofmannswaldau und Daniel Kaspar von Lohenstein an. Sie glaubten die Poesie in der schönen Form allein gelegen und bemühten sich daher, diese möglichst reizend und anziehend zu machen, um durch sie allein zu wirken, geriethen aber dadurch in Schwulst, Bombast und vollkommene Unnatur. Durch sie sank die Poesie zu bloßer, unterhaltender, die Zeit vertreibender Reimerei hinab, welche jedermann glaubte erlernen zu können und daher auch erlernen wollte. Die scharf hervortretende Unnatürlichkeit dieser Dichtung bewirkte, daß sich viele Gegner derselben unter der Anführung des zittauer Rektors Christian Weise (in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts) erhoben. Sie verfielen jedoch in das entgegengesetzte Extrem. An die Stelle des Schwulstes und der Übertreibung wollten sie die Ungezwun­ genheit und Natürlichkeit setzen, förderten aber die unerträglichste Nüchternheit zu Tage und wurden dafür mit dem Spottnamen der „Wasserpoeten" belohnt. Glücklicherweise war das Gefühl für Schönheit noch nicht so ganz erstorben, daß man

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Einleitung.

in der Hofmann-Lohensteinschen Dichtungsweise und in der „Poesie der Wasserpoeten" nicht den vollkommenen Gegensatz der Poesie hätte erkennen sollen. Es gab noch dichterische Gemüther, welche die Poesie von den betretenen Irrwegen auf den richtigen Weg zu lenken, für ihre Dichtungen neben künstlerischer Form einen würdigen Stoff zu erringen sich bemüheten. Unter diesen selbständigeren Dichtern sind der Freiherr von Kanitz, Günther und Brockes, besonders aber Wernicke hervorzuheben. Letzterer tadelt eindringlich und nachdrücklich die bisherigen Verkehrtheiten auf dem Gebiete der Poesie und weist auf die griechischen und römischen Dichtungen als allein würdige Muster hin. §. 118. Die wahre Poesie hatte sich indessen nur in dem Kirchenliede erhalten, das in einfacher, edler, würdiger Form durchaus wahre, wirkliche, volkstümliche Empfin­ dungen zum Ausdruck brachte. Die Religion war in Folge der Reformation lebendig in allen Herzen. Die Protestanten, welche wegen des Glaubens oft gedrückt wurden und für ihn duldeten und litten, hielten ihn desto fester in ihrem Herzen. Sie strömten ihre Liebe zu Christo, ihre Anhänglichkeit an ihre Kirche in ungeheuchelten und ungeschminkten Worten aus, die von Herzen kamen und zum Herzen sprachen und noch sprechen. Neben den schon erwähnten Flemming und Dach ist zunächst Johann Heermann zu nennen, der von körperlichen Leiden und von den Drangsalen des dreißigjährigen Krieges gepeinigte Verfasser der beiden schönen Lieder „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen" und „O Gott, du frommer Gott". Mehr gefeiert als er ist Paul Gerhard, der durch sein treues Festhalten am Lutherthume bekannt ist und so viele protestantische Kernlieder ge­ dichtet hat, besonders: „O Haupt voll Blut und Wunden", „Befiehl du deine Wege", „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt", „Ich singe dir mit Her; und Mund", „Nun laßt und gehn und treten", „Nun ruhen alle Wälder". Der vielgeprüfte Georg Neumark, der in aller seiner Noth und in allem seinem Elende sein Vertrauen auf Gott nicht verlor, ist der Verfasser des schönen Liedes „ Wer nur den lieben Gott läßt walten". Der einstige Rektor der Schule zum grauen Kloster zu Berlin, Samuel Rodigast, spricht seine felsen­ feste Zuversicht auf GotteS Weisheit in dem Liede aus „WaS Gott thut, das ist wohl­ gethan". Martin Rin kart, der zusammen mit seiner eilenburger Gemeinde von den schwersten KriegSnöthen, von Pest und Hungersnoth gequält wurde, drückt sein Entzücken über den lange ersehnten Friedensschluß (1648) auö in dem Liede „ Nun danket alle Gott". Der Gemahlin des großen Kurfürsten, Luise Henriette von Brandenburg, ver­ danken wir daö herrliche Lied „JesuS meine Zuversicht". Von Johannes Scheffler (Angelus Silesius), der Leibarzt Kaiser Ferdinands III. war, später zur katholischen Kirche überging und in den geistlichen Stand trat, ist daS rrefsliche Kirchenlied verfaßt „Mir nach, spricht Christus, unser Held^. II.

D i e P r o s a.

§. 119. Noch ungünstiger als auf die Poesie wirkten die in der damaligen Zeit begründeten Verhältnisse auf die Prosa ein. Diese wurde außerordentlich eingeengt einer­ seits durch die französische Sprache, die in den vornehmen Kreisen und am Hofe als Um­ gangssprache gebraucht wurde, andrerseits durch das Lateinische, dessen die Gelehrten sich ganz allgemein bedienten. Gepflegt wurde sie nicht einmal von der Geistlichkeit in dem erforderlichen Maße. Dennoch aber wurde in dieser Zeit der erste Grund zur Ausbildung und Vervollkommnung der Prosa gelegt. Die philosophisä-e Prosa wurde begründet durch des Philosophen Leibnitz lalentvellen Schüler Christian Wolf, der zuerst in seinen philosophischen Schriften der deutschen Sprache sich bediente und zu der philosophischen Kunstsprache den Grund legte, und durch Christian Th o m asiuS, der seine philosophischen Vorlesungen in deutscher Sprache hielt und durch seine deutsche Zeitschrift die lateinische Sprache zu verdrängen strebte. Die oratorische Prosa wurde durch Johann Arndt, den Verfasser „des wahren Christenthums", und besonders durch Spener und Franke

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gefördert, die Begründer wahrer Kanzelberedsamkeit, denen Ulrich Megerle (Abraham a Sankta Clara) kaum an die Seite gestellt werden darf, weil er gar so oft in Ge­ schmacklosigkeit verfiel. Die historische Prosa dagegen verschlechterte sich merklich, indem sie nicht allein von dem einfach gemüthlichen Stile der Chronisten zu dem breiten und schleppenden Kanzleistil abwich, sondern auch die deutsche, lateinische und französische Sprache anst unerträglichste durch einander mengte. Erst ganz gegen Ende dieses Zeitraumes erhebt auch diese Gattung der Prosa sich zu würdiger Gestalt, namentlich in deS Grafen von Bünau deutscher Kaiser- und Reichshistorie und in des ProfesiorS MaSkow Geschichte der Deutschen bis zum Anfänge der fränkischen Monarchie. Zweite Periode.

Die neuere Zeit. Von der Thronbesteigung Friedrichs des Großen (1740) bis auf die Gegenwart. Erster Zeitraum. Bis zum Ende der Sturm- und Drangperiode 1785. §. 120. Die deutsche Literatur, dem zweiten klassischen Zeitalter sich mehr und mehr nähernd, ringt in diesem Zeitraume danach, von den fremden Elementen sich möglichst zu säubern und nicht mehr blos bei den Gelehrten Eingang und Anerkennung zu finden, son­ dern bei allen Gebildeten, also national zu werden. Die Schnelligkeit, mit der sie dieser ihrer zweiten Blüte entgegenreift, ist nächst dem Gottsched-Bodmerschen Streite und der Begründung kritischer Zeitschriften vorzugsweise durch die Siege Friedrichs des Großen veranlaßt worden, der dem deutschen Namen neue Anerkennung erwarb und dem deutschen Volke das nothwendige Selbstgefühl, die erforderliche Selbstachtung verschaffte.

I.

D i e P o e s i e.

§. 121. Albrecht von Haller (1708 in Bern geboren und 1777 gestorben) und Friedrich von Hagedorn (1708 in Hamburg geboren, 1754 gestorben), die beide in ihrer Jugend mehr oder minder der Manier der zweiten schlesischen Schule sich angeschlossen hatten, sagten sich in ihren späteren Jahren von dieser Weise der Dichtung los und bestrebten sich, ihren Gedichten einen würdigen Inhalt und eine demselben ange­ messene Form zu geben. Haller, zweifellos der größte didaktische Dichter seiner Zeit, folgte dem Muster der englischen beschreibenden Dichter. In seinen „Alpen" schildert er die wunderbar großartige Natur seines heimatlichen Gebirges und die schlichte Einfalt und die rührende Natürlichkeit der Alpenbewohner. In seinem religiösen Lehrgedichte „Vom Ursprünge des Übels" sucht er die Weisheit der göttlichen Weltregierung darzulegen.

Hagedorn aber ahmt den Franzosen und von den Alten besonders dem Horaz nach und strebt in seinen Liedern, Fabeln und Erzählungen anmuthigen Inhalt mit gefälliger Form zu verbinden. Beide also bereiten den Eintritt der Blütezeit vor. Dieser Eintritt selber wurde durch den literarischen Streit herbeigeführt, der der Gottsched-Bodmersche Streit genannt zu werden pflegt. Johann Christoph Gottsched, 17O0zu Judithenkirch bei Königsberg in Preußen geboren, sioh 1724 aus Furcht vor dem Militär-Dienst nach Leipzig, erfreute sich daselbst als Profesior der Philosophie namentlich im Anfänge der vierziger Jahre eines außer­ gewöhnlichen Ruhmes und eines seltenen Einflusses ans dem Gebiete der Literatur, wurde dann aber von der Mehrzahl seiner Anhänger verlassen und starb 1766 fast vereinsamt. Obwohl als Dichter ganz unbedeutend, hat er sich dennoch unleugbare Verdienste um die deutsche Literatur erworben. Er erhob das Theater aus seiner bisherigen Roheit und

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Einleitung.

bevorzugte die deutsche Dichtung vor der lateinischen Versschmiederei. Er weckte und belebte daS Interesse für die deutsche Sprache durch Gründung und Unterstützung mehrerer kritischer Zeitschriften und bewahrte durch seine „kritische Dichtkunst- die Poesie vor einem aber­ maligen Verfalle in Unnatur und Barbarei. Johann Jakob Bodmer, 1698 zu Greifensee bei Zürich geboren, ging auS Lust an der Wissenschaft von dem Handelsstande zum Studium über. Auch er war von der Natur mit einem bedeutenden dichterischen Talente nicht ausgestattet; er wirkte aber dennoch, nachdem er (1725) Professor der schweizerischen Geschichte und Politik und (1737) Mitglied des großen Rathes zu Zürich geworden war, bis zu seinem Tode 1783 höchst bedeutsam für die Belebung und Förderung der Dichtkunst. Er erkannte zuerst den rechten Begriff wahrer und echter Poesie und gab mehrere der herrlichsten Dichtungen aus der ersten Blütezeit unserer Literatur heraus. Obwohl Gottsched mit Bodmer in der liefen Abneigung gegen die Richtung der zweiten schlesischen Schule übereinstimmte, hielt er dennoch aufs zäheste an den französischen Dichtern als den Mustern wahrer Poesie fest und konnte sich nicht entschließen, der Phan­ tasie den ihr in der Dichtkunst gebührenden Platz einzuräumen. Er beharrte bei der ver­ standesmäßigen Regelmäßigkeit und beurtheilte von diesem Grundsätze aus alle dichterischen Erzeugnisse, so daß er selbst eines Schönaich Machwerk („Hermann oder das befreite Deutschland - 1751) über Klopstocks Messiade stellte und sich offen als einen Widersacher und Feind der Miltonschen Poeste („das verlorene Paradies") bekannte. Es war demnach natürlich, daß er in dem nun entbrennenden Gottsched-Bodmerschen Streite gegen Bodmer, der mit vollem Rechte die Phantasie als die Wurzel aller Poesie bezeichnete und als eifriger Anwalt Miltons Dichtung in seinen Schutz nahm, den Kürzeren ziehen mußte. Er mußte es erleben, daß die talentvolleren der jüngeren Dichter ihn verließen und sich nm Bodmer und dessen treuen Gehülfen, den schweizerischen Professor Breitinger, schaarten, ja daß auch Klopstock, Wieland und Goethe sich entschieden für Bodmer erklärten und ihm sich anschlossen. §. 122. In Folge des Gottsched-Bodmerschen Streites zogen sich von der Theil­ nahme an der Monatsschrift „Belustigungen deS Verstandes und WitzeS", welche (1741) durch Gottscheds treuesten Anhänger, den leipziger Professor Johann Joachim Schwabe, gegründet worden war, gerade die talentvollsten jüngeren Dichter zurück. Zu diesen ist außer den Gebrüdern (Adolf und Elias) Schlegel, Rabcner und Gellert besonders noch der göttinger Professor Kästner (Abraham Gotthelf, geb. 1719 zu Leipzig, gest. 1800) zu rechnen, welcher durch seine trefflichen Epigramme sich ausgezeichnet hat. Sie gründeten (1744) eine neue Zeitschrift „Reue Beiträge des Verstandes und Witzes", die wegen des Druckortes Bremen auch „Bremer Beiträge" genannt wird, und schlossen sich zu dem Leipziger (sächsischen) D ich terbunde zusammen. Von Gottschedscher Pedanterei hielten sie sich möglichst fern und veröffentlichten nur die besten ihrer poetischen Erzeugnisse nach voraufgegangener strenger, kritischer Prüfung. In ihren Dichtungen ließen sie vor­ zugsweise eine sittlich-ernste Richtung vorwalten und füllten durch unleugbare Belebung des Interesses für echte Poesie die gewaltige Kluft zwischen Gottsched und Klopstock aus. Als oberster Leiter dieses Bundes ist Karl Christian Gärtner (gest. 1791) anzusehen, der Professor am braunschweiger Collegium Carolinum und mehr als geschmackvoller Kritiker denn als Dichter berühmt war. Diesem Bunde gehörten außer sehr vielen anderen Dich­ tern jener Zeit besonders an: 1) Johann Andreas Cramer (gest. 1788), der als Prediger und Professor der Theologie nicht weniger denn als Dichter schöner Kirchenlieder gefeiert ist („Herr, deiner Stärke freue sich der König allezeit"); 2) Johann Arnold Ebert, der, durch Hagedorn zum Dichten angeregt, durch seine gründliche Kenntnis der englischen Sprache und Literatur bekannt wurde und deren Einfluß auf die deutsche Poesie zunächst und hauptsächlich vermittelte; 3) Justus Friedrich Wilhelm Zachariä (gest. 1777), der

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durch seinen „Renommisten", durch seinen „Murner in der Hölle" und durch seinen „Phaeton" das komische Heldengedicht in die deutsche Literatur einführte; 4) Gottlieb Wilhelm Rabener (gest. 1771 als Steuerrath in Dresden), bekannt durch seine fried­ lichen Satiren, die gegen Personen der untergeordneten Stände sich wandten und ängstliche Rücksicht nahmen; 5) der schwermüthig-ernste und sittlich-reine, liebenswürdige Christian Fürchtegott Gellert (geb. 1715 zu Hainichen in Sachsen, gest. 1769 als Professor in Leipzig), der durch seine vortrefflichen Fabeln und durch seine herrlichen geistlichen Lieder bis auf unsere Tage allgemein bekannt und beliebt ist („ Dies ist der Tag, den Gott gemacht", „Gott, deine Güte reicht so weit", „Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht", „Wie groß ist des Allmächtigen Güte", „Nach einer Prüfung kurzer Tage", „Mein erst Gefühl sei Preis und Dank", „Auf Gott und nicht auf meinen Rath"). An Gellert schlossen sich die Fabeldichter Willamow, Lichtwer und Pfeffel an. §. 123. Fast zu derselben Zeit begründete in Halle den Hallischen (preußi­ schen) Dichterbund der daselbst studirende Johann Wilhelm Ludwig Gleim zusammen mit seinen befreundeten Studiengenoffen Johann Peter Uz, der die ersten Versuche machte, Oden im höheren Tone zu dichten, und mit Johann Nikolaus Götz, dem „Hauptvertreter der tändelnden anakreontischen Poesie". Gleim, der zu Ermsleben 1719 geboren ist, nach beendigtem Studium kürzere Zeit in Berlin und Potsdam verweilte, dann als Sekretär einen königl. Prinzen in den zweiten schlesischen Krieg begleitete, endlich die Stelle eines StabssekretärS bei dem Fürsten Leopold von Dessau verwaltete und seit 1747 als Dom­ sekretär in Halberstadt angestellt war (gest. 1803), hat sich durch seine „Kriegslieder eines preußischen Grenadiers" und mehr noch durch bereitwillige Unterstützung armer, dichterisch begabter Jünglinge berühmt gemacht. Die Hallischen Dichter kämpften ebenso wie die leipziger gegen Gottscheds verstandesmäßige Dichtermanier an und wandten nach dem Muster der heiteren Poesie Hagedorns, der Gesänge Anakreons und der Oden des Horaz neben der heiteren Lyrik besonders der ernsten Ode und dem beschreibenden Gedicht ihre Pflege zu. Diesem Bunde schlossen sich später außer anderen vorzüglich noch an: Ewald Christian v. Kleist (gest, zu Frankfurt a.O. an den in der Schlacht bei KunerSdorf 1759 erhaltenen Wunden), der bekannte Dichter des „Frühlings", der in Hexametern mit vor­ aufgehender Vorschlagssilbe (Anakrusis) verfaßt ist; ferner Karl Wilhelm Ramler (geb. 1725 zu Kolberg, 1748 Lehrer, später Professor am königl. Kadetten-Corps zu Berlin, 1786 Mitglied der Akademie der Wissenschaften, 1790 Mitdirektor, 1793 alleiniger Direktor des königl. Nationaltheaters, gest. 1798), der nach dem Muster deS Horaz in kunstvoll gebildeten Oden, die des dichterischen Schwunges nicht entbehren, vornehmlich seinen großen König feierte, ohne dessen Anerkennung zu gewinnen; und Johann Georg Jacobi, der, obwohl sehr begabt, seines dichterischen RuhmS durch Übertreibung der

anakreontischen Manier früh verlustig ging. §. 124. Schon jetzt war wie im gesammten deutschen Leben, so im besonderen in der deutschen Literatur ein mächtiger Umschwung geschehen. Irrthümer, die durch ihre langjährige Dauer für immer fest eingewurzelt erschienen, waren kühn angegriffen und glücklich überwunden worden. Neue, richtige Ansichten über das Wesen und die Bedeutung der Poesie waren aufgestellt, schnell erfaßt, weit verbreitet worden. In neuen Schöpfungen hatte man die neue Idee verkörpert zeigen, ihre Wahrheit siegreich erweisen wollen; allein die meisten der Männer, die als rüstige Vorkämpfer nicht genug zu rühmen sind, erman­ gelten der höheren Begabung. Sie waren nicht genial genug, um dieses ihr Ziel zu er­ reichen. Die Zeit war jedoch durch sie vorbereitet, und die Geister, die größer waren als ihre Vorläufer, harrten schon der Berufung.

Friedrich Gottlieb Klopstock, am 2. Juli 1724 zu Quedlinburg geboren, verlebte seine früheste Jugend zum großen Theil auf dem Amte Friedeburg im ManSfeldi-

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schon, daS sein Vater gepachtet hatte, und zeigte schon damals einen frischen, frohen und gläubigen Sinn. Darauf besuchte er drei Jahre lang das Gymnasium seiner Vaterstadt und von 1739 ab die Schulpforte, auf der er nicht allein die alten Sprachen mit Eifer trieb, sondern auch dem Studium der neueren Literatur sich hingab, selbst dichterische Versuche anstellte und bereits den Plan zu einem größeren epischen Werke faßte. Er schwankte nur zwischen Heinrich I. und dem Messias als Helden seiner Epopöe. In Jena,, wohin er im Herbst 1745 um deö Studiums der Theologie willen sich begab, dichtete er die ersten drei Gesänge seines Messias in Prosa, wandelte diese aber in Leipzig, wohin er sich im Frühjahr 1746 gewendet, in Hexameter um. Dann veröffentlichte er diese Gesänge^ durch seinen Freund Schmidt dazu veranlaßt, 1748 in den Bremer Beiträgen uud ward durch den unglaublich großen Beifall, mit dem sie ausgenommen wurden, hoch erfreut. Die nicht erwiederte schwärmerische Zuneigung für die Schwester (Friederike) seines Freundes Schmidt, die er in Langensalza kennen lernte und unter dem Namen Fanny in seinen Ge­ dichten verherrlichte, rief in ihm eine äußerst trübe, schwermüthige Gemüthsstimmung hervor. Diese wurde erst durch den angenehmen Aufenthalt zu Zürich, wohin er auf Bodmers an­ gelegentliche Einladung (1750) gegangen war, vollkommen beseitigt. Sein Wunsch, un­ gestört an seinem Messias weiterarbeiten zu können, erfüllte sich schon im folgenden Jahre, als er von dem dänischen Könige Friedrich V. auf des Grafen Bernstorf Verwendung freundlichst unter Zusicherung eines Jahrgehaltes und vollständiger Unabhängigkeit auf­ gefordert wurde, behufs BeLndigung seines großen Werkes nach Kopenhagen zu kommen. Auf der Durchreise durch Hamburg ward er mit seiner nachherigen Gemahlin Meta Moller bekannt, die er in seinen Gedichten unter dem Namen „Gfcli" gefeiert hat. Er lebte mit ihr von 1754—1758 in äußerst glücklicher Ehe. Während er von Kopenhagen aus die einzelnen Gesänge seines Messias erscheinen ließ, war er (1763) zum dänischen Legations­ rathe ernannt worden; er siedelte aber unter Beibehaltung seines Jahrgehaltes nach Hamburg über, als sein Gönner, der Graf Bernstorf, aus dem Ministerium hatte treten müssen. Dort beendigte er 1773 seinen Messias. In Folge einer Einladung des Mark­ grafen von Baden ging er (gegen Ende des Jahres 1774) nach Karlsruhe, von wo er jedoch mit dem Titel eines b adenschen Hofrathes und Verleihung einer Pension schon 1775 nach Hamburg zurückkehrte. Er begrüßte mit außerordentlicher Freude die französische Revolution, durch deren blutigen Verlauf er später in seinen sanguinischen Hoffnungen höchst unangenehm enttäuscht: wurde. Nachdem er (1791) eine zweite Ehe (mit Johanna v. Windhem) eingegangen war, starb er zu Hamburg 14. März 1803 und wurde mit den außerordentlichsten Ehrenbezeugungen zur Ruhe bestattet. (Die Gräber zu Ottensen.) Klopstock war von gleich inniger Liebe zu Gott, zu seinem Vaterlande und zu seinen Freunden ergriffen. Sein Messias, der zwanzig Gesänge enthält und erst nach einem Zeitraume von 28 Jahren beendigt wurde, zeigt in seinen ersten Gesängen eine größere Kraft und Lebendigkeit der Phantasie, bietet aber im ganzen mehr Reden und Schilderungen als Handlung (ist mehr lyrisch als episch). In ihm hat Klopstock ein glänzendes Zeugnis seiner Frömmigkeit und seiner großen dichterischen Begabung abgelegt. Seine geistlichen Lieder, zu denen auch die Umarbeitungen älterer Kirchenlieder zu zählen sein dürften („Auferstehn, ja auferstehn"), und seine religiösen Dramen (TodAdams, David, Salomo) sind von weit geringerer Bedeutung. Seine Oden, die im antiken Versmaße mit Ver­ schmähung des Reims, aber in höchst musikalisch wirkender Sprache gedichtet sind, sprechen seine Liebe nach ihren drei Richtungen aufö kräftigste und lebendigste aus. Die Liebe zu seinem Vaterlande war so groß und gewaltig in ihm, daß sie ihn sogar in einigen seiner Oden und in seinen Bardieten (dramatischen Dichtungen mit lyrischen Gesängen; Her­ mannsschlacht, Hermann und die Fürsten, Hermanns Tod) zum Urgermanenthum, zur altdeutschen Mythologie und zur altnordiscben Dunkelheit und Überspanntheit verführte.

Durch seine Werke wie tnid) die Erhabenheit und Trefflichkeit seines Charakters erlangte

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er den größten Einfluß auf die Literatur seiner und der nachfolgenden Zeit; die in der ,, Gelehrten-Republik" niedergelegten Ansichten über Literatur wurden allgemein anerkannt und angenommen. Seine Werke galten als Muster für alle Gattungen der Poesie und riefen unzählige Nachahmungen und Nachbildungen hervor. Er weckte in seinem Volke Empfänglichkeit und Begeisterung für die Poesie.

§. 125. Die unmittelbaren Nachfolger und Nachahmer Klopstocks, welche an die einzelnen Eigenthümlichkeiten desselben sich eng anschlossen, sondern sich in die drei Gruppen der Barden, der Idyllen- und der religiösen Dichter. a) Die Barden. Michael Denis (gest. 1800 in Wien), welcher die mit den Bardendichtungen wunderbar übereinstimmenden Dichtungen Ossians übersetzte, Karl Friedrich Kretschmann (gest. 1809) und Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, der durch seine „Gedichte eines Skalden", nicht durch sein Trauerspiel „Ugolino" hierher ge­ hört, besangen das Urgermanenthum. Sie wurden durch die deutsch-vaterländische Rich­ tung und besonders durch die Bardiete ihres Meisters dazu veranlaßt und fachten regere Vaterlandsliebe und Neigung für die Einfachheit der Naturpoesie dadurch an, obschon sie in übertriebene Naturschilderungen und Gefühlsüberschwenglichkeiten verfielen. b) Die Jdyllen-Dichter. Salomon Geßner (gest. 1788) und Franz Xaver Br o nner (gest. 1850) dichteten Schäferromane und Idyllen, die deutsche Sentimentalität mit französischer Geziertheit vermischen, aller Wahrheit und Wirklichkeit entbehren und ge­ radezu Unnatur sind. An die ausgedehnten Schilderungen und idyllischen Episoden in Klopstocks Messiade anknüpfend, hoben diese Dichter vorzugsweise den weichen und senti­ mentalen Bestandtheil seiner Poesie hervor. c) Die religiösen Dichter. Der Vorgang Klopstocks, biblische Erzählungen zum Vorwurfe seiner Dichtung zu machen, munterte mehrere auf, ihm auf dieser Bahn zu folgen, besonders Lavater und Jung-Stilling. Johann Kaspar Lavater (1741 geboren und 1801 als Prediger in Zürich gestorben) zeigte seinen frommen, aber mit übernatürlicher Schwärmerei durchmischten Glauben in seinen „Aussichten in die Ewigkeit", in seinen Pre­ digten und in seinen religiösen Dichtungen („Jesus Messias") überall auf gleiche Weise. Johann Heinrich Jung-Stilling (geboren 1740, gestorben nach wunderbaren Schick­ salen 1817) ist in Stimmung und Gesinnung mit Lavater verwandt, aber mit einem reicheren Gemüthsleben begabt. In seinen Werken vermischte er Religion und Mystik ebenfalls stark, ohne dabei die Poesie in den Hintergrund zu drängen. §. 126. Wenn Klopstock durch die Wärme seines Gefühls und durch den erhabenen Ton seiner Sprache den größten Theil seines Volkes für die deutsche Poesie begeistert hatte, so waren doch die höheren Stände noch immer der vaterländischen Poesie abhold und treue, anhängliche Verehrer der französischen Literatur geblieben. Sie herüberzuziehen, auch in ihre Kreise die deutsche Dichtung hineinzutragen, gelang dem zweiten Heros unserer Lite­ ratur, Christoph Martin Wieland. Er wurde am 5. September 1733 zu Ober­ holzheim bei Biberach geboren und empfing sowohl von seinem Vater, einem frommen Pre­ diger, als auch auf der Schulanstall zu Kloster Bergen bei Magdeburg (1747—49) eine fast pietistische Erziehung. Nach frühzeitig (schon in seinem zwölften Jahre) gemachten dich­ terischen Versuchen bezog er 1750 die Universität Tübingen behufs des Studiums der Rechte. Dort wandte er sich sehr bald fast ausschließlich der Beschäftigung mit der Poesie zu, indem er das Muster Klopstocks nachahmte. Zu diesem führte ihn die höchst schwär­ merische Zuneigung zu seiner Verwandten Sophie von Gutermann, die er in frühester Jugend schon gefaßt hatte, und seine innige Freundschaft für Bodmer, in dessen Hause und Freundeskreisen er längere Zeit (von 1752 bis 1756 und dann als Erzieher in Zürich nock ferner bis 1760) lebte und seine ganze Umgebung von tiefster Verehrung und Bewun­ derung Klopstocks ergriffen fand. Die in ihm herrschende religiös-empfindsame Stimmung

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erreichte ihren Gipfel, als ex plötzlich und unerwartet die Vermählung seiner Jugendgeliebten mit dem Herrn v. La Roche erfuhr; sie verschwand aber, als er wegen dieser Stimmung und der bisher befolgten Richtung in seinen Dichtungen von Lesiing in den (später zu er­ wähnenden) Literatur-Briefen herb getadelt wurde. Wieland kehrte im Jahre 1760 nach Biberach zurück, nachdem er vorher noch eine Erzieherstelle in Bern bekleidet hatte, und trat in den zweiten Hauptabschnitt seines Lebens ein. Zum interimistischen und spater (seit 1764) zum wirklichen Kanzlei-Direktor in seiner Vaterstadt berufen, verkehrte er viel in dem Hause des kurmainzischen StaatSministers Grafen Stadion, welcher der Pflegevater des Herrn von La Roche war und von den Staatsgeschäften sich nach dem Marktflecken Warthausen zurückgezogen hatte, der unweit Biberach gelegen ist. Durch diesen Umgang wurde Wieland für seine Berufsgeschäfte entschädigt, die schwer auf ihm lasteten und ihn fast erdrückten. Er wurde mit weisem Genusse des Lebens, mit feinerer, weltmännischer Bildung und vor allem mit den vorzüglichsten Werken der französischen und englischen Literatur bekannt. Rasch nach einander erschienen in dieser Zeit seine bedeutenderen Schriften, der Agathen, das Musarion und die komischen Erzählungen, die in leichter, gefälliger, anziehender Form mit Laune und feinem Scherz verfaßt sind und vorzugsweise seinen Schriften ven Zugang zu den höheren Kreisen eröffneten, die der deut­ schen Literatur bisher verschlossen waren. Diese Schriften begründeten durch die bisher unbekannte Gefälligkeit, Lieblichkeit und Schönheit der Darstellung Wielands hohe Bedeu­ tung für die deutsche Literatur, machten aber wegen ihres freien, die Sittlichkeit vielfach verletzenden Inhalts den Verfasser zum Gegenstände harter Anfeindungen durch seine vielen Gegner, obwohl er selbst ein durchaus sittlich reines Leben führte. In diese Zeit fällt auch seine Übersetzung des Shakspeare, die diesen Dichter zuerst dem größeren deutschen Publikum bekannt und zugänglich machte. Im Jahre 1769 übernahm er die Professur der Philosophie und der schönen Wissenschaften in Erfurt und trat dann in die dritte und letzte Periode seines Lebens ein, indem er den leichtfertigen Ton der Franzosen allmählich mehr abstreifte, seine Studien auf die Schriften des Alterthums, namentlich auf die Werke des Horaz hinlenkte und auch dem Verfassungswesen und der Regierungsart („Der goldene Spiegel oder die Könige von Scheschian") seine Aufmerksamkeit schenkte. Nun ward er 1772 von der Herzogin-Regentin Anna Amalie von Sachsen-Weimar an den Hof zur Er­ ziehung ihrer beiden Prinzen berufen. Daselbst veröffentlichte er in dem von ihm gegrün­ deten „Merkur" seine Schriften und viele der emporstrebeuden jüngeren Dichter, obwohl er fast mit allen Parteien zerfallen und mit den meisten seiner dichterischen Zeitgenossen verfeindet war. Er starb in Weimar am 20. Januar 1813. Sämmtliche Werke dieser Periode, die Wintermärchen, der neue Amadis, Aristipp, die Abderiten, der Agathodämon und vor allen der Oberon (1780), der mit Recht als die anziehendste der Wielandschen Dichtungen gefeiert wird, sind ausgezeichnet durch Anmuth und Gefälligkeit der Darstellung, durch Lieblichkeit und Leichtigkeit der Sprache. Durch seine Darstellung und Sprache hat Wieland auf unsere Literatur seinen bedeutenden Einfluß geübt und seine Zugehörigkeit zu den Heroen unserer Literatur sich errungen. §. 127. Noch allgemeiner und allseitiger wurden die Gemüther für die Literatur durch die außerordentlich anregende und charaktervolle Persönlichkeit Gott hold Ephraim Lessings gewonnen, der eines Predigers Sohn war und am 22. Januar 1729 zu Kamenz in der Oberlausitz geboren wurde. Nach gründlicher Vorbildung, die er auf der Schule seiner Vaterstadt und (von 1741—46) auf der Fürstenschule zu Meißen empfing, ergab er sich in Leipzig (von 1746 an) mehr den freien Künsten, als dem Studium der Gottes­ gelahrtheit. Auch verkehrte er mehr mit den Schauspielern des von Karoline Neuber geschickt geleiteten Theaters, als mit den Professoren der Theologie, ohne jedoch, wie sich davon sein Vater (zu Anfang des Jahres 1748) selbst überzeugte, die gründliche Ausbildung seines Geistes aus den Augen zu verlieren. Der Umgang mit einzelnen Gliedern der Schauspieler-

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Truppe begründete seine Vorliebe für das Theater und seine Bedeutung auf dem dramatischen Gebiete; die Bekanntschaft mit dem leichtsinnigen, aber geistreichen Mylius weckte seine Neigung zu schriftstellerischer Thätigkeit, die ihm während des größten Theiles seines Lebens die Mittel zu seinem Unterhalte verschaffen mußte. „Der junge Gelehrte" (1748 in Leipzig ausgeführt) überragte die bisherigen deutschen Stücke jedenfalls an Werth und gab die erste Veranlassung zu würdigeren dramatischen Versuchen. Nach ganz kurzem Aufenthalte in Wittenberg (1748 wurde er als Student der Medizin daselbst eingeschrieben) begann er in Berlin eine ausgedehnte kritische und gelehrte Schriftstellerei, die er, lebhaft angeregt durch den Umgang mit Moses Mendelssohn und Nicolai, eifrig fortsetzte. Seit demOktober 1755 siedelte er wieder nach Leipzig über und kehrte dahin auch zurück, nachdem eine Reise, die er als Begleiter eines jungen, reichen Mannes unternommen hatte, durch den Ausbruch des Krieges unterbrochen war. Dort richtete er nun sein Studium besondersauf die altdeutschen Dichtungen und auf die Theorie des Dramas. Seit 1757 wieder in Berlin, veröffentlichte er seine Fabeln und die dazu gehörigen Abhandlungen, sein Trauerspiel „Philotas" und sein „Leben des Sophokles". Äußerst eifrig arbeitete er auch an der Zeitschrift („Briefe,

die neueste Literatur betreffend" — Literaturbriefe), die er mit Nicolai und Mendelssohn begründet hatte. Durch diese Zeitschrift, die der Besprechung der neuesten deutschen litera­ rischen Erscheinungen gewidmet war, wurde die eigentlich wissenschaftliche Kritik begründet. Er ward wegen seiner verdienstvollen literarischen Leistungen zum Mitgliede der berliner Akademie der Wissenschaften ernannt und verweilte (von 1760—65) und zwar bis zum Friedensschlüsse als Sekretär des Generals Tauentzien zumeist in Breslau, wo er literarisch nicht unthätig war, obwohl er in den militärischen Kreisen vielfachen Zerstreuungen nicht fern blieb. Dort entwarf er den Plan zur „Minna von Barnhelm", dort schrieb er den (1766 gedruckten) ersten Theil des Laokoon. Kaum nach Berlin zurückgekehrt, ging er 1767 nach Hamburg, um sich dort an der Begründung eines deutschen National-Theaters zu betheiligen. Daselbst gab er vom I.Mai ab seine Dramaturgie stückweise heraus, vertauschte aber, mißgestimmt über seine getäuschten Hoffnungen, seine dortige Stellung, die täglich unerquicklicher geworden war, 1770 gegen das Amt eines herzoglich braunschweigischen Bibliothekars in Wolfenbüttel, das seiner literarischen Thätigkeit einen weiteren Kreis und lohnendere Arbeit versprach. Große Freude gewährte ihm hier die Auffindung der Hand­ schrift eines für die Kirchengeschichte wichtigen Werkes (des Berengarius von Tours) und die Anerkennung, welche sein Trauerspiel „Emilia Galotti" (1772) und seine (seit 1773 veröffentlichten) „ Beiträge zur Literatur aus den Schätzen der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel" in Deutschland fanden. Bald aber wurde ihm diese Freude durch den reli­ giösen Streit vergällt, der zwischen ihm und dem Hamburger Hauptpastor Goeze entbrannte. Dieser Streit gab auch zu dem (in fünffüßigen Jamben verfaßten) Drama „ Nathan der Weise" (1779) und zu der „Erziehung des Menschengeschlechtes" Veranlassung, ist aber deshalb sehr bedauerlich, weil er zusammen mit dem Schmerze, den Lessing über den frühen Tod seines einzigen Kindes und seiner Gattin empfand, die letzten Lebensjahre des ohnehin Vielgeprüften trübte und verbitterte. Kränkelnd und geistig verstimmt, suchte er in Braun­ schweig Erholung; doch schon am 15. Februar 1781 ging er daselbst zur ewigen Ruhe ein. Seine Bedeutung für unsere Literatur ist außerordentlich, und wenn einer, so ist Lessing, als Begründer wahrer, mustergültiger Kritik, als Schöpfer der wissenschaftlichen Prosa, als erster wahrhaft dramatischer Dichter Deutschlands und endlich als Reformator des ästhetischen Geschmacks zu den Heroen unserer Literatur zu zählen. §. 128. An Lessing reiht sich aufs natürlichste Johann Gottfried Herder, auf den er einen großen, sichtlichen Einfluß geübt hat. Eines armen Schullehrers Sohn, wurde Herder am 25. August 1744 zu Morungen geboren und zeigte schon früh eine un­ begrenzte Lernbegier, große Neigung zur Musik und wahre Frömmigkeit, die durch seine Eltern und durch den Prediger Willamow belebt wurde. Vorgebildet durch seinen eigenen

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Fleiß mittels der ihm zur Benutzung erlaubten Bibliothek des Predigers Trescho, folgte er, allerdings unter Verrichtung auf seine Vorliebe für das Studium der Theologie, einem russischen Regimentschirurgus nach Königsberg, um unter dessen Leitung daselbst die Chi­ rurgie und später in Petersburg die Medizin zu studiren. Er trat jedoch (1762) in Königsberg zur Theologie zurück, indem er sich selbst durch Privatunterricht die Mittel zu seiner Ausbildung erwarb. Durch seinen Fleiß gewann er sich die Zuneigung des Buch­ händlers Kanter und die Achtung des großen Philosophen Immanuel Kant. Nächst diesem wirkte auf ihn der „Magus des Nordens", Johann Georg Hamann (geb. 1730 zu Königsberg, gest, nach sehr gedrücktem Leben 1788 in Münster) am stärksten ein. Hamann bekämpfte nämlich alle sogenannte Schulweisheit, alles Herkömmliche, alle Regeln, alle Muster, verwarf die neuere Poesie, erkannte nur die kindliche Poesie der Bibel, Homers, Ossians und Shakspeares als wahre Poesie an und flößte auch Herder die Vorliebe für alles Ursprüngliche, Naturgemäße, Volkstümliche ein. Lessings Einfluß, zunächst durch die Literaturbriefe erzeugt, bekundete sich in den „Fragmenten über die neuere deutsche Litera­ tur" und in den „kritischen Wäldern", welche von Herder zu Riga verfaßt wurden. Dort wirkte er nämlich von 1764 an als Lehrer an der Domschule und seit 1767 zugleich als Prediger. Auf der Reise, die er (1769) behufs Besuches bedeutenderer Erziehungsanstalten in Frankreich, England, Holland und Deutschland zunächst nach Nantes unternahm, wuchs mir seinen Lebensansichten zugleich auch seine Liebe zur alten nordischen Poesie und in Paris seine Abneigung gegen die dramatische Kunst der Franzosen. Von hier ging er über Ham­ burg, woselbst er Lessing und Claudius kennen lernte, nach Eutin, um von dort aus als Reiseprediger den Sohn des Herzogs von Holstein-Eutin auf einer dreijährigen Reise (1770) zu begleiten. In Straßburg, wo er sich von seinem Prinzen trennte, um ein altes Augen­ übel vollständig zu heilen, ward er mit Goethe bekannt, der daselbst seine Studien beendigte. Mit diesem, mit Jung-Stilling und mit anderen Freunden las er Homer, Ossian, Shakspeare und Klopstock und schrieb dort seine von der berliner Akademie gekrönte Abhandlung „über den Ursprung der Sprachen". In Bückeburg, wohin er 1771 als Hauptpastor und Konsistorialrath berufen wurde, faßte er ein großes Interesse an den altdeutschen Dichtungen. Er machte auf die in den Volksliedern enthaltene Poesie aufmerksam, setzte deren Sammlung eifrigst fort und verfaßte seine „älteste Urkunde des Menschengeschlechts" und seine Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit". 1776 trat er die Stelle eines Oberpfarrers und General-Superintendenten in Weimar an, die ihm von Goethe namens des Herzogs angeboten worden war. Dort schloß er sich mehr an Wieland als am Goethe und den später gekommenen Schiller an, wurde nach seiner italienischen Reise (1788 — 89) zum Vicepräsidenten und bald darauf (1801) zum Präsidenten des Ober­ konsistoriums ernannt und in den Adelstand erhoben. Dort schuf er die große Reihe der bedeutenden Werke, die seinen Namen unsterblich gemacht haben, seine „Ideen zur Philo­ sophie der Geschichte der Menschheit", seine „Paramythien", seine „Parabeln" und „Legenden", seine „Briefe zur Beförderung der Humanität" und seine „Briefe über das Studium der Theologie", die zu poetischer Erfassung des Christenthums begeistert auffor­ dern. Dort veröffentlichte er mit Goethe zusammen seine „Blätter von deutscher Art und Kunst", in denen er auf den hohen Werth der Volksdichtung mit ihrer lebendigen Phan­ tasie und ihrer kräftigen Sinnlichkeit aufmerksam machte und sich gegen alles Regelwesen erklärte. Dort übersetzte er mit dichterischem Geiste die spanischen Romanzen vom „Cid"; dort bearbeitete er endlich auch seine Sammlung der Volkslieder, die den Charakter der verschiedenen Völker treulich und einfältiglich wiederspiegeln und unter dem Titel „Stimmen der Völker" erschienen. Von seiner überhandnehmenden Kränklichkeit und Augenschwäche befreiten ihn nicht seine beiden Badereisen nach Aachen und Eger, sondern sein am 18. De­ zember 1803 in Weimar erfolgter Tod.

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§. 129. Nächst Klopstock, Lessing und Hamann hat vorzüglich Herder den Umschwung der Ansichten und Anschauungen, der schon lange auf dem Gebiete der Religion, der Er­ ziehung (Rousseau, Basedow), der Kunst (Winckelmanu) und der Kritik (Lessing) eingetreten war, auch auf dem Gebiete der Dichtkunst zum vollständigen Durchbruch gebracht. Dieser offenbarte sich bald in der Beseitigung der bisherigen Art dichterischer Produktion, in der Verachtung der bisher benutzten Muster, in der Verschmähung der früher bevorzugten Vorwürfe, in der Verwerfung aller Kunstregeln und jeglicher schulgemäßen Theorie. Was Klopstock, Leffing, Hamann und vor allen Herder über das wahre Wesen und den Zweck der Poesie, über die geschickte Wahl paffender Gegenstände und die dichterische Begabung gelehrt hatten, das faßten die jüngeren Dichter zu dem Verlangen zusammen, der Dichter muffe mit Phantasie begabt und von der Natur zum Dichten getrieben sein; er solle in deutschem Sinne und nach deutscher Art dichten, nur Original-Werke und nur für das ganze Volk schaffen; er solle bei seinem Schaffen sich nur an die Natur halten und einzig und allein der ihm von der Gottheit verliehenen Begabung, seinem „Genie", keiner Regel, keiner Vorschrift, keiner Theorie gehorchen. „Natur, Originalität und Genie" waren die Losungsworte dieser Zeit, welche nach Klingers Drama „Sturm und Drang" Sturmund Drangperiode genannt worden ist. Während derselben wurden Shakspeare und Homer, Ossian, die orientalischen und die deutschen Dichtungen des Mittelalters und auch Hans Sachs geschätzt und vorzugsweise gelesen, weil sie jene Anforderungen am besten er­ füllten. Diese Zeit der „Kraft- und Original-Genies", durch welche nur die höher be­ gabten und edleren Männer zur Wahrheit und Schönheit sich hiudurcharbeiteten, während die übrigen elend verkümmerten und verkamen, reichte etwa von 1765 bis 1785. Sie machte ihren bedeutenden Einfluß geltend auf die Dichter des göttinger Dichterbundes, sie beeinflußte stark auch Goethe und Schiller. §. 130. Der göttinger Dichterbund wurde in Göttingen erst, als überall sonst schon in Deutschland die Begeisterung für die Poesie rege geworden, von mehreren dichterisch begabten Jünglingen gestiftet. Diese benutzten den Musenalmanach, der von Heinrich Christian Boie anfänglich mit Friedrich Wilhelm Gotter gemeinsam (1770), später von jenem allein herausgegeben wurde, als Organ für die Veröffentlichung ihrer Gedichte. Sie traten dadurch in eine nähere und lebendige Verbindung mit einander. 1772 schlossen sie sich auf den Antrieb des bald zur Seele dieses Vereines gewordenen Boß (am 12. September) zu einem eigentlichen Bunde zusammen und versammelten sich wöchentlich behufs Beurtheilung und Verbesserung ihrer dichterischen Erzeugnisse in einem Eichengrunde nahe bei Göttingen (Hainbund). Der Hainbund stand ganz und gar in der Sturm- und Drangperiode und beteiligte sich lebhaft an deren Bestrebungen; dennoch schloß er sich ganz besonders an Klopstock an, der ihm wohl geneigt war und ihm seine eifrigste Theilnahme widmete. Die Bundesbrüder pflegten die Freundschaft aufs innigste und glühten von Liebe zur Freiheit und zum Vaterlande; sie schwärmten für ein unhistorisches Bardenthum und Urgermanenthum und strebten, Klopstock verehrend, Wieland verwünschend, nach Sitte und Tugend. Die hervorragendsten Mitglieder des Bundes, der für die Poesie trotz mancher Übertreibungen, trotz mancher Überspanntheit besonders rücksichtlich der Natur- und Volks­ dichtung erfolgreich wirkte, waren Hölty, Miller, Voß und die beiden Grafen zu Stolberg, Anhänger desselben Claudius und Bürger. In ihnen allen war das vaterländische, christ­ liche, antike Element Klopstocks mehr oder weniger vorherrschend. Nach kurzer Blüte des Bundes (1772, Sommer 1773) löste er sich allmählich zu blos äußerlichem, durch die Musenalmanache vermittelten Zusammenhänge auf, als zuerst die Grafen zu Stolberg, bald auch die übrigen Bundesglieder von Göttingen geschieden waren. Ludwig Heinrich Christoph Hölty (geb. 1748 zu Mariensee in Hannover, gest, zu Hannover 1776) verband mit der Begeisterung für Natur und Freundschaft die Empfind­ samkeit Klopstocks und gab seiner elegisch-sentimentalen Stimmung Ausdruck in Liedern

(„Üb' immer Treu' und Redlichkeit"), Elegien und Oden, welche Lieblichkeit der Sprache und Sorgfalt im Versbau zeigen. Johann Martin Miller (geb. 1750 zu Ulm, daselbst 1814 gest.) schrob vorzüglich in seinem Romane „Siegwart", weniger in seinen beim Volke sehr beliebten Liedern („Was frag' ich viel nach Geld und Gut") diese Empfindsamkeit bis zur Lachlust erregenden Schwärmerei hinauf. Johann Heinrich Voß (geb. 1751 zu Som­ mersdorf im Mecklenburgischen, 1778 Rektor zu Otterndorf, 1782 zu Eutin; seit 1805 lebte er in Heidelberg, wo er 1826 starb) strebte in seiner Jugend trotz seiner Armuth er­ folgreich nach möglichster Ausbildung des Geistes und gelangte durch die Sorge für die eigene Beschaffung seines Unterhaltes früh zur Selbständigkeit und Charakterstärke. Be­ sonders seit seinem Aufenthalte in Göttingen gewann er eine große Liebe zu den klassischen Schriftstellern des Alterthums und erfaßte deren Wesen und Geist scharf und sicher. Durch seine meisterhaften Übersetzungen besonders des Homer und Vergil, so wie anderer klassischer Schriftsteller begründete er die eigentliche Übersetzungskunst unter den Deutschen, vermehrte den Reichthum und die Gefügigkeit des sprachlichen Ausdrucks und förderte die Ausbildung der Metrik („Zeitmessung der deutschen Sprache"; Hexameter); ganz besonders aber weckte und nährte er dadurch die Neigung für das Studium der alten Klassiker und den Sinn für die Alterthumskunde. Seine eigenen Dichtungen, obwohl er nur wenig begabt war, wurden dennoch mit Beifall ausgenommen. In seinen Oden huldigte er nach Klopstocks Vorbild der antiken Form; in seinen Liedern strebte er nach dem volksmäßigen Tone, ohne ihn immer zu treffen; in seinen Idyllen („Luise"; „siebzigster Geburtstag") eröffnete er dieser Gattung der Poesie ein weiteres Feld. Immer und überall aber, auch auf dem Gebiete des Religiösen, war er aller Schwärmerei und Überschwenglichkeit abhold und fremd und deshalb in seinen späteren Lebensjahren in mancherlei Kämpfe verwickelt (mit Fritz Stolberg wegen dessen Übertritt zum Katholicismus, „Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier?" und mit Creuzer wegen der Symbolik der griechischen Mythologie). Christian Graf zu Stolberg (geb. 1748, gest. 1821) und Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (geb. 1750, gest. 1819) lassen in ihren Liedern und Oden (ersterer auch in seinen Schauspielen) eine ähnliche Begeisterung, wie Klopstock, für Freundschaft, Vaterland und Frömmigkeit erkennen. Die in den Oden angewandte antike Form haben sie mit deutschem Geiste durch­ drungen, auch in der Übersetzung klassischer Dichtungen nicht ohne Erfolg sich versucht. Matthias Claudius (geb. 1740 im Holsteinischen, lebte er, obwohl Revisor der schleswigholsteinischen Bank, doch meist zu Wandsbeck bei Hamburg, gab den „Wandsbecker Boten" heraus und starb in Hamburg 1815) war ein unbedingter Verehrer Klopstocks, deffen Begeisterung für Vaterland, Freundschaft und Tugend auch ihn durchdrang; er gab in allen seinen Liedern seiner Einfalt und Gemüthlichkeit, seiner Treuherzigkeit und Frömmig­ keit einen treuen Ausdruck und wurde, indem er die gleichen Gefühle in den Herzen des Volkes weckte, einer von den Lieblingsschriftstellern desselben. Gottfried August Bürger (geb. 1747 im Pfarrhause zu Molmerswende in der jetzigen Grafschaft Falkenstein im H alberstädtisch en und nach großer Noth und unsäglichen Leiden, die freilich durch sein un­ sittliches Leben und durch seinen unbegrenzten Leichtsinn von ihm selbst verschuldet waren, in Göttingen als außerordentlicher Professor 1794 gestorben) war von seltener dichterischer Begabung unterstützt und zum Volksdichter geboren. Er entzückte durch seine Balladen, Romanzen und poetischen Erzählungen (Lenore, der wilde Jäger, Frau Magdalis, das Lied vom braven Mann, des Pfarrers Tochter von Taubenhain, der Kaiser und der Abt u. s. w.) das ganze deutsche Volk. §. 131. Johann Wolfgang Goethe von 1749 bis 1786. Geboren am 28. August 1749 zu Frankfurt a. M. in Umständen, die zur Förderung seiner Bildung, zur Befruchtung seines Dichtergenies, zur Entwicklung aller in ihm vorhandenen geistigen Kräfte ganz besonders glücklich zusammentrafen, wurde er von seinem Vater, einem Doktor der Rechte und kaiserlichen Rathe, großentheils selber erzogen und unterrichtet. Von.

Übersicht der Literatur-Geschichte.

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Klopstocks Messias mächtig ergriffen, aber auch bereits mit mancherlei verderbten Zuständen im Gesellschafts- und Familienleben bekannt geworden, wovon das Lustspiel „ die Mitschul­ digen" Zeugniß ablegt, ging er 1765 nach Leipzig, um sich dort dem Studium der Rechte zu widmen. Mehr als durch dieses wurde er in Leipzig durch die Lektüre der Wielandschen Schriften und der Dramen Shakspeares und durch den Umgang mit dem Maler Öser an­

gezogen, der seiner Neigung für die bildenden Künste eine höhere Richtung gab und ihm das Verständniß der Winckelmannschen Schriften, so wie die Bedeutung von Leffings Laokoou erschloß. Buffons neue Gestaltung der Naturwissenschaft erregte ihn lebhaft. Sein Lust­ spiel „die Laune des Verliebten" ist ein Ausdruck bestimmter innerer Erlebnisse, wie seine späteren Dichtungen alle. Seine Beschäftigung mit der Kupferstecher- und Holzschneide­ kunst ward die Ursache einer langwierigen, schweren Krankheit und diese die Veranlassung zu seiner Rückkehr nach Frankfurt (gegen Ende des Sommers 1768). Hier wurde er durch den Umgang mit dem frommen Fräulein v. Klettenberg („Bekenntnisse einer schönen Seele" im Wilhelm Meister) eine Zeit lang dem religiös-beschaulichen Leben hold und zu mancherlei mystisch-chemischen Versuchen angeregt. In Straßburg traf er im Frühlinge 1770 zur Fortsetzung und Beendigung seiner Studien ein. Dort gewann Herder einen großen Einfluß auf ihn: er flößte ihm Bewunderung für Hamanns Geist, Begeisterung für Ossian und Homer ein und nährte seinen Enthusiasmus für Shakspeare. Beglückt durch seine Liebe zur Pfarrerstochter in Sesenheim (Friederike Brion) und durch die Herrlichkeit des Münsters für die alldeutsche Baukunst begeistert, neigte er sich echt vaterländischen Stoffen für seine Dichtung zu (Götz und Faust). Er erlangte (1771 im Herbst) die juristische Doktorwürde und ward in Frankfurt durch Schlosser und Merck vielseitig angeregt (Winter 1771—72). In Wetzlar machte er die Bekanntschaft mit Charlotte Buff, der Verlobten des bremischen Gesandtschaftssekretärs Kestner, die für sein damaliges inneres Leben und seine dichterische Thätigkeit folgenreich war. In Frankfurt, wohin er auf seines Schwagers Schlosser Wunsch (im Spätsommer 1772) zurückkehrte, vollendete er (im Frühjahr) 1773 seinen „Götz von Berlichingen". Dieser, vom glänzendsten Erfolge in ganz Deutschland gekrönt, wurde besonders von dem göttinger Dichterbunde mit unendlichem Jubel begrüßt und gab mächtigen Anstoß zu weiterer Verbreitung der Revolution auf dem Gebiete der Poesie. Neben mehreren kleineren Werken, in denen „sein jugendlicher Übermuth sich Luft machte" („ Götter, Helden und Wieland", „das Jahrmarktsfest zu Plundersweilen", „Pater Brey"), und außer vielen lyrischen Gedichten von seelenvoller Empfindung und inniger Wärme, auf deren Abfassung Friederike und die Erinnerung an sie nicht ohne Einfluß ge­ blieben ist, entstanden hier „die Leiden des jungen Werther", sein zweites größeres, un­ endlich gerühmtes und vielfach geschmähtes Werk, das zugleich das Ende seiner Gefühls­ überschwenglichkeit bezeichnet, die eine Krankheit der Zeit war. In acht Tagen schrieb er dann sein Trauerspiel „Clavigo". Die Wirkung dieser Werke war groß; mit ihnen be­ ginnt eine neue Zeit unserer Literatur. Goethe ward nun der Mittelpunkt der Sturm- und Drangperiode, der Liebling der bedeutenderen Männer seiner Zeit, der Abgott aller für die Poesie glühenden Herzen. Er gab sich frohem Lebensgenüsse hin, obwohl er sich mit viel­ fachen dichterischen Entwürfen trug, und machte mit Lavater und Basedow eine Rheinreise. Im Winter 1774 lernte er in Frankfurt die weimarischen Prinzen kennen. Der mit Elisabeth Schönemann (Lili) geschlossenen Verlobung, die bald wieder gelöst wurde, verdankte er die Anregung zu einigen seiner schönsten lyrischen Gedichte. Er besuchte auf seiner ersten Schweizer-Reise, die er mit den Gebrüdern Stolberg unternahm, Lavater, verfaßte die Singspiele „Erwin und Elmire", „Claudina von Villa Bella" und „Stella" und begann den „Egmont". Die wiederholten Einladungen des weimarischen Fürstenpaares, des Herzogs Karl August und seiner Gemahlin Luise, zogen ihn endlich 1775 an den Hof zu Weimar, dessen Seele noch immer die treffliche Herzogin-Mutter Anna Amalie war. Aufs ausgezeichnetste wurde er empfangen und vom Herzoge Karl August bald aufs innigste

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Einleitung.

geliebt. In seinem Inneren herrschte noch eine Zeit lang die stürmische Bewegung, doch ward sie mehr und mehr beruhigt, besonders durch den Einfluß der geistvollen Frau von Stein. Der Sturm und Drang wich; der Himmel seines Inneren heiterte sich auf; Hin­ neigung zu geregelteren, festeren Formen ward sichtbar in mehreren Liedern jener Zeit, ebenso wie in der 1779 beendigten älteren Gestalt der „Jphigenia" und in der 1781 vollendeten prosaischen Bearbeitung des „Tasso". Nachdem er zum Geheimen Rath ernannt worden war und den Herzog (1779) in die Schweiz begleitet hatte, erhielt er (1782) vom Kaiser Joseph II. den Adel und vom Herzoge für alle wichtigen Angelegenheiten den Vorsitz in der herzoglichen Kammer, in der er schon 1776 Sitz und Stimme empfangen hatte. Zehn Jahre widmete er sich mit großem Eifer der Förderung des Staatswohls und der Sorge für alle bedeutenderen staatlichen Angelegenheiten. Wurde dadurch auch seine dich­ terische Kraft eine Zeit lang zurückgedrängt, so wuchs doch seine Welterfahrung, die ihm in der späteren Zeit reichen Nutzen eintrug. Doch allmählich fing sein poetisches Gewissen an, unruhig und seine Sehnsucht nach Italien größer zu werden; von Karlsbad aus begab er sich mit des Herzogs Erlaubniß am 3. September 1786 nach Italien. §. 132. Johann Christoph Friedrich Schiller von 1759 bis 1787. Während sein Vater als würtembergischer Offizier (früher Wundarzt) im Felde stand, ward Schiller im Hause des Großvaters am 10. November 1759 zu Marbach geboren. Er lebte dann nach dem hubertsburger Frieden zwei Jahre in Ludwigsburg, dem Standquartiere seines zum Hauptmann beförderten Vaters, und erhielt später ben ersten Unterricht in Lorch von dem trefflichen Prediger Moser. Von 1768 an besuchte er die lateinische Schule in Ludwigsburg. 1772 sollte er behufs des Studiums der Theologie in eine Klosterschule übertreten, als er auf des Herzogs Karl Befehl in die militärische Pslanzschule auf der Solitude, woselbst sein Vater schon seit einiger Zeit die Aufsicht über alle Gartenanlagen hatte, versetzt wurde. Gegen seine Neigung mußte er hier das Studium der Theologie mit dem der Rechtswissenschaft vertauschen. In der freien Entwicklung seines Geistes durch den Druck der pedantischen, strengen Zucht gehemmt, welche in dieser militärischen Anstalt ge­ handhabt wurde, suchte er sich durch die heimliche Lektüre deutscher Dichter zu entschädigen, besonders Klopstocks, Bürgers, Schubarts, des auf dem Asperg schmachtenden Gefangenen („Fürstengruft"), Gerstenbergs („Ugolino") und Goethes, dessen Götz von Berlichingen ihn so begeisterte, daß Goethe Schillers Abgott wurde. Mächtig erregt durch diese Dich­ tungen und lebhafter zum Drama als zum Epos hingezogen, versuchte er sich in der drama­ tischen Poesie, besonders nachdem die militärische Pslanzschule als Karlsakademie nach Stutt­ gart verlegt und er zum Studium der Medizin übergegangen war; nebenher verfaßte er auch einzelne lyrische Gedichte („derAbend"). Bald darauf gab er sich mit regem Eifer der Beschäftigung mit der Philosophie hin, arbeitete heimlich und verstohlen an „den Räubern" und ward nach bestandener Prüfung als Regimentsmedikus in Stuttgart angestellt. „Die Räuber", ein Erzeugnis der erbitterten Stimmung, welche durch die ihn beengenden Ver­ hältnisse hervorgerufen war, und seiner Unzufriedenheit mit der ihm freilich noch unbekannten Welt, wurden 1781 gedruckt und, nachdem sie auf den Wunsch des Freiherrn v. Dalberg, des Intendanten des Mannheimer Theaters, umgearbeitet worden waren, zu Anfang des Jahres 1782 in Mannheim aufgeführt. Sie veranlaßten im September 1782 Schillers Flucht nach Mannheim. Nachdem er in Oggersheim bei Mannheim in elendester Lage an der „ Luise Millerin", einem bürgerlichen Trauerspiele, fleißig gearbeitet, den schon in Stutt­ gart begonnenen „Fiesko" beendigt und in seiner Hoffnung auf Annahme desselben durch Dalberg sich bitter getäuscht hatte, eilte er (Nov. 1782) nach Bauerbach in Meiningen, einem Gute der Frau von Wolzogen, der Mutter eines seiner Studienfreunde, da er sich vor dem Herzoge Karl in seinem bisherigen Versteck nicht mehr sicher glaubte. Hier vollendete er (1783), fast vereinsamt lebend, das bürgerliche Trauerspiel, welches unter dem Titel „Kabale und Liebe" erst 1784 erschien. Auf Dalbergs Veranlassung reiste er (1783 im

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Sommer) wieder nach Mannheim, richtete den Fiesko und Kabale und Liebe für die Bühne ein und arbeitete emsig an seinem „Don Carlos". Daneben trug er sich schon mit viel­ fachen anderen Entwürfen herum, las die französischen Dramen behufs Regelung seines Geschmackes und gab die „rheinische Thalia", die spätere „Thalia", heraus. Durch einen Brief Körners veranlaßt, schied Schiller aus dem ihm unangenehm gewordenen Mannheim 1785, vom Herzoge von Weimar zum herzoglichen Rathe ernannt und nach „Freundschaft, Anhänglichkeit und Liebe dürstendDurch Körners Edelmuth wurde er vor drückenden Sorgen gesichert und lebte seit Mitte April in Leipzig und Gohlis in trautem Verkehr mit dessen Braut, deren Schwester und mit dem oft aus Dresden herüberkommenden Körner selbst. Als dieser sich verheiratet hatte, ging auch Schiller nach Dresden und lebte ab­ wechselnd dort und in Loschwitz bis zum Juli 1787. Er verfaßte jetzt, nachdem er schon in Mannheim den „ Don Carlos" vollendet hatte, die Erzählungen „ der Verbrecher aus verlorener Ehre" und „der Geisterseher", die „philosophischen Briefe" und mehrere seiner lyrischen Gedichte. Alle Schöpfungen Schillers aus dieser Zeit sind durchweht von dem Geiste des Sturmes und des Dranges. An seinen Ideen festhallend, kämpft er gegen die bestehenden Verhältnisse, in den Räubern gegen die verrotteten Zustände der Gesellschaft, im Fiesko gegen die bestehenden Formen des Staates, in Kabale und Liebe gegen die Un­ sittlichkeit und Verworfenheit der höheren Kreise. Der Don Carlos, dessen drei erste Akte in Prosa und noch im stürmischen Drange geschrieben waren, erleidet eine vollständige Um­ änderung nach Inhalt und Form. Der Sturm legt sich; die Läuterung hat unter Körners Einfluß begonnen; der „Hymnus an die Freude" ist der Vorklang reinerer, schönerer Dichtung. II. Die Prosa. §. 133. Wie die Poesie, so geht auch die Prosa ihrer Blüte mit starken Schritten entgegen. Sie war außerordentlich gehoben und gefördert worden durch die vielen kritischen und unterhaltenden Zeitschriften, durch die immer häufiger hervortretenden Übersetzungen

und durch die zunehmenden historischen, kritischen, ästhetischen und philosophischen Schriften. Sie war geregelt und verbessert worden durch die wachsende Begründung der Sprachlehre und durch das allgemeiner werdende Streben, die naturwissenschaftlichen Forschungen jeder­ mann zugänglich zu machen. So war sie denn wie mit einem Zauberschlage auf den ver­ schiedenen Gebieten vorzugsweise durch Wieland, Lessing, Herder und Goethe zur Schönheit und Vollendung der Form emporgehoben worden. Die didaktische Prosa, welche außer den eigentlichen philosophischen und moralischen Abhandlungen auch den Roman umfaßt, gewinnt in dem Romane an sorgfältiger Ordnung des Inhalts und an Gewandtheit der sprachlichen Darstellung. In den philosophischen Abhandlungen, die meist die Übertragung der Philosophie und Moral auf das Gebiet des Lebens und der Praxis bezwecken, erlangt sie Klarheit und Schönheit des Ausdrucks, vor­ züglich durch die Werke Sulzers (gest. 1779 in Berlin; „vermischte philosophische Schriften"), Moses Mendelssohns (geb. 1729 in Dessau, 1786 zu Berlin gest.; „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele"), Johann Jakob Engels (geb. 1741 zu Parchim in Mecklenburg, Professor am Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin, Lehrer königl. Prinzen, Oberdirektor des Berliner Nationaltheaters, gestorben auf einer Besuchsreise zu Parchim 1802; populär-philosophische Schriften: „Philosoph für die Welt", „Fürstenspiegel", „Herr Lorenz Stark"), Spaldings (als Probst zu Berlin 1804 gestorben; „Bestimmung des Menschen", „Werth der Gefühle im Christenthume"), Thomas Abbts (als Konsistorial-Rath zu Bückeburg 1766 gestorben; „vom Tove fürs Vaterland" ; Mitarbeiter an den Literaturbriefen), Friedrich Karl von Mo­ sers (des für Freiheit und Recht kämpfenden, 1798 zu Ludwigsburg gestorbenen Staats­ mannes), Justus Mösers (des trefflichen Volksschriftstellers; „patriotischePhantasien'') und vor allen des unsterblichen königsberger Philosophen Immanuel Kant. Dielitz u. Heinrichs, Handb. d. deut'ch. Literatur.

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1

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Einleitung.

Die historische Prosa hält rücksichtlich der Weltgeschichte und Kirchengeschichte nicht gleichen Schritt mit der didaktischen Prosa; sie bleibt hinter ihr trotz der Verdienste SchlözerS undSchröühs (,bie christliche Kirchengeschichte") zurück, während WinckelmannS (1717 zu Stendal geb., in Triest 1768 ermordet) „Geschichte der Kunst des Alterthum-" nicht nur die Wissenschaft der Alterthumskunde begründet, sondern auch ein Meisterwerk historischer Darstellung, das Vorbild und Muster wahrer Geschichtschreibung wird. Auf dem Gebiete der r h e t o r i s ch e u P r o s a, die sich fast ganz allein auf die Kanzel­ beredsamkeit beschränkt, zeichnen sich vorzüglich der (1786 zu Berlin gestorbene) OberKonsistorialrath Sack, der zu den berühmtesten Kanzelrednern zahlende, zu Leipzig 1788 gestorbene Prediger Zollikofer und der 1789 gestorbene braunschweigische Oberhof­ prediger Jerusalem aus.

Zweiter Zeitraum. Vom Ende der Sturm- und Drangperiode (1785) bis auf die Gegenwart. I.

§. 134.

Die Poesie.

Die einseitige Übertreibung der Originalität, wie sie durch die Sturm- und

Drangperiode gelehrt und gepredigt worden, das Losreißen von jeder geregelten Form, daS Verschmähen aller Theorie und jeder Kunstregel richtete sich selber, als diese Originalität auch auf das Leben übertragen und auch hier jede konventionelle Form beseitigt wurde. Die unterdessen gereifte deutsche Wiffenschaft und besonders die zu wiffenschaftlicher Form gelangte Ästhetik (Philosophie des Schönen) verhalf den Deutschen zu einer richtigen Er­ kenntnis wahrer Kunst und brachte ihnen den Werth der Poesie des Alterthums und der neuen Zeit in ihrer Eigenthümlichkeit und in ihrer Verschiedenheit von einander zum Be­ wußtsein. Die Überzeugung, das Gute, Wahre, Schöne sei anzuerkennen, wo eS sich auch finden möge, gewann immer mehr Raum. Die Schönheit der Form und des Inhalts in ihrer Vereinigung wurde nun angestrebt und durch die beiden größten Dichter Deutsch­ lands, durch Goethe und Schiller, erreicht. Beide verhalfen, anfangs getrennt von einander und auf verschiedenen Wegen, der eine durch seine Reise nach Italien, der andere durch­ feine historischen Studien, zur Läuterung geführt, endlich in schönstem Vereine und in vollkommen neidlosem Wirken, gegenseitig einander läuternd und ermunternd, der Poesie zu ihrer zweiten Blüte. Bon Jena und Weimar aus, der anfänglich alleinigen Heimat unserer zweiten klassischen Literatur, verbreitete sich dieselbe mit bewundernswürdiger Schnelligkeit über ganz Deutschland, ja sie wurde die Lehrmeisterin der übrigen europäischen Völker, die mit staunender Verehrung zur deutschen Poesie aufsahen. Sie wurde der Mittelpunkt einer allgemeinen Literatur, in der alles Große, Schöne und Erhabene seine Würdigung, und Anerkennung fand.

§. 135. Goethe von 1786—1794. Auf seiner italienischen Reise, die von 1786 bis 1788' dauerte und ihn nach längerem Aufenthalte in Rom über Neapel auch nach Sicilien führte, erneuerte sich in Goethe, der von dem südlichen Leben, von den italienischen Natur- und Kunstschätzen, von der klassischen Vollendung der Alten wie bezaubert war, die schöpferische Kraft. Der Flug und Schwung seines Geistes erstarkte in ihm; das Entzücken an der Harmonie und Schönheit der griechischen artistischen und literarischen Kunstwerke verdrängte die letzten in ihm vorhandenen Reste der Periode der Kraftgenies mit ihrem formlosen Drange. Er ward ein so ausschließlicher Verehrer griechischen Wesens und griechischer Kunst, daß selbst Ossian vor Homer, ShakSpeare vor Sophokles zurückweichen mußte. Ein Ausdruck dieser Verehrung, ein Ausdruck der in Goethe vollendeten harmo­ nischen Verschmelzung „moderner Sittigung mit den reinsten Formen deS unbewußt schaffenden Alterthums" ist die in Italien in die VerSform umgewandelte Iphigenie

Übersicht der Literatur-Geschichte.

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auf Tauris (Anfang des Jahres 1787). Auf diese folgte der Torquato Tasso, der eine feine Zeichnung deS Gegensatzes zwischen dem Weltmanne und dem Dichter, ein Abbild der eigensten Erfahrungen und geheimsten Wünsche Goethes ist und zugleich eine Parallele zwischen Ferrara und Weimar enthält. In seiner neuen metrischen Gestalt wurde derselbe erst 1789 beendigt. Der zweite Aufenthalt Goethes in Rom (Spätsommer 1787) sah den E g m o n t vollendet werden als dasjenige Produkt deS Dichters, in welchem die neue Richtung mit den alten Anschauungen zu einem harmonischen Ganzen verschmilzt. In ihm erinnert der ganze Stoff und die Volksscenen mit ihrer lebenSfrischen und lebensgleichen Schilderung an Shakspeare, während die Koncentration deS gesammten.Stoffes um einen Helden, der in seiner Liebenswürdigkeit, in seinem Selbstvertrauen, in seiner Popularität und in seiner Tapferkeit mit Sorgfalt gezeichnet ist, den Einfluß der griechischen Kunst verräth. Allein der Aufenthalt in Italien wirkte auf Goethe auch nach einer anderen Seite hin und zwar nicht günstig.. Hingerissen von dem italienischen Leben und der italienischen Sitte, wurde Goethe bei seiner Rückkehr in die Heimat von dem deutschen Wesen ab­ gestoßen. Entzückt von der hellenischen Kunst, fühlte er nur Interesse für das Individuum; die Menschheit war ihm gleichgültig, gleichgültig daher auch die Geschichte, gleichgültig des Volkes Streben nach politischer Freiheit, gleichgültig des preußischen Volkes Erhebung im Jahre 1813, widerlich der Ausbruch und Fortgang der französischen Revolution. Sie störte ihn, der sich von allen amtlichen Geschäften zurückgezogen hatte und mit Naturund Kunststudien seine Zeit ausfüllte, in diesen Studien und nöthigte ihm als Zeugnisse seines Hasses gegen das „Franzosenthum" die unbedeutenden Werke „der Großkophta", „der Bürgergeneral" und „die Aufgeregten" ab, mit denen gewissermaßen der allerdings bedeutendere Reineke Fuchs zusammengehört. Im Jahre 1791 wurde er mit der Leitung des neu errichteten HoftheaterS betraut; 1792 machte er im Gefolge des Herzogs den preußischen Feldzug gegen Frankreich mit und wohnte 1793 der Belagerung von Mainz bei. 1794 ging er mit neuer Lust an seinen „Wilhelm Meister" und trat nun endlich Schiller näher, den er bis dahin möglichst gemieden hatte. Mit diesem Schritte war der Grundstein zu der innigen Freundschaft der beiden Heroen gelegt. §. 136. Schiller von 1787 bis 1794. Schillers stets regeö Interesse für die Geschichte wuchs in Weimar, wo er 1787 von Wieland und von Herder freundlichst empfangen wurde, und förderte bedeutend die Läuterung seiner Anschauungen, welche durch den Umgang mit hochgebildeten Frauen und Männern, noch mehr aber durch das Studium der alten Klassiker bereits angebahnt war. Seine Lage blieb trotz seiner ununterbrochenen schriftstellerischen Thätigkeit eine sehr sorgenvolle. Durch eine Reise zu seiner in Meiningen verheirateten ältesten Schwester und zu Frau von Wolzogen wurde er in eine Verbindung mit Frau von Lengefeld und deren beiden Töchtern gebracht, die sich allmählich inniger ge­ staltete und ihn auch mit Goethe näher bekannt machte. In Folge seiner größeren geschicht­ lichen Arbeiten („Geschichte deS Abfalls der Niederlande", „Geschichte des dreißigjährigen Krieges") und auf Goethes Verwendung erhielt er (1789) eine außerordentliche Professur in Jena, aber ohne Gehalt. 1790 verheiratete er sich mit Charlotte von Lengefeld. Während er mit größter Emsigkeit an seinen geschichtlichen Werken arbeitete, ward er 1791 von einer heftigen Brustkrankheit ergriffen und, obwohl durch daS Karlsbald von ihr be­ freit, doch in seinem körperlichen Zustande so erschüttert, daß er nie mehr feine frühere Gesundheit wiedererlangte. In dieselbe Zeit fällt seine Beschäftigung mit der Philosophie, die zu seiner Läuterung den Schlußstein hinzufügte und ihn antrieb, seine Gedanken über Wesen und Ziel der Poesie zu ordnen und niederzuschreiben. Seiner dichterischen Produktion aber Ihar dieselbe mannigfachen Eintrag. Außer den Übersetzungen der Jphigenia in Aulis

Und der Phönizierinnen des Euripides vollendete er nur einige lyrische Gedichte, die ersten­ herrlichen Früchte seiner Beschäftigung mit dem Alterthume, „die Götter Griechenlands", ,die Künstler", „Resignation" u. a. Durch seine Reise nach Schwaben (1793) besserte sich 4e

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Einleitung.

sein körperlicher Zustand, durch seinen Umgang mit Wilhelm von Humboldt 1794 in Weimar erweiterte sich seine Kenntnis des griechischen Alterthums, wahrend zugleich seine Kunsttheorie sich entwickelte und sein Studium kantischer Philosophie gefördert wurde. Jetzt begann auch sein Freundschaftsverhältnis mit Goethe, den er bisher wenigstens nicht ausgesucht hatte. §. 137. Goethes und Schillers Zusammenwirken, die zweite Blütezeit unserer Literatur, von 1794 bis 1805. Goethe und Schiller waren nun gemeinsam thätig für die „Horen" und für die Musenalmanache, für die Goethe seinem Freunde die beiden „Episteln", „bic römischen Elegien" und seinen „BenvenutoCellini", außerdem viele neue Sprüche und Lieder, die venezianischen Epigramme und mehrere neue Balladen lieferte. In Folge dieser gemeinsamen Thätigkeit entwickelte sich allmählich eine so feste und innige Neigung und Freundschaft beider zu einander, daß ihr Wirken fernerhin als ein einiges und einziges angesehen werden darf. Sie lebten im persönlichen und brieflichen Austausche ihrer Ideen, im edelsten Wettkampfe ihrer poetischen Schöpfungen, in gegenseitiger harmonischer Ergänzung ihrer Kräfte und Naturen. (Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller in den Jahren 1794 bis 1805.) Während beide an den „Votivtafeln" und an den „Temen" ge­ meinsamarbeiteten, beendigte Goethe 1796 sein längst begonnenes Werk „ Wilhelm Meisters Lehrjahre" und 1797 sein idyllisches Epos „Hermann und Dorothea". Unterdessen war Schiller in seinen Vermögensverhaltnissen durch Steigerung seiner Einnahmen besser gestellt worden. Nach Beendigung mehrerer kunsttheoretischer Arbeiten, deren bedeutendste die Abhandlung „über naive und sentimentalischeDichtung" (1795) ist, wurde besonders durch den Verkehr mit Goethe das Verlangen nach dichterischer Produktion in ihm wieder so mächtig, daß er (1795) seine Gedichte lyrisch-didaktischen Inhaltes schuf („das Ideal und das Leben ", „der Spaziergang", ferner „die Würde der Frauen" und 1799 „das Lied von der Glocke"). Im Wetteifer mit Goethe dichtete er gleich darauf die meisten seiner Balladen. Nack seiner Übersiedlung nach Weimar (1799), die ihm durch Gehaltserhöhung ermöglicht worden war, wandte sich Schiller fast ausschließlich der drama­ tischen Dichtung zu. 1799 beendigte er seine Trilogie „Wallenstein", an der er seit 1790 gearbeitet hatte, 1800 seine „Maria Stuart", 1801 die „Jungfrau von Orleans", 1803 die „Braut von Messina" Uiib 1804 den „Wilhelm Tell". Er entfernte das Drama aus den engen und dürftigen Verhältnissen, in die es durch Jffland (geb. 1759, gest. 1814), den Repräsentanten bürgerlicher Alltäglichkeit, und durch Fr. Ferdinand von Kotzebue (geb. 1761, 1819 in Mannheim ermordet), den dramatischen Vielschreiber und Anpreiser lockerer Sitten, hineingezogen war. Im Vereine mit Goethe sorgte er für daö Weimarische Theater und füllte die Pansen zwischen jenen größeren Dramen durch die Übersetzung und

Bearbeitung des Macbeth von Shakspeare, der Phädra des Racine, der Turandot Gozzis, deS Neffen als Onkel und des Parasiten von Picard aus. Von Goethe wurde er dabei rüstig unterstützt, welcher zu demselben Zwecke Voltaires Tancred und Mahomet ins Deutsche übertrug und nach der Rückkehr von seiner dritten Schweizerreise (1797) die „natürliche Tochter" dichtete. 1802 wurde Schiller in den Adelstand erhoben, 1804 schlug er die ihm in Berlin gemachten glänzenden Anerbietungen aus, um in dem ihm so lieben.Weimar zu bleiben. Eben hatte er den „Demetrius" begonnen und „die Huldigung der Künste" zur Verherrlichung der Hochzeitsfeier des Erbprinzen von Weimar mit der russischen Großfürstin Maria Paulowna gedichtet, als er tut Vollgefühle seiner geistigen Kraft und auf der Höhe seiner dichterischen Produktion durch einen heftigen Anfall seiner Brustkrankheit am 9. Mai 1805 aus dem irdischen Leben fortgerafft wurde. §.138. Goethe nach demTode Schillers von 1805—1832. Hatte Goethe schon in seiner „natürlichen Tochter" eine Hinneigung zur Symbolik, demTode echter Poesie, gezeigt, so erscheint senne poetische Schöpferkraft nach des Freundes Hinscheiden plötzlich gebrochen. Nur noch (einmal stammte sie in dem liebevollen, dem Dahingeschiedenen ge­ widmeten Nachrufe, denn „Epilog zur Glocke" (1805), hell auf und blieb bis zu bcm|

Übersicht der Literatur-Geschichte.

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(1806 erfolgten) Abschlüsse des ersten Theiles des „Faust" wirksam. Die nächstfolgenden dramatischen Werke „Pandora" (1807), „ deS Epimenides Erwachen " (1814) und besonders der „zweite Theil des Faust" (1831) gaben den unverkennbaren Beweis für die Abnahme der Lebendigkeit seiner Phantasie. Dagegen blieb er der Meister in der Erzählung, für welche er sein außerordentliches Talent in den „Wahlverwandtschaften" (1808—9) und in allen Werken bewährte, die sich auf Darstellung seines Lebens oder aus seinem Leben beziehen, in „Dichtung und Wahrheit" (von 1810—13, 1816—31), in der „italienischen Steife" (1814—17, 1828 und 1829) und in der „ Campagne in Frankreich" (1821—23). Nachdem er noch mittlerweile ganz unerwartet durch seinen „West-östlichenDivan" (1819) die Poesie bereichert und durch seine „Metamorphose der Pflanzen" und durch die „Farben­ lehre" den liefen Ernst bekundet hatte, der ihn bis inS Greisenaller hinein bei seinen wissenschaftlichen Studien beseelte, starb er, verehrt von der ganzen deutschen Nation, hoch­ geschätzt und bewundert vom AuSlande, plötzlich und schmerzlos den 22. März 1832. §. 139. Die Romantiker lehnten sich anfänglich an Goethe an, bald aber kämpften sie gegen ihn und noch heftiger gegen Schiller, dessen Freiheitsideen und dessen eigenthüm­ liches Christenthum ihnen nicht behagte. Als ihre Vorläufer sind Novalis (Friedrich Ludwig Graf von Hardenberg; geb. 1772, gest. 1801; geistliche Lieder; Hymnen; unvoll­ endeter Roman „Heinrich von Ofterdingen") und Wilhelm Heinrich Wackenroder (geb. 1772, gest. 1798; „Herzensergießnngen eines frommen Klosterbruders") anzusehen. Sie strebten, auö dem Mittelalter im Gegensatze zum klassischen Alterthume neue Quellen für die Poesie herzuleiten und die so lange verborgenen Schätze der höfischen Poesie an daS Tageslicht zu ziehen. Unter ihnen ragen besonders hervor: August Wilhelm von Schlegel (geb. 1767 zu Hannover, als Professor zu Bonn 1845 gestorben), der sich ein bedeutendes Verdienst durch seine meisterhafte Übersetzung des Shakspeare erworben, die später von Tieckfortgesetzt worden ist, ferner Friedrich von Schlegel (geb. 1772, gest. 1829), der nach seinem Übertritte zur katholischen Kirche als begeisterter Apostel der­

selben auftrat, und besonders Ludwig Tieck (1773 in Berlin geboren und 1853 eben­ daselbst gestorben). Unter allen Romantikern der bekannteste, hat sich Tieck den größten Ruhm durch seine Dramatisirung alter Volkssagen und Märchen, durch seine Bearbeitung der Minnelieder und durch seine Studien über Shakspeare und daS englische Theater er­ worben. Seine Dramen Genoveva, Fortunat und Kaiser Octavian gehören ganz und gar der Romantik an. Diesen drei Häuptern der romantischen Schule schließen sich die beiden Herausgeber der Sammlung älterer deutscher Volkslieder aufs engste an, welche 1806 unter dem Titel „DeS Knaben Wunderhorn" erschienen und mit Recht beliebt ist. Achim von Arnim (geb. 1781 zu Berlin, gest. 1831) verlor über dem Mittelalter die Gegenwart nicht aus den Augen. Er ist durch seine lyrischen Gedichte bekannter geworden als durch seine Ro­ mane (Gräfin Dolores; Kronenwächter) und seine Dramen (Halle und Jerusalem; die Gleichen). Klemens Brentano (geb. 1777 zu Frankfurt a. M., gest. 3 842 zu Aschaffenburg) machte durch seinen ersten Roman „Godwi oder das steinerne Bild der Mutter" mehr Aufsehen als durch sein letztes Werk „Gockel, Hinkel undGackeleia". Auch bei vielen anderen Dichtern der neueren Zeit ist die Einwirkung der romantischen Schule deutlich erkennbar. Sie zeigt sich bei den Epikern Ernst Schulze (Cäcilie; bezauberte Rose) und Pyr k er (Tunisias; Rudolsias); sie zeigt sich auch bei den Lyrikern T i e d g e (Urania), Matthisson, dem poetischen Landschaftsmaler, Johann Gaudenz von Salis, Adalbert von Chamisso, der durch seine lyrischen Gedichte, poetischen Erzählungen und seinen Peter Schlemihl eine große Berühmtheit erlangt hat, Ludwig Theobul Kosegarten (Jucunde; Legenden), Hölderlin, Wilhelm Müller, Immer­ mann und Joseph von Eichendorff. Ebenso ist sie erkennbar bei den Drama­ tikern Zacharias Werner (Söhne deS Thals; Kreuz an der O stsee; Luther oder die Weihe

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Einleitung.

der Kraft; der 24. Februar), Amadeus Gottfried Adolf Müllner (der 29. Februar; die Schuld), Franz Grillparzer (die Ahnfrau) und Christoph Ernst v. Houwald (die Freistatt, das Bild, der Leuchtthunn), welche sämmtlich Verfasser von Schicksalstragödien flnb, und bei Heinrich v. Kleist (Käthchen von Heilbronn, Prinz von Homburg, der zerbrochene Krug). Die Einwirkung der romantischen Schule zeigt sich auch bei den „patriotischen Dichtern" Friedrich Rückert, Ernst Moritz Arndt, Theodor Körner, Max v. Schenkendorff und bei den „schwäbischen Dichtern" Uh land, Schwab und Kerner und bei dem Grafen Platen, der durch die künstlerische Form seiner Gedichte ausgezeichnet ist und die satirische Geißel gegen die Fatalisten schwingt. §. 140. Außerhalb der romantischen Schule stehen: Johann Peter H e b e l, der durch seine Volksschriften (rheinischer Hausfreund, Schatzkästlein) und durch seine allemannischen Gedichte berühmt geworden, und Gottfried Seume, der weniger durch seine Ge­ dichts als durch seinen „Spaziergang nach Syrakus" bekannt ist. §. 141. Die neueste Zeit, auf die näher einzugehen der Zweck dieses Buches verbietet, ist besonders an lyrischen Gedichten reich, in denen mehr und mehr das Haupt­ gewicht auf die Schönheit der metrischen Form gelegt zu werden beginnt. II.

Die Prosa.

§. 142. Auch die Prassa nahm in diesem schönsten Zeitraum unserer Literatur einen gewaltigen Aufschwung; sie erreichte eine Harmonie des Inhalts und der Form, nach der sie früher vergeblich gestrebt hatte. Sie verdankt diesen Aufschwung zunächst dem Einfluß, den unsere Dichterheroen und unter ihnen vorzugsweise Lessing, Herder, Goethe und Schiller auch auf diesem Gebiete der Literatur ausgeübt haben. Mit gleicher Dankbarkeit aber ist anzuerkennen, waS in diesem Beziehung von der romantischen Schule geleistet worden ist, da diese nicht nur erfolgreich an der Veredlung der Sprache und Darstellung mitgearbeitet, sondern auch viele bedeMemde Werke des Mittelalters der Vergessenheit entrissen und die herrlichsten literarischen Schätze des Auslandes dem deutschen Volke erschlossen hat. §. 143. Die histo Nsche Prosa hatte zunächst durch Herders „Ideen zur Philo­ sophie der Geschichte derMemschheir" angefangen, von dem rein pragmatischen Standpunkte zu dem höheren sich empvrzuheben, von dem aus sie die scheinbar zusammenhangslosen Er­ eignisse als die einzelnem Faktoren der ununterbrochen fortschreitenden Entwicklung deS Menschengeschlechtes darstelllt. Sie ward besonders durch Johannes v. Müller gehoben, dessen „Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft" überall seine glühende Vaterlands­ liebe, dessen „24 Bücher allgemeiner Geschichte" seinen Gedankenreichthum zeigen. Das ganze Gebiet der Weltgeschichte umfaßte Friedrich Christoph Schlosser, der auf scharf­ sinnige Weise die Schicksale der einzelnen Völker mit ihrem Charakter in Verbindung bringt und den innigen Zusammenhang uachweist, der zwischen jenem und ihren Sitten und ihren literarischen Erzeugnissen starttfindet. An ihn reihen sich der (schon 1840) verstorbene Karl v. Rotteck und der noch lebende Heinrich Leo, die von entgegengesetztem politischen Standpunkte die Weltgeschichte betrachten und darstellen. AuS der größeren Zahl der Historiker, welche einzelne Abschnitte der Weltgeschichte in meisterhafter Darstellung be­ handelt haben, genügt eS, Barthold Georg Niebuhr (1831 in Bonn gest.), den Verfasser der nicht genug zu rühmenden „römischen Geschichte", Friedrich v. Raumer, den Ver­ fasser der „ Geschichte der Hohenstaufen", und den noch lebenden Leopold Ranke anzuführen, der die wichtigsten Theile der mittleren und neueren Geschichte mit Gründlichkeit und Scharfsinn behandelt hart. Mit nicht geringerem-Fleiß, Geschick und Erfolg ist das Feld der Kirchengeschichte durch den göttinger Prozessor Gieseler, durch den jenaerProfessor Karl Hase und durch den 1850 zu Berlin gestorbenen Johann August Wilhelm Neander angebaut worden. \

Übersicht der Literatur-Geschichte.

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Endlich hat sich auch die Literaturgeschichte aus schwachen Anfängen zu schöner Blüte entfaltet, besonders durch die Meisterwerke Georg Gottfried GervinuS', August KobersteinS und August Vilmars. §. 144. Die philosophische Prosa bildete sich zu immer größerer Klarheit, Deutlichkeit und Schönheit heraus, nachdem Christian Wolf die deutsche Sprache in dem Gebiet der Wissenschaft heimisch gemacht und Spalding, Sulzer, Mendelssohn und Garve in ihren Schriften die Überführung der Philosophie aus der Schule in das Leben mit glücklichem Erfolge angestrebt hatten. Hatten die früheren Philosophen (Leibniz, Wolf und ihre Nachfolger) für die Philo­ sophie eine streng methodische Form geschaffen, so war es Immanuel Kant, dem Gründer der kritischen Philosophie (geb. 1724 zu Königsberg, 1804 ebendaselbst gest.), Vorbehalten, (1781) in seiner „ Kritik der reinen Vernunft" die Gesetze des Erkenntnißvermögens und in der „Kritik der praktischen Vernunft" (1787) die des sittlichen Handelns zu untersuchen, endlich in seiner „Kritik der Urtheilskraft" (1790) auch die Lehre vom Schönen und von der Kunst mit wisienschaftlicher Strenge zu begründen. Durch seine Schriften machte sich bald in dem Geistesleben der Deutschen ein Umschwung bemerkbar, der durch die idealistische Richtung des patriotischen Johann Gottlieb Fichte (geb. 1762, gest. 1814) und Friedrich Wilhelm Joseph v. S ch e l l i n g s noch gesteigert wurde. Anfangs an Schelling sich an­ schließend, begründete Georg Wilhelm Friedrich Hegel (geb. 1770, gest. 1831), der durch seine dunkle Schreibart schwer verständlich ist, ein neues System der Philosophie. §. 145. Die rhetorische Prosa ist auf die Kanzelberedsamkeit und auf die Schulreden beschränkt geblieben, bis die politischen Ereignisse der neuesten Zeit Veranlassung zur Entwicklung der politischen Beredsamkeit gegeben haben. Bon letzterer sehen wir ab und heben aus der großen Zahl bedeutender geistlicher Redner den zu Jena (1828) ver­ storbenen Konststorial-Rath Johann Gottlob Marez oll, den 1850 zu Dresden ge­ storbenen Kirchenrath v. A m m o n und vor allen den geistreichsten aller neueren Kanzel­ redner hervor, den 1834 gestorbenen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher.

A. Poesie I. Die epische Dichtung. a. Epische Dichtungen, die ihren Stoff aus der Sagenwelt schöpfen.

1. Die Sage und Mythe. Die Sage, als eigene, selbständige Dichtungsari, ist die Erzählung einer Handlung oder Begebenheit, welche mündlich von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt, daher historisch nicht beglaubigt, sondern unverbürgt, aber an einen bestimmten Ort, meist auch an eine bestimmte Zeit und an eine bestimmte (historische) Person angelehnt ist. Das Wunderbare braucht mit ihr nicht nothwendig verbunden zu sein. Sie tritt ebensowohl in gebundener, wie in ungebundener Form auf. Besonders häufig bearbeitet sind die Sagen vom ewigen Juden Ahasverus, von Doctor Fausts Höllenfahrt und unter den ausländischen die Frithjof-Sage.

A n m. Bezieht sich die Sage auf göttliche Personen, entlehnt sie also ihren Stofs aus der Götter­ welt oder überhaupt aus der vorhistorischen Zeit, so pflegt sie Mythe genannt zu werden.

I. Chidher, der ewig junge, sprach: „Ich fuhr an einer Stadt vorbei; Ein Mann im Garten Früchte brach. Ich fragte, seit wann die Stadt hier sei. Er sprach und pflückte die Früchte fort: Die Stadt steht ewig an diesent Ort Und wird so stehen ewig fort. Und aber nach fünfhundert Jahren Kam ich desielbigen Wegs gefahren.

CH i d h e r. So lang', als schäumen die Wellen dort, Fischt man, und fischt man an diesem Port. Und aber nach fünfhundert Jahren Kam ich desielbigen Wegs gefahren.

Da fand ich einen waldigen Raum Und einen Mann in der Siedelei; Er fällte mit der Axt den Baum. Ich fragte, wie alt der Wald hier sei. Er sprach: Der Wald ist ein ewiger Hort. Da fand ich keine Spur der Stadt; Schon ewig wohn' ich an diesem Ort, Ein einsamer Schäfer blies die Schalmei, Und ewig wachsen die Bäum' hier fort. Die Heerde weidete Laub und Blatt. Und aber nach fünfhundert Jahren Ich fragte: Wie lang' ist die Stadt vorbei? Kam ich desielbigen Wegs gefahren. Er sprach und blies auf dem Rohre fort: Da fand ich eine Stadt, und laut Das Eine wächst, wenn das Andere dorrt; Erschallte der Markt vom Volksgeschrei. Das ist mein ewiger Weideort. Ich fragte: Seit wann ist die Stadt erbaut? Und aber nach fünfhundert Jahren Wohin ist Wald und Meer und Schalmei? Kam ich desielbigen Wegs gefahren. Sie schrieen und hörten nicht mein Wort: Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug; So ging eS ewig an diesem Ort Ein Schiffer warf die Netze frei. Und wird so gehen ewig fort. Und als er ruhte vom schweren Zug, Und aber nach fünfhundert Jahren Fragt' ich, seit wann daS Meer hier sei. Will ich desielbigen Weges fahren." Er sprach und lachte meinem Wort: Rückert.

Sage und Mythe.

2. Sigurds Jugend.

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(Nach der Wilkinasage.)

Sigurd, ein Sohn des Königs Siegmund, ward als neugebornes Kind nach seiner Mutter Tode ohne Wissen seines Vaters von dessen bösen Rathgebern in einem großen Methglase in den Fluß geworfen. Das Gefäß mit dem Kinde trieb nun auf dem Strome in die See hinab, gerieth auf eine Felsbank und zerbrach. Da es gerade Ebbe war und das Wasser siel, so lag das Glasgefäß ganz auf dem Trocknen. Der Knabe, der unterdeß ziemlich gewachsen war, weinte. Da kam eine Hindin, nahm ihn in den Mund und trug ihn zu ihren beiden Jungen ins Lager, wo sie ihn säugte. Nachdem er zwölf Monate bei der Hindin gewesen, war er so groß und stark wie andre Kinder von vier Wintern. Nun war aber ein berühmter und geschickter Schmied namens Mimer, dem manche Gesellen dienten. Mimer hatte auch einen Bruder, der Reigin hieß. Dieser war sehr stark und der böseste aller Männer, und zur Strafe für seine Zaubereien war er in einen Lindwurm verwandelt worden. Der größte und böseste aller Würmer, wollte er jeden tobten, nur seinem Bruder Mimer blieb er gewogen; diesem war auch allein sein Lager bekannt. Eines Tages fuhr Mimer in den Wald, um Kohlen zu brennen. Während er einsam beim Feuer stand, lief ein schöner Knabe auf ihn zn. Mimer fragte ihn, wer er wäre; doch der Knabe konnte nicht sprechen. Er nahm ihn zu sich und legte ihm, da er nackt war, ein Kleid über. Indeß kam auch die Hindin gerannt, ging an Mimers Knie und leckte dem Knaben Gesicht und Kopf. Mimer gedachte den Knaben als seinen Sohn aufzuziehen, nahm ihn mit nach Hause und gab ihm den Namen Sigurd. Dort wuchs der Knabe auf, bis er neun Winter alt war; da war er schon so groß und stark, daß niemand seinesgleichen sah, zugleich aber so wild und unbändig, daß er Mimerö Gesellen schlug und stieß und sie bei ihm kaum aushalten konnten. Einst gerieth Sigurd mit Ekhart, dem stärksten der Gesellen, der ihn mit der Zange ans Ohr geschlagen hatte, in Streit. Er faßte ihn mit der Linken so gewaltig ins Haar, daß er zu Boden stürzte, sprang, da die anderen Gesellen Ekhart zu Hülfe kamen, zur Thüre hinaus und schleifte ihn an den Haaren hinter sich her zu Mimer. Der Meister verwies ihm sein Benehmen, führte ihn bei der Hand zur Schmiede, gab ihm einen der schwersten Hammer in die Hand, legte ein glühendes Eisen auf den Amboß und hieß Sigurd darauf schlagen. Dieser aber schlug auf den ersten Schwung so gewaltig, daß der Stein des Amboßes zersprang und ganz in den Klotz versank. Das Eisen flog umher, die Zange zerbrach, und der Schlägel siel weit von dem Scbaste nieder. Da sprach Mimer: „Nie sah ich von jemand einen fürchterlicheren, noch ungefügeren Schlag. WaS auch aus dir werden mag, zum Handwerke taugst du nicht." Mimer, wohl sehend, daß ihm von dem Knaben großes Unheil kommen werde, faßte den Entschluß, ihn umzubringen. Er ging deshalb in den Wald zum Lindwurme und bat ihn, den Knaben, welchen er ihm schicken würde, zu todten. Am andern Tage fragte Mimer seinen Pflegling, ob er ihm wohl in dem Walde Kohlen brennen wollte. „Wenn du fortan wieder so gut gegen mich bist wie früher," sagte Sigurd, „so fahre ich hin und thue alles, was du verlangst." Da rüstete ihn Mimer zu dieser Fahrt, gab ihm Speise und Wein auf neun Tage, dazu eine Holzart und wies ihn in den Wald. Sigurd hieb starke Bäume um und machte ein großes Feuer. Als es Imbißzelt war, setzte er sich zu seiner Speise und aß so lange, bis nichts mehr übrig war; auch von dem Weine ließ er nicht einen Trunk zurück. Während er nun so für sich hin sprach, es möchte ihm wohl keines Menschen Hand zu mächtig sein, sieh, da kam ein großer Lindwurm auf ihn zu. Sigurd sprang auf, packte den stärksten Baum, der im Feuer loderte, traf den Wurm aufs Haupt und schlug so lange, bis er todt war; dann hieb er ihm den Kopf ab. Da es schon hoch am Tage war und Sigurd nicht wohl mehr nach Hanse kommen mochte, dabei aber nicht wußte, woher er zu essen nehmen sollte, beschloß er den Lindwurm zu sieden, füllte den Kessel mit Wasser und hängte ihn über das Feuer, nahm seine Axt und hieb große Stücke von dem Wurme ab, bis der Kessel voll war. Und da er dachte,

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Epische Poesie.

seine Speise könne gar sein, und zum Versuche die Hand in den Kessel tauchte, verbrannte er sich die Finger und steckte sie schnell zur Abkühlung in den Mund. Aber kaum war ihm die Brühe auf die Zunge gekommen und in den Hals geronnen, so verstand er die Sprache zweier Vögel, die in seiner Nähe auf einem Baume saßen. Der eine sang aber: „Wüßte dieser Mensch, waS wir wissen, so führe er nach Hause und erschlüge seinen Pflegevater Mimer, der ihm hier den Tod zu bereiten suchte. Dieser Wurm war Mimers Bruder; behalt der daS Leben, so wird er den Erschlagenen rächen und den Knaben tobten." Darauf bestrich Sigurd mit dem Blute des WurmeS seine Hände, und wohin das Blut kam, da ward die Haut so fest wie Horn. Da fuhr Sigurd aus den Kleidern und bestrich den ganzen Leib (nur zwischen die Schultern konnte er nicht hinlangen), kleidete sich wieder an und kehrte, das Haupt des Wurmes in der Hand, nach der Wohnung des Schmiedes zurück. Ekhart, der Sigurd kommen sah, meldete es Mimer und floh mit allen seinen Gesellen in den Wald. Mimer allein ging Sigurd entgegen und hieß ihn willkommen. Dieser aber antwortete: „Keiner von euch soll willkommen sein; wie ein Hund sollst du dies Haupt abnagen!" Um ihn zu besänftigen, bot ihm Mimer Helm, Schild und Harnisch, die er für Hertnit, den König in Holmgard, geschmiedet hatte, außerdem Gram, das beste aller Schwerter, und den Hengst Grani, der mit Brunhildens Stuten weidete. Sigurd nahm das Anerbieten an, und sie fuhren heim. Mimer übergab seinem Pflegesohne die Rüstung, die überaus trefflich war, und Sigurd wafsnete sich. Endlich überreichte ihm der Schmied auch das Schwert. Kaum aber hatte Sigurd Gram gefaßt, so schwang er ihn so kräftig, als er nur konnte, und versetzte Mimer den Todesstreich. Nach des Schmiedes Weisung begab sich Sigurd darauf zur Burg Brunhildens, fand aber daS eiserne Thor verschlosien; und da es niemand öffnete, stieß er so hart dagegen, daß die Riegel zersprangen, und ging hinein. Sieben Wachnnänner, die des Thores hüten sollten, kamen ihm entgegen und wollten ihn ob seiner Gewalirhat erschlagen; er aber todtere sie. Nun ergriffen Brun­ hildens Ritter die Waffen und stürmten auf ihn ein; Sigurd wehrte sich indeß aufs tapferste. Als aber Brunhilde die Kunde vernahm, sagte sie: „Da muß Sigurd gekommen sein, Siegmunds Sohn; und hätte er mir sieben Ritter erschlagen, so sollte er doch will­ kommen sein!" ging hinaus und gebot Friede. Auf die Frage, wer er wäre, nannte er sich Sigurd, konnte aber die Frage nach seinen Eltern nicht beantworten. Da sagte sie ihm, er sei der Sohn Siegmunds. Nach der Absicht seiner Fahrt befragt, erwiderte Si­ gurd, er suche das Roß Grani, und darum bitte er Brunhilden. Brunhilde schickte sofort Leute aus, daS Roß zu fangen. Diese waren auch den ganzen Tag auf der Jagd, kehrten aber am Abend unverrichteter Sache zurück. Sigurd war da die Nacht bei guter Bewirthung, am Morgen aber nahm er zwölf Männer zu sich und fuhr zu Grani. Seine Gefährten mühten sich langte umsonst, bis er sich endlich selbst den Zaum geben ließ und auf den Hengst losging, der ihm dann von selbst entgegenkam, so daß ihm Sigurd das Gebiß anlegte und sich hinaufschwang. Darauf dankte er Brunhilden für die Bewirthung und fuhr nach Bertangaland zum Könige Jsung. Dieser, ein wackerer Kämpe, der elf tapfere Söhne hatte, nahm Sigurd auf und machte ihn zu seinem Rathgeber und Banner­ führer. Da zog Dietrich von Bern, der sich in Gesellschaft seiner Helden unbesiegbar däuchte, auf Hildebrands Rath aus, um sich auch gegen Jsung und dessen wackere Söhne zu versuchen. Dietrichs Helden bestanden mit diesen einzeln den Zweikampf, er selbst aber stritt mit Sigurd. Zwei volle Tage blieb der Kampf unentschieden; am dritten aber siegte Dietrich mit Hülfe deS Schwertes Mimung; Sigurd gab sich überwunden und erNärte sich für Dietrichs Mann. Dietrich reiste nun mit dem Könige Gunnar, der auch an der Fahrt gegen Jsung theilgenommen hatte, nach Niflungaland. Sigurd war in ihrem Ge­ folge. Er heiratete dort Kriemhilden, Gunnars und Hognis Schwester. Ein großes Gast­ mahl, wozu man die edelsten und besten Männer einlud, ward veranstaltet, und es währte die Hochzeit sieben Tage. ;

Sage und Mythe.

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Sigurds Schild war mit Gold überzogen; darauf stand ein Drache gemalt, dunkel­ braun oberhalb und schön roth unterhalb. Ebenso war sein Helm, sein Banner, sein Sattel und sein Waffenrock. Sein braunes Haar fiel in großen Locken herab, sein Bart war kurz und dick, die Nase hoch, das Antlitz voll und starkbeinig. Seine Augen waren so scharf, daß wenige ihren Blick ertragen konnten. Seine Haut war hart wie die Haut eines wilden Ebers oder wie Horn, so daß keine Waffen durchdrangen. Seine Schultern hatten die doppelte Breite. Sein Leib war ebenmäßig geschaffen an Höhe und an Dicke. Wenn er, mit dem Schwerte Gram, das sieben Spannen lang war, umgürtet, durch ein aus­ gewachsenes Roggenfeld ritt, berührte des Schwertes Ortband die Ähren. Auch seine

Stärke war groß, wie sein Wuchs. Wohl vermochte er das Schwert zu schwingen, den Speer zu schießen, den Schaft zu werfen, mit dem Schilde zu schirmen, den Bogen zu spannen und Rosse zu reiten. Er war so weise, daß er selbst Dinge, die noch nicht geschehen waren, vorauswußte. Er verstand die Sprache der Vögel, und deshalb kamen ihm wenige Dinge unversehens. Er war gewandt im Reden und ließ von der Sache, über die er einmal angehoben hatte, nicht ab, bis alle gestanden, es könne nicht anders sein. Es war seine Lust, den Freunden Beistand zu leisten, sich selber in Heldenthaten zu versuchen, den Feinden ihr Gut abzugewinnen und den Freunden zu schenken. Niemals ermangelte er des Muthes, niemals war er erschrocken. Vor allen Männern ragte er an Adel und Schönheit, ja fast in allen Dingen hervor. Und wo die größten und berühmtesten Helden genannt werden, da wird er zuerst genannt, und sein Name geht durch alle Zungen von Norden bis nach Süden. Vollmer.

3. Siegfried und Kriemhilde. (Nach dem Siegfriedsliede.) Siegfried, der Sohn des Königs Siegmund von Niederland, wollte als Knabe nie­ mandem unterthänig sein, verließ seinen Vater und trat bei einem Schmiede in Dienst. Aber zu stark zur Ärbeit, schlug er das Eisen entzwei, den Amboß in die Erde. Da er

überdies Meister und Knechte mißhandelte, suchte der Schmied seiner wieder loszuwerden und schickte ihn zu einem Köhler in den Wald, damit ihn ein dort hausender Drache ver­ zehren möchte. Siegfried aber tödtete und verbrannte diesen; durch das Feuer schmolz die Hornhaut des Wurmes und floß wie ein Bächlein dahin. Siegfried stieß den Finger hinein, der dann bei der Erkaltung mit einer Hornhaut überzogen war. Da bestrich der junge Held seinen ganzen Leib, die Stelle zwischen den Schultern ausgenommen, mit der flüssigen Masse. Nun saß zu Worms am Rhein ein König namens Gibich, Vater dreier Söhne und einer Tochter, Kriemhilde. Diese ward von einem Drachen entführt, der sie nach Verlauf von fünf Jahren, wo er seine frühere Menschengestalt wieder erhalten sollte, zur Gattin nehmen wollte. Bis ins vierte Jahr hielt er so die Jungfrau auf dem Drachensteine ge­ fangen. Unterdeß sandte Gibich in alle Lande seine Boten aus, um von der Tochter Kunde zu erhalten; doch vergebens. Da zog der stolze Siegfried mit Habicht und Hunden in den Wald auf die Jagd. Einer seiner Bracken findet die Spur des Drachen, Siegfried eilt ihm nach und gelangt am vierten Tage zum Drachensteine. Dort trifft er auf den Zwergkönig Engel, von dem er erfährt, daß auf dem Felsen ein Drache mit der schönen Kriemhilde hause, zugleich aber vor dem Ungeheuer gewarnt wird. Siegfried will von keiner Warnung hören, versichert eidlich, er wolle und müsse die Jungfrau gewinnen, und bittet Engel um Beistand. Der aber betheuert ihm, all sein Streben sei umsonst; nur Gott könne helfen. Da erfaßt ihn Siegfried erzürnt und schlägt den Zwergkönig so heftig gegen eine Felswand, daß die reiche Krone, welche er auf dem Haupte trug, in Stücke sprang. Nun bat dieser um Gnade und verhieß seinen Beistand, indem er Siegfried zu­ gleich eröffnete, daß der Riese Kuperan, der den Schlüssel zum Drachensteine führe, dort

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Epische Poesie.

Hause. Siegfried läßt sich zu ihm weisen und fordert von ihm die Jungfrau; allein der Riese fährt ihn wüthend an, und es erhebt sich ein gewaltiger Kampf. Kuperan ficht mit. einer ungeheuren stählernen Stange; doch Siegfried weicht dem Schlage geschickt aus und versetzt seinem Gegner mehrere Wunden, so daß dieser forteilt und sich mit Panzer, Helm und Schwert waffnet; sein Schild war so groß wie ein Stadtthor. Von neuem begann der Kampf; Siegfried aber zerhieb nicht nur den gewaltigen Schild, sondern zerschnitt, auch den Panzer seines Gegners. Kuperan bat nun um sein Leben, welches ihm Siegfried auch unter der Bedingung gewährte, daß er ihn zum Felsen führe. Indem aber beide zum Felsen gingen, versetzte Kuperan Siegfried, der sich dessen nicht versah, einen solchen Schlag, daß dieser für todt niederstürzte. Engel ward sein Retter, indem er die Nebelkappe über ihn warf und ihn so dem Blicke des Riesen entrückte. Als sich Siegfried wieder erholt hatte, rieth ihm Engel abermals von seinem Vorhaben ab; doch jener warf die Kappe von sich, stürzte auf den Riesen ein und versetzte ihm acht tiefe Wunden, ließ ihm jedoch, da er mit seiner Hülfe die Jungfrau zu gewinnen hoffte, das Leben. Endlich gelangten sie an die Thür des Drachensteines, und Kuperan schließt auf. Die erstaunte Kriemhilde heißt Siegfried willkommen, erkundet sich nach den Ihren und gelobt ihm, da er Leib und Leben für sie einsetzen will, für immer Treue. Indessen wird Siegfried von dem Riesen erinnert, daß dort ein kostbares Schwert verborgen liege, und daß der Drache nur mit dieser Klinge zu besiegen sei. Ehe sich aber Siegfried dessen versieht, schlägt ihm Kuperan wieder eine so böse Wunde, daß er kaum zu stehen vermag. Ein neuer Kampf erhebt sich, und Sieg­ fried wirft den Riesen, der dieses Mal vergebens um Gnade flehet, den Fels hinab, so daß er sich in Stücke zerfällt. Jetzt war der Sieger, der bereits den vierten Tag weder etwas genossen, noch auch geruhet hatte, ganz ermattet. Engel brachte ihm Speise und Trank zur Labung. Aber ehe Siegfried nur anbiß, hörte er schon den Drachen, der, Feuer sprühend, Durch die Luft daherfuhr. Nun erhob sich ein Kampf, gegen den die früheren nur ein Spiel waren. Der Ungestüm ward so heftig, daß die Zwerge voll Furcht aus dem Berge flohen, und daß selbst Engels Brüder den von ihrem Vater Nibelung gesammelten Schatz, den sie dort hüteten, in eine Höhle unter dem Drachensteine fortschafften. In diese Höhle floh auch Siegfried, da er das Feuer des Drachen, wovon selbst der Fels erglühte, nicht ertragen konnte, und kühlte sich ab. Aber der Kampf begann von neuem; der Drache suchte Siegfried, dem er schon vorher mit seinen Krallen den Schild abgerissen hatte, in seinen Schwanz zu flechten; doch umsonst. Endlich begann die Horndecke des Drachen theils von seinem eigenen Feuer, theils von des Feindes Schlägen zu erweichen; Siegfried hieb den Wurm in der Mitte entzwei und warf ihn den Fels hinab, sank aber zugleich bewußtlos nieder. Nachdem er sich wieder erholt und an Speise und Trank gelabt hatte, beurlaubte er sich von Engel und dessen Brüdern. Ehe er jedoch fortzog, verkündete ihm jener, er werde Kriemhilden nur bis ins achte Jahr besitzen, dann durch Mörderhand fallen, aber durch sein schönes Weib furchtbar gerächt werden. Nun zog Siegfried fort, wandte jedoch wieder um und lud den Schatz, welchen er für des Drachen Eigenthum hielt, auf sein Roß. Zu Worms ward eine glänzende Hochzeit, die über vierzehn Tage dauerte, und zu der man alle Großen des Landes geladen hatte, unter Freude und Jubel gefeiert. Vollmer.

4. Vom heiligen Gral und vom Könige Artus. Tief in den Ideen des urältesten Heidenthums, in den Mythen Hindostans, wurzelt die Sage von einer Stätte auf der Erde, die des mühelosen Genusses und der ungetrübten Freude reiche Fülle dem gewähre, welcher dorthin gelange; von einer Stätte, wo die Wünsche schweigen, weil sie befriedigt, und die Hoffnungen ruhen, weil sie erfüllt sind; von einer Stätte, wo des Wissens Durst gestillt wird und der Friede der Seele keine An-

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fechtung erleidet. Es ist die Sage vom irdischen Paradiese. Als das Paradies im Be­ wußtsein der späteren Menschheit immer tiefer zurücktrat, blieb nur noch ein Edelstein des Paradieses, gleichsam eine heilige Reliquie, doch mit Paradieseskräften ausgestattet, auf der Erde zurück, der als köstliche Schale gedacht wurde, aus welcher die goldenen Himmels­ gaben sich noch in später Zeit, wie in der entschwundenen glücklicheren, reichlich ergossen; ist doch unser „Tischchen, deck' dich!" nur die letzte, dunkle Ahnung der Paradieseszeit, die wir mit unsern fernen Stammesverwandten in Indiens Bergen theilen; ist doch das Streben nach dem Stein der Weisen das irdische, nie gestillte Suchen nach jenem verlorenen Edelstein des Paradieses. Diese Sagen, auf heidnischem Boden erwachsen, ergriff nun der tief innerliche Geist des christlichen Mittelalters und bildete sie aus zu einer christlichen Mythologie. Ein köstlicher Stein von wunderbarem Glanze, so lautet der christliche Mythus, war, zu einer Schüssel verarbeitet, im Besitze Josephs von Arimathia; aus diesem Gefäße reichte der Herr in der Nacht, da er verrathen ward, selbst seinen Leib den Jüngern dar; in dieses Gefäß wurde, nachdem Longinus die Seite des am Kreuze Gestorbenen geöffnet, das Blut aufgefangen, welches zur Erlösung der Welt geflossen war. Dieses Gefäß ist darum mit Kräften des ewigen Lebens ausgestattet; nicht allein, daß es, wo es verwahrt und gepflegt wird, die reichste Fülle irdischer Güter gewährt — wer es anschauet, nur einen Tag an­ schauet, der kann, und wäre er auch siech bis zum Tode, in derselben Woche nicht sterben, und wer es stetig anblickt, dem wird nicht bleich die Farbe, nicht grau das Haar, und schauere er es zweihundert Jahre lang an. Dies Gefäß eben ist der heilige Gral (denn Gral bedeutet Gefäß, Schüssel), und es symbolisirt dasselbe die durch die Vermittlung der Kirche dargebotene Erlösung des Menschengeschlechts durch das Blut Jesu Christi. An jedem Charfreitage bringt eine leuchtend weiße Taube die Hostie vom Himmel in den Gral hernieder, durch welche die Heiligkeit und die Kräfte des Grals erneuert werden. Dieses Heiligtbums Hüter und Pfleger zu sein, ist die höchste Ehre, die höchste Würde der Mensch­ heit. Nicht jeder aber ist dieser Ehre würdig: Pfleger des Grals kann nur ein treues, sich selbst verleugnendes, alle Eigensucht und allen Hochmuth in sich vertilgendes Volk, König und Pfleger dieser Hüter nur der unter diesen Treuen und Demüthigen demüthigste und treueste, der reinste und keuscheste Mann sein. Diese Gralspfleger heißen Templer als Hüter des Gralstempels (Tempieisen), und es liegt offenbar eine nahe Beziehung in diesen Gralspflegern zu dem Ideal des christlichen Heldenthums, den Tempelrittern, wie sie im Anfang waren. Es war nämlich lange Jahre, nachdem der Gral durch Joseph in den Occident war gebracht worden, niemand würdig, dieses Heiligthum zu besitzen, weshalb Engel dasselbe schwebend in der Luft hielten, bis Titurel, der sagenhafte Sohn eines sagen­ haften christlichen Königs von Frankreich, nach Salvaterre in Biskaya geführt wurde, wo er auf dem Berge Montsalvage eine Burg für die Hüter des Grals und einen Tempel für das Heiligthum selbst erbaute und jenes heilige Ritterthum gründete. Die Fläche jenes Berges, welche von Onyx war, wurde glatt geschliffen, daß sie leuchtete wie der Mond, und auf dieselbe wurde durch des Grales Kraft über Nacht der Grundriß der Burg und des Tempels gezeichnet. Der Tempel war rund, hundert Klafter im Durchmesser. An der Rotunde standen zweiundsiebenzig Chöre oder Kapellen, sämmtlich achteckig; auf je zwei Kapellen kam ein Thurm, also sechsunddreißig Thürme, rund herum stehend, von sechs Stockwerken, jedes mit drei Fenstern und mit einer von außen sichtbaren Spindeltreppe. In der Mitte erhob sich ein doppelt so hoher und doppelt so weiter Thurm. Das Werk war auf eherne Säulen gewölbt, und wo sich die Gewölbe mir den Schwibbogen reiften, waren Bildwerke von Gold und Perlen. Die Gewölbe waren blauer Saphir und in der Mitte eine Scheibe von Smaragd darin gefalzt mit dem Lamm und der Kreuzes­ fahne in Schmelzwerk. Alle Altarsteine bestanden aus blauen Saphirsteinen als Symbolen der Sündentilgung, und auf ihnen waren grüne Sammetdecken gebreitet: alle Edelsteine

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fanden sich zusammen vereinigt in den Verzierungen über den Altären und den Säulen; die goldfarbene Sonne und der silberweiße Mond waren im Gewölbe der Tempelkuppel in reinstrahlenden Diamanten und Topasen dargestellt, so daß das Innere auch bei Nacht mit wunderbarem Glanze funkelte und leuchtete; die Fenster waren nicht von Glas, sondern von Krystallen, Beryllen und andern farbigen Edelsteinen, und um den brennenden Glanz zu mildern, waren Gemälde auf diesen Steinen entworfen. Das Estrich war wasserheller Krystall und unter diesem, von Onyx gefertigt, alle Thiere der See, als ob sie lebten. Die Thürme waren von edlem Gestein, mit Gold ausgelegt. Die Dächer der Thürme und des Tempels selbst waren von rothem Gold mit Verzierungen von blauem Schmelzwerk. Auf jedem Thurme stand ein krystallnes Kreuz und auf diesem ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen, aus rothem Golde geschlagen und weithin funkelnd, so daß er von ferne, da man das krystallne Kreuz nicht sehen konnte, fluglings zu schweben schien. Der Knopf desHauptihurmes war ein riesiger Karfunkel, der weithin in den Wald auch bei Nacht leuch­ tete, so daß er den Templeisen zum Leitstern diente. In der Mitte dieses Tempelbaues unter dem Kuppelgewölbe stand der ganze Bau noch einmal im kleinen als Ciborium oder Sakramentshäuslein, und in diesem wurde der heilige Gral selbst aufbewahrt. Um diesen Graltempel, der von einer weitläufigen, mit Mauern und zahllosen Thür­ men verwahrten Burg umschlossen war, lag ein dichter Wald von Ebenholzbäumen,. Cypressen und Cedern, der sich sechzig Rasten nach allen Seiten hin erstreckte, und durch welchen niemand ungerufen hindurchdringen konnte, wie niemand zu Christo kommen kann, er rufe ihn denn; dennoch aber wird das Geheimniß des Grals niemandem aufgeschlossen, wenn er nicht fragt; wer, nachdem er berufen worden ist, stumm und stumpf und ohne in dem Wunder das Wunder zu ahnen, wie vor dem Alltäglichen, so auch vor dem Grab stehen bleibt oder vorübergeht, der wird ausgeschlossen von der Gemeinschaft der Hüter und Pfleger des Grals, wie der, der nicht nach dem christlichen Heile fragt, desselben auch nicht theilhaftig wird. Eine lange Reihe von Jahren und Jahrhunderten hat dieser Graltempel in seiner Herrlichkeit im Occident gestanden: da hörte bei der zunehmenden Gottlosigkeit des occidentalischen Christenvolkes die Würdigkeit desselben auf, den Gral in seiner Mitte zu beherbergen, und er wurde von Engeln mitsammt dem Tempel hinweg­ gehoben und tief hineingerückt in den Orient, in das Land der mittelalterlichen Märchen und Wunder, in das Land des Priesters Johannes. So blieb die Dichtung in sich zu­ sammenhängend und unangreifbar. Diese Sage vom Gral mag in ihrer christlichen Umformung in Spanien ihr Mutter­ land haben; Frankreich und Deutschland sind die Stätten ihrer Pflege und ihres dich­ terischen Wachsthums. Doch tritt sie wenigstens in Deutschland in keinem Gedichte ganz selbständig, vielmehr verbunden mit einem andern, ihr an und für sich ganz fremden Sagenkreise auf: es ist dies die britische Sage vom König Artus und der Tafelrunde. Artus oder Artur ist der alte britische Nationalheld, einer der Kämpfer gegen die eindringenden und erobernden Deutschen, die Angeln und Sachsen, um den sich das erlöschende Nationalbewußtsein des von Römern und Germanen aus der Reihe der herr­ schenden Völker Europas verdrängten Kellenvolkes sammelte. Zu Kaerlleon (Schloß Leon) am Usk in Wales sitzt König Artus zu Hofe mit Ghwenhwywar (romanisirt Ginovre), seiner schönen Gemahlin, umgeben von einem glän­ zenden Hofstaat von vielen hundert Rittern und schönen Frauen, welche sich aller ritterlichen Zucht und Tugend beflissen und der Welt als glänzendes Vorbild, die Ritter in Tapferkeit und Frauendienst, die Frauen in Anmuth und Hofsitte voranleuchteten. Der Mittelpunkt dieses zahlreichen, glänzenden Kreises war eine Zahl von zwölf Rittern, die um eine runde Tafel saßen und unter den Tapfern die Tapfersten, unter den Edlen die Edelsten, des Ritterrechtes pflegten und die Ritterehre hüteten. Zu dem Hofstaate des Königs Artus zu gehören und vollends unter den Zwölfen der Tafelrunde zu sitzen, war die höchste Ehre,

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welche ein Ritter erstreben, — ausgeschlossen zu sein von Artus' Hofe wegen Mangel an höfischer Zier und ritterlicher Tapferkeit, die höchste Schmach, welche ihn treffen konnte. Von Artus'Hofe aus zogen die Ritter auf und ab im Lande umher, Abenteuer aufzusuchen, Frauen zu schützen, hohnsprechende Helden zu demüthigen, Verzauberte aus ihrem Zauber zu lösen, Riesen und Zwerge zu bändigen; und aus der Beschreibung dieser abenteuer­ lichen Fahrten bestehen die zahlreichen Rittergedichte, welche in walisischer, in französischer und in deutscher Sprache die Helden Arturs und ihn, das Haupt der Helden selbst, feiern. Einer der vorzüglichsten Schauplätze der Wunder der Artussage ist der Wald von Brezilian (keltisch Broch-allean7 der Wald der Einsamkeit), der noch bis auf diesen Tag in der Bretagne diesen Namen führt. Die in dem Artuskreise am meisten gefeierten Helden sind: Parcival, Lohengrin, Tristan, Jwein, Erec, Gawain, Wigalois, Wigamur und Lanzelot. Vilmar.

5. Roland. (Nach Turpins Chronik.) Karl dem Großen träumt, ein schöner Strom von Sternen senke sich auf die spanische Halbinsel nieder, und dreimal erscheint ihm der Apostel Jakobus und fordert ihn auf, sein Grab in Galizien, wie es durch die Sterne angedeutet sei, aus der Gewalt der Ungläu­ bigen zu befreien. Karl gehorcht, zieht mit Heeresmacht nach Spanien, zerstört die Heiden­ tempel, hat aber einen schweren Stand. Eines Abends wachsen viertausend Lanzen, welche die Seinen in den Boden gestellt, als Bäume fest und blühen; die viertausend Krieger, denen sie gehören, fallen dann als Märtyrer im Kampfe. Auch Milo, Rolands Vater, fällt. Endlich werden die Heiden besiegt, und ihr König Agolant kommt, um sich taufen zu lassen. Als er bei Karl aber dreizehn Bettler beim Morgenmahle findet und auf seine Frage, was das bedeute, Karl ihm sagt, er speise täglich so viele Arme nach der Apostel­ zahl, da erwidert Agolant: „Dein Glaube kann nicht der rechte sein, weil du die Boten deines Gottes nicht besser behandelst," und kehrt um. Karl schämt sich und kleidet und speist nun alle Armen aufs beste. Der Kampf beginnt von neuem. Unter den Heiden ragt ein Nachkomme Goliaths, der Riese Ferrakut, hervor, den aber Roland überwindet. Dann führt Ibrahim, der maurische König von Sevilla, den Christen ein in Teufelslarven ver­ kapptes Heer entgegen; aber Karl läßt seinen Pferden Augen und Ohren mit leinenen Umhängen zudecken und siegt. Endlich kehrt er nach Frankreich zurück und begnügt sich, die beiden allein noch übrigen maurischen Könige in Spanien, Marsilie in Saragossa und dessen Bruder Belligant, durch Ganelon zur Taufe auffordern zu lassen. Ganelon aber läßt sich von diesen bestechen, das noch in Spanien zurückgebliebene fränkische Heer unter Roland in einen Hinterhalt zu bringen. Dies geschieht im Thal Roncesvalles in den Pyrenäen. Die Christen fallen nach der tapfersten Gegenwehr, zuletzt Roland, aus vielen Wunden blutend. Weinend nimmt er von seinem guten Schwert Durenda Abschied und schlägt es, um es nicht den Heiden zu überlassen, mit solcher Kraft in einen Felsen, daß es niemand mehr herausziehen kann. Dann bläst er so gewaltig in sein Hifthorn, daß es davon zerspringt, aber der Schall acht Stunden weit von Karl gehört wird. In diesem Augenblick liest Bischof Turpin vor Karl dem Großen Messe und erblickt die Seele Rolands, wie sie von Engeln zum Himmel getragen wird. Karl kehrt um, rächt und bestattet seine Getreuen und läßt Ganelon von Pferden zerreißen. Menzel.

6. Das Vogelnest. An eine Kirche kam ich einst zu wallen LaubwerkundmancheBlunV,inStein gehauen; Mit Klosterzellen, längst verlass'nen Hallen; Vor allen Bildern zierlich, wahr und lebend An spitzgebog'nen Fenstern ist zu schauen Ein steinern Vogelnest, am Aste schwebend,

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Der Jungen Schnäblern heischend aufgeriffen. Und vorwurfsvoll erschreckt ihn die Geschichte, Die Mutter, sie zu atzen, hold beflissen, Wie er, ein Knabe, einst den Wald durchzogen. Sie wärmend mit den aufgespreizten Schwin­ Da kam ein Vöglein heim ins Nest geflogen; An hohen Zweigen hing die Frühlingsbrut, gen; Die Kleinen werden fliegen bald und singen. Das grüne Laub hielt sie in dunkler Hut; Ich stand gefesselt von des Meisters Macht Doch strich der Wind, den grünen Schleier Und sann gerührt, was er sich wohl gedacht. hebend, Hat er im Bild die Kirche still verehrt, Der Knabe sah das Nest am Wipfel schwebend. Wie sie getreu die Kinder schützt und nährt? Da hob er einen Stein und warf empor; Zerstört hinfiel die Brut, und ihn ergriff, Vom Bildner kündet uns die alre Sage, Im Bilde rede des Gewissens Klage. Daß er es heut' noch hört, der Klagepsiff, Mit dem im Wald die Mutter sich verlor. Es lebt' ein Mönch, noch einer von den alten, „ O düstrer Groll, der gern den Bau vernichtet, Wo sich ein Glück auf Erden eingerichtet!" Von jenen frommen, rührenden Gestalten. Rein, alle segnend, allen mild und gut, So klagt der Mönch und kann sich's nicht Wie Frühlingswärme auf den Saaten ruht, vergeben, So war sein Herz, so lebten seine Sitten; Daß er den Vögeln brach ihr junges Leben. Er kränkte niemand und verletzte keinen. Und das Zerstörte wieder aufzubauen, Und flössen Thränen ihm, so sind's die seinen, Hat er das Nest im Felsen ausgehauen. Die nächtlich von der bleichen Wange glitten. Oft sah man ihn zu seinem Bilde kehren, Einst geht mit alter Zeit er zu Gerichte, Um seine stille Wehmuth dran zu nähren. Lenau.

7. Der fahrende Hornist. Ein Spielmann aus Welschland kam, Der blies das Horn so süß, Daß er 'nem jeden, der's vernahm, Das Herz aus dem Leibe blies. Vor Kaiser Karl und seinem Gcsind', Da ließ er sein Horn erschallen; Er blies so laut, er blies so ünfc, Das that dem Kaiser gefallen.

Es war zuerst ein schwimmender Hall Und dann ein hallend Geschmetter. Der Westwind schwieg und der Wasserfall, ES schwieg das Rauschen der Blätter. Die Bergeskuppen, die Schlösser darauf. Die neigten sich horchend hinüber; Den Flug, den hielten die Adler auf Und schwammen lautlos darüber.

fr Mein Spielmann, mein Spietmann, Dein Horn hat hellen Ton, Und was das Horn erreichen kann, Das sei des Hornes Lohn. Auf hohem Berg, in weiter An, Da sollst du's blasen am Rheine; So weit man's hört im ganzen Gau, Sei alles Land das Deine!"

Und lustiger blies der Spielmann, Er blies zum wirbelnden Tanze. Die Eichen faßten einander an Und walzten vom Bergeökranze; Die Schnitter warfen die Sensen fort, Die Dirnen mußten sie schwingen; Der alre Rhein am felsigen Bord, Wie ein Knäblein wollt' er springen.

^Der Spielmann auf dein Berge stand, Ringsum viel Rebenhügel Und blaues Gebirg und grünes Land Und blitzender Ströme Spiegel. Er setzte das Horn wohl an den Mund, Sich selber auf den Rasen; Weit in die Rund' aus Herzensgrund Da tbät er blasen und blasen.

Der Spielmannnahm das Horn vom Mund, War freudig über die Maßen, Durch Dorf und Weiler in die Rund', Da schritt er seiner Straßen. „Hast du das Horn gehört?" fragt er, That sich ein Bauer zeigen; Und scholl ein „ Ja!" zur Antwort her. Rief er: „Du bist mein Eigen."

Sage und Mythe. Ich wollt', ich wär' ein Spielmanu Mit solcher Klanggewalt, Daß alles käm' in meinen Bann, So weit mein Lied erschallt.

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Nicht Land und Leut', nicht Burg und Wald, Die sollten vor mir sich neigen: Ich wollte nur, wo es wiederhallt, Wär' jedes Herz mein Eigen. Strachwitz.

8. Das Riesenspielzeug. Burg Nideck ist im Elsaß der Sage wohl bekannt, Die Höhe, wo vor Zeiten die Burg der Riesen stand. Sie selbst ist nun verfallen, die Stätte wüst und leer; Du fragest nach den Riesen, du findest sie nicht mehr.

Einst kam das Riesenfräulein aus jener Burg hervor. Erging sich sonder Wartung und spielend vor dem Thor Und stieg hinab den Abhang bis in das Thal hinein, Neugierig zu erkunden, wie's unten möchte sein. Mit wen'gen raschen Schritten durchkreuzte sie den Wald, Erreichte gegen Haslach das Land der Menschen bald, Und Städte dort und Dörfer und das bestellte Feld Erschienen ihren Augen gar eine fremde Welt.

Wie jetzt zu ihren Füßen sie spähend niederschaut, Bemerkt sie einen Bauer, der seinen Acker baut; Es kriecht daö kleine Wesen einher so sonderbar, Es glitzert in der Sonne der Pflug so blank und klar.

„Ei, artig Spielding!" ruft sie, „das nehm' ich mit nach HauS!" Sie knieet nieder, spreitet behend ihr Tüchlein aus Und feget mit den Händen, was da sich alles regt, Zu Haufen in das Tüchlein, das sie znsammenschlägt,

Und eilt mit freud'gen Sprüngen (man weiß, wie Kinder sind) Zur Burg hinan und suchet den Vater auf geschwiud. „Ei, Vater, lieber Vater, ein Spielding wunderschön, So Allerliebstes sah ich noch nie auf unsern Höh'n!"

Der Vater saß am Tische und trank den kühlen Wein; Er schaut sie an behaglich, er fragt daö Töchterlein: „Was Zappeliges bringst du in deinem Tuch herbei? Du hüpfest ja vor Freuden, laß sehen, was eS sei!" Sie spreitet aus das Tüchlein und fängt behutsam an, Den Bauer aufzustellen, den Pflug und das Gespann. Wie alles auf dem Tische sie zierlich aufgebaut, Da klatscht sie in die Hände und springt und jubelt laut. Der Alte wird gar ernsthaft und wiegt sein Haupt und spricht: „Was hast du angerichtet? Daö ist ein Spielzeug nicht; Wo du es hergenommen, da trag' es wieder hin; Der Bauer ist kein Spielzeug. Was kommt dir in den Sinn?

Sollst gleich und ohne Murren erfüllen mein Gebot; Denn wäre nicht der Bauer, so hättest du kein Brot; Es sprießt der Stamm der Niesen aus Bauernmark hervor; Der Bauer ist kein Spielzeug, da sei uns Gott davor!" Die?.tz h. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur. -2. Aufl.

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Epische Poesie. Burg Nideck ist im Elsaß der Sage wohl bekannt, Die Höhe, wo vor Zeiten die Burg der Riesen stand. Sie selbst ist nirn verfallen, die Stätte wüst und leer, Und fragst du nach den Riesen, du findest sie nicht mehr. Chamiffo.

A. Der Jäger am Mummelsee. Der Jäger trifft nicht Hirsch, nicht Reh, Verdrießlich geht er am Mummelsee.

Drum itotP dich mit lediger Tasche nach Haus, Ihr Hirschlein, tanzet; sein Pulver ist aus!"

„Was sitzt am Ufer? — ein Waldmänn­ Da springen ihm Häselein über das Bein, lein; Und lachend umflattern ihn Lachtäubelein. Mir Golde spielt eö im Abendschein!"

Der Jäger legt an: „ Du Waldmännlein, Bist heute mein Hirsch, dein Goto ist mein!" DaS Männlein aber tauchl unter gut; Der Schuß geht über die Mummelflut.

„Ho, ho, du toller Jägersmann, Schieß du auf — was man ireffen kann! Geschenkt hätt' ich dir all 2as Gold, Du aber hast's mit Gewalt g ewollt!

Und Elstern stibitzen ihm Brot aus dem Sack Mit Schabernack, husch! und mit Gick und mit Gack

Und flattern zur Heimat und singen ums Haus: „Leer kommt er, leer kommt er, sein Pulver ist aus."

10. Mummelsees Rache. Glatt ist der See, stumm liegt die Flut, so still, als ob sie schliefe; Der Abend ruht wie dunkles Blut rings auf der finstern Tiefe; Die Binsen int Kreise nur leise flüstern verstohlener Weise:

„Wer schleicht dAt aud tcm Tannenwald mit scheuem Tritte her? Was schleppt er in dem Sacke nach so mühsam und so schwer? Das ist der rothe Dieter, der Wilderer benannt, Dem Förster eine Kugel hat er durchs Herz gebrannt; Jetzt kommt er, in die Wogen den Leichnam zu versenken, Doch unser alter Mummler läßt sich so waö nicht schenken.

Der Alte hat gar seifen Schlaf, ihn stört sogar ein Stein, Den man vielleicht aus Unbedacht ins Wasser wirft hinein; Dann kocht eS in der Tiefe, Gewitter steigen auf, Und flieht nicht gleich der Wandrer mit blitzgeschwindem Lauf, So muß er in den Fluten als Opfer untergehen, Kein Auge wird ihn jemals auf Erden wiedersehen." Da steht der Frevler an dem See, wirft seine Bürde ab Und stößt hinab mit einem Fluch den Sack ins nasse Grab. „ Da, jage du nun Fische da drunten in dem See! Jetzt kann ich ruhig jagen im Forste Hirsch und Reh, Kann mich nun ruhig wärmen an deines Holzes Gluten, Du brauchst ja doch kein Feuer da drunten in den Fluten."

Er sprichr'ö und will zurück, doch hält ein Dorngestrüpp ihn an, Und immer fester zerrt es ihn mit tausendfachem Zahn;

Kopisch.

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Da kocht es in der Tiefe, Gewitter steigen auf, Dumpf rollt ob dem Gebirge der Donner seinen Lauf. Der See steigt überS Ufer, es glühn des Himmels Flammen, Und hoch schlägt über dem Mörder die schwarze Flut zusammen.

Stumm liegt der See, als ob die Glut der Rache wieder schliefe. Glatt ist die Flut, im Monde ruht die unermess'ne Tiefe. Die Binsen im Kreise nur leise flüstern verstohlener Weise. Lchnezler.

u. Die Jungfrau von Stubbenkammer. Ich trank in schnellen Zügen Tas Leben und den Tod Beim Königsstuhl auf Rügen Am Strand im Morgenroth.

Da sah sie unter Thränen Mich an und bittend fast; Da hat ein heißes Sehnen Mich namenlos erfaßt.

Ich kam am frühen Tage Nachsinnend einsam her Und lauscht' dem Wellenschläge Und schaute übers Meer.

„ Gegrüßet mir, du blendend. Du wundersames Bild!" Sie aber, ab sich wendend, Sprach schluchzend, aber mild:

Wie schweifend aus der Weite Mein Blick sich wieder neigt, Da hat sich mir zur Seite Ein Feenweib gezeigt,

„ Ich weine trüb' und trüber Die Augen mir und blind; Gar viele ziehn vorüber, Und nicht ein Sonntagskind.

An Schönheit sondergleichen, Wie nimmer Augen sahn, Mit goldner Kron' und reichen Gewändern angethan.

Nach langem, bangem Hoffen Erreichst auch du den Ort. O hättest du getroffen Zum Gruß daS rechte Wert!

Sie kniet' auf Felsensteineu, Umvrandet von der Flut, Und wusch mir vielem Weinen Ein Tuch, befleckt mit Blut.

Hätt'st du Gotthelf'! gesprochen, Ich war erlöst und dein. Die Hoffnung ist gebrechen, Es muß geschieden sein!"

Umsonst war ihr Beginnen, Sie wusch und wusch mit Fleiß, Der böse Fleck im Linnen Erschien doch nimmer weiß.

Da stand sie auf zu gehen, Das Tuch in ihrer Hand, Und, wo die Pfeiler stehen, Versank sie und verschwand. Chamisso.

12. Die Fürstentasel. Wer ist jene, die auf jener Haide Sitzt in Mitte von zwölf edlen Herren? Ist Libusia, ist des weisen Kroko Weise Tochter, Böhmenlandes Fürstin, Sitzet zu Gericht und sinnt und richtet. Aber jetzo spricht sie scharfes Urtheil Rotzan, einem Reichen. Und der Reiche Fahret auf im Grimme, schlaget dreimal Mit dem Sporn den Boden und ruft also:

»Weh uns, Böhmen!

Weh uns, tapfre Männer, Die ein Weib verjochet und betrüget, Weib mit langem Haar und kurzen Sinnen! Lieber sterben, als dem Weibe dienen!" Und Libuffa hört's; und ob eS freilich Tief sie kränkt in ihrem stillen Busen, Denn des Landes Mutter, aller Guten Und Gerechten Freundin war sie immer,



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Dennoch lächelt sie und redet gütig: „ Weh denn euch, ihr Böhmen, tapfre Männer, Daß ein lindes Weib euch liebt und richtet; Sollet einen Mann zum Fürsten haben, Einen Geier statt der frommen Taube!" Und stund auf voll schönen, stillen Zornes. „Morgen ist der Tag! Wenn ich euch rufe, Sollt ihr haben, was ihr wünschet." Alle Blieben stumm und tiefbeschämet stehen. Fühlten alle, wie sie übel lohnten Ihrer Treu' und Mutterlieb" und Weisheit. Doch gesprochen war'S; und alle, lüstern Auf den Morgen, auf den Mann und Fürsten, Gehn mit Hellen Haufen aus einander. Lange hatten viele reiche Herren Nach Libussas Hand und Thron getrachtet, Sie gelockt mit Schmuck und Schmeicheleien, Reichem Gut und Heerden. Doch Libuffa Wollte nie sich Hand und Thron verkaufen. Wen nur wird sie wählen? Alle Edlen Schlafen unruhvoll und hoffen Morgen. Morgen kommt. Die Seherin Libuffa Ist noch ohne Schlaf und oh ne Schlummer, Ist auf ihrem hohen, heiligen Berge, Fragt die Göttin Klimba, bis die Göttin Endlich spricht, aufdeckt des Reiches Zukunft: „ Auf, wohlauf, Libuffa! Steig' hernieder! Hinterm Berge dort an BilaS Ufer Soll dein weißeö Roß den Fürsten finden, Der Gemahl dir sei und Stammes Later; Fährt da emsig mit zwei weißen Stieren, In der Hand die Ruthe seines Stammes, Und hält Tafel da auf eiser'm Tische. Eile, Tochter! Schicksalsstunde eilet.'* Schwieg die Göttin. Und Libuffa eilet, Sammelt ihre Böhmen, legt die Krone Nieder auf die Erde und spricht also: „ Auf, wohlauf, ihrBöhmen, tapfreMänner! Hinterm Berge dort an Ailas Ufer Soll mein weißes Roß den Fürsten finden, Der Gemahl mir sei und Grammes Bater; Fährt da emsig mit zwei weißen Eueren, In der Hand die Ruthe seines Stammes, Und hält Tafel da auf eiser'm Tische. Eilet, Kinder! Schicksalsstunde eilet.'" Und sie eilten, nahmen Kron' und Mantel, Und das Roß vor ihnen, wie der Wind schnell, Und ein weißer Adler über ihnen, Bis an Bilas Ufern überm Berge Stund das Roß und wiehert einem Manne,

Der den Acker pflüget. Tief verwundert Stehen sie. Er schreitet in Gedanken, Pflüget emsig mit zwei weißen Stieren, In der Rechten eine dürre Ruthe. Und sie boten laut ihm guten Morgen. Stärker treibt er seine weißen Stiere, Höret nicht. „ Sei uns gegrüßet. Fremder, Du, der Götter Liebling, unser König!" Treten zu ihm, legen ihm den Mantel Um die Schulter und die Königskrone Auf sein Haupt. „O hättet ihr mich immer Pflügend meinen Acker lasien enden!" Spricht er; „ eurem Reiche sollt's nicht schaden! Doch es ist des schnellen Schicksals Stunde." Und steckt' ein die Ruthe in die Erde, Band die weißen Stiere los vom Pfluge. „Geht, woher ihr kämet!" Plötzlich hoben Sich die weißen Stiere in die Luft hin, Gingen ein zu jenem nahen Berge, Der sich schloß, und auö ihm sprang ein faules Wasier, daö noch jetzo springet. Plötzlich Grünete die Ruthe aus dem Boden, Sprießend oben in drei Zweige. Staunend Sehn sie alles. Und Przemysl, der Denker, Also war sein Name, kehrt den Pflug um, Langend Käs' und Brot aus seiner Tasche, Heißt sie niedersitzen auf die Erde, Legt die Mahlzeit auf den Pflug mit Eisen. „Haltet denn mit eurem Fürsten Tafel!" Und sie staunen ob des SchicksalösprucheS Wahrheit, sehn den Eisentis'ch vor ihnen Und die Ruthe grünen. Und, o Wunder! Schnell vertrocknen zwei der dreien Zweige, Und der dritte blühet. Endlich können Sie nicht schweigen, und der Pflüger redet f „Staunet nicht, ihr Freunde! Diese Blüte Ist mein Königsstamm. Es werden viele Wollen herrschen und verdorren. Einer Wird nur König sein und blühen." „Aber, Herr, wozu der sondre Tisch von Eisen?" „Und ihr wisset nicht, auf welchem Tische Stets ein König iffet? Eisen ist er, Ihr die Stiere, die sein Brot ihm pflügen." „Aber, Herr, ihr pslügetet so emsig, Zürnetet, den Acker nicht zu enden?" „O, ich härt' ihn enden können, hätte Euch Libussa später mir gesendet! Niemals würde dann, so spricht das Schicksal, Euerm Reiche süße Frucht ermangeln. In den Bergen sind nun meine Stiere!"

Sage und Mythe. Damit stund er auf und stieg aufs schöne, Weiße Roß, das scharrt und triumphirer. Seine Schuhe waren Lindenrinde Und mit Bast von seiner Hand genähet. Und sie legen an ihm Fürstenschuhe. „Lastet," ruft der Fürst vom weißen Roste, „Laßt mir meine Schuh' von Lindenrinde Und mit Bast von meiner Hand genähet, Daß es meine Söhn' und Enkel sehen, Wie ihr Königsvater einst gegangen!" Küßt' die Schuh' und barg sie in den Busen. Und sie reiten, und er spricht so gütig Und so weise, daß in seinem langen Kleide sie fast einen Gott erblickten.

69

Und sie kamen zu Libustas Hofe, Die ihn froh empfing mit ihren Jungfraun; Und das Volk, eö rief ihn aus zum Fürsten, Und Libusta wählt' ihn sich zum Gatten, Und regierten gut und froh und lange, Gaben trestliche Gesetz' und Rechte, Bauten Städte; und die Ruthe blühte, Und die Schuhe blieben Angedenken, Und die Pflugschar säumte nicht, so lange Primislaus und Libusta lebten. Weh, ach weh! Die Ruthe ist verdorret, Und die armen Schuhe sind gestohlen, Und der Eisentisch ist güldne Tafel! Herder.

13. Lorelei. Ich weiß nicht, waS soll es bedeuten, Daß ich so traurig bin; Ein Märchen aus alten Zeilen, DaS kommt mir nicht aus dem Sinn.

Sie kämmt es mit goldnem Kamme Und singt ein Lied dabei; Das hat eine wundersame, Gewaltige Melodei.

Die Luft ist kühl, und es dunkelt, Und ruhig fließt der Rhein; Der Gipfel deS Berges funkelt Im Abendsonnenschein.

Den Schisser im kleinen Schiffe Ergreift es mit wildem Weh; Er schaut nicht die Felsenriffe, Er schaut nur hinauf in die Höh'.

Die schönste Jungfrau sitzet Dort oben wunderbar. Ihr goldnes Geschmeide blitzet, Sie kämmt ihr goldnes Haar.

Ich glaube, die Wellen verschlingen Am Ende Schiffer und Kahn; Und das hat mit ihrem Singen Die Lorelei gethan. .

14. Frau Hitt. Wo schroff die Straße und schwindlig jäh Und blickt doch, du Armer, dein Auge hold, Hernieder leitet zum Inn, Wie des Junkers Auge so klar; Und ist doch dein Haar so reines Gold, Dort saß auf der mächtigen Bergeshöh' Am Weg' eine Bettlerin. Wie des reichsten Knaben Haar."

Ein nacktes Kindlein lag ihr im Arm Und schlummert' in süßer Ruh; Die zärtliche Mutter hüllt' eö warm Und wiegt' es und seufzte dazu.

So klagte sie bitter und weinte sehr, Als Lärmen ans Ohr ihr schlug; Mit Jauchzen trabte die Straße einher Ein glänzender Reiterzug.

„Du freundlicher Knabe, du liebes Kind, Voran auf falbem, schnaubendem Roß Die herrlichste aller Fraun, Dich zieh' ich gewiß nicht groß; Bist ja der Sonne, dem Schnee und dem Wind Im Mantel, der strahlend vom Nacken ihr floß, Wie ein schimmernder Stern zu schaun. Und allem Elend bloß.

Zur Speise hast du ein hartes Brot, Das ein Anderer nimmer mag; Und wenn dir jemand ein Äpflein bot.

Die strahlende Herrin war Frau Hitt, Die Reichste im ganzen Land, Doch auch die Ärmste an Tugend und Sitt',

So war es dein bester Tag.

Die rings im Lande man fand.

Epische Poesie.

70

Ihr Goldroß hielt die Stolze an Und hob sich mit leuchtendem Blick Und spähte hinunter und spähte hinan Und wandte sich dann zurück, „Blickt rechts,

die Verachtete wüthender Schmerz; Sie schreit, daß die Felswand dröhnt: „O würdest du selber zu hartem Erz, Die den Jammer deS Armen höhnt!" Da

ergreift

links hin in die Sie schreit's, und der Tag verkehrt sich in Fern, Blickt vor- und rückwärts herum, Nacht, So weit ihr überall schau:, ibr Herrn, Und heulende Stürme ziehn, Ist all' mein Eigenthum. Und brüllender Donner rollt und kracht, Und zischende Blitze glühn. Biel tapfre Vasallen gehorchen mir, Beim ersten Winke bereit; Den stutzenden Falben spornt Frau Hitt. Fürwahr, ich bin eine Fürstrn hierr „ Ei, Wilder, waö bist du so faul?" Und fehlt nur das Purpurkleid !" Sie treibt ihn durch Hiebe und Stöße zum Ritt, Doch fühllos steht der Gaul. Die Bettlerin hört'ö und rafft sich auf Und steht vor der Schimmernden schon Und plötzlich fühlt sie sich selbst so erschlafft Und hält den weinenden Knaben hinauf Und gebrochen den kecken Muth; In jeglicher Sehne stirbt die Kraft, Und fleht in kläglichem Ton: In ten Ädern stockt das Btm. „O seht dies Kind, des Jammers Bild, Erbarmet, erbarmt euch sein! Herunter will sie sich schwingen vom Roß, Und hüllet das zitternde Würmlein mild Doch versagen ihr Fuß und Hand; In ein Slückchen Linnen ein!" Entsetzt will sie rufen dem Rittertrcß, Doch die Zunge ist festgebannt. „Weib, bist du rasend?"' Zürnt die Ihr Antlitz wird so finster und bleich, Frau, Ihr herrisches Aug' erstarrt, „Wo nährn' ich Linnen her? Nur Seid' ist all', was an mir ich schau', Ihr Leib, so glatt und zarr und weich, Wird rauh und grau und harr. Von funkelndem Golde schwer. * blickt

„Gott behüte, daß ich begehreü sollt', WaS fremde mein Mund nur nennt! O so gebt mir, gebet, waö ihr wollt, Und waö ihr entbehren konnt!"

Und unter ihr strecken sich Felsen hervor Und heben vom Boden sie auf Und wachsen und steigen riesig empor In die schaurige Nacht hinauf.

Da ziehet Frau Hitr ein hämisch Gesicht Und neigt sich zur Seite hin Und bricht einen Stein ans der Felsenschicht Und reicht ihn der Bettlerin,

Und droben sitzet, ein Bild von Stein, Frau Hitt im Donnergeroll Und schaut, umzuckt von der Blitze Schein, Ins Land so grausenvoll. K. E Ebert.

15. Zwei Liebchen. Ein Schifflein auf der Donau schwamm, Drin saßen Braut und Bräutigam, Er hüben und sie drüben.

Sie sprach: „Herzliebster, sage mir, Zum Angebind' was geb' ick dir?" Sie streift zurück ihr Ärmelein,

„ Ach, schöne Frau Tone, geb' sie mir Für meinen Schatz eine hübsche Zier.6 Sie zog heraus ein schönes Schwert; Der Kuab' hätt' lang so eins begehrt.

Sie greift ins Wasser tief hinein.

Der Knab', was hält er in der Hand? Milchweiß ein köstlich Perlenband.

Der Knabe, der thät gleich also Und scherzt mit ihr und lackt so froh.

Er legt's ihr um ihr schwarzes Haar, Sie sah wie eine Fürstin gar.

Legende.

71

„Ach, schöne Frau Done, geb’ sie mir Für meinen Schatz eine hübsche Zier!"

Er springt ihr nach, er faßt sie keck, Frau Done reißt sie beide weg.

Sie langt hinein zum andern Mal, Faßt einen Helm von lichtem Stahl.

Frau Done hat ihr Schmuck gereut. Das büßt der Jüngling und die Maid.

Der Knab' vor Freud' entsetzt sich schier, Fischt ihr einen goldnen Kamm dafür. Zum dritten sie ins Wasier griff; O weh! Da fällt sie aus dem Schiff.

Das Schifflein leer hinurtterwallt; Die Sonne sinkt hinter die Berge bald.

Und als der Mond am Himmel stand, Die Liebchen schwimmen todt ans Land, Er hüben und sie drüben. Mörike.

16. Der gestrichene Scheffel. „O weh, o weh, ich armer Mann, Ich hab' kein Geld, was fang' ich an? Und kann ich's nicht erschwingen, So mag'ö der Teufel bringen!" Da kam der Teufel, bot dem Mann Von Gold einen ganzen Scheffel an Gehäuft und sprach mit Tücke: „ Gieb ihn im Jahr zurücke! Du kriegst das Maß gehäufelt, Mann; Gestricken nehm' ich's wieder an." Erdenkt: Das muß verführen; Er wird's verjubilircn!

Darf ich dir's denn nur eben Nicht eher wiedergeben?"

„ Auch eher! Ja, mein lieber Mann! " „Gut, schön! so nimm es jetzo an; Ich hab' es abgestrichen; So sind wir ausgeglichen!"

Noch beut der Teufel unserm Mann Krumm, dumm und stumm den Scheffel an; Doch der sagt frisch und heiter: „Ich dank', ich brauch' nichts weiter!"

Seit dieser Zeit sieht seinen Mann Der Teufel sich viel bester an; „ Gern nehm' ich's," sprach darauf der Mann Gar rafflnirt im Takte Sind jetzt Kontrakt' und Pakte. Und schrieb am Pakt; „doch sag' mir an: Kopisch.

8. Die Legende. Legende, eigentlich „eine zur Vorlesung in den ersten christlichen Versammlungen bestimmte Schrift", heißt diejenige Erzählung, welcke ihren Stoff aus dem Sagenkreise der christlichen Kirche entnimmt. Sie erzählt von den frommen, heiligen Männern und Frauen vorzugsweise aus den ersten Zeiten der christlichen Kirche und von den ergreifenden, oft wunderbaren Wirkungen frommer Gesinnung. Man unterscheidet die ernste Legende von der komischen, die jedoch niemals das fromme Gemüth verletzen, also nicht zum Spotte ausarten darf.

1. Wie Joseph mit der Jungfrau und dem Kinde floh. Es ging der Kön'ge Zug hinaus, Und manche Nacht kam ohne Stern, Und öde war's im dunklen HauS: Da trat der Engel ein des Herrn. Sein Auge, schauend in der Nacht, Ruht auf der Jungfrau, auf dem Sohn, Den selig schlummernden, und sacht Berührt deS VaterS Ohr sein Ton:

„Fleuch nach Ägypten, Mann, geschwind;

Harr' aus, bis ich dich rufe dort! HerodeS' Mordstahl sucht das Kind. Mit ihm und mit der Mutter fort!" In Josephs Traume spiegelt sich Des Boten selige Gestalt; Der Schlaf entfloh, der Engel wich: Auf steht er mit Marien bald.

72

Epische Poesie.

Das Es'lein auS dem Stall er führt, Er löst eS mit dem Opfergold, Und sorgsam dann, wie sich'L gebührt, Hebt er hinauf die Jungfrau: hold. DaS Knäblein schlaft an ihrer Brust; Er wandelt, an dem Zaum die Hand, Und mit der Morgensonne Lust Sind sie schon weit im offnen Land.

Die Lüfte bleiben warm und rein. Der Berg wird eben ihrem Schritt, Und in den öden Wüstenei'n Entsprossen Rosen ihrem Tritt. Und stehen wo im Heidenland Die Götzenbilder ruhig, stumm: Wo nur ihr Pfad sich hingewandt, Ta wanken sie und stürzen um.

Der Jnderschätze reiches Gut, Es hat sich wunderlich geschmiegt; In einem Bündelein es rühr, Das auf des Thieres Rücken liegt. Und leicht und fröhlich geht die Fahrt, Und überall auf ihrer Spur Die Menschen werden bess'rer Art, Und freundlicher wird die Namr.

Und nach der zwölften Tagfahrt schon Winkt aus Ägyptens heißem Sand Und beut den kühlen Blumenthron Ein selig blühend Jnselland: Dort ist der Himmel ewig hell, Dort athmen sie des Balsams Duft, Dort ruhen sie am schatt'gen Quell Und harren, bis der Engel ruft. Schwab.

2. Petrus. „Weil verstockt fceir Jude Simon Romas Götter hat geschmahet, Weil verbotenen Bund er stiftet, Zwietracht in die Geister säet, Weil er einen Missethäter aller Reiche König glaubt: Geb' ich morgen preis dem Volke an dem Kreuz sein frevelnd Haupt."

Kaiser Nero hat's gesprochen. Petruö kniet zu Nacht im Kerker. Betend wächst des Greises Glaube, Himmelssehnsucht regt sich stärker; Morgen wird das Wort erfüllet, das der Herr prophetisch sprach: „Fremde Hand wird einst dich gürten, Simon, folge dann mir nach!" Da — welch' leis' bolsichliz Klopfen? Durch die Riegel ächzt die Feile, Und die alte Pforte Reichet vor dem eingeklemmten Beile! Wird'S zu lange dem Tyrannen? Sendet er die Schlächter schon? Nein, es spricht ein kühnes Wagnis seinem tollen Wüthen Hohn.

Freunde sind's. Die Christen lagen im Gebet an heil'ger Stätte, Daß den alten, treuen Diener noch einmal der Herr errette. Doch umsonst Gebet und Zähre! Diesmal, ach! kein Engel naht. Da beschließen drei der Kühnsten frisch auf eig'ne Hand die That. Stark wohl sind die Römerkrieger, Wache haltend vor den Thüren, Stärker doch der Wein von Chios, den die dreie mit sich führen; Mächtig sind des Kerkers Riegel, doch dem Eifer allzu schwach; Schau', mit stolzverklärt en Blicken stehn die drei schon im Gemach. v Rettung, Rettung, alter Vater! Stärker als der Tod ist Treue, Unsrer Lieb' und Christi Kirche ist dein Haupt geschenkt aufs neue! Hier nur droht der Tod dir; auf denn, gürte deine Lenden, flieh! Schiffe, stets bereit zur Abfahrt, triffst du in Puteoli."

Alter Jünger, kannst du wanken, den der Herr den Felsen nannte, Der so eben in der Sehnsucht heil'gen Liebesslammen brannre? Ja, er giebt sich hin den Freunden, überrascht und halb im Traum; Frei schon auf dem Forum steht er, und er selber glaubt es kaum.

Legende.

73

Eilends zu der Pforte lenken nun die vier die leisen Schritte; Unterm Thore kurzer Abschied, Bruderkuß nach Christensitte. Jene kehren zu den Ihren, Frohes kündend, schnell im Lauf ; Diesen nimmt die Nacht beschirmend in den weiten Mantel auf. Auf der Gräberstraße zieht er; wegeweisend stehn die Sterne; Neros goldnes Haus verdämmert schon in nächtlich blauer Ferne. Aber hat die tiefe Mittnacht'solcher leisen Wandrer mehr? Ihm entgegen kommt ein Andrer auf dem schmalen Weg daher.

Und es graust dem Alten; seitwärts biegt er aus mit schwankem Fuße; Schnell vorüber an dem Fremden schmiegt er sich mit flüchtigem Gruße; Grüßend schaut ihm der ins Antlitz, daß der Sternglanz auf ihn fällt. Petrus, wie doch starrst du seltsam? Sprich, was deine Flucht verhält! Auf des Mannes hoher Stirne glänzen blutigen Schweißes Tropfen; Wohl nicht von des Weges Mühe mag so bang das Herz ihm klopfen; Bleich zum Tod das schöne Antlitz. Petrus, kennst du die Gestalt? Schon einmal vor deinen Augen ist sie also hingewallt.

Grüßend neigt er sich zum Jünger; seiner Augen helle Sonnen Sind von eines stillen Grames Regenwolken mild umronnen; Fest nun ruhn sie auf dem Flüchtling. Petrus, kennst den Blick du nicht? Schon einmal rief er dich Schwachen wieder zur vergess'nen Pflicht. Ja, das ist der Herr! So stand er vor dem ungerechten Heiden; So blieb still und klar sein Antlitz mitten in den wilden Leiden. Und der Jünger sinkt zur Erde; doch das Herz läßt ihm nicht Ruh'! Und er ruft: „Mein Herr und Heiland, rede, wohin gehest du?"

Und der Heiland spricht, das Auge unverwandt auf ihn gerichtet, Mit dem Blick, der an der Tage letztem Falsch und Wahrheit sichtet: „Meine Kirche steht verödet, meine Treuen sind verirrt. Zu der Stadt ist meine Straße, wo man neu mich kreuzigen wird!" Und der Herr verschwand; doch eil'ger, als er erst den Tod geflohen. Flieht der Jünger jetzt das Leben, dem des Meisters Blicke drohen. Schnell den Lauf zurückgewendet! Über Hellas graut es schon; Neros goldnes Haus erglänzet bald als goldner Sonnenthron. Und die Sonne, die jetzt Freuden ausgießt über allen Landen, Trifft die Christen laut noch jubelnd, den Apostel doch in Banden. Laurer weinend sah sie jene, als sie wieder sank zu Thal, Doch ein seligsterbend Antlitz traf am Kreuz ihr letzter Strahl. -------------------“

Kinkel.

3. Der gerettete Jüngling. Vom Gesicht ihm, und aus seinen Augen Eine schöne Menschenseele finden Ist Gewinn; ein schönerer Gewinn ist Sprach die liebevollste Feuerseele. Sie erhalten, und der schönst' und schwerste, „ DiesenJüngling," sprach er zu dem Bischof, Sie, die schon verloren war, zu retten. „ Nimm in deine Hut! Mit deiner Treue Stehst du mir für ihn! Hierüber zeuge Sankt Johannes, aus dem öden Patmos Mir und dir vor Christo die Gemeine." Wiederkehrend, war, was er gewesen, Seiner Heerden Hirt. Er ordnet' ihnen Und der Bischof nahm den Jüngling zu sich, Wächter, auf ihr Innerstes aufmerksam. Unterwies ihn, sah die schönsten Früchte

In der Menge sah er einen schönen Jüngling; fröhliche Gesundheit glänzte

In ihm blühn, und weil er ihm vertraute, Ließ er nach von seiner strengen Aufsicht.

74

Epische Poesie.

Und die Freiheit war ein Netz des Jünglings. Angelockt von süßen Schmeicheleien, Ward er müßig, kostete die Wollust, Dann den Reiz des fröhlichen Betruges, Dann der Herrschaft Reiz; er sammelt'um sich Seine Spielgesellen, und mit ihnen Zog er in den Wald, ein Haupt der Räuber.

Einen Greis! Ich habe dich gelobet Meinem Herrn und muß für dich antworten. ' Gerne geb' ich, willst du eS, mein Leben Für dich hin; nur dich fortan verlassen Kann ich nicht. Ich habe dir vertrauet, Dich mit meiner Seele Gott verpfändet." Weinend schlang der Jüngling seine Arme Um den Greis, bedeckete sein Antlitz, Als Johannes in die Gegend wieder Stumm und starr; dann stürzte statt der Kam, die erste Frag' an ihren Bischof Antwort War: „Wo ist mein Schn?" „Er ist gestor­ Aus den Augen ihm ein Strom von Thränen. ben I"

Sprach der Greiö und schlug die Augen nieder. „Wann und wie?" „Er ist Gott abgestorben, Ist, mit Thränen sag' ich es, ein Räuber." „Dieses Jünglings Seele,"' sprach Johannes, „ Fordr' ich einst von dir. Jedoch wo ist er? " „ Auf dem Berge dort." „I ch muß ihn sehen." Und Johannes, kaum dem Walde nahend, Ward ergriffen; eben dieses wollt' er. „ Führet," sprach er, „ mich gu eurem Führer!"

Auf die Kniee sank Johannes nieder, Küßte seine Hand und seine Wange, Nahm ihn neu geschenket vom Gebirge, Läuterte sein Herz mit süßer Flamme. Jahre lebten sie jetzt unzertrennet Mit einander; in den schönen Jüngling Goß sich ganz Johannes' schöne Seele.

Sagt, waS war eö, waS das Herz des Jüng­ lings Bor ihn trat er. Und der schöne Jüngling Also tief erkannt' und innig festhielt Wandle sich, er konnte dies en Anblick Und es wicderfand und unbezwingbar Nickn ertragen. „Fliehe nidit, o Jüngling, Rettete? Ein Sankt-Johannes-Glaube, Nicht, o Schn, den waffenlosen Barer, Zmrau'n, Festigkeit und Lieb' und Wahrheit.

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Herder.

4. Tie wiedergesuudencn Söhne. Waö die Schickung schickt, ertrage! Wer ausharret, wird gekröur, Reichlich weiß sie zu vergüten. Herrlich lohnt sie stillen Sinn. Tapfer ist der Löwensieczcr, Tapfer ist der Weltbczwinger, Tapfrer, wer sich selbst bezwang. Placidus, ein edler Feldherr, Reich an Tugend und Verdienst, Beistand war er jedem Armen, Unterdrückten half er auf: Wie er einst den Feind bezwungen, Wie er einst das Reich gerettet, Rettet' er, .'wer zu ihm floh. Aber ihn verfolgt' das Schicksal, Armuth und der Bösen Neid. „Laß dem Neid uns und der Armuth Still entgehn!" sprach Placidus. „ Auf, laßt uns dem Fleiß e dienen!" Sprach sein Weib, „uttb gute Knaben, Tapfre Knaben, folget uns!" Also gingen sie; im Walte Traf sie eine RäubersMaar,

Trennen Vater, Mutter, Kinder; Lange sucht der Held sie auf. Placidus, rief eine Stimme Ihm im hochbeherzten Busen, Dulde dich, du findest sie! Und er kam vor eine Hütte. „Kehre, Wandrer, bei mir ein!" Sprach der Landmann; „du bist traurig; Auf und fasse neuen Muth; Wen das Schicksal drückt, den liebt es, Wem's entzieht, dem will's vergelten, Wer die Zeit erharret, siegt." Und er ward des Mannes Gärtner, Dient' ihm unerkannt und treu, Pflegend tief in seinem Herzen Eine bittre Frucht, Geduld. Placidus, rief eine Stimme Ihm im tiefbedrangten Busen, Dulde dich, du findest sie! So verstrichen Jahr' auf Jahre, Bis ein wilder Krieg entsprang. „Wo ist Placidus, mein Feldherr?" Sprach der Kaiser; „suchet ihn!"

Legende. Und man sucht" ihn nicht vergebens; Denn die Prüfzeit war vorüber, Und des Schicksals Stunde schlug. Zween seiner alten Diener Kamen vor der Hütte Thür, Sahn den Gärtner und erkannten An der Narb' ihn im Gesicht; An der Narbe, die dem Feldherrn Statt der Schätze, statt der Lorbeer'n Einzig blieb als Ehrenmal. Alsobald ward er gerufen; Es erjauchzt' das ganze Heer. Vor ihm ging der Feinde Schrecken, Ihm zur Seite Sieg und Ruhm. Süllen Sinns nahm er den Palmzweig Gab die Lorbeer'n seinen Treuen, Seinen Tapfersten im Heer. Als nach ausgefochr'nem Kriege Jetzt der Siegestanz begann, Drängt mit zween seiner Helden Eine Mutter sich hervor. „Vater, nimm hier deine Kinder! Feldherr, sieh hier deine Söhne, Mick, dein Weib, Eugenia! Wie die Löwin ihre Jungen Jagt' ich sie den Räubern ab:

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Nachbarlich in dieser Hütte, Komm und schau'! erzog ich sie, Glaubte dich uns längst verloren; Deine Söhne mir statt deiner, Deiner werth erzog ich sie. Als die Post erscholl vom Kriege, Rufend deinen Namen aus, Auferweckt vom Todtentraume, Rüstet' ich die Jünglinge: Zieht, verdienet euren Vater! Streitet unerkannt und werdet, Werdet eures Vaters werth! Und ich seh', sie tragen Kränze, Ehrenkränze dir zum Ruhm, Die du unerkannt den Söhnen Nicht als Söhnen zuerkannt. Vater, nimm jetzt deine Kinder! Feldherr, sieh hier deine Söhne Und dein Weib Eugenia!" Was die Schickung schickt, ertrage! Wer ausharret, wird gekrönt. Placidus, der Stillgesinnte, Lebet noch in Hymnen jetzt; Christlich wandt' er seinen Namen; Seinen Namen nennt die Kirche, Preisend Sankt Eustachius. —

Herder.

Christophorus. Den Riesen Kanaans entsprossen War Ofserus, ein Heide noch. Den Herren sucht' er unverdrossen, Und gerne fügt' er sich dem Joch; Doch nur dem Mächtigsten auf Erden Gedacht er Unterthan zu werden. Da hört' er von dem Kaiser sagen, Er wär der höchste Herr der Welt. Gleich eilt' er, Dienst ihm anzutragen. „Gebiete mir, wie dir gefällt! Dem Allgewaltigen zu dienen, Bin ich, dein treuer Knecht, erschienen." Der Kaiser ließ es sich gefallen, So starker Dienstmann war ihm recht. Ihn schickt' er vor den Andern allen, Wo schwankend tobte das Gefecht. Und immer war der Kampf entschieden, Da solchen Feind die Feinde mieden. Da trat am frohen Siegesfeste Ein Spielmann in der Helden Kreis; Der fang dem Schwarm entzückter Gäste

Des starken Überwinders Preis, Und manchmal ließ er in sein Singen Des bösen Feindes Namen klingen.

Der Kaiser schlug des Kreuzes Zeichen, So oft der Böse ward genannt. „Ich sehe dich zwei Striche streichen Die Kreuz und Quer mit schneller Hand; Sag' an, was soll das Spiel bedeuten?" Frug er den Kaiser vor den Leuten. Der sprach: „So schirm'ichHerz und Sinne, Daß er, der aller Menschen Feind, Nicht über sie Gewalt gewinne." „Ha," rief er, „ist es so gemeint? Du fürchtest dich vor einem Andern? So laß mich, dem zu dienen, wandern!

Wer sagt mir an, wo ich ihn finde, Vor welchem dieser sich entsetzt, Daß ich mich seinem Dienst verbinde, Ob man ihn gleich für böse schätzt? Für böse gilt wir nur der Feige; Hier harr' ich sein, daß er sich zeige."

76

Epische Poesie.

Es war im liefen Waldesdunkel; Da sprengt' ein schwarzer Ritter an, Die Augen glühendes Gefunkel. „Du riefest mir; ich bin der Mann, Vor dem die Menschen alle beben; Mir sollst du dich zu eigen geben."

Einst ruht' er müde sich vom Gange, Da weckt' ihn einer Stimme Ton, Ein starker Ton mit hellem Klange: „Hol' mich hinüber, Riesensohn!" Hin schritt er durch des Stromes Rauschen Und fand ein Kind am Ufer lauschen.

Da freute sich der Ungeschlachte Und gab sich ihm mit Haut und Haar; Das Herz in seinem Leibe lachte, Daß er des Stärksten Diener war. Und jedem Winke seiner Augen Gehorcht' er, möcht' es auch nicht taugen.

Das hob er auf den breiten Rücken, Durchschritt die Flut und fühlte schwer Das Kind auf seinem Nacken drücken, Als ob es Blei und Eisen wär'; Und schwerer lastete die Bürde, Als ob es gar zum Berge würde.

Doch einst in seines Herrn Geleite Sah er am Weg ein Kreuzesbild. Da riß der Teufel aus ins Weite. „Herr, warum trabt ihr ins Gefild?" Der tooöf es erst ihm nicht bekennen ; Er sprach: „So müssen wir uns trennen."'

Auch schwoll das Master wild gehoben Und stieg ihm schier bis an den Mund. Mit Mühe hielt er sich noch oben; Das erste Fürchten ward ihm kund. „Ei, Kind, du bist so schwere Plage; Mir ist, als ob die Welt ich trage."

„ Mariens Sohn hing an dem Holze, Laß uns geschwind vorüberziehn 1N „ Mariens Sohn," versetzt der Stolze, „Du armer Schächer fürchtest ihn? So fand ich hier den rechten Meister, Vor dem sich scheun die bösen Geister."

Da sprach es: „Nicht die Welt alleine, Du trägst auch den, der sie erschuf." Da drückt' ihn in den Strom der Kleine Und grüßt' ihn mit dem Segensruf: „ Christophorus will ich dich taufen; Das ew'ge Leben sollst du kaufen.

Da fragt' er nach Mariens Sohne. „Ich dient' ihm, wüßt' ich nur, womit."' Doch Antwort ward ihm nie zum Lohne, Als die ihm gab ein Eremit. Der sprach: „Mit Beten und mit Fasten Mußt du das Herz der Sünd' entlasten."

Du wolltest nur dem Größten dienen; Am schwersten ward des Kleinsten Last. Der Herr der Welt ist dir erschienen, Weil du dich treu erwiesen hast. Nun stoß beit Stab in Gottes Erde Und warte, ob er grünen werde!"

„Biel Beten ist nicht meine Sache; Das Fasten halt' ich gar nicht aus; Weißt du nicht anders, wie ich's mache, So sind' ich nie des Herren HauS. Sonst will ich jedes Dienstes pflegen, Magst mir den schwersten auferlegen."

Verschwunden war der goldne Knabe, Der auf der Achsel schwer geruht. Christophorus an seinem Stabe Entstieg der schnell gesunk'nen Flut. Da stieß er ihn in Gottes Erde, Ob er am Morgen grünen werde.

„Wohlan, dort gießt sich ohne Brücke Ein Master durch das Felsenthal, Da trag hinüber und zurücke Die frommen Pilger allzumal! So leih' dem Herrn der Glieder Stärke, Daß er des Dieners Eifer merke!"

Am Btorgen trat er zum Gestade, Jetzt schien ihm alles nur ein Traum; Doch Schatten siel auf seine Pfade, Und Bienen schwärmten durch den Raum; Die Stütze sah er ausgeschlagen Und roth wie Mandeln Blüten tragen.

Das that er gern in Gottes Namen; Die Hütte baut' er am Gestad', Und alle, die zum Ufer kamen, Die trug er trocken durch das Bad. Den knot'gen Stab in starker Rechte, Sah man ihn waten Tag' und Nächte.

Da sank er nieder an dem Stamme, Beseligt sank der müde Greis; Und Lieder stimmte, wundersame, Die Nachtigall zu Gottes Preis; Bald hört er in die zauberischen Der Engel Jubelchor sich mischen. _____ Timrock.

Legende.

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6. Das Brot des heiligen Jodokus. Zu prüfen seines Dieners Lauterkeit, Kam einst der Herr vor Sankt Jodokus Thür In ärmlicher Gestalt und bat um Brot. „Gieb," sprach Jodokus, „gieb ihm, guter Schaffner!" „Herr," sprach der Schaffner, „nur ein Brot ist übrig. Was bleibt denn dir und mir und unsrem Hunde?" „Gieb immer!" sprach der Abt, „der Herr wird sorgen." Der Schaffner nahm das Messer, zirkelte Mit Fleiß und schnitt genau das eine Brot In vier ganz gleiche Stücke, reichte eins Dem Bettler hin und sprach nicht allzu freundlich: „ Eins dir, eins mir, dem Abt eins, eins dem Hunde." Jodokus lächelt', und der Bettler ging. Nicht lang', und in noch ärmlich'rer Gestalt Kam abermals der Herr und bat um Brot. „Gieb," sprach Jodokus, „ gieb mein Stücklein ihm! Der Herr wird sorgen." Und der Schaffner gab's. Nicht lang', und noch verhungerter erschien Zum dritten Mal der Herr und fleht' um Brot. „Gieb," sprach Jodokus, „gieb dein Stücklein ihm!

Der Herr wird sorgen." Und der Schaffner gab's. Nicht lang', und lahm, blind, nackt und bloß erschien Zum vierten Mal der Herr und fleht' um Brot. Jodokus sprach: „Gieb ihm des Hundes Stücklein! DerHerrwird sorgen, der die Raben speist." Der Schaffner gab das Stück. Der Arme ging, Und eine Stimm' erscholl: „Groß ist dein Glaube, Du, deines Meisters echter Jünger, groß, Und wie du glaubtest, so soll dir geschehen." Der Schaffner trat ans enge Fenster. Schau', Da landeten im nahen Fluß vier Schifflein, Mit Brot und Obst und Ol und Wein be­ frachtet. Der Schaffner eilte freudig an den Strand, Von Menschen fand er keinen, fand dafür Am Ufer eine weiße Flagge wehn, Woran in Goldschrift diese Worte flammten: „ Vier Schifflein sendet, der die Raben speist, Dem Abt, der heute ihn gespeiset, Ihm eins, dem Schaffner eins und eins dem Hunde; Das vierte bleibt des Senders armer Sipp­ schaft."

Kosegarten.

7. Das Amen der Sterne. Vom Alter blind, fuhr Beda dennoch fort, „ Dein ist das Reich und dein die Kraft und dein Die Herrlichkeit bis in die Ewigkeiten!" Zu predigen die neue, frohe Botschaft. Von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorfe wallte Da riefenringsim Thalvieltausend Stimmen: An seines Führers Hand der fromme Greis „Amen, ehrwürd'ger Vater! Amen! Amen!" Und predigte das Wort mit Jünglingsfeuer. DerKnab'erschrak; reumüthig kniet' er nieder Einst leitet' ihn sein Knabe in ein Thal, Und beichtete dem Heiligen die Sünde. Das übersä't war mit gewalt'gen Steinen. „Sohn," sprach der Greis, „hast du denn Leichtsinnig mehr alsboshaft sprach der Knabe: nicht gelesen: „Ehrwürd'ger Vater, viele Menschen sind Wenn Menschen schweigen, werden Steine Versammelt hier und harren auf die Predigt." schrein? Der blinde Greis erhub sich alsobald, Nicht spotte künftig, Sohn, mit Gottes Wort! Wählt' einen Text, erklärt' ihn, wandt' ihn an, Lebendig ist es, kräftig, schneidet scharf, Ermahnte, warnte, strafte, tröstete Wie kein zweischneidig Schwert. Und sollte So herzlich, daß die Thränen mildiglich gleich Ihm niederflossen in den grauen Bart. Das Menschenherz sich ihm zu Trotz versteinen, Als er beschließend drauf das Vaterunser, So wird im Stein ein Menschenherz sich regen." Kosegarten. Wie sich's geziemt, gebetet und gesprochen:

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Lpische Poesie.

8. Der Mönch zu Heisterbach. Ein junger Mönch im Kloster Heisterbach Er sagt's; da murmelt man durchs Heiligthum; Lustwandelt an deS Gartens fernstem Ort; „Dreihundert Jahre hieß so niemand mehr." Der Ewigkeit sinnt tief und still er nach „ Der Letzte dieses Namens, * tönt es dann, Und forscht dabei in GotteS hcil'gcm Wort. „Er war ein Zweifler und verschwand im Er liest, was Petrus, der Adostel, sprach: Wald; Dem Herren ist ein Tag wie tausend Jahr, Man gab den Namen keinem mehr fortan!" Und tausend Jahre sind ihm wie ein Tag. Er hört das Wort, es überläuft ihn kalt. Doch, wie er sinnt, es wird ihm nimmer klar. Er nennet nun den Abt und nennt daSJahr. Und er verliert sich zweifelnd in den Wald; Man nimmt das alte Klosterbuch zur Hand; Was um ihn vorgeht, hört und sieht er nicht. Da wird ein großes Gotteswunder klar: Er ist's, der drei Jahrhunderte verschwand. Erst wie die fromme Vesperglocke schallt, Gemahnt es ihn der ernsten Klosterpflicht. Da, welche Lösung! plötzlich graut sein 2m Lauf erreichet er den Garren schnell. Haar, Er finkt dahin und ist dem Tod geweiht, Ein Unbekannter öffnet ihm das Thor; Er stutzt. Doch sieh', schon glänzt die Kirche hell! Und sterbend mahnt er seiner Brüder Schaar: Und draus ertönt der Brüder heil'ger Chor. „Gott ist erhaben über Ort und Zeit.

Was er verhüllt, macht mir ein Wunder Nach seinem Stuhle gehend, tritt er ein; Doch wunderbar! ein Andrer sitzet dort! klar! Drum grübelt nicht, denkt meinem Schicksal Er überblickt der Mönche lange Reihn, Nur Unbekannte findet er am Ort. nach! j Der Staunende wird angeftaunt ringsum, Ich weiß, ihm ist ein Tag wie tausend Jahr', Man fragt nach Namen, fragt nach dem Be­ Und tausend Jahre sind ihm wie ein Tag!"

gehr.

Wolfg. Müller.

9. Die heilige Negiswind von Laufen. Herr Ritter Ernst, ter war ergrimmt zu einer bösen Stund', Er schlug die falsche Dienerin mit seinen Fäusten wund. Er schlug die falsche Dienerin, er stieß sie mit dem Fuß. „Herr Ritter Ernst! und wißt fürwahr, daß euch dies reuen muß!"

ES war die falsche Dienerin, die eilte durch den Saal, Sie eilte durch den weiten Hof hinab ins grüne Thal. Da saß Herrn Ernst sein Töchterlein, ein Fräulein fromm und zart; ES spielt mit bunten Blümelein nach andrer Kinder Art. Da pflückt die falsche Dienerin drei Röslein auf dem Plan, Zu locken dieses stille Kind zum wilden Strom hinan.

, Komm, liebes Kind! komm, süßes Kind! da blühen Röslein rund!" Sie faßt eS an dem goldnen Haar, sie schleudert's in den Grund.

Eine Weil' das Kind die Tiefe barg, eine Weil' eS oben schwamm; Auflacht die falsche Dienerin; doch bald ihr Reue kam. Sie flieht von dem unscl'gen Strom, flieht über Berg und Thal, Sie irrt so viele hundert Jahr', kann ruhn kein einzig Mal.

Es sah Herr Ernst von hoher Burg, sah in den grünen Grund; Sie brachten todt fein süßes Kind, auf Rosen man eS fund.

ES blüht wie eine Rose roth, wie eine Lilie weiß; Er legt's in einen goldnen Sarg, bestattet es mit Fleiß.

Legende.

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Manch' Mutter knie:' mit ihrem Kind auf Regiswindes Gruft, Doch wenn Herr Ernst, der Barer, kam, entstieg ihr Rosendufr.

Seitdem erscheint zur Todesnacht gar manchem frommen Kind, Bekränz: mit duft'gen Röslein roth, die heil'ge Regiswind. Auch liegt seitdem manch frommes Kind, das nachts erlitt den Tod, Am Morgen in der Wieg' umkränzt mit jungen Röslein roth. Kerner.

10.

R o s e n.

In einer tödtend schweren Hungersnoth Versagte Rosa von Biterbo sich Ten kleinsten Überfluß uud bracht' ihn still

Die Schürze auf, und sieh! es waren Rosen. Kaum aber hatt' der Karge sich gewandt, War, was ihm Rose schien, erquickend Brot.

Den Armen. Einst traf unversehens sie Der karge Vater auf dem Wege. „Kind, Ihr kargen Väter, die ihr auch nur Rosen Was hast du da?" „Es sind nur Rosen, Verleihn und Rosen, Rosen sehen wollt Barer!" Jn harterHungersnoth, seht, was ihr wünschet! „Do zeige sie!" Voll Schrecken that das Kind Dem Armen werde jede Rose Brot. Herder.

11.

Sankt Peter mit der Geiß.

Da noch auf Erden ging Christus, Und auch mit ihm wandert' Petrus, Ein's Tag's in ein Dorf mit ihm ging. Bei einer Wegscheid' Petrus anfing: „O Herr Gott und Meister mein, Mich wundert sehr der Güte dein, Weil du doch Gott allmächtig bist, Läßt es doch gehn zu aller Frist In aller Welt, gleich wie es geht, Wie Habakuk sagt, der Prophet: Frevel und Gewalt geht vor Recht, Der Gottlos' übervortheilt schlecht Mit Schalkheit den Gerechten und Frommen, Auch könn' kein Recht zu End' mehr kommen. Sollt' ich ein Jahr Gott sein, wie du, Ich wollt' anders schaun dazu, Wollt' führen ein besser Regiment Im Erdenreich durch alle Ständ'." Der Herr sprach: „ Peter, sag' mir eben: Meinst du wohl je besser regieren, All' Ding' auf Erd' baß ordiniren, Die Frommen schützen, die Bösen plagen?" Sankt Peter thät hinwieder sagen: „Ja, es müßt' in der Welt baß stehn, Nicht also durch einander gehn; Ich wollt' viel besser Ordnung halten." Nun so sollst verwalten, Der Herr sprach: Peter, die hohe Herrschaft mein: Heut den Tag sollst du Herr Gott sein!"

Damit reicht der Herr sein' Stab Petro, ihn in seine Hände gab. Petrus war deß gar wohlgemut!), Däucht sich der Herrlichkeit sehr gut. Indem kam her ein armes Weib, Ganz dürr, mager und bleich vom Leib, Barfuß in einem zerrissen Kleid, Die trieb ihr' Geiß hin auf die Weid'. Als sie mit ihr auf die Wegscheid' kam, Sprach sie: „ Geh' hin in Gottes Nam', Gott hüt' und schütz' dich immerdar, Daß dir kein Übel widerfahr' Von Wölfen oder Ungewitter. Gott hüte dich mit seiner Hand!" Darauf die Frau wieder umwandt' Ins Dorf. So ging die Geiß ihr' Straß'. Der Herr zu Petro sagte das: „Petre, hast das Gebet der Armen Gehört? Du mußt dich ihr' erbarmen! Weil ja den Tag bist Herr Gott du, So stehet dir auch billig zu. Daß du die Geiß nimmst in dein' Hut, Wie sie von Herzen bitten thut." Petrus nahm nach des Herren Wort Die Geiß in seine Hut an dem Ort Und trieb sie auf die Weid' hindann. Nun sing Sankt Petri Unruh' an. Die Geiß war muthig, jung und frech Und blieb ja gar nicht in der Nech (Nähe),

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Epische Poesie.

Lief auf der Weide hin und wieder, Stieg ein' Berg auf, den andern nieder Und schlüpft' hin und her durch die Stauden. Petrus mit Ächzen, Blas'n und Schnauben,

Muß immer nachtrollen der Geiß, Und schien die Sonn' gar überheiß. Der Schweiß über den Leib ihm rann, Mit Unruh' verbringt der alte Mann Den Tag bis auf den Abend spat Machtlos, hellig, ganz müd' und matt. Die Geiß jedoch er heimbrachr. Der Herr sah Petrum an und lacht,

Sprach: „ Petre, willst mein Regiment Noch länger halten in deinen Hand'?" Petrus sprach: „ Lieber Herre mein, Nimm wieder hin den Stabe dein Und dein' Gewalt; ich begehr' mit nichten, Forthin dein Amt mehr auSzurichten. Ich will jetzt der Regierung dein, Dieweil ich leb', nicht reden ein. Der Herr sprach: „Petre, dasselbe thu', So lebst du fort in stiller Ruh', Und vertrau' mir in meine Hand' DaS allmächtige Regiment!" Hans Sachs.

12. Als noch, verkannt und sehr gering, Unser Herr auf der Erde ging Und viele Jünger sich zu ihm fanden, Die sehr selten sein Wort verstanden, Liebt' er sich gar über die Maßen, Seinen Hof zu halten auf der Straßen, Weil unter des Himmels Angesicht Man immer besser und freier spricht. Er ließ sie da die höchsten Lehren Aus seinem heiligen Muude hören; Besonders durch Gleichnis und Exempel Macht' er einen jeden Markt zum Tempel. So schlendert' er in Gnströ Ruh Mit ihnen einst einem Städtchen zu, Sah etwas blinken aus der Straß', Das ein zerbrochen Hufeisen was. Er sagte zu Sankt Peter drauf: „ Heb' doch einmal das Eisen auf!" Sankt Peter war nicht aufgeräumt; Er hatte so eben im Gehen geträumt So was vom Regiment der Welt, Waö einem Jeden wohlgefällt; Denn im Kopf hat das keine Schranken. Das waren so seine liebsten Gedanken. Nun war der Fund ihm viel zu klein; Hätte müssen Kron' und Scepter sein! Aber wie sollt' er seinen Rücken Nach einem halben Hufeisen bücken? Er also sich zur Seite kehrt Und thut, als hätt' er's nicht gehört. Der Herr nach seiner Langmuth drauf Hebt selber das Hufeisen auf

Legende. Und thut auch weiter nicht dergleichen. Als sie nun bald die Stadt erreichen, Geht er vor eines Schmiedes Thür, Nimmt von dem Mann drei Pfennig' dafür. Und als sie über den Markt nun gehen, Sieht er daselbst schöne Kirschen stehen, Kauft ihrer so wenig oder so viel, | Alö man für einen Dreier geben will, Die er sodann nach seiner Art Ruhig im Ärmel aufbewahrt.

Nun ging's zum andern Thor hinaus Durch Wies' und Felder ohne Haus; Auch war der Weg von Bäumen bloß; Die Sonne schien, die Hitz' war groß, So daß man viel an solcher Stätt' Für einen Trunk Wasser gegeben hätt'. Der Herr geht immer voraus vor allen, Läßt unversch'ns eine Kirsche fallen. Sankt Peter war gleich dahinter her, Als wenn es ein goldner Apfel wär'; Das Beerlein schmeckte seinem Gaum. Der Herr nach einem kleinen Raum Ein ander Kirschlein zur Erde schickt, Wonach Sankt Peter schnell sich bückt. So läßt der Herr ihn seinen Rücken Gar vielmal nach den Kirschen bücken. Das dauert eine ganze Zeit. Dann sprach der Herr mit Heiterkeit: „Thät'ft du zur rechten Zeit dich regen, Hätt'st du's bequemer haben mögen. Wer geringe Dinge wenig acht't, Sich um geringere Mühe macht." Goethe.

Märchen.

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3. Das Märchen. Daö Märchen ist eine phantastisch gehaltene Sage; es ist also eine erdichtete Er­ zählung, die sich jedoch bisweilen auf einen geschichtlichen Grund stützt. Ohne sich an die Wahrheit der Natur und des Lebens zu halten, entwickelt sich diese Erzählung unter der Einwirkung wunderbarer Mittel und wunderbarer Wesen (Zauberer, Feen, Hexen, Nixen, Kobolde). Ein gutes Märchen darf der künstlerischen Einheit und der kindlichen Einfalt und Naivität nicht entbehren. Das Märchen, als selbständige Dichtungsari, erscheint meist in Prosa, oft aber auch in dichterischer Form. ____________

1. Aus den Abassiden. Dem Kalifen Harun al Raschid wird von einem Mohren ein Zauberpferd von Holz um den Preis der Würde eines WesfirS und der Verheiratung mit des Kalifen Tochter zum Kaufe angeboten. Der älteste von den Söhnen Haruns, Amin, steigt mit dem Pferde in die Lüfte, kehrt aber nicht wieder zurück. Seine Brüder Assur und Assad verlassen Bagdad, um ihn zu suchen; in einer Stadt der Magier wird Assur in eine Kerkerhöhle geworfen, Affad aber Gemahl der Prinzessin Diwisade und Schützling der Fee Melinda, die ihn veranlaßt, schon am folgenden Morgen zu Schiffe den Zweck seiner Reise zu verfolgen. Aber wenden wir den Blick zurück nun Nach dem Schiff, auf dem befand sich Affad. Jenes zog gen Indien, Elfenbein dort Einzuhandeln. Alle Segel schwollen; Glücklich schien die Fahrt. In weniger Tage Frist erhob sich ein geringes Eiland, Grün und flach, vor ihrem Blick. Sie steigen Dort anö Land, weil eben Meeresstille Eingeireten war; sie nehmen alles Kochgeräth mit sich und schüren Feuer. Aber plötzlich schreckt ein heftiger Erdstoß, Also schien's, sie auf, und ihren Irrthum Sehn sie voll Entsetzen: was ein Eiland Allen dünkte, war ein ruhig schlafend Hingestreckter, ungeheurer Walfisch. Nach und nach durch jenes Feuers Hitze Wach geworden, dehnt er seines Leibes Riesenmaffe, schleudert ab die Mannschaft, Stürzt ergrimmt sich auf das Schiff, zer­ schlägt es, Daß die Trümmer nach den Wolken flogen; Dann verfolgt er seine stolze Reise. Zween Matrosen blos, mit ihnen Assad, Retten schwimmend auf das öde Wrack sich. Ohne Hoffnung, zwischen Tod und Leben Bringen dort die Nacht sie zu; der tiefste Friede lag, wie brütend, auf dem Wasser. Gegen Morgen aber blies der Wind sie Heftig an; zu ihrem Glück erhalten War das Steuer, und so gut sie konnten, Lenkten sie'S, das mastenlose Fahrzeug Fürder treibend. Einige Fäffer Weines Dielitz u. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur.

2.

Lagen noch im untern Raum und karge Lebensmittel; doch der Wind beharrte Günstig. Affad saß am Steuerruder, Seine zwei Gefährten aber schöpften Unablässig ans dem Wrack das Wasser. Als zu graun begann der zweite Morgen, Sahn sie Land in duftiger Nebelferne; Doch das Fahrzeug war zu leck, und jeder Augenblick schien ihres Lebens letzter. Endlich zeigt sich einer Barke weißes Segeltuch. In ihre Hände klatschten Alle drei vor Freuden unwillkürlich. Jene Barke nähert sich; sie rufen. Bald am Steuer zeigt ein alter Mann sich Silberhaarig; aber vorne standen Zwei gebräunte, lockige Knaben, welche Mit Harpunen nach den Fischen warfen. Als das Wrack sie gewahrten, griffen diese Schnell zum Ruder, und in kurzer Frist sieht Sammt den Freunden sich gerettet Affad. Gegen Abend langt er an im Hafen Einer kleinen, handelsthätigen Seestadt. Bald verdungen jene zween Matrosen Ihren Dienst an einen reichen Fischer, Der mit korkbehangenen Netzen ausfuhr. Affad aber, auf den Rath des alten Mannes, dem er schuldig war das Leben, Ging am andern Morgen nach der Wohnung Eines Kaufmanns, welcher wohlbegütert, Wie ein Fürst, in jenem Städtchen herrschte. „Herr," begann er, „Mißgeschick und Schiff­ bruch

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Epische Poesie.

Warfen mich an dies Gestad', den Fremdling; Noch bezwingt die Besten; nicht des Bettlers Loos verdien' ich; aber euch, dem Reichen, Der der Menschenhände viel beschäftigt, Biet' ich meinen jugendlichen Arm an." Lange strich das bärtige Kinn der Kaufmann, Sinnend hin und wieder; dann versetzt er: „Weißt du Pfeil und Bogen wohl zu führen?" Ihm erwiderte drauf der Sohn des Harun: „Als ich einst mich besserer Tage rühmte, War die Jagd mein auserwählt Vergnügen; Unter allen meinen Freunden aber Kam als Bogenschütze keiner gleich mir." „ EineProbe gelt' es," sprach der Kaufmann; „ Jene Waldungen gegen Westen dienen Oft zum Aufenthalt Elepharttenschwärmen. Dort begieb dich morgen hin, versuche Dein Geschick und deine Kunst! Erlegst du Wirklich einen, schneide dann die beiden Vorderzähn' ihm aus und bringe diese Mir zurück; und vom Gewinne jeder Jagd bewahr' ich dir getreu die Hälfte." Als zu graun begann der nächste Morgen, Nahm den Bogen auf die Schulter, schnallte Sich den Köcher um der Sohn des Harun. Durch die Haide streift' er nach der öden, Riesigen Waldung, halb in Gram verloren, Wann er dachte seiner Diwisade; Halb im Kraftgefühl der Jugend fröhlich, Freien Schritts auf Gottes Erde wandelnd, Seinen Lebensunterhalt erwerbend. Völlig elend ist der thätige Mensch nie, Und Natur in ihrer wilden Schönheit Stärkt die Seele selbst dem leidenvollsten. Als er dies im Geist erwägt, da sieht er Aus dem Dickicht zween Elephanten annahn, Ihre Rüssel hin und her bewegend, Und den Boden, daß es dröhnte, stampfend. Hinter einem Myrtenbusch verbirgt sich Unser Jäger, auf des Bogens Rinne Legt den Pfeil er, zielt und trifft das Unthier; Dieses stürzt und brüllt, das andere flüchtet. Als das Leben aus der schwerverletzten Körperlast gewichen war, beraubt sie Ihres Elfenbeins der freudige Jüngling. Triumphirend kehrt er heim und seinen Herrn beschenkt er mit der stolzen Beute. Manche Woche strich vorbei, das Glück blieb Stets dem Jäger hold, und gleich dem eignen Sohn behandelte ihn der greise Kaufmann.

Aber als er eines Morgens wieder Durch die Wälder schweifte, kommt entgegen Ihm ein Schwarm der riesigen Ungethüme. Hurtig stürzt ins tiefste Dickicht Assad; Eins jedoch der klugen Thiere scheint ihn Wahrzunehmen und verfolgt behend ihn. Ihm entfliehn durch Schnelligkeit der Füße War undenkbar; aber es klimmt der Jüngling Rasch empor an einer schlanken Palme. Wie ein Vogel auf den Vogelsteller, Blickt er schelmisch aus dem sichren Gipfel Auf das grimmige Thier hinab, und dieses Blickt den Jüngling wieder an mit großen, Klugen Menschenaugen. Endlich sägt es Voll geschäftiger Rührigkeit und eifrig Mit den Zähnen ab den Stamm der Palme; Diese kracht, und ihre Krone zittert Wie der Wimpel eines Schiffs, und Assad Glich dem Seemann, der im höchsten Mastkorb Nistet, wenn der Sturm im Wachsen: jede Welle schreckt ihn, und er sieht im Geistschon Eine kommen, die herunterschleudernd Taucht ins Meer ihn, das bacchantisch aust schwillt. Doch zum Glücke für den kecken Jäger Brach der Baum allmählich, neigte langsam Seine Wipfel niederwärts, und Assad Mit verwegenem Sprung berührt den Boden Unversehrt. Allein das Thier ergreift ihn Mit dem Rüssel, ihn erhebend setzt es Ihn als Reiter auf den breiten Rücken. Drauf im Trabe jagt es fort, und endlich Sieht der Prinz in einem wiesigen Thale sich, Welches baumfrei mitten in öder Wildnis Wie von Wäldern lag umzäunt. Das Unthier Wirft den Reiter ab und eilt von dannen. Staunend blickt der Prinz umher, und staunend Sieht die Erde rings er mit Gebeinen Übersäet und weißgebleicht; er sieht sich

Am Begräbnisort der mächtigen Thiere, Wo sie hinzuschleppeu ihre Todten Pflegten. Aufgehäuft zu ganzen Hügeln Lag das Elfenbein; es bürdet Assad Eine Last sich auf, so viel die Schulter Tragen mochte, Pfeil und Bogen aber Wirft er weg, denn keiner Jagd bedurft' es Fürder mehr. Er pflanzt die Todeswaffen Als ein Denkmal auf, den klugen Thieren Als ein Zeichen feines Danks. Die Stelle Prägt er wohl sich ein, bezeichnet seinen

Märchen. Weg mit Steinen, bis derselbe wieder Ihn zurückführt nach bekanntern Plätzen. Dann im Sturmschritt eilt zur Stadt der Jüngling. Hocherfreut empfängt der greise Freund ihn; Täglich neue Schätze bringt er diesem, Neuen Reichthum ihm zurück. Der Kaufmann Theilt die Hälfte seines Guts mit Assad. Aber Assad suchte nicht Bereich'rung; Nur so viel behält er, um ein Fahrzeug Auszurüsten. Seine glühenden Wünsche Treiben nach der Magierstadt zurück ihn. Eine Ladung Elfenbeins befrachtet Seinen Schiffsraum; denn mit Gold am ersten Diwisaden auszulösen, hofft er. Frohe Tage seinem Herrn und Vater Wünscht er dankbar. 2hm versetzt der Kauf­ mann : „Lebe wohl! Wo keines Wiedersehens Ferne Hoffnung schimmert, schmerzt der Ab­ schied. Doch getrost! Ich preise jene glücklich, Deren Küste dich empfängt, und deren Freunde deine Freunde sind: es wuchert Glück und Segen, wo du weilst, o Jüngling!" So der Greis. Die Anker sind gelichtet, Aus dem Hafen schwebt das Schiff, die Tegel Werden aufgezogen. Sanfte Lüfte Wehn in Assads jugendliche Locken. Aber als die zweite Nacht herbeikam, Wölkt der Himmel schwer sich an, die Sterne Leuchten einsam durch gehäufte Nebel, Dann verlöschen alle; finster schwärzt sich Jede Purpurwoge, heftige Windsbraut Peitscht die Flut, und aus der fadenlosen Tiefe rollen ungeheure Donner. Wetterleuchtend zuckt die Luft, die Wellen Wälzen meilenlang beschäumte Kämme, Wie ein Heer zur Schlacht gereiht, dem Schisfskiel Dumpf entgegen; dieser steigt, gehoben

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Durch den aufgethürmten Schwall, zu Berge. Trotzend länger nicht der riesigen Obmacht, Eilt die Mannschaft todesmatt und triefend Nach dem untern Raum des Schiffs, es möge Nun zerschmettern oder nicht zerschmettern. Lange wirft es hin und her sich unstet; Aber als der erste Morgenschimmer Dunkelroth im wolkigen Osten anfging, Legte die See sich, heftig blies der Wind noch, Doch geregelt. Aufs Verdeck begiebt sich Schnell der Steuermann; allein mit Grausen Schlägt er vor die Stirne sich und jammert: „Wehe, weh' uns! Alles ist verloren! Unaufhaltsam jagt der tückische Wind uns Zum Magnetberg jene Strömung nieder! Nahn wir diesem, löst das ganze Fahrzeug Ohne Frist sich auf, und jede Klammer, Jeder Eisenstift und was Metall'nes Sonst das Schiff zusammenhält, es trennt sich Aus den Fugen, durch den mächtigen Zauber Jenes Klippensteineö angezogen!" Jammernd hört die ganze Schaar die Botschaft; Alles strengt sich an, es bietet Assad Alles auf, durch Ruderkraft das Fahrzeug Abzulenken, das der sausende Nordwind Pfeilgeschwind in schräger Lage fortjagt. Nein und heiter war die Luft geworden; Jene kahle Klippe stand im klarsten, Schroffen Umriß vor den Blicken Assads: Eine schmale Felseninsel war es. Steil und pslanzenloö, ein Herd der Sonne. Sieh, und plötzlich wich das ganze Fahr­ zeug Aus den Fugen seines Baus und theilte Seinen mächtigen Busen; nicht mit Krachen Barst es, friedlich öffnete sich'ö und langsam, Wie die Flügel eines Thors sich öffnen. Bretter fluteten, Ruder, Maste, Segel, Weit zerstreut, wo mancher rüstige Schwimmer Sicherm Untergärig entgegenkämpfte.

Waten.

2.

Abdallah.

Abdallah liegt behaglich am Quell der Wüste und ruht; ES weiden um ihn die Kameele, die achtzig, sehn ganzes Gut. Er hat mit Kaufmannswaaren Balsora glücklich erreicht; Bagdad zurückzugewinnen wird, ledig, die Reise! ihm leicht.

6*

Epische Poesie.

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Da kommt zur selben Quelle zu Fuß am Wanderstab Ein Derwisch ihm entgegen den Weg von Bagdad herab. Sie grüßen einander, sie setzen beisammen sich zum Mahl Und loben den Trunk der Quelle und loben Allah zumal. Sie haben um ihre Reise theilnehmend einander gefragt, Was jeder verlangt zu wissen, willfährig einander gesagt, Sie haben einander erzählet von dem und jenem Ort, Da spricht zuletzt der Derwisch ein gar bedächtig Wort: „Ich weiß in dieser Gegend, ich kenne wohl den Platz Und könnte dahin dich führen, den unermeßlichsten Schatz. Man möchte daraus belasten mit Gold und Edelgestein Wohl achtzig, wohl tausend Kameele; es würde zu merken nicht sein." Abdallah lauscht betroffen, ihn blendet des Goldes Glanz, Es rieselt ihm kalt durch die Adern, und Gier erfüllt ihn ganz. „ Mein Bruder, hör', mein Bruder, o führe dahin mich gleich! Dir kann der Schatz nicht nützen, mich machst du glücklich und reich. Laß dort mit Gold uns beladen die achtzig Kameele mein, Nur achtzig Kameeleslasten, es wird zu merken nicht sein. Und dir, mein Bruder, verheiß' ich zu deines Dienstes Sold Das beste von allen, das stärkste, mit seiner Last von Gold."

Darauf der Derwisch: „Mein Bruder, ich hab' es anders gemeint, Dir vierzig Kameele, mir vierzig, das ist, was billig mir scheint; Den Werth der vierzig Thiere empfängst du millionenfach; Und hätt' ich geschwiegen, mein Bruder, o denke, mein Bruder, doch nach! „Wohlan, wohlan, mein Bruder, laß gleich uns ziehen dahin, Wir theilen gleich die Kameele, wir theilen gleich den Gewinn!" Er sprach's, doch thaten ihm heimlich die vierzig Lasten leid, Dem Geiz in seinem Herzen gesellte sich der Neid. Und so erhoben die Beiden vom Lager sich ohne Verzug, Abdallah treibt die Kameele, der Derwisch leitet den Zug. Sie kommen zu den Hügeln; dort öffnet, eng und schmal, Sich eine Schlucht zum Eingang in ein geräumig Thal.

Schroff, Noch drang Sie halten; Der sie, der

überhangend umschließet die Felswand rings den Raum, in diese Wildnis deS Menschen Fuß wohl kaum. bei den Thieren Abdallah sich verweilt, Last gewärtig, in zwei Gefolge vertheilt.

Indessen häuft der Derwisch am Fuß der Felsenwand Verdorrtes Gras und Reisig und steckt den Haufen in Brand; Er wirft, so wie die Flamme sich prasselnd erhebt, hinein Mit seltsamem Thun und Reden viel' kräftige Spezerei'n. In Wirbeln wallt der Rauch auf, verfinsternd schier den Tag, Die Erde bebt, es dröhnet ein starker Donnerschlag, Die Finsternis entweichet, der Tag bricht neu hervor, ES zeigt sich in dem Felsen ein weitgeöffnet Thor.

Es führt in prächtige Hallen, wie nimmer ein Aug' sie geschaut, Aus Edelgestein und Metallen von Geistern der Tiefen erbaut)

Märchen. Es tragen goldne Pilaster ein hohes Gewölb' von Krystall, Hellfunkelnde Karfunkeln verbreiten Licht überall. Es lieget zwischen den goldnen Pilastern unerhört Das Gold hoch aufgespeichert, deß Glanz den Menschen bethört, Es wechseln mit den Haufen des Goldes die Hallen entlang Demanten, Smaragden, Rubinen; dazwischen nur schmal der Gang.

Abdallah schaues betroffen, ihn blendet des Goldes Glanz; Es rieselt ihm kalt durch die Adern, und Gier erfüllt ihn ganz. Sie schreiten zum Werk: der Derwisch hat klug sich Demanten erwählt, Abdallah wühlet im Golde, im Golde, das nur ihn beseelt. Doch bald begreift er den Irrthum und wechselt die Last und tauscht Für Edelgestein und Demanten das Gold, deß Glanz ihn berauscht, Und was er fortzutragen die Kraft har, minder ihn freut, Als was er liegen muß lasten, ihn heimlich wurmr und reut.

Beladen sind die Kameele schier über ihre Kraft, Abdallah sieht mit Staunen, was ferner der Derwisch schafft; Der geht den Gang zu Ende und öffnet eine Truh' Und nimmt daraus ein Büchschen und schlägt den Deckel zu. Es ist von schlichtem Holze, und was darin verwahrt, Gleich werthlos, scheint nur Salbe, womit man salbt den Bart. Er hat es prüfend betrachtet, das war das rechte Geschmeid', Er steckt es wohlgefällig in sein gefaltet Kleid.

Drauf schreiten hinaus die Beiden, und draußen auf dem Plan Vollbringt der Derwisch die Bräuche, wie er'ö beim Eintritt gethan. Der Schatz verschließt sich donnernd; ein Jeder übernimmt Die Hälfte der Kameele, die ihm das Loos bestimmt. Sie brechen auf und wallen zum der Wüste vereint, Wo sich die Straßen trennen, die jeder zu nehmen meint; Dort scheiden sie und geben einander den Bruderkuß, Abdallah zeigt sich erkenntlich mit tönender Worte Erguß. Doch wie er abwärts treibet, schwillt Neid in seiner Brust. DeS Andern vierzig Lasten, sie dünken ihm eigner Verlust, Ein Derwisch solche Schätze, die eignen Kameele — das kränkt! Und was bedarf der Schätze, wer nur an Allah denkt?

„Mein Bruder, hör', mein Bruder!" so folgt er seiner Spur, „Nicht um den eignen Vortheil, ich denke an deinen nur! Du weißt nicht, welche Sorgen, und weißt nicht, welche Last Du, Guter, an vierzig Kameelen dir aufgebürdet hast!

Noch kennst du nicht die Tücke, die in den Thieren wohnt! O glaub' es mir: der Mühen von Jugend auf gewohnt, Versuch' ich's wohl mit achtzig, dir wird's mit vierzig zu schwer, Du führst vielleicht noch dreißig, doch vierzig nimmermehr!" Darauf der Derwisch: „ Ich glaube, daß Recht du haben magst! Schon dacht' ich bei mir selber, waS du, mein Bruder, mir sagst; Nimm, wie dein Herz begehret, von diesen Kameelen noch zehn, Du sollst von deinem Bruder nicht unbefriedigt gehn."

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Epische Poesie. Abdallah danikt und scheidet und denkt in seiner Gier: Und wenn ich zwanzig begehrte, der Thor, er gäbe sie mir! Er kehrt zurück im Laufe; eS muß versuchet sein. Er ruft; ihn hurt der Derwisch und harret gelassen sein.

„ Mein Bruder, hör', mein Bruder! o traue meinem Wort, Du kommst, unkundig der Wartung, mit dreißig Kameelen nicht fort; Die widerspenstigen Thiere sind störriger, denn du denkst, Du machst eS drr b equerner, wenn du mir zehn noch schenkst."

Darauf der Derwisch: „Ich glaube, daß Recht du haben magst! Schon dacht' ich bei mir selber, was du, mein Bruder, mir sagst; Nimm, wie dein Herz begehret, von diesen Kameelen noch zehn, Du sollst von deinem Bruder nicht unbefriedigt gehn.Und wie so beicht gewähret, was kaum er sich gedacht, Da ist in seinem Herzen erst recht die Gier erwacht. Er hört nicht auf, er fordert, wohl ohne sich zu scheun, Noch zehen von den zwanzig und von den zehen neun. Das eine nur, das letzte, dem Derwisch übrigbleibt. Nock dies ihm abznfordern, des Herzens Gier ihn treibt; Er wirft sich ihm z-.u Füßen, umfasset seine Knie': „Du wirst nicht nein mir sagen, noch sagtest du nein mir nie." „So nimm das Tbier, mein Bruder, wonach dein Herz begehrt, Es ist, daß trauernd du scheidest von deinem Bruder, nicht werth; Sei fromm und weis' im Reichthum und beuge vor Allah dein Haupt, Der, wie er Schäre svenret, auch Schätze wieder raubt."

Abdallah dankt unD scheidet und denkt in seinem Sinn: Wie mochte der Thor verscherzen so leicht den reichen Gewinn? Da fällt ihm ein das Büchscheu, düs ist das rechte Geschmeid'! Wie barg er'S wohlgefällig in sein gefaltet Sleit!

Er kehrt zurück. „Mein Bruder, mein Bruder! Auf ein Wort! Was nimmst du doch daü Büchschen, das schlechte, mit dir noch fort? Was soll dem frommen Derwisch der weltlich eitle Tand?" „So nimm es!" spricht der Derwisch und legt cd in seine Hand. Ein freudiges Erschrecken den Zitternden befällt, Wie er auch noch das Büchschen, das räthselhafte, hält; Er spricht, kaum dankend, weiter: „So lehre mich nun auch, WaS hat denn diese Salbe für einen besondern Gebrauch?"

Der Derwisch: „Groß ist Allah, die Salbe wunderbar! Bestreichst du dein linkes Auge damit, durchschauest du klar Die Schätze, die schlummernden, alle, die unter der Erde sind; Bestreichst du dein rechtes Auge, so wirst du auf beiden blind." Und selber zu versuchen die Tugend, die er kennt, Der wunderbaren Salbe, Abdallah nun entbrennt. „Mein Bruder, hör', mein Bruder, du machst es beffer, traun! Bestreiche mein Auge, daS linke, und laß die Schätze mich schaun!"

Willfährig thul's der Derwisch; da schaut er unterwärts Das Gold in Kammern und Adern, das gleißende, schimmernde Erz;

Märchen.

87

Demanten, Smaragden, Rubinen, Metall und Edelgestein, Sie schlummern unten und leuchten mit seltsam lockendem Schein.

Er schaut's und starrt betroffen, ihn blendet des Goldes Glanz, Es rieselt ihm kalt durch die Adern, und Gier erfüllt ihn ganz; Er denkt: Würd' auch bestrichen mein rechtes Auge zugleich, Vielleicht befaß' ich die Schätze und würd' unermeßlich reich. „Mein Bruder, hör', mein Bruder, zum letzten Mal mich an: Bestreich' mein rechtes Ange, wie du dem linken gethan! Noch diese meine Bitte, die letzte, gewähre du mir, Dann scheiden unsere Wege, und Allah sei mit dir!"

Darauf der'Derwisch: „ Mein Bruder, nur Wahrheit sprach mein Mund, Ich machte dir die Kräfte von deiner Salbe kund: Ich will nach allem Guten, das ich dir schon erwies. Die strafende Hand nicht werden, die dich ins Elend stieß." Nun hält er fest am Glauben und brennt vor Ungeduld; Den die Schuld des Herzens, giebt er dem Derwisch schuld. Daß dieser so sich weigert, das ist für ihn der Sporn; Der Gier in seinem Herzen gesellet sich der Zorn.

Er spricht mit höhnischem Lachen: „ Du hältst mich für ein Kind; Was sehend auf einem Auge, macht nicht auf dem andern mich blind! Bestreiche mein rechtes Auge, wie du dem linken gethan, Und wisse, daß, falls du mich reizest, Gewalt ich brauchen kann." Und wie er noch der Drohung die That hinzugefügt, Da hat der Derwisch endlich stillschweigend ihm genügt; Er nimmt zur Hand die Salbe, sein rechtes Aug' er bestreicht: Die Nacht ist angebrochen, die keinem Morgen weicht.

O Derwisch, arger Derwisch, du doch die Wahrheit sprachst! Nun heile, Kenntnisreicher, was selber du verbrachst." „ Ich habe nichts verbrochen, dir ward, was du gewollt, Du stehst in Allahs Handen, der alle Schulden zellt."

Er fleht und schreit vergebens und wälzet sich im Staub; Der Derwisch abgewendet, bleibt seinen Klagen taub. Der sammelt die achtzig Kameele und gen Balsora treibt, Derweil Abdallah verzweifelnd am Quell der Wüste verbleibt. Die nicht er schaut, die Sonne vollbringet ihren Lauf; Sie ging am andern Morgen, am dritten wieder auf; Noch lag er da verschmachtend, ein Kaufmann endlich kam, Der nach Bagdad aus Mitleid den blinden Bettler nahm.

Lhamtffo.

3. Das Schlaraffenland. Das Königreich Schlaraffenland Ist faulen Leuten wohl bekannt; Der Eingang aber ist gar schwer, Denn nm die ganze Gegend her

Liegt ein Gebirg von Hirsebrei, Breit wohl zw ei Meilen oder drei; Wer einziehn will, muß sich vermessen, Durch dies Gebirg sich durchzueffen.

Epische Poesie.

88

Die Menschen wachsen an den Ästen

Die Dächer sind von Zuckerfladen Und Honigkuchen Thür und Laden, Speckkuchen aber Diel' und Wände. Um jedes Haus zieht man behende RingS einen hohen, schönen Zaun Bon Leberwürsten fett und braun. Voll Sekt sind alle Bach' und Flüsse, Und wenn es schloßt, schloßt's Pfeffernüsse.

Wie Pflaumen, flugs mit Stiefeln, Westen Und Kleidern von Damast und Drap Und fallen, wenn sie reif sind, ab.

Die Säu' alljährlich wohl gerathen, Sie gehn umher und sind gebraten; Ein Messer steckt in ihrem Rücken, Der Erste nimmt die besten Stücken, Auf Dannen, Fichten, Blrken, Eichen Steckt drauf das Mesier wieder ein Giebt'S Mandeln, Bretzeln und dergleichen. Und läßt auch andern was vom SchweinHast du gespeiset solchen Braten, Ein Schinkenschnitt ist jedes Blatt, So zahlt man dir gleich vier Dukaten. Und ausgepslastert jede Stadt Mit Eierkuchen und mit Torten; Vor einem nur mußt du dich wahren, Von Marzipan sind Thor und Pforten; Vernunft allhier zu offenbaren. Ein Schweizerkäs' ist jeder Stein, Wer Sinn und Witz gebrauchen wollt', Und wenn es regnet, regnens Wein. Dem wär' kein Mensch im Lande hold; Wer Lust an Zucht und Arbeit hat, Dem untersagt man Land und Stadt; Wer aber thut, was Weisheit tadelt, Der wird in diesem Land geadelt.

Aus Weidenbäumen Semmeln stehn An Bächen Milchs; die Winde wehn: Die Semmeln fallen plumps hinein, Und alles schmaust, so groß als klein. Gekocht, gesalzt, gebraten gehen Die Fisch' in Teichen und in Seen, Am Ufer stehn sie alle still, Man fängt, so viel man immer will. Auch fliegen um, ihr könnt es glauben, Gebrat'ne Hühner, Gäns' und Tauben; Wer, sie zu fangen, ist zu faul. Dem fliegen schnurr! sie in das Maul.

Wer seinen Tag vollbringt mit Schlafen^ Den macht man hier alsbald zum Grafen; Wer trefflich ficht mit Leberwürsten, Der wird allhier gemacht zum Fürsten; Wer aber dümmer ist als alle. Den ruft man bald mit großem Schalle Zum Landesherrn und Kaiser auS; Sein Wappen ist das „ Schellenhaus". Nach Hans Dachs.

4.

Bom Däumchen. 1.

Lauten Jammers, Thränen gießend, Sitzt die Mutter da und schluchzt; Tritt der Gatte zu ihr, fragt sie: „Theure, was stört deine Ruh?"

Auf Weidet Nimmt In die

„Ach," beginnt sie seufzend, leise, „Meinen Kummer kennst wohl du, Daß uns immer noch kein Kindlein Lächelt, lieblich kosend, zu.*'

Sommer war, und schöne Blumen Prangten schimmernd auf der Flur; Und sie nimmt den hänfnen Faden, Bindet an der Distel Schmuck

Und der Mann beginnt zu trösten; Aber sie klagt jede Stund'. Endlich wird ein Sohn geboren; Laut verkündigt man es rund.

Ihren Knaben, daß kein Wind, kein Bienlein ihn von dannen trug: Lustig spielt er um die Distel; Weidend naht die braune Kuh^

Thoms wird er im Tauf benamset; Wie er älter, spricht er klug; Doch sie nennen ihn nur Däumchen, Weil er klein blieb, wenig wuchs.

Unversehens frißt dieselbe Distel, Faden, ihn dazu, Merkt nicht, daß sie mit dem Grase Ihren künfl'gen Herrn verschluckt.

die Wiese geht die Mutter, selbst die braune Kuh, das Söhnlein mit inS Freie, grünende Natur.

Märchen.

89

Und die Mutter kömmt zurücke; Wie sie nach dem Jüngling sucht. Findet sie die Stätte nicht mehr, Und sie schlägt sich Haupt und Brust.

Und ein Schwindel stürzt ihn jählings Nieder in des Fettes Flut. Abgehoben wird der Kessel Und gestopft das Fleisch und Blut.

Er erhört ihr lautes Klagen, Ruft ihr tröstend „ Mutter!" zu. „ Ei, wo bist du, Liebchen?" „Mutter, Ich bin in der braunen Kuh."

Er will sprechen; Kessel siedet; Da wird nicht gehört sein Ruf; Und die Hausfrau ach! verwirkt den Sohn hinab in jene Wurst.

Und die Kuh, deß ungewöhnet, Wie er springet, lauter ruft, t Geht mit ihm zu Wald in Ängsten.

Aufzufahn ihr liebstes Gut,

Drauf hängt sie sie in den Schornstein, Daß der Rauch soll Dienste thun Und sie beizen und sie würzen, Schmackhaft machen dem Genuß.

Folgt die Mutter. Sieh, da fällt er: Sie hebt ihn vom Gras; der Schurz Hüllt ihn ein. Zu Hause sauber Sie den Knaben wieder wusch.

Horch, da ruft es „Mutter! Mutter!" Aus der angerauchten Wurst: Da vermißt sie ihren Kleinen, Fragt: „Wo steckst du wiederum?"

Da begab sich'S, daß man wirkte, Hackte, kochte, stopfte Wurst ; Und der kleine Thoms, das Däumchen, Fleißig in die Töpfe guckt.

„In der Wurst," so sagt die Stimme; „Fleisch und Speck umgeben rund Mich von allen Seiten, minder Nicht des Schweines rothes Blut."

Das Gemengsel wird zum Kochen Hingesetzt an Feuers Glut. Keinem ist, daß an des Kessels Rand der Kleine klebt, bewußt.

Und sie nehmen aus dem Nauchfang Ab die Blutwurst länglich rund: Ausgeschnitten, ihnen schnelle Däumling Thoms entgegen sprung.

2. Übers Feld hin geht er schwitzend,

Als er nun das Land errettet, Durch Britannien klang sein Name, Sprach der König: „Liebes Däumchen, Biel hab' ich dir zu bezahlen.

Durch teil Wald hin ächzt er wandernd. Und am Abend spät noch klopft er An die Hütte laut und tapfer.

Deine Eltern, hör' ich, wohnen Fern im Dorfe, sind verarmet: Nimm aus meinem Schatze, was du Nur vermagst davon zu tragen."

„Aufgemacht! Ich bringe Hülfe, Bringe aus des Königs Schatze, Was ich nur erheben konnte; Fast zerbrachen mir die Arme."

Däumchen danket; mit dem Marschall Geht er in die Silberkammer, Tritt dann wieder aus der Thüre Tief aufkeuchend, schwer beladen.

Hoch aufspringend kommt die Mutter; Und er wirft hin vor die Alte Einen ganzen Silberdreier, Spricht: „Nun dürft ihr nicht mehr sparen." Tieck.

5. Dornröschen. Helena, König Markulfs Gemahlin, ist eines lieblichen Töchterchens genesen. Der glückliche Vater ladet zur Festfeier zwölf in seiner Nähe wohnende Feen. Die von ihm nicht geladene Königin der Nacht, Ardiwa, erscheint während des Festes und droht, die neugeborene Prinzessin solle vor ihrem fünfzehnten Jahre im Schlosse durch eine Spindel ihren Tod finden. Sogleich wendet die Fee Ida, welche ihr Geschenk dem Kinde noch nicht dargebracht hat, einen Theil des Unheils durch den Wunsch ab, daß das Kind durch die Verwundung nicht getödtet, sondern nur in einen tiefen Schlaf versenkt und nach hundert Jahren aus demselben durch den Kuß eines reinen Jünglings erweckt werden solle.

Epische Poesie.

90

Schon viierzzehm schöne Jahre verrauschten und verrannen; Treu lielbtem ihhrem ftlcnig die Fürsten und die Mannen. Es war die schöne: Hcelene deö Landes Sonnenschein; Geliebt am allilernneistcen war doch ihr Töchterlein.

Dornröscchern twar entfaltet in ihrer Gaben Fülle, In königlicher beginnt die Freude auSzuein. schweifen; Er scheint ein Hcchzcitsgast vom ersten Rang Der Braut^ein theilt sich die Lust nicht mit. zu sein, Die in de Braut'gams Augen glühet: Und überall, von diesem Schein betrogen, Macht ihm die Wache Platz. Er schreitet frei Als, eh-' da sie starr auf ihren Teller siehet, Herr Mon in den Saal mit edler Freiheit und stolz tritt. Daher und nähert sich dem Thor von Eben­ holz. Er naht der Tafel sich, und alle Augen­ Zwölf Mohren, Riesen gleich, stehn mit ge­ brauen zücktem Eisen, Zieh» sich erstaunt empor, den Fremden anDie Unberechtigten vom Eingang abzuweisen zuschauen. Allein des Ritters Staat und königliher Die schöne Rezia, die ihre Träume denkt, Hält auf den Teller noch den ernsten Blick Blick gesenkt; Drückt, wie er sich der hohen Pforte - man bietet dreifach dir dein Geld. Sh. Ein Eid! Ein Eid! Ich hab' 'nen Eid im Himmel, Soll ich auf meine Seele Meineid laden? Nicht um Venedig. P. Gut, er ist verfallen, Und nach den Rechten kann der Jud' hierauf Verlangen ein Pfund Fleisch, zunächst am Herzen Des Kaufmanns auszuschneiden. Sei bann­ herzig ! Nimm dreifach Geld, laß mich den Schein zerreißen. Sh. Wenn er bezahlt ist, wie sein Inhalt lautet. Es zeigt sich klar, ihr seid ein würd'ger Richter; Ihr kennt die Rechte, euer Vortrag war Der bündigste; ich fordr' euch auf beim Recht, Wovon ihr ein verdienter Pfeiler seid, Kommt nun zum Spruch: bei meiner Seele schwör' ich, Daß keines Menschen Zunge über mich Gewalt hat; ich steh' hier auf meinen Schein. A. Bon ganzem Herzen bitt' ich das Ge­ richt, Den Spruch zu thun. P. Nun wohl, so steht eS denn: Bereitet euren Busen für sein Mesier. Sh. O weiser Richter! Wackrer junger Mann! P. Denn des Gesetzes Inhalt und Bescheid Hat volle Übereinkunft mit der Buße,

nügt, Verpflicht' ich mich, es zehnfach zu bezahlen, Und setze Hände, Kopf und Herz zum Pfand. Wenn dies noch nicht genügt, so zeigt sich's klar, Die Bosheit drückt die Redlichkeit. Ich bitt' euch, Beugt einmal das Gesetz nach eurem Ansehn; Die hier im Schein als schuldig wird erkannt. Sh. Sehr wahr! O weiser und gerechter Thut kleines Unrecht um ein großes Recht, Richter! Und zähmt dem grimmen Teufel seinen Willen. P. Es darf nicht sein. Kein Ansehn in Um wie viel älter bist du, als du aussiehst! P. Deshalb entblößt den Busen. Venedig S h. Ja, die Brust. Vermag ein gültiges Gesetz zu ändern.

Schauspiel.

503

So sagt der Schein, nicht wahr, mein edler Doch wünscht' ich sie im Himmel, könnt' sie Richter? Zunächst dem Herzen sind die eignen Worte. Dort flehn, P. So ist's. Ist eine Wage da, das Fleisch

Mächte den hünd'schen Juden zu er­ weichen.

N. Gut, daß ihr'S hinter ihrem Rücken thut. Zu wägen? Sh. Ja, ich hab' sie bei der Hand. Sonst störte wohl der Wunsch des Hauses Frieden. P. Nehmt einen Feldscher, Shylock, für

Sh. (beiseit.) So sind die Christeumänner:

eu'r Geld, Ihn zu verbinden, daß er nicht verblutet.

ich hab' 'ne Tochter, Sh. Ist das so angegeben in dem Schein? Wär' irgend wer vom Stamm des Barrabas P. Es steht nicht da; allein was thut's? Ihr Mann geworden, lieber als ein Christ!'—

Es wär' Die Zeit geht hin: ich bitt' euch, kommt zum Doch gut, ihr thätet daS aus Menschenliebe. Spruch. P. Ein Pfund vondiesesKaufmannSFleisch S h. Ich kann's nicht finden, 's ist nicht in dem Schein. ist dein. P. Kommt, Kaufmann, habt ihr irgend was Der Hof erkennt es, und das Recht ertheilt es.

zu sagen? A. Nur wenig, ich bin fertig und gerüstet. Gebt mir die Hand, Baffanio, lebet wohl!

S h. O höchst gerechter Richter! P. Und aus der Brust darfst du dies Fleisch

ihm schneiden,

ES kränk' euch nicht, daß dies für euch mich DaS Recht bestimmt es, und der Hof gewährt trifft; Denn hierin zeigt das Glück sich gütiger,

es. S h. Höchst weiser Richter! Spruch war's.

Als seine Weis' ist: immer läßt es sonst

Macht euch fertig! P. Wart' noch ein wenig: eins ist noch zu

Elende ihren Reichthum überleben, Mit hohlem Aug' und falt'ger Stirn

ein

Alter

merken. Der Schein hier giebt dir nicht ein Tröpfchen

Der Armuth anzuschaun: von solcher Schmach Blut, Langwier'ger Buße nimmt es mich hinweg. Die Worte sind ausdrücklich ein Pfund Fleisch. Empfehlt mich eurem edlen Weib, erzählt ihr Nimm denn den Schein, und nimm du dein Pfund Fleisch; Den Hergang von Antonios Ende, sagt. Allein vergießest du, indem du'S schneidest, Wie ich euch liebte, rühmt im Tode mich;

Und wenn ihr's auserzählt, heißt sie ent­ Nur einen Tropfen Christenblut, so fällt Dein Hab' und Gut nach dem Gesetz Vene­ scheiden,

Ob nicht Baffanio einst geliebt ist worden. digs Bereut nicht, daß ihr einen Freund verliert, Dem Staat Venedigs heim. Und er bereut nicht, daß er für euch zahlt:

Denn schneidet nur der Jude tief genug, So zahl' ich gleich die Schuld von ganzem

Herzen. B. Antonio, ich hab' ein Weib zur Ehe, Die mir so lieb ist als mein Leben selbst: Doch ?eben selbst, mein Weib und alle Welt, Gilt höher als dein Leben nicht bei mir. Ich gäbe alles hin, ja opfert' alles

G. Gerechter Richter!

Merk, Jud'! O weiser Richter!

Sh. Ist das Gesetz? P. Du sollst die Akte sehn.

Denn, weil du dringst auf Recht, so sei gewiß, Recht soll dir werden, mehr als du begehrst. G. O weiser Richter! Merk', Jud'! Ein

weiser Richter. S h. So nehm' ich das Gebot; den Schein

Dem Teufel da, um dich nur zu befrein. zahlt dreifach, P. Das wüßt' eu'r Weib gewiß euch wenig Und laßt den Christen gehn. B. Hier ist das Geld. Dank,

Wär' jte dabei und hört' eu'r Anerbieten. P. Halt! G. Ich hab' ein Weib, die ich, auf Ehre, Dem Juden alles Recht. Still! Keine Eil'! liebe;

Er soll die Buße haben, weiter nichts.

504

Dramatische Poesie.

G. O 3ub'! Ein weiser, ein gerechter Rüchter! P. Darum bereite dich, das Fleisch zu schmeiden. Vergieß kein Blut, schneid' cauch nicht mehr, norch minder AlS grad' ein Pfund; ist's miinder oder mehr Als ein genaues Pfund, sei's nur so viel, Es leichter oder schwerer an (Gewicht Zu machen um ein armeS Zwoanzigtheil Von einem Skrupel, ja wenm sich die Wagschjal Nur um die Breite eiues HacareS neigt, So stirbst du, und dein Gmt verfällt dem Süaat. G. Ein zweiter Daniel, eim Daniel, Jude! Ungläubiger, ich hab' dich beii der Hüfte. P. Was halt den Juden amf? Nimm deine Wuße. Sh. Gebt mir mein Kapitcal, und laßt mich ge:hn. B. Ich hab' es schon für -dich bereit: hier istt's. P. Er hat'S vor offenem Gericht geweigert, Sein Recht nur soll er haben und den Schein. G. Ich sag', ein Daniel, ein zweiter Daniiel! Dank, Jude, daß du mich dcas Wort gelehrt. S h. Soll ich nicht habem blos mein Äapiital? P. Du sollst nichts habem als die Buße, Jtude, Die du auf eigene Gefahr nuagst nehmen. Sh. So kaff' es ihm der Teufel wohl be­ klommen ! Ich will nicht länger Rede sstehn. H. Wart', Jude! Das Recht hat andern Anspruch noch an dich. Es wird verfügt in dem Gesetz Venedigs: Wenn man es einem Fremdling dargethan, Daß er durch Umweg oder cgradezu Dem Leben eines Bürgers machgestellt, Soll die Partei, auf die sehn Anschlag geht, Die Hälfte seiner Güter an- sich ziehn, Die andre Hälfte fällt dem Schatz anheim, Und an deS Dogen Gnade hangt das Leben Des Schuldigen einzig gegeen alle Stimmen. In der Benennung, sag’ ich), stehst du nun, Denn es erhellt auS offeubarrem Hergang, Daß du durch Umweg' und - auch gradezu

Recht eigentlich gestanden dem Beklagten Nach Leib und Leben: und so trifft dich denn Die Androhung, die ich zuvor erwähnt. Drum nieder, bitt' um Gnade bei dem Dogen! G. Bitt'um Erlaubnis, selber dich zu hän­ gen! Und doch, da all dein Gut dem Staat ver­ fällt, Behältst du nicht den Werth von einem Strick. Drum muß man dich auf Staates Kosten hängen. D. Damit du siehst, welch andrer Geist uns lenkt, So schenk' ich dir dein Leben, eh' du bittest. Dein halbes Gut gehört Antonio, Die andre Hälfte fällt dem Staat anheim, Was Demuth mildern kann zu einer Buße. P. Äa, für den Staat, nicht für Antonio. Sh. Nein, nehmt mein Leben auch, schenkt mir das nicht! Ihr nehmt mein Haus, wenn ihr die Stütze nehmt, Worauf mein HauS beruht; ihr nehmt mein Leben, Wenn ihr die Mittel nehmt, wodurch ich lebe. P. WaS könnet ihr für Gnade thun, An­ tonio ? G. Ein Strick umsonst! Nichts mehr, um GotteS willen! A. Beliebt mein gnäd'ger Herr und das Gericht, Die Buße seines halben Guts zu schenken, So bin ich cS zufrieden, wenn er mir Die andre Hälfte zum Gebrauche läßt, Nach seinem Tod dem Mann sie zu erstatten, Der kürzlich seine Tochter stahl. Noch zweierlei beding' ich: daß er gleich Für diese Gunst das Christenthum bekenne, Zum andern stell' er eine Schenkung aus Hier vor Gericht von allem, waS er nachläßt, An seinen Schwiegersohn und seine Tochter. D. Das soll er thun, ich widerrufe sonst Die Gnade, die ich eben hier ertheilt. P. Bist du'S zufrieden, Jude? Nun, waS sagst du? S h. Ich bin's zufrieden. P. Ihr, Schreiber, setzt die Schenkungs­ akte auf. S h. Ich bitt', erlaubt mir, weg von hier zu gehn:

Schauspiel.

505

Ich bm nicht wohl, schickt mir die Akte nach, Wär' ich dem Richter, kriegtest du zehn Und ich will zeichnen. mehr, D. Geh denn, aber thu'S. Zum Galgen, nicht zum Taufschein, dich zu G. Du wirst zwei Pathen bei der Taufe bringen,

haben;

übersetzt von Schlegel und

Lieck.

2. Aus Shakspeares König Heinrich IV. 1. Theil. Zweiter Aufzug.

Vierte Scene.

Prinz Heinrich. Falstaff. Poins. Gadshill. Peto. Kellner.

P o. Willkommen, Hans. Wo bist du ge­ wesen ? F. Hol' die Pest alle feigen Memmen und das Welter obendrein! Ja und Amen! Gieb mir ein Glas Sekt, Junge. Lieber, als dies Leben lange führen, will ich Strümpfe stricken und sie stopfen und sie neu versohlen. Hol' die Pest alle feigen Memmen! Gieb mir ein Glas Sekt, Schurke! Ist keine Tugend mehr auf Erden? H. Sahst du niemals den Titan einen Teller voll Butter küssen ? Den weichherzigen Titan, der bei einer süßen Erzählung seines Sohnes schmolz? Wenn du es thatest, so betrachte diese Maste. F. Du Schurke, in dem Glase Sekt ist auch Kalk; nichts als Schurkerei ist unter dem sündhaften Menfchenvolk zu finden. Aber eine Memme ist doch noch ärger als ein Glas Sekt mit Kalk drin; so'ne schändliche Memme! Geh deiner Wege, alter Hans! Stirb, wann du willst! Wenn Mannhaftigkeit, edle Mann­ haftigkeit nicht vom Angesicht der Erde ver­ schwunden ist, so bin ich ein ausgenommener Hering. Nicht drei wackre Leute leben un­ gehangen in England, und der eine von ihnen ist fett und wird alt. Gott helf' uns! Eine schlechte Welt, sag' ich! Ich wollte, ich wär' ein Weber, so könnt' ich doch allerlei Lieder singen. Hol' die Pest alle feigen Memmen! sag' ich nochmals. H. Nun, du Wollsack, was murmelst du? F. Ein Königssohn! Wenn ich dich nicht mit einer hölzernen Pritsche aus deinem Kö­ nigreich hinausschlage und alle deine Unter­ thanen wie eine Herde wilder Gänse vor dir hertreibe, so will ich mein Leben lang kein Haar mehr im Gesichte tragen. Ihr ein Prinz von Wales!

H. Nun, du gemästeter Schlingel, waö soll's? F. Seid ihr nicht eine Memme? darauf antwortet mir: und der PoinS da? P o. Sapperment, du fetter Wanst, wenn du mich eine Memme nennst, so erstech' ich dich. F. Ich dich eine Memme nennen? Ich will mich verdammt sehen, ehe ich das thue; aber ich wollte tausend Pfund drum geben, daß ich so gut laufen könnte, wie du. Ihr seid ziemlich grade gewachsen, ihr fragt nicht da­ nach, ob jemand euren Rücken sieht; nennt ihr daS ein Rückenhalt seiner Freunde sein? Hol' die Pest solches Rückenhalten! Schasst mir Leute, die mir ins Gesicht sehn! Ein Glas Sekt! Ich bin ein Schelm, wenn ich heute was getrunken habe. H. O Spitzbube, du hast dir kaum die Lippen vom Trinken abgewischt. F. ES kommt alles auf eins heraus. Hol' die Pest alle Memmen! sage ich nochmals. H. Was soll's? F. Was soll'S? Viere unter uns, die wir hier sind, haben heute Morgen tausend Pfund erbeutet. H. Wo sind sie, Hans? Wo sind sie? F. Wo sind sie? Uns abgenommen sind sie. An die Hundert gegen uns armselige viere! H. WaS sagst du, Freund? An die Hun­ dert? F. Ich will ein Schuft sein, wenn ich nicht ein paar Stunden lang mit einem Dutzend von ihnen handgemein gewesen bin. Ich bin durch ein Wunder davongekommen. Ich habe acht Stöße durch das Wams gekriegt, viere durch die Beinkleider, mein Schild ist durch und durch gehauen, mein Degen zerhackt wie eine Handsäge; ecce signum! Zeit mei­ nes Lebens habe ich mich nicht besser gehal­ ten ; eö half alles nichts. Hol' die Pest alle Memmen! Laßt die da reden; wenn sie mehr

Dramatische Poesie.

506

oder weniger als die Wahrheit sagen, so sind sie Spitzbuben und Kinder der Finsternis.

H. Redet, Leute!

Wie war's?

G. Wir viere fielen ein Dutzend an —

F. Sechzehn wenigstens. G. Und banden sie.

H. Ja, ich merke mir's auch, Hans. F. DaS thu' nur; eS ist deS AufhorchenS schon werth. Diese neun in Steifleinen, wo­

von ich dir sagte, — H. Also wieder zwei mehr. F. Da ich sie in der Mitte auS einander

P e. Nein, nein, gebunden wurden sie nicht.

gesprengt hatte — P o. So fielen ihnen die Hosen herunter. F. Ja, du Schelm, sie wurden gebunden, alle bis auf den letzten Mann, sonst will ich F. So fingen sie an zu weichen. Ich war ein Jude sein, ein rechter Erzjude. aber dicht hinter ihnen drein mit Hand und G. Wie wir dabei waren zu theilen, fielen Fuß, und wie der Wind gab ich sieben von

unS sechs bis sieben frische Leute an — den elfen ihr Theil. F. Und banden die Andern los, und dann H. O entsetzlich! Elf steifleinene Kerle aus kamen die Übrigen. zweien! H. Was? Fochtet ihr mit allen? F. Wie ich dabei war, führte der Teufel F. Alle?

Ich weiß nicht, was ihr alle drei abscheuliche Spitzbuben in

hellgrünen

nennt, aber wenn ich nicht mit ein funfzigen Röcken her, die mich von hinten anfielen; gefochten habe, so will ich ein Bündel Ra- denn es war so dunkel, daß man nicht die dieser sein. Wenn ihrer nicht zwei- bis drei- Hand vor Augen sehen konnte.

undfunfzig über den armen alten Hans her H. Diese Lügen sind wie der Vater, der waren, so bin ich keine zweibeinige Kreatur. sie erzeugt, groß und breit wie Berge, offen­ P o. Gott gebe, daß ihr keinen davon er­ bar, handgreiflich. Ei, du grützköpfiger Wanst! Du vernagelter Tropf! Du verwetterter, nun kein Beten mehr. schmutziger, fettiger Talgklumpen! Ich Habezweien die Freude versalzen; zweien, F. Nun, bist du toll? bist du toll? Was das weiß ich, habe ich ihr Theil gegeben, zwei wahr ist, ist doch wahr. Schelmen in steifleinenen Kleidern. Ich will H. Ei, wie konntest du die Kerle in hell­ dir was sagen, Heinz, wenn ich dir eine Lüge grünen Röcken erkennen, wenn es so dunkel

mordet habt! F. Ja, da hilft

sage, so spei' mir ins Gesicht, nenne mich war, daß man die Hand nicht vor Augen ein Pferd. Du kennst meine alte Parade! sehenkonnte? Komm', gieb uns deine Gründe So lag ich, und so führte ich meine Klinge. an: wie erklärst du daS? Nun dringen vier Schelme in Steifleinen Po. Eure Gründe, Hans, eure Gründe! auf mich ein — H. WaS, viere? Eben jetzt sagtest du ja

nur zwei. F. Viere, Heinz, ich sagte viere.

F. Was? Mit Gewalt? Wär' ich auch auf der Wippe oder allen Foltern in der Welt, so ließe ich mir's nicht mit Gewalt

abnöthigen. Mit Gewalt Gründe angeben! Wenn Gründe so gemein wären wie Brom­ F. Diese viere kamen alle in einer Reihe beeren, so sollte mir doch keiner mit Gewalt und thaten zusammen einen Ausfall auf mich. einen Grund abnöthigen, nein! P o. Ja, ja, er hat viere gesagt.

Ich machte nicht viel Umstande, sondern sing H. Ich will dieser Sünde nicht länger ihre sieben Spitzen mit meinem Schilde auf, so! schuldig sein. Diese vollblütige Memme, die­ H. Sieben? So eben waren ihrer ja nur ser Bettdrücker, dieser Pferderückenbrecher, vier. F. In Steifleinen.

dieser Fleischberg —

F. Fort mit dir, du Hungerbild, du Aal­ P o. Ja, viere in steifleinenen Kleidern. haut, du getrocknete Rinderzunge, du Ochsen­ F. Sieben, bei diesem Degengriff, oder ich ziemer, du Stockfisch, o hätt' ich nur Odem will ein Schelm sein. zu nennen, was dir gleicht! Du Schneiderelle, H. Ich bitte dich, laß ihn nur, wir werden Du Degenfutteral, du erbärmliches Rapier —

ihrer gleich noch mehr kriegen. F. Hörst du auch, Heinz?

H. Gut,

hol' ein weilchen Odem, und

dann geh' wieder dran, und wenn du dich

Schauspiel. in schlechten Vergleichungen erschöpft hast, so höre nmr dies. Po. Merk auf, HanS. H. Wir zweie sahen euch viere über viere herfallen; ihr bandet sie und machtet euch ihres Gutes Meister. Nun merkt auf, wie eine ganz simple Geschichte euch zunichtemacht. Wir zwei fielen hierauf euch viere an und trotzten euch, mit einem Worte, die Beute ab und haben sie, ja und können sie euch hier im Haufe zeigen; und ihr, Falstaff, schlepptet euren Wanst so hurtig davon, mit so behender Geschicklichkeit und brülltet um Gnade und lieft und brülltet in einem fort, wie ich je ein Bullenkalb habe brüllen hören. Was bist du für ein Sünder, deinen Degen zu zerhacken, wie du gethan hast, und dann zu sagen, eS sei im Gefecht geschehen? Wel­ chen Kniff, welchen Vorwand, welchenSchlupfwinkel kannst du nun aussinnen, um dich vor dieser offenbaren Schande zu verbergen? Po. Komm', laß uns hören, Hans: was hast du nun für einen Kniff?

507

F. Beim Himmel, ich kannte euch! Laßt euch sagen, meine Freunde: kam eS mir zu, den Thronerben umzubringen? Sollte ich mich gegen den echten Prinzen auflehnen? Du weißt wohl, ich bin so tapfer, wie Herkules; aber denke an den Instinkt: der Löwe rührt den echten Prinzen nicht an. Instinkt ist eine große Sache; ich war eine Memme aus In­ stinkt. Ich werde lebenslang von dir und mir desto bester denken: von mir als einem tapfren Löwen, von dir als einem echten Prinzen. Aber beim Himmel, Bursche, ich bin froh, daß ihr das Geld habt. Wirthin, die Thüren zu! Heute Nacht gewacht, morgen gebetet!" Brave Jungen, Goldherzen! Alle “ " Titel guter Kameradschaft feien euch gegönnt! He, sollen wir lustig sein? Sollen wir eine Komödie extemporiren? H. Zugestanden! Und sie soll von deinem Davonlaufen handeln, F. Ach, davon nichts weiter, Heinz, wenn du mich lieb hast! übersetzt von Schlegel und Tie».

3. Aus Goethes Iphigenie auf Tauris. Als die griechische Flotte, die Agamemnon nach Troja führen sollte, in Aulis lag, ward Artemis (Diana) von dem Könige beleidigt und hinderte deshalb durch eine andauernde Windstille die Abfahrt der Flotte. Auf den Ausspruch des Sehers KalchaS, die Göttin könne nur durch den Tod Iphigeniens, der Tochter AgamemnonS, versöhnt werden, wird Klytämnestra, des Königs Gemahlin, durch List bewogen, mit der Tochter nach Aulis zu kommen. Als aber Iphigenia geopfert werden soll, erbarmt sich Artemis ihrer und entrückt sie nach Tauris, wo sie der Göttin Priesterin wird und den König Thoas veranlaßt, den grausamen Gebrauch, daß jeder Fremde, der die Küste betritt, geopfert werde, abzuschaffen. Nachdem nun Orestes, der Iphigenie Bruder, seine Mutter gemordet, weil sie den Gatten nach seiner Rückkehr von Troja getödtet, kommt er, von den Furien verfolgt, mit seinem Freunde PyladeS nachTauriS, indem ein Orakelspruch ihm verheißen, derFluch werde sich lösen, wenn er die Schwester nach Griechenland bringe, und will, weil er die Worte auf Apollos Schwester, Ar­ temis, bezieht, deren Bildnis rauben und hinwegführen. So wählt' er eine meiner Äungfrau'n mir Zur Folgerin, und ich vermag alsdann I. Unglücklicher, ich löse deine Bande Mit heißem Wunsch allein euch beizustehn. Zum Zeichen eines schmerzlichern Geschicks. OwertherLandSmann! Selbst derletzteKnecht, Die Freiheit, die das Heiligthum gewährt, Der an den Herd der Vatergötter streifte, Ist, wie der letzte, lichte Lebensblick Ist uns in fremdem Lande hoch willkommen: Der Schwererkrankten, Todesbote. Noch Wie soll ich euch genug mit Freud' und Segen Kann ich es mir und darf es mir nicht sagen, Empfangen, die ihr mir das Bild der Helden, ; Daß ihr verloren seid! Wie könnt' ich euch Die ich von Eltern her verehren lernte, -Mit mörderischer Hand dem Tode weihen! Entgegenbringet und das innre Herz - Und niemand, wer eS sei, darf euer Haupt, Mit neuer, schöner Hoffnung schmeichelnd Solang' ich Priesterin Dianens bin, labet! Berühren. Doch, verweigr' ich jene Pflicht, O. Verbirgst du deinen Namen, deine Wie sie der aufgebrachte König fordert, Herkunft

!

i

Dritter Aufzug.

Iphigenie.

Erster Auftritt, Orest.

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Dramat isch e Poesie.

Mit klugem Vorsatz, oder darf ich wissen, Wer mir, gleich einer Himmlischen, begegnet? I. Du sollst mich kennen. Jetzo sag' mir

an, Was ich nur halb von deinem Bruder horte, Das Ende derer, die, von Troja kehrend. Ein hartes, unerwartetes Geschick Auf ihrer Wohnung Schwelle stumm empfing. Zwar ward ich jung an diesen Strand geführt; Doch wohl erinnr' ich mich des scheuen Blicks, Den ich mit Staunen und mit Bangigkeit Auf jene Helden warf. Sie zogen aus, Als hatte der Olymp sich aufgethan Und die Gestalten der erlauchten Vorwelt Zum Schrecken Ilions herabgesendet, Und Agamemnon war vor allen herrlich! O sage mir! Er fiel, sein Haus betretend, Durch seiner Frauen und ÄgistheuS' Tücke?

O. Du hast des Greuels Hälfte nur er­ fahren. I. Was fürcht' ich noch? Orest, Elektra leben. O. Und fürchtest du für Klytämnestren nichts? I. Sie rettet weder Hoffnung, weder Furcht. O. Auch schied sie aus dem Land der Hoff­ nung ab. I. Vergoß sie reuig wüthend selbst ihr Blut? O. Nein, doch ihr eigen Blut gab ihr deu Tod. I. Sprich deutlicher, daß ich nicht länger sinne! Die Ungewißheit schlägt mir tausendfältig Die dunklen Schwingen um das bange Haupt. O. So haben mich die Götter ausersehn Zum Boten einer That, die ich so gern Ins klanglos dumpfe Höllenreich der Nacht Verbergen möchte? Wider meinen Willen Zwingt mich dein holder Mund; allein er darf Auch etwas Schmerzlich'S fordern und erhält's. Am Tage, da der Vater fiel, verbarg Elektra rettend ihren Bruder: Strophius, Des Vaters Schwäher, nahm ihn willig auf, Erzog ihn neben seinem eignen Sohne, Der, Pylades genannt, die schönsten Bande Der Freundschaft um den Angekomm'nen knüpfte. Und wie sie wuchsen, wuchs in ihrer Seele Die brennende Begier, des Königs Tod Zu rächen. Unversehen, fremdgekleidet, Erreichen sie Myceu, als brächten sie Die Trauernachricht von Orestenö Tode Mit seiner Asche. Wohl empfängst sie Die Königin; sie treten in daö Haus. Elektren giebt Orest sich zu erkennen; Sie bläst der Rache Feuer in ihm auf, Das vor der Mutter heil'ger Gegenwart 3'n sich zurückgebrannt war. Stille führt * Sie ihn zum Orte, wo sein Vater siel, Wo eine alte, leichte Spur des frech Vergoff'nen Blutes oft gewaschnen Boden Mit blaffen, ahnungsvollen Streifen färbte. Mit ihrer Feuerzunge schilderte Sie jeden Umstand der verruchten That, Ihr knechtisch elend durchgebrachteS Leben, Den Übermuth der glücklichen Verräther

O. Du sagst's! I. Weh dir, unseliges Mycen! So haben Tantals Enkel Fluch auf Fluch Mit vollen, wilden Händen ausgesä't! Und gleich dem Unkraut, wüste Häupter schüt­ telnd Und tausendfält'gen Samen um sich streuend, Den Kindeökindern nahverwandte Mörder Zur ew'gen Wechselwuth erzeugt! Enthülle, Was von der Rede deines Bruders schnell Die Finsternis des Schreckens mir verdeckte. Wie ist des großen Stammes letzter Sohn, Das holde Kind, bestimmt des Vaters Rächer Dereinst zu sein, wie ist Orest dem Tage DeS Bluts entgangen? Hat ein gleich Geschick Mit des Avernus Netzen ihn umschlungen? Ist er gerettet? Lebt er? Lebt Elektra? O. Sie leben. I. Goldne Sonne, leihe mir Die schönsten Strahlen, lege sie zum Dank Vor Jovis Thron! Denn ich bin arm und stumm. O.. Bist du gastfreundlich diesem Königs­ hause, Bist du mit nähern Banden ihm verbunden, Wie deine schöne Freude mir verräth: So bändige dein Herz und halt' es fest! Denn unerträglich muß dem Fröhlichen Ein jäher Rückfall in die Schmerzen sein. Du weißt nur, merk ich, Agamemnons Tod. Und die Gefahren, die nun der Geschwister I. Hab' ich an dieser Nachricht nicht genug? Von einer stiefgewordnen Mutier warteten.

Schauspiel. Hier drang sie jenen alten Dolch ihm auf, Verschon in Tantals Hause grimmig wüthete, Und Klytämnestra fiel durch Sohnes Hand. I. Unsterbliche, die ihr den reinen Tag Auf immer neuen Wolken selig lebet, Habt ihr nur darum mich so manches Jahr Bon Menschen abgesondert, mich so nah' Bei euch gehalten, mir die kindliche Beschäftigung, des heil'gen Feuers Glut Zu nähren, aufgetragen, meine Seele Der Flamme gleich in ew'ger frommer Klar­ heit Zu euern Wohnungen hinaufgezogen, Daß ich nur meines Hauses Greuel später Und tiefer fühlen sollte? Sage mir Bom Unglücksel'gen! Sprich mir von Orest! O. O könnte man von seinem Tode sprechen! Wie gahrend stieg aus der Erschlagnen Blut Der Mutter Geist Und ruft der Nacht uralten Töchtern zu: „ Laßt nicht den Muttermörder entfliehn! Verfolgt den Verbrecher! Euch ist er geweiht!" Sie horchen auf, es schaut ihr hohler Blick Mit der Begier des Adlers um sich her. Sie rühren sich in ihren schwarzen Höhlen, Und aus den Winkeln schleichen ihre Ge­ fährten, Der Zweifel und die Reue, leis herbei. Vor ihnen steigt ein Dampf vom Acheron; In seinen Wolkenkreisen wälzet sich Die ewige Betrachtung des Geschehenen Verwirrend um des Schuldigen Haupt umher, Und sie, berechtigt zum Verderben, treten Der gottbesä'ten Erde schönen Boden, Von dem ein alter Fluch sie längst verbannte. Den Flüchtigen verfolgt ihr schneller Fuß; Sie geben nur, um neu zu schrecken, Rast. I. Unseliger, du bist in gleichem Fall Und fühlst, was er, der arme Flüchtling, lei­ det! O. Was sagst du mir? Was wähnst du gleichen Fall? I. Dich drückt ein Brudermord wie jenen ; mir Vertraute dies dein jüngster Bruder schon. O. Ich kann nicht leiden, daß du, große Seele, Mit einem falschen Wort betrogen werdest. Ein lügenhaft Gewebe knüpft ein Fremder

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Dem Fremden, sinnreich und der List gewohnt, Zur Falle vor die Füße; zwischen uns Sei Wahrheit! Ich bin Orest! Und dieses schuldige Haupt Senkt nach der Grube sich und sucht den Tod; In jeglicher Gestalt sei er willkommen! Wer du auch seist, so wünsch' ich Rettung dir Und meinem Freunde; mir wünsch' ich sie nicht. Du scheinst hier wider Willen zu verweilen; Erfindet Rath zur Flucht und laßt mich hier! Es stürze mein entseelter Leib vom Fels, Es rauche bis zum Meer hinab mein Blut Und bringe Fluch dem Ufer der Barbaren! Geht ihr, daheim im schönen Griechenland Ein neues Leben freundlich anzufangen! (Ab.) I. So steigst du denn, Erfüllung, schönste Tochter Des größten Vaters, endlich zu mir nieder! Wie ungeheuer steht dein Bild vor mir! Kaum reicht mein Blick dir an die Hände, die, Mit Frucht- und Segenskränzen angefüllt, Die Schätze des Olympus niederbringen. Wie man den König an dem Übermaß

Der Gaben

kennt (denn ihm muß wenig scheinen, Was Tausenden schon Reichthum ist), so kennt Man euch, ihr Götter, an gesparten, lang Und weise zubereiteten Geschenken; Denn ihr allein wißt, was uns frommen kann, Und schaut der Zukunft ausgedehntes Reich, Wenn jedes Abends Stern- und Nebelhülle Die Aussicht uns verdeckt. Gelassen hört Ihr unser Flehn, das um Beschleunigung Euch kindisch bittet; aber eure Hand Bricht unreif nie die goldnen Himmelsfrüchte; Und wehe dem, der, ungeduldig sie Ertrotzend, saure Speise sich zum Tod Genießt. O laßt das lang erwartete, Noch kaum gedachte Glück nicht, wie den Schatten Des abgeschiednen Freundes, eitel mir Und dreifach schmerzlicher vorübergehn! (Orest tritt wieder zu ihr.)

O. Rufst du die Götter an für dich und Pylades, So nenne meinen Namen nicht mit eurem.

510

Dramatische Poesie.

Du rettest den Verbrecher nicht, zu dem Du dich gesellst, und theilest Fluch und Noth. I. Mein Schicksal ist an deines fest ge­ bunden. O. Mit nichte»! Laß allein und unbegleitet Mich zu den Todten gehn. Verhülltest du In deinen Schleier selbst den Schuldigen: Du birgst ihn nicht vorm Blick der Immer­ wachen, Und deine Gegenwart, du Himmlische, Drängt sie nur seitwärts und verscheucht sie nicht. Sie dürfen mit den eh'rnen frechen Füßen Deö heil'gen Waldes Boden nicht betreten; Doch hör' ich auS der Ferne hier und da Ihr gräßliches Gelächter; Wölfe harren So um den Baum, auf den ein Reisender Sich rettete. Da draußen ruhen sie Gelagert; und verlaß ich diesen Ham, Dann steigen sie, die Schlangenhäupter schüt­ telnd, Von allen Seiten Staub erregend auf Und treiben ihre Beute vor sich her. 3. Kannst du, Orest, ein freundlich Wort vernehmen? O. Spar' «S für einen Freund der Götter auf. .3. Sie geben dir zu neuer Hoffnung Licht. O. Durch Rauch und Qualm seh' ich den matten Schein DeS TodtenflusseS mir zur Hölle leuchten. 3. Hast du Elektren, eine Schwester nur? O. Die eine sannt* ich; doch die ält'ste nahm 3hr gut Geschick, daS unS so schrecklich schien, Bei Zeiten auS dem Elend unsers Hauses. O laß dein Fragen, und geselle dich Nicht auch zu den Erinnyen; sie blasen Mir schadenfroh die Asche von der Seele Und leiden nicht, daß sich die letzten Kohlen Bon unsers Hauses Schreckensbrande still 3n mir verglimmen. Soll die Glut den» ewig, Vorsätzlich angefacht, mit Höllenschwefel Genährt, mir aufderSeele marternd brenne«? 3. Ich bringe süßes Rauchwerk in die Flamme. O laß den reinen Hauch der Liebe dir Die Glut des Busens leise wehend kühlen! Orest, mein Theurer, kannst du nicht verneh­ men? Hat daS Geleit der Schreckensgötter so

DaS Blut in deinen Adern aufgetrocknet? Schleicht, wie vom Haupt der gräßliche« Gorg°ne, Versteinernd dir einZauber durch die Glieder? O wenn vergoff'neS Mutterblutes Stimme Zur Höll* hinab mit dumpfen Tönen ruft: Soll nicht der reinen Schwester Segenswort Hülfreiche Götter vom Olympus rufen? O. Eö ruft! eS ruft! So willst du mein Verderbe»? Verbirgt in dir sich eine Rachegöttin? Wer bist du, deren Stimme mir entsetzlich DaS 3nnerste in seinen Tiefen wendet? 3. ES zeigt sich dir im tiefsten Herzen an: Orest, ich bin's! Sieh* Iphigenien! Ich lebe! O. Du! 3. Mein Bruder! O. Laß! hinweg! 3ch rathe dir, berühre nicht die Locken! Wie von KreufaS Brautkleid zündet sich Ein unauslöschlich Feuer von mir fort. Laß mich! Wie Herkules will ich Unwürd'ger Den Tod voll Schmach, in mich verschloffen, sterben. 3. Du wirst nicht untergeha! O daß ich nur Ein ruhig Wort von dir vernehmen könnte! O löse meinen Zweifel, laß des Glückes, Des lang erstehte», mich auch sicher werden! ES wälzet sich ein Rad von Freud* und Schmerz Durch meine Seele. Von dem fremden Manne Entfernet mich ein Schauer; doch es reißt Mein Innerstes gewaltig mich zum Bruder. O. Ist hier LyäenS Tempel? Und ergreift Unbändig heil'ge Wuth die Priesterin? 3. Ohöre mich! O sieh* mich an, wie mir Nach einer langen Zeit das Herz sich öffnet Der Seligkeit, dem Liebsten, was die Welt Noch für mich tragen kann, daS Haupt zu küssen. Mit meinen Amren, die den leeren Winden Nnr auSgebreitet waren, dich zu fassen. O laß mich! laß mich! Denn eS quillet heller Nicht vom Pamaß die ew'ge Quelle spmdelnd Bon Fels zu Fels ins goldne Thal hinab, Wie Freude mir vom Herzen wallend stießt. Und wie ein selig Meer mich rings umfängt. Orest! Orest! mein Bmder! O. Schöne Nymphe, Ich traue dir und deinem Schmeicheln nicht. Diana fordert strenge Dienerinnen

Schauspiel. Und rächet das entweihte Heiligthum. Entferne deinen Arm von meiner Brust!

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Ja, schwinge deinen Stahl, verschone nicht,

Zerreiße diesen Busen und eröffne Und wenn du einen Jüngling rettend lieben, Den Strömen, die hier sieden, einen Weg. (Er sinkt in Ermattung.) DaS schöne Glück ihm zärtlich bieten willst. I. Allein zu tragen dieses Glück und Elend So wende meinem Freunde dein Gemüth, Vermag ich nicht. Wo bist du, PyladeS? Dem würdigern Manne zu. Er irrt umher Wo find' ich deine Hülfe, theurer Mann? Auf jenem Felsenpfade; such' ihn auf, (Sie entfernt sich suchend.) Weis' ihn zurecht und schone meiner. 2. Fasse Dich, Bruder, und erkenne die Gefundne!

Schilt einer Schwester reine Himmelsfreude Nicht unbesonnene, strafbare Lust.

Fünfter Aufzug. Iphigenie.

Letzter Auftritt. Thoas.

Orest.

I. Befreit von Sorge mich,

eh' ihr zu

O nehmt den Wahn ihm von dem starren Auge,

sprechen Daß uns der Augenblick der höchsten Freude Beginnet. Ich befürchte bösen Zwist, Nicht dreifach elend mache! Sie ist hier, Wenn du, o König, nicht der Billigkeit Die längst verlorne Schwester. Vom Altar Riß mich die Göttin weg und rettete

Hierher mich in ihr eigen Heiligthum.

Gefangen bist du, dargestellt zum Opfer, Und findest in der Priesterin die Schwester.

O. Unselige! So mag die Sonne denn Die letzen Greuel unsres Hauses sehn!

Ist nicht Elektra hier? Damit auch fie Mit uns zu Grunde gehe, nicht ihr Leben Zu schwererem Geschick und Leiden friste.

Gelinde Stimme hörest, du, mein Bruder, Der raschen Jugend nicht gebieten willst.

Th. Ich halte meinen Zorn, wie eS dem Ältern Geziemt, zurück. Antworte mir! Womit Bezeugst du, daß du Agamemnons Sohn Und dieser Bruder bist?

O. Hier ist das Schwert, Mit dem er Trojas tapfre Männer schlug.

Die- nahm ich seinem Mörder ab und bat

Gut, Priesterin! Ich folge zum Altar: Die Himmlischen, den Muth und Arm, das Der Brudermord ist hergebrachte Sitte Glück Des alten Stammes; und ich danke, Götter, DeS großen Königes mir zu verleihn Daß ihr mich ohne Kinder auszurotten Und einen schönern Tod mir zu gewähren. Beschlossen habt! Und laß dir rathen, habe Wähl' einen aus den Edlen deines Heers Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne; Und stelle mir den Besten gegenüber!

Komm, folge mir inS dunkle Reich hinab!

So weit die Erde Heldensöhne nährt.

Wie sich vom Schwefelpfuhl erzeugte Drachen Ist keinem Fremdling dies Gesuch verweigert. T h. Dies Vorrecht hat die alte Sitte nie Bekämpfend die verwandte Brut verschlingen, Zerstört sich selbst daS wüthende Geschlecht; Komm kinderlos und schuldlos mit hinab!

Dem Fremden hier gestattet. O. So beginne

Du siehst mich mit Erbarmen an? Laß ab!

Die neue Sitte denn von dir und mir!

Nachahmend heiliget ein ganzes Volk Mit solchen Blicken suchte Klytämnestra Sich einen Weg nach ihres Sohnes Herzen; Die edle That der Herrscher zum Gesetz. Doch sein geschwungner Arm traf ihre Brust. Und laß mich nicht allein für unsre Freiheit, Laß mich, den Fremden, für die Fremden

Die Mutter fiel! Tritt auf, unwill'ger Geist!

Im Kreis geschlossen tretet an, ihr Furien, kämpfen. Und wohnet dem willkommnen Schauspiel bei, Fall' ich, so ist ihr Urtheil mit dem meinen Gesprochen; aber gönnet mir das Glück Dem letzten, gräßlichsten, das ihr bereitet! Nicht Haß und Rache schärfen ihren Dolch; Zu überwinden, so betrete nie Ein Mann dies Ufer, dem der schnelle Blick Die liebevolle Schwester wird zur That Gezwungen.

Weine nicht!

Du hast nicht Hülfreicher Liebe nicht begegnet, und Getröstet scheide jeglicher hinweg! Th. Nicht unwerth scheinest du, o Jüng­

Schuld. Seit meinen ersten Jahren hab' ich nichts

Geliebt, wie ich dich lieben könnte, Schwester.

ling, mir

512

Dramatische Poesie.

Der Ahnherrn, deren du dich rühmst, zu sein. Groß ist die Zahl der edlen, tapfren Manner, Die mich begleiten; doch ich stehe selbst In meinen Jahren noch dem Feinde, bin Bereit, mit dir der Waffen Loos zu wagen. I. Mitnichten! Dieses blutigen Beweises Bedarf es nicht, o König! Laßt die Hand Bom Schwerte! Denkt an mich und mein Geschick. Der rasche Kampf verewigt einen Mann: Er falle gleich, so preiset ihn das Lied. Allein die Thränen, die unendlichen, Der überbliebnen, der verlaff'nen Frau Zählt keineNachwelt, und derDichterschweigt Von tauf end durchgeweinten Tag- und Nächten, Wo eine stille Seele den verlornen, Rasch abgeschiednen Freund vergebens sich Zurückzurufen bangt und sich verzehrt. Mich selbst hat eine Sorge gleich gewarnt, Daß der Betrug nicht eines RäuberS mich Vom sichren Schutzort reiße, mich der Knecht­ schaft Verrathe. Fleißig hab' ich sie befragt, Nach jedem Umstand mich erkundigt, Zeichen Gefordert, und gewiß ist nun mein Herz. Sieh' hier an seiner rechten Hand das Mal Wie von drei Sternen, bad am Tage schon, Da er geboren ward, sich zeigte, daS Auf schwere That, mit dieser Faust zu üben, Der Priester deutete. Dann überzeugt Mich doppelt diese Schramme, die ihm hier Die Augenbraue spaltet. Als ein Kind Ließ ihn Elektra, rasch und unvorsichtig Nach ihrer Art, aus ihren Armen stürzen. Er schlug auf einen Dreifuß auf. Er ist's! Soll ich dir noch die Ähnlichkeit des Vaters,

Soll ich daS innre Jauchzen meines Herzens Dir auch als Zeugen der Versichrung nennen? Th. Und hübe deine Rede jeden Zweifel, Und bändigt' ich den Zorn in meiner Brust: So würden doch die Waffen zwischen uns Entscheiden'müsset: ; Frieden seh' ich nicht. Sie sind gekommen, du bekennest selbst, Das heil'ge Bild der Göttin mir zu rauben. Glaubt ihr, ich sehe dies gelassen an? Der Grieche wendet oft sein lüstern Auge Den fernen Schätzen der Barbaren zu, Dem goldnen Felle, Pferden, schönen Töchtern; Doch führte sie Gewalt und List nicht immer Mit den erlangten Gütern glücklich heim.

O. Das Bild, o König, soll uns nicht entzweien! Jetzt kennen wir den Irrthum, den ein Gott Wie einen Schleier um daS Haupt uns legte, Da er den Weg hierher uns wandern hieß. Um Rath und um Befreiung bat ich ihn Von dem Geleit der Furien; er sprach: „Bringst du die Schwester, die an Tauris' Ufer Im Heiligthume wider Willen bleibt, Nach Griechenland, so löset sich der Fluch. ” Wir legten's von Apollens Schwester aus, Und er gedachte dich! Die strengen Bande Sind nun gelöst; du bist den Deinen wieder, Du Heilige, geschenkt. Von dir berührt, War ich geheilt; in deinen Armen faßte Das Übel mich mit allen seinen Klauen

Zum letzten Mal und schüttelte das Mark Entsetzlich mir zusammen; dann entfloh's Wie eine Schlange zu der Höhle. Neu Genieß' ich nun durch dich daS weite Licht Des TageS. Schön und herrlich zeigt sich mir Der Göttin Rath. Gleich einem heil'gen Bilde, Daran der Stadt unwandelbar Geschick Durch ein geheimes Götterwort gebannt ist. Nahm sie dich weg, dich Schützerin deö Hauses, Bewahrte dich in einer heil'gen Stille Zum Segen deines Bruders und der Deinen. Da alle Rettung auf der weiten Erde Verloren schien, giebst du uns alles wieder. Laß deine Seele sich zum Frieden wenden, O König! Hindre nicht, daß sie die Weihe Des väterlichen Hauses nun vollbringe. Mich der entsühnten Halle wiedergebe, Mir auf das Haupt die alte Krone drücke! Vergilt den Segen, den sie dir gebracht. Und laß des nähern Rechtes mich genießen! Gewalt und List, der Männer höchster Ruhm, Wird durch die Wahrheit dieser hohen Seele Beschämt, und reines, kindliches Vertrauen Zu einem edlen Manne wird belohnt. I. Denk' an dein Wort, und laß durch diese Rede Aus einem graben, treuen Munde dick Bewegen! Sieh uns an! Du hast mißt oft Zu solcher edlen That Gelegenheit. Versagen kannst du's nicht; gewähr' es bald! Th. So geht! I. Nicht so, mein König! Ohne Segen, In Widerwillen scheid' ich nicht von d'r.

Komödie und Posse. Verbann' uns nicht! Ein freundlich Gastrecht walte Von dir zu uns: so sind wir nicht auf ewig Getrennt und abgeschieden. Werth und theuer, Wie mir mein Vater war, so bist du's mir, Und dieser Eindruck bleibt in meiner Seele. Bringt der Geringste deines Volkes je Den Ton der Stimme mir ins Ohr zurück, Den ich an euch gewohnt zu hören bin, Und seh' ich an dem Ärmsten eure Tracht:

Empfangen will ich ihn wie einen Gott, Ich will ihm selbst ein Lager zubereiten,

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Auf einen Stuhl ihn an das Feuer laden Und nur nach dir und deinem Schicksal fragen. O, geben dir die Götter deiner Thaten Und deiner Milde wohlverdienten Lohn! Leb' wohl! O wende dich zu uns und gieb Ein holdes Wort des Abschieds mir zurück! Dann schwellt der Wind die Segel sanfter an, Und Thränen fließen lindernder vom Auge Des Scheidenden. Leb' wohl! und reiche mir Zum Pfand der alten Freundschaft deine Rechte! Th. Lebt wohl!

2. Die Komödie (das Lustspiel) und -ie Posse. Die Komödie (von Gesang bei lustigen Festlichkeiten), welche in Deutschland aus den Fastnachtsspielen sich entwickelt hat, ist die dramatische Darstellung derjenigen Handlungen, welche die Thorheiten, Schwächen oder Eigenheiten der Menschen mit dem, was im Leben gebräuchlich und herkömmlich ist, in einem Kampfe zeigen, durch welchen die Lachlust und das Ergötzen geweckt wird. Der Kontrast des wahrhaft Sittlichen und Idealen mit der Erscheinung erzeugt das Komische, daS eben die Seele des Lustspiels ist. Wie aber durch diese Thorheiten und Schwächen niemals sittlicher Unwille, so darf durch die Konflikte, in welche der Held des Stückes geräth, durchaus nicht wahre Theilnahme er­ regt werden; sie dürfen niemals mehr sein als eine augenblickliche Verlegenheit, eine lächer­ liche, von'schlimmen Folgen nicht begleitete Noth, deren Lösung und Beseitigung später eintritt. Bei dieser Lösung ist sogar dem Zufall ein weiter Spielraum gegönnt; denn das Zufällige, Willkürliche ist ja selbst etwas Komisches. Je nach der Wahl und Behandlung des Stoffes unterscheidet man das höhere Lust­ spiel, dessen Held seine Schwächen entweder nicht kennt oder doch sorgfältig zu verbergen sucht, von dem niederen oder der Posse. Jenes nennt man im besonderen entweder Cha­ rakterstück, wenn die komische Wirkung durch die sorgfältige Zeichnung der Charaktere, oder Intriguen stück, wenn sie mehr durch Handlungen erreicht ist, durch welche Ver­ wirrung auf Verwirrung gehäuft und die endliche Lösung der Verwirrung immer weiter hinausgeschoben wird. Beide Arten aber finden sich in jedem guten Lustspiele vereinigt, weil sonst gar zu leicht Gehalt oder Bewegung fehlt. Ob für die Komödie die Prosa oder der Vers angemessen sei, muß in jedem einzelnen Falle nach der Art des Gegenstandes beurtheilt werden. Die Posse endlich führt unter Anwendung des derben Bolkswitzes die niederen, ge­ meineren Verhältnisse des Lebens vor oder zeichnet Charaktere, die trotz des Bewußtseins ihrer Schwächen dieselben dennoch beizubehalten streben. Wie die Sprache derb und zwang­ los, so ist auch die Charakterzeichnung meist kunstlos, oft kaum durch wenige Striche ange­ deutet. Die gesunde Kraft muß für den Mangel des gebildeten Ausdrucks entschädigen. Der Posse ist daher auch nur die Prosa angemessen.

Dle'itz u. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur, r. Ausl.

33

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Dramatische Poesie.

1. Aus Lessings Minna von Barnhelm. Dritter Aufzug. Major von Tellheim.

Siebenter Auftritt. Wachtmeister Paul Werner,

v. T. So in Gedanken, Werner? W. Da sind Sie ja; ich wollte eben gehn und Sie in Ihrem neuen Quartiere besuchen, Herr Major. v. T. Um mir auf den Wirth des alten die Ohren voll zu fluchen. Gedenke mir nicht

daran! W. Das hätte ich beiher gethan, ja. Aber eigentlich wollte ich mich nur bei Ihnen be­ danken, daß Sie so gut gewesen und mir die hundert Louisd'or aufgehoben. Just hat mir sie wiedergegeben. Es wäre mir wohl freilich lieb, wenn Sie mir sie noch länger aufheben könnten. Aber Sie sind in ein neu Quartier gezogen, das weder Sie, noch ich kennen. Wer weiß, wie's da ist. Sie könnten Ihnen da gestohlen werden, und Sie müßten mir sie ersetzen; da hülfe nichts davor. Also kann ich's Ihnen freilich nicht zumuthen. v. T. Seit wann bist du so vorsichtig, Werner? W. Es lernt sich wohl. Man kann heute zu Tage mit seinem Gelde nicht vorsichtig genug sein. Darnach hatte ich noch was an Sie zu bestellen, Herr Major, von der Ritt­ meisterin Marloff; ich kam eben von ihr her. Ihr Mann ist Ihnen ja vierhundert Thaler schuldig geblieben; hier schickt sie „Ihnen auf Abschlag hundert Dukaten. Das Übrige will sie künftige Woche schicken. Ich Mochte wohl selber Ursache sein, daß sie die Summe nicht ganz schickt; denn sie war mir auch ein Tha­ ler achtzig schuldig; und weil sie dachte, ich wäre gekommen, sie zu mahnen, wie'S denn auch wohl wahr war, so gab sie mir sie und gab sie mir aus dem Röllchen, das sie für Sie schon zu rechte gelegt hatte. Sie können auch schon eher Ihre hundert Thaler ein acht Tage noch misten, als ich meine paar Gro­ schen. Da nehmen Sie doch! v. T. Werner! W. Nun? Warum sehen Sie mich so starr an? So nehmen Sie doch, Herr Major! v. T. Werner! W. Was fehlt Ihnen? Was ärgert Sie? v. T. Daß es — die vierhundert Thaler nicht ganz sind!

W. Nun, nun, Herr Major! Haben Sie mich denn nicht verstanden? v. T. Eben weil ich dich verstanden habe! Daß mich doch die besten Menschen heut' am meisten quälen müssen! W. WaS sagen Sie? v. T. Es geht dich nur zur Hälfte an! Geh, Werner! W. Sobald ich das los bin! v. T. Werner, wenn du nun von mir hörst, daß die Marloff heute ganz früh selbst bei mir gewesen ist? W. So? v. T. Daß sie mir nichts mehr schuldig ist? W. Wahrhaftig? v. T. Daß sie mich bei Heller und Pfen­ nig bezahlt hat? Was wirst du dann sagen? W. Ich werde sagen, daß ich gelogen habe, und daß es eine hundsfönsche Sache ums Lügen ist, weil man darüber ertappt werden kann. v. T. Und wirst dich schämen? W. Aber der, dermich so zu lügen zwingt, was sollte der? Sollte der sich nicht auch schämen? Sehen Sie, Herr Major; wenn ich sagte, daß mich Ihr Verfahren nicht verdrösse, so hätte ich wieder gelogen, und ich will nicht mehr lügen. v. T. Sei nicht verdrießlich, Werner! Ich erkenne dein Herz und deine Liebe zu mir. Aber ich brauche dein Geld nicht. W. Siebrauchen es nicht? Und verkaufen lieber und versetzen lieber und bringen sich lieber in der Leute Mäuler? v. T. Die Leute mögen es immer wissen, daß ich nichts mehr habe. Man muß nicht reicher scheinen wollen, als man ist. W. Aber warum ärmer? Wir haben, so lange unser Freund hat. v. T. Es ziemt sich nicht, daß ich dein Schuldner bin. W. Ziemt sich nicht? Wenn an einem hei­ ßen Tage, den uns die Sonne und der Feind heiß machte, sich ihr Reitknecht mit den Kan­ tinen verloren hatte und Sie zu mir kamen und sagten: Werner, hast du nichts zu trin­ ken? und ich Ihnen meine Feldflasche reichte, nicht wahr, Sie nahmen und tranken? Ziemte sich das? Bei meiner armen Seele, wenn ein

Komödie und Posse.

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Trunik faules Wasser damals nicht oft mehr W. Einem Manne, wie Sie, kann es nicht werth war als alle der Quark! (zieht auch den immer fehlen. v. T. Du kennst die Welt! Am wenigsten Beutel mit den Louisd'oren heraus und reicht ihm beides hin) Nehmen Sie, lieber Major! Bilden Sie sich muß man sodann von einem borgen, der sein ein, es ist Wasser. Auch das hat Gott für Geld selbst braucht. W. O ja, so einer bin ich! Wozu braucht' alle geschaffen. v. T. Du marterst mich; du hörst es ja, ich's denn? Wo man einen Wachtmeister nöich will dein Schuldner nicht sein. thig hat, giebt man ihm auch zu leben. SB- Erst ziemte es sich nicht; nun wollen v. T. Du brauchst es, mehr als Wacht­ Sie nicht? Ja, daö ist was anders. Sie meister zu werden, dich auf einer Bahn wei­ wollen mein Schuldner nicht sein? Wenn Sie ter zu bringen, auf der ohne Geld auch der es denn aber schonwären, HerrMajor? Oder Würdigste zurückbleiben kann. sind Sie dem Manne nichts schuldig, der ein­ W. Mehr als Wachtmeister zu werden? mal den Hieb aufsing, der Ihnen den Kopf Daran denke ich nicht. Ich bin ein guter spalten sollte, und ein ander Mal den Arm vom Wachtmeister und dürfte leicht ein schlechter Rumpfe hieb, der eben losdrücken und Ihnen Rittmeister und sicherlich noch ein schlechterer die Kugel durch die Brust jagen wollte? Was General werden. Die Erfahrung hat man. können Sie diesem Manne mehr schuldig v. T. Mache nicht, daß ich etwas Unrech­ werden? Oder hat es mit meinem Halse tes von dir denken muß, Werner! Ich habe weniger zu sagen als mit meinem Beutel? es nicht gern gehört, was mir Just gesagt Wenn das vornehm gedacht ist, bei meiner hat. Du hast dein Gut verkauft und willst armen Seele, so ist es auch sehr abgeschmackt wieder herumschwärmen. Laß mich nicht von dir glauben, daß du nicht sowohl das Metier, gedacht! v. T. Mit wem sprichst du so, Werner? als die wilde, liederliche Lebensart liebest, die Wir sind allein; jetzt darf ich es sagen; wenn unglücklicher Weise damit verbunden ist. Man uns ein Dritter hörte, so wäre es Windbeu­ muß Soldat sein für sein Land oder aus Liebe telei. Ich bekenne es mit Vergnügen, daß ich zu der Sache, für die gefochten wird. Ohne dir zweimal mein Leben zu danken habe. Aber, Absicht heute hier, morgen da dienen, heißt Freund, woran fehlte mir es, daß ich bei Ge­ wie ein Fleischerknecht reisen, weiter nichts. W. Nun ja doch, Herr Major, ich will legenheit nicht ebensoviel für dich würde Ihnen folgen. Sie wissen besser, was sich gethan haben? he? W. Nur an der Gelegenheit! Wer hat gehört. Ich will bei Ihnen bleiben. Aber, daran gezweifelt, Herr Major? Habe ich Sie lieber Major, nehmen Sie doch verweile nicht hundertmal für den gemeinsten Solda­ mein Geld. Heut' oder morgen muß Ihre ten, wenn er ins Gedränge gekommen war, Sache aus fein. Sie müssen Geld die Menge bekommen. Sie sollen mir es sodann mit Ihr Leben wagen sehen? Interessen wiedergeben. Ich thu' es ja nur v. T. Also! W. Aber — der Interessen wegen. v. T. Schweig' davon! v. T. Warum verstehst du mich nicht recht? W. Bei meiner armen Seele, ich thu' es Ich sage: es ziemt sich nicht, daß ich dein Schuldner bin; ich will dein Schuldner nicht nur der Interessen wegen. Wenn ich manch­ sein, nämlich in den Umständen nicht, in mal dachte: Wie wird es mit dir aufs Alter werden, wenn du zu Schanden gehauen bist? welchen ich mich jetzt befinde. W. So, so! Sie wollen es verspüren bis wenn du nichts haben wirst? wenn du wirst auf bessere Zeiten; Sie wollen ein ander Mal betteln gehen müssen? so dachte ich wieder: Geld von mir borgen, wenn Sie keines brau­ Nein, du wirst nicht betteln gehn; du wirst chen, wenn Sie selbst welches haben und ich zum Major Tellheim gehn; der wird seinen letzten Pfennig mit dir theilen; der wird dich vielleicht keines. v, T. Man muß nicht borgen, wenn man zu Tode füttern; bei dem wirst du als ein nicht wiederzugeben weiß. ehrlicher Kerl sterben können.

516

Dramatische Poesie.

v. T. (ergreift Werners Hand)'-Und, Kamerad, das denkst du nicht noch? W. Nein, das denk' ich nicht mehr. Wer von mir nichts annehmen will, wenn er'sbedarf und ich's habe, der will mir auch nichts geben, wenn er's hat und ich's bedarf. Schon gut! (will gehen.) v. T. Mensch, mache mich' nicht rasend! Wo willst du hin? (hält ihn zurück) Wenn ich

2.

Aus Raupo

Erster Aufzug. Ein Zimmer im Zollhause. Erster Auftritt. Zollinspektor Harder. Zollassistent Till.

Kutscher

Christian (von einem Gensdarmen geführt).

T. Nur hier herein! H. Was giebt es? T. Contrebande, Herr Hauptmann. H. Donner — T. Und Wetter! sage ich auch. H. Lasien Sie mich — T. Reden ? O, mit Vergnügen! Nichts als Schuldigkeit. Sie wollen vermuthlich fragen: wer? wie? was ? (Er übergiebt ihm ein Tütchen.) Hier ist das Was; (auf Christian zeigend) dort steht der Wer, und das Wie mag der De­ fraudant selbst erzählen. H. Tabak! (Er schnupft aus der Tüte.) Jenseiti­ ger Tabak! Christian! sagt mir um — T. Um des Himmels willen, wie kommt — H. Potz Bomben — T. Und Granaten! H. Wollen Sie mich denn nicht — T. Ausreden lassen? O, mit Vergnügen! H. Christian, wie kommt ihr zu dem Tabak? Ch. Wie ich dazu komme, gnädiger Herr? Wie man zu so was kommt: ich habe ihn gekauft. ' H. Aber drüben über der Grenze? Ch. Freilich. Sie selbst hatten mich ja hinübergeschickt. H. Um meine Tochter abzuholen, nicht um Tabak zu kaufen. C h. Aber ich hatte meine Schnupftabaks­ dose vergessen, und ohne Tabak kann ich ein­ mal nicht leben; und da kaufte ich mir drü­ ben zwei Loth für einen Sechser: aber die Hälfte ist schon aufgeschnupft.

dich nun auf meine Ehre versichere, daß ich noch Geld habe, wenn ich dir auf meine Ehre verspreche, daß ich dir es sagen will, wenn ich keines mehr habe, daß du der Erste und Einzige sein sollst, bei dem ich mir etwas bor­ gen will: bist du dann zufrieden? W. Muß ich nicht? Geben Sie mir die Hand darauf, Herr Major! v. T. Da, Paul! Und nun genug davon.

Schleichhändlern. H. Warum habt ihr den Tabak — T. Nicht angegeben? fragt der Herr Haupt­ mann. Ch. Warum nicht gar, so einen Bettel. H. Bettel! Das hochlöbliche Zollamt — T. Bekümmert sich um jeden Bettel von Rechts wegen. Neulich hatte einer jenseits von einem Andern eine Prise Tabak genom­ men und hielt sie noch zwischen den Fingern, als er die Grenze hier passirte. Die Prise wurde confiscirt und an den Meistbietenden verkauft. H. Und diese Düte wird confiscirt und versteigert. Ein ander Mal gebt hübsch an, was ihr Zollbares bei euch habt. C h. Nein, gnädigerHerr, mein Lebtage nicht. H. und T. Nicht? Ch. Nein. Wenn man etwas ohne An­ gabe hereinbringen kann für sich oder einen guten Freund, so ist es ein ehrlicher Gewinn. H. Ehrlicher Gewinn? T. O ihr heidnischer Christian! H. Hört mich an, Christian! Ihr betrügt den König; die Zollgebühren gehören ihm. Ch. I, gnädiger Herr, glauben Sie doch daö nicht! T. Wollt ihr den Herrn Hauptmann leh­ ren, was er glauben soll? Ch. Ei, der gnädige Herr glaubt es gar nicht; er muß sich nur so stellen. Aber unser­ einer weiß, wo Bartel Most holt. Der König ist ein steinreicher Herr und braucht unsere armen Pfennige nicht. Schickt etwa der Herr Hauptmann daS Geld, das er einnimmt, an den König? Nein, an die Herren in der Stadt. Nun, was da unser gnädigster König davon zu sehen kriegt, dafür will ich mir keine Stiefeln besohlen lassen.

Musikalisches Drama. H. Ihr seid ein malitiöser Kerl; ich habe euch so noch nicht gekannt. Aber ich befehle euch als euer Brotherr, künftig, so oft ihr über die Grenze kommt, alles anzugeben, was ihr wiffentlich und unwissentlich Zollbares bei euch führt. C h. Das geht nicht, gnädiger Herr. Ich will mich nicht auslachen und in der Schenke hänseln lassen. Das Zollamt ist uns armen Leuten zum Tort hergesetzt, und wie du mir, so ich dir, undRevanschemuß sein, das denkt jung und alt drei Meilen in die Runde, und ich will nichts Apartes haben. H. Ihr sollt aber etwas Apartes haben, weil ihr in meinem Dienste steht, und sollt von dem hochlöblichen Zollamte nur liebes und gutes denken und reden. Ch. Das kann ich nicht, gnädiger Herr; ich will nicht für einen Esel gellen. H. Ihr sollt aber dafür gelten, oder ich jage euch aus dem Dienste. Ch. Meinetwegen. Einen Dienst findet man schon wieder; aber einen Eselskopf wird man so leicht nicht wieder los. H. Fort! Geht mir aus den Augen, Böse­ wicht! Fort! Ich will nichts mehr von euch wiffen. Hinaus mit euch! (Christian und der Ecu-darm ßcljcii ab.)

Zweiter Auftritt. Till und Harder.

T. Abscheuliche Gesinnung! H. Ganz verrucht. Aber daö kommt

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T. Ganz recht, Herr Hauptmann; da­ kommt von dem schlechten Jugendunterrichte. Die Zollgesetze sollten im Abc stehen. H. Ja wohl. Dann würden die Menschen begreifen — T. Schon in der Wiege würden sie be­ greifen, daß — H. Lassen Sie mich reden! T. O, mit Vergnügen! H. Sie würden begreifen, welch eine nütz­ liche Anstalt — T. Die Zölle sind, wollen Sie sagen. Ge­ wiß, eine höchst heilsame Anstalt; eine Anstalt, die durch Verteuerung aller Lebensbedürfnisse

und Luxusartikel die Menschen zur Mäßigkeit und Einfachheit zwingt. H. Eine Anstalt, die — T. Im höchsten Grade liberal ist, wollen Sie sagen. Zuverlässig. Das Theuerste, was der Mensch hat und nicht ohne merklichen Nachtheil entbehren könnte, seinen Leib, darf er mit allen Anhängseln von Gliedmaßen un­ verzollt über die Grenze bringen, ja sogar — H. Lassen Sie mich reden! T. Mit Vergnügen! Ich sage nur, sogar die Speisen in seinem Magen, die Bedeckung an seinem Leibe, die klugen und thörichten Gedanken in seinem Kopfe sind zollfrei, was beinahe zu viel ist. H. Unmensch! Unmensch! Mein Herz ist voll Jammer, und er läßt mich nicht einmal reden, nm mir Luft zu machen. Sie bringen mich in die Grube und in der Blüte meiner Jahre.

3. Das musikalische Drama. Das musikalische Drama unterscheidet sich von der Tragödie und Komödie zunächst durch die zur Dichtung hinzugefügte musikalische Begleitung, durch welche entweder eine innig: Verschmelzung oder eine bloße Verbindung der Dichtkunst und der Tonkunst hervorgeöracht wird. Erstere findet in der Oper, der Operette, der Kantate und dem Ora­ torium, letztere in dem Vaudeville (Singspiel) und in dem Melodrama statt. a.

Die Oper.

Die Oper ist diejenige dramatische Dichtung, in welcher die innigste Verschmelzung der Poesie und Musik stattfindet, in welcher die Musik ausführt, was die Poesie nur an­ deutel. Damit die Tonkunst ihre volle Wirksamkeit finden könne, muß das lyrische Element des Dramas in der Oper das epische überwiegen. Die Handlung tritt zurück, die Gefühle

Dramatische Poesie.

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in den Vordergrund; sie zu entwickeln, sie zu steigern und ihre Entwickelung, ihre Steige­ rung durch die Musik möglichst vollkommen auszudrücken, ist die Aufgabe des Komponisten. Die Musik also ist der Zweck, die Poesie nur das Mittel; der Dichter muß auf dm Ruhm verzichten, damit der Komponist ihn ernte. Damit der Zauber, den die Oper auf die Sinne äußern will, recht erhöhet werde, verbinden sich mit der Tonkunst in der Oper auch noch die Künste des Tanzes und der Malerei. Theile der Oper sind das Rezitativ, eine Art deklamatorischen Halbgesanges, die Arien oder GefühlSergüsie einzelner; in den Duetten, Terzetten, Quartetten offenbaren sich die gleichzeitigen Gefühle mehrerer, wie im C h o r e die Gefühle aller Per­ sonen. Ist der Inhalt der Oper ernst, so daß sie dem Stoffe nach der Tragödie oder dem Drama gleicht, so wird sie ernste Oper (opera seria) genannt; ist aber ihr Inhalt heiter, so heißt sie k o m i s ch e O p e r (opera buffa).

b.

Die Operette.

Die Operette unterscheidet sich von der Oper durch größere Einfachheit der ange­ wandten Mittel; auch läßt sie den Dialog mit dem Gesänge abwechseln. c.

Die Kantate und das Oratorium.

In der Kantate und in dem Oratorium tritt die Handlung noch weit mehr in den Hintergrund als in der Oper und zwar in der Kantate oft so sehr, daß die Personen nur durch die Musik unterschieden werden, insofern der Sopran oder der Tenor u. s. w. den Vortrag übernimmt. Während daher auch in der Kantate die lyrische Form, allerdings frei von der Strophe, vorherrscht, tritt in dem Oratorium wenigstens die dramatische Form entschiedener hervor: es ist ein geistliches Lied in dramatischer Form. Der Inhalt der Kantate ist fast immer, der Inhalt des Oratoriums ausschließlich religiös.

d.

Das Vaudeville oder Singspiel.

Das Vaudeville, welches französischen Ursprungs ist, ist ein Lustspiel, in welches einzelne Singstücke, meist nach beliebten Melodien, eingelegt sind.

e.

Das Melodrama.

Das M e l o d r a m a ist eine Deklamation, die durch Musik entweder nur eingeleitet und geschloffen oder auch ununterbrochen begleitet wird. Bisweilen werden auch nur die in der Deklamation gemachten Pausen durch Musik ausgefüllt.

B. Prosa i. Die historische Krosa. a. Die erzählende Prosa.

1. Die athenische Erziehung nach den Gesetzen Salons. Die Erziehung der jungen Athener faßte Solen mit besonderer Sorgfalt ins Auge. Man war in Attika davon durchdrungen, daß die Erziehung davon ausgehen müsse, der Jugend Ehrfurcht und Scheu vor den Göttern einzuprägen, daß sie eine religiöse Grund­ lage haben müsse. Die sittliche Kraft der Mäßigung, der Selbstbeherrschung, der Hin­ gebung für das Gemeinwesen konnte nur geweckt und genährt werden durch die Vergegen­ wärtigung der sittlichen Mächte des Himmels. Solche Vergegenwärtigung des Wesens und Waltens der Götter besaßen die Griechen nun in ihrer Poesie. An dieser mußte man demnach die Jugend emporbilden. Die religiöse Poesie der Griechen bestand in Hymnen und Chorälen, welche, zum liturgischen Gebrauche bestimmt, ohne die Musik, von welcher sie getragen wurden, den wesentlichsten Theil ihrer Wirkung einbüßen mußten. Wenn man die Jugend diese Hymnen und Chorlieder lehrte, mußte man sie zugleich den Gesang der­ selben, die musikalische Begleitung, lehren. Die Griechen schrieben zudem der Musik einen großen Einfluß auf die Seele der Menschen zu. So verband sich bei ihnen der Unterricht in der Religion zugleich mit dem in der Poesie und in der Musik. Sie faßten alle diese Zweige des Unterrichts unter dem Namen der musischen Kunst, der Musik, zusammen. In den Büchern über die Gesetze wird ausgeführt, daß der natürliche Trieb der Jugend zu lärmen und zu springeu durch Musik, Tanz und Gymnastik geregelt werden müsse, daß es die Aufgabe der Musik und der Chorlieder sei, den jungen und zarten Seelen der Kinder edle und schöne Grundsätze einzusingen. Indem aber die religiös-sittliche Erziehung der Griechen an den Meisterwerken ihrer Poesie und durch diese geschah, verband sich damit eine Übung des Gedächtnisses, eine Übung der geistigen Kraft für die Auffassung poetischer Gedanken und eine Bildung des Geschmacks. Die Einübung der Chorlieder und Chortänze für die Prozessionen und Feste des Staats gab diesem Unterricht zugleich einen äußeren Zweck, und die Orchestik führte von der Bildung der Seele hinüber zu der des Leibes, zur Gymnastik, auf welche mindestens ein ebenso großes Gewicht gelegt wurde wie auf die musische Erziehung. Bis zum siebenten Jahre waren die Kinder der Mutter überlassen. Die Wärterinnen wiegten die Kinder der Vornehmen in der Schwinge schaukelnd in den Schlaf, sangen ihnen Wiegenlieder und erzählten ihnen Märchen; sie spannten ihre Einbildungskraft, wenn sie ihnen sagten, wie sie einst, wenn sie groß wären, in ritterlichen Spielen und Kämpfen glänzen würden. Nach dem siebenten Jahre besuchten die Knaben die Musikschulen und die Ringbahnen (Palästren). Schon früh am Morgen zogen sie, nachdem sie ein Stück Brot zum Imbiß erhallen, still und zusammengeschaart zum Kitharisten in die Musikschule. Auch im Winter, selbst wenn es tüchtig schneite, waren sie barfuß und im bloßen Chiton. In der Schule mußten die Knaben anständig sitzen, die Schenkel auseinanderhalten, und die Lehrer gaben

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Historische Prosa.

acht, daß die Jungen keine Thorheiten trieben. Der Kitharist sprach ihnen zuerst einfache Lieder vor, welche sie behalten und hersagen mußten; dann hatten sie die getragenen und choralartigen Weisen derselben zu lernen. „Wir sagen," so läßt Lucian in einem seiner Dialoge den Solon sprechen, „den Knaben die Denksprüche weiser Männer, alte Thaten und nützliche Reden vor, welche in Verse gefaßt sind, um sie dem Gedächtnisse ein­ zuprägen. Hören nun die Knaben Thaten der Tapferkeit und gesangwürdige Handlungen, so streben sie selbst danach, um dereinst von der Nachwelt in Liedern gepriesen zu werden." Eines der ersten Lieder, welche die Knaben beim Kitharisten zu lernen und zu singen hatten, lautete: „Pallas, furchtbare Städtezerstörerin, du Kriegslärm erregende Göttin, hehre, den Feind abwehrende Tochter des großen Zeus, dich rufe ich, die Rossebändigerin, die edelste Jungfrau!" Es war nicht darauf abgesehen, die Knaben zu Virtuosen im Gesang und im Kitharaspiel zu erziehen; die musikalische Bildung sollte die sittlich-religiöse unterstützen, die musikalische Fertigkeit sollte nur so weit entwickelt werden, daß einst der Jüngling und Mann in den Chören mitsingen, daß er Tischlieder anmuthig vortragen und ein Lied mit der K'tthara begleiten und singen könne. „Wo beim Betriebe der Musik nur die Lust der Zuhörer bezweckt wird, nicht die Veredlung dessen, der die Kunst betreibt," sagt Aristoteles, „da ist keine Be­ schäftigung für freie Männer, sondern für Miethlinge." Vom Kitharisten gingen die Knaben in die Ringschule zum Pädotriben. Die Ringschulen waren zahlreich und wenigstens zum Theil auf öffentliche Kosten erbaut. Die Knaben singen mit Turnspielen an. In zwei Ab­ theilungen aufgestellt, suchten sie einander über eine bestimmte Linie hinüberzuziehen. Auch das Ballspiel wurde fleißig betrieben. Nach den leichtern Übungen des Hüpfens folgte das Laufen und der Sprung, während die Arme auf mancherlei Weise, auch durch das Empor­ klimmen an Seilen, gestärkt wurden. Neben dem Laufen, Springen, Ringen, Werfen wurde dann das Schwimmen sehr eifrig geübt. Auch in den Ringschulen wurde auf anständige Haltung der Knaben gesehen. Schläge wurden hier so wenig, wie beim Kitharisten gespart. Nach den Übungen der Ringschule folgte das Frühstück. Gegen Abend wurde die Palästra

zum zweiten Male besucht, worauf dann nach dem Schluß bei Sonnenuntergang das Abend­ essen folgte, bei welchem die Kinder öfter ihre musikalischen und orchestischen Fortschritte den Eltern zeigen mußten. An dem Feste deö göttlichen Vorstehers der Ningkunst, des Hermes, an den Hermäen, hatten dann die Knaben, nachdem dem Gotte geopfert war, öffentlich vor­ der ganzen Gemeinde zu zeigen, was sie iu der Palästra gelernt, an dem Feste der Museti, wie weit sie es in der Musik, d. h. im Gesang von Hy nm en und Chorälen, gebracht hätten. Diejenigen Eltern, welche ihren Söhnen eine gute Erziehung geben lassen konnten, schickten dieselben nach dem Frühstück zmu Grammatisten. Seitdem das attische Volk ein geschriebenes Recht erhalten hatte, war für jeden, der einst irgendeine Stellung in diesem Gemeinwesen einnehmen sollte, die Kenntnis des Lesens unentbehrlich. Der Grammatist brachte den Knaben die Elemente der Buchstabenkunde bei, indem er die Buchstaben vor­ schrieb, die Schüler dieselben nachzeichneten. Diese Kenntnis erhielt sogleich dadurch einen höheren Werth, daß die Knaben auch das Lesen au den Handschriften der großen Dichtungen, namentlich an denen der Gesänge des Homer, lernten, und daß diejenigen, welche sich nicht mit dem Lesen begnügten, diese Handschriften, welche jm sechsten Jahrhundert noch wenig zahlreich waren, wenigstens theilweise abschrieben. So griff auch dieser Unterricht wieder in die musische Bildung zurück. Der Kursus iu der Turnkunst dauerte bis zum achtzehnten Jahr. Mit diesem Jahre traten die jungen Athener aus dem Knaben- in das Jünglingsalter, in die Klaffe der Epheben. Sie besuchten nun die Palästra nicht mehr, sondern die Gymnasien, welche Solons Fürsorge allen Bürgern geöffnet hatte: die Akademie, welche, nach dem Heros Akademos genannt, von den heiligen Ölbäumen der Athene beschattet, einige Stadien nordwestlich von der Stadt gelegen war; das Gymnasium beim Heiligthum des Apollon LykeioS, das Lykeion, im Osten der Stadt vor dem Thor des Diochares am Jlissos, und den Kynosarges, welcher

Erzählung.

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nordwärts vom Lykeion am Fuße des Lykabettos lag. Hier sollte Herakles gerungen und den Platz durch ein Opfer geweiht haben. Wie die Knaben an den Hermäen, so zeigten die Epheben ihre gymnastischen Künste alljährlich an den Festen deS Prometheus und Hephästos. Jeder Stamm stellte eine Anzahl seiner besten Jünglinge, welche, die Fackeln in den Händen, um die Wette liefen, ohne sie durch die Schnelligkeit des Laufens verlöschen zu laffen. An den Prometheen wurden die Fackeln am Altare des Prometheus im äußeren Kerameikos, d. h. dem Theile des Kerameikos, welcher außerhalb der Stadtmauer lag, an den Hephästeen in dem Heiligthum des Hephästos, welches in der Nähe des Marktes lag, angezündet. Das Ziel war die Akropolis. Mit dem heiligen Feuer, welches die Fackel des Siegers von jenen Altären des Feuergottes gebracht hatte, wurde dann das Feuer auf dem Altare der Burg entzündet, welches das große Festopfer verzehren sollte. Es war ein alter Brauch, der die Wohlthalen des feuerbringenden Gotteö veranschaulichen und verherrlichen nnd dem Altare auf der Burg neues und reines Feuer von den geheiligten Feuerstätten des Feuergottes zuführen sollte. Der Charakter der attischen Erziehung war hart und rauh. Bei Tisch durften die Kinder nicht, ehe die Eltern gegessen, nach den Nettigen, dem Dill oder dem Eppich greifen. Fische und Geflügel sollten die Knaben überhaupt nicht essen. Sie mußten bei Tisch an­ ständig sitzen und durften die Beine nicht übereinanderschlagen. Die Jünglinge sollten beim Mahle bescheiden nur mit einem Finger Eingesalznes ergreifen, mit zweien Brot, Fleisch und Fische. Auch auf der Straße sollten sic sich still und anständig verhalten, in ruhiger Haltung, mit gesenktem Blick, die Hände im Mantel, umhergehen. Den Markt sollten sie überhaupt nicht betreten. Überall hatten sie Bescheidenheit und Ehrfurcht vor dem Alter zu zeigen und stets zu schweigen, wenn Ältere sprachen. Der Stock wurde wie in der Schule, so auch im Hause häufig angewendet, und noch die Epheben hatten in den Gymnasien der Männer den Stock der Gymnasiarchen zu fühlen. Nachdem die Epheben vom achtzehnten bis zum zwanzigsten Jahre neben ihren gym­ nastischen Übungen den Kriegsdienst als Streifwächter auf den Grenzen und Straßen ge­ lernt, wurden sie mit dem zwanzigsten Jahre durch Eiuzeichnung in die Bürgerrolle unter die vcttjährigen nnd stimmberechtigten Bürger aufgenommen. Nachdem die jungen Bürgeraus den drei oberen Klassen, welche zum Hoplitendienst bestimmt waren, dann auch in Bezug auf ibre körperliche Tüchtigkeit diensttauglich befunden waren, wurden sie in die Hopliteurolle des Stammes eingeschrieben und, mit Schild und Lanze bewaffnet, in den Tempel der Athene Aglarros auf der Burg geführt, um den Wasseneid zu leisten. Dieser von Solon vor­ geschriebene Eid lautete: „Ich schwöre, die heiligen Waffen nicht zu schänden und den Nebenmann im Treffen nicht zu verlassen, neben wem ich auch stehe. Ich will kämpfen für die Heiligthümer und das Gemeingut sowohl allein, als in Gemeinschaft mit andern. Ich werde das Baterland nicht kleiner, sondern größer und besser hinterlassen, als ich es über­ kommen habe. Ich werde willig denen gehorchen, welche jedesmal zu entscheiden haben, und den bestehenden Gesetzen Folge leisten. Und wenn einer die Gesetze aufhebt oder ihnen nicht Folgt leistet, so werde ich dies nicht zulassen, sondern sie allein und mit andern vertheidigen. Und ne vaterländischen Heiligthümer will ich in Ehren halten. Zeugen seien die Götter Aglarros, Enyalioö, Ares, Zeus, Thallo, Auxo und Hegemone." Aus Dunckers Geschichte der Griechen.

2. Die olympischen Spiele. Als Terxes die Heere des Morgenlandes über den Hellespont geführt, Thessalien eingenonmen und daS feste Thor des inneren Griechenlandes, den Engpaß der Thermopylen, sich durch Verrath geöffnet hatte, konnte er nicht anders glauben, als daß nun jeder ernstliche Widcrstand beseitigt wäre, und daß die Hellenen der südlichen Landschaften in Zittern und Angs des über sie hereinbrechenden Schicksals warteten. Da kamen Überläufer aus Arkadien

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Historische Prosa.

in das Lager, unstete Leute, die des Lebens Noth hintrieb, wo es zu verdienen gab. Man brachte sie vor den König, um sie auszufragen, was die Hellenen machten. „Sie feiern das Fest der Olympien," war die unerwartete Antwort; „ sie schauen den Weltkämpfen und Wagen­ spielen zu;" und als man sie weiter fragte, um welchen Preis jene Kämpfe gehalten würden, erwiderten sie: „Um den Kranz vom Ölbaum." Da sprach einer der persischen Großen ein

Wort auS voll edler Weisheit, wenn es ihm auch als Feigheit ausgelegt wurde: „Wehe, Mardonius, gegen was für Männer hast du uns geführt, die nicht um Gold und Silber Wettkämpfe halten, sondern um Männertugend!" Die Griechen erkannten in dem Baue des LeibeS und der hohen Bildungsfähigkeit seiner Glieder eine wichtige und unabweisliche Forderung der Götter, die Kräfte deS Körpers mit nicht minderer Sorgfalt zu stärken und zu veredeln, als die des Geistes. Die Frische leib­ licher Gesundheit, Schönheit der Gestalt, ein fester und leichter Schritt, rüstige Gewandtheit und Schwungkraft der Glieder, Ausdauer im Lauf und Kampf, ein Helles, muthiges Auge und jene Besonnenheit und Geistesgegenwart, welche nur in täglicher Gewohnheit der Gefahr­ erworben wird: diese Vorzüge galten bei den Griechen nicht geringer als Geistesbildung, Schärfe deö Urtheils, Übung in den Künsten der Musen. Darum stand neben der Musik die Gymnastik, um von Geschlecht zu Geschlecht eine an Leib und Seele gesunde Jugend zu erziehen, und deshalb wurde überall die von den Vätern überlieferte Sitte gymnastischer Übungen vom Staate geordnet und gefördert. Öffentliche Gymnasien mit großen, son­ nigen Übungsplätzen, von Hallen und Baumreihen eingeschloffen, meistens vor den Thoren in ländlicher Umgebung angelegt, durften in keiner hellenischen Stadt fehlen. Wer nach Ansehen und Einfluß unter seinen Mitbürgern strebte, mußte bis zur Vollendung männ­ licher Reife den größten Theil seiner Zeit in den Gymnasien zugebracht haben, und in manchen Städten war eS ausdrücklich Gesetz, daß niemand in die Bürgerschaft ausgenommen werden durfte, der nicht die ganze R-eihe gymnastischer Übungen vollendet hatte. Den Eifer für diese Übungen erhöhte der Ehrgeiz. Die Gymnasien boten den Knaben und Jünglingen

tägliche Gelegenheit, die wachsenden Kräfte an einander zu meffen; der Wetteifer steigerte sich, wenn bei festlichen Anlässen das Volk sich versammelte, den Wettkämpfen männlicher Tüchtigkeit und Jugendkraft zuzuschauen. Wohl gab es keine Auszeichnung, welche so müh­ selige Ausdauer vieler Jahre, so viel Aufwand an Kraft und Zeit, so viel Entbehrung und Schmerzen forderte; aber die Hellenen haben nie die Freude des Lebens in träger Behag­ lichkeit gesucht; sie fühlten lebendig, daß eine freie, alle Muskeln anspannende Bewegung des Körpers in Luft und Sonnenlicht jeden gesunden Menschen freudig belebt und mit innerer Heiterkeit erfüllt. Darum waren die Festspiele für die Hellenen die höchste Lust des Lebend; sie konnten sich auch die Inseln der Seligen nicht ohne Ringplätze denken, und als einst die Zehntausend nach unsäglichen Mühseligkeiten aus dem Innern Asiens endlich wieder an das Gestade des Meeres gelangt waren, nach dem sich ihr griechisches Herz gesehnt hatte, da war das Erste, was sie zum Danke gegen die Götter und zur Erquickung ihrer ermatteten Seelen vornahmen, daß sie vor den Thoren von Trapezunt Kampfspiele anstellten; sie waren wieder Griechen auf griechischem Boden, und alles Üngemach war vergessen. Es gab keine größeren Götterfeste ohne Festspiele; aber die olympischen übertrafen nach PindarS Worten alle anderen so, wie das Quellwasser die Schätze des Erdbodens und wie das Gold die Güter des Reichthums. Wo der Alpheios aus den engen Felsthälern Arkadiens in das niedrige Küstenland von Elis eintritt, wird er von waldreichen Höhen eingefaßt, zwischen denen er in breiten, vielgewundenen Strömungen hinfließt. DaS nördliche Ufer nannten die Alten Olympos, ein Name, mit dem die ältesten Einwohner die heiligen Gipfel des Landes bezeichneten. Eingeborene Pelasger haben hier gewohnt und ihren ZeuS verehrt. Die Sage nennt einen alten König Oinomaos und Pisa als die Hauptstadt seines Reiches. Gleichzeitig mit der Wanderung der Dorier, welche achtzig Jahre nach dem Falle Trojas in den PeloponneS

Erzählung.

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eindramgen, kamen ätolische Stamme über den Meerbusen von Korinth, und während jene im Süden und Osten auf dem Boden von Agamemnons Herrschaft neue Staaten ein­ richteten, besetzten diese das westliche Uferland der Halbinsel und gründeten unter ihrem Führer OxyloS den Staat Elis. Da aber die Eleer sich bald immer enger an die dorischen Spartaner anschlosien und diese in sich den Beruf fühlten, die in viele Stamm- und Stadt­ gebiete zerrissene peloponnesische Halbinsel zu einigen, ward Olympia als ein gemeinsames BundeSheiligthum eingesetzt. Zunächst schloffen die beiden Vertreter von Sparta und Elis, Lykurgos und Jphitos, ein heiliges Bündnis mit einander, indem sie sich für die Sicherheit des HeiligthumS und für freies Geleit der zu den Festen Wallfahrenden verbürgten. In der ganzen Halbinsel wurde Waffenruhe angesagt, wenn die Zeit der Festspiele herankam. Den Eleern wurde die Verwaltung des Heiligthums übertragen und dafür ihrer Landschaft eine ewige Waffenruhe verliehen; keine bewaffnete Schaar durfte ihre Grenzen überschreiten, ganz Elis war ein dem olympischen Zeus geweihtes Land. Herakles aber, der Heros des dorischen Stammes, nach der Sage der Urheber aller Einrichtungen desselben, wurde durch die Sage auch zu Olympias Festordner erhoben. Nach und nach stieg daS Ansehen des Heiligthums, und es wurde aus einem peloponnesischen ein hellenisches. Die Hellenen zählten nach Olympiaden, maßen nach olympischen Stadien und schloffen sich den heiligen Gebrauchen Olympias an. Olympia war ursprünglich ein Tempelbezirk vor den Thoren Pisas. Nach der Zer­ störung dieser Stadt war die Landschaft, weit und breit umher nur noch in Dörfern bewohnt, die wohlhabendste und gepflegteste Gegend Griechenlands, voll von Ackerfluren, Wäldern und Gärten, welche das Heiligthum einhegten. Olympia selbst bestand aus zwei scharf ge­ sonderten Theilen, aus dem nicht geheiligten Raume und aus der Altis, dem Tempelhofe des ZeuS, welcher alles Eigenthum der Götter enthielt. Den Raum der AltiS hatte Herakles mit seinen Schritten abgemessen; er hatte die hohe Umfangsmaner gegründet, welche alles Unheilige von der Schwelle des ZeuS feruhielt. Diese Mauer zog sich auf der Abendseite am Kladeos entlang, dem platanenreichen Nebenflüsse deS AlpheioS; sie erstreckte sich int Süden oberhalb des Alpheiosbettes und schloß sich im Osten an das Stadium an. Nur durch ein Eingangsthor mit schimmernder Säulenhalle durften die Festzüge den Boden der Altis betreten. Trat man hinein, so hatte man gleich zur Rechten den heiligen Ölbaum, von dessen Zweigen ein Knabe mit goldenem Messer die Siegeskränze abschnitt; darum hieß er der Baum der schönen Kränze. In seinem Gehege hatte man den Nymphen einen Altar erbaut, um sie durch Opfer gnädig zu erhalten, daß sie nicht ablassen möchten, mit frischem Thaue das Gedeihen des köstlichen Baumes zu pflegen. Es war ein wilder Ölbaum, dessen Blätter sich durch ein tieferes Grün von dem zahmen Ölbaum unterscheiden; es war

der Erstling von der Pflanzung deö Herakles, welcher von den schattigen Jstrosquellen her daS Reis geholt haben sollte, um das noch baumlose Alpheiosthal zu schmücken. Jenseits des Kranzbaums erhob sich auf mächtigem Unterbaue der Tempel des Zeus, die wichtigste Stelle innerhalb der Altis. Der Tempelort war eine uralte Stätte deö Zeusdienstes. Schon frühe stand hier ein Tempel; als aber Athens Denkmäler auf der Akropolis alle früheren Kunstschöpfungen verdunkelten, beschlossen die elischen Behörden einen Umbau und wandten sich nach Athen, der hohen Schule griechischer Kunst. Auf ihren Ruf eilte Phidias herbei, von seinen namhaftesten Schülern und einer ganzen Schaar attischer Werkmeister begleitet. Im Einverständnisse mit ihm ordnete Panainos den malerischen Schmuck und die Gewandung des Tempelbildes, füllten Alkamenes und Paionios die Giebelfelder mit Gestalten der Götter und Heroen; er selbst, der König der Kunst, widmete seine ganze Kraft und Erfahrung der höchsten Aufgabe seines Lebens, den Nationalgott der Griechen an seiner würdigsten Stelle zu verherrlichen. Neben dem Tempel des ersten der Götter erstreckte sich das Heiligthum des achäischen Heroen Pelops und das der Hera; nach der Mitte deö Hofes vorliegend, erhob sich der große ZeuSaltar auf einem mächtigen Unterbau zu einer Höhe von zweiund-

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Historische Prosa.

zwanzig Fuß, so daß der Opferrauch frei über die Häupter der Festversammlung fortziehen konnte. An der nördlichen Seite trat der Hügel des Kronos vom olympischen Gebirge in die Altis vor. Auf einer aufgemauerten Terrasse standen hier in einer Reihe die Schatz­ hauser zur Aufbewahrung der Weihgeschenke, deren letztes an das Stadium grenzte. Dieses lehnte sich mit dem oberen Ende an die waldigen Thalbuchten an, war aber zum größeren Theile künstlich aufgeschüttet; am südlichen Ende stieß es mit dem Hippodrom im rechten Winkel zusammen. Letzterer bestand aus zwei Theilen, der breit geebneten Rennbahn und der künstlichen Anlage der Wagenstände. An der nordwestlichen Seite lag außerhalb der Altismauer, einer freien Wald- und Flußlandschaft benachbart, das Gymnasium Olympias mit Wohnungen für die Athleten, mit sonnigen Ningplätzen und schattigen Säulengängeu umher. Auf dem von Pinien beschatteten Gipfel des Kronoöhügels sah man zu seinen Füßen den ganzen, von den herrlichsten Bildungen erfüllten Tempelhof, ein Labyrinth von Kunst­ werken. Die dichtgedrängte Masse von Gebäuden, Altären, Statuengruppen, von Vier­ gespannen und Standbildern der Sieger, von Götterbildern, Dreifüßen und Weihgeschenken aller Art wurde durch die Bäume zu einem landschaftlichen Ganzen verbunden. Die gewöhnliche Einwohnerschaft Olympias bestand auS den in der Altis waltenden Priestern aus erlauchten peloponnesischen Geschlechtern; ihnen standen Opferschlächter, Flöten­ bläser, Holzverwalter und andere Diener zur Seite. Olympia blieb ein ländlich stiller Ort, und die Waldeinsamkeit des Alpheiosthales wurde nur durch die Schritte der Wanderer unterbrochen, die des Weges zogen und am Zeusaltare ihr Gebet sprachen. Aber wie ver­ änderte sich alles, wenn das vierte Jahr, das Jahr der großen Olympien, herankam, und wenn die heiligen Gesandten, „des Zeus, des Kroniden, Friedensboten, der Jahreszeiten Herolde", von den Pforten der Altis auszogen und allen Hellenen die ersehnte Kunde brachten: „Das Fest des Zeus ist wiederum nahe, aller Streit soll ruheu, jeder Waffenlärm schweige! Frei mögen auf allen Land- und Wasserstraßen die Pilger heranziehen zu der gastlichen Schwelle deö Zeus!" Alle Hellenen wurden eingeladen und ausgeschlossen nur die Schuldbeladenen, oder die dem olympischen Zeus Ehrfurcht versagt, oder die sich an der gemeinsamen Sache der Hellenen versündigt hatten, wie einst auf des Themistokles Antrag der Syrakusaner Hierou ausgeschlossen wurde, weil er von dem Kampfe gegen Terxes zurück­ geblieben war. Die eingeladencn Städte schickten ihre angesehensten Männer als Gesandt­ schaften nach Olympia, die auf stattlichen Wagen, in Prachtgewänder gekleidet, mit zahl­ reichem Gefolge zum Zeusfeste wrllfahrteten und im Namen ihrer Städte herrliche Opfer darbrachten. Die Städte der Kolonien benutzten dieses Fest, um sich mit dcm Mutterlaude in lebendigem Zusammenhänge zu erhalten. Ihre Bürger eilten in den von Stürmen selten beunruhigten Sommermonaten herbei, und das ionische Meer, so wie die breite Alpheiosmündung füllte sich mit den bekränzten Festschiffen der auf den Küsten von Asien und Afrika, von Italien, Sicilien und Gallien wohnenden Hellenen. Bewundernd musterte das am Gestade versammelte Volk die auf fernen Weiden gezogenen Rosse und Maulthiere, welche durch fremdländische, dunkelfarbige Sklaven auf den Boden von Elis geführt wurden. Die Kampflustigen unter den versammelten Hellenen mußten sich bei deu Kampfrichtern melden; sie wurden in Hinsicht ihres Ursprunges, ihres Rufes, ihrer körperlichen Tüchtigkeit geprüft; sie mußten nachweisen, daß sie zehn Monate lang in einem hellenischen Gymnasium die Reihe hergebrachter Übungen gewissenhaft vollendet hatten, und wurden dann mit den Kämpfern gleicher Gattung und Altersstufe zusammengeordnet. Zum Schlüsse mußten sie vor einer Bildsäule des schwurhütenden Zeus, der in jeder Hand den Blitzstrahl führte, einen Eid darauf leisten, daß sie im heiligen Wettkampfe sich keine Unredlichkeit und keinen Frevel zu Schulden kommen lasten wollten. Die Spiele wurden im Laufe der Zeiten vergrößert, und aus einem Festtage ward allmählich eine Reihe von fünf Tagen, welche in die Zeit des Vollmonds um die sommerliche Sonnenwende fielen. Den behendesten Läufer zu sehen, füllten sich zuerst die Stufensitze des Stadiums mit

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Zuschauern, und wenn die Volksmenge beisammen war, dann traten durch einen verdecktem Gang auf der Westseite die Kämpfergruppen herein, von den Kampfrichtern geführt, welche, durch Purpurgewänder ausgezeichnet, auf ihrem Ehrensitze Platz nahmen. Der Herold rief die Kämpfer vor die Schranken; sie wurden mit Namensaufruf dem Volke vorgestellt; wer einen derselben seiner Sitten oder seiner Herkunft wegen für unwürdig hielt, um den Kranz des ZeuS zu kämpfen, der konnte sich zur Anklage erheben, die von den Richtern sofort erledigt wurde. Dann traten die Kämpfer an die silberne, dem Zeus heilige Loosurne heran, und einer nach dem andern nahm, nachdem er ein kurzes Gebet gesprochen hatte, eins der Loose hervor, welche nach gleichen Buchstaben die Paare oder Gruppen bestimmten. So viele der Gruppen da waren, denn es liefen immer vier mit einander, so oft wurde der Krampf erneuert, und da einer Sieger > bleiben mußte, so traten, die in den verschiedenen Gruppen gesiegt hatten, zuletzt zum entscheidenden Preiskampfe zusammen. Nach Art des Wettlaufs wurden auch die anderen Wettkämpfe des Stadiums eingeleitet und auSgeführt: der Sprung, in welchem Schwungkraft der Glieder und Entschlossenheit sich bewährte, der Ringkampf, durch welchen Männer wie Milon, der reiche Schüler des Pythagoras, ihren Ruhm durch alle Länder verbreiteten, ferner der rohere Faustkampf, der Wurf deS Diskos und des Speers. In allen genannten Gattungen der gymnastischen Übungen bewährte sich des Manneö eigene Kraft und Gewandtheit. Ihnen gegenüber standen die ritterlichen Spiele, wo man der Rosse Tüchtigkeit den Sieg verdankte. Wenn dieser Kampf dennoch alle anderen überstrahlte, so war es nicht sowohl die Rücksicht auf die Kunst des Wagenlenkers, als vielmehr der Glanz des Reichthums, die Pracht des AufzügS, welche zu Gunsten dieser Kampfart entschieden. Hier zeigten sich nur die größeren Staaten, und überall galt es für eine Stufe hohen Erdenglücks, wenn es jemand vergönnt war, für den Wettkampf Viergespanne aufziehen zu können. Nur die Reichsten traten hier in die Schranken; die Könige von Syrakus und Kyrene sandten ihre Wagenlenker; hochfahrenden Jünglingen, wie dem Alkibiades, erschien nur der Sieg im Hippodrom als ein begehrungswürdigeS Ziel. Zu diesem herrlichsten der Schauspiele füllten sich am vierten Festtage die langen Stufenreihen zu den Seiten der Rennbahn. Die Wagenstände wurden verloost; vor jedem Wagenstande war ein Seil gezogen, hinter welchem die Nenner ungeduldig den Boden stampften. In der Nähe saß auf einem Altare ein eherner Adler, welcher, in die Luft steigend, den ersehnten Anfang deS Spieles verkündete; gleichzeitig senkte sich ein Delphin, der auf einem Querbalken lag, ein Sinnbild deö reisigen MeergotteS. Dies war daS Zeichen für die Reiter und Wagenlenker; denn unmittelbar darauf wurden die Seile vor den Wagenständen fortgezogen, tauchten die Gespanne paarweise vom Hintergründe her vor den Augen des Volks hervor und bildeten beim Beginne der Bahn eine prächtige, unaufhaltsam stürmende Wagen­ reihe. Es kam auf der breiten Bahn, welche ein Viergespann mit ausgewachsenen Rossen zwölfmal durchmessen mußte, alles darauf an, einerseits die kürzesten Fahrten zu machen und möglichst nahe an der Zielsäule mit dem linkslaufenden Pferde herumzulenken, andererseits aber dem auf dieser Linie sich zusammenschiebenden Wagengedränge vorsichtig auszuweichen. Oft siegte der mit Bedacht von dem Zielschafte abwärts haltende Wagenlenker; in einem Rennspiele scheiterten vierzig Wagen an dieser Klippe und ließen dem allein übrig bleiben­ den einen leichten Sieg. Die Zuschauer verfolgten mit Angst und Jubel die rasch sich vollendenden Ereignisse deö ergreifenden Schauspiels, bis sie mit lautem Beifallsstürme den Glücklichen begrüßen konnten, den des Herolds Stimme ausrief. Angst und Qual war vergessen, und wie die Glut deS Julitages sich endlich in ersehnte Abendkühle ver­ wandelte, so begann die Siegesfeier. Der Sieger wurde von seinen Angehörigen und Landsleuten umringt, von den anwesenden Hellenen begleitet; der festliche Zug bewegte sich vom Hippodrom und Stadium nach dem Eingangsthore und zum Tempel des ZeuS; denn hier zu den Füßen des Gottes standen die Sessel der Kampfrichter; hier stand der heilige Tisch, auf welchem die frisch geschnittenen Kränze des ÖlbaumS lagen; vor den Augen

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des Zeus wurde deS Siegers Haupt geschmückt, wurde die Palme in seine Hand gegeben, während die Versammlung in den Hallen und auf den Gallerien heilige Lieder anstimmte. Dann brachte der Sieger sein Dankopfer am Altare des Zeus dar und wurde mit seinen Siegesgenossen als Gast des olympischen Gottes am Herde des Heiligthums bewirthet. Die Masse des Volkes aber lagerte sich vor der Altis zwischen wohlversorgten Meßbuden im freien oder unter Zelten, und beim Lichte des Mondes erschallte die ganze Flur von Sieges­ gesangen. Hier schlossen sich neue Freundschaften, hier begegneten sich alte Gastfreunde; hier erzählte jeder von den Wundern seines Landes und seiner Stadt, alle griechischen Mundarten tönten durcheinander; es war das bunteste Treiben eines südlichen Jahrmarkts. Damit die Gestalt der Sieger nicht nach flüchtigem Eindrücke aus dem Gedächtnisse der Hellenen wieder verschwinden möchte, wurden sie im Erzgusse dargestellt, kommenden Ge­ schlechtern zur Erinnerung und zur Nacheiferung; wer dreimal gesiegt hatte, durfte in ganzer Größe dargestellt werden. Diese Bildsäulen wurden wohl häusig vervielfältigt, um auch in deS Siegers Vaterstadt aufgestellt zu werden, so wie sich auch an die Festfreude Olympias noch eine Nachfeier bei des Siegers Heimkehr anschloß. Man riß die Stadtmauern ein, um seinem Wagen Bahn zu machen; ein unabsehlicher Zug schloß sich an, indem der Sieger im Purpurgewande voranfuhr und die Festgenoffen durch die Hauptstraßen zu dem Tempel der stadthütenden Gottheit führte; ihr wurde das Opfer des Dankes dargebracht, und der schönste Schmuck dieses Tages war das Lied eines gefeierten Sängers, welches den Zug begleitete oder beim Mahle gesungen wurde. Das war den Griechen Olympia. Darum saßen sie hier in heiterer Feststimmung, während Leonidas den Opfertod starb; denn sie fühlten beim Anblicke ihrer olympischen Sieger die freudigste Siegeshoffnung; von Olympia zogen sie nach Salamis und Platää. Rach E. Curtius' Olympia.

3. Die Schlacht bei Marathon. Es war am sechsten Merageitnion (ersten September), als die Kunde von dem Übergang der Perser nach Marathon nach Athen gelangte. Dem Archon Polemarchoö und den zehn Strategen lag die Sorge für die Sicherheit des Landes ob. In diesem Kriegsrathe waren die besten Männer Athens, Kallimachos, Aristeides, Miltiades, Themistokles, StesilaoS, der Sohn des Thrasylaos, vereinigt. Es wurde beschlossen, einen Schnellläufer nach Sparta zu senden. Der Bote erhielt den Auftrag an die Könige und die Ephoren, die Athener bäten die Lakedämonier, ihnen zu Hülfe zu kommen und nicht zuzugeben, daß die älteste Stadt der Hellenen in die Knechtschaft der Barbaren falle; schon sei Eretria verloren und Hellas um eine berühmte Stadt schwächer. Am fünften Tage nach seiner Absendung kam der Schnellläufer Pheidippides von Sparta zurück. Er hatte den Weg von Athen nach Sparta (es sind neunundzwanzig Meilen) in zwei Tagen zurückgelegt und berichtete, die Spartaner hätten zwar Hülfe verheißen, aber zugleich erklärt, daß ihre Truppen nach dem Brauche Sparta- erst nach dem Vollmond auörücken könnten. Es war eine entmuthigende Botschaft. Miltiades war der Meinung, daß man keine Stunde länger zögern dürfe, wenn man überhaupt noch Freiheit zum Handeln haben wolle. Der Kriegsrath durfte seine Entschlüsse nicht länger von Sparta abhängig machen; er mußte auf der Stelle entscheiden, ob man die Mauern der Stadt vertheidigen, ob man die Pässe des Brilessos, d. h. den Weg von Ma­ rathon nach Athen, verlegen oder dem Feinde im offenen Felde begegnen wollte. ES gab nur einen richtigen Entschluß, der zugleich dem Sinne des Miltiades, seiner Kühnheit und seiner Lust am Wagnis am meisten zusagte, die ungerüsteten Bürger sammt den Bejahrten zur Vertheidigung zurückzulassen, mit allen tüchtigen Streitern auszurücken und so rasch als möglich zu schlagen. Diese Ansicht machte Miltiades sogleich bei der Rückkehr des Pheidip­ pides geltend. Sein Rath war natürlich von größter Bedeutung. Aristeides trat der Ansicht des Miltiades bei; sein Ansehen und seine Besonnenheit mußten dieser noch ein besonderes

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Gewicht geben. Andere riechen zur höchsten Besonnenheit und Vorsicht; denn noch habe keine griechische Schlachtlinie den Persern gestanden. Die Stimmen der Strategen standen fünf gegen fünf. Die Stimme des Vorsitzenden, des Polemarchen, mußte entscheiden. Milüades nahm den Kallimachos beiseite und sagte zu ihm: „Bei dir liegt eS, Athen in Knechtschaft zu bringen oder frei zu erhalten und dir ein Denkmal für alle Zukunft zu stiften, wie es weder Harmodios, noch Aristogeiton hinterlaffen haben. So lange Athen steht, schwebte es niemals in größerer Gefahr. Wenn wir nicht schlagen, so wird Zwiespalt in die Gemüther der Athener kommen, und in einigen werden medische Neigungen erwachen. Schlagen wir sogleich, so werden wir mit der Götter Hülfe im Stande sein, die Oberhand zu gewinnen. Das steht nun bei dir. Trittst du meiner Meinung bei, so wird unsere Vaterstadt frei und die erste in Hellas; stimmst du mit den Andern, so weißt du, was wir, dem Hippias über­ liefert, erfahren werden." Kallimachos stimmte für Milüades: der Auszug nach Marathon war beschlossen. Der Polemarch hatte mit dem Rath der Strategen das Recht, den Auszug auf seine Hand anzuordnen, aber in dieser gefährlichen Lage des Staats war es von Wichtigkeit, die Bestätigung des Volkes zu gewinnen und eine kriegerische Stimmung in demselben zu er­ wecken. Unter dem Vorsitze der Rathsherren des Stammes des Ajas, welchem Kallimachos selbst angehörte, wurde auf der Pnyx beschlossen, dem Feinde entgegenzugehen und im offenen Felde zu schlagen. Zu den viertausend Hopliten, welche von Eretria zurückgekommen waren, wurden noch sechstausend aufgeboten. Sobald diese, die stärkste Zahl, welche Athen bis dahin ins Feld geschickt hatte, versammelt waren, wurde der Marsch nach Marathon an­ getreten. Nach sechs bis sieben Stunden waren die Höhen des Pentelikon und Brileffos überstiegen. Von dem Abhange dieser Bergreihe zum Meere hin erblickten die Athener unten am Sunde das weitgedehnte Lager der Perser und die endlose Reihe der Schiffe auf dem Strande. Durch einen Halbkreis von Bergen, den Zügen des Parnes und Brileffos um­ schlossen, dehnt sich die Ebene von Marathon fast wagerecht am Sunde von Euböa aus. Sie wird nur von einem vom Parnes nach Osten hinabströmenden Bach unterbrochen. Ihre Länge am Meere beträgt mehr als eine deutsche Meile, ihre größte Breite vom Sunde bis zum Fuße der Berge etwa viertausend Schritt. Um vor den Reitern der Perser sicher zu sein, nahmen die Feldherrn der Athener das Lager noch auf der Höhe, etwas vorwärts von dem in ven Bergen liegenden Flecken Marathon, in dem heiligen Hain des Herakles, den die Maeathonier eifrig verehrten. Der Befehl des attischen Heeres wechselte täglich unter den Strategen nach der Reihenfolge, welche die Stämme für düs Jahr verloost hatten. Aber dü Strategen hatten auf den Rath und nach dem Vorgang des Aristeides den Befehl dem Milüades überlassen. Er war der Urheber des Planes, gegen die Perser auszuziehen, 'er kanme die Perser und ihre Kriegsweise. Nachdem die Hopliten im Haine des Herakles deinen Tag geruht, wurden sie am folgenden vor demselben in Schlachtordnung aufgestellt. Die Perser mußten veranlaßt werden, ihre Schlachtlinie zu zeigen, man mußte wissen, wo ihre Rererei, wo ihr Fußvolk stand, man mußte erfahren, ob sie anzngreifen oder den Angriff in der Ebene zu erwarten gedachten. Da kam den Athenern eine Hülfe, welche niemand er­ wartet, und welche niemand gefordert hatte. Von dem Kamme des Parnes stieg ein Zug Hopliter nach Marathon nieder. Es war die gesammte Mannschaft der Platäer. Die Athener waren um einen tapfern Führer, den Aeimnestos, welcher die Platäer befehligte, und um tausend Hopliten stärker, und das Unverhoffte dieser Hülfe erhöhte ihre moralische Wirkung An folgenden Morgen, es war der siebzehnte Metageitnion (zwölfte September) des Jahres 190, stellte Milüades das Heer vor dem Haine des Herakles auf dem Abhange der Höhen in Schlachtordnung. Er wollte die Ankunft der Platäer benutzen und war ent­ schlossen zu schlagen. Die Stärke des persischen Heeres konnte nach den Verlusten bei den Stürmen auf Eretria, nach Abzug der Mannschaft auf Ägiltia höchstens noch hunderttausend

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Mann betragen; das Heer der Athener zahlte elftausend Hopliten. Ein hellenischer Mann stand gegen neun persische. DaS Verhalten der Perser am Tage vorher hatte gezeigt, daß sie nicht anzugreifen gedächten, sondern die Athener in der Ebene erwarten wollten. Miltiades wollte seinerseits angreifen und eine Offensivschlacht schlagen. Sobald man aber in einer Schlachtlinie in die Ebene hinabstieg, war man in Gefahr überflügelt zu werden. Um dieser Gefahr zu begegnen oder sie mindestens zu mindern, dehnte Miltiades seine Schlachtlinie aus, indem er daS Centrum schwächte, und verstärkte statt desien die Flügel. Die Hopliten der beiden Stämme, welche das Centrum bildeten, unter Aristeides und Themistokles wurden nur zwei oder drei Schilde hoch aufgestellt, während die übrigen Stämme sammt den Platäern, auf beide Flügel vertheilt, etwa fünf bis sechs Schilde hoch ausgestellt wurden. Hierdurch erhielt Miltiades eine Front von reichlich 2500 Schilden, welche eine Länge von etwa vier-bis fünftausend Schritt einnahmen. Auf dem äußersten rechten Flügel, dem Ehrenposten jeder griechischen Schlachtreihe, stand der Polemarch Kallimachos mit dem Stamme, welchem er zugehörte, dem Stamme Ajas. Der Polemarch sühne den Befehl dieses Flügels, nach welchem die Richtung genommen wurde. Auf dem äußersten linken Flügel standen die Platäer. Miltiades hatte den kühnen Gedanken gefaßt, seine Schlacht­ reihe im Laufe gegen die Perser zu führen. Man konnte dies nur mit Soldaten versuchen, welche, wie die attischen, ihren gymnastischen Kursus durchgemacht hatten, welche von Jugend auf im Laufen geübt waren. Aber es war immer eine große Entfernung zurückzulegen; ein Raum von 2400 Schritten trennte beide Schlachtlinien. Als daS Opfer günstig auSfiel, welches der Polemarch den Göttern des Krieges, dem Enyalios und der Artemis Agrotera, brachte, redete Miltiades die Hopliten an und gelobte der Artemis Agrotera für den Sieg so viele Ziegen, als Feinde getödtet werden würden. Der Päan ertönte. Dann gab die Trompete daS Zeichen. Die Schilde wurden vorgenommen, die Linie trat an. Die Perser standen 1500 bis 2000 Schritt landeinwärts vor dem Lager in Schlachtordnung, in der Mitte die Perser und Saken, auf den Flügeln die Meder und die übrigen Truppen, als sich die Schlachtreihe der Athener in Bewegung setzte. Die Perser erstaunten, sie so rasch die Hügel herabeilen zu sehen. Sie meinten, daß jene von Wahnsinn ergriffen seien, daß sie, so wenige gegen so viele, von der Höhe herabzukommen und auS so weiter Ferne, un­ gedeckt von Schützen und Reiterei, heranzulaufeu wagten. In ihren Vierecken aufgestellt, erwarteten sie den Anlauf der langen, erzblinkenden Linie, welche mit lautem Schlachtruf, die Lanzen gefällt, herankam, stehenden Fußes. Sie überschütteten die Athener mit einem Pfeilregen und hielten den Stoß aus. DaS Gefecht kam zum Stehen; es wurde heiß und lange gerungen. So tapfer Aristeides und Themistokles fochten, das Centrum kam ins Gedränge und wurde endlich durchbrochen; die Perser und Saken verfolgten ins Land hinein und hieben die Knechte nieder, welche dem Angriff in der Entfernung gefolgt waren, nm die Verwundeten aus dem Gefecht zu tragen, und zu ihrer Vertheidigung nichts als Schlendersteine besaßen. Glücklich genug, daß die Flügel sich dadurch nicht irren ließen. Sie gewannen Terrain, drängten den Feind in das Lager zurück und warfen ihn endlich in die Flucht. Ohne zu folgen, schwenkten die Flügel gegen das siegreiche Centrum der Perser. Die Hopliten der Antiochis und Leontis konnten sich wieder sammeln. Der doppelte Angriff von beiden Seiten brach die Haltung der Perser und Saken; auch sie warfen sich in die Flucht. Eifrig folgten die Athener in das Lager und jagten die verwirrten Haufen in den Sumpf, in welchen die Ebene nordwärts am Meere übergeht, und in die Schiffe. Es gab kein Halten mehr; unter dem Andrange der Athener mußten die Schiffe vom Strande ge­ zogen, mußte die Einschiffung bewerkstelligt werden. Die Sieger riefen nach Feuer, die Flotte in Brand zu setzen. Bald wurde um die Schiffe gerungen, welche die Perser hinab­ zogen, die Athener auf dem Strande festhielten. In dem Getümmel dieses hitzigen Kampfes fiel der Kriegsherr Kallimachos, neben ihm Stesilaos, einer von den Strategen, und andere namhafte Athener. Dem Kynegeiros, Euphorions Sohn, wurde die Hand mit einem Beile

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abgehauen; er wollte den Schnabel eines Schiffes, welches ins Meer gezogen wurde, nicht loslaffen. Die Perser waren zu zahlreich, als daß die Athener ihnen viele Schiffe hätten entreißen können. Nur sieben Schiffe wurden genommen; aber das ganze Lager, alles Gepäck und alle ausgeschifften Borrälhe, so wie sämmtliche Pferde waren in den Handen der Athener. Auf dem Schlachtfelde lagen 6400 Todte des Feindes; die Meder hatten am meisten gelitten. Die Kunde von dem glorreichsten Siege war dem Heere vorausgeeilt. Unmittelbar nach dem Treffen war einer der Hopliten, wie es heißt, ohne die Waffen abzulegen, nach Athen gelaufen. Die frohe Botschaft in der Stadt verkündend, war er vor Erschöpfung

Rach DunckerS Geschichte der Griechen.

todt niedergestürzt.

4. Die Schlacht am Granikus. Als Alexander von seinen Kundschaftern die Nachricht erhielt, daß die Perser auf dem andern Ufer des Granikus in Schlachtordnung ständen, ließ auch er sein Heer schlag­ fertig anrücken. Sein Feldherr, der alte Parmenio, trat zu ihm und rieth ihm, am Ufer des Fluffes zu lagern; der Feind werde nicht wagen, in ihrer Nähe zu übernachten, sich zurückziehen, und so das macedonische Heer ohne Schwierigkeit den Übergang ausführen, ehe der Feind seine Aufstellung vollendet habe; jetzt aber sei der Übergang gefährlich, weil der Fluß an manchen Stellen tief, die Ufer steil seien und der Feind über sie herfallen könne; ein Unfall zu Anfang des Krieges aber wäre sehr nachtheilig. Alexander antwortete: „Wohl sehe ich das ein, lieber Parmenio; aber ich würde mich schämen, nachdem ich ohne Mühe den Hellespont überschritten, wenn jetzt dieser Bach uns abhalten sollte, sofort über­ zusetzen. Auch wäre es mit dem Ruhme der Macedonier und mit meiner Verachtung der Gefahr nicht vereinbar, und die Perser würden frischen Muth fassen, als könnten sie sich mit den Macedoniern messen.* Er ordnete daher sein Heer zum Übergange, der zugleich ein Kampf sein sollte. Eine Zeit lang standen beideHeere in banger Erwartung der nächsten Ereignisse ruhig da, und tiefe Stille herrschte auf beiden Seiten. Endlich warf sich Alexander unter Trompetenschmettern und Schlachtenruf in die Wellen mit seinen schwerbewaffneten Reitern; voran aber zogen die leichten Reiter unter Sokrates und Amyntas. Die mit Vor­ theil von oben herab streitenden persischen Reiter schleuderten theils ihre Geschosse von den höheren Stellen des Ufers auf sie, theils rückten sie ihnen an den niedrigeren Stellen ins Wasser entgegen; so wurden die ersten Macedonier durch die Übermacht der mit Vortheil

Kämpfenden zurückgetrieben und trotz der tapfersten Gegenwehr alle niedergehauen, die sich nicht auf den nachrückenden Alexander zurückzogen. Dieser, ausgezeichnet durch seinen Schild sowohl, als durch den Haarbusch des Helmes, neben welchem zu beiden Seilen eine ungemein große Feder von blendender Weiße schwankte, und daher das Ziel feindlicher Schüsse und Stöße, griff jetzt die dichteste Masse der Reiter an; ein furchtbarer Kampf entspann sich um ihn her, und inzwischen kam ohne Schwierigkeit eine Abtheilung der übrigen Macedonier um die andere durch den Fluß. Es war eine Reiterschlacht, sah aber vielmehr aus wie ein Kampf des Fußvolks; denn Roß gegen Roß und Mann gegen Mann kämpften, hier die Macedcnier, um die Perser vom Ufer zu vertreiben, dort die Perser, um die Macedonier nicht ans Land zu lassen und in den Fluß zurückzuwerfen. Alezanders Speer zerbrach; der Kvrinthier Demaratus von seiner Leibschaar gab ihm den feinigen. Mit diesem sprengte er geger den Spithridates, den Schwiegersohn des Darius, vor und warf ihn durch einen Stoß irs Gesicht vom Pferde; der Perser Rhösaces rannte auf ihn los und hieb ihm mit seinem krummen Säbel nach dem Kopfe, schlug ihm aber nur ein Stück vom Helm ab, und dafür durchbohrte ihm Alexander die Brust mit der Lanze. Spithridates hatte von hinten das Sckwert gegen Alexander aufgehoben, aber Klitus kam ihm zuvor und trennte dem Perser mit einem Hiebe den Arm sammt dem Säbel vom Leibe. Die Macedonier halten Dielitzu. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur.

2. Aufl.

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neben der größeren Kraft und Übung den Bortheil der Stoßlanzen gegen die Wurflanzen

der Perser, und so wurden die letzteren auf dem Punkte, wo Alexander selbst kämpfte, zuerst zurückgetrieben, und da dies der Mittelpunkt war, wichen bald auch die Reiter auf den Flügeln, und die Flucht wurde allgemein. Ungefähr lausend persische Reiter fielen; verfolgt aber wurden sie nicht stark, weil Alexander sich gegen die Söldner wandte und sie zugleich mit der Phalanx und den Reitern von allen Seiten angriff. Er selbst drang mit solchem Ungestüm unter sie ein, daß ihm sein Pferd (aber nicht der Bucephalus) getödtet ward. So in die Mitte genommen, wurden sie in kurzer Zeit niedergehauen; kein Mann entkam, als die sich unter den Leichen verbargen; gefangen wurden zweitausend. Die Macedonier ver­ loren fünfundzwanzig Mann von den Edelschaaren, deren metallene Standbilder, von Lysippus gefertigt, zu Dium aufgestellt wurden, und neunzig andere Krieger, deren Hinterbliebene Alexander großmüthig beschenkte. Nach Athen sandte er dreihundert vollständige persische Rüstungen als ein Weihgeschenk für die Pallas Athene mit der Inschrift: „Alexander, des Philippus Sohn, und die Griechen mit Ausnahme der Lacedämonier von den Barbaren in Asten." Seiner Mutter Olympias schickte er eine Menge goldener Becher, Purpurkleider und andere solche von den Persern erbeutete Kostbarkeiten. AuS Pfizers Geschichte Alexanders des Großen.

5. Der Krieg gegen die Seeräuber. Infolge der Vernachlässigung des römischen Seewesens seit der Zerstörung Karthagos hatte die Seeräuberei immer weiter um sich gegriffen und sich immer fester organisirt. - Der Seeverkehr auf dem ganzen Mittelmeer war in ihrer Gewalt. Italien konnte weder seine Produkte aus-, noch das Getreide aus den Provinzen einführen; dort hungerten die Leute, hier stockte wegen Mangels an Absatz die Bestellung der Getreidefelder. Eine große Anzahl angesehener Römer wurde von den Korsaren aufgebracht und mußte mit schweren Summen sich auslösen, wenn es nicht gar den Piraten beliebte, an einzelnen derselben das Blutgericht zu vollstrecken, das dann auch wohl mit wildem Humor gewürzt ward. Die Kausieute, ja die nach dem Osten bestimmten römischen Truppenabtheilungen singen an, ihre Fahrten vorwiegend in die ungünstige Jahreszeit zu verlegen und die Winterstürme weniger zu scheuen als die Piratenschisfe, die freilich selbst in dieser Jahreszeit doch nicht ganz vom Meere verschwanden. Ganz wie später in der Normannenzeit, liefen die Korsarengeschwader

bei den Seestädten an unb zwangen sie, entweder mit großen Summen sich loszukaufen, oder belagerten und stürmten sie mit gewaffneter Hand. All' die alten reichen Tempel an den griechischen und kleinasiaüschen Küsten wurden nach der Reihe geplündert. Man rechnete über 400 von den Piraten eingenommene oder gebrandschatzte Ortschaften, darunter Städte wie Knidos, Samos, Kolophon; auö nicht wenigen früher blühenden Insel- und Küsten­ plätzen wanderte die gesummte Bevölkerung auö, um nicht von den Piraten fortgeschleppt zu werden. Nicht einmal im Binnenland mehr war man vor denselben sicher; eS kam vor, daß sie ein bis zwei Tagemärsche von der Küste gelegene Ortschaften überfielen. Die Flibustier nannten sich Cilicier; in der That aber fanden auf ihren Schiffen die Verzweifelten und Abenteurer aller Nationen sich zusammen: die entlassenen Söldner von den kretischen Werbe­ plätzen, die Bürger der vernichteten Ortschaften Italiens, Spaniens und Asiens, die Sol­ daten und Offiziere aus Fimbrias und Sertorius' Heeren, überhaupt die verdorbenen Leute aller Nationen, die Flüchtlinge aller überwundenen Parteien. Es war keine zusammen­ gelaufene Diebesbande mehr, sondern ein geschloffener, wohl organisirter Soldatenstaat. Ihre militärische Organisation war namentlich seit dem mithridatischen Kriege fest geschlossen. Ihre Schiffe, größtentheilS kleine, offene, schnellsegelnde Barken, nur zum kleinern Theil Zwei- und Dreidecker, waren jetzt regelmäßig in Geschwader vereinigt und fuhren unter Admiralen, deren Barken in Gold und Purpur zu glänzen pflegten. Ihre Heimat war daS Meer von

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den Säulen des Herkules bis in die syrischen und ägyptischen Gewässer; die Zufluchtstätten, deren sie daneben für sich und ihre schwimmenden Häuser auf dem Festlande bedurften, gewährten ihnen bereitwillig die mauritanischen und dalmatischen Gestade, die Insel Kreta, vor allem die an Vorsprüngen und Schlupfwinkeln reiche, die Hauptstraße des Seehandels jener Zeit beherrschende und so gut wie herrenlose Südküste Kleinasiens. Nicht blos besaßen sie hier überall am Ufer Signalplätze und Stationen, sondern auch weiter landeinwärts in den abgelegensten Verstecken des unwegsamen und gebirgigen Binnenlandes halten sie sich ihre Felsschlösser erbaut, in denen, während sie selbst zur See fuhren, sie ihre Weiber, Kinder und Schätze bargen, auch wohl in gefährlichen Zeiten selbst eine Zufluchtsstätte fanden. Namentlich gab es solche Korsarenschlöffer in großer Zahl in dem rauhen Cilicien, dessen Waldungen zugleich den Piraten das vortrefflichste Holz zum Schiffbau lieferten, und wo deshalb ihre hauptsächlichsten Schissbaustätten und Arsenale sich befanden. Wir finden die Piraten als Verbündete des Königs Mithridates von Pontus, sowie der römischen demokratischen Emigration; wir finden sie Schlachten liefern gegen die Flotten Sullas in den östlichen, wie in den westlichen Gewässern. Wir finden einzelne Piratenfürsten, die über eine Kette von ansehnlichen Küstenplätzen gebieten. Endlich im Jahre 79 beschloß deshalb der Senat, einen der Konsuln nach Cilicien zu senden. Das Loos ttaf den tüchtigen Publius ServiliuS. Er schlug in einem blutigen Treffen die Flotte der Piraten und wandte sich darauf zur Zerstörung derjenigen Städte an der kleinasiatischen Südküste, die ihnen als Ankerplätze und Handelsstationen dienten. Um die isaurifchen Felsennester, ihre letzten und sichersten Zufluchtsstätten, zu bezwingen, führte ServiliuS die erste römische Armee über den TauruS und brach die feindlichen Fe­ stungen, vor allem Jsaura selbst, das Ideal einer Räuberstadt, auf der Höhe eines schwer zugänglichen BergzugeS gelegen und die weite Ebene von Jkonium vollständig überschauend und beherrschend. Der dreijährige Feldzug (78—76), aus dem PubliuS ServiliuS für sich und seine Nachkommen den Beinamen VeSJsaurikers heimbrachte, war nickt ohne Frucht; eine große Anzahl von Korsaren und Korsarenschiffen geriethen durch denselben in die Ge­ walt der Römer; die Gebiete der zerstörten Städte wurden eingezogen und die Provinz Cilicien mit ihnen erweitert. Allein eS lag in der Natur der Sache, daß die Piraterie doch damit keineswegs unterdrückt war, sondern nur sich zunächst nach andern Gegenden, na­ mentlich nach der ältesten Herberge der Korsaren deö Mittelmeers, nach Kreta, zog. Im Jahre 74 übernahm in Folge der lex Gabinia Cn. Pompejus die Führung des Krieges gegen die Piraten mit beinahe unumschränkter Machtvollkommenheit. Er begann damit, daS ungeheure, ihm überwiesene Gebiet in 13 Bezirke zu theilen, von denen jeder einem seiner Unterfeldherrn überwiesen ward, um daselbst Schiffe und Mannschaften zu rüsten, die Küsten abzusuchen und die Piratenböte aufzubringen oder einem der Kollegen ins Garn zu jagen. Er selbst ging mit dem besten Theil der vorhandenen Kriegsschiffe früh im Jahr in See und reinigte zunächst die sizilischen, afrikanischen-und sardinischen Gewässer, um vor allem die Getreidezufuhr aus diesen Provinzen nach Italien wieder in Gang zu bringen. Für die Säuberung der spanischen und gallischen Küsten sorgten in­ zwischen die Unterfeldherren. Nach 40 Tagen war im westlichen Becken des Mittelmeeres die Schiffahrt überall frei. Sofort ging PompejuS mit seinen 60 besten Fahrzeugen ab in das östliche Meer, namentlich nach dem Ur- und Hauptsitz der Piraterie, den lycischen find cilicischen Gewässern. Auf die Kunde von dem Herannahen der römischen Flotte verschwandm die Piratenkähne überall von der offenen See. Mehr noch wohlberechnete Milde, als Furcht öffnete Pompejus die Thore der schwer zugänglichen Seeburgen in Lycien; denn während seine Vorgänger jeden gefangenen Seeräuber ans Kreuz hatten heften lassen, be­ handelte er namentlich die auf den genommenen Piratenböten vorgefundenen gemeinen Ruderer mit ungewohnter Nachsicht. Nur die kühnen cilicischen Seekönige wagten einen Versuch, wenigstens ihre eigenen Gewässer mit den Waffen gegen die Römer zu behaupten.

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Nachdem sie ihre Kinder und Frauen und ihre reichen Schätze in die Bergschlöffer des Taurus geflüchtet hatten, erwarteten sie die römische Flotte an der Westgrenze Ciliciens. Aber Pompejus' wohlbemannte und mit allem Kriegszeug wohlversehene Schiffe erfochten hier einen vollständigen Sieg. Ohne weiteres Hindernis landete er und begann die Berg­ schlöffer der Korsaren zu stünnen und zu brechen, während er fortfuhr, ihnen selbst als Preis der Unterwerfung Freiheit und Leben zu bieten. Bald gab die große Menge es auf, in ihren Burgen und Bergen einen hoffnungslosen Krieg fortzusetzen und bequemte sich zur Ergebung; 49 Tage nachdem Pompejus in der östlichen See erschienen, war Cilicien un­ terworfen und der Krieg zu Ende. Gegen 400 Schiffe und Böte, darunter neunzig eigent­ liche Kriegsfahrzeuge, wurden theils von Pompejus genommen, theils ihm ausgeliefert; im ganzen sollen 1300 Piratenfahrzeuge zu Grunde gerichtet und außerdem die reichgefüllten Arsenale und Zeughäuser der Flibustier in Flammen aufgegangen sein. Von den See­ räubern waren gegen 10000 umgekommen, über 20000 dem Sieger lebend in die Hände gefallen, wogegen eine Menge von den Piraten weggeführter, zum theil daheim längst todt geglaubter Individuen durch Pompejus ihre Freiheit wieder erlangten. Im Sommer 74, drei Monate nach dem Beginn des Feldzuges, gingen Handel und Wandel wieder ihren gewohnten Gang, und anstatt der befürchteten HungerSnoth herrschte in Italien Überfluß. ____________

Rach Mommsens römischer Geschichte.

6. Julius Cäsar. C. Julius Cäsar stand im 56. Lebensjahre, als die Schlacht bei Thapsus, das letzte Glied einer langen Kette folgenschwerer Siege, die Entscheidung über die Zukunft der Welt in seine Hände legte. Weniger Menschen Spannkraft ist also auf die Probe gestellt worden, wie die dieses einzigen schöpferischen Genies, daö Rom, und des letzten, das die alte Welt hervorgebracht hat. Er war der Sprößling einer der ältesten Adelöfamilien LatiumS, welche ihren Stammbaum auf die Helden der Ilias und die Könige Roms zurückführte. Der biegsame Stahl seiner Natur widerstand dem windigen Treiben der damaligen römischen Jugend; ihm blieb sowohl die körperliche Frische ungeschwächt, wie die Spannkraft des Geistes und des Herzens. Im Fechten und Reiten nahm er es mit jedem seiner Soldaten auf, und sein Schwimmen rettete ihm bei Alexandria das Leben; die unglaubliche Schnel­ ligkeit seiner des Zeitgewinns halber gewöhnlich nächtlichen Reisen war das Erstaunen seiner Zeitgenoffen und nicht die letzte Ursache seiner Erfolge. Wie der Körper war der Geist. Sein bewundernswürdiges Anschauungsvermögen offenbarte sich in der Sicherheit und Ausführbarkeit aller seiner Anordnungen, selbst wo er befahl, ohne mit eigenen Augen zu sehen. Sein Gedächtnis war unvergleichlich, und eö war ihm geläufig, mehrere Geschäfte mit gleicher Sicherheit neben einander zu betreiben. Bei aller Größe seines Geistes und seiner Stellung hatte er dennoch ein Herz. Solange er lebte, bewahrte er für seine wür­ dige Mutter Aurelia (der Vater starb ihm früh) die reinste Verehrung; seinen Frauen und vor allem seiner Tochter Julia widmete er eine ehrliche Zuneigung. Mit den tüchtigsten und kernigsten Männern seiner Zeit, hohen und niederen Ranges, stand er in einem schönen Verhältnis gegenseitiger Treue, mit jedem nach seiner Art. Wie er selbst in guter und böser Zeit unbeirrt an den Freunden festhielt, so haben auch von diesen manche, wieAuluS Hirtius und Casus Matius, noch nach seinem Tode ihm in schönen Zeugnissen ihre An­ hänglichkeit bewährt. Seine Leidenschaft war niemals mächtiger als er. Wenn Alexander sich dem Weine ergab, so mied der nüchterne Römer nach seiner Jugendzeit denselben durch­ aus. Die Literatur beschäftigte ihn lange und ernstlich; aber wenn den Alexander der homerische Achill nicht schlafen ließ, so stellte Cäsar in seinen schlaflosen Stunden Betrach­ tungen über die Beugungen der lateinischen Haupt- und Zeitwörter an; ihn reizten astro­ nomische und naturwiffenschaftliche Gegenstände. Cäsar war durchaus Verstandesmensch. Seiner Nüchternheit und Berstandesklarheil verdankte er das Vermögen, unbeirrt durch

Erzählung.

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Erinnern und Erwarten, den gegenwärtigen Augenblick zu erfassen, auch dem kleinsten und beiläufigsten Beginnen seine volle Kraft zuzuwenden, ihr die sichere Leichtigkeit, mit welcher er seine Perioden fügte und seine Feldzugspläne entwarf, ihr die wunderbare Heiterkeit, die in guten und bösen Tagen ihm treu blieb, ihr die vollendete Selbständigkeit, die keinem Liebling, ja nicht einmal dem Freunde Gewalt über sich gestattete, ihr den Gewinn, daß er sich über die Macht des Schicksals und daö Können der Menschen niemals Täuschungen machte. Aus einer solchen Anlage konnte nur ein Staatsmann hervorgehen. Von seinem öffentlichen Auftreten an war denn auch Cäsar ein Staatsmann im tiefsten Sinne des Wortes und sein Ziel das höchste, das dem Menschen gestattet ist sich zu stecken: die staat­ liche, geistige und sittliche Wiedergeburt der tiefgesunkenen eigenen und der noch tiefer ge­ sunkenen, mit der feurigen innig verschwisterten hellenischen Nation. Alle zu den verschie­ densten Zeiten von ihm ausgegangenen Maßregeln bleibender Art ordnen in den großen Bauplan zweckmäßig sich ein. Mit Recht rühmt man den Redner Cäsar wegen seiner männlichen Beredsamkeit, die wie die Flamme zugleich erleuchtete und erwärmte. Mit Recht bewundert man an dem Schriftsteller Cäsar die unnachahmliche Einfachheit der Darstellung, die einzige Reinheit und Schönheit der Sprache. Mit Recht haben die größten Kriegsmeister aller Seiten den Feldherrn Cäsar gepriesen, der wie kein andrer, unbeirrt von Erfahrung und Überlieferung, daran festhielt, daß immer diejenige Kriegführung die rechte ist, durch

welche in dem gegebenen Falle der Feind besiegt wird, der mit sehergleicher Sicherheit für jeden Zweck das rechte Mittel fand, der nach der Niederlage schlagfertig dastand wie Wil­ helm von Oranien und mit dem Siege ohne Ausnahme den Feldzug beendigte, der das Element der Kriegführung, die rasche Bewegung der Massen, mit unübertroffener Voll­ kommenheit handhabte und der massenhaften Streitmacht die bewegliche, dem langen Vor­ bereiten das rasche Handeln selbst mit unzulänglichen Mitteln bis zur Verwegenheit vorzog. Allein alles dieses ist bei Cäsar nur Nebensache; er war zwar ein großer Redner, Schrift­ steller und Feldherr; aber jedes davon ist er nur geworden, weil er ein großer Staatsmann war., Obwohl ein Meister der Kriegskunst, hat er doch aus staatsmännischen Rücksichten das Äußerste gethan, um den Bürgerkrieg abzuwenden, und um, da er dennoch begann, wenigstens keine blutigen Lorbeern zu ernten. Die Verdienste um die Wissenschaften und Künste deö Friedens wurden von ihm vor den militärischen bevorzugt. Ein geborener Herrscher, regierte er die Gemüther der Menschen, wie der Wind die Wolken zwingt, und nöthign die verschiedenartigsten Naturen, ihm sich zu eigen zu geben, den schlichten Bürger und den derben Äriegstribun, den glänzenden Reiterobersten und den berechnenden Bankier. Er wai Monarch; aber nie hat er den König gespielt. Auch als unumschränkter Herr von Rom blieb er in seinem Auftreten der Parteiführer; vollkommen biegsam und geschmeidig, bequem und unmuthig in der Unterhaltung, zuvorkommend gegen jeden, schien er nichts sein zu wollen als der Erste unter seinesgleichen. Er handelte nie nach Neigung oder Laune, sondern ohne Ausnahme nach seiner Regentenpsiicht, und wenn er auf sein Leben zurücksah, hatte er wohl falsche Berechnungen zu bedauern, fand aber keinen Fehltritt der Leidenschaft zu bereuen; er scheiterte nicht an derjenigen Aufgabe, die für großartig angelegte Naturen von all.»n die schwerste ist, an der Aufgabe, auf der Zinne des Erfolges dessen natürliche Schranken zu erkennen. Alexander am Hyphasis, Napoleon in Moskau kehrten um, weil sie musten, und zürnten dem Geschick, daß es auch seinen Lieblingen nur begrenzte Erfolge gönnt; Cäsar ist an der Themse und am Rhein freiwillig zurückgegangen und gedachte auch an der Donau und am Euphrat nicht ungemessene Pläne der Weltüberwindung, son­ dern bbs wohlerwogene Grenzregulirungen ins Werk zu setzen. Co war dieser einzige Mann, den zu schildern so leicht scheint und doch so unendlich schwer ist. Von gewaltigster Schöpferkraft und doch zugleich vom durchdringendsten Ver­ stände, nicht mehr Jüngling und noch nicht Greis, vom höchsten Wollen und vom höchsten

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Historische Prosa.

Vollbringen, erfüllt von republikanischen Idealen und zugleich geboren zum König, ein Römer im tiefsten Kern seines Wesens und wieder berufen, die römische und die hellenische Bildung zu versöhnen und zu vermählen, ist Cäsar der ganze und vollständige Mann. AuS Mommsens römischer Geschichte.

7. Tiberius. Augustus hinterließ seinem Stiefsohne Tiberius einen aus sehr ungleichen Theilen zusammengesetzten Staatskörper, den er unglücklicher Weise nicht durch eine Verfassung zu einem festen Ganzen gemacht und auf eine gesetzliche Bahn gelenkt hatte. Alles beruhte auf der Persönlichkeit des Herrschers, und dieser Hauptcharakterzug der neuen Regierungsform gab sich mit allen ihren Mängeln und Schrecken zu erkennen, da der Staat in die Gewalt eines Mannes kam, dessen vorherrschende Eigenschaften Neid, Furchtsamkeit, Sinnlichkeit und Grausamkeit waren. Dadurch, daß Augustus seinen Nachfolger zur Adoption des Germanikus gezwungen hatte, schützte er die Welt wenigstens noch auf eine kurze Zeit nach seinem Tode vor den schrecklichen Wirkungen der Gemüthsart des furchtbaren Tyrannen. In den ersten acht Jahren war nämlich deffen Regierung im ganzen genommen mild und gerecht, weil die Furcht vor Germanikus seinen menschenfeindlichen Sinn in gewissen Schranken hielt. Er mußte sich vor seinem Neffen besonders deshalb fürchten, weil derselbe an der Spitze von acht Legionen stand, die ihm Augustus zur Bekriegung der Germanen anvertraut hatte, und die ihren tüchtigen Führer so sehr liebten, daß sie ihm bei der Nach­ richt von Augustus' Tode sogar die Herrschaft angeboren hatten. Germanikus hatte ihr Anerbieten zwar abgelehnt, TiberiuS mußte sich aber um so mehr hüten, Anlaß zur Un­ zufriedenheit zu geben, als Germanikus einen rühmlichen Krieg in Deutschland führte und dadurch in der Achtung des Volkes und der Soldaten fortwährend stieg. Aus diesem Grunde allein erfüllte Tiberius in den ersten Jahren seiner Regierung alle Pflichten eines weisen Regenten. Dagegen war von Anfang an sein Hauptstreben darauf gerichtet, den Germa­ nikus unter einem guten Vorwand von den Legionen in Deutschland zu entfernen. Erst im Jahre 17 n. Chr., als der dortige Krieg viel Geld und Menschen gekostet, aber außer der Ehre nicht den geringsten Vortheil gebracht hatte, glaubte Tiberius, dies wagen zu dürfen. Er rief seinen Neffen nach Rom zurück, gewährte ihm einen glänzenden Triumph und schickte ihn dann als Oberbefehlshaber nach dem Orient. Germanikus führte auch hier zwei Jahre lang ruhmvolle Kriege mit den Grenzvölkern, ward aber durch den römischen Statthalter von Syrien zuerst vielfach gekränkt und dann vergiftet (19 n. Chr.). Von diesem Augenblicke an trat Tiberius' eigentlicher Charakter immer bestimmter hervor, und die Niederttächtigkeit der Leute, die sich in seine Nähe drängten, machte ihn immer dreister, alles, was er Böses wollte, zu wagen, bis endlich im Jahre 23 SejanuS sein Günstling wurde und ihn zu einem vollkommenen Tyrannen machte. Auf seinen Vor­ schlag zog Tiberius die Prätorianer nach Rom und vereinigte sie mit der seitherigen Be­ satzung der Stadt in einem festen Lager, welches vor den Thoren von Rom angelegt ward. Diese Maßregel machte den Kaiser von seinen Garden abhängig und erhob den Befehls­ haber derselben zur zweiten Person im Reiche. Im Jahre 26 brachte Sejanus den Kaiser sogar dazu, daß derselbe sich aus Rom entfernte und ihm auf diese Weise ganz freien Spiel­ raum ließ. Nach anderen Nachrichten soll freilich TiberiuS die Stadt aus freien Stücken verlassen haben, weil er seine schmählichen Lüste vor den Augen der Menge verbergen wollte; er zog zuerst eine Zeit lang in Kampanien umher und begab sich dann nach der Insel Kapri, die ihm durch ihren milden Winter und kühlen Sommer einen heiteren Genuß darbot und ihn außerdem durch die Unzugänglichkeit ihrer Küsten gegen jede Nachstellung zu sichern schien. Hier überließ er sich den schändlichsten, unnatürlichsten Lüsten, während Sejanus als sein Stellvertreter in Rom die Ausführung der grausamen kaiserlichen Befehle besorgte und auf ebenso grausame Weise für die Behauptung seiner eigenen Macht thätig

Erzählung.

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war. Er brachte es zuletzt dahin, daß, wie ein Geschichtschreiber des Alterthums sich aus­ drückt , er selbst der Kaiser, TiberiuS aber nur der Beherrscher der Insel Kapri zu sein schien- Schon fühlte sich SejanuS so mächtig, daß er daran dachte, sich selbst zum Kaiser aufzuvverfen, schon fand man in den Tempeln, auf den öffentlichen Plätzen und in vielen Privarthäusern seine Bildsäule neben denen der regierenden Familie aufgestellt, als Tiberius sich pllötzlich von ihm wandte. Der Kaiser, der in den letzten Jahren seines Lebens gewöhn­ lich betrunken war, sah entweder einmal in einem nüchternen Augenblicke selbst ein, wohin es gek-ommen sei, oder er ward durch SejanuS' Bitte, eine kaiserliche Prinzessin heiraten zu dürfem, auf die eigentlichen Absichten desselben aufmerksam gemacht, oder die Wittwe seines Bruders Drusus warnte ihn durch ein Billet, welches sie ihm zustellen zu laffen wußte: genug., Tiberius beschloß plötzlich, seinen bisherigen Vertrauten und allmächtigen Minister zu verderben. Bei der Ausführung dieses Beschlusses bot er seine ganze Verstellungskunst auf. Da nämlich das Tribunal durch die Übertragung der Volkssouveränetät an den Kaiser

eine viel größere Bedeutung als früher erhalten hatte, so wurde Sejanus durch die Lüge, daß ihm der Senat auf Tiberius' Befehl diese Würde übertragen solle, in den Senat ge­ lockt. Tiberius' Schreiben an den Senat war so abgefaßt, daß zuerst eine fremde Sache, dann «ein geringer Tadel gegen Sejanus, dann wieder etwas anderes und erst ganz am Ende der Befehl zu seiner Verhaftung ausgesprochen war. Seine Hinrichtung war zwar im Briefe des Kaisers aus Furcht vor einer Empörung der Garden nicht erwähnt worden, allein die Senatoren, welche Tiberius' Willen sehr wohl verstanden, ließen dessenungeachtet Sejanus sogleich umbringen (31 n. Chr.). Seit Sejanus' Sturze folgte eine Grausamkeit auf die andere. Mißtrauen, Habgier und tiefe Verachtung der Menschen beherrschten die Seele deö Kaisers, und seine Re­ gierung ward immer mehr blos auf rohe Gewalt, auf Furcht und Schrecken gegründet. Dabei blieb er, obgleich er über 70 Jahre alt war, dem Trunk und allen Lüsten aus­ gelassener Jünglinge ergeben. Als er endlich im 78. Lebensjahre erkrankte und den Tod herannahen sah, suchte er seinen Zustand sorgfältig zu verbergen. Er stellte sich gesund und kräftig, hielt Jagden und reiste in Kampanien und am Gestade des Meeres umher, wie wenn er nach Rom zurückkehren wollte. Auf dieser Reise erkrankte er eines Tages ernstlich und fiel in eine so tiefe Ohnmacht, daß man sie für Todesschlummer hielt. Die ganze Umgebung des Tiberius huldigte hierauf sogleich dem Cajus Cäsar Caligula, einem Sohne des Germanikus, welcher der unzertrennliche Begleiter seines Großoheims, der Ge­ nosse seiner Lüste und der Diener seiner Launen gewesen und von ihm durch Adoption zu seinem Nachfolger erklärt worden war. Kaum hatte der Hof den Caligula als Kaiser be­ grüßt, als plötzlich die Nachricht kam, Tiberius lebe noch. Diese Nachricht verbreitete all­ gemeine Bestürzung. Cajus war verloren, wenn man nicht einen raschen Entschluß faßte; der Gardehauptmann Makro ließ den alten Mann schnell durch aufgelegte Polster ersticken. Rach Schlosser-, von Krieg? bearbeiteter, Weltgefch. f. d. deutsche Volk.

8. Die politischen Parteien in der Rennbahn zu Konstantinopel. Seit dem Untergange der römischen Republik erhielten die Spiele des Cirkus zu Rom eine große politische Wichtigkeit, indem nach dem Vorgänge des Julius Cäsar die Kaiser sie benutzten, um das Volk und vorzüglich den angesehensten Theil desselben zu beschäftigen und die Aufmerksamkeit von den politischen Verhältnissen abzulenken. Seit der Zeit des Nero werden die Erwähnungen der vier Parteien oder vielmehr der zwei Parteien, welche durch die Verschmelzung der früheren vier Fraktionen entstanden waren, sehr häufig sowohl bei den Schriftstellern, als auf Denkmälern. Die weiße Partei schloß sich nämlich der blauen und die rothe der grünen an, und diese Vereinigung, welche ohne Zweifel von der Hauptstadt ausging, wurde allgemein in allen Städten des römischen Reiches, in welchen Spiele des Cirkus gehalten wurden. Fast jeder Kaiser machte es sich

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Historische Prosa.

zum besonderen Geschäfte, die eine oder andere Farbe zu begünstigen, doch war irr den späteren Zeiten meistentheils die grüne in dem Besitze der kaiserlichen Gunst. Die über­ triebene und nicht selten in Albernheit auSartende Aufmerksamkeit, welche die Kaiser den Parteien der Rennbahn widmeten,,, gab denselben eine große Wichtigkeit und vielseitigen Einfluß und weckte in ihnen einen Übermuth, welcher oft die ärgerlichsten Auftritte ver­ anlaßte, und selbst die Kaiser erfuhren nicht selten von der Partei, welche sie zurücksetzten, öffentlich im Cirkus Schmähungen und Beschimpfungen. Das Beispiel der Kaiser wurde auch von den Unterthanen nachgeahmt, so daß das ganze Volk sich parteiete und jeder die Partei der einen oder andern Farbe nahm. Diese Parteiung wurde endlich so leiden­ schaftlich, daß sie die ganze Aufmerksamkeit deS Volkes in Anspruch nahm; niemand redete zu Hause von andern Dingen als von den Ereignisien deS Cirkus und Theaters, und selbst die Lehrer machten die öffentlichen Spiele zum Hauptgegenstande der Unterhaltung mit ihren Schülern. Die Absicht der Kaiser, welche die Aufmerksamkeit des Volkes auf diese Spiele hatten leiten und beschränken wollen, war also vollkommen erreicht worden. Die Parteiung des Cirkus dauerte auch in den folgenden Jahrhunderten nicht nur zu Rom fort, sondern verbreitete sich immer mehr in die bedeutenden Städte der Provinzen; doch scheint sie mehr in den morgenländischen als in den abendländischen sich verbreitet und befestigt zu haben. Im Abendlande hörten die Spiele des Cirkus vielleicht schon feit dem 6. Jahrhundert auf; selbst in Italien finden wir schon in der Zeit der Langobarden nicht mehr eine Erwähnung dieser Belustigungen, und wo einmal die alte Neigung wieder er­ wachte, wurde sie von der Geistlichkeit unterdrückt, und die Kirchenversammlungen bedrohten alle diejenigen mit dem Banne, welche an den Spielen des Cirkus thätigen Antheil nehmen würden. In Konstantinopel oder dem neuen Rom erhielten die Parteien des Cirkus eine Wichtigkeit, welche sie selbst in dem alten Rom nicht gehabt hatten; so wie überhaupt in der neuen Hauptstadt und in mehreren anderen wichtigen Städten der morgenländischen Provinzen des Reiches, vorzüglich in Antiochien, die Theilnahme des Volkes an den öffent­ lichen Spielen zur höchsten Leidenschaft gesteigert wurde. Der erste öffentliche Ausbruch der gegenseitigen Erbitterung der Parteien ereignete sich im Jahre 501 zur Zeit deS Kaisers Anastasius. Am Mittage eines Tages, obgleich der Präfekt der Stadt, ConstantiuS, selbst im Cirkus anwesend war, überfiel die grüne Partei plötzlich die blaue, und der Kampf wurde so heftig und blutig, daß mehr als 3000 Bürger der Hauptstadt in der Rennbahn ihren Tod fanden. Der Übermuth der Parteien erreichte aber den höchsten Gipfel zur Zeit des Kaisers Justinianus; denn dieser Kaiser, welcher eine große Vorliebe für die Spiele des Cirkus hatte, hing mit Leidenschaftlichkeit der blauen Partei an, anfangs vielleicht aus Gefälligkeit für seine Gemahlin Theodora, deren frühere Verhältnisse die Macht und das Ansehen der Parteien nicht wenig begünstigten und besonders der blauen ein großes Übergewicht gaben, späterhin aber betrachtete Justi­

nian die blaue Partei als die Stütze seines oft wankenden Thrones. Die Kaiserin Theodora war nämlich die Tochter des Akakius, welcher für die grüne Partei die Fütterung der Bären besorgte und zur Zeit deS Kaisers Anastasius starb. Seine Wittwe, welche bald einen andern Mann fand, nahm für diesen das Amt ihres ersten Mannes in Anspruch, drang aber nicht durch; sie ließ hierauf ihre drei, damals noch sehr jungen Töchter, unter welchen Theodora die zweite war, während einer Thierhetze in den Hippodrom, mit Kränzen auf den Köpfen und in den Händen, gehen und die Gnade der grünen Partei erflehen; aber die Bitten der Kinder fanden bei den Grünen nicht geneigtes Gehör. Dagegen erbarmten sich ihrer die Blauen, und diese verliehen der Mutter das Amt der Bärenfütterung, welches auch bei ihrer Partei damals erledigt war. Auf diese Weise ging Theodora zur blauen Partei über und blieb dieser Partei sowohl als Schauspielerin, wie späterhin als Kaiserin mit eben so großer Leidenschaftlichkeit ergeben, als sie die grüne

Erzählung.

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haßte wegen der Zurückweisung, welche sie in ihrer Jugend mit ihren Schwestern von dieser Partei erfahren hatte. — Die unruhigen Köpfe der Parteien führten eine ganz neue und von der römischen Sitte abweichende Mode ein. In der Bekleidung ihrer Schultern, Schenkel und Füße befolgten sie die Sitten der Hunnen. Des Nachts trugen sie ohne Scheu Schwerter, des Tages aber verbargen sie zweischneidige Dolche unter ihren Ge­ wändern; sie vereinigten sich, sobald es dunkel wurde, in Rotten, plünderten auf dem Markte und in engen Gaffen schuldlose Menschen und raubten denen, welche sie antrafen, Kleider, Gürtel, goldene Spangen oder was sie sonst trugen. Manche tödteten sie auch, damit sie den Raub, welcher an ihnen verübt worden, nicht verrathen möchten. Da nun keine der Obrigkeiten des Volkes diesem Unwesen steuerte und die Verbrecher strafte, so wurde der Frevel mit jedem Tage, zügelloser. Diejenigen, welche zur grünen Partei ge­ hörten, vereinigten sich, da die Übermacht auf so entschiedene Weise auf der Seite der

andern Partei war, theils mit ihren bisherigen Feinden, theils verließen sie die Haupt­ stadt ; viele der grünen Partei wurden von ihren Feinden getödtet, manche starben durch die von den Beamten gegen sie verhängten Todesstrafen. Selbst die Verwaltung der Gerichtsbarkeit wurde durch die Parteiung gehemmt, indem die Richter nicht nach den Ge­ setzen urtheilten, sondern jeder Richter seine Parteigenoffen begünstigte, und kein Richter blieb ungestraft, welcher es wagte, ein Urtheil zum Nachtheil eines Genoffen der herrschenden Partei zu fällen. Die Bedrückung der grünen Partei veranlaßte endlich einen Aufstand, der unter dem Namen der Nika-Empörung bekannt ist, den Kaiser Justinian fast um Thron und Leben gebracht hätte und außer der Niedermetzelung von mehr als 30000 Menschen die Zer­ störung einer großen Zahl von prächtigen Gebäuden der Stadt veranlaßte. Dieser furcht­ bare Aufstand ereignete sich bei Gelegenheit der Spiele, womit im Januar 532 Justinian sein fünftes Regierungsjahr feierte. Die grüne Partei erhob nämlich Klagen über die Bedrückung, welche sie erfuhr; Justinian aber achtete nicht auf diese Klagen, sondern ließ die unruhige Partei durch seinen Mandatar zur Ruhe verweisen, wobei auch Schimpfwörter nicht gespart wurden, indem der kaiserliche Beamte die unruhige Partei Samariter, Juden und Manichäer nannte. Zum Unglück für den Kaiser ließ an demselben Tage, an welchem durch den eben erzählten Vorfall auf dem Hippodrom die Parteien auf das heftigste waren aufgeregt worden, der Präfekt der Stadt die Hinrichtung dreier Unruhstifter aus der Mitte der Parteien vollziehen, wovon aber nur einer wirklich am Galgen sein Leben endigte, die beiden andern zweimal aufgehängt wurden, zweimal wieder vom Galgen herabsielen und endlich durch die Mönche des heiligen Konon gerettet wurden. Diese verunglückte Hin­ richtung bewog die beiden bisher feindlichen Parteien, sich zu vereinigen zum gemeinschaft­ lichen Streite gegen den Kaiser. Während mehrerer Tage war Konstantinopel der Schau­ platz des fürchterlichsten Kampfes, in welchem selbst viele Weiber ihr Leben einbüßten. Schon war der Kaiser entschlossen, die Hauptstadt zu verlassen und nach Thrazien zu ent­ fliehen, und die Parteien wählten sogar den Patrizier Hypatius, einen Neffen des Kaisers Anastasius, zum Kaiser. Erst die Ermahnung der Kaiserin Theodora bewog Justinian, auf die Vertheidigung seines Thrones gegen die Parteien zu denken, welche sich schon anschickten, den kaiserlichen Palast zu erstürmen, und Belisar endlich, welcher damals mit den aus Persien zurückgekehrten Truppen in Konstantinopel angekommen war, machte durch ein furchtbares Gemetzel aller derer, welche von beiden Parteien im Cirkus sich befanden, dem Aufstande ein Ende. Dieser aber erhielt den Namen Nika, d. i. siege, weil während deS Kampfes dieses Wort die Losung der Parteien war. Nach Wilken in Räumers histor. Taschenbuch 1830.

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Historische Prosa.

9. Die Sachsen und die Wenden. Die Wenden ließen dem Sachsenvolk nimmer Ruhe; Heinrich der Vogelsteller beschloß den Krieg gegen sie. Der erste Angriff galt den Hevellern, einem wendischen Stamme, der auf beiden Seiten der breiten, seereichen Havel und an der untern Spree wohnte. Mehr­ mals kam es zum Kampfe; immer siegte Heinrich und drang endlich bis zur Hauptfeste dieses Stammes, dem jetzigen Brandenburg, vor. Die Stadt, Brennaburg damals ge­ nannt , lag rings von der Havel umflossen. Es war mitten im Winter, als Heinrich sie belagerte, und auf dem Eise schlug er sein Lager auf. Eis, Eisen und Hungersnoth, die brachten Brennaburg zu Fall, und mit ihm fiel das ganze Hevellerlanv in die Hände des Siegers. Danach zog Heinrich südwärts gegen die Daleminzier, gegen die er einst seine ersten Lorbeeren erfochten hatte. Sie kannten schon die Streiche von Heinrichs Schwert und wagten nicht, ihm im offenen Felde zu begegnen: sie schlossen sich deshalb in ihre Feste Jana ein; aber am zwanzigsten Tage wurde auch diese genommen. Tödtlicher Haß herrschte zwischen Wenden und Sachsen, und auch hier fielen ihm blutige Opfer. Die Stadt wurde geplündert, was mannbar war, erschlagen, die Kinder als Sklaven verkauft. So wollte es die arge Sitte, und der Deutsche hat sein Wort „Sklave" von den Slaven genommen. Während Heinrich, immer siegreich, weiter südwärts drang gegen die mächtigen Böhmen, kämpften sächsische Grafen mit Glück gegen die nördlich wohnenden Wenden, unterwarfen namentlich die Redarier, und binnen kurzer Zeit wurde der größte Theil des Landes zwi­ schen Elbe und Oder der Herrschaft der Sachsen gewonnen. Aber der harte Sinn der Wenden war nicht gebrochen, und das vergossene Blut schrie um Rache. Wüthend erhoben sich zuerst .die Redarier und nahmen Walsleben in der Altmark mit Sturm: von allen seinen damals zahlreichen Bewohnern sah keiner den kommenden Tag. Dies war der Weck­ ruf zur allgemeinen Erhebung; wie ein Mann standen alle wendischen Stämme auf, um das verhaßte Joch der Sachsen abzuschütteln. Heinrich rüstete schnell und befahl dem Bernhard, dem er die Bewachung der Redarier übertragen hatte, wie dem Grafen Thietmar, sogleich den Krieg mit der Belagerung der Feste Lenzen, die in den Händen der Wenden war, zu beginnen. Es wurde der Heerbann, so gut es in der Eile ging, im Sachsenlande gesammelt und mit den königlichen Dienst­ leuten, die in den Marken standen, unter ihren Befehl gestellt. Schon fünf Tage lag man vor Lenzen: da meldeten Kundschafter, ein Heer der Wenden sei in der Nähe und wolle bei einbrechender Nacht das Lager der Sachsen überfallen. Bernhard ließ sofort das Heer bei seinem Zelte versammeln und gebot, man solle wohl auf der Hut sein und die ganze Nacht unter Waffen stehn. Die Menge trennte sich und überließ sich der Freude oder der Angst, der Hoffnung oder Furcht, je nachdem einer den Kampf wünschte oder nicht. Die Nacht brach herein, finsterer als gewöhnlich, der Himmel war mit schweren Wolken bezogen, und der Regen floß in Strömen herab. Bei solchem Wetter sank den Wenden der Muth, und sie unterließen den Angriff; die Sachsen aber standen die ganze Nacht unter Waffen. Als der Morgen dämmerte, da beschloß nun Bernhard selbst einen Angriff zu wagen und ließ daS Zeichen zum Aufbruch geben. Zuvor aber nahmen alle im Heer das heilige Abendmahl (so war eS Sitte vor der Schlacht), und mit feierlichem Eidschwur gelobten sie erst ihren Führern, dann sich untereinander Beistand und Hülfe in der Noth. Als die Sonne hervor­ brach (in heller Bläue strahlte der Himmel nach dem nächtlichen Regenguß), zogen sie aus dem.Lager, die wehenden Fahnen voran. Den ersten Angriff machte Bernhard selbst, doch der Übermacht der Gegner mußte er weichen. Dennoch hatte er so viel gesehen, die Wenden

hatten nicht mehr Reiter als er, wohl aber unermeßliche Schaaren von Fußvolk, die jedoch nur mit Mühe auf dem schlammigen Boden sich vorwärts bewegten und mit Gewalt von Reitern im Rücken vorgejagt wurden. Da faßten er,und die Sachsen wieder Muth. Mehr aber wuchs derselbe, als sie sahen, wie aus den nassen Kleidern der Wenden ein dichter

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Dunst zum Himmel emporstieg, während sie selbst vom klaren Licht rings umflossen waren. Es war ihnen, als ob der Christengott mit ihnen sei im Kampfe gegen die Heiden. Aber­ mals wurde das Zeichen zum Angriff gegeben, und mit freudigem Feldgeschrei stürzten sie sich in die Reihen der Feinde. Dichtgedrängt standen die Wenden, vergebens versuchte man sich eine Gasse durch die Schaaren zu brechen; aber rechts und links wurden einzelne Züge der Wenden, die von der Masse ihrer Gefährten sich sonderten, angegriffen und niedergemacht. Viel Blut wurde so auf beiden Seiten vergossen; doch noch immer hielten die Wenden Stand. Da schickte Bernhard einen Boten an Thietmar, er solle dem Heere zu Hülfe eilen, und schnell sandte dieser einen Hauptmann mit fünfzig gewaffneten Rittern in die Seite der Feinde. Wie ein Unwetter stürzte sich dieser auf die Wenden; da wankten die Reihen derselben, und bald ergoß sich das ganze Heer in die wildeste Flucht. Rings auf dem Blachfelde wüthete das Schwert der Sachsen. Die Wenden suchten Lenzen zu erreichen, aber umsonst. Thietmar hatte die Wege besetzt. Da stürzten sich viele voll Ver­ zweiflung in einen nahe gelegenen See, und die das Schwert verschont hatte, fanden hier ihren Tod. Von dem Fußvolk kam keiner davon, wenige nur von den Reitern. Achthundert geriethen in Gefangenschaft; den Tod hatte man ihnen gedroht, und den Tod fanden sie alle am kommenden Tag. Mehr als hunderttausend Wenden sollen bei Lenzen gefallen sein. Auch die Sachsen erlitten schmerzliche Verluste und vermißten manchen edlen Mann in ihrem Heere. Mit diesem Schlage war der Krieg beendigt. Am andern Tage ergab sich Lenzen, die Bewohner streckten die Waffen, sie baten allein um das Leben. Das ließ man ihnen, nackt mußten sie aus der Stadt ziehen; ihre Weiber, ihre Kinder, ihre Knechte, ihr Hab und Gut, alles fiel in die Hände der Sieger. Herrlichen Ruhm vor allem deutschen Volk erwarben sich Bernhard und Thietmar; denn über ein unermeßliches Heer der ge­ haßten Wenden halten sie mit einer eilig zusammengerafften, im Verhältnis geringen Mannschaft einen glänzenden Sieg davongetragen. Auf das ehrenvollste empfing sie der König, und aus seinem Munde erhielten ihre Thaten das schönste Lob. Aus Giesebrechts Gesch. der deutsch. Kaiserzeit.

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Heinrichs IV. Jugend.

Heinrich IV., damals erst sechs Jahre alt, erhielt die Regentschaft. Aber die Ver­ waltung des Reiches nahm seine Mutter, die Kaiserin Agnes, mit Bewilligung der Großen auf sich. Eine durch manche herrliche Gabe des Geistes und Gemüthes ausgezeichnete und gebildete Frau, wußte sie mit friedliebendem Sinn drohende Stürme klug und umsichtig zu zähmen, daher des Reiches Zustand unter ihrer Verwaltung ziemlich ruhig und friedlich war. Mit mütterlicher Liebe pflegte sie des Sohnes Erziehung. Agnes hatte sich im Be­ wußtsein, daß sie den Stürmen der Zeit nicht überall gewachsen sei, in Regierungsgeschäften meist an den Bischof Heinrich von Augsburg gewandt, und er hatte der Kaiserin Vertrauen gewonnen. Diese Auszeichnung hatte längst bei mehreren Fürsten, Erzbischöfen und anderen Reichsgroßen, die sich zur Mitverwaltung des Reiches berufen glaubten, Neid und Eifer­ sucht angeregt, denn durch die Erhebung dieses Mannes sahen sie sich zurückgedrängt. Unter diesen waren besonders Anno, Erzbischof von Köln, und Siegfried, der von Mainz, die einflußreichsten und wichtigsten. Diese gewannen auch Adalbert, den Erzbischof von Bremen. In ihren Versammlungen zogen sie bald auch weltliche Fürsten, den Grafen Ekbert von Braunschweig, einen Vetter des Königs, und Otto von Nordheim, den kurz zuvor die Kaiserin zum Herzoge von Baiern erhoben hatte, durch Beredungen an sich. Zugleich wußte man auch das Volk mehr und mehr gegen die Kaiserin einzunehmen; alles diente zur Vorbereitung des Anschlages, den jungen König und mit ihm auch die Verwaltung des Reiches der Leitung des Bischofs von Augsburg und der Kaiserin zu entreißen. Weil aber das Volk zum theil der Kaiserin sehr zugethan war, so beschlossen die herrschgierigen Fürsten, ihr Werk mit List und Gewalt schnell auszuführen.

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Es war um die Pfingstzeit, als der Erzbischof von Köln ein Schiff verfertigen ließ, künstlich und reich gearbeitet, mit Tapeten und Vorhängen, Gold und Silber, Gemälden und Schnitzwerk und mit allem, was die Neugier reizen konnte, ausgeschmückt. Auf diesem fuhren die Verschworenen den Rhein hinab zur Insel des heiligen Suitbert. Der König war mit seiner Mutter auf der Reise nach Nymwegen und eben an der anmuthigen. Rhein­ insel angekommen. Als nun an einem Tage Heinrich beim Gastmahle besondere Munterkeit zeigte, sprach der Erzbischof Anno viel von seinem bewunderungswürdig erbauten, schönen Schiffe, welches unfern am Ufer liege, und regte dadurch des jungen Königs Neugier an. Dieser wünschte es zu sehen, nichts weniger als List und Trug ahnend. Man zog hinaus, der König bestieg das Schiff. Schnell aber schlugen Ruderer auf ein Zeichen die Ruder an; aus der ängstlichen Eile und dem bangen Getümmel ahnte Heinrich Unglück und Gefahr für sein Leben. Er sprang in den Fluß, das Waffer zog ihn reißend hinweg. Da sprang Graf Ekbert ihm nach, rettete ihn wieder ins Schiff, und durch besänftigende Schmeicheleien beruhigt brachte man ihn nach Köln. Anno berief eine Versammlung und gab vor, daß er nicht für seinen Vortheil, sondern für Deutschlands Wohl so gehandelt; denn der Erz­ bischof, in dessen Sprengel der König inskünftige sei, solle die Obhut über des Reiches Heil und Sicherheit haben und in den Sachen, die an den König kämen, Entscheidung geben. Um einen thatkräftigen, entschlossenen Mann an seiner Seite zu haben, der mit ihm den Staat regiere, hatte Anno den Erzbischof Adalbert von Bremen durch zahlreiche Geschenke vom Reichsgute für sich gewonnen, und Adalbert war ehrsüchtig genug, um gerne das Ruder der Herrschaft im Reiche mit in seine Hand zu nehmen. Sein Stolz ertrug es indeß nicht lange, nur als Mitgehülfe dazustehen. Um allein über das Reich und den jungen König zu herrschen, bot er bald alles auf, den Erzbischof von Köln, einen strengen und ernsten Mann, dem jungen Heinrich unerträglich und verhaßt zu machen und diesen für sich zu gewinnen. Je mehr er des Königs ungezügelten Wünschen und wilden Leidenschaften freien Lauf ließ, desto entfremdeter ward dieser den anderen Erzbischöfen, so daß in kurzem Adalbert fast wie ein Alleinherrscher des Reiches dastand und den König wie einen Spielball behandelte. Als der junge König in seinem 15. Jahre stand, da feierte er zu Worms das Osterfest (1065), umgürtete sich auf Bewilligung Adalberts von Bremen zum ersten Male mit dem Schwerte und wurde dadurch für mündig erklärt. Je mehr aber der König im Alter vor­ schritt, desto wilder erwachten seine Leidenschaften, und der Neid und die Eifersucht, welche zwischen den Erzbischöfen von Köln und Bremen obwalteten, konnten nur dahin wirken, den erwachenden Lüsten des jungen Königs jeden Zügel frei zu geben; denn Adalbert strebte dahin, alle Schranken, die Anno dem König durch Warnung und Belehrung gesetzt, nieder­ zureißen. Kein Wunder, daß Heinrich dem, was Adalbert nachsichtig zuließ, lieber nach­ hing, als was der strengere und finstere Anno abrieth. Auch hatte der junge König gegen diesen stets Abneigung, vorzüglich nach seiner Entführung. Dazu kam, daß Adalbert ihn fort und fort gegen Anno so aufreizte, daß er einst gegen ihn mit dem Schwerte losgehen wollte, wenn man ihn nicht zurückgehalten hätte. Kurz, Heinrich kannte keine Beschränkung seines Willens; kein Unterricht, keine Erziehung, wie sie Fürsten geziemt, hatte ihm klar gemacht, was Regententugend und Fürstenpflicht seien, denn auch von den Fürsten kümmerte sich keiner um seine Bildung und Erziehung; sie ließen ihn schalten und leben, wie er wollte, wenn er sie nur nach ihren Wünschen schalten und walten ließ. Schon in früher Jugend zeigte er, weil sich nie in ihm ein sittlicher Grundsatz hatte entwickeln und befestigen können, ein Schwanken in dem, was er wollte, eine Haltlosigkeit im Charakter, die, weil sie mehr und mehr genährt und begünstigt ward, der eigentliche Grund des endlosen Unglückes seines ganzen Lebens wurde. Für jeden Eindruck war sein Gemüth empfänglich; er ward ebenso leicht zum Guten, wie schnell zum Bösen gestimmt, und so findet man in ihm neben Tugend Laster, neben Laster Tugend. Gewiß liegt fast alle Ursache seines oft verkehrten Handelns, Lebens und Strebens in seinen Jugendjahren. Bald aber (1066) traten die Erzbischöfe

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von Mainz und Köln, die Herzöge Rudolf von Schwaben und Otto von Baiern mit an­ deren, denen des Reiches Wohl am Herzen lag, zu häufigen Berathungen zusammen über das Leben und die Leitung deö jungen Königs. Dieser hatte lange Zeit zu Goslar mit unmäßigem Aufwande und großer Verschwendung hingebracht. Der königliche Schatz reichte bei weitem nicht mehr zu, zumal da die sächsischen Fürsten ihre gewöhnlichen Leistungen verweigerten. Alles dieses vermehrte noch den Haß gegen Adalbert. Dessen Sturz war demnach beschlossen. Man kam überein, es sollte ein allgemeiner Reichstag zu Tribur ge­ halten werden, um da dem Könige anzukündigen, daß er entweder der Krone sich begeben oder den Erzbischof verlassen müsse. Der König erschrak über die ihm vorgelegte Wahl. Er zögerte daher, die verlangte Entscheidung zu geben; Adalbert rieth ihm, in nächster Nacht mit den Reichsinsignien heimlich zu entfliehen und sich nach Goslar oder sonst wohin zu begeben, bis dieser Sturm ausgetobt habe. Gegen die Abenddämmerung ließ der König seine Schätze durch Getreue wirklich wegbringen. Man erfuhr aber den Anschlag, griff zu den Waffen, umzingelte die königliche Wohnung und hielt ihn unter strenger Bewachung. Auf den Erzbischof häufte sich aller Haß und Zorn. Kaum konnte man manche von thätlicher Beleidigung am Prälaten zurückhalten. Aber mit Schimpf und Schmach ward er alsbald mit seinem ganzen Anhänge vom königlichen Hofe verjagt. So ging die Ver­ waltung wieder auf die verschworenen Fürsten und zwar zumeist auf den Erzbischof von Köln über. Heinrich hielt sich seitdem viel in Sachsen auf, durchzog oft da- Land, um es kennen zu lernen und passende Berge auszuspähen für feste Burgen, die dem Reiche zum Schutz dienen, vor allem aber die widerspenstigen Großen des Landes im Zaume halten sollten. Auch der Erzbischof von Bremen hatte seinen Haß gegen die sächsischen Fürsten seinem königlichen Pflegling einzuflößen nicht versäumt. Und wie nun Heinrich die Sachsen haßte, weil er sie fürchtete, so lud er auch in immer höherem Maße den Haß der Sachsen auf sich, begegnete den Großen trotzig, erwies ihnen Verachtung und Bedrückung, gab sich unauf­ hörlich Jagden, Spielen und anderen solchen Beschäftigungen hin und ließ Unrecht und Gewalt schalten, ohne zu steuern, so daß schon im Jahre 1067 ein Aufstand ausbrach, der nur mit Waffen unterdrückt werden konnte. Seinen gefährlichsten Gegner sah er in Otto von Nordheim, dem die Kaiserin Agnes das Herzogthum Baiern verliehen hatte. Des Herzogs Ruhm hatte Neider erweckt, die seinen Sturz wünschten. Diese zog Heinrich in seinen Plan. Ein gemeiner Ritter, Egino, von einem Grafen Giso von Gudensberg oder vom Könige selbst bestochen, sagte vor diesem aus, der Herzog Otto habe mit ihm oft von Heinrichs Ermordung gesprochen, jetzt aber durch viele Belohnungen ihn zur Unthat gewinnen wollen. Der König lud die Großen Sachsens, welche gegen den Herzog Privathaß hegten, zu einem Fürstengerichte vor sich und forderte von ihnen Gericht über jenen. Alle beschuldigten ihn des MajestätsverbrechenS, als offenbarer Schuld überwiesen und des Todes schuldig. Des Königs Anhang machte sich alsbald auf, ihn mit Feuer und Schwert zu verfolgen. Otto aber hatte einen wohlgesinrten Freund, den Grafen Magnus, Sohn Ottos, des sächsischen Herzogs, einen edlen Jüngling, in Friedenszeit streng in Recht und Gesetz, in den Waffen kühn und tapfer. Im offenen Kampfe war Otto anfangs im Vortheile, und auch fein Schwiegersohn Welf, der Sohr des Markgrafen Azzo von Este, unterstützte ihn mit Waffen und Rath, trat aber später auf des Königs Seite, um das erledigte Herzogthum Baiern zu gewinnen, welches ihm euch auf die Fürsprache des Herzogs von Schwaben übergeben wurde. So mußte sich auch Otto endlich ergeben und wurde nebst seinen Anhängern unter den Reichsfürsten vom Könige in Gewahrsam gehalten. Inzwischen (seit 1069) war es dem Erzbischöfe Adalbert von Bremen gelungen, wieder an dm Hof des Königs zu kommen, dessen Gunst und die Leitung des Reiches wiederzugewirnen; doch starb er schon im März 1072. Die allgemeine Unzufriedenheit des Volles

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über die Bedrückungen jeder Art hatte die Folge, daß Heinrich auf den Rath der Fürsten den Erzbischof Anno von Köln wieder (April 1072) zur Theilnahme an den Reichsgeschästen rief. Er überließ von da an alles der Willkür des Erzbischofs, der, rechtlich und gewissen­ haft, ohne Rücksicht auf Person, nur daS Wohl des Staates und das Heil der Kirche wollte. Unter ihm erhielt auch Egino, jener feile Ritter, gerechten Lohn. Weil man ihn öfters des Raubes und anderer Schandthaten angeklagt, ließ ihn der Erzbischof in Ketten werfen und vor dem Volke zur Schau ausstellen. Bei allen gewann der Reichsverwalter Achtung und Ehrfurcht, bei vielen Liebe. Am Pfingstfeste 1072 kam nach einjähriger Haft Otto, der Baiern Herzog, zum Könige und zu dessen Gnade und gab diesem vieles von seinen Gütern. Aber Magnus, den treuen, tapferen Sachsen, hielt Heinrich noch gefangen; ihm zürnte er mehr, denn Otto. Das schmerzte diesen bitter; die Gunst, die ihm der König dargeboten, wollte er nicht durch die Knechtschaft seines treuen Verbündeten erkaufen. Er sann auf Rache und suchte Gleich­ gesinnte. Die fand er bald: der König machte sie ihm selbst, denn das Mißtrauen zwischen diesem und den Fürsten dauerte fort. Besonnenen Männern, welche die Zukunft erwogen, schien eine schwere Zeit bevor­ zustehen. Solchen Kummer trug längst auch der rechtliche Anno von Köln, welcher bisher die Leidenschaften des Königs so viel als möglich gezügelt hatte. Ihn drückte hohes Alter. Da trat er vor den König und bat, daß er die schwere Last der Staatsverwaltung von ihm nehme. Der König that es nicht ungern; denn manche ernste Ermahnung hatte er von ihm hören müssen, manche jugendliche Leidenschaft war in ihm durch die Strenge und Festigkeit des Greises beschränkt worden. Hauptsächlich bekümmerte den frommen Mann das Feilschen mit Bisthümern und Abteien am königlichen Hofe, wodurch selbst sein Name am Stuhle des Papstes in Verdacht zu kommen anfing. Zwei Völker, die Sachsen und Thüringer, standen damals, voll feindlicher Gesinnung gegen ihren .Oberherrn, den König, zum blutigen Kampfe bereit, beleidigt, geschmäht, gereizt durch Raub und Zertretung des Heiligsten, der Freiheit, des Rechtes; alles durch einen König, der nur auf Unterdrückung sann, ohne selbst seine Leidenschaften zu zähmen, der Gehorsam befahl, ohne ihn selbst gegen Gesetz und Verordnung zu üben, der Unrecht und Gewaltthat bestrafte, während die Seinen unter seinen Augep Greuel und Verwüstung jeder Art sich erlaubten. In dieser Noth beschlossen beide Völker den Krieg. Stach Ioh. Voigt, Hildebrand alS Papst Gregor VII. und sein Zeitalter.

11. Die Schlacht bei Hastings. Nachdem Knut der Harte oder Harthaknut bei einem Hochzeitsfeste mitten unter den Zügen aus dem Pokale vom Schlagflusse getroffen und bald darauf kinderlos verschieden war, kehrten die Angelsachsen zu ihrem alten Herrscherhause zurück, welches noch in den Nachkommen Edmunds Eisenseite in Ungarn und in dessen Bruder Edward fortlebte. Letzterer, der Sohn Ethelreds, ward sofort in London als König ausgerufen. Edward hatte nicht nur die Iünglingsjahre, welche den Neigungen und dem Charakter ihre feste Richtung zu geben pflegen, sondern auch die folgenden in einem durch Klima, Sitte, Sprache von seinem Vaterlande nicht wenig verschiedenen Lande zugebracht. Je höher die geistigen Genüsse ihn erhoben, welchen er in seiner friedlichen, mußevollen Stellung sich hingeben durfte (und eine hingebende erleuchtete Frömmigkeit war eS, welche ihm nach seinem Tode den Beinamen des Bekenners verdiente), desto stärker mußte bei ihm die Über­ zeugung sich gestalten, daß die Theilnehmer der ihn beseligenden Stimmungen auf sein ganzes Zutrauen ein Anrecht hätten. Die rohen Sitten der anglodänischen Magnaten widerten ihn an; der unabhängige Sinn der angelsächsischen Geistlichkeit, welche durch Sprache und alte Traditionen von der römischen Kirche stets getrennt blieb, erschien dem

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rechtgläubigen Katholiken nicht viel bester als Ketzerei. Vor allem bemühte sich daher Edward, normannische Geistliche in sein Reich zu ziehen und dadurch dem römischen Stuhle näher zu bringen. Die Nation hätte die allmähliche Einsetzung fremder Prälaten vielleicht er­ tragen, wenn nicht auch die mächtigen weltlichen Herren des Landes durch die fremden Günstlinge des Hofes beschränkt worden wären. Diesen fremden Rathgebern gelang es nicht nur, Edwards Schwiegervater Godwine und dessen Söhne vom Hofe zu entfernen, sondern sie bewogen den König auch, sich von seiner Gemahlin Edgythe zu trennen, die er zu seiner Schwester in ein Kloster schickte. Doch erkämpften die Godwines mit Waffen­ gewalt sich eine triumphirende Rückkehr, alle wurden in ihren früheren Besitz wieder ein­ gesetzt und auch die Königin zu ihrem Gemahle zurückgeführt. Die Herstellung der Ordnung im Innern zeigte auch bald glückliche Folgen in den nachbarlichen Verhältnissen. Macbeth, welcher den milden König Duncan 1039 hatte er­ morden lasten, war, vermuthlich wegen verweigerter Huldigung, in ein feindseliges Ver­ hältnis zu England gerathen. Bei ihm hatten geflüchtete Normannen willkommene Auf­ nahme und Schutz gefunden. Schotten und Normannen fochten vereint gegen Siward, den Earl von Northumbrien, welcher, durch riesenhaften Körperbau und Kraft der Gesin­ nung die Helden der Vorzeit vergegenwärtigend, auf des Königs Edward Geheiß mit be­ trächtlichen Reiterschaaren und einer Flotte den Usurpator in seinem Reiche angriff (1055). Viele Tausende von Schotten, alle normannischen Truppen fielen. Doch auch viele von Siwards und des Königs Haustruppen waren, tapfer kämpfend, auf der Wahlstatt geblieben. Duncans Sohn, Malcolm Ceanmore, der bisher nur die Krone von Cumberland getragen hatte, empfing Schottland zu Lehen vom König Edward. Bei der Kinderlosigkeit des Königs machte auf den englischen Thron Ansprüche Herzog Wilhelm von der Normandie als Neffe der Mutter Edwards, und die Normannen behaup­ teten, Edward habe dem Herzoge Wilhelm durch Harald, Godwines Sohn, die Versicherung geben lasten, daß er ihn zum Erben der englischen Krone ernannt habe, was wenig wahr­ scheinlich ist, da der König den rechten Erben (Edgar, Edmunds Eisenseile Enkel) aus Ungarn hatte herbeiführen lasten. Als nun Edward bei seinem Tode 1066 auf Ansuchen seiner Barone der Königin Bruder, Harald, zu seinem Nachfolger bestimmte, rüstete sich Herzog Wilhelm zur Eroberung des ihm angeblich vererbten Reiches. Wilhelm war in seinem Parke bei Rouen mit Pirschen beschäftigt, als das Schreiben eines Normannen zu London ihm den Tod des vorigen Königs und die Erwählung Haralds meldete. Der Bogen entfiel seiner festen Hand; in der heftigsten Gemüthsbewegung riß Wilhelm bald den Mantel auf, bald knüpfte er ihn wieder zu. Schweigend fuhr er auf der Seine nach seinem Palaste zu Rouen zurück, wo die staunenden Hofleute den Fürsten zu befragen nicht wagten. Nur der spater ankommende Seneschal wußte sein Süllschweigen zu brechen, indem er von der wohlerrathenen Ursache deffelben zu sprechen begann. Gesandte wurden darauf an Harald entboten, um ihn an die dem Herzoge gegebenen Versprechungen zu erinnern und zu deren Erfüllung aufzufordern. Als Harald jene Aufforderung ablehnte und, auf die Drohung eines Krieges, nunmehr auch die letzten in England zurückgebliebenen Normannen aus seinem Reiche jagte, so erklärte Wilhelm seinen Brüdern, so wie seinen übrigen mächtigen Vasallen den Plan, seine Rechte auf England zu erfechten. Im Monate August war die Flotte zu St. Valery versammelt; doch widrige Winde hielten sie dort vier Wochen auf. Schon wurde der Unterhalt des großen Heeres von mehr als 50000 Kriegern sehr schwierig, und schon war die bisher gehandhabte Strenge der Disciplin kaum länger zu behaupten: da ließ der Herzog die Reliquien des Schutzpatrones jener Stadt, des heiligen Valerius, in einer Prozession herumtragen, um die unruhige' Maste zu zerstreuen und zu ermuthigen. Der nächste Sonnenuntergang brachte den gün­ stigster Wind, und der Morgen des anbrechenden 27. Septembers sah das Gewimmel unzähliger Schiffe sich auf der Rhede entfalten und auf das hohe Meer hinbewegen. Ein

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Theil der Flotte landete, ohne Widerstand zu finden, zu Pevensey, der andere Theil zu HastingS. Dieses geschah am St. Michaelistage des Jahres 1066. Ein Heer von 60000 Mann wurde jetzt ans Land gesetzt, des Krieges gewohnt, nach Beute begierig, unter einem Führer, desien Muth und Geistesgegenwart unerschütterlich war. Die Schiffe ließ er sofort auf das Land ziehen, abtakeln und unter sichere Obhut stellen, damit weder Feige sie zur Flucht mißbrauchen, noch die englische Flotte sich leicht derselben bemächtigen köunte. Die Normannen verheerten von Hastings aus die umliegende Gegend so sehr, daß dieselbe nach zwanzig Jahren noch wüste und öde lag. Die Nachricht von diesen Freveln gab Haralds Schritten Flügel, und schon am 13. Oktober traf er bei seinem in Eilmärschen herbei­ gerückten und durch von König Svend gesandte dänische Hülfstruppen vermehrten Heere ein, welches auf den Hügeln unweit Hastings sich gelagert hatte. Das Heer der Normannen unterschied sich von dem der Engländer besonders durch beffere Reiterei, in welcher letztere sehr zurückgeblieben waren, während jene sogar eine große Anzahl guter Rosse über das Meer mitgebracht, ferner auch durch wohlgeübte Bogenschützen. Das englische Heer war größtentheilS mit Streitäxten bewaffnet, in deren Gebrauche es sich auszeichnete; doch ent­ behrten viele in demselben eigentlicher Kriegswaffen und waren uur mit Kolben, eisernen Furken, Schleudern und Knüppeln gerüstet. Die Normannen rückten heran, Harald er­ wartete sie kühn und ruhig, doch als ihre großen Massen, besonders die Reiterschaaren sich entfalteten, hätte ihn bald seine Fassung verlassen, da er keine so große Zahl der Feinde erwartet hatte. Man hörte die Angelsachsen Gott und Christum anrufen. Sogleich ent­ brannte der Kampf auf drei Stellen. Der erste Schlag war durch einen edlen, kunst- und sangreichen Ritter, den das Geschmeide des Waffenschmieds, wie das des Dichters zierte, gefallen; Taillefer war der Name, unter dem das Heer ihn kannte. Er hatte vom Herzoge sich diese Gunst erbeten und ritt vor demselben her, mehrere in der Morgensonne strahlende Schwerter spielend in die Höhe werfend und auffangend und mit laut hinschallender Stimme das Heldenlied von Roland und dem großen Karl, Oliver und den Tapfern, welche zu Ronceval gefallen, singend. Eines der Schwerter war nicht in seine Hand zurück­ gefallen, doch war es geschickt geworfen; ein englischer Baunerträger, von demselben getroffen, sank zu Boden. Mit dem zweiten Schwerte hatte er nicht schlechter gezielt. Der Schrecken, welchen diese kühne That verbreitete, war dem ersten Angriffe der Normannen günstig, doch währte es nicht lange, bis sie von dem starken Arme der Angelsachsen zurückgedrängt wurden. So groß die Tapferkeit einzelner Normannen war, so unermüdlich Herzog Wilhelm, Bischof Odo und andere hochgestellte Mantter itt begeisternden Reden und im hartnäckigsten Kampfe sich bewährten, so siegte dennoch die größere Einheit und Ordnung der Angelsachsen. Das herrliche spanische Roß, welches eine von St. Jago di Compostella heimgekehrte Pilgerin dem Herzoge aus Galizien mitgebracht hatte, hernach zwei andere Rosse wurden dem kühnen Kämpfer an jenem Tage verwundet, man hielt ihn für erschlagen. Graf Eustaz von Boulogne rettete ihn aus den feindlichen Schaaren. Hier bewährte sich die vereinte Kaltblütigkeit, Energie und der Schnellblick des Feldherrn, der Reiche zu erobern versuchen durfte. Er eilte mit zurückgeworfenem Helme zu den Fliehenden, gab sich zu erkennen als lebend und zuversichtlich siegend; ihrer Ehre, ihrem Antheile des Sieges, bat er sie, nicht zu entsagen und unvermeidlichem Verderben sich schmählich zu überliefern. Der Angriff wandte sich sofort gegen das Hauptheer der Engländer. Schon war die dritte Nachmittagsstunde ge­ kommen, als Wilhelm erkannte, daß es ihm unmöglich sein würde, die festen Mauern der angelsächsischen Schlachtordnung umzuwerfen. Mit ungebändigtem Siegesjubel verließen jetzt die Angelsachsen ihre Reihen und stürzten, in vielen kleinen Schaaren sich vereinzelnd, von ihrem höheren Standpunkte in die Ebene hinab hinter den nach allen Seilen eilenden Feinden voll Hohnes her. Da erscholl der Ruf der normannischen Hörner, die Feinde wandten sich um, die Reiter derselben fielen in den Rücken der zerstreuten Engländer, deren Tod und Niederlage entschieden war. Die Normannen, welche nicht mit unerbittlicher

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Verfolgung der Engländer beschäftigt waren, übernachteten auf dem Schlachtfelde. Wilhelm ließ, wie in England schon König Knut seine Schlachtfelder geweiht hatte, eine reich begabte Abtei daselbst errichten, welche den Namen La Bataigle, Battle Abbey führte. Gythe, Haralds Mutter, bot dem Herzoge für die Leiche ihres Sohnes deren Gewicht in reinem Golde; doch schlug dieser die Bitte ab, da dem, welcher so vieler Mitmenschen Elend durch seinen Treubruch veranlaßte, kein Ehrengedächtnis werden dürfe. Nach anderen späteren Nachrichten haben Mönche den Körper des König- in ihre von Harald gestiftete Abtei getragen und daselbst bestattet. Eine dunkle Sage erhielt sich bei dem Volke, daß ihr König noch nicht gestorben, sondern vom Schlachtfelde gerettet sei, in einer Eremitenzelle zu Chester lange gelebt habe und in der dortigen St. Johanniskirche begraben sei. Es ist schwer, hierin mehr als die Sehnsucht des unterdrückten Volke-, den König ihrer Nation wiederzufinden, zu erkennen, eine Sehnsucht, welche oft in ähnlichen Lagen die auf­ fallendsten Täuschungen und den festesten Volksglauben hervorgebracht hat, wobei wir an Sebastian von Portugal, den deutschen Kaiser Friedrich und andere kaum zu erinnern brauchen. Rach Lappenberg- Gesch. von England.

12. Der deutsche Orden. Schon hatten sich die beiden Ritterorden der Johanniter und der Templer in ihrer eigenthümlichen Verfaffung für Krankenpflege und ritterlichen Kampf ziemlich au-gebildet, als umS Jahr 1128 ein frommer Deutscher, tief gerührt vom jammervollen Elende der Pilgrime seines Volkes, aus seiner Habe in Jerusalem ein Pilgerhaus erbauen ließ und es der Pflege der erkrankten Deutschen widmete. Man nannte eS bald da- deutsche Haus, das deutsche Hospital zu Jerusalem; es war die erste Wiege des deutschen Ordens. Mit einem Bethause versehen und unter den Schutz der Jungfrau Maria gestellt, erweiterte sich bald sein Umfang und seine Wirksamkeit in der vermehrten Zahl der Pilgrime und derer, die sie pflegten. Durch einen weißen Mantel sich vor den übrigen deutschen Pilgern auszeichnend, nannten sie sich Brüder des St.-Marien-Hospitals zu Jerusalem. Die Regel des heiligen Augustinus bestimmte ihre Lebensweise. Da bald auch deutsche Ritter und andere Edle aus deutschen Landen, in den Brüderverein eintretend, zur Zeit dringender Noth das Schwert zur Vertheidigung des heiligen Landes ergriffen, so näherten sich die deutschen Brüder in ihrer Bestimmung und Wirksamkeit mehr und mehr den Orden der Templer und Johanniter, und diese wurden ihnen Vorbild und Muster in ihrer Lebensweise und ihren Pflichten. Fast GO Jahre wirkte so die fromme Stiftung des deutschen Brüder­ vereins zur Linderung menschlichen Elendes fort, von der Geschichte der Zeit in ihrem stillen Leben kaum beachtet, als mit dem Verluste der heiligen Stadt an Saladin auch ihr der Untergang drohte. Zwar durften die Hospitalbrüder auf Saladins Erlaubnis auch fernerhin in Jerusalem verweilen, solange noch die Pflege und Wartung der Kranken und Unglücklichen dort ihre Gegenwart verlangten; allein der größere Theil verließ mit den übrigen Christen die heilige Stadt, um fortan mit dem Schwerte die Sache Christi zu vertheidigen. Sie lagen mit den Rittern des Templer- und Johanniterordens vor Akkon, als Herzog Friedrich von Schwaben, Kaiser Friedrichs!. Sohn, im Herbste 1190 dort mit einem neuen Pilgerheere ankam. Die Stadt, von einer starken türkischen Bejsatzung vertheidigt, ward vom christlichen Heere belagert. Alles aber, was menschliches Elend und Unglück heißt, Hungersnoth und Verzweiflung, Seuchen und Tod, erfüllten b ald das christliche Lager. Am meisten litten die deutschen Pilger, die durch die Mühseligkeilen,. Gefahren, Entbehrungen und Kämpfe auf der Pilgerfahrt ermüdet, entkräftet und erkrankt, vor Akkon endlich an­ gelangt, dort nicht einmal eine Erleichterung und Hülfe fanden, wie die Tempelherren und die Bmder des Johanniterordens sie den Pilgern aus Frankreich und Italien zu Theil Dieitz u. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur. 2. Aufl.

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werden ließen; denn die geringe Zahl von Brüdern des deutschen Hospitals zu Jerusalem, die unter den Johannitern mit vor Akkon gezogen waren, vermochte wenig zur Milderung des Elendes zu wirken. Da traten zuerst einige Bürger aus Lübeck und Bremen, die unter der Kreuzfahne deS Grafen Adolf von Holstein mit inS heilige Land gepilgert waren, voll christlichen Mitleids zusammen, um unter dem Schutze ihrer Schiffssegel, die sie als Zelte aufgeschlagen, kranke deutsche Pilger zu pflegen und zu erquicken, so viel es ihnen möglich war. Mit ihnen aber verbanden sich bald zum christlichen Werke des Mitleides und der Liebe auch die Brüder des deutschen Hospitals zu Jerusalem, so viele ihrer im Lager waren. Je schöner und erfreulicher der Geist reiner menschlicher Liebe und christlicher Milde in dem frommen Werke lebte und wirkte, mit um so größerem Wohlgefallen sah auch Herzog Friedrich von Schwaben auf daffelbe hin, und hinblickend auf die beiden schon bestehenden Ritterorden, auf den der Templer, der zumeist für die Pilger aus Frankreich, und auf den der Johanniter, der für die aus Italien gestiftet und bestimmt war, faßte er den Gedanken auf, auch für die Deutschen eine ähnliche Stiftung zu begründen. In einer Rathsversammlung von Fürsten und Bischöfen, des Königs und des Pa­ triarchen von Jerusalem, der beiden Meister vom Tempel- und Johanniterorden und vieler Herren des Abend- und Morgenlandes sprach Herzog Friedrich seinen Entschluß zur Stiftung des neuen Ordens aus. Er fand Beifall und Billigung. Alsbald erhielten die Meister der beiden genannten Orden, der Patriarch von Jerusalem und andere hohe Geistliche den Auftrag, sich über Regel und Gesetz des neuen Ordens zu berathen, und sie fanden für zweckmäßig, für ihn die Regeln und Gesetze der Templer und Johanniter also zu verbinden, daß die Ritterbrüder des neuen Ordens als Kämpfer und Streiter für die Sache Christi und der Kirche an das Gesetz und die Ordnung der Tempelherren gehalten, ihre Pflichten aber in christlicher Mildthätigkeit und Pflege der Unglücklichen und Leidenden nach den Regeln der Johanniter geordnet sein sollten. Die Jungfrau Maria sollte auch fortan ihre Schutz- und Schirmherrin sein; darum sollten auch die Glieder des Ordens „ Ritter unserer lieben Frauen " oder „ Brüder des Hospitals unserer lieben Frauen der Deutschen zu Jerusalem" genannt werden. Und als 1191 der Papst Clemens III. und der deutsche König Heinrich VI. der ritterlichen Stiftung ihre Bestätigung ertheilt hatten, er­ folgte die förmliche Einw eihung von vierzig Rittern edlen Stammes und frommen Wandels, die den ersten ritterlichen Brüdervcrein bildeten. Der Patriarch legte ihnen als Ordens­ gewand ein geweihtes weißes Nitterkleid mit einem schwarzen Kreuze an und erklärte den Orden mit allem seinem Besitze in den Schutz des heiligen Petrus. Der König von Jerusalem aber schrieb ihnen im Auftrage deö Papstes und des römischen Königs als die wichtigsten ihrer Pflichten vor: ritterlicheu Dienst zum Schutze und zur Vertheidigung des heiligen Landes, unablässigen Kampf gegen die Feinde Christi, Beschirmung der Kirche und ihrer Diener, mildreiche Hülfe gegen Wittwen und Waisen und Pflege der Kranken und Leidenden. Darin solle für alle Zeiten der Orden seine unabänderliche Bestimmung erkennen. Ein Meister des Ordens sollte zur Obhut über Ehre, Ordnung und Zucht stets an seinerSpitze stehen. Der fromme und tapfere Ritter Heinrich Walpot von Baffenheim aus den Rhein­ landen war es, den man als den Würdigsten zuerst zum Meister erkor. So war der deutsche Orden vor Akkons Mauern entstanden, der, wie er damals den Kampf gegen die Ungläubigen tut Morgenlande als Pflicht auf sich nahm, so nachmrls die Heiden in Preußen überwältigen und der christlichen Kirche zuführen sollte. Nach Ioh. Voigts Geschichte PreufenS.

13. Walther von der Vogelweide. Walther von der Vogelweide hat nicht seine Persönlichkeit in der alten Heldensage deS deutschen Volkes untergehen lassen, noch hat er seine Kunst den Ritter- und Zaubermären

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vom heiligen Gral, von der Tafelrunde u. s. w. zugewendet, sondern er hat die Gegenwart ergriffen; er behandelt die verschiedensten Richtungen und Zustände der menschlichen Seele, er spiegelt in seinem besondern Leben daS öffentliche, er knüpft seine eigenen Schicksale, wenn auch in sehr untergeordnetem Verhältnis, an die wichtigsten Personen und,Ereignisse seiner Zeit. Diese Zeit war eine bedeutende, vielfach und stürmisch bewegte: die Verwirrung des Reiches nach dem Tode Heinrichs IV., der verderbliche Streit der Gegenkönige Philipp und Otto, Friedrichs II. Heranwachsende Größe, dessen Kämpfe gegen die päpstliche Allmacht, der Kreuzzüge wogendes Gedräng! Unscheinbar allerdings ist das Auftreten unseres Dichters auf der Bühne dieser Welt­ begebenheiten. Schon darüber könnten wir verlegen sein, wie wir ihn zuerst in die Welt einführen; denn sein Ursprung ist bis jetzt nicht mit Sicherheit erhoben. Der Dichter selbst gedenkt nur einmal des Landes, wo er geboren ist, aber ohne es zu benennen.' Die erste bestimmtere Ortsbezeichnung ist es, wenn er meldet: „Zu Österreich lernte ich singen und

sagen." Aus diesen Worten ist übrigens noch keineswegs zu schließen, daß er auch in Österreich geboren sei, eher das Gegentheil; denn sie bezeichnen gerade nur das Land seiner Bildung zur Kunst. In Österreich, wo die Kunst des Gesanges unter den Fürsten aus babenbergischem Stamme so schön gepflegt wurde, konnten die Lehrlinge derselben gute Schulen finden. Nach allen Anzeigen war Walther von adlicher Abkunft. Mit dem Titel „Herr", dem Zeichen ritterbürtigen Standes, redet er selbst sich an, und so wird er auch von Zeitgenossen benannt. Spätere nennen ihn „Ritter". Ansehnlich muß das adliche Geschlecht des Dichters in keinem Falle gewesen sein. Er sagt einmal: „Wie nieder ich sei, so bin ich doch der Werthen einer." Über seine Armuth klagt er öfters, und eben sie mag ihn bewogen haben,

aus der Kunst des Gesanges, die von andern aus freier Lust geübt ward, ein Gewerbe zu machen. , Zn Österreich lernte ich singen und sagen."

Mit diesen Worten des Dichters treten

wir zuerst aus dem Gebiete der Fabel und der Vermuthung auf einen festeren Boden. Es lassen sich zweierlei Zeiträume bestimmt unterscheiden, in welchen der Dichter am Hofe der Fürsten von Österreich aus babenbergischem Stamme gelebt hat. Er befand sich dort unter Friedrich, von den Spätern der Katholische genannt, der von 1193 bis 1198 am Herzogthume war, und kam dorthin zurück unter Leopold VII. dem Glorreichen vor dem Jahre 1217. Diese beiden Fürsten waren Söhne Leopolds VI. des Tugendreichen, Herzogs von Österreich und Steher, der zu Anfang des Jahres 1193 gestorben war. Friedrich, der

ältere Sohn, ließ sich 1195 mit dem Kreuze zeichnen, reiste 1197 nach Palästina ab und starb 1198 auf der Kreuzfahrt. Mit ihm muß dem Dichter vieles zu Grabe gegangen sein. In einem geraume Zeit nachher gedichteten Liede rechnet er den Anfang seines unsteten und mühseligen Lebens eben von dem Tode Friedrichs an und schildert seine Trauer um den fürstlichen Gönner lebendig genug. „Da Friedrich aus Österreich also warb, daß er an der

Seele genas und ihm der Leib erstarb, da drückte ich meine Kraniche (Schnabelschuhe) tief in die Erde, da ging ich schleichend wie ein Pfau, das Haupt hängt' ich nieder bis auf meine Kniee." Wenn uns gleich der Dichter von den Schicksalen seiner früheren Lebenszeit keine bestimmtrre Nachricht giebt, so ist uns doch, bevor wir ihm weiter folgen, ein verweilender Blick h seine Jugend gestattet. Er zeigt uns den Zeitraum, worein solche gefallen, im Widerscheine seiner späteren Lieder. „Hiervor war die Welt so schön!" ruft er klagend aus. O weh, daß er nicht vergessen kann, wie recht froh die Leute waren! Soll das nimmer­ mehr geschehen, so kränket ihn, daß er's je gesehen. Jetzt trauern selbst die Jungen, die doch vir Freude sollten in den Lüften schweben. Dieses unfrohe Wesen rügt er an mehreren Steller; es gilt ihm, wie anderen Dichtern der Zeit, für ein sittliches Gebrechen, so wie umgekchrt die Freude für eine Tugend. „Niemand," sagt er, „taugt ohne Freude:" Und

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allerdings ist eS nicht selten die sittliche Beschaffenheit deS Gemüths, hier des wohlgeordneten, dort deS in sich zerfallenen, woraus Frohsinn oder Mißmuth entspringen. Ob Walther außer dem Unterrichte in der Kunst deS Gesanges irgend eine Art von gelehrter Bildung genoffen, ist nicht ersichtlich. Nirgends eine sichere Spur, ob er deS Lesens und Schreibens kundig war. DaS Leben hat ihn erzogen; er hat gelernt, waS er mit Augen sah, das Treiben der Menschen, die Ereignisse der Zeit waren seine Wissenschaft. Manches Lied, daS über seine Lebensgeschichte vollständigeres Licht verbreiten könnte, mag verloren gegangen sein. In denjenigen, die auf uns gekommen sind, erscheint er als ein Mann von gereiftem Alter, und in mehreren zeigt er sich am Ziel seiner Tage. Seine Gedichte tragen im allgemeinen das Gepräge der Welterfahrenheit, des Ernstes, der Betrachtung. Bis zur eigenen Qual fühlt er sich zum Nachdenken hingezogen, und er spricht daS bedeutsame Wort: „Ließen mich Gedanken frei, so wüßte ich nicht um Ungemach." Er stellt sich unS in einem seiner Lieder dar auf einem Steine sitzend, Bein über Bein geschlagen, den Ellenbogen darauf gestützt, Kinn und Wange in die Hand geschmiegt und so über die Welt nachdenkend. Damit bezeichnet er treffend daS Wesen seiner Dichtung, und sinnreich ist er in zwei Hand­ schriften vor seinen Liedern in dieser Stellung abgebildet. DaS Jahr 1198, in welchem der Dichter seinen fürstlichen Gönner in Österreich verlor, war auch ein Wendepunkt in der Geschichte der Zeit. In diesem Jahre wich der Friede, der in den letzten Jahren Kaiser Friedrichs I. und während der Regierung Heinrichs VI. in Deutschland geherrscht hatte, den langwierigen und verderblichen Kämpfen der Gegenkönige. Heinrich VI. war im Herbst 1197 zu Messina gestorben, sein dreijähriger Sohn Friedrich blieb unter Vormundschaft deS Papstes als König in Sicilien. Die deutschen Fürsten hatten ihn noch bei Lebzeiten seines BaterS als Nachfolger auf dem deutschen Throne anerkannt. Aber Jnnocenzlll., der kur; nach deS Kaisers Hintritt im kräftigsten Alter zum Oberhaupt der Kirche gewählt worden, wollte nicht wieder die Vereinigung der deutschen Krone mit der sicilischeu dulden und erklärte: da Friedrich noch nicht getauft gewesen, als man ihn zum römischen Kaiser erwählt, so brauche man sich hieran nicht zu kehren. Den Deutschen war nicht mit einem Kinde geholfen. In den sechsten Monat war daS Reich verwaist. Philipp von Schwaben, des verstorbenen Heinrich Bruder, hatte anfangs versucht, seinem unmündigen Neffen die Thronfolge zu erhalten; bald richtete er selbst sein Absehen auf die Krone. Auch diesem Hohenstaufen arbeitete der Papst entgegen. Otto von Braun­ schweig wurde zum Throne berufen. Die Reichskleinode, auf deren Besitz man damals großen Werth legte, waren in Philipps Händen. Schon früher war ein falsches Gerücht von Kaiser Heinrichs Tode das Zeichen zu allgemeiner Auflösung der gesellschaftlichen Ord­ nung gewesen. Jetzt nach des Kaisers wirklichem Hintritt erreichte die Verwirrung den höchsten Grad. Die ersten Lieder unsres Dichters, denen wir den Zeitpunkt ihrer Entstehung bestimmter nachweisen können, beziehen sich auf diese Ereignisse: ernstes Nachdenken über die Zerrüttung deS Vaterlands, Anklage des Papstes, dessen Umtriebe den Zwiespalt herbei­ geführt, Aufruf an Philipp, der Verwirrung ein Ende zu machen! Die Sänger jener Zeit waren nothwendig wandernde. Mochten auch die Herren, welche sich im Liede zur Kurzweil übten, auf ihren Burgen daheim bleiben; diejenigen, welche den Gesang zu ihrem Berufe gemacht, mußten sich auf den Weg begeben. Um Unterhalt und Lohn zu finden, mußten sie den Höfen und Festlichkeiten gesangliebender Fürsten nach­ ziehen. War doch der Hof deS Kaisers selbst ein wandernder, bald in dieser, bald in jener Stadt deS Reiches sich niederlassend. KrönungStage, Fürstenversammlungen, Hochzeitsfeste, das waren die Anlässe, bei welchen die Kunst- oder Prunkliebe der Großen sich cm frei­ gebigsten äußerten. Auch vom äußeren Lohne abgesehen, mußte der Dichter wanderr, wenn er mit den Angelegenheiten der Zeit bekannt werden, wenn er bei noch sehr unvollkommenen Mitteln der Verbreitung geistiger Erzeugnisse sich selbst Anerkennung, seinem Liede Wirk­ samkeit verschaffen wollte; darum war es den alten Meistern allerdings zu thun. So war

Erzählung.

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denn auch Walthers Leben daS eine- fahrenden Sängers. Er reist zu Pferde, vermuthlich die Geige mit sich führend. Daß er feine Lieder selbst vorgetragen, ist aus einigen derselben noch hörbar. Zu Hof und an der Straße läßt er sie ertönen. Er hat der Lande viel ge­ sehen. Bon der Elbe bis an den Rhein und wieder bis ins Ungerland hat er sich umgesehen; von der Seine bis an die Mur, von dem Po bis an die Drau hat er der Menschen Weise erkannt. Am Hofe von Österreich haben wir ihn zuerst getroffen, am Hofe von Thüringen finden wir ihn wieder. Hermann, Landgraf in Thüringen (1195—1215), behauptet eine ausgezeichnete Stelle unter den fürstlichen Freunden der Dichtkunst. Auch in dem Leben und den Liedern unseres Dichters spielt er eine bedeutende Rolle. Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, daß Walthers Aufenthalt an dessen Hofe um das Jahr 1207 stattgefunden, in welches der Krieg auf der Wartburg, worin Walther auftritt, von den Thüringer Chroniken gesetzt wird. Dieser Wettstreit hat zunächst daS Lob milder Fürsten zum Gegenstand. Heinrich von Ofterdingen erhebt den Herzog von Österreich; ihm treten Wolfram von Eschenbach u. a. entgegen, die den Landgrafen von Thüringen verherrlichen. Walther von der Vogelweide zeigt sich anfangs ungehalten auf Österreich und giebt dem Könige von Frankreich vor allen Fürsten den Preis. Nachher bereuet er, daß er sich von dem Österreicher loSgesagt, den er jetzt der Sonne ver­ gleicht; allein über die Sonne noch stellt er den Tag: Hermann von Thüringen. Von sich selbst meldet er, wie er zu Paris gute Schule gefunden, zu Konstantinopel, zu Baldach, zu Babylon Kunst und Weisheit erlernt habe. Hieraus ist wenigstens ersichtlich, daß Walther dem Verfasser des Gedichtes für einen weitgereiseten und in die Tiefen der Kunst ein­ geweihten Meister gegolten habe. Der Umgang mit den Mächtigen hat daS Urtheil des Dichters über die wahren Vor­ züge der Menschen keineswegs getrübt. Er sucht diese nicht in der Geburt. Den wahren Werth des ManneS begründen ihm drei Eigenschaften: Kühnheit, Milde, besonders aber Treue. So streng der Dichter hier und anderwärts gegen alles eifert, was er für schlecht erkannt hat, so scharf er auch zu spotten versteht, so erscheint dennoch sein Innerstes ungemein weich und milde. In sittlicher Beziehung zeichnet ihn das Zartgefühl, ja die Ängstlichkeit aus, womit er vorzubeugen sucht, daß sein Straflied nicht mit dem Schuldigen zugleich den Unschuldigen verletze. Seine gedrückte Lage, seine Abhängigkeit, von der Gunst oder Ungunst anderer hat ihn eingeschüchtert, und er lebt sein wahrstes Leben nur in der Einsamkeit und Heimlichkeit deS Gemüths. Er hütet sich, daß nicht die Leute sein verdrieße; mit den Frohen ist er froh und lacht ungerne, wo man weinet. Seiner selbst mächtig zu sein, gilt ihm für eine vorzügliche Tugend. „Wer schlägt den Löwen? Wer schlägt den Riesen? Wer über­ windet jenen und diesen? DaS thut jener, der sich selber zwinget." Nach dem Tode Philipps von Schwaben wurde Otto von Braunschweig allgemein als König anerkannt. Er trat den Römerzug an und wurde im Weinmond 1209 von Jnnocenz lll. als Kaiser gekrönt. Die von Otto vorgenommeue Herstellung der Reichsrechte in Italien aber war der Anlaß, daß sein bisheriges Einverständnis mit Jnnocenz sich in heftige Zwistigkeiten auflöste. Weil Ötto befürchten mußte, daß der Papst ihm in dem jungen Friedrich von Sicilien einen Gegenkönig aufstelen würde, brach er mit HeereSmacht in Apulien ein. Dagegen warf Jnnocenz auf ihn dm Bannstrahl und erweckte in Deutschland durch den Erzbischof von Mainz eine Partei für den sicilischen Friedrich. Der König von Böhmen, die Herzöge von Österreich und von Baiern, der Landgraf von Thüringen und viele andere erklärten den für den rechten König, dem man einst Treue geschworen, als er noch in der Wiege lag, und luden Friedrich nach Deutschland ein. Otto sah sich jetzt genöthigt, nach Deutschland zurückzukehren. Während er in Thüringen den Landgrafen bekriegte (im Sommer 1212), kam Friedrich, jetzt frnfzehn Jahre alt, nach Überstehung großer Gefahren und Mühseligkeiten zu Konstanz an. Zu gleicher Zeit erschien am anderen Ufer des Sees, zu Überlingen, Otto mit seinem Heer. Aber von vielen verlassen, konnte dieser sich nicht mit seinem Gegner messen.

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Historische Prosa.

Friedrich begab sich nach Basel, zog von da mit stets wachsendem Anhang den Rhein hinab, empfing auf dem Hoftage zu Mainz die Huldigung der Fürsten und traf zu Frankfurt mit dem Landgrafen Herrnanrr von Thüringen zusammen, den er auf daS ehrenvollste in die Stadt führte. Auf welchem Wege auch Walther dem neuen Könige nahe gekommen sein mag, wir treffen ihn jetzt, wie er , des irren Lebens müde, den König Friedrich II. bittet, ein Heim­ wesen ihm zu begründeu. Lange genug ist er Gast gewesen; er sehnt sich danach, Wirth zu heißen. Ein Reichölehen ist es, worauf er abzielt. Seine Lieder rühren des Königs Herz. Der Wunsch wird erfüllt. Er hat dem König versichert, wenn er seines Wunsches gewährt, wenn ihm eine Heimat geschaffen würde, dann wollte er singen vom Vögelein, von der Haide, von Blumen und von schönen Frauen. Er bezeichnet damit die Bestand­ theile des Minnesangs. Wir finden denn auch bei ihm jene bekannten Gattungen und Formen des Minne­ lieds: spielende Wonne und sehnendes Leid im Sommer und Winter, dienstliches Werben, Gespräch zwischen Ritter und Frau, Meldung des Boten, Trennung der Liebenden, wenn der Tag durch die Wolken scheint, Hülferuf an Frau Minne, Klage über die Merker, ein verhaßtes Geschlecht, das die Freuden der Liebe belauert und stört. Gleichwohl ist es nicht die tiefere und anhaltende Leidenschaft, die Walthers Minnelieder auözeichnet. Es ist sogar nicht zu leugnen, daß mehrere an einer gewiffen Trockenheit leiden. Das Selbstbewußtsein, die Überlegung ist in manchen sehr vorherrschend. Er ergreift immer durch die sinnliche Kraft seiner Darstellung, durch die Anschaulichkeit und den Farbenglanz seiner Lebensbilder. Das Gepräge der Meisterschaft erkennen wir an den Liedern unsres Dichters vornehmlich in dem Einklänge von -Inhalt und Form. Der Gegenstand ist durch die Form harmonisch begrenzt, und die Form ist durch den Gegenstand vollständig auSgefüllt. Für das bloße Spiel mit Formen ist Walther zu gedankenreich. Eben darum sind auch seine Formen in der Mannigfaltigkeit einfach. Es ist eine ansehnliche Stufenleiter von Tönen, auf der er sich vom einfachsten Volks­ liede bis zu jenen großartigen Königöweisen erhebt. Aber stets geht der Inhalt gleichen Schrittes mit der Form, nnd schon der äußere Bau seiner Gedichte läßt auf ihren Gegen­ stand schließen. Der fröhlichen Weise des Volksliedes entspricht die Lebensfrische des In­ halts, und die volleren, gezogenen Töne sind in Übereinstimmung mit der Würde der

Person, an die daö Lied gerichtet ist, mit der Wichtigkeit dcö Gegenstandes, mit der Fülle der Gedanken. Die Spiele der Reimkunst sind ihm zwar nicht unbekannt, doch bedient er sich ihrer mäßig und versteht sie scherzhaft anzuwenden. Er hat zu gewißen Formen Vor­ liebe und kehrt häufig zu ihnen zurück; aber auch hierin verfährt er nach richtigem Ermessen. Die Betrachtung und die bildnerische Darstellung lieben Stetigkeit, die Leidenschaft, die Empfindung den Wechsel der Formen. Walthers Gedichte bilden greßentheils nur eine Strophe. Der Bau eines solchen Gesetzes ist aber genugsam in sich gegliedert, um für eine vollständige Darstellung aus­ zureichen. Unser Meister setzt seine Gedichte nicht zusammen, er schasst sie von inneu her­ aus. Ist der Gedanke dargelegt, daö Bild hingestellt, so ist auch das Gedicht abgeschlossen. Bedarf ja doch gerade der kräftigste Gedanke, das klarste Bild zu seiner vollständigen Er­ scheinung am wenigsten der Ausführlichkeit. In einem Theile von WaltherS Gedichten findet sich die Grundform, keineswegs aber die überkünstliche Verwickelung des späteren meistersängerischen Strophenbaues. Ebenso ist die prunkende Gelehrsamkeit und der über­ ladene Bilderschmuck der späteren Dichter ihm fremd. Er ist mehr gestaltend als bilder­ reich. Die Kunst ist ihm eine hohe Sache. Darum entrüstet er sich denn auch vielfältig gegen die Verderber und Entwürdiger derselben. Die Beziehungen, worin wir unsern Dichter zu seinen Kunstgenoffen finden, die achtungsvollen Äußerungen, welche wir von

gleichzeitigen und späteren Meistern über ihn vernehmen,

führen auf die Frage,

welches

Erzählung.

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die Stelle sei, die derselbe in der Geschichte der deutschen Dichtkunst überhaupt ein­ nehme. Der innere Werth, die Menge und Mannigfaltigkeit seiner Lieder, die Länge und poetische Wichtigkeit des Zeitraums, in welchem er gesungen, müssen ihm schon auf den ersten Anblick eine bedeutende Stelle sichern. Sein dichterisches Wirken reicht hinauf in die erste Blüte des Minnesangs im letzten Viertel des zwölften Jahrhundert- und hin­ unter in den Übergang dieser Dichtungsweise zur Betrachtung und zum Lehrhaften gegen die Mitte deS dreizehnten; ja er selbst erscheint als derjenige, der zuerst das jugendlich spielende Lied zur Männlichkeit gekräftigt. Aus der Blüte der Phantasie und der Empfin­ dung reift ihm die Frucht des Gedankens; die Formen des Minnelieds dehnt er aus, damit sie vermögend seien, die Sache des Vaterlandes, die Angelegenheiten des Reiches und der Kirche zu fassen. Wenn er gleich über den Zerfall des Minnesangs Klage führt, so hat doch gewiß er selbst, nur in andrem Sinne, zerstörend auf denselben gewirkt. Je mehr die Wichtigkeit des Stoffes sich geltend machte, um so merklicher mußte d-s zartere Spiel der Poesie erliegen, und wenn in Walthers Liedern noch der Gedanke überall mit Poesie ge­ tränkt und umkleidet ist, so tritt dagegen bei seinen Nachfolgern immer mehr die Betrachtung in einseitiger Trockenheit und prosaischer Blöße hervor. Eben die Ungunst deS Geschickes, womit er vielfältig zu kämpfen hatte, konnte frühzeitig seinen Sinn auf das Höhere lenken. Die mannigfachen Erfahrungen einer langen Lebensbahn waren geeignet, ihm die Nichtig­ keit der irdischen Dinge aufzudecken. Mit tiefschmerzlicher Empfindung ist die Nichtigkeit des Irdischen besonders in dem großen Klagegesange dargelegt, den der Dichter anstimmt, nachdem er in späteren Jahren in das Land seiner Geburt zurückgekommen ist. Alles findet er umgewandelt; er wird an der Wirklichkeit irre; ihm ist jetzt das Leben eirtTraum. LauteS Wehe erhebt er über die Verderbnis und den Unbestand der Welt. Er will sich hinüber retten in das Heilige. Es kann mit Recht gefragt werden, was nach der Verschmähung des Irdischen dem Dichter das Göttliche sei, das ihn entschädige und erhebe. Eines seiner späteren Gedichte benennt uns den Kampf unter der Fahne des Kreuzes. Es ist bemerkenSwerth, wie der Dichter, der sonst um daS Gold der Fürsten geworben, jetzt, dieses ver­ schmähend, selbst eine Krone, die himmlische, erwerben möchte. Das heilige Land ist ihm die durch Gottes irdischen Wandel verklärte Erde, der Kampf um dieses Land eine höhere Weihe, ein Übertritt vom Dienste der Welt in den deS Himmels, der Tod in diesem Kampfe

der geradeste Pfad nach dem Reiche Gottes. Unsere Blicke sind dem Dichter in das Gebiet des Unendlichen gefolgt, und hier mag er uns verschwinden. Es ist und keine Nachricht von den äußeren Umständen seiner letzten Zeit geblieben, gleich als sollten wir ihn nicht mehr mit der Erde befaßt sehen, von der er sich losgesagt, und von seinem Tode nichts erkennen alS daS allmähliche Hinüberschweben deS Geistes in das Reich der Geister. Davon jedoch ist die Kunde vorhanden, wie seine irdische Hülle bestattet worden. In der Würzburger Liederhandschrift (aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts) findet sich die Nachricht, daß Herr Walther von der Vogelweide zu Würzburg zu dem Neuenmünster in dem Grasehofe begraben liege. In einer handschriftlichen Chronik aber ist eine liebliche Sage arfbewahrt. Im Gange des NeuenmünsterS, gewöhnlich Lorenzgarten genannt, sei Walther begraben unter einem Baume. In seinem Testament habe er verordnet, daß man auf seinem Grabsteine den Vögeln Weizenkörner und Trinken gebe; und, wie noch jetzt zu sehen fe:, hab' er in den Stein, unter dem er begraben liege, vier Löcher machen lassen zum täglicher Füttern der Vögel. Das Kapitel des Neuenmünsters aber habe dieses Vermächtnis für die Vögel in Semmeln verwandelt, welche an Walthers Jahrestage den Chorherren gegeben werden sollten und nicht mehr den Vögeln. Im Gange des vorbesagten Gartens, gewöhnlich im Kreuzgang, sei von diesem Walther noch Folgendes, in lateinischen Versen in ©teil gehauen, zu lesen: „Der du bei Leben, o Walther, der Vögel Weide gewesen bist,

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Blume der Wohlredeuheir, Mund der Pallas, du starbest. Damit nun deine Frömmigkeit den himmlischen Kranz erlangen möge, so spreche, wer dieses liest: Gott sei seiner Seele gnädig! * Name und Wappen des Dichters mögen zu jener Sage Anlaß gegeben haben. _________ Lhlirnd.

14. Konradin, der letzte Hohenstaufe. Nach der Schlacht bei Tagliacozzo oder bei Skurkola flohen Konradin, Friedrich von Österreich, Graf Gerhard von Pisa und mehrere Edle nach Rom und hofften im An­ gedenken der ihnen vor kurzer Zeit bewiesenen höchsten Theilnahme, hier thätige Hülfe zu finden. Aber obgleich der Statthalter Guido von Montefeltro sie freundlich und ehrenvoll empfing, obgleich einzelne, deren Schicksal an das ihrige festgeknüpft war, in der alten Gesinnung beharrten: so zeigte doch die immerdar wankelmüthige Menge hier so viel Gleich­ gültigkeit, dort so viel Furcht, daß man das Ärgste erwarten mußte, sobald sich (wie schon verlautete) die Orsini, Savelli und andere früher vertriebene Guelfen oder gar König Karl der Stadt nähern würde. Deshalb eilte Konradin heimlich mit seinen Freunden nach Astura zum Meere in der Hoffnung, wo nicht auf geradem Wege, doch über Pisa Sicilien zu erreichen und von dieser ihm befreundeten Insel aus den Kampf gegen Karl zu erneuen. Schon waren alle auf einem Fahrzeuge in die See gestochen, als der Herr AsturaS von dem Geschehenen Nachricht erhielt und auS Kleidung, Sprache, bemerkten Kostbarkeiten u. s. w. die naheliegende Folgerung zog, daß die Eingeschifften angesehene, von Skurkola her fliehende Personen, mithin auf jeden Fall für ihn eine erwünschte Beute sein müßten. Darum sandle er eiligst ein Schiff mit stärkerer Bemannung nach, welche dem erhaltenen Befehle gemäß verlangte, daß die Fliehenden sogleich zum festen Lande zurückkehren sollten. Groß war deren Schreck; als sie aber auf die Frage: „Wer ist der Herr von Astura?" zur Antwort erhielten: „Johannes Frangipani!" so faßten sie neues Zutrauen; denn Kaiser Friedrich II. hatte fast keine Familie so geehrt und belohnt, wie diese. Von ihm und seiner Mutter Konstanze erhielt Otto Frangipani, Johanns Großoheim, und Emanuel, sein Großvater, die ansehnlichsten Besitzungen im Neapolitanischen, welche auch während der Streitigkeiten mit den Päpsten nicht eingezogen wurden. Dem Vater Johanns und einem Vetter desselben kaufte der Kaiser ihre Güter ab und gab sie ihnen dann unentgeltlich als Lehn zurück; er zahlte ihnen ferner große Summen für den Schaden, welchen sie bei Un­ ruhen in Rom erlitten hatten, und baute von seinem Gelde ihre Häuser und Thürme wieder 1 auf. Endlich hatte Johann Frangipani selbst vom Kaiser den Ritterschlag erhalten, wodurch unter ritterlich Gesinnten ein heiliges Verhältnis begründet wurde. Dieser trostreichen Betrachtung stand andrerseits freilich auch Bedenkliches entgegen: Johanns Großmutter gehörte zur Familie Papst Jnnocenz' des Dritten; nach Kaiser Friedrichs Tode hatte die Familie Jnnocenz dem Vierten gehuldigt, und ein Frangipani (dessen mochte sich Friedrich von Österreich ängstlich erinnern) sollte ja dessen Oheim, Herzog Friedrich den Streitbaren, meuchelmörderisch umgebracht haben. Wohin sich aber auch daö Gewicht der Gründe und Gegengründe neigen mochte: eS gab keine Wahl; man mußte der Gewalt nachgeben. Sobald Konrad vor Frangipani ge­ bracht wurde, gab er sich (denn längere Verheimlichung schien fruchtlos, ja nachtheilig) zu erkennen und forderte ihn, an alle jene Wohlthaten erinnernd, zur Dankbarkeit gegen Friedrichs Enkel und zur Unterstützung des rechtmäßigen Erben von Neapel auf, wofür ihm Belohnungen zu Theil werden sollten, so groß er sie irgend hoffen und wünschen könne. Johannes Frangipani aber folgte dem Beispiele der schlechteren unter seinen Vorfahren, welche ohne Rücksicht auf Ehre und Tugend nur um äußerer Vortheile willen sich bald auf die Seite der Kaiser, bald auf die Seite der Päpste gestellt hatten. Anstatt mit raschem Edelmuthe den Unglücklichen aus den Händen seiner Verfolger zu retten, mochte er über-

Erzählung.

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legen, daß Konradin zwar viel geben wolle, aber nichts zu geben habe, König Karl dagegen zwar geizig sei, ihm jedoch bei einer solchen Gelegenheit wohl etwas Bedeutendes abgepreßt werden könne. Vielleicht beruhigte sich Johann auch, wie so viele Gemüther, deren Schwäche ihrer Schlechtigkeit gleichkommt, mit dem irrigen Wahne, eS sei noch immer Zeit, einen freien letzten Entschluß zu fassen. Schon hatten sich aber mittlerweile Nachrichten vom Geschehenen verbreitet: Robert von Lavena, Karls Flottenführer, umlagerte herzueilend das Schloß, in welchem die Gefangenen aufbewahrt wurden, und hoffte, durch dessen Ein­ nahme die wegen des Verlustes der Seeschlacht bei Messina verlorene Gunst deS Königs wiederzuerwerben. In dessen Namen versprach der Anführer einer ebenfalls hierherge­ sandten Reiterschaar an Frangipani den größten Lohn für rasche Auslieferung Konradins und seiner Gefährten; man bedrohte ihn dagegen mit dem Tode, wenn erVerräther irgend beschütze. In solchen Wechselfall gesetzt, bedachte sich Frangipani um so weniger, da er die Schände seiner That jetzt mit dem Vorwande erlittener Gewalt zuzudecken hoffte; er schloß eiligst den ehrlosen Handel ab und übergab die Gefangenen ohne sichernde Bedingung für Geld und Gut ihren Verfolgern. Unter Spott und Hohn, einem Verbrecher gleich, ward der Enkel Kaiser Friedrichs durch Kampanien in die Hauptstadt seines Reichs geführt. Ihm solle kein Leids geschehen, verkündeten Täuschende oder Getäuschte in König Karls Namen; welche Milde aber von diesem zu hoffen sei, zeigte sein Benehmen in allen Theilen des Reichs. Nicht blos diejenigen, welche öffentlich für Konradin aufgestanden waren oder die Waffen ergriffen hatten, wurden feindlich behandelt, sondern jeder, der nur irgend einen Wunsch für ihn auSgedrückt, ein Lob ausgesprochen, einen Zweifel über den Erfolg gehegt oder mit einem seiner Freunde geredet hatte. Man nahm ferner nicht bloS Vornehme und Anführer um deswillen in Anspruch, sondern die auS Habsucht verhängte Einziehung der Güter ging hinab bis auf Bürger und Bauern, bis zu einem heillosen Wechsel un­ zähliger Besitzer des GrundeigenthumS. Und fast mußte man diejenigen glücklich nennen, die nur mit ihrem Gute, nicht mit ihrer Person büßten. So ließ Karl mehreren Römern, die ihm früher gefolgt waren, jetzt aber in Konradins Heer gefochten halten, die Füße abhauen und sie dann (die Folgen der Kundwerdung solcher Grausamkeit fürchtend) in ein Gebäude zusammenbringen und dieses anzünden! Der Papst, welcher sich über die Niederlage Konradins im Anfänge mehr gefreut hatte, als der Gerechtigkeit und klugen Voraussicht gemäß war, erkannte gar bald mit Schrecken, daß das neue Glück die alte böse Natur seines Schützlings nicht verändert habe, und ermahnte ihn daher wiederholt auf eine so würdige als dringende Weise zur Milde und Besserung. Anstatt aber daß Ermahnungen solcher Art diesen Menschen von seiner verwerflichen Bahn ablenken sollten, bestärkten sie ihn nur in seinem finstern Frevelmuthe und führten höchstens zu dem boshaften Versuche, andern den Schein der Schuld aufzu­ wälzen. Auf unparteiischem, leidenschaftslosem, rechtlichem Wege, so hieß eS jetzo, müsse über daS Schicksal der Gefangenen von Astura entschieden werden; deshalb ließ der Kö­ nig Richter und Rechtsgelehrte aus mehreren Theilen des Reiches nach Neapel kommen, welche untersuchen und daS Urtheil sprechen sollten. Jeder von ihnen, das hoffte er, werde der Anklage beistimmen, Konradin sei ein Frevler gegen die Kirche, ein Empörer und Hochverräther an seinem rechtmäßigen Könige und, gleich allen seinen Freunden und Mit­ gefangenen, des TodeS schuldig. Als die Richter diese Anklage hörten, erschraken sie sehr, wagten aber, der wilden Grausamkeit Karls eingedenk, lange nicht, ihre entgegengesetzte Ansicht unverholen darzulegen. Da endlich trat der edle Guido von Suzara hervor und sagte mit lauter und fester Stimme: „Konradin ist nicht gekommen als ein Räuber oder Empörer, sondern im Glauben und Vertrauen auf sein gutes Recht. Er frevelte nicht, indem er versuchte, sein angestammtes väterliches Reich durch offenen Krieg wiederzuge­ winnen ; er ist nicht einmal im Angriff, sondern auf der Flucht gefangen, und Gefangene

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schonend zu behandeln, gebietet göttliches wie menschliches Recht." Erstaunt über diese unerwartete Erklärung, wandte König Karl, daS niedrige Geschäft eines Anklägers selbst übernehmend und seine Behandlung BeneventS vergesiend, hiergegen ein, daß Konradins Leute sogar Klöster angezündet hätten; worauf aber Guido ungeschreckt erwiderte: „Wer kann beweisen, daß Konradin und seine Freunde dies anbefohlen haben? Ist nicht ähn­ liches von andren Heeren geschehen? Und steht eS nicht allein der Kirche zu, über Ver­ gehen wider die Kirche zu urtheilen?" Alle Richter bis auf einen, den unbedeutenden, knech­ tisch gesinnten Robert von Bari, sprachen jetzt Konradin und seine Gefährten frei; welches preiswürdige Benehmen den König indeß so wenig zur Mäßigung und Besonnenheit zurück­ brachte, daß er vielmehr in verdoppelter Leidenschaft jeden Schein von Form und Recht selbst zerstörte und, frech jener einzelnen Knechtsstimme folgend, aus eigener Macht das Todesurtheil über alle Gefangenen aussprach. Als Konradin diese Nachricht beim Schach­ spiel erhielt, verlor er die Fassung nicht, sondern benutzte gleich seinen Unglücksgefährten die wenige ihnen gelassene Zeit, um sein Testament zu machen und sich mit Gott durch Beichte und Gebet auszusöhnen. Unterdeß errichtete man in aller Stille das Blutgerüst dicht vor der Stadt, nahe bei dem später sogenannten neuen Markte und der Kirche der Karmeliter. Es schien, als sei dieser Ort boshaft ausgewählt worden, um Konradin alle Herrlichkeit seines Reiches vor dem Tode noch einmal zu zeigen. Die Wogen des hier so schönen als friedlichen Meeres dringen nämlich bis dahin, und der diesen herrlichsten aller Meerbusen einschlie­ ßende ZauberkreiS von Portici, Castellamare, Sorrento und Massa stellt sich, durch den blendenden Glanz südlich reiner Lüfte noch verklärt, dem erstaunten Beobachter dar. Auf furchtbare Mächte der Narur deutet jedoch daS zur Linken sich erhebende schwarze Haupt des Vesuvs, und rechts begrenzen den Gesichtskreis die schroffen, zackigen Felsen der Insel Capri, wo einst Tiberius, ein würdiger Genosse Karls von Anjou, frevelte. Am 29. Oktober 1268, zwei Monate nach der Schlacht bei Skurkola, wurden die Verurteilten zum Richtplatze geführt, wo der Henker mit bloßen Füßen und aufgestreiften Ärmeln schon ihrer wartete. Nachdem König Karl in dem Fenster einer benachbarten

Burg einen angeblichen Ehrenplatz eingenommen hatte, sprach Robert von Bari, jener un­ gerechte Richter, auf dessen Befehl: „Versammelte Männer! Dieser Konradin, Konrads Sohn, kam aus Deutschland, um als ein Verführer seines Volkes fremde Saaten zu ernten und mit Unrecht rechtmäßige Herrscher anzugreifen. Anfangs siegle er durch Zufall; dann aber wurde durch des Königs Thätigkeit der Sieger zum Besiegten, und der, welcher sich durch kein Gesetz für gebunden hielt, wird jetzt gebunden vor daS Gericht des Königs geführt, welches er zu vernichten tracktete. Dafür wird mit Erlaubnis der Geistlichen und nach dem Rathe der Weisen und Gesetzverständigen über ihn und seine Mitschuldi­ gen als Räuber, Empörer, Aufwiegler, Berräther das Todesurtheil gesprochen und, drmit keine weitere Gefahr entstehe, auch sogleich vor aller Augen vollzogen." Als die Gezenwärtigen dies sie größtentheils überraschende Urtheil hörten, entstand ein dumpfes Gemur­ mel, welches die lebhafte Bewegung der Gemüther verkündete; alle aber beherrschte die Furcht, und nur Graf Robert von Flandern, deS Königs eigener Schwiegersohn, ein so schöner als edler Mann, sprang, seinem gerechten Zorne freien Lauf lassend, hervor und sprach zu Robert von Bari: „Wie darfst du frecher, ungerechter Schurke einen so grcßen und herrlichen Ritter zum Tode verurtheilen ?" Und zu gleicher Zeit traf er ihn mit seinem Schwerte dergestalt, daß er für todt hinweggetragen wurde. Der König verbiß fernen Zorn, als er sah, daß die französischen Ritter deö Grafen That billigten; das Urcheil aber blieb ungeändert. Hierauf bat Konradin, daß man ihm noch einmal das Wort oerstatte, und sprach mit großer Fassung: „ Vor Gott habe ich als Sünder den Tod oerdient, hier aber werde ich ungerecht verdammt. Ich frage alle die Getreuen, für wclche meine Vorfahren hier väterlich sorgten, ich frage alle Häupter und Fürsten dieser Erde,

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ob der des TodeS schuldig ist, welcher seine und seiner Völker Rechte vertheidigt. Und wenn auch ich schuldig wäre, wie darf man die Unschuldigen grausam strafen, welche, keinem Andern verpflichtet, in löblicher Treue mir anhingen?" Diese Worte erzeugten Rührung, aber keine That; und der, dessen Rührung allein hätte in Thaten übergehen können, blieb nicht blos versteinert gegen die Gründe des RechtS, sondern auch gegen die Eindrücke, welche Stand, Tugend und Schönheit der Verurtheilten auf jeden machten. Da warf Konradin seinen Handschuh vom Blutgerüste hinab, damit er dem Könige Peter von Aragonien als ein Zeichen gebracht werde, daß er ihm alle Rechte auf Apulien und Sicilien übertrage. Ritter Heinrich Truchseß von Waldburg nahm den Handschuh auf und erfüllte den letzten Wunsch seines Fürsten. Dieser, aller Hoffnung einer Änderung des ungerechten Spruches beraubt, umarmte seine Todesgenoffen, besonders Friedrich von Österreich, zog dann sein Oberkleid aus und sagte, Arme und Augen gen Himmel hebend: „Jesus Christus, Herr aller Kreaturen, König der Ehren! Wenn dieserKelch nicht an mir vorübergehen soll, so befehle ich meinen Geist in deine Hände!" Jetzo kniete er nieder, rief aber dann noch einmal, sich empor­ richtend, aus: „O Mutter, welches Leiden bereite ich dir!" Nach diesen Worten empfing er den Todesstreich. Als Friedrich von Österreich das Haupt seines Freundes fallen

sah, schrie er in unermeßlichem Schmerze so gewaltsam auf, daß alle anfingen zu weinen. Aber auch sein Haupt fiel, auch das des Grafen Gerhard von Pisa. Vergeblich hatte Graf Galvan Lancia für sich und seine Söhne 100000 Unzen Goldes als Lösungssumme geboten; der König rechnete sich auS dem Einziehen aller Güter der Ermordeten einen größeren Gewinn heraus; auch überwog sein Blutdurst noch seine Habsucht. Denn er befahl jetzt ausdrücklich, daß die beiden Söhne deS Grafen Galvan in dessen Armen und dann er selbst getödtet werde. Nach diesem mordete man noch mehrere; wer von den Beobachtern hätte aber ihre Namen erfragen, wer kaltblütig zählen sollen? Nur im all­ gemeinen findet sich bezeugt, daß über tausend allmählich auf solche Weise ihr Leben ver­ loren. Die Leichen der Hingerichteten wurden nicht in geweihter Erde begraben, sondern am Strande des Meeres oder, wie andere erzählen, auf dem Kirchhofe der Juden ver­ scharrt. Aus F. v. Räumers Gesch. der Hohenstaufen.

15.

Deutscher Anbau in Schlesieu im 13. Jahrhundert.

Unter den Ereignissen deö dreizehnten Jahrhunderts wirb die größte That des deutschen Volkes noch zu wenig gewürdigt: die wunderbar schnelle Germanisirung der Slavenländer im Osten der Elbe. Eine Auswanderung deutscher Herren und Arbeiter hat in etwa hundert Jahren ein weites Ländergebiet mit vielen hunderten deutscher Städte und lau­ senden deutscher Dörfer besetzt und zum großen Theil fest an Deutschland gekettet. Fast der ganze östliche Theil deö preußischen Staates liegt auf dem Boden der Kolonisation des dreizehnten Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte desselben wurden die Neumark und Preußen erobert, die eroberte Lausitz kolonisirt, ebenso Mecklenburg, Pommern, Rügen und nicht am wenigsten auffallend Schlesien; denn während in den meisten Slavenländern die ei'erne Faust der Eroberer das frühere Volksleben vernichtete und durch Gewalt das deutsäe Wesen aufzwang, wurde Schlesien der Mittelpunkt einer friedlichen, geräuschlosen Kolonisation, welche ihre Wirkungen weit über die Grenzen der großen Landschaft hinaus nach Osten äußerte. Wir vermögen nicht mehr nachzuweisen, wie damals in der Seele des drutschen Volkes die Auswanderungslust zu einer mächtigen Leidenschaft erwachsen ist. Allerdings halten die Römerzüge der Hohenstaufen und noch mehr die Kreuzfahrten die Masse in ihren Tiefen aufgewühlt und unruhig, wanderlustig, nach Fremdem begierig gemacht; allerdings war damals das Leben im innern Deutschland für den friedlichen Arbeiter gefahrvoll, oft unerträglich geworden; und noch vermögen wir zuweilen die Ge-

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statt des frommen Mönches zu erkennen, einen unternehmenden Edelmann oder eine junge Fürstenbraut, welche an die Bauernhütten ihrer Heimat pochten und die jungen Feld­ arbeiter mit gutem Versprechen unter daS polnische Volk riefen; aber doch ist uns vieles von der großen Auswanderung unverständlich geworden. Wir wissen nicht einmal, aus welcher Landschaft der Hauptstrom der schlesischen Einwanderer auszog. Mehrere Spuren weisen darauf hin, daß die Gegend von Magdeburg, Thüringen und vielleicht Franken die meiste Mannschaft aussandten. Urkunden und Chroniken schweigen. Besser aber er­ kennen wir, wer die Deutschen in das Oderland rief; es waren die Herren deS Landes mit ihren Getreuen, slavische Herzöge aus dem Stamm der Piasten. Damals, am Ende deS zwölften Jahrhunderts, saß in Schlesien ein Fürstengeschlecht von uraltem polnischen Adel in mehreren Häusern auf väterlichem Erbe, zu ihren Füßen ein zahlreicher slavischer Adel und unter diesem ein vielgeplagteS und mit Diensten über­ lastetes unfreies Volk. Das Land war nicht stark bevölkert und arm an Geldmitteln und Arbeitskraft. Nicht nur die Höhen der Riesenberge, sondern auch daS Flachland der Oder und ihre östlichen Nebenflüsse waren noch mit dichtem Wald bedeckt; dazwischen dehnten sich meilenweit wüste Haiden, in den Waldsümpfen halten zahlreiche Herden von Wildschweinen ihr Lager, am Rand der Haide steckte der braune Bär seine Schnauze in die hohlen Baumstämme und suchte den wilden Honig, und die Kieferäste auf der Haide zerriß daS Elen mit seinem unförmigen Geweih, an den Flüssen aber baute zahlreich der Biber, und um die Teiche schwebte der Fischadler und über ihm der edle Jagdfalke. Biber und Falken waren den Fürsten theurer als ihre Leibeigenen, und mit Scheu sah der Kmete aus seiner elenden Hütte auf die Herren deS Wassers und der Luft, für deren Bau und Nest er selbst und seine ganze Nachbarschaft bei unerschwinglicher Strafe stehen mußte. Was die Landschaft freiwillig dem Menschen gab, mußten die Landbewohner für ihre gestrengen Herren, den Edelmann oder den Kastellan deS Herzogs und für die Kirche zusammentragen; sie hatten zu zinsen am Wasser die Fische, an der Haide viele Töpfe Honig und schwere Abgaben von ihrem Ackerland, Garben, Körner, Geld, Fuhren und Dienst mit Händen und Füßen; sie waren in der großen Mehrzahl leibeigene Bauern, wenige freie darunter. Und mit ihnen zusammen saßen die Handwerker, Böttcher, Mau­ rer, Bäcker, Brauer, auch Weber, in jeder Abstufung von Knechtschaft, alle durch den Druck geschwächt, ohne Hoffnung, ohne Arbeitslust. Zwischen den slavischen Dörfern und Städten war kein großer Unterschied, die Dörfer eine Anzahl nackter Hütten auf dem Ackerland, die Städte eine größere Anzahl ähnlicher Hütten, die gewöhnlich in der Nähe einer Burg angebaut waren, meist mit einem Graben mit) hölzernen Bretterzaun umge­ ben. Auch in den Städten war der größte Theil der Bewohner nach polnischem Recht unfrei; doch hausten im Schutz der Burgen auch wohl Gutsbesitzer und Vornehme der Umgegend, unter den leibeigenen Handwerkern mehrere Freie und freie Kaufleute, diese schon oft Deutsche. In der Burg aber regierte vielleicht der mächtige Herzog selbst oder sein Kastellan oder ein großer Edelmann; auch zu ihr gehörte Wald und Feld, und sie hatte eigenes Recht und Gericht. Wenn ein Feind nahte, flohen die Bauern vom Lande hinter den Graben der Stadt. In ruhiger Zeit aber wurden dort die Märkte gehalten. Bis gegen daS Ende deS zwölften Jahrhunderts zahlte der Käufer auch zuweilen wie in Polen statt mit Gelde mit den Schwänzen der Marder und den Fellen der Eichhörnchen; aber schon waren die schlesischen Bergwerke eröffnet, Silber und Gold, Kupfer und Blei wurden gewonnen, und der Bergbau, das Recht der Herzöge, wurde mit Eifer betrieben, auch Münzstätten errichtet, wahrscheinlich durch Deutsche. Aber diese Marktorte und Dör^ fer waren deutschen Städten und Dorfgemeinden in nichts ähnlich als etwa im äußern Aussehen. Denn hinter dem Graben und Pfahlwerk war nicht zu finden eine freie Bür­ gerschaft, ein geordnetes Gemeinwesen, welches fest in sich selbst steht, das Recht hat, sich zu regieren und Besitztümer zu erwerben, seinen Bürgern Recht zu sprechen und gegen

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fremde Gewalt Recht zu schaffen; und nichts war von dem zu finden, was sonst einer deutschen Stadtgemeinde ziemt, daß sie ihre Bürger tüchtig, wohlhabend und stark mache und d adurch für umsichtige Thatkraft und Reichthum, für Sitte, Gelehrsamkeit und Künste eine Heimat werde. Ein solches Land beherrschten die fürstlichen Familien der Piasten damals unter pol­ nischem Oberhoheit, welche oft bestritten wurde, zuweilen ganz aufhörte. Auch an ihren Hausern konnte ein Gegensatz auffallen. Die Piasten Oberschlesiens schloffen sich enger an Polen und erhielten sich und ihr Land mehr in slavischem Wesen, so daß dort eine slavische Bevölkerung bis in die Gegenwart dauert. Um so lieber lehnten sich die Herren des größeren Niederschlesiens an den deutschen Westen. Schon seit lange war ihre Po­ litik, deutsche Fürstentöchter zu heirathen; der Einfluß der Frauen brachte deutsche Sitte an den Hof. Bald zog sich ein zahlreicher deutscher Adel in daS Land, feine Herren und abenteuernde Gesellen. AuS den deutschen Höflingen und ihren Vettern wurden schnell schlesische Grundbesitzer; an die Stelle der slavischen Kastellanei trat das deutsche Lehngut. Mehr aber noch als die fremden Grundherren beförderte die Geistlichkeit deutsche Sitten. Priester und Mönche wanderten unablässig von Westen her in daS halbwilde Land, und das Bisthum Breslau, im Jahre 1000 gegründet, erwarb schon im Jahre 1200 durch Erbschaft die fürstliche Gewalt über daS schlesische Herzogthum Neiße. Bis auS der Graf­ schaft Artois waren Augustinerchorherren an die Oder gepilgert; auf einer Sandinsel der Oder gegenüber dem großen slavischen Markt, auS welchem hundert Jahre später die deutsche Stadt BreSlau wurde, hatten sie sich festgesetzt. AuS Pforte an der Saale kamen noch vor dem dreizehnten Jahrhundert arbeitsame Cisterzienser, gründeten daS reiche Klo­ ster Leubus und verbreiteten sich im Lande. Merkwürdig schnell wurde die Landschaft mit Klöstern und frommen Stiftungen besetzt, und ein Bote des Polenkönigs, der von Krakau her das Land bis an seine damalige Nordgrenze hinter Müncheberg durchzog, sah wohl mit Bewunderung in Entfernungen von nur wenigen Meilen am einsamen Wald­ strich oder am fischreichen Fluß die neuen Gebäude eines heiligen Hauses durch die Bäume schimmern und hörte den Klang der Glocken dort, wo sonst nur Geschrei der Raben und Geheul des WclfeS die Stille des WaldeS unterbrochen hatte. Und jedes Kloster stand als ein Festungswerk für deutsches Wesen; denn jedem waren die ersten und vornehmsten der Brüder von Westen hergekommen, alle holten von dort Belehrung, Bücher und geist­ liche Stärkung. Schnell erkannten jetzt die Fürsten, Edelleute und Geistlichen den Unter­ schied zwischen deutscher und slavischer Arbeit. Große Landstrecken brachten wenig ein, der Wald gab nur Holz für den eignen Bedarf, die Haide ihren Honig, sonst keinen Er­ trag, die unfreien Kmeten bauten wenig Früchte, der Decem trug nicht viel, und Geld war von den Steuernden schwer zu erhalten. So trieb den Grundbesitzer des Landes die verständige Rücksicht auf den eigenen Nutzen zu neuen Versuchen. Mit Verachtung sah man auf den alten Radlo, den Haken, mit welchem die Einheimischen pflügten, und rief nach dem großen Pfluge der Deutschen und nach stärkeren und freien Händen, ihn zu führen. Hier in Schlesien kam zuerst die große Wahrheit zur Erkenntnis der Menschen, daß die Arbeit der Freien allein im Stande ist, ein Volk kräftig, blühend und dauerhaft zu machen. Die Grundherren verzichteten auf den größten Theil der Ansprüche, die sie nach polnischem Recht an den Bewohner des Bodens hatten; die Fürsten verliehen ihnen als Gunst das Recht, Städte und Dörfer nach deutschem Recht zu gründen, d. h. freie Ge­ meinden zu schaffen. In den Städten wuchs die enger zusammengefaßte Kraft deutschen Leben- fröhlich empor, das Selbstgefühl der Bürger und ihre Rechte wurden immer größer. So schoß seit 1200 zwischen den Riesenbergen und der endlosen polnischen Ebene in der oberen Hälfte des Oderlandes mit überraschender Schnelligkeit ein neuer deutscher Stamm auf. Am Ende des Jahrhunderts war seine Herrschaft über daS Land entschieden; lange

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noch dauerte die Einwanderung fort, und auch der stille Kampf zwischen deutscher und polnischer Art wurde noch lange, nachdem der Sieg entschieden war, fortgesetzt, ja in einigen Landkreisen dauert er noch heute fort. AuS FreytagS Bildern au- der deutschen Vergangenheit.

16.

Der Bund in Rütli.

Alle anderen Schweizer übertraf der Herr von Attinghausen durch die Würde eines wohlerhaltenen Adels, des Alters, der Erfahrung in Geschäften, großen, wohlhergebrachten Gutes und ungefälschter Liebe zu dem Lande. Bei einem solchen Volk werden viele Ge­ schlechter durch die alten Sitten lang und in der Verwaltung des gemeinen Wesens fort­ gepflanzt; so die Nachkommen Rudolf Redings von Bibereck, die bis auf diesen Tag zu Schwyz den väterlichen Ruhm erhalten; die Beroldingen auf ihrem uralten Stammsitz, damals voll schweizerischem Freiheitssinn und noch der Voreltern würdig; dieJberg; die Winkelried, im Geist jenes Ritters, ihres Ahnen, der den Lindwurm erschlug, der Freiheit Opfer, alten Biedersinns Muster. Zu Schwyz war Werner Stauffacher angesehen, weil Rudolf, sein Vater, ein ehrwürdiger Vorsteher deö Volks und er selbst ein wohlbegüterter und wohlgesinnter Landmann war. Solchen Männern glaubten die Landleute; sie kannten dieselben, sie hatten ihre Väter gekannt und ihre ungefärbte alte Treu. Das Volk lebt in vielen Dorfschaften, deren Häuser meist, wie. bei den alten Deutschen, auf Wiesen, schönen Hügeln und an Quellen einzeln liegen. Es hat gewiffe, althergebrachte, ein­ gepflanzte Grundsätze; wenn Fremde dawider Einwürfe machen, so werden sie selbst verdächtig und befestigen die Lehren der Väter. Alles Neue ist verhaßt, weil in dem einförmigen Leben der Hirten jeder Tag demselben Tag deö vorigen und folgenden Jahres gleich ist. Man spricht nicht zu viel und bemerkt für immer; sie haben in den einsamen Hütten zum Nachdenken ruhige Muße; die Gedanken theilen sie einander mit, wenn an Festtagen das ganze Volk vom Gebirg bei der Kirche zusammenfließt. Wer den Land­ mann betrachtet, findet bis auf diesen Tag ein freiheitstolzeö Volk zu Schwyz, ein from­ mes, altgesittetes im Lande Unterwalden, auch zu Uri ein gar biederes, eidgenössisch gesinntes Volk. Als die Reichsvögte um jeden Fehler in finstern Thürmen und außer Landes theure, lange Verhaft gaben und alles auf das allerstrengste bestraften, und als die Zölle auf die Einfuhr im benachbarten Erbland erhöhet und oft die Ausfuhr verboten wurde, sandten die Landleute an den König zu eben der Zeit, als auf der Steuermark ein solcher Vogt umgebracht worden. Der König Albrecht führte damals auch wider seinen Schwager Wenzeslaw Krieg um das Knttenberger Silber und die Erbschaft von Halicz; von denen, die mit Hermann von Landenberg seine Diener waren, bekamen die Schweizer keinen Trost. Die Geistlichkeit in den Waldstätten aus Zorn, weil sie steuern mußte, war dem König zugethan. Als der Junker von Wolfenschieß in Unterwalden von der Gesinnung seiner nächsten Verwandten so abwich, daß er auf Rozberg des Königs Burgvogt wurde, fürch­ teten ehrbare Männer vom Leichtsinn ehrgeiziger Jugend noch mehr Untreu am Land. Alle Schweizer, in ordentlichen Zeiten eines gerechten, stillen Gemüthes, gewohnt ohne Furcht, noch Verdruß oder viele Mühe bei dem Vieh in ruhiger Fröhlichkeit ihre Tage durchzuleben, gewohnt auS alten Zeiten bei den Kaisern Gnade und Ehre zu finden, wurden betrübt. Bei den Strafen war doch ein Schein strengen Rechts; bei den Zöllen, daß Noth oder Geiz den König treibe; selbst in der Ungnade, daß er die Schweizer doch schütze und gern haben möchte; allein (wie bei verdienstlosen Leuten im Besitz ungewohnten An­ sehens gegen die, welche nicht weit unter ihnen sind, der Stolz am gröbsten ist) eö war in den Worten und Geberden der Vögte täglicher Trotz auf ihre Gewalt und eine hoch-

müthiige Verachtung des ganzen Volks. Die alten lang verehrten Geschlechter nannten sie Baucrnadel. Als Geßler durch den Ort Steinen bei Stauffachers Hause, wo die Kapelle nun steht, vorbeiritt und sah, wie es, wo nicht steinern, von wohlgezimmertem Holze nach eines reichen Landmanns Art mit vielen Fenstern, mit Namen und Sinnsprüchen bemalt, weitläufig und glänzend erbaut war, sagte er vor dem Stauffacher: „Kann man leiden, daß daS Bauernvolk so schön wohnt?" Als Landenberg einen Mann in dem Melchthal zu Unterwalden um ein Paar schöner Ochsen strafte, fügte sein Knecht bei: „Die Bauern senilen den Pflug wohl selbst ziehen." Auf der Schwanau in dem Lowerzer See im Lande Schwyz wohnte ein Burgvogt, welcher die Tochter eines Mannes von Art schändete. Der Burgvogt wurde von den Brüdern der Tochter von Art erschlagen. Eines Morgens, da Wolfenschieß hervor aus Engelberg an die Alzellenhöhe kam, an deren lieblichem Abhang viele zerstreute Hütten sind, sah er auf einer blumichten Wiese ein schönes Weib. Als er von ihr die Abwesenheit Konrads vom Baumgarten, ihres Mannes, erfragt, befahl er, daß ihm ein Bad gerüstet würde. Sie aber suchte ihren Mann; von diesem wurde Wolfenschieß erschlagen. Ehe Baumgarten gefunden wurde, und ehe das Zusammenstehen der Männer von Art Geßler erlaubte, den Todtschlag des Burgvogts zu rächen, als Frau Margareth Herlolig, die Stauffacherin, mit Unruhe bedachte, wie dieser gewaltthätige Mann ihr Haus beneidet, redete sie mit ihrem Mann (alte Sitten geben den Hausfrauen männlichen Sinn) und b ewog ihn, dem drohenden Unfall vorzukommen. Werner Stauffacher fuhr über den See in das Land Uri zu seinem Freunde Walther Fürst von Allinghausen, einem reichen Landmann. Er fand einen jungen Mann von Muth und Verstand bei ihm verborgen; von diesem erzählte Walther seinem Freund, er sei ein Unterwaldner aus dem Melchthal, in welches man von KernS hereingehe; er heiße Erin an derHalden und sei ihm verwandt; um eine geringe Sache, die Erin gethan, habe ihn Landenberg um ein Gespann schöner Ochsen gebüßt; sein Vater Heinrich habe diesen Verlust sehr bejammert; auf dieses habe des Vogts Knecht gesagt, wenn die Bauern Brot essen wollen, so können sie selbst an dem Pfluge ziehen. Hierüber sei Erin das Blut aufgewallt; er habe mit seinem Stock dem Knechte einen Finger gebrochen; darum verberge er sich hier; indeß habe der Vogt seinem alten Vater die Augen ausstechen lassen. Hierauf klagten sie einander sehr, daß alle Billig­ keit mehr und mehr unter die Füße getreten werde; und Walther bezeugte, auch der hocherfahvne Herr von Attinghausen sage, die Neuerungen wären unerträglich; wohl glaubten sie, daß der Widerstand grausame Rache über die Waldstätte bringen könnte; doch kamen sie überein, Tod sei besser, als ungerechtes Joch dulden. Über diese Gedanken beschlossen sie, daß jeder seine Vertrauten und Verwandten erforschen solle. Sie bestimmten, um sich ruhig zu sehen, das Rütli, eine Wiese auf einer Höhe in einer einsamen Gegend am Ufer des Waldstättensees, nicht weit von der Grenzmark zwischen Unterwalden und Uri (im See steht hier einsam der Mythenstein); daselbst rathschlagten sie oft bei stiller Nacht über die Befreiung des Volks und gaben einander Nachricht, mit wieviel Fortgang sie zu dieser That geworben; dahin kamen Fürst und Melchthal auf einsamen Pfaden, der Stausfacher in seinem Kahn und aus Unterwalden der Sohn seiner Schwester, Edelknecht von Rudenz; aus verschiedenen Orten brachten sie Freunde in das Rütli. Da vertraute einer dem andern seine Gedanken ohne alle Furcht; je gefahrvoller die That, um so viel fester verband sich ihr Herz. 2n der Nacht MittewochS vor Martinstag im Wintermonat brachten Fürst, Melch­ thal und Stauffacher jeder zehn rechtschaffene Männer seines Landes, die ihm redlich ihr Gemüth geoffenbaret, an diesen Ort. Als diese dreiunddreißig herzhaften Männer, voll Gefühls ihrer angestammten Freiheit und ewigen Bundesverbrüderung, durch die Gefahr der Zeiten zu der innigsten Freundschaft vereinigt, im Rütli beisammen waren, fürchteten sie sich nicht vor König Albrecht und nicht vor der Macht von Österreich. In dieser Nacht

gaben sie einander mit bewegtem Herzen die Hände darauf, laß in diesen Sachen keiner

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Historische Prosa.

von ihnen etwas nach eignem Gutdünken wagen, keiner den Andern verlassen wolle; sie wollen in dieser Freundschaft leben und sterben; jeder solle das unschuldige, unterdrückte Volk in seinem Thal nach gemeinem Rath in den uralten Rechten ihrer Freiheit so be­ haupten, daß ewig alle Schweizer dieser Freundschaft Genuß haben sollten; sie wollen den Grafen von Habsburg von allen ihren Gütern, Rechten und eignen Leuten auch nicht das Geringste entfremden; die Vögte, ihr Anhang, ihre Knechte und Söldner sollen keinen Tropfen Blut verlieren, aber die Freiheit, welche sie von ihren Voreltern empfangen, die­ selbe wollen sie ihren Enkeln aufbewahren und überliefern. Als alle dessen fest entschlossen waren und mit getrostem Angesicht und mit getreuer Hand jeder in Erwägung, daß von ihrem Glück wohl all ihrer Nachkommen Schicksal abhange, seinen Freund ansah und hielt, hoben Walther Fürst, Werner Stauffacher und Arnold an der Halden aus Melchthal ihre Hände auf gen Himmel und schwuren in dem Namen Gottes, der Kaiser und Bauern von gleichem Stamm in allen unveräußerbaren Rechten der Menschheit hervorgebracht hat, also mannhaft die Freiheit mit einander zu behaupten. Als die dreißig dieses hörten, hob ein jeglicher seine Hand auf und leistete bei Gott und bei den Heiligen diesen Eid. Über die Art, ihren Entschluß zu vollstrecken, waren sie einig; damals ging jeder in seine Hütte, schwieg still und winterte daS Vieh. Aus g. v. Müllers Geschichte der schweizer. Eidgenossenschaft.

17.

Karl V.

Wenn die alte Sage ihre Helden schildert, gedenkt sie zuweilen auch solcher, die erst eine lange Jugend hindurch unthätig zu Hause sitzen, aber alsdann, nachdem sie sich ein­ mal erhoben, nie wieder ruhen, sondern in unermüdlicher Freudigkeit von Unternehmung zu Unternehmung fortgehen. Erst die gesammelte Kraft findet die Laufbahn, die ihr ange­ messen ist. Man wird Karl V. mit einer solchen Natur vergleichen können. Bereits in seinem sechzehnten Jahre war er zur Negierung berufen, doch fehlte viel, daß er in seiner Entwickelung dahin gewesen wäre, sie zu übernehmen. Lange war man versucht, einen Spottnamen, den sein Vater gehabt, weil er seinen Rathen allzuviel glaubte, auch auf ihn zu übertragen. Sein Schild führte das Wort: „Noch nicht." Ein Croi leitete ihn und seinen Staat vollkommen. Selbst während seine Heere Italien unterwarfen und wiederholte Siege über die tapfersten Feinde davontrugen, hielt man ihn, der indeß ruhig in Spanien saß, für untheilnehmend, schwach Ulld abhängig. Man hielt ihn so lange dafür, bis er im Jahre 1529, im dreißigsten seines Lebens, in Italien erschien. Wie viel anders zeigte er sich da, alö man erwartete! Wie zuerst so ganz sein eigen und vollkommen entschieden! Sein geheimer Rath hatte nicht gewollt, daß er nach Italien ginge, hatte ihn vor Johann Andrea Doria gewarnt und ihm Genua verdächtig gemacht. Man erstaunte, daß er dennoch nach Italien ging, daß er gerade auf Doria sein Vertrauen setzte, daß er dabei blieb, in Genua ans Land steigen ;u wollen. Er war durchaus derselbe. Man nahm keinen über­ wiegenden Einfluß eines Ministers wahr; an ihn: selbst erfand man weder Leidenschaft, noch Übereilung, sondern alle seine Entschlüsse waren gereift; es war alles überlegt; sein erstes Wort war sein letztes. Dies bemerkte man zuerst an ihm, darauf, wie selbstthätig, wie arbeitsam er war. Es erforderte einige Geduld , die langen Reden der italienischen Gesandten anzuhören; er bemühte sich, die verwickelten Verhältnisse ihrer Fürsten und Völker genau zu fassen. Der venerianische Botschafter wunderte sich, ihn um nicht weniges zugänglicher und gesprächiger zu finden, als er drei Jahre zuvor in Spanien gewesen war. In Bologna hatte er ausdrücklich darum eine Wohnung genommen, aus welcher er den Papst unbemerkt besuchen konnte, um dies so oft zu thun, wie möglich, um alle Streit­ punkte selbst aufs reine zu bringen. Bon dem an begann er, seine Unterthanen persönlich zu leiten, seine Heere selber

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anzufiühren; er sing an, von Land zu Land und immer dahin zu eilen, wo das Bedürfnis und d'ie Lage der Geschäfte seine Gegenwart erforderten. Wir sehen ihn bald in Rom sich bei den Kardinälen über die unversöhnliche Feindschaft Franz I. beklagen, bald in Paris die Gmnst der Estampes suchen und gewinnen, bald in Deutschland dem Reichstage Vor­ sitzen, um die religiöse Entzweiung beizulegen, bald in den kastilischen Kortes bemüht, im Servncio stimmen zu kaffen. Dies sind friedliche Bemühungen; öfter aber steht er an der Spitze' seiner Heere. Er dringt über die Alpen in Frankreich vor und überschwemmt die Prove-nce; er setzt Paris von der Marne aus in Schrecken. Dann kehrt er um nach Osten und Süden. Den Siegeslauf Solimans hält er ein an der Raab; er sucht den Halbmond bei Algier auf. Das Heer, das ihm in Afrika gedient, folgt ihm an die Elbe, und auf der Lochauer Haide hört man das Feldgeschrei Hispania. Da ist Karl daS am meisten beschäf­ tigte Haupt der Welt. Gar manchmal schifft er über daS Mittelmeer r über den Ocean. Indessen find seine Seeleute Entdecker in früher nie befahrnen Meeren, seine Krieger Eroberer von früher nie betretenen Erden. In so weiter Ferne bleibt er ihr Regierer und Herr. Sein Wahlspruch: „Mehr, weiter!" hat eine glorreiche Erfüllung. So ist sein Leben,, wenn wir es im ganzen betrachten, nach ungewöhnlich langem Ruhen volle Thä­ tigkeit. Nun ist es merkwürdig genug, daß die nämliche Erscheinung, anfangs Ruhen, Warten, Zusehen, spät die That, auch während seines bewegtesten Lebens in den einzelnen Ereignissen immer wiederkehrt. Obwohl in der allgemeinen Willensrichtung völlig entschieden, faßte er, Fall für Fall, doch nur langsame Entschlüffe, auf jeden Vortrag antwortete er anfangs unbestimmt, und man mußte sich hüten, seine vieldeutigen Ausdrücke nicht für eine Gewährung zu nehmen. Dann berieth er sich selbst. Er schrieb sich oft die Gründe für und wider auf; da brachte er alles in so guten Zusammenhang, daß, wer ihm den ersten Satz zugab, ihm den letzten zuzugeden gewiß genöthigt war. Den Papst besuchte er zu Bologna, einen Zettel in der Hand, auf welchen er alle Punkte der Unterhaltung genau verzeichnet hatte. Nur Granvellan pflegte er jeden Bericht, jeden Vortrag mitzutheilen; diesen fanden die Botschafter immer bis auf die einzelnen Worte, welche sie geäußert, unterrichtet. Zwischen beiden nun wurden alle Beschlüße gefaßt. Langsam geschah es; häufig hielt Karl den Kurier noch ein paar Tage länger auf. War eö aber einmal so weit, so war nichts auf der Welt vermögend, ihm eine andere Meinung beizubringen. Man wußte dies wohl. Man sagte, er werde eher die Welt untergehen laffen, als eine erzwungene Sache thun. Es war kein Beispiel, daß er jemals durch Gewalt oder Gefahr zu irgend etwas genöthigt worden. Er äußerte sich selbst mit einem naiven Geständnis hierüber. Er sagte zu Contarini: „Ich stehe von Natur hart' näckig auf meinen Meinungen." „Sire," entgegnete dieser, „auf guten Meinungen be; stehen ist nicht Hartnäckigkeit, sondern Festigkeit." Karl siel ihm ins Wort: „Ich bestehe \ zuweilen auch auf schlechten." Der Beschluß ist indeß noch lange nicht die Ausführung. I Karl hatte eine Scheu, die Dinge anzugreifen, auch wenn er sehr gut wußte, was zu thun war. Im Jahre 1538 sagt Tiepolo von ihm, er zögere so lange, bis seine Sachen gei fährdet, bis sie ein wenig im Nachtheil seien. Eben das fühlte Papst Julius IIL: Karl 1 räche sich wohl, doch müsse er erst einige Stöße fühlen, ehe er sich erhebe. Auch hatte Karl ; nicht eben immerfort Geld, die verwickelte Politik gebot ihm tausend Rücksichten. Indeß er ; nun harren mußte, behielt er seine Feinde unausgesetzt im Auge. Er beobachtete so genau, daß die Gesandten erstaunt waren, wie gut er ihre Regierungen kannte, wie treffend er , zum voraus beurtheilte, was sie thun würden. Endlich kam die Gelegenheit, die günstige ! oder die dringende Stunde doch. Dann war er auf, dann führte er aus, was er vielleicht ! seit zwanzig Jahren im Sinne gehabt. j Das ist die Politik, die seinen Feinden verabscheuungswürdig und Hinterlist, seinen ;

Dielitz u. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur. 2, Aufl.

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Freunden ein Muster von Klugheit schien. Sie ist wenigstens kaum willkürlich. Dies Harren, Ruhen, Sichuulerrichten, Nurspätschlagen ist eben Karls Natur. In wie viel andern Dingen war es mit ihm nicht anders bestellt! Er bestrafte zwar, doch ließ er sich zuvor viel gefallen. Er belohnte wohl, aber freilich nicht sogleich. Mancher mußte Jahre lang unbezahlt ausharren; dann aber bedachte er ihn mit einem jener Lehen, mit einer jener Pfründen, deren er so viele hatte, daß er reich machen konnte, wen er wollte, und ohne selbst etwas auszugeben. Hierdurch brachte er andere dahin, in seinem Dienst alle Mühseligkeiten der Welt zu erdulden. Wann man ihm die Waffen anzog, so bemerkte man, daß er über und über zitterte. Erst wann er gerüstet war, dann ward er muthig, so muthig, daß man glaubte, er trotze darauf, daß noch nie ein Kaiser erschoffen worden. Ein solcher Mensch, voll Ruhe und Mäßigung, leutselig genug, um sich Verschiedenen zu bequemen, scharf genug, um viele zugleich in Unterwerfung zu halten, scheint wohl ge­ eignet, mehreren Nationen zusammen vorzustehen. Man lobt Karl, daß er durch Herablaffung die Niederländer, durch Klugheit die Italiener, durch Würde die Spanier an sich geknüpft. Was hatte er aber, um den Deutschen zu gefallen? Seine Natur war nicht fähig, sich zu jener treuherzigen Offenheit zu entwickeln, welche unsere Nation an ausge­ zeichneten und hochgestellten Menschen zu allererst anerkennt, liebt und verehrt. Ob er wohl die Manier, wie die alten Kaiser sich mit Fürsten und Herren gehalten, gern nach­ ahmte; ob er sich wohl bemühte, deutsche Sitten anzunehmen, und sogar den Bart in Deutschland nach deutscher Weise trug: so erschien er den Deutschen doch immer als ein Fremder. Ein Borspänner bei dem Geschütz, den er heftig antreibt, läßt ihn die Peitsche fühlen; vor Algier legt ein Landsknecht sogar auf ihn an: beide, weil sie ihn für einen Spanier halten. Besonders seit dem schmalkaldischen Kriege zerfiel er mit der Meinung der Nation. Man nannte seine beiden Gegner die Großmüthigen; er aber, Karl von Gent, wie man ihn hieß, habe hämisch gelacht, wie er den guten Kurfürsten gefangen genommen; mit welcher Hinterlist habe er sich in Halle des Landgrafen bemächtigt! Während die Ita­ liener seine Einfachheit priesen, wenn er unter einem glänzenden und reichgekleideten Ge­ folge selber in einem unscheinbaren Mantel in ihre Städte einritt, fanden die Deutschen auch an solchen Dingen etwas auszusetzen. Als er vor Naumburg von einem Regen über­ rascht ward, ließ er sich sein altes Barer auS der Stadt holen und nahm das neue, das er trug, indeß unter den Arm. „Armer Kaiser," dachte ich, sagt Sastrow, „der Tonnen Goldes verkriegt und um eines sammtnen Käppchens willen im Regen hält." Genug, in Deutschland ward ihm nie recht wohl. Die Entzweiungen nahmen alle seine Thätigkeit hin, ohne ihm Ruhm zu gewähren; das Klima war seiner Gesundheit nachtheilig; er konnte die oberdeutsche Sprache nicht recht; die Mehrzahl der Nation mißverstand ihn und war ihm abgeneigt. Sein Leben sing spät an selbständig zu werden und ging ihm früh dahin. Lange wollte er nicht wachsen, und man versuchte manche Küche, um ihn bester zu fördern. Seine Entwicklung blieb ungewöhnlich zurück, bis man im Jahre 1521 bemerkte, daß er einen Bart bekomme und männlicher werde. Seitdem blühte er eine Zeit lang in gesunder Ju­ gend. Er fing an, die Jagd zu lieben. In den Alpuxarren, in den toledanischen Haiden verlor er sich mehr als einmal so weit, daß niemand sein Horn hörte, daß etwa ein Moriöke ihm am Abend den Weg weisen mußte und man in der Stadt schon Lichter in die Fenster gestellt hatte und die Glocken zog, um ihn zu suchen. Zu Pferde turnirte er bald in Schranken, bald in offenem Felde; er versuchte sich mit Rohr und Gineta; auch zu Fuß blieb er nicht zurück. Den Streit, den er mit Franz I. hatte, durch einen Zweikampf zu endigen, war wenigstens bei ihm voller Ernst. Wir haben aus dieser Zeit ein Bild von ihm mit noch geschloffenem, etwas befehlshaberischem Munde, großem und feurigem Auge, gedrungenen Zügen; es ist ganze Gestalt; er faßt einen Jagdhund am Halsband. Aber

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allmählich und nur allzubald entwickelte sich die Trennung zwischen der obern und untern Hälfte seines Gesichts, welche seine meisten Bilder charakterisirt: die untere tritt hervor, der Mund bleibt offen, die Augenlider senken sich. So wie er vollkommen in das thätige Leben eintritt, ist er bereits nicht mehr gesund; und mit einer sonderbaren Art von Neid sieht er den Heißhunger an, mit dem ein eben von der Reise gekommener Geheimschreiber den Braten aufzehrt, den man ihm vorgesetzt hat. In seinem 36. Jahre zu Neapel, gerade als er sich schmücken wollte, um etwa auch, wie er gesteht, den Damen zu gefallen, bemerkte er die ersten weißen Haare an seinen Schläfen. Nur vergebens ließ er sie wegnehmen: sie kamen immer wieder. Im 40. Jahre fühlte er seine Kräfte schon halb gebrochen. ES mangelte ihm das alte Vertrauen zu sich selbst und zu seinem Glück; und es ist bemerkenswürdig, daß er sich seiner Begegnisse vor diesem Jahre bester zu erinnern wußte, als der nachfolgenden, obwohl dieselben so viel neuer waren. Seitdem griff ihn besonders die Gicht an. Er mußte meist in der Sänfte reisen. Zuweilen brachte er zwar noch einen Hirsch, ein wildes Schwein von der Jagd; doch gewöhnlich mußte er sich begnügen, mit der Büchse ins Holz zu gehen und nach Krähen und Dohlen zu schießen. Sein Vergnügen war zu Hause, wo ihm der Narr hinter seinem Tische zuweilen ein halbes Lächeln abnöthigte, wo ihn sein Hofmeister Monfalconet mit treffenden Antworten reizte und ergötzte. Doch immer heftiger setzte ihm die Krankheit zu. „Die Gicht," sagt Cavallo 1550, „steigt ihm manch­ mal bis zum Kopf und droht, ihn einmal plötzlich zu tödten." Die Ärzte riethen ihm drin­ gend, Deutschland zu verlassen; die steigende Verwirrung der Geschäfte hielt ihn in diesen Gegenden fest. Da entwickelte sich ein Hang zu schwermüthiger Einsamkeit, der lange in ihm gewesen, zu überwiegender Stärke: im Grunde doch der nämliche, der seine Mutter so lange auf der Welt, so lange der Welt entfremdet gehalten. Karl sah niemand, wen er nicht ausdrücklich hatte rufen lasten. Oft war er unmuthig, nur zu unterschreiben. Selbst einen Brief zu eröffnen, machte ihm Schmerzen in der Hand. In einem schwarz ausge­ schlagenen Gemach, das mit sieben Fackeln erhellt war, lag er stundenlang auf den Knieen. Als seine Mutter gestorben, glaubte er zuweilen ihre Stimme zu vernehmen, die ihn rufe,

nachzukommen. In diesem Zustande entschloß er sich, das Leben zu verlasten, ehe er noch starb. Aus L. Rankes Fürsten u. Völker v. Güdeuropa im 16. u. 17. Jahrh.

18. Luther auf dem Reichstage zu Worms. Sobald entschieden war, daß Luther nach Worms kommen sollte, suchten seine Feinde eö dahin zu bringen, daß er ohne kaiserliches und allein auf kurfürstliches Geleit erschiene; denn sic dachten entweder dadurch Luther abzuschrecken oder ihn desto leichter aufheben zu können. Allein der Kurfürst nahm diesen Antrag des Kaisers nicht an, und hierauf wurde unter dem 6. März das kaiserliche Schreiben, in welchem er binnen einundzwanzig Tagen zu Worms zu erscheinen entboten war, nebst dem Geleitsbrief auSgefertigt. Also machte sich Luther in Begleitung des Justus Jonas, nachmaligen Probstes zu Wittenberg, deS Nikolaus von Amsdorf, Petrus von Schwan, eines dänischen Edelmanns, und des Hie­ ronymus Schürf, eines Rechtsgelehrten zu Wittenberg, sammt Kaspar Sturm, seinem Herolde, in Gottes Namen auf den Weg nach Worms. Der Wagen, auf welchem er nach Worms fuhr, war ihm von dem Rathe zu Wittenberg gegeben, wofür er in einem Schrei­ ben an denselben sich höflich bedankt. Vom Herzog Johannes zu Weimar bekam er ein Reisegeld. Zu Erfurt war der Empfang besonders feierlich. Crotus, der Rektor der Universität, nebst vierzig anderen Gelehrten zu Pferde und noch größerem Gefolge zu Fuß empfing Luther zwei Meilen vor Erfurt und begleitete ihn in die Stadt, wo das Gedränge deS Volkes noch größer wurde, und wo Luther im Augustinerkloster eine Predigt hielt. Zu Eisenach wurde er krank. Er ließ sich daselbst zur Ader, und der Schultheiß der Stadt gab 36 •

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ihm ein edles Waffer zu trinken, worauf er einschlief und am andern Morgen weiter reiste. Wo er in eine Stadt einzog, lief ihm viel Volk entgegen, den kühnen Mann zu sehen, der gegen den Papst sich legen dürfte. Etliche trösteten ihn auch gar schlecht, indem sie sagten, da so viele Kardinäle und Bischöfe zu Worms waren, würde man ihn allda gewiß flugs zu Pulver brennen, wie dem Huß zu Konstanz geschehen. Er sagte aber, wenn sie gleich ein Feuer machten zwischen Wittenberg und WormS bis an den Himmel hinan, wolle er doch im Namen deS Herrn erscheinen und dem Behemoth in sein Maul zwischen die großen Zahne treten und Christum bekennen und denselben walten laffen. Von Frankfurt aus schrieb er an Spalatin, da er inzwischen von dem Anschlag deS kaiserlichen Edikts gehört: „Wir kommen, lieber Spalatin, obschon der Satan mir zum Hindernis vielerlei Unpäß­ lichkeit in den Weg gelegt hat; denn den ganzen Weg von Eisenach bis hierher bin ich unpaß gewesen und auch noch anjetzo auf eine mir unbekannte Weise. Ich höre auch, daß des Kaisers Karoli Mandat mir zum Schrecken sei herausgegeben worden. Christus aber lebet, derohalben wollen wir hinein in Worms zu Trotz allen höllischen Pforten und denen, die in der Luft herrschen. Ich habe mir fürgesetzet, den Satan zu schrecken und zu ver­ achten. Machet uns also die Herberge zurecht!" Zu Oppenheim ließ ihn Spalatin er­ mahnen, er möchte sich nicht so geradezu nach Worms und in solche Gefährlichkeit begeben. Hierauf entbot er demselben: „Und wenn auch so viel'Teufel zu WormS wären, als Ziegel auf den Dächern, doch wollt' ich hinein." Als er dieses wenige Tage vor seinem Ende erzählte, setzte er hinzu: „Denn ich war unerschrocken, furchte mich nichts; Gott kann einen wohl so toll machen; ich weiß nicht, ob ich jetzt auch so freudig wäre." Am 16. April kam er in Worms an. Bor dem Wagen ritt der kaiserliche Herold in seinem Habit mit deS Adlers Wappen und sein Knecht. Dem Wagen folgte Justus Ionas mit seinem Famulus. Viele von Adel waren ihm entgegengefahren, und als er um zehn Uhr morgens in die Stadt fuhr, begleiteten ihn mehr als zweitausend Menschen bis in sein Quartier nicht weit vom Schwan, wo Ludwig, Kurfürst von der Pfalz, logirte. Gleich am folgenden Morgen wurde er von dem ReichSerbmarschall von Pappenheim citirt, auf den Nachmittag in dem Reichsrath zu erscheinen, und dieser Herr holte ihn selbst um vier Uhr ab und ging nebst dem Herold vor ihm her. Das Gedränge des Volks auf den Straßen war so groß, daß viele, um ihn zu sehen, auf die Dächer stiegen, und daß man, der Menge auszuweichen, durch einige Häuser und Gärten ging. Als Luther in den Versammlungs­ saal treten wollte, klopfte ihm der berühmte Feldherr, Georg Frundsberg, auf die Schulter und sprach: „Mönchlein, Monchlein, du gehest jetzt einen Gang, einen solchen Stand zu thun, dergleichen ich und mancher Oberster auch in der allerernstesten Schlachtordnung nicht gethan haben. Bist du auf rechter Meinung und deiner Sache gewiß, so fahr' in Gottes Namen fort und sei nur getrost, Gott wird dich nicht verlaffen!" Ulrich von Hutten hatte ihn gleichfalls durch zwei herrliche Schreiben aufgerichtet, welche überschrieben sind: „Martin Luthern, dem unüberwindlichen Theologo und Evangelisten, meinem heiligen Freunde." DaS erstere hebt also an: „ Der Herr erhöre dich am Tage der Noth! Der Name deS Gottes Jakobs schütze dich! Er sende dir Hülfe vom Heiligthum und stärke dich auS Zion! Er gebe dir, was dein Herze wünschet, und bestätige alle deine Anschläge! Er erfülle alle deine Bitten und erhöre dich von seinem heiligen Himmel in der Stärke seiner rechten Hand! Denn was soll ich euch, allerwerthester Luther, ehrwürdigster Vater, zu dieser Zeit anderes wünschen? Seid getrost und werdet stark! Ihr sehet, was es mit euch für ein Spiel werde, und worauf es ankomme. Von mir könnet ihr alles hoffen.- Wenn ihr standhaft bleibet, will ich bis an meinen letzten Odem bei euch Hallen." Auch in der Versammlung der hohen Häupter, Fürsten und Grafen, Freiherren und Bischöfe, wie auch sonstiger Abgeordneter verbargen ihm einige ihren Beifall nicht. Nach eines Augenzeugen Bericht waren an Zuhörern im Saal, im Vorzimmer und vor den Fenstern über fünf­ tausend Menschen, Welsche und Deutsche. Von allen Seiten munterte man Luther auf,

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getrost und beherzt zu sein und sich vor denen nicht zu fürchten, die nur den Leib todten können. Herr von Pappenheim (denn Grafen sind die von Pappenheim erst spater ge­ worden) erinnerte ihn, als er nun vor Kaiser und Ständen stand, nicht anders zu reden, er werde denn erst gefragt, und also trat Herr Johann von Eck, kurtrierscher Offizial, hervor und fragte im Namen des Kaisers, ob er diese Bücher, die ihm als daliegend gezeigt wurden, für die feurigen erkenne, und ob er, was darin enthalten, widerrufen wolle.

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Hierauf rief Dr. Schürf, der gleichsam als sein Advokat ihm beigegeben war: „Man zeige die Bücher mit Namen an!" und als dieses geschehen war, bejahete Luther zwar die erste Frage, bat sich aber zur Beantwortung der zweiten Bedenkzeit aus, welche der Kaiser ihm auch gewährte. Es war sowohl seiner, als der angesehenen Versammlung in hohem Grade würdig, in diesen hohen und heiligen Dingen die höchste Besonnenheit zu zeigen und, was Leichtsinn oder Mangel an Ernst oder gar stürmische Leidenschaft verrathen konnte, von diesem wichtigen Augenblicke ganz zu entfernen. Da er nun gleich am andern Tage wieder in den Reichsrath gefordert ward, war jedermann um so mehr gespannt und begierig auf die entscheidende Antwort. Wiederum wurde er zu dieser Audienz durch den Herold um vier Uhr abgeholt, mußte aber unter einer großen Menge Volks bis sechs Uhr stehen und warten; es brannten schon alle Fackeln in dem Saal der Reichsversammlung. Als er endlich vorgelassen wurde und man ihn reden hieß, sprach er mit deutschen Worten also: „ Allergnädigster Kaiser, gnädigste Kurfürsten, Fürsten und Herren! Ich erscheine als der Gehorsame auf dem Termine, so mir gestern abends angesetzt ist, und bitte durch Gottes Barmherzigkeit, Ew. Majestät und Gnaden wollen diese gerechte und wahrhaftige Sache, wie ich hoffe, gnädigst hören; und so ich aus Unverstand vielleicht einem jeglichen seinen gebührenden Titel nicht geben oder mich sonst nicht nach Hofgebrauch in Geberden erzeigen sollte, mir es gnädigst zu gut halten, als der ich nicht zu Hofe gewest, sondern immer im Kloster gesteckt bin und von mir anders nicht zeugen kann, denn daß ich in dem, was von mir bishero mit einfältigem Herzen gelehrt und geschrieben worden, allein Gotteö Ehre und der Ehristgläubigen Nutz und Seligkeit, damit dieselben rechtschaffen und rein unter­ richtet würden, angesehen und gesucht habe." Hierauf machte er einen Unterschied unter seinen Büchern; einige seien solche, in welchen er vom Glauben und christlichen Werken recht und christlich nach selbsteigenem Zeugnis seiner Widersacher gelehrt; die könne er nicht widerrufen. „Ja, auch die päpstliche Bulle," sagte er, „ob sie wohl geschwind und heftig ist, doch mach: sie etliche meiner Bücher unschädlich, wiewohl sie dieselben durch ein ungeheuer widernatürlich Urtheil verdammet." In den andern greife er das Papstthum und der Papisten Lehre an, die mit ihrer falschen Lehre und bösem Exempel die Christenheit an Leib uüd Seele verwüstet hätten. „Denn niemand," sagte er, „kann verneinen und dissimuliren, weil es die Erfahrung zeuget und alle fromme Herzen darüber klagen, daß durch des Papstes Gesetz und Menschenlehre der Christgläubigen Gewiffen aufs allergreulichste und jämmerlichste verstrickt, beschwert und gemartert sind, auch die Güter, Gründe und Possession, vornehmlich in dieser hochberühmten deutschen Nation, mit unglaublicher Tyrannei erschöpft und verschlungen sind und noch heutiges Tageö ohne Aufhören unziemlicherwnfe verschlungen werden." Auch diese Bücher könne er nicht widerrufen, weil er dadurcb ihre Tyrannei und Bosheit stärken würde. „O welch ein großer Schanddeckel allerlei Schalkheit und Tyrannei, lieber Gott, würde ich alsdann werden!" rief er aus. Die br.ttc Art seiner Bücher gehe wider einige Privatpersonen, die sich unterstanden hätten, römische Tyrannei zu vertheidigen und die gottselige Lehre, so er gelehret, zu fälschen und zu unterdrücken, in welchen er sich auch wohl zuweilen heftiger erwiesen, als es ihm seines Amtes gezieme; dieselben könne er aber auch nicht widerrufen, damit er nicht Ursache gebe, forthin allerlei gottloses Wesen zu vertheidigen und neue Greuel und Wüthen anzurichten. „Doch," fuhr er fort, „weil ich ein Mensch bin und nicht Gott, kann ich meinen Büchlein anders nicht helfen, noch sie vertheidigen, denn mein Herr und Heiland seiner Lehre gethan

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hat, welcher, da er, vor dem Hohenpriester Hannas um seine Lehre gefraget, von des Hohenpriesters Knecht einen Backenstreich empfangen hatte, sprach: Hab' ich übel geredet, so beweise eS, daß es böse sei! Hat nun der Herr, welcher wußte, daß er nicht irren konnte, sich nicht geweigert, Zeugnis wider seine Lehre zu hören, auch von einem geringen, schnöden Knecht, wieviel mehr soll ich, der Erd' und Asche ist und leichtlich irren kann, begehrert und warten, ob jemand Zeugnis wider meine Lehre geben wolle! Darum bitt' ich durch die Barmherzigkeit GotteS, Ew. Kaiserliche Majestät, Kurfürstliche und Fürstliche Gnaden, oder wer eS thun kann, er sei hohes oder niedriges Standes, wolle Zeugnis geben, mich mit prophetischen und apostolischen Schriften überweisen, daß ich geirrt habe; so ich deß überzeugt werde, will ich ganz willig und bereit sein, allen Irrthum zu widerrufen, und der erste sein, der meine Büchlein ins Feuer werfen will. AuS diesem, halt' ich, erscheine klärlich und öffentlich, daß ich genugsam bedacht und erwogen habe die Noth und Gefahr, das Wesen und die Zwietracht, so durch Verursachung meiner Lehre soll erwecket sein, daran ich gestern hart und stark bin erinnert worden." Dieses und noch anderes sprach Luther deutsch, aber man wußte, der Kaiser verstand bester Spanisch, als Deutsch, mochte auch die deutsche Sprache nicht leiden. „Also," erzählt Luther selbst, „dieweil ich so redete, begehrten sie von mir, ich sollte es noch einmal wiederholen mit lateinischen Worten; aber ich schwitzte sehr, und war mir des Getümmels halben, und weil ich gar unter den Fürsten stand, sehr heiß. Doch sagte Herr Friedrich von Thunau: Könnet ihr eS nicht thun, so ist's genug, Herr Doktor. Aber ich wiederholte alle meine Worte latei­ nisch; daS gefiel Herzog Friedrich, dem Kurfürsten, überaus wohl." Dieses alles that Luther aufs allerunterthänigste und demüthigste, schrie dabei auch nicht sehr, noch heftig, sondern redete fein sittig, züchtig und überaus bescheiden, doch mit großer Freudigkeit und Beständigkeit. Weil aber nun der triersche Offizial strafend einfiel und eine runde, richtige Antwort verlangte, ob er widerrufen wolle oder nicht, so sagte Luther: „Weil denn Kaiserliche Majestät, Kur- und Fürstliche Gnaden eine schlechte, ein­ fältige, richtige Antwort begehren, so will ich die geben, so weder Hörner, noch Zähne haben soll, nämlich also: eS sei denn, daß ich mit Zeugnissen der heiligen Schrift oder mit öffent­ lichen, klaren und Hellen Gründen und Ursachen überwunden und überwiesen werde (denn ich glaube weder dem Papst, noch den Concilien allein nicht, weil es am Tage und offenbar ist, daß sie oft geirrt haben und ihnen selbst widersprechend gewesen sind) und ich also mit den Sprüchen, so von mir angezogen und angeführt sind, überzeuget und mein Gewissen in GotteS Wort gefangen sei, so kann und will ich nichts widerrufen, weil weder sicher, noch gerathen ist, etwas wider das Gewissen zu thun. Hier steh' ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!" Au- MarhetnekeS Gefch. der deutsch. Reformation.

19. Gesangennehmung der Grasen Egmont und Hoorn. Der 22. August .1567 war der Tag, an welchem der Herzog Alba an den Thoren von Brüssel erschien. Sein Heer wurde sogleich in den Vorstädten in Besatzung gelegt, und er selbst ließ sein erstes Geschäft sein, gegen die Schwester seines Königs die Pflicht der Ehrerbietung zu beobachten. Weil die Statthalterin den Palast inne hatte, bezog er einstweilen das Kuilemburgische Haus, dasselbe, worin die Geusenverbrüderung ihren Namen empfangen hatte, und vor welchem jetzt durch einen wunderbaren Wechsel der Dinge die spanische Tyrannei ihre Zeichen aufpflanzte. Eine todte Stille herrschte jetzt in Brüssel, die nur zuweilen das ungewohnte Geräusch der Waffen unterbrach. Der Herzog war wenige Stunden in der Stadt, als sich seine Begleiter, gleich losgelassenen Spürhunden, nach allen Gegenden zerstreuten. Überall fremde Gesichter, menschenleere Straßen, alle Häuser verriegelt, alle Spiele eingestellt, alle

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öffentlichen Plätze verlassen, die ganze Residenz wie eine Landschaft, welche die Pest hinter sich liegen ließ. Ohne wie sonst gesprächig beisammen zu verweilen, eilten Bekannte an Bekannten vorüber; man förderte seine Schritte, sobald ein Spanier in den Straßen er­ schien. ÄedeS Geräusch jagte Schrecken ein, als pochte schon ein GerichtSdiener an der Pforte; der Adel hielt sich bang erwartend in seinen Häusern; man vermied, sich öffentlich zu zeigen, um dem Gedächtnis des neuen Statthalters nicht zu Hülfe zu kommen. Beide Nationen schienen ihren Charakter umgetauscht zu haben, der Spanier war jetzt der Red­ selige und der Brabanter der Stumme; Mißtrauen und Furcht hatten den Geist des Muthwillens und der Fröhlichkeit verscheucht, eine gezwungene Gravität sogar das Mie­ nenspiel gebunden. Jede nächste Minute fürchtete man den niederfallenden Streich. Seit­ dem die Stadt den spanischen Heerführer in ihren Mauern hatte, erging eS ihr wie einem, der einen Giftbecher auSgeleert und mit bebender Angst jetzt die tödtliche Wirkung erwartet. Diese allgemeine Spannung der Gemüther hieß den Herzog zur Vollstreckung seiner Anschläge eilen, ehe man ihnen durch eine zeitige Flucht zuvorkäme. Sein Erstes mußte sein, sich der verdächtigsten Großen zu versichern, um der Faktion für ein- und allemal ihre Häupter und dem Volke, dessen Freiheit unterdrückt werden sollte, seine Stützen zu ent­ reißen. Durch eine versteckte Freundlichkeit war es ihm gelungen, ihre erste Furcht einzuschläfern und den Grafen Egmont besonders in seine ganze vorige Sicherheit zurück­ zuwerfen, wobei er sich auf eine geschickte Art seiner Söhne, Ferdinand und Friedrich Toledo, bediente, deren Geselligkeit und Jugend sich leichter mit dem vlämischen Charakter vermischten. Durch dieses kluge Betragen erlangte er, daß auch der Graf Hoorn, der es bis jetzt für rathsamer gehalten, den ersten Begrüßungen von weitem zuzusehen, von dem guten Glücke seines Freundes verführt, nach Brüssel gelockt wurde. Einige aus dem Adel, an deren Spitze Graf Egmont sich befand, singen sogar an, zu ihrer vorigen lustigen Lebensart zurückzukehren, doch nur mit halbem Herzen und ohne viele Nachahmer zu finden. Das Kuilemburgische Haus war unaufhörlich von einer zahlreichen Welt belagert, die sich dort um die Person des neuen Statthalters herumdrängte und auf einem Gesichte, das Furcht und Unruhe spannten, eine geborgte Munterkeit schimmern ließ; Egmont besonders gab sich daS Ansehen, mit leichtem Muthe in diesem Hause aus- und einzugehen, bewirthete die Söhne des Herzogs nnb ließ sich wieder von ihnen bewirthen. Mittlerweile überlegte der Herzog, daß eine so schöne Gelegenheit zur Vollstreckung seines Anschlags nicht zum zweiten Male wiederkommen dürfte und eine einzige Unvorsichtigkeit genug sei, diese Sicherheit zu zerstören, die ihm beide Schlachtopfer von selbst in die Hände lieferte; doch sollte auch noch Hoogstraaten als der dritte Mann in derselben Schlinge gefangen werden, den er deswegen unter einem scheinbaren Vorwande von Geschäften nach der Hauptstadt rief. Zu der nämlichen Zeit, wo er selbst sich in Brüssel der drei Grafen versichern wollte, sollte der Oberste von Lodrona in Antwerpen den Bürgermeister Strahlen, einen genauen Freund des Prinzen von Oranien, der im Verdachte war, die Kalvinisten begünstigt zu haben, ein anderer den Edelmann und geheimen Sekretär des Grafen Egmont, Johann Casembrot von Beckerzeel, zugleich mit einigen Schreibern deS Grafen Hoorn in Verhaft nehmen und sich ihrer Papiere bemächtigen. Als der Tag erschienen, der zur Ausführung dieses Anschlags bestimmt war, ließ er alle Staatsräthe und Ritter, als ob er sich über die Staatsangelegenheiten mit ihnen be­ sprechen müßte, zu sich entbieten, bei welcher Gelegenheit von feiten der Niederländer der Herzog von Arschot, die Grafen von Mansfeld, der von Barlaimont, von Aremberg und von spanischer Seite außer den Söhnen des Herzogs Vitelli, Serbellon und Jbarra zugegen waren. Dem jungen Grafen von Mansfeld, der gleichfalls bei dieser Versammlung erschien, winkte sein Vater, daß er sich eiligst wieder unsichtbar machte und durch eine schnelle Flucht dem Verderben entging, das über ihn als einen ehemaligen Theilhaber des Geusenbundes verhängt war. Der Herzog suchte die Berathschlagung mit Fleiß in die

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Länge zu ziehen, um die Kuriere aus Antwerpen zuvor abzuwarten, die ihm von der Berhaftnehmung der übrigen Nachricht bringen sollten. Um dieses mit desto weniger Verdacht zu thun, mußte der Kriegsbaumeister Paciotto bei der Berathschlagung mit zugegen sein und ihm die Riffe zu einigen Festungen vorlegen. Endlich ward ihm hinterbracht, daß LodronaS Anschlag glücklich von statten gegangen sei, worauf er die Unterredung mit guter Art abbrach und die Staatsräthe von sich ließ. Und nun wollte sich Graf Egmont nach den Zimmern Don Ferdinands begeben, um ein angefangenes Spiel mit ihm fortzusetzen, als ihm der Hauptmann von der Leibwache des Herzogs, Sancho von Avila, in den Weg trat und im Namen des Königs den Degen abforderte. Zugleich sah er sich von einer Schaar spanischer Soldaten umringt, die der Abrede gemäß plötzlich aus dem Hintergründe hervortraten. Dieser höchst unerwartete Streich griff ihn so heftig an, daß er auf einige Augenblicke Sprache und Besinnung verlor; doch faßte er sich bald wieder und nahm seinen Degen mit gelaffenem Anstande von der Seite. „Dieser Stahl," sagte er, indem er ihn in des Spaniers Hände gab, „hat die Sache des Königs schon einigemal nicht ohne Glück vertheidigt." Zur nämlichen Zeit bemächtigte sich ein anderer spanischer Offizier des Grafen Hoorn, der ohne alle Ahnung der Gefahr so eben nach Hause kehren wollte. Hoorns erste Frage war nach Graf Egmom. Als man ihm antwortete, daß seinem Freunde in eben dem Augenblicke dasselbe begegne, ergab er sich ohne Widerstand. „Von ihm hab' ich mich leiten lassen," rief er aus, „eS ist billig, daß ich ein Schicksal mit ihm theile." Beide Grafen wurden in verschiedenen Zimmern in Verwahrung gebracht. Indem dieses innen vorging, war die ganze Garnison ausgerückt und stand vor dem Kuilemburgischen Hause unter dem Gewehre. Niemand wußte, was drinnen vorgegangen war; ein geheimnisvolles Schrecken durchlief ganz Brüssel, bis endlich das Gerücht diese unglückliche Begebenheit verbreitete. Sie ergriff alle Einwohner, als ob sie jedem unter ihnen selbst widerfahren wäre; bei vielen überwog der Unwille über Egmonts Verblendung daö Mitleid mit seinem Schicksal; alle frohlockten, daß Oranien entronnen sei. Auch soll die erste Frage des Kardinals Granvella, als man ihm in Rom diese Botschaft brachte, gewesen fein, ob man den Schweigenden auch habe. Da man ihm dies verneinte, schüttelte er den Kopf. „Man hat also gar nichts," sagte er, „weil man den Schweigenden entwischen ließ." Bcffer meinte es das Schicksal mit dem Grafen von Hoogstraten, den das Gerücht dieses Vorfalls auf dem Wege nach Brüssel noch erreichte, weil er Krankheits halber genöthigt worden war, langsamer zu reisen. Er kehrte eilends um und entrann glücklich dem Verderben. AuS Tchillerö Geschichte deö Abfalls der Niederlande.

20. Die Schlacht bei Lützen. Wallenstein zog sich in die weite Ebene zwischen dem Floßgraben und Lützen und erwartete in völliger Schlachtordnung den schwedischen König. Drei Kanonenschüsse, welche Graf Kolloredo von dem Schlosse zu Weißenfels abbrannte, verkündigten den Marsch des Königs, und auf dieses verabredete Signal zogen sich die friedländischen Bortruppen unter dem Kommando des Kroaten-Generals Jsolani zusammen, die an der Rippach gelegenen Dörfer zu besetzen. Ihr schwacher Widerstand hielt den anrückenden Feind nicht auf, der bei dem Dorfe Rippach über das Wasser dieses Namens setzte und sich unterhalb Lützen der kaiserlichen Schlachtordnung gegenüberstellte. Die Landstraße, welche von Weißenfels nach Leipzig führt, wird zwischen Lützen und Markranstädt von dem Floßgraben durchschnitten, der sich von Zeitz nach Merseburg erstreckt und die Elster mit der Saale verbindet. An diesen Kanal lehnte sich der linke Flügel der Kaiserlichen und der rechte des Königs von Schweden, doch so, daß sich die Reiterei beider Theile noch jenseits desselben verbreitete. Nordwärts hinter Lützen hatte Wallensteins rechter Flügel und südwärts von diesem Städtchen der linke Flügel des schwedischen Heeres gelagert. Beide Armeen kehrten der

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Landstraße ihre Fronte zu, welche mitten durch sie hinging und eine Schlachtordnung von der andern absonderte. Aber eben dieser Landstraße hatte sich Wallenstein am Abend vor der Schlacht zum großen Nachtheil seines Gegners bemächtigt, die zu beiden Seiten, der­ selben fortlaufenden Gräben vertiefen und durch Musketiere besetzen lasten, daß der Über­

gang ohne Beschwerlichkeit und Gefahr nicht zu wagen war. Hinter denselben ragte eine Batterie von sieben großen Kanonen hervor, das Musketenfeuer aus den Gräben zu unter­ stützen, und an den Windmühlen, nahe hinter Lützen, waren vierzehn kleinere Feldstücke auf einer Anhöhe aufgepflanzt, von der man einen großen Theil der Ebene bestreichen konnte. Die Infanterie, in nicht mehr als fünf große und unbehülsliche Brigaden vertheilt, stand in einer Entfernung von 300 Schritt hinter der Landstraße in Schlachtordnung, und die Reiterei bedeckte die Flanken. Alles Gepäck wurde nach Leipzig geschickt, um die Bewegungen des Heeres nicht zu hindern, und blos die Munitionswagen hielten hinter dem Treffen. Um die Schwäche der Armee zu verbergen, mußten alle Troßjungen und Knechte zu Pferde sitzen und sich an den linken Flügel anschließen, doch nur so lange, bis diePappenheimschen Völker anlangten. Diese ganze Anordnung geschah in der Finsternis der Nacht, und ehe der Tag graute, war alles zum Empfange deö Feindes bereitet. Noch an eben diesem Abend erschien Gustav Adolf auf der gegenüberliegenden Ebene und stellte seine Völker zum Treffen. Durch daS Fußvolk wurden kleine Schwadronen verbreitet, unter die Reiterei hin und wieder eine Anzahl Musketiere vertheilt. Die ganze Armee stand in zwei Linien, den Floßgraben zur Rechten und hinter sich, vor sich die Landstraße und die Stadt Lützen zur Linken. In der Mitte hielt das Fußvolk unter des Grafen von Brahe Befehlen, die Reiterei auf den Flügeln und vor der Fronte das Geschütz. Einem deutschen Helden, dem Herzoge Bernhard von Weimar, war die deutsche Reiterei des linken Flügels untergeben, und auf dem rechten führte der König selbst seine Schweden an, die Eifersucht beider Völker zu einem edlen Wettkampf zu erhitzen. Auf ähnliche Art war das zweite Treffen geordnet, und hinter demselben hielt ein Reserve-Corps unter Hindersons, eines Schottländers, Kommando. Also gerüstet erwartete man die blutige Morgenröthe, um einen Kampf zu beginnen, den mehr der lange Aufschub, als die Wichtigkeit der möglichen Folgen, mehr die Auswahl, als die Anzahl der Truppen furchtbar und merkwürdig machten. Die gespannten Er­ wartungen Europas, die man im Lager vor Nürnberg hinterging, sollten nun in den Ebenen Lützens befriedigt werden. Zwei solche Feldherren, so gleich an Ansehen, an Ruhm und an Fähigkeit, hatten im ganzen Lauf dieses Krieges noch in keiner offenbaren Schlacht ihre Kräfte gemessen, eine so hohe Wette noch nie die Kühnheit geschreckt, ein so wichtiger Preis noch nie die Hoffnung begeistert. Der morgende Tag,,sollte Europa seinen ersten Kriegsfürsten kennen lehren und einen Überwinder dem nie Überwundenen geben. Ob am Lechstrom und bei Leipzig Gustav Adolfs Genie oder nur die Ungeschicklichkeit seines Gegncrs den Ausschlag bestimmte, mußte der morgende Tag außer Zweifel setzen. Morgen mußte Friedlands Verdienst die Wahl des Kaisers rechtfertigen und die Größe des Mannes die Größe des Preises aufwägen, um den er erkauft worden war. Eifersüchtig theilte jeder einzelre Mann im Heere seines Führers Ruhm, und unter jedem Harnische wechselten die Gefühle, die den Busen der Generale durchflammten. Zweifelhaft war der Sieg, gewiß die Arbeit und daS Blut, das er dem Überwinder wie dem Überwundenen kosten mußte.

Man kannte den Feind vollkommen, dem man jetzt gegenüberstand, und die Bangigkeit, die men vergeblich bekämpfte, zeugte glorreich für seine Stärke. Endlich erscheint der gefürchtete Morgen; aber ein undurchdringlicher Nebel, der über das genze Schlachtfeld verbreitet liegt, verzögert den Angriff noch biß zur Mittagsstunde. Vor d.'r Fronte knieend hält der König seine Andacht; die ganze Armee, auf die Kniee hin­ gestürzt, stimmt zu gleicher Zeit ein rührendes Lied an, und die Feldmusik begleitet den Gesang. Dann steigt der König zu Pferde, und blos mit einem ledernen Koller und einem

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Tuchrock bekleidet (eine vormals empfangene Wunde erlaubte ihm nicht mehr, den Harnisch zu tragen), durchreitet er die Glieder, den Muth der Truppen zu einer frohen Zuversicht zu entflammen, die sein eigener ahnungsvoller Busen verleugnet. Gegen elf Uhr fängt der Nebel an sich zu zertheilen, und der Feind wird sichtbar. Zugleich sieht man Lützen in Flammen stehen, auf Befehl des Herzogs in Brand gesteckt, damit er von dieser Seite nicht überflügelt würde. Jetzt tönt die Losung, die Reiterei sprengt gegen den Feind, und das Fußvolk ist im Anmarsch gegen die Gräben. Bon einem fürchterlichen Feuer der Musketen und des dahinter gepflanzten groben Geschützes empfangen, setzen diese tapfern Bataillons mit unerschrockenem Muth ihren Angriff fort; die feindlichen Musketiere verkästen ihren Posten; die Gräben sind übersprungen; die Batterie selbst wird erobert und sogleich gegen den Feind gerichtet. Sie dringen weiter mit unaufhaltsamer Gewalt, die erste der fünf friedländischen Brigaden wird niedergeworfen, gleich darauf die zweite, und schon wendet sich die dritte zur Flucht; aber hier stellt sich der schnell gegenwärtige Geist deS Herzogs ihrem Andrange entgegen. Mit Blitzesschnelligkeit ist er da, der Unordnung seines Fuß­ volks zu steuern, und seinem Machtwort gelingt eS, die Fliehenden zum Stehen zu be­ wegen. Von drei Kavallerie-Regimentern unterstützt, machen die schon geschlagenen Bri­ gaden aufs neue Front gegen den Feind und dringen mit Macht in seine zerrissenen Glieder. Ein mörderischer Kampf erhebt sich; der nahe Feind giebt dem Schießgewehre keinen Raum, die Wuth des Angriffs keine Frist mehr zur Ladung, Mann sicht gegen Mann, das unnütze Feuerrohr macht dem Schwert und der Pike Platz und die Kunst der Erbitterung. Über­ wältigt von der Menge, weichen endlich die ermatteten Schweden über die Gräben zurück, und die schon eroberte Batterie geht bei diesem Rückzüge verloren. Schon bedecken tausend verstümmelte Leichen das Land, und noch ist kein Fuß breit Erde gewonnen. Jndeffen hat der rechte Flügel des Königs, von ihm selbst angeführt, den linken des Feindes angefallen. Schon der erste, machtvolle Andrang der schweren finnländischen Kürassiere zerstreute die leicht berittenen Polen und Kroaten, die sich an diesen Flügel anschlossen, und ihre unordent­ liche Flucht theilte auch der übrigen Reiterei Furcht und Verwirrung mit. In diesem Augenblicke hinterbringt man dem Könige, daß seine Infanterie über die Gräben zurück­ weiche und auch sein linker Flügel durch das feindliche Geschütz von den Windmühlen aus furchtbar geängstigt und schon zum Weichen gebracht werde. Mit schneller Besonnenheit überträgt er dem General von Horn, den schon geschlagenen linken Flügel des Feindes zu verfolgen, und er selbst eilt an der Spitze deS Stenbockschen Regiments davon, der Un­ ordnung seines eigenen linken Flügels abzuhelfen. Sein edles Roß trägt ihn pfeilschnell über die Gräben; aber schwerer wird den nachfolgenden Schwadronen der Übergang, und nur wenige Reiter, unter denen Franz Albert, Herzog von Sachsen-Lauenburg, genannt wird, waren behend genug, ihm zur Seite zu bleiben. Er sprengte geraden Weges dem­ jenigen Orte zu, wo sein Fußvolk am gefährlichsten bedroht war, und indem er seine Blicke umhersendet, irgend eine Bloße des feindlichen Heeres auszuspähen, auf die er den Angriff richten könnte, führt ihn sein kurzes Gesicht zu nahe an dasselbe. Ein kaiserlicher Gefreiter bemerkt, daß dem Vorübersprengenden alles ehrfurchtsvoll Platz macht, und schnell befiehlt er einem Musketier, auf ihn anzuschlagen. „Auf den dort schieße," ruft er, „daS muß ein vornehmer Mann sein." Der Soldat drückt ab, und dem Könige wird der linke Arm zer­ schmettert. In diesem Augenblick kommen seine Schwadronen dahergesprengt, und ein verwirrtes Geschrei: „Der König blutet! der König ist erschossen!" breitet unter den Ankom­ menden Schrecken und Entsetzen auS. „ES ist nichts; folgt mir!" ruft der König, feine ganze Stärke zusammenraffend; aber überwältigt von Schmerz und der Ohnmacht nahe, bittet er in französischer Sprache den Herzog von Lauenburg, ihn ohne Aufsehen aus dem Gedränge zu schaffen. Indem der Letztere auf einem weiten Umwege, um der muthlosen Infanterie diesen niederschlagenden Anblick zu entziehen, nach dem rechten Flügel mit dem Könige umwendet, erhält dieser einen zweiten Schuß durch den Rücken, der ihm den letzten

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Rest seiner Kräfte raubt. „Ich habe genug, Bruder!" ruft er mit sterbender Stimme, „suche du nur dein Leben zu retten;" zugleich sank er vom Pferde, und von noch mehreren Schüssen durchbohrt, von allen seinen Begleitern verlassen, verhauchte er unter den räube­ rischen Händen der Kroaten sein Leben. Bald entdeckte sein ledig fliehendes, im Blute gebadetes Roß der schwedischen Reiterei ihres Königs Fall, und wüthend dringt sie herbei, dem gierigen Feind diese heilige Beute zu entreißen. Um seinen Leichnam entbrennt ein mörderisches Gefecht, und der entstellte Körper wird unter einem Hügel von Todten begraben. Die Schreckenspost durcheilt in kurzer Zeit das ganze schwedische Heer; aber anstatt den Muth dieser tapfern Schaaren zu ertödten, entzündete sie ihn vielmehr zu einem neuen, wilden, verzehrenden Feuer. DaS Leben fällt in seinem Preise, da daS heiligste aller Leben dahin ist, und der Tod hat für den Niedrigen keinen Schrecken mehr, seitdem er daS gekrönte Haupt nicht mehr verschonte. Mit Löwengrimm werfen sich die uplandischen, smaländischen, finnischen, ost- und westgothischen Regimenter zum zweiten Male auf den linken Flügel des Feindes, der dem General von Horn nur noch schwachen Widerstand leistet und jetzt völlig auS dem Felde geschlagen wird. Zugleich giebt der Herzog Bernhard von Weimar dem verwaisten Heere der Schweden in seiner Person ein fähiges Oberhaupt, und der Geist Gustav Adolfs führte von neuem feine siegreichen Schaaren. Schnell ist der linke Flügel wieder geordnet, und mit Macht dringt er auf den rechten der Kaiserlichen ein. Das Ge­ schütz an den Windmühlen, das ein so mörderisches Feuer über die Schweden geschleudert hatte, fällt in seine Hand, und auf die Feinde selbst werden jetzt diese Donner gerichtet. Auch der Mittelpunkt des schwedischen Fußvolks setzt unter Bernhards und Kniephausens Anführung aufs neue gegen die Graben an, über die er sich glücklich hinwegschwingt und zum zweiten Male die Batterie der sieben Kanonen erobert. Auf die schweren Bataillons des feindlichen Mittelpunkts wird jetzt mit verdoppelter Wuth der Angriff erneuert, immer schwächer und schwächer widerstehen sie, und der Zufall selbst verschwört sich mit der schwe­ dischen Tapferkeit, ihre Niederlage zu vollenden. Feuer ergreift die kaiserlichen Pulver­ wagen, und unter schrecklichem Donnerknall sieht man die aufgehäuften Granaten und Bomben in die Lüfte fliegen. Der in Bestürzung gesetzte Feind wähnt sich von hinten an­ gefallen, indem die schwedischen Brigaden von vorn ihm entgegenstürmen. Der Muth entfällt ihm. Er sieht seinen linken Flügel geschlagen, seinen rechten im Begriff zu erliegen, sein Geschütz in deö Feindes Hand. Es neigt sich die Schlacht zu ihrer Entscheidung, daS Schicksal des Tages hängt nur noch an einem einzigen Augenblick: da erscheint Pappenheim auf dem Schlachtfelde mit Kürassieren und Dragonern; alle erhaltenen Vortheile sind verloren, und eine ganz neue Schlacht fängt an. Der Befehl, welcher diesen General nach Lützen zurückrief, hatte ihn zu Halle erreicht, eben da seine Völker mit Plünderung dieser Stadt noch beschäftigt waren. Unmöglich war es, das zerstreute Fußvolk mit der Schnelligkeit zu sammeln, als die dringende Ordre und die Ungeduld dieses Kriegers ver­ langten. Ohne es zu erwarten, ließ er acht Regimenter Kavallerie aufsitzen und eilte an der Spitze derselben spornstreichs auf Lützen zu, an dem Feste der Schlacht Theil zu nehmen. Er kam noch eben recht, um die Flucht des kaiserlichen linken Flügels, den Gustav Horn auS dem Felde schlug, zu bezeugen und sich anfänglich selbst darin verwickelt zu sehen. Aber mit schneller Gegenwart des Geistes sammelt er diese flüchtigen Völker wieder und führt sie auft neue gegen den Feind. Fortgerissen von seinem wilden Muth und voll Ungeduld, dem Könige selbst, den er an der Spitze dieses Flügels vermuthet, gegenüber zu fechten, bricht er fürchterlich in die schwedischen Schaaren, die, ermattet vom Siege und au Zahl zu schwach, dieser Flut von Feinden nach dem männlichsten Widerstände unterliegen. Auch den erlöschenden Muth des kaiserlichen Fußvolks ermuntert Pappenheims nicht mehr gehoffte Erscheinung, und schnell benutzt der Herzog von Friedland den günstigen Augenblick, das Treffen aufs neue zu formiren. Die dicht geschlossenen schwedischen Bataillons werden

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unter einem mörderischen Gefecht über die Gräben zurückgetrieben und die zweimal verlornen Kanonen zum zweiten Male ihren Händen entrissen. Das ganze gelbe Regiment als das trefflichste von allen, die an diesem blutigen Tage Beweise ihres Heldenmuthes gaben, lag todt dahingestreckt und bedeckte noch in derselben schönen Ordnung den Wahlplatz, den es lebend mit so standhaftem Muthe behauptet hatte. Ein ähnliches Loos traf ein anderes, blaues Regiment, welches Graf Piccolomini mit der kaiserlichen Reiterei nach dem wüthendsten Kampfe zu Boden warf. Zu sieben verschiedenen Malen wiederholte dieser treffliche General den Angriff; sieben Pferde wurden unter ihm erschossen, und sechs Musketenkugeln durch­ bohrten ihn; dennoch verließ er das Schlachtfeld nicht eher, als bis ihn der Rückzug des ganzen Heeres mit fortriß. Den Herzog selbst sah man mitten unter dem feindlichen Kugel­ regen mit kühler Seele feine Truppen durchreiten, dem Nothleidenden nahe mit Hülfe, dem Tapfern mit Beifall, dem Verzagten mit seinem strafenden Blick. Um und neben ihm stürzen seine Völker entseelt dahin, und fein Mantel wird von vielen Kugeln durchlöchert; aber die Rachegötter beschützen heute seine Brust, für die schon ein anderes Eisen geschliffen ist; auf dem Bette, wo Gustav erblaßte, sollte Wallenstein den schuldbefleckten Geist nicht verhauchen. Nicht so glücklich war Pappenheim, der Telamonier des Heeres, der furchtbarste Soldat des Hauses Österreich. Glühende Begier, dem Könige selbst im Stampfe zu begegnen, riß den Wüthenden mitten in das blutigste Schlachtgewühl, wo er seinen edlen Feind am wenigsten zu verfehlen hoffte. Auch Gustav hatte den feurigsten Wunsch gehegt, diesen geachteten Gegner von Angesicht zu sehen, aber die feindselige Sehnsucht blieb ungestillt, und erst der Tod führte die versöhnten Helden zusammen. Zwei Muöketenkugeln durch­ bohrten Pappenheims narbenvolle Brust, und gewaltsam mußten ihn die Seinen aus dem Mordgewühl tragen. Indem man beschäftigt war, ihn hinter das Tressen zu bringen, drang ein Gemurmel zu feinen Ohren, daß der, den er suchte, entseelt auf dem Wahlplatze liege. Als man ihm die Wahrheit dieses Gerüchtes bekräftigte, erheiterte sich fein Gesicht, und das letzte Feuer blitzte in feinen Augen. „ So hinterbringe man denn dem Herzoge von Friedland," rief er aus, „daß ich ohne Hoffnung zum Leben daniederliege, aber fröhlich dahinscheide, da ich weiß, daß dieser unversöhnliche Feind meines Glaubens an einem Tage mit mir gefallen ist." Mit Pappenheim verschwand das Glück der Kaiserlichen von dem Schlachtfelde. Nicht so bald vermißte die schon einmal geschlagene und durch ihn allein wiederhergestellte Reiterei des linken Flügels ihren sieghaften Führer, als sie alles verloren gab und mit rnuthloser Verzweiflung das Weite suchte. Gleiche Bestürzung ergriff auch den rechten Flügel, wenige Regimenter ausgenommen, welche die Tapferkeit ihrer Obersten, Götz, Terzky, Kolloredo und Piccolomini, nöthigte Stand zu halten. Die schwedische Infanterie benutzt mit schneller Entschlossenheit die Bestürzung des Feindes. Um die Lücken zu ergänzen, welche der Tod in ihr Vvrdertreffen gerissen, ziehen sich beide Linien in eine zusammen, die den letzten entscheidenden Angriff wagt. Zum dritten Male setzt sie über die Gräben, und zum dritten Male werden die dahintergepflanzten Stücke erobert. Die Sonne neigt sich eben zum Untergange, indem beide Schlachtordnungen auf einander treffen. Heftiger erhitzt sich der Streit an seinem Ende, die letzte Kraft ringt mit der letzten Kraft, Geschicklichkeit und Wuth thun ihr Äußerstes, um in den letzten, theuren Minuten den ganzen verlornen Tag nachzuholen. Umsonst, die Verzweiflung erhebt jede Armee über sich selbst, keine versteht zu siegen, keine zu weichen, und die Taktik erschöpft hier ihre Wunder nur, um dort neue, nie gelernte, nie in Übung gebrachte Meisterstücke der Kunst zu entwickeln. Endlich setzen Nebel und Nacht dem Gefecht eine Grenze, dem die Wuth keine setzen will, und der Angriff hört auf, weil man seinen Feind nicht mehr findet. Beide KriegSheere scheiden mit stillschweigender Übereinkunft aus einander, die erfreuenden Trom­ peten ertönen, und jedes, für unbesiegt sich erklärend, verschwindet auö dem Gefilde. Die Artillerie beider Theile blieb, weil die Rosse sich verlaufen, die Nacht über auf dem Wahlplatze verlassen stehen, zugleich der Preis und die Urkunde des Sieges für den,

Erzählung.

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der die Wahlstatt eroberte. Aber über der Eilfertigkeit, mit der er von Leipzig und Sachsen Abschied nahm, vergaß der Herzog von Friedland, seinen Amheil daran von dem Schlacht­ felde abzuholen. Nicht lange nach geendigtem Treffen erschien das Pappenheimsche Fuß­ volk, das seinem vorauseilenden General nicht schnell genug hatte folgen können, sechs Regimenter stark, auf demWahlplatz; aber die Arbeit war gethan. Wenige Stunden früher würde diese beträchtliche Verstärkung die Schlacht wahrscheinlich zum Vortheil des Kaisers entschieden und selbst noch jetzt durch Eroberung deS Schlachtfeldes die Artillerie des Her­ zogs gerettet und die schwedische erbeutet haben; aber keine Ordre war da, ihr Verhalten zu bestimmen, und, zu ungewiß über den Ausgang der Schlacht, nahm sie ihren Weg nach Leipzig, wo sie das Hauptheer zu finden hoffte. Dahin hatte der Herzog von Friedland seinen Rückzug genommen, und ohne Geschütz, ohne Fahnen und beinahe ohne alle Waffen folgte ihm am andern Morgen der zerstreute Überrest seines Heeres. Zwischen Lützen und Weißenfels, scheint es, ließ Herzog Bernhard die schwedische Armee von den Anstrengungen dieses blutigen Tages sich erholen, nahe genug an dem Schlachtfelde, um jeden Versuch des Feindes zur Eroberung desselben sogleich vereiteln zu können. Bon beiden Armeen lagen über 9000 Mann todt auf dem Wahlplatze, noch weit größer war die Zahl der Verwun­ deten, und unter den Kaiserlichen besonders fand sich kaum einer, der unverletzt aus dem Treffen zurückgekehrt wäre. Die ganze Ebene von Lützen bis an den Floßgraben war mit Verwundeten, mit Sterbenden, mit Todten bedeckt. Biele von dem vornehmsten Adel waren auf beiden Seiten gefallen; auch der Abt von Fulda, der sich als Zuschauer in die Schlacht gemischt hatte, büßte seine Neugier und seinen unzeitigen Glaubenseifer mit dem Tode. Von Gefangenen schweigt die Geschichte; ein Beweis mehr für die Wuth der Armeen, die keinen Pardon gab oder keinen verlangte. Pappenheim starb gleich am folgenden Tage zu Leipzig an seinen Wunden; ein unersetzlicher Verlust für das kaiserliche Heer, das dieser treffliche Krieger so oft zum Siege geführt hatte. Die Prager Schlacht, der er zugleich mit Wallenstein als Oberst beiwohnte, eröffnete seine Heldenbahn; gefährlich verwundet, warf er durch den Ungestüm seines Muthes mit wenigen Truppen ein feindliches Regiment danieder und lag viele Stunden lang, mit andern Todten verwechselt, unter der Last seines Pferdes auf der Wahlstatt, bis ihn die ©einigen bei Plünderung des Schlachtfeldes ent­ deckten. Mit wenigem Volk überwand er die Rebellen in Ober-Hsterreich, 40000 an der

Zahl, in drei verschiedenen Schlachten, hielt in dem Treffen bei Leipzig die Niederlage des Tilly lange Zeit durch seine Tapferkeit auf und machte die Waffen des Kaisers an der Elbe und an dem Weserstrom siegen. Das wilde, stürmische Fönet' seines Muthes, den auch die entschiedenste Gefahr nicht schreckte und kaum das Unmögliche bezwang, machte ihn zum furchtbarsten Arm des Feldherrn, aber untüchtig zum Oberhaupt deS Heeres; das Treffen bei Leipzig ging, wenn man dem Aussprnche Tillys glauben darf, durch seine ungestüme Hitze verloren. Auch er tauchte bei Magdeburgs Zerstörung seine Hand in Blut; sein Geist, durch frühen, jugendlichen Fleiß und vielfältige Reisen zur schönsten Blüte entfallet, ver­ wilderte unter den Waffen. Auf seiner Stirn erblickte man zwei rothe Striemen, Schwer­ tern ähnlich, womit die Natur schon bei der Geburt ihn gezeichnet hatte; auch noch in späterr Jahren erschienen diese Flecken, so oft eine Leidenschaft sein Blut in Bewegung brachte, und der Aberglaube überredete sich leicht, daß der künftige Beruf des Mannes schon ms der Stirn des Kindes angedeutet worden fei. Ein solcher Diener hatte auf die Dankbarkeit beider österreichischen Linien den gegründetsten Anspruch; aber den glänzendsten Beweis derselben erlebte er nicht mehr; schon war der Eilbote auf dem Wege, der ihm das grldene Vließ von Madrid überbringen sollte, als der Tod ihn in Leipzig dahinraffte. Ob man gleich in allen österreichischen und spanischen Landen über den erfochtenen Sieg las Te Deum anstimmte, so gestand doch Wallenstein selbst durch die Eilfertigkeit, mit de: er Leipzig und bald darauf ganz Sachsen verließ und auf die Winterquartiere in diesem Lande Verzicht that, öffentlich und laut feine Niederlag e. Zwar that er noch einen

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schwachen Versuch, die Ehre des Sieges gleichsam im Fluge wegzuhaschen, und schickte am andern Morgen seine Kroaten aus, das Schlachtfeld zu umschwärmen; aber der Anblick des schwedischen Heeres, das in Schlachtordnung dastand, verscheuchte im Augenblick diese flüchtigen Schaaren, und Herzog Bernhard nahm durch Eroberung der Wahlstatt, auf welche bald nachher die Einnahme Leipzigs folgte, unbestrittenen Besitz von allen Rechten des Siegers. Aber ein theurer Sieg, ein trauriger Triumph! Jetzt erst, nachdem die Wuth des Kampfes erkaltet ist, empfindet man die ganze Größe des erlittenen Verlustes, und das Jubelgeschrei der Überwinder erstirbt in einer stummen, finstern Verzweiflung. Er, der sie

in den Streit hinausgeführt hatte, ist nicht mit zurückgekehrt. Draußen liegt er in seiner gewonnenen Schlacht, mit dem gemeinen Haufen niedriger Todten verwechselt. Nach langem vergeblichen Suchen entdeckt man endlich den königlichen Leichnam unfern des großen Steines, der schon hundert Jahre vorher zwischen dem Floßgraben und Lützen gesehen worden, aber von dem merkwürdigen Unglücksfalle dieses Tages den Namen des Schweden­ steines führt. Von Blut und Wunden bis zum Unkenntlichen entstellt, von den Hufen der Pferde zertreten und durch räuberische Hände seines Schmucks, seiner Kleider beraubt, wird er unter einem Hügel von Todten hervorgezogen, nach Weißenfels gebracht und dort dem Wehklagen seiner Truppen, den letzten Umarmungen der Königin überliefert. Den ersten Tribut hatte die Rache geheischt, und Blut mußte dem Monarchen zum Sühnopfer strömen; jetzt tritt die Liebe in ihre Rechte ein, und milde Thränen fließen um den Menschen. Der allgemeine Schmerz verschlingt jedes einzelne Leiden. Bon dem betäubenden Schlage noch besinnungslos, stehen die Anführer in dumpfer Erstarrung um seine Bahre, und keiner ge­ traut sich noch, den ganzen Umfang dieses Verlustes zu denken. Der Kaiser, erzählt uns Khevenhiller, zeigte beim Anblick des blutigen Kollers, das man dem Könige in der Schlacht abgenommen und nach Wien geschickt hatte, eine anständige Rührung, die ihm wahrscheinlich auch von Herzen ging. „Gern," rief er aus, „hätte ich dem Unglücklichen ein längeres Leben und eine fröhliche Rückkehr in sein Königreich gegönnt, wenn nur in Deutschland Friede geworden wäre!" AuS Schillers Gesch. de- dreißigjährigen Krieges.

21. Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst. Von den verheerenden Folgen des dreißigjährigen Krieges zu Boden gedrückt, im Osten von Polen, im Norden von Schweden bedrängt, außer Staude, sich selbst zu helfen: so drohte auch Brandenburg dem Loose der Verkümmerung und Nichtigkeit zu erliegen, dem damals viel blühendere Theile Deutschlands verfallen sind. Daß dies nicht geschah, daß mitten in der Verödung und dem Verfalle der ältesten und schönsten Fürstenthümer Deutsch­ lands auf diesem kargen, spät erworbenen Boden ein durch Arbeitskraft und Rührigkeit, wie durch seine Waffenmacht gleich bedeutsamer Staat erwuchs, das war das weltgeschichtliche Verdienst Friedrich Wilhelms, des großen Kurfürsten. Er kam gerade noch zeitig genug zur Regierung, um die unglücklichsten Folgen der Politik des Vorgängers abzuwenden, dem Kaiser, wie den Schweden gegenüber eine selbständige Haltung zu gewinnen und Hand an­ zulegen an die Umgestaltung des Landes, das erst durch ihn zu einem geordneten Ganzen umgeschaffen ward. Mußte er sich doch erst zum Herrn in seinem eigenen Erbe machen, die Bande der Abhängigkeit von der habsburgischen Politik zerreißen, das Land von den äußern und innern Drängern befreien und die Lehnöherrlichkeit Polens über Preußen ab­ schütteln. Was bisher nur zerstreute Provinzen waren, ohne inneren und zum Theil ohne äußeren Zusammenhang über den größten Theil des deutschen Nordens vom Riemen bis zum Rhein ausgebreitet, nur zufällig dem Hause Hohenzollern gemeinsam Unterthan als Kurlande, als fürstliche Erwerbung, als polnisches Lehen, das ward jetzt zu einem in sich verbundenen, von einem Mittelpunkte aus geleiteten Staatswesen verschmolzen. Wie aber

Erzählung.

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Brandenburg - Preußen der einzige Staat war, der aus der Zerrüttung bald sich aufrichtete, in dem die Wunden des Krieges rasch vernarbten, so war auch sein neuer Regent der einzige Fürst jener Zeit, der, frei von den schlimmen Einflüsien fremder Nachahmung, kerndeutsch und tüchtig, die wohlthätigen Wirkungen der fürstlichen Macht in großen Ergebniffen ver­ anschaulichte.In einer Zeit, wo eine Menge fürstlicher Kräfte entweder in der Verwilderung eines furchtbaren Krieges untergingen oder der französischen Nachahmerei verfielen, stellte der brandenburgische Kurfürst fast einzig das Muster eines deutschen Fürsten auf, der die ver­ derblichen Einflüsse der Zeit von sich fern gehalten hat. Unter Sorgen und Mühen aus­ gewachsen, aber an Leib und Seele gesund erhallen, hatte er früh gelernt, sich selbst zu beherrschen, Vorsicht und Entschlossenheit zu üben und der eigenen Leidenschaften Meister zu werden. Weder Rom und Madrid, noch Versailles hatten auf ihn eingewirkt; er ver­ lebte seine Jugend unter den Eindrücken holländischer Freiheit und Macht, die damals auf dem Höhepunkt standen. Der Anblick eines rührigen, unermüdlichen Volkes, dessen gesunde Schöpferkraft nicht durch die Einflüsse des Adels und der Priester verkümmert ward, der Eindruck eines Staates, der auf engem Raume durch die Kraft der Arbeit und des Geistes zu europäischer Bedeutung herangewachsen war, das Vorbild eines Fürsten wie Friedrich Heinrich von Oranien: das war die Schule gewesen, in welcher die gesunde Natur des großen brandenburgischen Fürsten sich zu seinem Regentenberufe gebildet hatte. Indessen das Reich seinem völligen Verfalle entgegenging, gedieh in dem jungen Staate Friedrich Wilhelms alles, was von gesundem deutschen Stoffe vorhanden war, zur trefflichsten Entfaltung. Hier ward das Heer gegründet, der Staatshaushalt geordnet, der Anbau des Landes gehoben, Gewerbe und Handel gefördert und der deutschen Kultur ein weites, zum Theil noch unbebautes Gebiet erobert, hier ferner dem bedrohten Protestantismus ein sicheres Asyl eröffnet und Kunst und Wissenschaft in einer eigenthümlich deutschen Rich­ tung gepflegt, während fast überall, sonst das VolkSthümliche vor dem Fremden weichen mußte. In einem Augenblicke, wo Österreich und das deutsche Reich dem Übergreifen des französischen Einflusses ruhig zusahen, griff Friedrich Wilhelm zu den Waffen, und so klein seine Macht noch war, Deutschland hatte doch wieder einen Fürsten aufzuweisen, der sich gegen die den westfälischen Frieden verbürgenden Mächte in Respekt zu setzen verstand. In Zeiten, wo die alte Handels- und Seemacht Deutschlands verloren war und in den früheren weltgeschichtlichen Sitzen derselben fast die Überlieferung abzusterben drohte, suchte er die Gunst der Lage Preußens an der See rührig zu benützen, um den Grund zu einer Flotte zu legen, die Anfänge einer Kolonialmacht zu schaffen und auf der Ostsee, deren Herrschaft damals unter den nordischen Mächten der Preis eines noch unausgefochtenen Kampfes war, sein Übergewicht zu begründen. Friedrich Wilhelm erhob sich zuerst wieder

und in Zeiten, wo Ludwigs XIV. Macht noch ungebrochen war, zu dem kühnen Gedanken, die Fremden vom deutschen Boden zu vertreiben, und wenn er in den Kämpfen gegen die Schweden und Franzosen zunächst seinem eigenen brandenburgischen Interesse folgte, so sind doch eben dadurch zugleich die wichtigsten Aufgaben einer deutschen Politik mit einem Glanze ausgenommen worden, dessen sich im ganzen Zeitalter kein deutscher Fürst rühmen durfte. Den nächtigsten Eindruck machte aber die Thatsache, daß Deutschland seit lange keinen Fürster hervorgebracht, der in den großen europäischen Verhältnissen eine so selbständige Stellurg behauptete wie der große Kurfürst, der mit einer kleinen Macht in alle großen Fragen seiner Zeit mitwirkend und nicht selten leitend eingriff, der alle Bestrebungen der Großmächte, ihn inS Schlepptau zu nehmen, mit sicherem Takte vereitelte und, ohne einem dienstbar zu sein, sich überall auf seine eigenen Füße stellte. LuS -ausser- deutscher Geschichte.

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22 (23). Friedrich der Große bei Prag. An vier Punkten zugleich brach Friedrich der Große in Böhmen ein, und auf vier verschiedenen Wegen ging es geradezu auf die Hauptstadt des Landes los. Dort sollten an einem bestimmten Tage die verschiedenen Heerhaufen zusammentreffen. Unterwegs schlug der Herzog von Bevern bei Reichenberg 20000 Österreicher in die Flucht und bemächtigte

sich aller ihrer reichgefüllten Borrathshäuser, und schon am Morgen des sechsten Mai stand der König mit seinen Kriegern vor Prag. Nur einer seiner Heerhaufen fehlte ihm noch, den der Prinz Moritz von Dessau anführte, deffen Eile der Elbstrom ein unerwünschtes Hindernis in den Weg legte. Vor Prag aber lagerten wie zwei gewaltige Wächter der Prinz von Lothringen und der Feldherr Brown mit 76000Österreichern. So vortheilhaft auch die Stellung des Feindes war, dem Friedrich nur eine viel geringere Anzahl von Kriegern entgegenführen konnte, welche noch dazu des Weges Anstrengung und Mühe er­ müdet hatte, so beschloß er dennoch, den Angriff sogleich zu wagen. Es war vergeblich, daß der alte, erfahrene Heldengreis Schwerin ihn von diesem Vorsatze zurückzubringen und ihn wenigstens dahin zu bewegen suchte, daß er so lange warten möchte, bis Prinz Moritz mit seinen Schaaren zu ihm gestoßen wäre. Der König blieb unerschütterlich fest bei dem einmal gefaßten Entschluffe. „Nichts, nichts!" entgegnete er dem alten Feldherrn; „eS muß noch heute sein! Frische Fische gute Fische!" Da funkelte in jugendlicher Helden­ glut das Auge des Greises; er drückte den Hut ins Gesicht und zog rasch den Degen, indem er rief: „Nun, soll und muß es denn durchaus heute sein, so will ich gleich dem Feinde entgegen!" Friedrich hatte Mühe, den grauen Helden wenigstens so lange zurückzuhalten, bis er den Plan zur Schlacht entworfen. Es war neun Uhr deö Morgens, als die blutigste Schlacht begann, welche in diesem ganzen Kriege gefochten ward. Im Sturmschritt griffen Friedrichs Krieger die feindlichen Batterien an; aber mit dem fürchterlichsten Donnerkrachen spieen die Feuerschlünde Tod und Verderben in die Reihen der Stürmenden, daß ganze Rotten mit zerschmetterten Gliedern zu Boden sanken. Hier schien menschliche Tapferkeit vergebens zu sein, und selbst Zielens Heldenschaaren bebten vor dem gräßlichen Anblick. Schon begannen die Preußen zu wanken. Doch solchen ungewohnten Anblick vermochte Schwerin, der sechsundsiebzigjährige Held, nicht zu ertragen. Rasch sprang er von seinem Roffe, und mit jugendlichem Ungestüm entriß er einem flüchtigen Fahnenträger das Banner. „Heran, meine Kinder!" rief er; „wer kein Feigling ist, der folgt mir nach! • Und hoch schwang er die Fahne, und neuer Muth belebte jede Brust. Mit kühner Todesverachtung, nur von heißer Kampflust entbrannt, drängten sich die Krieger ihrem ritterlichen Führer nach, und immer vorwärts ging es auf die todbrüllenden Feuerschlünde. Da sank, von vier Kugeln durchbohrt, der graue Held sterbend in sein Blut, und auf ihn sank die Fahne, die er so kühn getragen. Das war für Preußens Krieger die Losung zur furchtbaren Rache. Der General Fouquö trat an die Stelle Schwerins und führte die begeisterten Reiter, die keines Todes und keiner Wunden mehr achteten, hoch über die Leichen ihrer Kampfgenossen das schreckliche Ziel hinan. Ihm zerschmetterte eine Stückkugel das Schwert in der Hand; er aber ließ einen andern Degen sich an die blutende Rechte binden und wich nicht aus dem Kampfe. Auch Herzog Ferdinand von Braunschweig bezeichnete diesen Tag durch Thaten, des höchsten Ruhmes werth. Aus sieben Schanzen vertrieb er die Feinde, so mannhaft sie sich auch wehrten. Doch noch immer wollten die Österreicher das

Feld nicht räumen, auch sie fochten mit ehrenwerther Tapferkeit; denn auch ihr FeldherrBrown war ein Held. Als aber dieser, tödtlich getroffen, aus dem Mordgewühle getragen werden mußte, und als König Friedrich selbst an der Spitze seines Fußvolks des Feindes Mitte angriff: da hielten sie sich nicht länger und überließen den Preußen das schwer er­ rungene Schlachtfeld. Elf Stunden hatte der heiße Kampf gedauert, und 19000 Öster­ reicher lagen todt auf dem Wahlplatze.

Aber auch 16000 Preußen waren dem Siege als

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Opfer gefallen. Die geschlagenen Feinde flüchteten dem größten Theile nach in die feste Stadt Prag. Ein anderer Theil von ihnen suchte den kaiserlichen Feldherrn Daun zu er­ reichen, der mit einem kleineren Heere bei Kuttenberg stand. Friedrich aber schloß Prag enge ein und ließ die Stadt furchtbar beschießen, um sie zur Übergabe zu zwingen. Schon

war die Noth der Belagerten aufs höchste gestiegen. ES fehlte ihnen Brot und Schießbedarf, und man konnte daraus sehen, daß sie sich nur noch einige Tage würden halten können; doch führ des Königs Eile ging alles viel zu langsam. Denn seine Feinde ließen ihm nicht Zeit, bei der Belagerung einer Stadt lange zu verweilen. Aus Ostpreußen und von den Rhein landen her schollen ihm beunruhigende Nachrichten entgegen. Dort waren die Russen, hier die Franzosen eingefallen, und der König hätte wohl gewünscht, sich vervielfachen zu können, um überall den Feinden des Vaterlandes zu begegnen. Darum beschloß er, den Feldmarschall Daun anzugreifen, hoffend, wenn dieser geschlagen wäre, würde Prag nicht länger widerstehen. Aus -einels preußischer Geschichte.

23 (24). Friedrich der Große bei Zorndorf. Der König bezog bei Landshut ein festes Lager, wo er wenige Wochen lang ruhig stehen blieb. Doch neue Unglücksbotschaften jagten ihn bald auS seiner Ruhe auf. Von Preußen war, durch Polen und Pommern ziehend, wo der Graf Dohna mit 16000 Kriegern gegen die Schweden kämpfte, ein Heer von 80000 Russen in die Neumark eingefallen und näherte sich der Festung Küstrin. Ihren Weg bezeichneten dieselben Greuel, die sie vor einem Jahre in Preußen verübt hatten. Graf Dohna wollte es nicht wagen, mit seiner verhältnismäßig geringen Schaar der ungeheuern Macht im offnen Kampf entgegenzutreten, und zog sich gegen Küstrin zurück, nm die bedrohte Feste gelegentlich unterstützen zu können. Der Russe Fermor schritt indessen sofort zur Belagerung. Er hatte sich die unglückliche Stadt zum Opfer der Kriegswuth ersehen, und auf sein Gebot senkte sich ein verderbender Feuerhagel von glühenden Kugeln und Bomben auf sie herab, der in wenigen Stunden ganz Küstrin in einen Aschenhaufen verwandelte. Furchtbar wütheten die Flammen. An Löschen und Rettung des Vermögens war nicht zu denken, kaum an die Rettung des Lebens. Viele Hunderte von Männern, Weibern und Kindern fanden theils in der schrecklichen Glut ihren Tod, theils wurden sie von den einstürzenden Gebäuden begraben, theils von dem Qualme des Rauches erstickt. Erst jetzt, nachdem die Stadt in Trümmern lag, forderte der Russe den preußischen Befehlshaber zur Übergabe der Festung auf. Aber dieser gab zur Antwort, er werde sich bis auf den letzten Blutstropfen vertheidigen und sich eher unter den Trümmern der Festung begraben, als sie in Feindes Hand liefern. Dies waren die Nachrichten, die Friedrich in seinem Lager bei Landshut erhielt, und sogleich eilte er, den Feldmarschall Keith zu Schlesiens Schutz mit dem Hauptheere zurück­ lassend, an der Spitze von 14000 auserwählten Kriegern dem wilden Feinde entgegen. Die Kunde von seiner Nähe befreite sogleich die Feste von ihren Feinden. Graf Fermor zog sich zurück und lagerte mit seinen Schaaren in der Nähe von Zorndorf. Hier war es, wo der König, durch Dohnas Heerhaufen verstärkt, am Morgen des 25. August die Russen anzugreifen beschloß. Des Helden Lage war wieder im höchsten Grade gefährlich. In Sachsen, wo Prinz Heinrich nur ein kleines Heer befehligte, war Daun mit den Öster­

reichern eingebrochen, und die Franzosen in Verbindung mit den Reichsvölkern waren im Begriff, ein Gleiches zu thun. Von Pommern her, wo sie keinen Widerstand mehr vor sich hatten, rückten die Schweden gegen das ungeschützte Berlin vor, und Friedrich selbst stand einem Feinde gegenüber, der durch seine überlegene Streiterzahl und durch wüthende Tapferkeit doppelt furchtbar war. An den AuSgang dieser einen Schlacht schien abermals de- ganzen Krieges Schicksal geknüpft zu sein; denn gelang es dem Feinde, jetzt den König zu schlagen, so war er Herr von allen preußischen Ländern. Diese- in seiner Seele erDielitz «. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur. 2. Aufl.

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wagend, entwarf Friedrich den Plan zur Schlacht. Nicht blos besiegen, gänzlich vernichten wollte er den Feind oder von ihm vernichtet werden. Darum ließ er alle Brücken, die über den Oderfluß führten, zerstören, um den Russen jede Möglichkeit zur Flucht zu benehmen, und gebot seinen Kriegern, keinen Gefangenen zu machen, sondern alles niederzuhauen, was sich ihnen entgegenstellte. Unter der Feldstücke furchtbarem Donner begann das gräßliche Mordgewühl. Die preußischen Kugeln trafen so gut, daß sie augenblicklich eine Verwirrung auf der Feinde rechtem Flügel hervorbrachten, und mit kühnem Feuer drang Friedrichs Fußvolk in die dichten Schaaren der Russen. Doch ihr Muth trieb sie zu hitzig und zu unvorsichtig vorwärts. Dies bemerkte Graf Fermor, und schnell auf seinen Wink brach mit wildem Schlachtruf seine Reiterei auf die preußischen Krieger los. Muthig hielten diese im ganzen den gewaltigen Stoß aus, doch schwankten einige Streithausen. Aber geschwungenes Schwertes und in donnerndem Galopp stürzte sich Held Seydlitz mit seinen tapfern Reiterschaaren auf den vorwärts dringenden Feind, und durch das brennende Zorndorf trieb er die russischen Reiter vor sich her und hieb dann kräftig auf FermorS Fußvolk ein. Nichts konnte ihm widerstehen. Gegen die nahen Sümpfe gedrängt, blieb hier den Russen keine andere Wahl als eine unregelmäßige Flucht oder schneller Tod. Aber die meisten von ihnen wählten den Tod für sich. Selbst als schon fast alle ihre Befehlshaber ge­ fallen und ihr Geschütz, wie ihr Schießbedarf in die Hände der Sieger gerathen war, standen sie noch unerschütterlich fest wie leblose Steinbilder in ihren Reihen und ließen sich gleichgültig hinschlachten. Verschont durfte nach des Königs Gebot niemand werden, und die Auftritte des Mordes waren entsetzlich. Doch erst der rechte Flügel des russischen Heeres war geschlagen. Jetzt sollte auch die linke Seite ihrer Schlachtordnung an­ gegriffen werden. Dies geschah; aber die Russen wehrten sich mit unerschütterlicher Tapferkeit, und Friedrich mußte es selber ansehen, wie sein wackeres Fußvolk vor dem Feinde zu weichen begann. Immer größer ward die Unordnung unter den preußischen Heerhaufen, immer allgemeiner die Flucht; und schon war es nahe daran, daß hier alle Vortheile verloren gingen, welche auf der andern Seite des Schlachtfeldes errungen waren: da mit einem Male erdonnerte die Erde von mächtigem Rosseshufschlag, und mit Sturmes­ eile flog abermals Held Seydlitz mit seinen Schaaren herbei. Das war Hülfe in der Noth! Und wie er den Sieg auf dem rechten Flügel entschieden, so zwang er jetzt daß Kriegsglück auf dem linken. Schnell gewannen seine kühnen Reiter die preußischen Bat­ terien wieder zurück, welche die Russen zuvor schon erobert hatten, und kaum war eine Viertelstunde vergangen, so war der Feind vom Schlachtfelde vertrieben. ES fehlte beiden Theilen bereits an Schießbedarf, und dies war die Ursache, daß Friedrich seinen Plan nicht ausführen und die Russen gänzlich vernichten konnte. Mit Schwert und Kolben und Flintenspieß aber fuhr man fort in höchster Erbitterung gegen einander zu kämpfen, bis daö Dunkel der Nacht und des Armes Ermattung dem gräßlichen Blutbade ein Ende machten. Jenseit der Sümpfe ordnete Graf Fermor indessen seine Schaaren wieder, und es schien, als sollte der nächste Tag daö blutige Schauspiel erneuen. Aber dies verhinderte der Mangel an Schießbedarf, und nachdem der Russe einen vollen Tag so im Angesichte deS siegenden Preußenheeres zugebracht, führte er, doch beständig verfolgt, seine Streit­ hausen über LandSberg nach Polen und Preußen zurück. Er hatte 20000 Todte auf dem blutigen Wahlplatze zurücklassen müssen, und 3000 Gefangene nebst mehr als hundert Kanonen und vielen Fahnen, wie auch die ganze Kriegskasse waren dem siegreichen Könige in die Hände gefallen. Trotz dieses entsetzlichen Verlustes rühmte Graf Fermor sich dennoch des Sieges, und zu Petersburg feierte man wegen der verlorenen Schlacht glänzende Freudenfeste. Aus -einer- preußischer Geschichte.

Erzählung.

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24 (25). Der Überfall bei Hochkirch. Friedrichs Wunsch war eine Schlacht, um die Österreicher nach Böhmen zu treiben und Schlesien zu Hülfe zu kommen, das nur. schwach besetzt und in großer Gefahr war. Daun vermied aber sorgfältig ein Treffen und suchte den Marsch Friedrichs nach Schlesien durch wohlpostirte Corps zu verzögern. Beide Armeen änderten endlich ihre Stellung. Daun nahm abermals ein festes Lager in einer geringen Entfernung von seinem vorigen, und die Preußen lagerten sich bei Hochkirch. Ein Fehler, den der preußische General Retzow beging, einen Berg unbesetzt zu laffen, war hier die Quelle einer großen Be­ gebenheit, die den König seinem Untergange nahe brachte, seinen Heldengeist im glänzendsten Lichte zeigte und zu den außerordentlichsten Scenen des siebenjährigen Krieges gehört. Die vernachlässigten Anhöhen wurden sogleich von den Österreichern besetzt und sorgfältig

verschanzt. Die dadurch gewonnenen Vortheile waren so groß, daß sie bei dem sonst so behutsamen Daun die Idee erzeugten, den König in seinem Lager zu überfallen. Der Plan dazu wird dem General Loudon zugeschrieben. Er war mit Klugheit entworfen und wurde mit Muth und Nachdruck ausgeführt. Alles bot dazu die Hand. Die Armeen standen so nahe an einander, daß der rechte Flügel der Preußen nur einen Kanonenschuß vom feindlichen Lager entfernt war. Die Menge der leichten Truppen beim österreichischen Heer war vorzüglich zum Überfall geschickt, und da ihre Scharmützel Tag und Nacht nicht aufhörten, so konnten größere Entwürfe dadurch verdeckt werden. Die Preußen, unter Friedrichs Anführung beständig gewohnt, selbst anzugreifen, träumten nicht einmal die Möglichkeit eines Angriffs von dem vorsichtigen Daun, dessen Lager nie genug befestigt werden konnte, wenn er sich in der Nähe des furchtbaren Feldherrn befand. Er kannte dessen unternehmenden Geist, dem nichts unmöglich schien, und die Schnelligkeit, mit welcher preußische Truppen geordnet und gegen den Feind geführt werden konnten. Bei allen gutgewählten Maßregeln war daher dennoch sein größtes Vertrauen auf die eingebil­ dete Sicherheit Friedrichs und seines Heers gesetzt. Daö Nachtheilige seiner Stellung war jedoch dem König nur zu wohl bekannt; er hielt es aber für schimpflich und dabei nicht für durchaus nothwendig, sich zurückzuziehn. Der in den Waffen grau gewordene Feldmarschall Keith sagte: „Wenn die Österreicher unö in diesem Lager ruhig lassen, so verdienen sie,

gehängt zu werden." Friedrich erwiderte: „Wir müssen hoffen, daß sie sich mehr vor uns als vor dem Galgen fürchten." Endlich aber beschloß er doch, das Lager zu verändern, sobald die Armee aufs neue mit Proviant versehen sein würde. Die Nacht vom 14. zum 15. Oktober war zu diesem Aufbruch festgesetzt. Das Leben vieler tausend Menschen be­ ruhte also auf dem Unterschied eines einzigen Tages. Es war nämlich schon am 13. in der Nacht, als alle Kolonnen der österreichischen Armee ihr Lager verließen, nm die Preußen zu überfallen. Der General Odonnel führte die Avantgarde, die aus 4 Bataillonen und 36 Schwadronen bestand; ihm folgte der General Sincere mit 16 und der General Forgatsch mit 18 Bataillonen. Das Corps deS Generals Loudon, das dem preußischen Lager fast im Rücken stand, wurde noch mit 4 Bataillonen und 15 Schwadronen verstärkt, wozu hernach noch die ganze österreichische Kavallerie des linken Flügels stieß. Die Infanterie dieses Flügels führte der Feldmarschall Daun selbst an. Alle diese Truppen und noch einige kleine Corps waren bestimmt, die Preußen auf dem rechten Flügel, in der Front und im Rücken anzufallen; dagegen sollte der Herzog von Aremberg mit 23 Bataillonen und 32 Schwadronen den preußischen linken Flügel beobachten und erst, wenn die Niederlage der Feinde an allen andern Orten vollendet wäre, denselben angreifen. Es befanden sich bei dem Vortrab freiwillige Grena­ diere, die hinter den Kürassieren aufsaßen, vor dem preußischen Lager aber von den Pferden sprangen, sich in Haufen formirten und so vorwärts drangen. Die Zelte blieben im österreichischen Lager stehn, und die gewöhnlichen Wachtfeuer wurden sorgfältig unter37*

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halten. Eine Menge Arbeiter mußte die ganze Nacht durch Bäume zu einem Berhau fällen, wobei sie sangen und einander beständig zuriefen. Durch dies Getöse wollten sie die preußischen Vorposten hindern, den Marsch der Truppen wahrzunehmen. Die wach­ samen preußischen Husaren aber entdeckten doch die Bewegungen deS Feindes und gaben dem König sogleich Nachricht davon. Anfangs bezweifelte er die Bewegungen selbst; da aber die wiederholten Berichte solche bestätigten, so vermuthete er jede andere Ursache der­ selben, nur keinen förmlichen Angriff. Seydlitz und Zielen befanden sich eben beim Könige und erschöpften ihre Beredsamkeit, seine Zweifel in diesen bedenklichen Augenblicken zu be­ kämpfen; sie brachten es auch dahin, daß Befehl an einige Brigaden geschickt wurde aufzustehn, und daß mehrere Regimenter Kavallerie ihre Pferde satteln mußten. Dieser Befehl aber wurde gegen Morgen wieder aufgehoben, und der jetzt ganz unbesorgte Soldat überließ sich dem Schlaf ohne alles Bedenken. Der Tag war noch nicht angebrochen, und es schlug im Dorfe Hochkirch fünf Uhr, als der Feind vor dem Lager erschien. Es kamen ganze. Haufen auserwählter Soldaten bei den preußischen Vorposten an und meldeten sich als Überläufer. Ihre Anzahl wuchs so schnell und so stark, daß sie bald Vorposten und Feldwachen überwältigen konnten. Die österreichische Armee, in verschiedene Corps getheilt, folgte der Avantgarde auf dem Fuße nach, und nun rückten sie kolonnenweise von allen Seiten in das preußische Lager ein. Viele Regimenter der königlichen Armee wurden erst durch ihre eigenen Kanonen­ kugeln vom Schlaf aufgeschreckt; denn die anrückenden Feinde, die großentheils ihr Geschütz zurückgelaffen hatten, fanden auf den schnell eroberten Feldwachen und Batterien Kanonen und Munition, und mit diesen feuerten sie ins Lager der Preußen. Nie befand sich ein Heer braver Truppen in einer schrecklicheren Lage, als die unter der Ägide Friedrichs sorglos schlafenden Preußen, die nun auf einmal im Innersten ihres Lagers von einem mächtigen Feinde angegriffen und durch Feuer und Stahl zum Todesschlaf geweckt wurden. ES war Nacht und die Verwirrung über allen Ausdruck. Viele Hunderte wurden in ihren Zelten erwürgt, noch ehe sie die Augen öffnen konnten; andere liefen halb nackt nach ihren Waffen; die Wenigsten konnten sich ihrer eignen bemächtigen. Ein Jeder ergriff daS Gewehr, daS ihm zuerst in die Hände siel, und flog damit in Reih' und Glied. Hier zeigten sich die Vortheile einer vortresilichen Disziplin auf die auffallendste Weife. In dieser entsetzlichen Lage, wo Gegenwehr fast Tollkühnheit schien und der Gedanke an Flucht und Rettung bei allen Soldaten aufsteigen mußte, wäre gänzlicher Untergang daS KriegSloos einer jeden andern Armee gewesen; selbst die besten, an Krieg und Sieg gewöhnten Trup­ pen unsers Welttheils hätten hier das Ziel ihrer Thaten und das Grab ihres Ruhmes gefunden; denn Muth allein galt hier wenig, Disziplin alles. Das Kriegsgeschrei ver­ breitete sich wie ein Lauffeuer durch das ganze preußische Lager; alles stürzte aus den Zellen, und in wenigen Augenblicken stand trotz der unaussprechlichen Verwirrung der größte Theil der Infanterie und der Kavallerie in Schlachtordnung. Die Art deS Angriffs nöthigte die Regimenter, einzeln zu kämpfen. Sie warfen sich dem Feind nun allenthalben ent­ gegen und schlugen ihn auch an einigen Orten zurück; an mehreren aber mußten sie der Über­ macht weichen. Der anbrechende Tag diente nicht, die Verwirrung zu vermindern; denn ein dicker Nebel lag auf den streitenden Heeren. Die preußische Reiterei, von Seydlitz angeführt, flog umher und schnaubte nach Thaten; sie wußte in der Dunkelheit nicht, wo sie den Feind suchen sollte; fand ihn ihr Schwert zufällig, so war das Blutbad ent­ setzlich. DaS Kürassier-Regiment von Schönaich warf allein eine ganze Linie österreichischer Infanterie über den Haufen und machte an 500 Gefangene. DaS Dorf Hochkirch stand in Flammen und wurde dennoch von den Preußen aufs tapferste vertheidigt. Der Sieg schien von dem Besitze desselben abzuhangen, weshalb Daun immer frische Truppen zum Angriff anrücken ließ. Nur 600 Preußen waren hier zu besiegen, die, als sie kein Pulver mehr hatten, den kühnen Versuch machten, sich durchzuschlagen. Ein kleiner Theil

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war so glücklich, eS zu bewirken; das LooS aller Übrigen aber waren Tod, Wunden oder Gefangenschaft. Nun rückten ganze Regimenter Preußen an und schlugen den Feind wieder aus dem Dorf. Hier war sodann der Hauptplatz deS blutigsten Kampfes. Eine Kanonenkugel nahm dem Prinzen Franz von Braunschweig den Kopf weg; der Feldmar­ schall Keith bekam einen Schuß in die Brust, stürzte zu Boden und gab ohne einen Laut seinen Heldengeist auf; auch der Feldmarschall Fürst Moritz von Dessau wurde tödtlich verwundet. Die Preußen, von vorne und im Rücken angegriffen, mußten weichen, und die österreichische Kavallerie hieb nun mit Vortheil in die tapfersten Regimenter deS preu­ ßischen Fußvolks ein. Der König führte in Person frische Truppen gegen den Feind an, der abermals zurückgeschlagen wurde; die österreichische Reiterei aber vernichtete wieder diese Vortheile der Preußen. Der Nebel verzog sich endlich, und beide Heere übersahen nunmehr den mit Leichen besäeten Wahlplatz und die allenthalben herrschende Unordnung. So sehr auch die Disziplin der Preußen Ordnung schuf, so war ihnen dennoch die Dunkelheit und daS Terrain entgegen, ihre Taktik zu gebrauchen und zweckmäßig zu kämpfen. Man bildete nun von beiden Seiten neue Schlachtordnungen. Die Österreicher waren in solcher Verwirrung, daß sie auf den Anhöhen bei Hochkirch in dichten Haufen zu Tausenden umherschwärmten. Daun ungeachtet aller erlangten Vortheile glaubte nicht, eine Armee besiegt zu haben, die alle menschlichen Erwartungen betrogen, die, obgleich in der Nacht mitten im Schlaf überfallen, dennoch so viele Stunden mit erstaunlicher Tapferkeit in Dunkelheit und Nebel gestritten, die meisten ihrer Heerführer verloren hatte und doch jetzt im Begriff stand, den Blutkampf zu erneuern. Dieses war auch die Absicht Friedrichs, als der Herzog von Aremberg, der mit seinem starken Corps unter Begünstigung deS Nebels dem König in die Flanke gekommen war, den linken Flügel der Preußen angriff. Hier wurden einige tausend Preußen über den Haufen geworfen und eine große preußische Batterie erobert. Dies war aber auch die Grenze des Siegs. Der König, der jetzt feindliche Truppen vorne und im Rücken hatte, zog seine tapfern Schaaren mitten unter diesem Mord­ getümmel zusammen und machte nach einem fünfstündigen verzweifelten Gefecht einen Rück­ zug, dem nichts als ein zweitausendjähriges Alter fehlt, um von allen Zungen gepriesen zu werden. Er wurde durch ein starkes Artilleriefeuer und durch Linien von Kavallerie gedeckt, die in der Ebene von Belgern in großen Zwischenräumen aufmarschirten, und hinter denen sich die Infanterie formirte. Die österreichische Armee war in zu großer Unordnung, um einen solchen Rückzug zu stören; überdies hatte auch Daun schon bei Kollin zu erkennen gegeben, sein Grundsatz sei, daß man einem fliehenden Feind eine goldene Brücke bauen müsse. Der Marsch Friedrichs ging nicht weit. Nur eine halbe Meile vom Wahlplatz auf den sogenannten Spitzbergen lagerte er sich mit seinen Truppen, die den größten Theil ihrer Artillerie und Bagage verloren, den kurzen Nock in der rauhen Jahreszeit zur Decke und den Himmel zum Zelte hatten. ES fehlte ihnen sogar an Pulver und Kugeln, diesem größten Bedürfnis der europäischen Heere. Die Stellung des Königs war indessen so vortheilhaft, die Mittel, allen Gefahren Trotz zu bieten, waren bei ihm so mannigfaltig und seine Truppen selbst in ihrem geschlagenen Zustande noch so furchtbar, daß Daun keinen neuen Angriff wagen wollte. Die preußische Armee verlor an diesem unglücklichen Tage außer dem Gepäck über 100 Kanonen und 9000 Mann, die Österreicher 8000 Mann. Der König halte sich ins stärkste Feuer gewagt; ein Pferd wurde ihm unterm Leibe er­ schossen, und zwei Pagen stürzten todt an seiner Seite nieder. Er war in der größten Gefahr, gefangen zu werden; schon hatten ihn die Feinde beim Dorfe Hochkirch umringt, er entkam aber durch die Tapferkeit der ihn begleitenden Husaren. Allenthalben gegen­ wärtig, wo der Kampf am blutigsten war, schien er sein Leben für nichts zu achten. Nie zeigten sich sein Geist und seine großen Fähigkeiten in einem so glänzenden Lichte wie in dieser Nacht, die, anstatt seinen Ruhm zu schwächen, ihn vielmehr außerordentlich erhöhte. Aus Archenhol-' Gtsch. de- siebenjähr. Krieges.

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Friedrich der Große.

An einem schönen, milden Sommerabend im Jahre 1823 hatte ich meinen Spazier­ gang nach dem jedem offenstehenden Sanssouci genommen. In der Nahe des japanischen Hauses ging langsam mit in einander verschränkten Armen Friedrich Wilhelm III. auf und ab und stand oft, wie in Gedanken vertieft, still. Dies bemerkend und diese seine Stimmung kennend und ehrend, wollte ich ausweichen, um ihn nicht zu stören. Aber er hatte mich schon gesehen. Ich stand also ehrerbietig still, und er ging, leicht die Hand zur Feldmütze hebend, ernst und trübe aussehend an mir vorüber. Bald darauf kehrte er aber wieder um, redete mich freundlich an und forderte mich auf, mit ihm zu gehen. „Sind wohl gern in Sanssouci?" fragte er. „Ja," antwortete ich; „dieser alte Bardenhain ist mir in der Umgegend von Potsdam der intereffanteste Ort, zu dem ich mich am meisten hingezogen fühle. Er ist der ernste, ansprechende Schauplatz großer Er­ innerungen." „ Giebt," fiel der König ein, „ allerdings viel zu denken und zu vergleichen! Haben Sie Friedrich II. gekannt?" „Ich erinnere mich, den großen Herrn in meiner Kindheit gesehen zu haben, und von daher ist mir sein Flammenauge unvergeßlich ge­ blieben." „Ja," fuhr der König fort, „sein Auge war seines Geistes Spiegel, und dieser Geist war voll Licht und Tiefe. Er eilte seinem Zeitalter voraus, stand über demselben, und vieles, was er gedacht, geschrieben und hinterlassen, trägt jetzt erst seine Früchte." „Wenn man," bemerkte ich, „seine Schriften liest, namentlich die, wo von Menschenrechten die Rede ist, dann will es scheinen, als ob seine Grundsätze milder und umfassender gewesen wären als seine Praxis, in der sich doch oft viel Harte, Willkür und Gewalt herauSstellt." Der König sah mich mit einem fixirenden ernsten Blick an, nahm dann das Wort und sprach: „Was Sie da sagen, habe ich oft gehört und gelesen, ist aber irrig, so sehr es auch äußerlich den Schein der Wahrheit haben mag. Man muß nur die große Verschiedenheit der Zeit bedenken, damals und jetzt, und darf in der Beurtheilung nicht denselben Maßstab anlegen. Was damals in der Individualität des großen Mannes ihm und der Ordnung gemäß war, würde freilich jetzt unpassend sein und nicht mehr gehen. Andere Zeiten, andere Sitten! Damals war alles kompakter, derber, dreister; wir sind artiger, feiner, geschmeidiger geworden, ob im Grunde besser, ohne Falschheit und Gleißnerei, will ich nicht untersuchen; und wer und wo ist der Mensch, der es sich heraus­ nehmen dürfte, dies richtig abzuwägen? Wie jeder Mensch, so hat auch jede Zeit in seltsamer Mischung Gutes und Böses, Licht und Schatten, oft diesen, um jenes zu heben. Die miserable Schmeichelei elender, hündischer Speichellecker, die in Friedrich II. nur Vollkommenes und keine Schwäche sehen, ist mir in der Seele zuwider, sowie denn alles unbegrenzte Loben und Preisen immer eine geistige Leerheit und Falschheit bezeichnet. Die Jugend, die noch wenig gesehen und erlebt hat, mag sich wundern und bewundern, weil alles Ungewöhnliche ihr als ein Wunder erscheint; dem ernsten, gesetzten Manne, der Geschichte studirt und den Erfahrung gereift hat, geziemt Mäßigung und Maß­ halten. Jede Schmeichelei macht mir ihren Sprecher von vornherein verdächtig. Es fehlt da immer entweder an Klarheit der Erkenntnis oder an Reinheit deS Herzens, oft an beiden." Indem der König, stille stehend, dies sagte, trat er, wie er zu thun pflegte, wenn er lebhaft wurde, stark mit dem rechten Fuße auf und fuhr weitergehend fort: „ Allerdings klebten Friedrich Schwächen und Gebrechen an, ja man kann das oft gehörte Wort: Wo viel Licht, ist auch viel Schatten! auf ihn anwenden; denn er war und blieb Mensch. Aber diejenigen, die ihm eine natürliche Neigung zur Härte und Despotie beilegen, wie Sie vorher bemerkten, haben ihn am wenigsten begriffen. Vielmehr war reines, mensch­ liches Wohlwollen, lebendiges, kräftiges Mitgefühl, oft bis zur Rührung, die ursprüng­ liche, natürliche Stimmung seines Gemüths. Er trug diese so tief in sich, fand in ihr

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so ganz sein Element, daß er unaufhörlich darauf bedacht war, sie in sich zu befestigen, zu nähren und zu stärken. Daher sein reger Sinn für Freundschaft, seine Liebe und Zärtlichkeit für seine Freunde und des großen Abstandes der Verhältnisse ungeachtet seine Treue und Beständigkeit; daher seine Liebe zur Musik und ihren sanften Eindrücken (auf seiner Flöte gelangen ihm die Adagios bekanntlich am besten); daher seine entschiedene Neigung für die Wissenschaften sowohl in den Tiefen der abstrakten Philosophie, als auf den heiteren Höhen der Poesie; daher seine Liebe für Thiere, freilich auch die Hunde; daher seine Sympathie mit der Einsamkeit und für die ewig neue Natur. Dieser Garten hier, wie ernst, wie würdevoll, und doch auch zugleich wie still, wie vertraulich, wie an­ sprechend! O wie oft ist er hier, auch in heiteren, ruhigen Nächten, erfüllt mit den edelsten Empfindungen, auf- und abgegangen! Wer so denkt, fühlt, wählt, genießt und darin sich gleich bleibt, der kennt die Härte der Misanthropie nicht. Aber er ist in seiner Jugend malträtirt; intimidiren ließ er sich nicht, dagegen schützte ihn seine kräftige, emi­ nente Natur. Aber man machte ihn dadurch mißtrauisch, und dies Mißtrauen, genährt durch die Ränke, Intriguen und Kabalen, von denen er am Hofe seines jähzornigen Vaters ihn, sich selbst, seine Mutter, Geschwister und Umgebungen umsponnen sah, wurde nun permanent und ein hervorstechender Zug seines festen Charakters. Bon solcher trüben Seite hatte er die höheren und höchsten Stände ganz in der Nähe und täglicher An­ schauung kennen gelernt, und daher sein oft an Härte grenzender Widerwille gegen sie, in welchem er in die bittersten SarkaSmen sich ergoß. Gewiß nicht aus Neigung, sondern aus Prinzip war er strenge, oft hart, weil er der Meinung war, daß Furcht in den meisten Stellen, namentlich in den höheren Klaffen, mehr auSrichte als Liebe. Diese und besonders die Beamten hielt er darum in steter Spannung und Furcht; er sah sie mit mißtrauischen Augen an und züchtigte jede begangene Ungerechtigkeit unerbittlich. Dagegen war er mit zuvorkommendem Vertrauen dem gemeinen Manne, dem Bürger und den Landleuten, vor allen seinen braven Soldaten zugethan, und die treue Anhänglichkeit seines Volkes war sein größter Schatz. Mit einem Worte: an diesem Herrn war alles großartig, alles Ausfluß seiner festen Grundsätze." Der König in' seiner sanften Aufregung sprach lebhaft und rasch und wie immer, wenn er erst im Zuge war, anhaltend, lange; das Abgebrochene in seiner sonst gewöhn­ lichen Redeweise hörte dann auf, und wenngleich schmucklos bleibend, wurde er doch beredt. Aber nun hörte er auf, lehnte sich an eine Buche, sah sinnend vor sich hin und sprach leise: „Ja, ein wahrhaft großer Mann! Eben auf dieser Stelle hier, auf dieser Bank war es, wo ich ihn zum letzten Mal sah und sprach. Mich beglückte sein Wohlwollen, daS in Zärtlichkeit überging. Er prüfte mich in den wissenschaftlichen Gegenständen, in wtlchen ich damals unterrichtet wurde, namentlich in der Geschichte und Mathematik. Ich mußte in französischer Sprache mit ihm reden; dann zog er aus der Tasche Lafontaines Fabeln, von denen ich eine übersetzte. Zufällig war eS gerade eine solche, die ich beim Jnfonnator eingeübt hatte, und die mir geläufig war. Dies sagte ich, als er meine Fer­ tigkeit lobte. Sein ernstes Angesicht erheiterte sich, er streichelte mir sanft die Wangen und fitzte hinzu: So ist's recht, lieber Fritz; nur immer ehrlich und aufrichtig! Wolle nie scheimn, was du nicht bist; sei stets mehr, als du scheinst. Diese Ermahnung hat auf mich einen unauslöschlichen Eindruck gemacht, und Verstellung und Lüge sind mir von Kindcsbeinen an zuwider gewesen und geblieben. Vorzüglich ermunterte er mich zur Fertizkeit in der französischen Sprache; sie sei die diplomatische in der ganzen Welt und weger ihrer Flexibilität auch dazu vorzüglich geeignet. Wirklich spreche ich sie auch, weil sie biegsamer ist, fettiger als die deutsche; doch ist diese mir lieber. Als mich Friedrich entließ, sprach er: Nun Fritz, werde was Tüchtiges pur exeellenee. Es wartet Großes auf Üch. Ich bin am Ende meiner Karriere, und mein Tagwerk ist bald absolvirt. Ich fürchr, nach meinem Tode wird'S pele mele gehen. Überall liegen GährungSstoffe, und

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leider nähren sie die regierenden Herren, vorzüglich in Frankreich, statt zu kalmiren und zu exstirpiren. Die Massen fangen schon an, von unten auf zu drängen, und wenn dies zum Ausbruche kommt, ist der Teufel loS. Ich fürchte, du wirst mal einen schweren, bösen Stand haben. Habilitire, rüste dich, sei firm, denke an mich! Wache über unsere Ehre, unsern Ruhm! Begehe keine Ungerechtigkeit, dulde aber auch keine! — Unter solchen Äußerungen war er in Sanssouci bis zum AuSgange gekommen, wo der Obelisk steht. Sieh ihn an, sprach er zu mir. Schlank, aufstrebend und hoch, und doch fest im Sturm und im Ungewitter. Tie Pyramide spricht zu dir: Ma force est ma droiture. Der Kulminationspunkt, die höchste Spitze, überschaut und krönt das Ganze, aberträgt nicht, sondern wird getragen von allem, was unter ihr liegt, vorzüglich vom unsichtbaren, tief untergebauten Fundament. Das tragende Fundament ist das Volk in seiner Einheit. Halte es stets mit ihm, daß es dich liebe und dir vertraue; darin nur allein kannst du stark und glücklich sein. Er maß mich mit festem Blick von der Fußsohle bis zum Scheitel, reichte mir die Hand, küßte mich und entließ mich mit den Worten: Vergiß diese Stunde nicht! — Ich habe sie nicht vergessen, und eben jetzt steht sie lebhaft vor meiner Seele. WaS sagen Sie dazu?" „Bei solchen herzerhebenden Erinnerungen," antwortete ich, „welche die stille Größe deS unvergleichlichen Königs treu und wahr darstellen, erscheint die Mäkelei der Tadler noch kaum der Beachtung werth. * Einmal eingegangen in den interessanten Gegenstand, erlaubte ich mir die Bemerkung, daß Friedrich am meisten getadelt sei in religiöser Beziehung. Der König runzelte die Stirn und sagte: „Sie berühren da einen Punkt, über den ich nicht gern spreche. Große, ausgezeichnete Menschen, an denen alles individuell und originell ist, darf man nicht nach gewöhnlichem Maßstabe messen; sie haben ihren eigenthümlichen, sowie alles an ihnen eigenthümlich ist. Solchen können aber nur diejenigen anlegen, die sich selbst über das Mediokre erheben und für die in Rede stehende Größe ein Auge haben. Sie muß nicht in einzelnen, abgerissenen Stücken, Anekdoten, fragmentarischen Äußerungen, sondern in ihrer Totalität aufgefaßt und das Ganze muß zusammengehalten werden. Wie schwer ist das schon bei gewöhnlichen Menschen! ungewöhnliche, außerordentliche haben von jeher etwas Rätselhaftes gehabt und sind darum mehr oder minder verkannt worden, bis die ruhig richtende Nachwelt ihnen Gerechtigkeit widerfahren ließ. Wo ist der Mensch, mit eigenen Irrthümern behaftet, der über den wahren innern Werth des Andern sich ein ab­ sprechendes Urtheil erlauben dürfte? Kennen wir uns doch selbst nicht! Und was ist zarter, geistiger, was zieht sich mehr in die geheimnisvolle Tiefe der Brust zurück als das Religiöse mit seinen Ahnungen und Schrecken? Da ist eS oft am wenigsten, wo die voluble Zunge am meisten darüber spricht, und da oft am meisten, wo sie schweigt. Wenn ein'klarer, denkender Verstand, wenn ein sensible- Herz, wenn Sinn für daS Erhabene, wenn Achtung für Gesetz und Ordnung die Eigenschaften sind, die für Religion, namentlich die christliche, als die besten befähigen: wer hatte dann mehr angeborne Anlagen für das Heilige und Höchste als eben er? Aber, statt sie zu wecken und auf eine seiner Eigenthümlichkeit an­ gemessene Weise zu entwickeln und mit seinen übrigen Studien in Verbindung zu bringen, in welchen sein Geist sich in raschen Fortschritten leicht und glücklich bewegte, legte man ihm enge, drückende Fesseln an; und Zwang ertrug er nicht. Der Unterricht, den er im Christenthum erhielt, war, was ich nicht tadeln will, wenn eS auf die rechte Art geschehen wäre, nach dem Lehrbegriff der reformirten Kirche abgemessen und von festen, schroffen Schranken -umschlossen. Der ganze Zuschnitt war nach dem Geiste der damaligen Zeit, nicht so sehr unterrichtend als vielmehr polemisch. Diese intolerante Polemik, die eS sich herausnahm, den Himmel und die Hölle öffnen und verschließen zu können, that seinem Geiste, damals schon mit dem Studium der wölfischen Philosophie beschäftigt, kein Genüge, und sein Herz blieb dabei unberührt. So kam es, daß ihm die Grund­ dogmen zuwider wurden und er um so weniger ihnen Geschmack abgewinnen konnte, je

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mehr er gezwungen wurde, sie nach dem Katechismus auswendigzulernen. Je mehr er auS kindlichem Respekt sich äußerlich zu fügen schien, desto mehr widerstrebte sein Inneres. Wenn seine aufstrebende Kraft in unbewachten Augenblicken diese lästigen Fesseln abwarf, so erbitterte die darauf folgende Strafe, die oft in unwürdige Züchtigung überging, ihn noch mehr und sammelte in seiner Seele den Zunder des Hohnes und Spottes. Jeden Morgen mußte er mehrere Kapitel in der Bibel ohne Auswahl und Erklärung als sein Pensum auswendiglernen und sonntäglich in der Garnisonkirche lange, sterile Predigten hören. In seinen nächsten Umgebungen fand er eine tiefe, ängstliche Veneration für den Kultus, aber er sah auch, daß gerade diejenigen, welche solche am lautesten im Munde führten und als Fromme gellen wollten, am wenigsten es waren und sich sündhafte Aus­ schweifungen, Ränke und Spitzbübereien erlaubten und Lastern fröhnten, die selbst das Heidenthum verurtheilt. Dies erfüllte seine Seele mit Widerwillen und Erbitterung und umschloß den gesunden Kern seines Innern mit einer äußern harten, stechenden Schale, die späterhin viele verletzt und verwundet hat. Aber der Lebenskern blieb in ihm gesund; freilich nicht genährt mit den Einflüssen, wie die Form der damaligen Kirchlichkeit sie vor­ schrieb , aber doch stets angefrischt und belebt von dem ernsten, tiefen Sinne für mensch­ liche und göttliche Gesetze. Man kann in Wahrheit sagen: er war in Erfüllung seiner Pflichten praktisch-religiöser, als er es schien. Sophistisch-theoretische Atheisten mag eS gegeben haben und geben; aber ein praktischer Atheist ist mir undenkbar. Der verständige Mensch kann dem Glauben an Gott ebenso wenig entsagen, als sich dem Einflüsse der Luft entziehn, wenn er gesund bleiben will. Freilich hat sich Friedrich manche Spöttereien über das Heiligste, was der Mensch hat, erlaubt, und diese sarkastischen Verhöhnungen sind leider ins Publikum gekommen; aber man hat mehr daraus geschlossen und gefolgert, als darin liegt. Solche Witze geistreicher Köpfe sind durch äußere zufällige Umstände, namentlich bei frohen Gastmählern, herbeigeführt, momentan auffliegende Impulse, die ankommen wie das Niesen, und man widersteht dem Reize des Ausprustens nicht. Der Reiz wird vermehrt durch die Lacher, und so können oft gerade die tiefsten, ernstesten Männer, wenn sie einmal in einer humoristischen Stimmung sind, sich vergessen und sich gehen lassen. Es amüsirt, Witzfunken zu streuen und geistige Blitze zu schleudern, und man achtet es in solchem farbigen Phantasienspiele nicht, wenn die Wahrheit lächerlich gemacht und manches edle Herz verwundet wird. Aber es ist damit nicht so ernst gemeint; alles kommt dabei auf Zeit, Ort, Umstände und Umgebungen an, und derselbe witzige Spötter, der am Abend im Genusse der Tafelfreuden in froher Gesellschaft höhnte und scherzte, wird das am Morgen in einer ernsten Stunde nicht vermögen, vielmehr bereuen, sich so vergessen zu haben. Ist daö nicht schon oft auch den Besten begegnet? Man darf, will man billig und gerecht sein, den Menschen, namentlich große Männer, nicht nach einzelnen, abgerissenen Äußerungen in unbewachten Augenblicken beurtheilen und richten;

in ihrer Ganzheit und fortgehenden permanenten Lebensstimmung und Richtung muß man sie würdigen. Der große Luther würde oft sehr klein erscheinen, wenn man ihn nur nach seinen Tischreden beurtheilen wollte. Was Friedrich, oft von lächerlichen Kontrasten gereizt, an der Tafel und bei sonstigen Veranlassungen Unehrerbietiges und Profanes gesprochen, hat die Welt erfahren und, wie sie nun ist, entweder daran ihre Freude gehabt oder ein Ärgernis genommen. Was er aber namentlich hier auf seinen einsamen Gängen Großes, Erhabenes und Göttliches gedacht und gefühlt, ist nicht zu ihrer Kenntnis gekommen. Das ist ja eben das Wesen und die reine, echte Natur wahrer, ungeschminkter Frömmig­ keit, daß sie tief verborgen im Innersten liegt und alle Redensarten ihr zuwider sind." „Über diese tief liegende Pietät Friedrichs weiß ich eine schöne Anekdote. Erlauben Ew. Majestät, daß ich sie erzählen darf?" „Anekdoten über ihn," siel der König ein, „ giebt's

nur ?u viele. Ich liebe sie nicht: es wird abgenommen und zugesetzt nach der Phantasie der Erzähler. Enthält die Ihrige geschichtliche Wahrheit, so theilen Sie dieselbe mir mit."

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„Ich habe sie auS dem Munde des vor einigen Jahren gestorbenen königlichen Lakaien Heise, welchen der König gern hatte, der sein Leib-Kammerdiener war und bis an sein Ende bei ihm geblieben ist. Er, ein gebildeter und wahrhafter Mann, erzählte mir als Augen- und Ohrenzeuge folgendes: Friedrich sah nach beendigtem siebenjährigen Kriege unter seinen Tischgenossen vorzüglich gern den alten General von Zielen, und mußte derselbe, wenn gerade keine fürstlichen Personen gegenwärtig waren, immer zunächst bei ihm an seiner Seite sitzen. Einstmals hatte er ihn auch zum Mittagessen am Charfreitage einladen lassen; Zielen aber entschuldigte sich, daß er nicht erscheinen könne und werde, weil er an diesem hohen Festtage immer zum heiligen Abendmahl zu gehen pflege und dann gern in seiner andächtigen Stimmung bleibe; er dürfe sich darin nicht unter­ brechen und stören lassen. Als er daS nächste Mal in Sanssouci zur königlichen Tafel erschien und die Unterredung bald, wie gewöhnlich, einen geistreichen, heiteren Gang genommen hatte, richtete der König scherzend die Rede an seinen nächsten Nachbar mit den Worten: Nun, Zielen, wie ist Ihm daS Abendmahl am Charfreitage bekommen? Hat Er den wahren Leib und das wahre Blut Christi auch ordentlich verdaut? Ein lauteS, höhnendes Gelächter schallte durch den Saal der fröhlichen Gäste. Der alte Zielen schüttelte unwillig sein graues Haupt, stand auf, und nachdem er tief vor seinem Könige sich gebeugt, richtete er in lauter, fester Stimme folgende Worte an ihn: Ew. Königliche Majestät wissen, daß ich im Kriege keine Gefahr gefürchtet und überall, wo es darauf ankam, entschlossen mein Leben für Sie und daö Vaterland gewagt habe. Diese Gesinnung beseelt mich auch heute noch, und wenn es nützt und Sie befehlen, so lege ich mein graues Haupt gehorsam zu Ihren Füßen. Aber es giebt einen über uns, der ist mehr wie Sie und ich, mehr als alle Menschen, das ist der Heiland und Erlöser der Welt, der für Sie gestorben und uns alle mit seinem Blute theuer erkauft hat; diesen Heiligen lasse ich nicht anlasten, noch verhöhnen; denn auf ihm beruht mein Glaube, mein Trost und meine Hoffnung im Leben und im Tode. In der Kraft dieses Glaubens hat Ihre brave Armee muthig gekämpft und gesiegt; unterminiren Ew. Majestät diesen Glauben, dann unterminiren Sie damit zugleich die Staatswohlfahrt. Das ist gewißlich wahr. Hallen zu Gnaden! Der König war von dieser Rede sichtbar ergriffen. Er stand auf, reichte dem wackern christlichen General die rechte Hand, legte die linke auf seine Schulter und sprach bewegt: Glücklicher Zielen! Möchte auch ich eS glauben können! Ich habe allen Respekt vor Seinem Glauben. Halte Er ihn fest; eS soll nicht wieder geschehen. Eine tiefe, feierliche Sülle trat ein. Keiner hatte den Muth, ein Wort zu reden. Und da nach einer solchen ernsten Scene auch der König keinen schicklichen Übergang zu einem andern Gespräch finden konnte, hob er die Tafel, wenngleich erst in der Mitte derselben, auf und gab das Entlassungszeichen. Zielen aber reichte er die Hand mit den Worten: Komm Er mit in mein Kabinet!" „Vortrefflich," sagte der König, „ganz vortrefflich! Habe das noch nicht gekannt. Die Mittheilung ist mir lehrreich und an­ genehm. Wenn man doch auch wüßte, was der König und Zielen, wie sie nachher allein waren, mit einander gesprochen haben. Har Ihnen der Kammerdiener daS nicht auch erzählt?" Ich mußte das verneinen mit dem Bemerken, daß er wahrscheinlich dabei nicht gegenwärtig gewesen sei, doch noch hinzugefügt habe, daß der König seit dieser Zeit mit der größten Aufmerksamkeit und Zartheit den alten Zielen behandelt, fortwährend ihn bei sich gesehen und nach dessen Tode, wenn er mit der Moralität der Armee weniger zufrieden war, wiederholentlich geäußert habe: Mein alter Zielen hat doch Recht gehabt. Gebt mir die Armee wieder, die ich im siebenjährigen Kriege hatte. Unter diesen Gesprächen war der König nach dem Schlosse zurückgekommen; er trat näher zu mir heran mit der freundlichen Äußerung: „ Danke Ihnen; haben mir einen

frohen Abend gemacht.

Können zum Nachtessen hier bleiben!"

Ich entschuldigte mich, da

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ich im gewöhnlichen Oberrock war, mit der dazu nicht passenden Kleidung. „ Weiß wohl," sagte er lächelnd, „daß Sie einen Talar und schwarzen Leibrock haben; in beiden sind Sie doch immer derselbe. Will nur Sie haben, nicht Ihren Rock; treten Sie herein! • Au- Gylert- Leben Friedrich Wilhelm- HL

26 (27). Der Fluchtversuch Ludwigs XVI. Einige Wochen nach Mirabeaus Tode machte der König die Erfahrung, daß seine Person unfreier als die des geringsten Franzosen sei. Er wollte auf einige Tage nach St. Cloud, um,sein Gemüth und seine Gesundheit durch den ländlichen Aufenthalt, die Bewegung der Jagd zu erfrischen, die heilige Osterwoche in Stille mit unbeeidigten Priestern zu begehen; vielleicht auch geschah es, um einen Versuch zu machen, ob eine weitere Reise, öffentlich angestellt, ausführbar sein möchte. Dieser Versuch mißlang. Der Verdacht der Flucht war verbreitet; vergeblich, daß Lafayette und Bailly alles auf­ boten; die ausgestellten Nationalgarden gehorchten nicht, und der wilde Danton führte sein Bataillon herbei, ohne irgend berufen zu sein. Der König saß mit der Königin anderthalb Stunden im Wagen, unsäglichen Kränkungen ausgesetzt, und mußte am Ende aussteigen, bleiben. Lafayette, tief gekränkt, reichte seine Entlassung ein; da gab es neue Versicherungen, neue Eide, und Lafayette behielt den Befehl. Um so ungeduldiger betrieb nun die Königin den Plan der geheimen Entweichung. Unter unzähligen Vorsichtsanstalten, Verabredungen mit Bouills, Feststellungen und Umstellungen des Abreisetages kam man endlich auf den 21. Junius überein. Glücklich gelang gegen Mitternacht den Vereinzelten die leise Entfernung auS den Tuilerien durch einen Nebenausgang. Man ging anfangs irre, fand sich aber wieder zusammen und athmete auf, als man in einem Miethwagen, dessen Kutscher Graf Fersen, ein Schwede in französischen Kriegsdiensten, war, unbehindert durch die Barriere an die Station von Bondy kam, wo ein vierspänniger Reisewagen wartete. Man schlug den Weg nach der Festung Montmedy ein; hier wollte der Monarch, von treuen Truppen geschützt, seine Freiheit wiederfinden. In derselben Nacht aber reiste Monsieur in anderer Richtung der Grenze zu und erreichte glücklich Brüssel. Es ward acht Uhr morgens, ehe man in Paris vernahm, was über Nacht geschehen sei. Da entstand ein gewaltiges Strömen des Volks, besonders zu den Tuilerien, man sah Pikenmänner darunter. Tiefgekränkt fühlte sich Lafayette; er hatte kürzlich den König wegen der umlaufenden Gerüchte gefragt und zur Antwort erhalten: „Kein Gedanke an eine Entfernung!" worauf der General sich mit seinem Kopfe gegen die Nationalversammlung verbürgte, daß nichts dergleichen im Werke sei. Jetzt besprach er sich schleunig mit Bailly und Alexander Beauharnais, derzeit Präsidenten der Nationalversammlung, und vernahm aus beider Munde die Versicherung, solle Frankreich die Schrecken eines Bürgerkrieges vermeiden, so müsse man den König anhalten auf seiner Flucht. Einen, der fliehen will, anhallen heißt aber ihn verhaften. Verhaftet man Könige? Lafayette nahm die Verantwortlichkeit der That auf sich, und ehe noch die Natio­ nalversammlung zusammentrat, waren schon seine Offiziere in Bewegung. Sie überbrachten an alle Nationalgarden, alle Gemeinden des Königreiches den von ihrem General unter­ zeichneten Befehl, sich der Entweichung des Königs zu widersetzen. Die Nationalversammlung trat, rasch entboten, um 10 Uhr morgens zusammen. Wahrend die Menge draußen ihren Zorn an königlichen Wappen und Namenszügen aus­ ließ, ward hier mit einiger Schonung der königlichen Würde der Beschluß gefaßt, daß die Feinde des Staates, welche die Entführung des Königs veranstaltet, verhaftet werden sollten. Zugleich erklärte man sich für permanent, nahm von den in der Hauptstadt an­ wesenden Generalen die Zusicherung ihres Gehorsams in Empfang, übertrug die voll­ ziehende Gewalt an die Minister. Allein die Dekrete der Versammlung bedürfen keiner

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Historische Prosa.

Sanktion mehr, der Siegelbewahrer wird sie unterzeichnen und besiegeln; dergestalt wohnte man sich in die Republik ein. Die Gesandten der fremden Mächte sollen unverzüglich von dem Geschehenen unterrichtet, die eigenen Gesandten demgemäß angewiesen werden. Das gethan, ging die Versammlung mit gewohnter Zuversicht zur Tagesordnung über, berieth über das künftige Sttafgesetz. Nicht lange freilich, so führte eine Unterbrechung auf die beklemmende Frage des Augenblickes zurück. Denn der Intendant der Civilliste übersendet dem Präsidenten ein ihm soeben zugegangenes Paket: es ist eine Proklamation an die Franzosen, welche der unbedachtsame, unglückliche König zurückgelaflen hat, von seiner eigenen Hand geschrieben. Sie enthält ein Gemälde der unzähligen von ihm er­ duldeten Kränkungen, zugleich einen Protest gegen alle Erlaffe, welche seit dem 6. Oktober 1789 ihm abgedrungen sind. Also war der König nicht entführt, er war entflohen, und am zweiten SitzungStage 10 Uhr abends drang der Ruf in die Versammlung: „Man hat ihn! Er ist verhaftet!" Die königliche Familie hatte sich, seit es von Bondy weiterging, frohen Hoffnungen überlasten. Der König ließ sich sogar am Schlage blicken, und es gefiel ihm wohl, wenn er von einzelnen erkannt ward. Einige gute Wünsche streiften an den rollenden Rädern vorüber. Als man über Chalons hinaus war, fühlte man sich wie neugeboren, jetzt mußte man ja auch bald auf die von Bouille aufgestellten Reiterabiheilungen stoßen. DaS kam nun freilich nicht ganz so, vielmehr zeigte es sich, daß Bouillv mit gutem Grunde vor der ganzen Maßregel gewarnt hatte, weil solche PiketS, zu schwach, um zu schützen, doch stark genug sind, um den Argwohn zu wecken. Wirklich hatte die Umgegend, sowie nur die erste Abtheilung von 40 Pferden sich blicken ließ, unbestimmten Verdacht geschöpft; die Reiter zogen sich zurück, als man in den nahen Dörfern Sturm läutete in der Meinung, es sei auf Eintreibung von Steuern abgesehn. Als die Reisenden in St. Menehould anlangten, herrschte auch dort große Aufregung wegen des Detachements Dragoner, welches seit gestern eingerückt war. Der Kapitän destelben ritt an den Schlag, sprach mit dem Könige, welcher unvorsichtig fortfuhr, sich zu zeigen, und der Postmeister des Orts, Drouet, glaubte ihn zu erkennen. Dennoch war er seiner Sache nicht gewiß; die durch einen Kurier voraus­ bestellten Pferde waren angeschirrt, eS blieb für den Augenblick nichts zu thun, allein fein Vorsatz war gefaßt. Als der Wagen abfuhr, schwang sich Drouet, der früher bei den Dragonern stand, auf sein Pferd, nahm noch einen Kriegskameraden mit sich; seine Absicht ist, auf Feldwegen den Reisenden zuvorzukommen, welche auf schlechter Straße manchen Höhenzug zu überwinden haben. Mittlerweile hatte sich die Vermuthung des Postmeisters herumgesprochen, und als die Dragoner dem Wagen folgen wollten, ließ die Menge sie nicht fort. Sie selbst schlossen sich der Volksstimme an, ließen es sogar geschehen, daß ihr Offizier verhaftet ward. Ähnlich ging es auf der nächsten Station in Clermont, nur daß der Offizier glücklich davonkam. Im Flecken Varennes müssen abermals Pferde gewechselt werden; diese sind nicht gleich zur Stelle; es ist fast Mitternacht: da erschallt plötzlich Drouets Stimme zu den Postillonen: „Im Namen der Nation verbiete ich euch, weiterzu­ fahren, ihr fahret den König." Zugleich fügt er einen Zwang seinen Drohungen hinzu, zieht einen auf der Gasse stehenden Packwagen auf die nahe Brücke hinauf; man hilft ihm diesen umstürzen; jetzt ist der Weg gesperrt, nun kann der König nicht über die Brücke. Bald auch waren die Behörden wach, die Sturmglocke läutete, und als nun die Menge von allen Seiten herbeiströmte, hatten die auch hier aufgestellten Mannschaften Noth, nur davonzukommen; der jüngere Bouille war dabei; er eilte, seinen Vater zu benachrichtigen. Der Beamte der Gemeinde, ein kleiner Krämer und Lichtzieher, hieß Sausse, trat schüchtern an die Kutsche, bat den König in demüthigen Ausdrücken, unter sein Dach zu treten. Hier angekommen, ließ Ludwig die Verstellung fahren, gab sich zu erkennen, erklärte, daß er Paris verlassen habe, um unzähligen Kränkungen zu entgehen, aber in Frankreich bleibe; er warf sich in die Arme Sausses, beschwor ihn, vereint mit der Königin, um seine und der

Erzählung.

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Seimigen Rettung. Dann sich ermannend sprach er: „Sie verlangen meine Befehle, lasten Sie meinen Wagen unverzüglich anspannen, um meinen Weg nach Montmedy fortzusetzen." DaS begab sich in der Gegenwart vieler, die, in das Haus schon eingedrungen, die königliche Familie mit neugierigen Blicken musterten. Hätte Sauste auch gewollt, er konnte, so um­ geben, nichts für den König thun. Ebenso stand es mit dem Haufen Husaren, der im Verlaufe der Nacht unter verschiedenen Offizieren sich in Varennes zusammengefunden hatte. Den König und seine Familie schnell beritten machen, sie in die Mitte nehmen und sich heraushauen mitten durch die Nationalgarden hindurch war der beherzte Rath der Offiziere, welcher aber, wie es scheint, nicht minder an der Gesinnung der Husaren als an der des Königs scheitern mußte. Dieser will auf allen Fall BouillsS Ankunft erwarten, der, meinte er, ganz gewiß kommt; außerdem hält er sich daran, daß ja die Gemeinde von Varennes ihrem Könige die Reise nicht abgeschlagen, nur verlangt hat, daß er warte bis morgen früh. Aber Bouills kam nicht; statt seiner erschien ein Adjutant Lafayettes, begleitet von einem Offizier der Pariser Nationalgarde. Sie überreichen dem Könige ein Dekret der National­ versammlung, welches seine Rückkehr fordert, gestützt auf ein früheres Dekret, welches dem Könige verbietet, sich weiter als 20 Lieues vom Sitze der Nationalversammlung zu ent­ fernen. Der König sprach: „Dieses Dekret habe ich nie sanktionirt." Morgens acht Uhr saß der König wieder im Wagen, aber die Reise ging zurück nach Paris. Eine Stunde nach seiner Abfahrt erschien Bouille mit einem Reiterregiment vor dem von Tau­ senden umringten, rings abgesperrten Varennes. Da wandte er um und fettete sich mit seinem Stabe über die französische Grenze hinaus nach Luxemburg. Von hier schrieb er an die Nationalversammlung einen Drohbrief, dessen Schluß zu erkennen giebt, wie sehr es diesem Tapfern an politischer Voraussicht gebreche: „Ich wollte mein Vaterland, den König und seine Familie retten. Sehet da mein Verbrechen! Ihr werdet über ihre Er­ haltung Rechenschaft geben müssen, nicht mir, aber allen Königen; und ich verkünde euch, daß, krümmt man ihnen auch nur ein Haar, kein Stein von Paris auf dem andern bleiben wird. Ich kenne die Wege und werde sie den fremden Heeren selbst zeigen, die Vergel­ tung wird euch ereilen. Dieser Brief ist nur der Vorläufer eines Manifests der Souveräne Europas: sie werden euch vernehmlicher kundthun, was ihr zu thun und zu fürchten habt. Gott befohlen, meine Herren, ich schließe ohne Förmlichkeiten; meine Gesinnungen sind euch bekannt." Die Rückreise der königlichen Familie auf einer Strecke von etwa 30 deutschen Meilen dauerte volle vier Tage, so unermeßlich war die Volksmenge auf allen Straßen zusammen­ geströmt, und je näher man der Hauptstadt rückte, um so langsamer schritt der unheimliche Zug vorwärts, auf dem Bocke drei Leibgarden sitzend, ihres Todes gewärtig, weil sie auf der Reise Kurierdienste gethan, um den Wagen Nationalgarden, die meisten zu Fuß, halbverdrängt von der stets wachsenden Schaar von Landleuten, die, mit Forken und Sen­ sen bewaffnet, auf Ackerpferden heransprengten, alle den Hut auf, ohne Begrüßung des Fürsten; als ein Edelmann, von Dampierre, herantrat, mit Schmerz im Blick seine Er­ gebenheit denen im Wagen bezeugte, büßte er die That mit dem augenblicklichen Tode. Bei Epernay begegnete man den Kommissarien der Nationalversammlung. Zwei von ihnen, Barnave und Petion, nahmen in dem königlichen Wagen Platz; der dritte Latour-Maubourg vermied das. Den 25. abends erreichte man die Hauptstadt. Än der Vorstadt St. Antoine war angeschlagen: „Wer dem Könige zuklatscht, kriegt Schläge; wer ihn beleidigt, wird gehangen." Durch eine doppelte Reihe von Nationalgarden ging der Weg zu den Tuilerien. Hier ward die königliche Familie einer Abtheilung der Nationalgarde über­ geben, die für ihre Sicherheit wachen und für den König, die Königin und den Dauphin einstehen sollte. Lafayette ist von nun an der Wächter seines Königs. Die exekutive Ge­ walt bleibt bis weiter noch in den Händen der Minister, der Sanktion deS Königs bedarf es bis weiter nicht. So ward denselben Morgen bekehrt

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Historische Prosa. Diese * übet berathene Flucht und ihr Mißlingen entriß der Majestät ihr letztes

Gewand. Der König war ein Gefangener, welcher über die Beweggründe seiner Ent­ weichung von Kommissarien der Nationalversammlung förmlich vernommen wurde. Ludwig besaß nicht den Muth eines vollkommen wahrhaften Bekenntnisses. Zwar blieb er in der ausgestellten Erklärung bei den erduldeten Mißhandlungen als den Ursachen seiner Ent­ fernung aus Paris, nicht aus dem Königreiche, stehen; er behauptete aber, durch seinen Protest die Grundlagen der Verfassung nicht angegriffen zu haben; erst seit dem 6. Oktober sei sein Zustand unfrei gewesen; ein Einverständnis mit auswärtigen Mächten habe nicht stattgefunden. Er fügte noch, gleichsam entschuldigend, hinzu, erst auf seiner Reise habe er die Überzeugung gewonnen, wie günstig die Volksstimme der neuen Verfassung sei, und gern opfere er seine persönlichen Interessen dem Glücke des Volks. Die Königin ward ebenfalls vernommen; ihre Aufgabe war leichter; sie hielt an der Pflicht der Gat­ tin fest, Mann und Kinder nicht zu verlassen. Man fand ein Bild des Grames vor; ihre Haare waren in den wenigen Tagen weiß geworden. Nun siegle zwar in der National­ versammlung nach heftigem Kampfe der Grundsatz ob, daß der König nicht vor Gericht gestellt werden dürfe; allein wie wollte man diese Unverletzlichkeit seiner Person festhalten, wenn man den Tag darauf ihr Fundament, die Unverletzlichkeit seiner Würde, zu Trümmern schlug? Denn dekretirt ward, die königliche Gewalt solle bis zu dem Zeit­ punkte suSpendirt sein, da die Verfaffungsurkunde dem Könige könne zur Annahme vor­ gelegt werden., AuS Dahlmanns Gesch. der franz. Revolution.

27 (29). Die Völkerschlacht bei Leipzig. Der große Tag brach an, da der angemaßte Siegerkranz des Eroberers, der nun schon manches Blatt verloren hatte, von seinem Haupte gerissen werden sollte. Europa stand zum Kampfe gegen einander. Von da, wo seine Grenzen das ferne Asien und wo sie den atlantischen Ocean, wo sie das mittelländische und das Eismeer berühren, waren die Krieger hier um Leipzig versammelt und kämpften eine wahre Völkerschlacht. Das war eine andere Kaiserschlacht als die bei Austerlitz. Drei Kaiser und zwei Könige waren zu diesem Strauße auSgezogen. Von drei Seiten sollte der Angriff auf den starken Halbkreis geschehen, den Napo­ leon um Leipzig gezogen hatte, von Mitternacht durch den Kronprinzen von Schweden und das schlesische Heer, von Morgen her durch Bennigsen, der außer seinen Russen auch die Österreicher unter Klenau und eine preußische Abtheilung unter Zielen befehligte; von der Mittagsseite aber mußte der Hauptangriff kommen, weil hier noch immer Napoleons Stärke war. Der Oberfeldherr theilte sein Heer daselbst in zwei große Haufen; der erstere waren die Russen und Preußen unter Wittgenstein und Kleist, die über Wachau den französischen Mittelpunkt angreifen sollten; der zweite aber, der Kern des österreichischen HeereS unter dem Erbprinzen von Hessen-Homburg, sollte den Poniatowsky, der sich so hartnäckig an der Pleiße behauptet hatte, von dort verdrängen und nach Leipzig zurück­ werfen. Napoleon dagegen hatte seinen Halbkreis viel enger zusammengezogen, damit er mehr Festigkeit in sich haben möchte. Seine Schaaren hatten Wachau und Liebertwolkvitz, um welche am 16. so blutig gestritten war, verlassen und den Mittelpunkt ihrer Stellung in Probstheyda genommen; er selbst aber hielt mit seinen Garden zwischen diesem Orte und dem rechten Flügel an der Pleiße. Sein Standort war auf einem Hügel bei einer durchlöcherten Windmühle, einem treuen Abbilde seines nun zerttümmerten, fraher von günstigen Winden getriebenen Glückes. Da fing er den großen Tag an und entigte

ihn auch. Mit dem Schlage acht Uhr erössnete sich der Kampf. An der Pleiße hinab drang der Erbprinz von Hessen-Homburg gegen Dölitz und griff das Dorf im Sturme an.

Erzählung.

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Die Polen und Franzosen unter Poniatowsky wehrten sich wie Verzweifelte, und es war ein harter, blutiger Streit um dieses Dorf. Mehr als einmal wurden die Österreicher zurückgeschlagen. Der Heerführer des Angriffshaufens selbst, der tapfere Erbprinz, empfing zwei Wunden, und Bianki mußte für ihn den Oberbefehl übernehmen; er und Colloredo führten es endlich glücklich hinaus, eroberten Dölitz und behaupteten es trotz Augereau und den Garden, die den Ihrigen zu Hülfe kamen, den ganzen Tag hindurch. Rechts von ihnen waren auch die Ruffen und Preußen tapfer vorgedrungen, trieben die Franzosen immer fechtend vor sich her und standen nachmittags vor Napoleons Mittel­ punkte Probstheyda. Da war heute der härteste Kampf, weil auf der Erhaltung dieses Dorfes die Rettung des französischen Heeres beruhte. Daher hatte Napoleon in und hinter demselben eine große Menge von Kriegshaufen aller Art aufgestellt und viele Schanzen errichtet, und er selbst stand mit seinen Garden so, daß er jeden Augenblick Hülfe leisten konnte. Die Gärten des Dorfes waren meistens mit Lehmmauern umgeben: diese ge­ brauchten die Franzosen als Schanzen, machten Schießlöcher hinein und steckten sich dahinter, ja sie hatten fast jedes Haus zu einer Festung gemacht. Mit der ungestümsten Tapferkeit drangen die preußischen Abtheilungen unter Prinz August und Pirch um 2 Uhr nach­ mittags in das Dorf ein; aber sie konnten es nicht behaupten. Immer neue und neue Haufen trieb Murat, der hier befehligte, gegen sie daher, und die Kartätschen schmetterten von allen Seilen in ihre Reihen. Vor dem Dorfe ordneten sie sich sogleich wieder und stürmten unerschrocken von neuem, aber mit demselben Erfolge. Auch russische Haufen rückten heran und versuchten die blutige Arbeit; aber keiner vermochte sich in dem Dorfe zu behaupten. So entsetzlich war hier das Blutbad, daß die Kämpfenden zuletzt nicht mehr über die Haufen der Todten hinwegsteigen konnten. Da liegt mancher tapfere Jüngling erschlagen und hat mit seinem jungen, frischen Leben unsere Freiheit bezahlt; mit Recht hat man daher zum Andenken des großen Tages an dieser Stätte bei Probst­ heyda ein Kreuz aufgerichtet. Die drei verbündeten Herrscher hielten selbst auf einer An­ höhe in der Nähe und sahen die übermenschlichen Anstrengungen der Ihrigen. Um halb 5 Uhr befahlen sie, das Stürmen aufzugeben und der wackeren Krieger zu schonen; denn der Sieg war schon an anderen Orten vollkommen entschieden, und schon seit 10 Uhr morgens hatte Napoleon dem General Bertrand Befehl gegeben, mit seinen Haufen von Lindenau nach der Saale zu ziehen; das war ein sicheres Zeichen, daß er den Rückzug des ganzen Heeres beschlossen hatte. Dieses alles geschah auf der Mittagsseite deS Schlachtfeldes. Von der Morgenseite griffen Klenau und Zielen unter Bennigsens Oberbefehl den Marschall Macdonald an, der diesen Theil der französischen Stellung vertheidigen sollte. Der Marschall behauptete sich sehr tapfer, besonders in Holzhausen, welches mehrmals erstürmt und wieder verloren wurde. Dennoch eroberten die Österreicher gegen 2 Uhr nachmittag- dies Dorf, die Preu­

ßen aber Zuckelhausen, und Macdonald zog sich nach Stötteritz zurück, welches nahe bei Probüheyda liegt. Um diese beiden Orte drängte sich der übriggebliebene Kern des fran­ zösischen Mittelpunktes zusammen und behauptete sich bis in die Nacht. Der linke Flügel aber unter Ney litt an diesem Tage die härteste Niederlage. Ney sollte den ganzen Strich Landes von Macdonald an bis an die Parthe beschützen; da kam rber das Nordheer und Blücher über ihn und ließen ihm nicht Rast und Ruhe, bis er genz nahe an Leipzig hinangelrieben war. Und hätte nicht Napoleon selbst von seiner Windmühle aus die Noth bemerkt und Garden über Garden zu Hülfe geschickt, so wäre der Rarschall wohl gar verloren gewesen und Leipzig schon an diesem Tage mit Sturm erobert worden. Auf diesem Theile des Schlachtfeldes ging eS aber so zu. Früh mor­ gens den 18. hatte Blücher mit dem Kronprinzen von Schweden eine Unterredung zu Breitenfeld, wie sie den entscheidenden Kampf am besten ordneten. Der Kronprinz, der seine Schweden gern schonen wollte, verlangte, daß ihm von dem schlesischen Heere 30000

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Historische Prosa.

Mann an diesem Tage geliehen würden, wenn er über die Parthe gehen und Ney herzhaft angreifen sollte. „Wohl!" sprach der alte Held, „aber ich will sie selbst anführen; denn eS ist die größere Hälfte meines Heeres, das bei Möckern so eben den blutigen Strauß bestanden hat." Das war edel von dem Greise und recht deutsch gedacht, daß er sich selbst unter den Befehl deS viel jüngeren Mannes stellte für das Gelingen der Sache. Und sogleich legte er auch Hand an das Werk selbst. Der Kronprinz wollte das ganze nun ver­ einigte Heer von 100000 Mann auf einem weiten Umwege bei Taucha über die Parthe setzen lassen, um an den Feind zu kommen. Blücher aber berechnete, daß der Übergang von so viel Tausenden über eine Brücke bis in die Nacht dauern und der Tag verloren sein würde. Da faßte er rasch seinen Entschluß und ging mit den unverzagten Russen gleich bei Mockau, viel näher bei Leipzig, durchs Wasser, obwohl das Fußvolk bis an den Gürtel hineinsiel, und meldete dann dem Kronprinzen, er sei schon hinüber und warte seiner wei­ tern Befehle. Die Franzosen unter Marmont zogen sich eilig gegen Schönfeld zurück, und als sie von den Reitern verfolgt wurden, trat daS sächsische Husaren- und Ulanenregiment zu diesen über. Das war das erste Wahrzeichen an diesem Tage, daß nun die deutsche Sache in den Gemüthern jede andere Stimme besiege. Auch das Nordheer traf auf den Portitzer Höhen einige sächsische und würtembergische Haufen, welche den heranrückenden Brüdern mit freudigem Zuruf entgegengingen und die Hand zum neuen Bunde reichten. Nun drang das Nordheer von Taucha her weiter vor und füllte den Saum zwischen Blücher rechts und Bennigsen links, so daß der Ring von dieser Seite geschlossen war. Er zog sich immer enger und blutiger um die Franzosen zusammen. Langeron mit den Russen be­ stürmte Schönfeld, welches dicht an der Parthe liegt und von Marmont hartnäckig ver­ theidigt wurde. Vier Stunden währte der Kampf, und immer neue Haufen traten von beiden Seiten auf den Platz; endlich zwischen 5 und 6 Uhr abends, als schon Dorf und Kirche brannten, verließen es die Franzosen und zogen sich nach Reudnitz und Volkmarsdorf hart an den Thoren von Leipzig zurück. Ney und Neynier, die das freie Feld über Pauns­ dorf hinaus behaupten sollten, wurden am Nachmittage von dem Nordheere gleichfalls an­ gegriffen und durch die Preußen unter Bülow aus Paunsdorf herausgeschlagen. Und als sie sich noch im freien Felde behaupten wollten, da machte sich die treffliche Reiterei der Russen und Preußen, die an diesem Tage sonst wenig thun konnte, da fast nur in den Dörfern gestritten wurde, gegen sie auf, und daö Geschütz warf die Congreveschen Raketen in ihre Vierecke. Diese fürchterlichen Feuerdrachen fuhren zischend und heulend in die dichten Haufen der Reiter oder deö Fußvolks und spieen aus vielen Röhren ein so ver­ zehrendes, nicht zu löschendes Feuer rundumher auS, daß Menschen und Pferde erschrocken vor ihnen auSeinanderstoben. Da half kein Widerstehen und kein Halten der Befehlshaber, auch nicht, daß Napoleon Theile seiner Garde zu Hülfe schickte; die Reihen lösten sich, auch die andern Dörfer in der Nähe gingen verloren, und erst in Bolkmarsdorf wurde wieder ein Halt gewonnen. Auf diesen Feldern und in diesen Stunden war es, da die sächsischen KriegShaufen, die bis dahin nach dem Willen ihres Königs geduldig für Napoleon gekämpft hatten, ihr Blut nicht länger für denjenigen vergießen wollten, der durch seinen unsinnigen Trotz nun klar an den Tag legte, daß er nur Freude an Mord und Zerstörung habe. In geschloffenen Reihen, mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiele, die Anführer an ihrer Spitze, zogen sie im Angesichte der Franzosen zu den Verbündeten hinüber. Es war ein herzerfrischender Anblick, wie die, welche längst in ihrem Herzen Freunde waren, nun zu einander traten, sich die Rechte reichten und brüderlich schüttelten, und wie den benarbten Kriegern die Freudenthräne über die Backe rann. Napoleon, in Bestürzung über diese Nachricht, schickte sogleich seine Gardereiter unter Nansouty, die gefährliche Lücke zu füllen, und dieser mit schneller Wendung und vielem Geschütz bricht plötzlich hervor und will dem siegreichen Bülow noch dazu in die offene

Erzählung. Flanke fallen.

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Aber die Österreicher unter Bubna, die in der Nähe stehen, nehmen nicht

sobald die Absicht wahr, als sie sich eiligst schwenken und dem verderblichen Stoße kühn entgegenwerfen; von der andern Seite feuert die eben übergetretene sächsische Artillerie, von dem Kronprinzen dazu aufgefordert, in die französischen Reihen, weil es gerade an dieser Stelle an Geschütz fehlte. Da müssen die Garden eilig umkehren und auch hier daFeld bflt Verbündeten überlasten. Der blutige Tag neigte sich zu seinem Ende. Mit Sehnsucht blickte Napoleon der Nacht entgegen, die seine noch übrigen hart bedrängten Haufen aus der Hand der unge­ stümen Feinde erretten sollte. Er hatte viel Raum verloren, und sein großer Halbkreis war in ein schwaches Dreieck zusammengedrängt, das in seiner Spitze Probstheyda hatte und mit einer Seite nach Konnewitz an der Pleiße, mit der andern über Stötteritz und Bolkmarsdorf nach Leipzig hin lief. Hätte sein Heer nicht an diesem Tage noch einmal mit festem Muth und großer Ordnung den schweren Kampf bestanden (dieser Ruhm soll auch dem Feinde nicht geschmälert werden), wäre einer der Schenkel dieses Dreiecks noch vor Abend erbrochen und Leipzig erstürmt worden, so war alles verloren. Napoleon kämpfte an diesem Tage auch noch für den Rückzug, und schon von 10 Uhr morgens an war ein zahlloser Troß von Wagen und Pferden und Gepäck den ganzen Tag hindurch hinter dem Bertrandschen Heerhaufen hergezogen. Wie ungeheuer die Menge der Menschen und Sachen hier gewesen, kann leicht ermessen, wer bedenkt, daß alles, was seit dem Monat April aus dem weiten Frankreich nach Deutschland gezogen, die Krieger und die Frauen mit ihren Kindern, die Wundärzte und ihre Gehülfen und die Schaar der Kommissäre mit ihren Helfershelfern, das Geschütz mit der Munition, sowie die Wagen und Geräthe der Heerhaufen, wie der Einzelnen, daß dies alles nun in dem einen Mittelpunkte in und um Leipzig zusammengedrängt war. Jetzt zogen die Gäste ab, und ihr Reich hatte ein schreck­ liches Ende genommen, und die Herzen derer, die sie ziehen sahen, frohlockten. Gerade an diesem Tage vor sieben Jahren waren die ersten Franzosen unter Davoust in Leipzig ein­ gerückt. Als die dunkle Nacht schon das große Blutfeld bedeckte, befand sich Napoleon noch auf dem Hügel bei seiner Windmühle, wo er sich ein Wachtfeuer hatte anzünden lasten. Er hatte seinem ersten Gehülfen Berthier die Anordnung des Rückzuges mitgetheilt, und dieser diktirte sie an einem Seitenwachtfeuer einigen Adjutanten. Ringsum herrschte tiefe Stille. Man hatte dem von harter Anstrengung der letzten Tage und noch mehr von den heftigsten Bewegungen deS Gemüthes erschöpften Herrscher einen hölzernen Schemel ge­ bracht, auf welchem er in Schlummer sank. Hoffnung, Furcht, Zorn, Unmuth, Zähne­ knirschen, was mochte alles in diesen Tagen das heftige Gemüth erschüttert haben! Und desto tiefer hatten die Gefühle in das Innere hineingezehrt, je weniger er sie äußerlich sichtbar werden ließ. Jetzt lag er, wie ein Augenzeuge ihn gesehen, nachlässig auf seinem Schemel zusammengesunken, die Hände schlaft im Schoße ruhend, die Augen geschlossen, unter dem dunkeln Zelte des Himmels mitten auf dem großen Leichenfelde, das er geschaffen hatteund welches durch die brennenden Dörfer und unzähligen Wachtfeuer wie mit ver­ zehrenden Flammen besät war. Die Anführer standen düster und verstummt um das Feuer, und die zurückziehenden Haufen rauschten in einiger Entfernung vorüber. Nach einer Viertelstunde erwachte Napoleon und warf einen großen, verwunderungsvollen Blick im Kreise um sich her. Wohl mochte ihm die Wirklichkeit wunderbarer vorkommen als die Bilder, die ihm vielleicht ein Traum von alter Größe und Siegespracht vorgegaukelt hatte. Dann stand er auf und traf gegen 9 Uhr in Leipzig ein und nahm wie durch eine Ver­ spottung des Schicksals sein letztes Nachtlager in dem Gasthofe von Preußen. Nach Mitternacht, als der Mond aufging, begann der Rückzug des ganzen Heeres durch Leipzig. Da aber die Haufen von mehreren Seiten vom Schlachtfelde hereinzogen und für alle nur ein nicht breiter Ausweg nach Lindenau, der Ranstädter Steinweg, da Dirlitz u. Heinrichs, Handb. b. deutsch. Literatur.

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Historische Prosa.

war, so war oft Aufenthalt und Stockung. Die Wagen und Kanonen verfuhren sich in einander, und die zu Fuß konnten sich kaum daneben hinausdrängen. Voran zogen die Garden, auf deren Rettung am meisten ankam, dann die besten Haufen der übrigen; die Polen, Badener, Darmstädter mit einigen Franzosen sollten die Stadt vertheidigen, solange es möglich sei. Leipzig war keine Festung, aber man hatte die Thore verrammelt, Schanzen aufgeworfen und alle Gräben und Gartenmauern zur Befestigung benutzt. Aber das Bundesheer war nicht gesonnen, so ruhig zuzusehen, daß die Franzosen mit aller alten Beute und allem KriegSgeräth ungestört abzogen. Schon seit 8 Uhr morgens rückten von allen Seiten die Haufen zum Angriffe heran und beschossen die Thore. Da wurde den Abziehenden noch bänger, und sie strömten in solchem Getümmel nach dem einen AuSgange hin, daß Napoleon, als er dem König von Sachsen den letzten Besuch gemacht hatte und nun gegen 10 Uhr die Stadt verlassen wollte, nicht durchzukommen vermochte. Selbst die Furcht vor seinem Antlitze und die Säbelhiebe seines Gefolges halfen nicht mehr: der Trieb der Selbsterhaltung war mächtiger als alles andere; er mußte sich von dem großen Wege abwenden und auf einem Nebenwege um die Stadt nach dem Ranstadter Steindamme reiten. Und auch hier konnte er und sein Gefolge sich nur einzeln an der Seite deS Gewühls fortwinden. Da zog Fußvolk und Reiterei, Geschütz und Pulverwagen, Gesunde, Verwundete und Sterbende, Wagen mit Frauen und Kindern, Marketender und geraubte Viehherden im wildesten Getümmel mit Drängen und Stoßen und Geschrei bunt durcheinander, und der, welcher sich einen Herrn der Welt genannt hatte, mußte sich von diesem gedanken- und sinnlosen flüchtigen Strome nur mit fortschieben lassen. Die verbündeten Herrscher hätten die Verwirrung noch sehr vergrößern, die abziehen­ den Haufen in noch verzweifeltere Flucht, die Widerstand Leistenden zu schnellerer Ergebung bringen können, wenn sie die Stadt selbst hätten beschießen lassen. Aber ein so grausames Mittel, welches Tausende von unschuldigen Einwohnern mit verdorben hätte, war ihrem menschenfreundlichen Herzen zuwider: sie wollten nur die Thore und Eingänge erstürmen lassen, und das vollbrachten ihre unerschrockenen Krieger auch sehr'bald. Der Prinz von Hessen-Homburg, wiederum einer aus diesem tapfern Fürstengeschlechte, stürmte mit den Preußen gegen das Grimmaische Thor, Bennigsen gegen das Petersthor, Längeren gegen das Hallesche Thor. Auch zu den Seiten drangen die Kämpfenden in die Gärten ein; aber die Franzosen und Polen vertheidigten jeden Schritt; jedes Gartenhaus und jede Hecke mußte erobert werden, und noch einmal floß viel Blut. Doch der Sieg konnte nun nicht mehr zweifelhaft sein. Halb 12 Uhr drangen die ersten Preußen in die Stadt ein, und der tiefe Hörnerklang der pommerschen Schützen ertönte durch die Gassen. Das war den be­ täubten, ängstlich harrenden Einwohnern ein herrlich deutscher Klang. Die verschlossenen Thüren öffneten sich, als man die Freunde vernahm, und noch in das Schießen hinein wehten die weißen Tücher zum FreundeSgruß aus den Fenstern. Um dieselbe Zeit wurde plötzlich die einzige Brücke, welche von der andern Seite der Stadt den Franzosen zur Rettung diente, über den Elster-Mühlgraben in die Luft gesprengt, es ist nicht entschieden, ob auf Napoleons Befehl, der den Feind an der Verfolgung hindern wollte, oder durch Furchtsamkeit und Voreiligkeit eines Feuerwerkers, wie der französische Bericht angiebt, der dort zur Wache aufgestellt war. Alle aber, die sich noch auf dem Wege zu dieser Rettungs­ brücke hindrängten, stießen einen Schrei deS Entsetzens aus und zerstreuten sich nach allen Seiten, um noch einen Ausweg zu finden. ES war keiner mehr. Viele stürzten sich auS Verzweiflung in die Elster, umhindurchzuschwimmen, allein sie kamen fast alle in dem liefen Flusse um oder blieben in seinen sumpfigen Ufern stecken. Auch einige der Feldherren, die noch zurückwaren, sprangen mit ihren Pferden in das Wasser, um der Gefangenschaft zu entgehen ; aber einer der ersten, der polnische Fürst Poniatowsky, den Napoleon noch eben zum französischen Marschall gemacht hatte, ertrank in dem Flusse. Macdonald ent­ kam. Unter denen, die gefangen wurden, waren Reynier, Bertrand und Lauriston.

Erzählung.

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An diesem Tage verlor Napoleon noch mehr als in den Tagen der Schlacht.

Über

15'000 waffenfähige Krieger, die durch das Sprengen der Brücke abgeschnitten waren, wlvrden gefangen; an Verwundeten aber und Kranken blieben noch 25000 der Gnade der Sieger überlassen. Der Kanonen und Wagen, die um und in der Stadt stehen blieben, tocnr eine unübersehbare Menge: auf der Allee allein standen 105 Kanonen zusammengeftahren. Es sind ihrer in diesen Tagen gegen 400 mit 1600 Wagen erbeutet worden. DarS war ein Trümmerhaufe, wie ihn die Geschichte selten aufzuweisen hat. Nach 1 Uhr zogM Alexander und Friedrich Wilhelm mit dem Gefolge ihrer Feldherren unter lautem Siegesgruße ihrer tapfern Schaaren und dem Freudengeschrei der Einwohner in die nun erriettete Stadt ein. Aus Kohlrausch' deutscher Geschichte.

28 (30). Die Erstürmung des Montmartre am 31. März 1814. Weder die versuchten Verhandlungen mit dem französischen Kriegsminister, noch die am 29. März 1814 ausgegebene bekannte Proklamation an die „Einwohner von Paris", so begütigend, ja schmeichelhaft sie für die Pariser war, hatte die geringste Wirkung gehabt. Noch am Morgen des 30., als schon das Feuern der Vorposten begonnen, ward ein fran­ zösischer Offizier, der gefangen wurde, freigegeben und mit dem Auftrag zurückgesandt, den Befehlshabern in Paris zu erklären, daß die Verbündeten vor Paris ständen, nicht um mit Frankreich, sondern mit Napoleon den Kampf auszumachen; aber, gutwillig oder in Kraft der Bajonnette, Europa müsse heute noch in Paris schlafen. GrafOrloff, der ihn begleitete, ward mit Flintenschüssen empfangen; an drei, vier Stellen versuchte er vergebens zu parlamemiren. Die Waffen mußten entscheiden. Die Verbündeten standen der Nordostecke von Paris gegenüber. An ihrer Ostseite erhebt sich ein mit Dörfern besetztes Plateau, daö unmittelbar an der Stadt beginnend, sich mit ziemlich steilen Abhängen, Schluchten, Steinbrüchen im Bogen zur Marne hinabzieht und sie, den Wald von Vincennes gegen Osten umschließend, eine halbe Meile oberhalb Paris erreicht. Ein kleineres steileres Plateau, das deS Montmartre, liegt auf der Nord­ feite der Stadt. Zwischen beiden Plateaus, die an ihrem Fuß etwa 2000 Schritt von einander entfernt sind, liegen die Vorstädte La Chapelle unmittelbar am Montmartre und La Vilette an der Straße von SoiffonS hinauSgebaut. Am Nordabhang deS größeren Plateaus führt die Chaussee von Meaux nach Paris und erreicht die Stadt in der Barriere Pantin, die nur durch den Ourcqkanal von La Vilette getrennt wird. Zwischen dem Kanal und der Chaussee, eine Viertelmeile vom Thor, liegt das Dorf Pantin. Die Disposition des Fürsten Schwarzenberg bestimmte, daß Graf Barclay mit Tages­ anbruch mit dein Corps Rajesssky und den Garden in Reserve über Pantin und das große Plateau vordringen, gleichzeitig der Prinz von Würtemberg die Marne hinab über Vin­ cennes vorgehen, Blücher den Montmartre angreifen sollte. Um 6 Uhr morgens begann vor Pantin und Romrinville am Aufgang deS Plateaus der Kampf. Bald wurde er außerordentlich mörderisch, beide Orte waren genommen; sie zu behaupten, kostete die äußerste Anstrengung. Und noch immer nicht wurde rechts und links der unterstützende Angriff begonnen. Vielmehr ließ der Kronprinz von Würtemberg melden, daß er erst nachmittags auf dem Kampfplatz eintreffen könne. Und in Blüchers Hand war die Disposition, nach der er bereits mit Tagesanbruch den Kampf beginnen sollte, erst um 7 Uhr gekommen, erst um 8 Uhr erhielten Jork und Kleist seine Disposition; sie sollten „gegen La Vilette und La Chapelle vorrücken und den Montmartre von dieser Seite angreifen," Woronzoff ihnen in Reserve folgen, Längeren von St. Denis her den Montmartre angreifen. Jork und Kleist ließen sogleich aufbrechen. Gegen 10 Uhr war die Avantgarde auf der Straße der „kleinen Brücken", in gleicher Höhe von Pantin. Man hatte keine hin-

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reichend genaue Karte der Umgebung von Paris. Nork und Äleift ritten mit ihrer Suite vor, sich zurechtzufinden. Zur Linken jenseits des Kanals war Pantin bereits von den Ruffen genommen, doch hielt sich der Feind noch in den letzten Häusern. Von Pantin bis gegen die Stadt zu ein freies Feld, das daS große Plateau auf der einen, der Kanal auf der andern Seite begrenzte; über diesen Kanal, in der Verlängerung der Straße der „kleinen Brücken", eine eiserne Kanalbrücke; zwischen dieser zur Linken und einem einzelnen Gehöft (LeRouvray), nahe am Kanal zur Rechten führte die Straße der „kleinenBrücken" über jenes freie Feld, um sich etwa 1000 Schritt jenseits Pantin mit der Chaussee zu ver­ einigen. Die da beginnenden Häuser zur Seite der Chaussee verbargen die Barriere Pantin dem Blick. So umschauend, war man am Kanal hinab weit, bis in den Bereich einer Zwölfpfünder-Batterie, die hinter jenem Gehöft stand, vorgeritten; man konnte die Gesichtszüge der Artilleristen erkennen. Plötzlich begann ein sehr lebhaftes Feuer; gleich einer der ersten Schüffe traf Aorks Jäger dicht hinter ihm: „WaS hat er mir auch so nahe zu bleiben; seht zu, ob ihm noch zu helfen ist." Die Ordonnanz, die zu ihm ritt, ward von der näch­ sten Kugel getödtet. Lieutenant Below und Hauptmann v. Boß sprachen mit einander, eine Kugel fuhr zwischen beide, Boß sank schwer verwundet. Endlich war die Umschau hier beendet, York ritt rechts weiter, ein noch trockenes Kanalbett, das vom Ourcqkanal am Ausgang von La Vilette vorüber nordwärts führte, zu rekognosziren. Schon hatte Katzeler seine zwei reitenden Batterien in Thätigkeit, die Leibfüsiliere und die vom zweiten ostpreußischen Regiment überschritten im Sturmschritt unter dem Feuer der feindlichen Zwölfpfünder die eiserne Brücke, nahmen die Ausgänge von Pantin, erstürmten jenes Gehöft. Es war hohe Zeit, daß den Russen in Pantin diese Hülfe kam; nur mit Mühe be­ haupteten sie, da die Garden noch nicht heranwaren, hier und auf der Höhe das schon Gewonnene. Um desto sicherer zu stützen, zog Katzeler noch zwei Bataillone über die Brücke nach Pantin hinein. Weiteres Vordringen hemmte das mörderische Feuer jener Zwölfpfünder-Batterie, die sich weiter rückwärts aufgestellt hatte. Bald nach 11 Uhr kamen die Garden heran; sofort gingen sie vor, die russischen auf der Höhe, durch Pantin auf der Chaussee die preußischen unter Obrist Alvensleben; hier wie dort begann jener furchtbare Kampf, dem an Hartnäckigkeit vielleicht nur der von Möckern an die Seite zu stellen ist. Um dieselbe Zeit, wo die Garden in Pantin eingetrosfen waren, erreichte die Division HornS auf der Straße der „kleinen Brücken" die gleiche Höhe; sofort wurden die beiden Zwölfpfünder-Batterien Simon und Giersberg zwischen dieser und der nächsten Chaussee rechts (vor La Vilette) aufgefahren. Simon blieb im Avanciren, bis der Feind mit Kar­ tätschen auf ihu feuerte. Dann erst begann er sein überlegenes Feuer. Eben jetzt kam die Weisung des Feldmarschalls, daß die Division des Prinzen Wil­ helm hier an der Straße der „kleinen Brücken" als Unterstützung der Avantgarde bleiben, die Division Horn und das Kleistsche Corps sich rechts nach dem Dorf Aubervilliers wen­ den, daS noch trockene Kanalbett überschreiten, gegen La Chapelle vorgehen und von dieser, der Ostseite, den Montmartre stürmen sollte, während gegen die Westseite zu stürmen Längeren, der den rechten Flügel der Aufstellung bildete, bestimmt war; zwischen Kleist und Prinz Wilhelm sollte Woronzoff einrücken. Bewegungen, die unter einer beiderseits höchst heftigen Kanonade so ausgeführt wurden, daß nachmittags nach drei Uhr alles zum letzten entscheidenden Stoß bereit war. Schon war auch der Kronprinz von Würtemberg bis zur Marne hinabgekommen, rasch gegen Vincennes vorgedrungen. Der Feind auf dem Plateau wich in seine letzten Stellungen bei Belleville, der hohen Ecke zwischen der Straße von Pantin und der Sradt. Auf der Straße von Panün waren die preußischen Garden bis an die Häuser vor

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der Barriere Pantin, bis zu der Kanalbrücke am Bassin, die zur mittelsten Querstraße von La Bilette führt, vorgedrungen, hatten jene Zwölfpfünder-Batterie genommen. Aber in diesem mörderischen Kampf, unter drei- und vierfachem Kreuzfeuer hatte man vorgehn müffen, waren die Bataillone geschmolzen, die Hälfte ihrer Geschütze demontirt, die Nachhut in Pantin schon im Kampf zerstörte Bataillone; man mußte vor einem Handstreich von der Höhe links aus, die der Feind noch immer inne hatte, besorgt sein. Bon Barclay dringend um Unterstützung gebeten, eilte Prinz Wilhelm, drei Kavallerieregimenter zur Unterstützung Katzelers znrücklaffend, über eine rückwärts liegende Kanalbrücke nach Pantin hinein. Indeß war, nachdem bereits manches demontirte Geschütz zurückgenommen worden, BullyS Haubitzbatterie vorgeholt, hatte sich, die Sechspfünder des Lieutenant Schmidt zur Seite, zwischen dem Kanal und der Chaussee von Soissons der feindlichen Batterie bis auf 600 Schritt genaht, sofort mit so furchtbarer Wirkung feuernd, daß die polytechnischen Schüler an der feindlichen Batterie aufprotzten; schleunigst ward durch das trockene Kanal­ bett vorgegangen und wenigstens noch die Hälfte der feindlichen Batterie erobert. So günstig stand hier und bei den Garden das Gefecht, als plötzlich, bald nach 3 Uhr, der Feind aus La Vilette und gegen Pantin zugleich zum Angriff vorging. Alte Garde drängte die preußische Garde über die Brücke am Bassin zurück. Gegen die Haubitzbatterie brachen zwei Regimenter Chasseurs und polnische Lanziers hervor, Infanterie zu ihrer Rechten mit lautem en avant. Aork hielt bei den nahen Husaren, den schwarzen und Brandenburgern. „Die Batterien dürfen wir nicht im Stich lassen." Die Todtenköpfe trabten vor, freilich in Zügen abgebrochen, um das Kanalbett zu passiren, sich jenseits im raschen Trabe formirend, als schon die Polen herangejagt kamen; noch gerade zur rechten Zeit erfolgte daö Signal Marsch! Marsch! nm mit Hnrrah dem Feind entgegenzujagen, Obrist Stößel und die Offiziere in einer Linie voran. Der Feind erwartete den Ansturz nicht, machte Kehrt, ward verfolgt bis nach La Vilette hinein; dort knäulte sich alles zu­ sammen, so daß man sich bald nur noch mit dem Säbelgefäß bekämpfen konnte. Aber plötzlich knatterte aus den Fenstern herab Kleingewehrfeuer; Obrist Stößel eilte, seine Leute zurückzuhvlen; viele mit blutigen Köpfen, jagten sie zurück an den geschlossenen Schwadro­ nen Sohrs vorüber: „ Nun steht, Brandenburger!" rief Stößel ihnen zu. Den Moment jener glänzenden Attaque ergriff ?)ork, jetzt an Kleists Seite, um mit dem Vorgehn beider Armeecorps den Sieg zu entscheiden. Er zog den Säbel. Dem Marsch! Marsch! längs der Linien folgte das jubelnde Hurrah der Truppen. Schon war jenseits des Kanals auch Prinz Wilhelm mit seinen Brandenburgern und Landwehren im Avanciren, nahm die Brücke am Bassin wieder. Wie dort, so hier belebte sich das Gefecht; fort und fort erklang das schöne Signal der Flügelhörner „Avanciren". Man nahte sich dem Montmartre. Schon gingen auch Woronzoffs Jäger im Sturmschritt auf La Vilette los, Prinz Wilhelm, bereits in der Mitte des Dorfes, wandte sich links, die kaum mehr 1000 Schritt entfernte Barriere zu erstürmen; Horn hatte La Chapelle genommen, Kleist ließ daS Gewehr fällen zum Sturm gegen die Kuppe der „fünf Mühlen", und Langeron rückte im Sturmschritt rechts gegen den Montmartre. Da kamen Adjutanten mit wehenden weißen Tüchern dahergesprengt, die Botschaft deö Waffenstillstandes; sie wurde als volles Zeugnis des Sieges mit lautem Hurrah begrüßt. Nur Langeron nahm sich noch die Zeit, die begonnene Erstürmung zu vollenden; und da die Besatzung der „fünf Mühlen" freiwillig abzog, besetzten Kleist und Horn auch diese. DaS war um 6 Uhr. Dem Waffenstillstand folgten die Unterhandlungen. Sie zogen sich in die Länge. Es lief Befehl vom Feldmarschall ein, „alle Truppen so in Bereitschaft zu halten, daß sie jeden Augenblick den Angriff auf den Feind und die Stadt erneuen Kirnten; es sei keine Aufkündigung der Waffenruhe nöthig; sobald der Angriff von Seiten

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der Hauptarmee fortgesetzt werde, greife auch die schlesische Armee an." Blücher hattte 84 Stück schweres Geschütz auf dem Montmartre auffahren lasien; nach seinem Sinn tmar die Sanftmuth nicht, die man gegen diesen Feind zu üben wetteiferte. In den Truppen war daS Gefühl des vollsten Sieges, der glorreich errungenen Ent­ scheidung ; wie zu ihren Füßen lag nun im Glanz der sinkenden Sonne die riesige Stadt, so lange die übermüthige Herrin Europas, nun völlig gedemüthigt, ohnmächtig — fiür unsägliche Mühsal der höchste Lohn. Das kühne Wagnis, das auf der Mühle bei Tcruroggeu begonnen worden, nun war es wundervoll vollbracht. Und hier sei eines Zuges erwähnt, der, gleichsam zum Schluß, den Anfang des Krie­ ges und mit welcher Meinung er begonnen war, vergegenwärtigt. Wie man dort oben bei den Windmühlen stand, die Bataillone Gewehr beim Fuß, die Kavallerie unten zum Theil abgeseffen, da mit einem Male kommt Oberst Below mit seinen alten Lithauern herauf, reitet in langem, gemächlichem Zuge den Montmartre entlang, zeigt ihnen Paris, und alls Zork, nicht wenig erstaunt und ungehalten, nachreiten und fragen läßt, was das bedeute, entgegnet Below, das habe er seinen Leuten schon in Tilsit versprochen; man wiffe doch nicht, ob sie sonst Paris zu sehn bekämen. Sämmtliche Truppen bivouakirten; ihre Feuer umschlosien die Stadt im weiten Halb­ kreis. Zork und Kleist blieben auf dem Montmartre; sie ließen sich zur Seite des vordersten Hauses eine Streu machen, durchwachten, in den Mantel gehüllt, die Nacht. AuS DroyfenS Leven deS Grafen York v. Wartenburg.

29 (31). Die Schlacht bei Belle-Alliance. Wellington hatte zum 17. Juni früh fein Heer bei Quatre-BraS zusammengezogen und dachte den Feind diesen Tag in Gemeinschaft mit Blücher anzugreifen, von deffen Rückzug er noch nichts gehört hatte; seine Offiziere, die seine Vorschläge deshalb an Blücher bringen sollten, fanden auf der Straße von Quatre-Bras nach Sombref den Feind und erfuhren, daß ein Adjutant Blüchers in der Nacht auf dieser Straße getödtet worden war. Nach zufällig erlangter Gewißheit über den Ausgang der Schlacht von Lignh und den Rückzug Blüchers nach Wavre sah Wellington sich bei Quatre-BraS dem Angriffe der ganzen Macht Napoleons ausgesetzt und beschloß daher, gleichfalls abzuziehen, um wieder mit Blücher näher zusammenzustehen; ob dieser in nächster Zeit im Stande sein würde, eine zweite Schlacht zu liefern, war völlig ungewiß. Im BerneinnngSfalle wurde ein wei­ terer Rückzug gegen Antwerpen nöthig, und Brüffel mußte dem Feinde überlassen werden. Jedoch schon um 9 Uhr morgens empfing Wellington von Blücher aus Wavre eine Bot­ schaft, worin derselbe zum neuen Angriffe nur soviel Zeit verlangte, als nöthig sei, seinen Truppen Patronen und Lebensmittel auszutheilen. Hierauf zog Wellington im Laufe deS Tages in die Stellung von Mont St. Jean zurück, vorwärts von Brüssel, von dieser Stadt nur durch den Wald von Soignes getrennt. Hier wollte Wellington daS Heer Napoleons zur Schlacht erwarten, so ließ er Blüchern wissen, im Fall dieser versprechen könnte, mit zwei preußischen Heertheilen zur Unterstützung einzutreffen. Blücher antwortete, nicht mit zweien Heertheilen nur, sondern mit seinem ganzen Heere werde er am 18. über St. Lambert heranrücken, um an diesem Tage den Angriff Napoleons mitzubestehen oder denselben am folgenden Tage mit Wellington vereint selbst anzugreifen. Zwischen den beiden Feldherren wurden die näheren Verabredungen genommen und demnach alles für den nächsten Tag vorbereitet. Blücher befahl, die Truppen sollten vor ihm in Parade vorbeimarschiren, um Sinn und Gemüth in Übung strenger Genauigkeit und im Stolze kriegerischer Haltung von den Eindrücken der letzten Unfälle vollends zu reinigen. Napoleon hatte am 17. früh das Schlachtfeld von Lignh beritten und, nachdem er in Erwartung näherer Angaben, welche seinen Entschluß bedingen möchten, lange gezögert,

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gegen Mittag den Marschall Grouchy mit den Heertheilen von Bandamme und Gerard und der Reiterei der Generale Pajol und Excelmans, zusammen über 32000 Mann, von Ligny zur Verfolgung der Preußen abgesandt und wandle sich dann mit seiner Hauptstarke links nach Quatre-BraS, um nun auch die Engländer heftig anzugreifen. Diese hatten bloS eine starke Nachhut dem Marschall Ney gegenüber zurückgelassen, die den Feind ver­ zögerte, doch ohne den Angriff selbst abzuwarten, sondern in der Richtung von Brüssel abzog. Dahin folgte Napoleon mit allen seinen Truppen voll Eifer und mit größter An­ strengung. ES hatte die Nacht geregnet und regnete immer fort, der Boden war völlig durchweicht, die schwarze Erde löste sich in zähe Flüssigkeit auf, und mit unsäglichen Be­ schwerden kam das Heer auf der schlammigen Straße und in den alsbald unter den Hufen der Pferde grundlos gewordenen Getreidefeldern nur langsam fort. Bei Genappe hielt die englische Reiterei ernstlich Stand und setzte erst nach hitzigem Gefecht ihren Rückzug fort. Erst am Abend gelangte der französische Vortrab an die englische Stellung von Mont St. Jean, die sogleich, aber vergeblich angegriffen wurde. Die Nacht brach herein und machte dem Gefecht ein Ende. Furchtbare Regengüsse strömten diese Nacht vom Himmel; die Truppen litten unbeschreiblich, die Tritte versanken int Koth, Geschütze und Wagen schienen kaum fortzubringen. Am folgenden Morgen, den 18. Juni, waren die Franzosen sehr überrascht, den Feind, welchen sie unter Begünstigung der Nacht über Brüssel hinaus abgezogen glaubten, unverrückt in derselben Stellung wie am vorigen Abend vor sich zu finden. Napoleon mußte bald erkennen, daß Wellingtons ganzes Heer auf der Anhöhe von St. Jean schlagfertig ihm gegenüber hielt. Der rechte Flügel, von Lord Hill befehligt, stand rechts von der Straße von NivelleS und erstreckte sich in der Richtung von Braine la Leude. Die Mitte, unter dem Prinzen von Oranien, hielt die Strecke zwischen den beiden Straßen von Nivelles und von Charleroy und, vorwärts dieser Stellung, rechts das Vorwerk Hougomont in einem Wäldchen und links den Meierhof la Haye sainte besetzt. Der linke Flügel unter dem General Picton stand zwischen der Straße von Charleroy und den Dörfern Papelotte und la Haye bis gegen Frichemont. Die Schlachtordnung war in zwei gedrängten Treffen; die Reiterei als drittes Treffen stand in der Vertiefung, welcke sich hinter der Anhöhe hinzog; Wellington hatte sein Hauptquartier rückwärts in Waterloo am Ausgange des Waldes von Soignes. Die sämmtlichen Truppen betrugen etwa 68000 Mann; mit 18000 Mann stand der Prinz Friedrich Jber Niederlande bei Hall, um die rechte Flanke des Heeres, welche durch eine Scheinbewegung Napoleons be­ droht war, zu decken. Napoleon ordnete sein Heer bei Belle-Alliance zum Angriff. Aber nur mühselig und lang'am trafen auf durchweichtem Wege und Felde die Truppen ein; einzelne Regenschauer fieler noch von Zeit zu Zeit, der Boden erschwerte jeden Fortschritt. Erst um Mittag konnte Napoleon den Befehl geben, zum Angriff vorzurücken. Der zweite Heertheil, unter dem General Reille, wandte sich links, der erste, unter dem General Dronet, rechts, von Belli-Alliance gegen die englische Linie andringend, der sechste, unter dem General Monton, blieb in der Mitte rückwärts hallen, noch weiter zurück die Garde; die Reiterei war auf beidm Seiten vertheilt. Zuerst ward links das Vorwerk Hougomont heftig angegriffen, aber nicht minder hartnäckig vertheidigt. Nachmittags um 2 Uhr wurde auch der Angriff rechtt gegen den Meierhof la Haye sainte und das Dorf la Haye durch den Marschall Ney mit tärkstem Nachdruck auSgeführt. Auf letztern Punkt richtete Napoleon den Hauptstoß, weil der linke Flügel Wellingtons der schwächere schien, hier die Verbindung mit den Prerßen abzuschneiden war, und auf dieser Seite auch GrouchyS Streitkräfte mitwirken können. Das Feuer aus dem Geschütz, aus dem Kleingewehr, die Angriffe mit blanker Wafe wechselten mit immer neuer Wuth; die Reiterei wogte in stürmischen Angriffen hin und wieder und zerstörte sich gegenseitig in furchtbarem Gemetzel ohne irgend einen wesent­ licher Erfolg. Dieser Kampf dauerte mehrere Stunden, die Franzosen fochten mit andrin-

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ßeitber Wuth, die Engländer mit ausdauernder Standhaftigkeit. Endlich wurde der Meierhof la Hahe sainte den Engländern entrissen, darauf auch daS Wäldchen von Hougomont, allein weiter vorzudringen war den Franzosen unmöglich. Wellington, sein Heer mehrmals in Gefahr sehend, durchbrochen zu werden, eilte persönlich in das stärkste Feuer, zeigte sich den Truppen und strengte alle Kräfte an, sich gegen die Übermacht zu behaupten, bis Blücher mit den Preußen herankäme und dem Kampf eine entscheidende Wendung gäbe. Er wußte, daß Blücher kommen würde, er wußte ihn im Anzuge, die Vortruppen desselben schon in der Nähe, doch wurde dessen wirkliches Eintreffen auch schon mit jedem Augen­ blicke nöthiger. Napoleon entwickelte unaufhörlich neue Streitkräfte, sein Geschütz wirkte verheerend, seine Truppen rückten entbrannt zu neuen Angriffen vor. Die Kräfte Welling­ tons erschöpften sich. Es war hohe Zeit, daß Blücher auf dem Kampfplatz erschien, doch zeigte sich von ihm noch keine Spur, und die Lage der Dinge wurde jeden Augenblick be­ denklicher. Blücher war seinem Versprechen gemäß am 18. Juni frühmorgens von Wavre in zwei Heerzügen aufgebrochen: der eine, den Heertheil von Zielen begreifend, zog rechts über Fromant auf Ohain, dem linken Wellingtons zu; der andere, aus den Heertheilen von Bülow und Pirch bestehend, ging links über Neuf-Cabarets und St. Lambert dem rechten Flügel Napoleons in Seite und Rücken; der dritte Heertheil, unter Thielmann, sollte bei Wavre stehen bleiben und nur, wenn dort kein Feind erschiene, den übrigen als Unterstützung nachrücken. Blücher hatte den 17. an den Folgen seines Sturzes im Bette zubringen müssen, und am 18. in der Frühe, als er unmittelbar aus dem Bette wieder aufs Pferd sollte, um mit seinen Truppen zur neuen Schlacht auözurücken, war man für den übel zugerichteten Greis nicht ohne Sorgen; der Wundarzt wollte ihn noch zuguter­ letzt einreiben, Blücher aber, als er die Anstalten sah, versetzte: „Ach waö, noch erst schmieren! Laßt nur fein! Ob ich heute balsamirt oder unbalsamirt in die andere Welt gehe, das wird wohl auf eins herauskommen!" erhob sich, ließ sich ankleiden und setzte sich wohlgemuth zu Pferde, obgleich ihn bei jeder Bewegung die gequetschten Glieder schmerzten. Als er sah, wie stark es geregnet hatte, und daß es noch immer fortregnen würde, sagte er: „Das sind unsre Alliirten von der Katzbach; da sparen wir dem Könige wieder viel Pulver. * Blücher begab sich an die Spitze des Heertheiles von Bülow, der voranzog und zuerst an den Feind kommen mußte. Er that alles, um den Marsch zu beschleunigen; allein schon gleich anfangs wurde derselbe durch ein zufälliges Hindernis unerwartet aufgehalten: in Wavre entstand eine Feuersbrunst, welche die Hauptstraße sperrte und die Truppen zu Umwegen nöthigte, wodurch ein beträchtlicher Zeitverlust entstand. Weiterhin wurde es noch schlimmer; der unaufhörliche Regen hatte den Boden ganz durchweicht, die Bäche ge­ schwellt, jede kleinste Vertiefung mit Wasser gefüllt. Die schmalen Wege durch Wald und Gebüsch nöthigten zu häufigem Abbrechen der Glieder. Das Fußvolk und die Reiterei kamen mit Mühe fort, das Geschütz machte unsägliche Beschwer; der Zug rückte zwar immer vor, aber mit solcher Langsamkeit, daß zu befürchten war, er werde zur Schlacht viel zu spät eintreffen und weit über den Zeitpunkt hinaus, in welchem er für Wellington noch die versprochene Hülfe sein könne. Offiziere kamen und brachten Nachricht vom Gange der Schlacht, von Napoleons übermächtigem Andrange, und wie sehr die Ankunft der Preußen ersehnt werde. Blücher in heftigen Sorgen, sein gegebenes Wort nicht zu lösen, rief fein: „Vorwärts, Kinder, vorwärts!" anfeuernd in die Reihen der Truppen; überall fördernd flogen seine Blicke und Worte umher; wo ein Hindernis entstand, wo eine Stockung sich zeigte, war er sogleich gegenwärtig; doch alle Anstrengung gab noch immer nur geringe Aussicht, zu rechter Zeit anzulangen. Neuerdings trieb er zu verdoppelter Eile an; die Truppen erlagen fast den Mühseligkeiten; aus dem Gemurmel der im Schlamm und durch Pfützen sich Fortarbeitenden klang es hervor, es gehe nicht, es fei unmöglich. Da redete

Blücher mit tiefster Bewegung und Kraft seine Krieger an: „Kinder, wir müssen vorwärts!

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Es heißt wohl, eS geht nicht, aber es muß gehen, ich hab' es ja meinem Bruder Wellington versprochen! Ich hab' es versprochen, hört ihr wohl? Ihr wollt doch nicht, daß ich wort­ brüchig werden soll?" Und so ging eS denn mit allen Waffen unaufhaltsam vorwärts. Es war angenommen, die Preußen würden um zwei Uhr nachmittags zur Schlacht kommen. Aber erst nach vier Uhr war endlich der schwierige Engweg von St. Lambert, über und durch den Bach von Laönes, zurückgelegt, und nur zwei Brigaden und die Rei­ terei von Bülow hatten jenseits ihre verdeckte Aufstellung erreicht und erwarteten das Her­ ankommen der Übrigen. Napoleon indeß war auf seiner fernen Höhe die nahenden Preußen

gewahr geworden, hielt sie jedoch für wenig bedeutend und sandte nur an Grouchy den Befehl, seinen Angriff gegen das preußische Heer, welches er zu verfolgen beauftragt war, zu verstärken. Blücher aber, die Gefahr Wellingtons erkennend, gab seinerseits, ohne sich lange zu besinnen, den Befehl zum Vorrücken; er glaubte, die Wirkung für das Ganze in diesem wichtigen Augenblicke jeder andern Betrachtung vorziehen zu müssen; sein einzelnes Unternehmen konnte scheitern, da nur erst so wenige Truppen heran waren, aber die Schlacht konnte dadurch zum Vortheil entschieden werden. Die beiden Brigaden Fußvolk und die Reiterei, unter Anführung des Prinzen Wilhelm von Preußen, drangen demnach ungesäumt zum Angriff gegen das Dorf Frichemont und in den Rücken des französischen rechten Flügels vor; sie zogen sich nach Maßgabe, daß die übrigen Truppen nachrückten, mehr und mehr links, um das Dorf Plancenois zu gewinnen, welches theilweise erobert wurde, doch in hartnäckigem Kampfe noch lange streitig blieb. Napoleon hatte sofort ge­ nauere Kunde von dem Anzuge der Preußen erlangt, doch noch immer nicht von ihrer Macht und Eile; erst als sie auf der Höhe von St. Lambert sichtbar' wurden, ließ er gegen sie einige Regimenter seitwärts im Haken aufstellen. Blücher aber gab nun durch frühzeitiges Geschützfeuer dem Heere Wellingtons das Zeichen seiner ersehnten Ankunft; dieser Ka­ nonendonner erweckte den Engländern frohe Zuversicht, den Franzosen Staunen und Bestürzung. Jetzt schickte Napoleon den sechsten Heertheil, den er bisher noch aus dem Gefechte zurückgehalten, dem Angriff der Preußen entgegen, und es entstand ein heftiger Kampf, in welchem die beiden Brigaden anfangs gegen die Übermacht einen harten Stand hatten. Blücher indeß sandte allen Truppenrheilen, deren Herankommen er auf alle Weise rastlos beeilte, den Befehl, ihre Richtung geradezu auf die Höhe von Belle-Alliance zu nehmen, deren Gebäude über die ganze Gegend sichtbar empvrragten; der Bach von Lasnes sollte die Stütze des linken Flügels bleiben. Der Kampf stand in aller Heftigkeit, als Blücher von dem General von Thielmann die Meldung erhielt, der Marschall Grouchy habe ihn bei Wavre mit beträchtlicher Truppenanzahl angegriffen und suche den Übergang

über die Dyle zu erzwingen; wenn dies gelang, so konnte das Heer, im Fall Napoleon die Schlacht behauptete, zwischen zwei Feuer kommen und vernichtet werden. Doch Blücher hatte für die Meldung, der Feind greife ihn im Rücken an, dasselbe Wort wie bei Hainau; „vor ihm lag die Entscheidung des Tages und nicht anderswo," sagt der amtliche Bericht. Er befahl, alle Truppen sollten im Vorrücken bleiben; erst wenn Napoleon geschlagen worden, dürften Unterstützungen nach Wavre umkehren; und dem Heertheil von Thielmann ließ er wissen, er habe dem Feind nach Kräften zu widerstehen. Auf Wellingtons linkem Flügel, wo die Vereinigung der beiden Heere sich bewerkstellizen mußte, drängten sich jetzt die wichtigsten Vorgänge des Tages zusammen. Der Genrral von Müsfling, der sich preußischerseits im Hauptquartier Wellingtons befand und zwischen beiden Heerführungen das Zusammenwirken thätigst förderte, begab sich selbst dahir, wo er schon frühmorgens die Gegend erkundet und für den preußischen Anmarsch und Angriff die leitenden Angaben unter Wellingtons voller Zustimmung an Blücher und Bülow gesandt hatte; er ordnete die Maßregeln zur beschleunigten Annäherung und Einwirkung der Preußen, nach deren Erscheinen vielfach verlangt und gefragt wurde. Doch Wellington selbst voll unerschütterlichen Vertrauens in Blüchers Wort ließ in dieser Hin-

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sicht weder Besorgnis, noch Ungeduld blicken, und kein Zweifel, keine Frage solcher Art unterbrach die entschlossene Ruhe seiner strengen Fassung. Endlich zeigten sich die ersten Truppen des Heertheils von Zielen, durch wiederholte Botschaften in ihrem Marsche be­ schleunigt , auf dem linken Flügel Wellington- von Ohain her im Anrücken. Sogleich brachen nun sechs Regimenter englischer Reiterei, welche bisher auf dem linken Flügel gehalten hatten, zur Unterstützung der hartbedrängten Mitte der englischen Schlachtordnung auf, wo sie im rechten Augenblicke zum erfolgreichen Einhauen anlangten. Inzwischen hatte der Feind seine Stärke gegen Wellingtons linken Flügel beträchtlich vermehrt und drang nun nach dem Abrücken jener Reiterei, deren nahe Ersetzung durch die Preußen er noch nicht wahrnehmen konnte, nachdrücklich in den Raum vor, welcher die beiden verbün­ deten Heere noch trennte; die Franzosen nahmen das Dorf Papelotte wieder, zu gleicher Zeit griffen sie das Dorf Frichemont heftig an und schoben sich demnach zwischen die Truppen von Bülow und daö Heer Wellingtons immer mehr trennend vor. In diesem gefahrvollen Augenblicke, gegen sieben Uhr, treffen die ersten Truppen Zielens, durch Müfflings Angaben fördersamst geleitet, auf dem Kampfplatz ein, Zielen selbst an der Spitze seiner ersten Brigade, mit der ganzen Reiterei und dem Geschütze seines Heertheils; er erstürmt mit zwei Bataillons das Dorf Papelotte und bereitet sich zu stärkerem Vordringen. Napoleon jedoch wankt noch immer nicht; er sieht die Truppen Blüchers immer furchtbarer auftreten, allein sein hartnäckiger Eifer verzichtet noch nicht auf den Sieg, ein letzter ver­ zweifelter Schlag soll ihn entscheiden. Bereits hatte er die junge Garde nach PlancenoiS geworfen, um das den Preußen wieder entrissene Dorf zur Sicherheit seiner rechten Flanke festzuhalten; jetzt läßt er die alte Garde, den Kern seiner Truppen, zwölf Bataillons, zur Durchbrechung der Schlachtordnung Wellingtons auf deren Mitte im Sturm vorrücken zusammengedrängt, das Gewehr im Arm, ohne Schuß, unter Anführung des Marschalls Ney, während zugleich die ganze französische Linie überall zum neuen Angriff übergeht. Doch Wellington stellt der vordringenden Garde sechs englische Bataillons in zwei Glie­ dern aufmarschirt entgegen, deren mörderisches Gewehrfeuer ganze Reihen des dichtgeschaarten Feindes niederstreckt; zugleich richtet alles Geschütz seine Wirkung gegen diese Masse, von allen Seiten wenden sich die Truppen zu diesem Kampfe, dem blutigsten des Tages. Ganze Schaaren werden vernichtet; die große Menge der Verwundeten, welche dem Gefecht entweichen, giebt auf beiden Seiten den Anschein einer Flucht. Die fran­ zösische Garde trotz ihres ungeheuren Verlustes rückt immer vor, ihrem gewaltigen Un­ gestüm scheint nichts widerstehen zu können, die Engländer weichen auf mehreren Punkten, ihr Geschütz stellt das Feuer ein. 3n diesem Drange rückt Zieren über Papelotte hervor, läßt vierundzwanzig Stück Geschütz in den Feind schmettern und führt seinen Hauptangriff im Sturmschritt unter dem Wirbeln aller Trommeln, die Höhe von Belle-Alliance zur Richtung nehmend, unaufhaltsam vorwärts. Diese Bewegung ist entscheidend; der Feind, auf dem Winkel seiner beiden Kampflinien durchbrochen, beginnt aus beiden zu weichen. Schon aber hat gleichzeitig auch Wellington die Truppen seines weniger bedrängten rechten Flügels nach der Mitte gezogen, seine Reiterei zusammengebracht und geht nun selbst wieder mit allen Kräften zum entschlossensten Angriff über. Er befiehlt seiner ganzen Schlachtordnung ein allgemeines Vorrücken. Die französische Garde, dem allseitigen Sturm erliegend, geräth in Unordnung und flieht; vier Bataillons, die am meisten vorgerückt sind, ziehen sich in Vierecken geschloffen nach Belle - Alliance zurück. Sie kommen aber hier in das Geschützfeuer Bülows, sie werden von der Reiterei umzingelt, man ruft ihnen zu, sich zu ergeben, aber: „Die Garde stirbt, sie ergiebt sich nicht!" schallt es aus ihrer Mitte; die meisten fallen; einige entkommen, gefangen werden nur wenige. Jetzt kommt auch der zweite preußische Heertheil unter Pirch zur Schlacht, und um halb acht Uhr erneuert sich der Kampf bei PlancenoiS. Noch leistet der Feind verzweifelte Gegenwehr, alle drei preußischen Heertheile sind im heißesten Gefecht, aber die Schlacht ist

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schon gewonnen, der Feind überall im Rückzüge, er kämpft nur noch für seine Rettung. Endlich gegen neun Uhr erobern Pirch und Bülow vereint daS Dorf PlancenoiS, und das Verderben des französischen Heeres ist entschieden. Der Rückzug artet in wilde Flucht auS, die Truppen aller Waffen, mit Geschütz und Fuhrwerk untermischt, drangen sich auf der Straße von Geuappe und Charleroy; die Nacht nimmt die Flüchtigen auf. Es war schon völlig dunkel, als Blücher und Wellington auf der Höhe von Belle-Alliance zusam­ mentrafen und sich gegenseitig als Sieger begrüßten. Diese Höhe führt den Namen von der Verbindung zweier schönen Brautleute, welche sich hier niedergelassen. Blücher der siegreichen Waffenverbindung zu Ehren nannte die Schlacht nach diesem Namen; Wel­ lington nannte sie dem eingeführten Gebrauche gemäß nach dem Hauptquartier, welches er an dem Tage gehabt, die Schlacht von Waterloo, Napoleon die von Mont St. Jean. Wem die Ehre des Tages vorzugsweise gebühre, darüber ist viel gesprochen worden. In Betreff Blüchers dünkt uns der Streit unnütz: wem sie zugesprochen, wie sie vertheilt werden möge, immer wird es wahr und fest bestehn, daß Blücher und die Preußen gethan, was hier erzählt worden, und dies kann genügen. Blücher hegte für Wellington von jeher ganz besondere Achtung und Zuneigung, und sein inniges Vertrauen zu demselben hatte weder Groll wegen Ligny, wozu keine Stimme befangenen Unmuths ihn gegen bessere Überzeugung aufreizen gekonnt, noch dann Zweifel wegen Belle-Alliance in seiner Brust aufkommen lassen; ihm fiel auch jetzt nicht ein, mit eifersüchtiger Rechnung das gemeinsame Werk in seinen nnd seines Waffenbruders Antheil scharf sondernd zu zerlegen. Wellington selbst aber schloß seinen Bericht an den Prinz-Regenten von England mit den so gerechten als edlen Worten der Anerkennung: „Ich würde nicht nach meiner Überzeugung sprechen,

wenn ich nicht dem Feldmarschall Blücher und dem preußischen Heere das glückliche Ergebnis diese- furchtbaren TageS beimäße durch den Beistand, welchen sie mit so großer Bereit­ willigkeit und zu so rechter Zeit mir geleistet haben." «arnhagen von Gnse.

30 (32). Charakter Friedrich Wilhelms III. Alles, was das Unglück Schreckliches in sich trägt, hatte der König in reichem Maße erfahren. Er hatte den dargereichten bittern Leidenskelch in seinen Hefen trinken müssen, aber bitter hat es ihn nicht gemacht. Ernste Wehmuth war seine Stimmung, und in ihr umschloß und bewahrte er die Milde. Diese aber erhob seine ernste, kräftige Natur zur Charakterstärke, die nun als dauerndes Lebensprinzip ihn durchdrang; daher erscheint seine Wohlthätigkeit nicht, wie bei so vielen anderen Menschen, rhapsodisch, ruckweise, wo man einen Ansatz nehmen muß, um es zu Stande zu bringen, und womit, wenn das Opfer gebracht ist, nun auch die Sache fertig und abgethan ist; nein, sein Herz athmete in dieser Milde, und man kann in Wahrheit von ihm sagen: er ging umher und that Gutes. Oft, wenn er mir solche Aufträge gab, habe ich ihn sagen hören: „Gott hat mir geholfen; darum muß ich nach verliehenen Kräften mit dem mir Anvertrauten wieder helfen." Mit diesem Sinne umfaßte er alles, wo er auch sein, stehen, sitzen, gehen mochte, und diese Milde spiegelte sich, zum Beweise, daß sie ihm zur andern Natur geworden war, in den kleinsten, geringfügigsten Dingen ab. Auf dem Trottoir der Hohenwegstraße zu Potsdam mit einem Adjutanten gehend, springt dieser vor, um einen Schwarm fröhlicher Knaben, die auf den glatten, breiten Steinen Kreisel spielten, auseinanderzutreiben und dem Könige Platz zu machen. Aber schnell auf den Fahrweg tretend, faßte er den Adjutanten zurückhaltend beim Arm nit den Worten: „Haben wohl nie Kreisel gespielt! Kinder darf man nicht stören und bewüben. Jugend kurz!" — Ein hübscher Konditorknabe in Potsdam hatte einen Kuchen, den er wegtragen sollte, bei einem Fehltritte mit der Schüssel aufs Pflaster fallen lassen rnd stand bitterlich weinend da, als eben der König vorüberkam. Ohne sich mit ihm in ein Gespräch einzulaffen, sagte er zum Knaben, ihn sanft überS Gesicht streichelnd:

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Historische Prosa.

„Komm mit mir!" Das Kind folgte zitternd, obenein nochSttafe fürchtend. Angekommen im nahe gelegenen Schlöffe, ließ der König ihm eine schönere, größere Schüssel mit einem noch besseren Kuchen aus der Hof-Konditorei reichen und entließ dann den Überraschten

und nun Beglückten mit der Warnung, künftig vorsichtiger zu sein. Demnächst zog der König nähere Erkundigung über denselben ein, und als dieselbe zu seiner Empfehlung ausfiel, wurde er in der Hof-Konditorei angestellt. AlS der König einst, gekleidet in eine einfache Offizier-Uniform ohne Dekoration, mit einer seiner Töchter spazierengeht, läuft ein armer Knabe neben dem von ihm un­ erkannten hohen Herrn her und bittet, ihm eine kleine Börse abzukaufen, die er in großer Anzahl in dem vorgehaltenen Körbchen trug. Der fremde Herr weiset ihn zurück; daS Kind hört aber nicht auf zu bitten: „Ach, Herr Lieutenant, kaufen Sie mir doch eine Börse ab! kostet nur sechs Groschen; und wenn Sie auch keine brauchen, dann schenken Sie der schönen Mamsell eine, die Sie am Arme haben. * Nochmal zurückgewiesen, seufzt der Knabe aus tiefer Brust: „Ach, nun haben wir diesen Mittag nichts zu essen!" Jetzt steht der König still und nimmt aus dem Körbchen sechs Börsen, dem Kinde einen doppelten Friedrichsd'or reichend. Wie der Knabe das Goldstück sieht, spricht er: „Ach, gnädiger Herr Lieutenant, geben Sie mir lieber Groschen, ich habe weiter kein Geld und kann darauf nicht zurückgeben." Gerührt von der Ehrlichkeit des Kindes, das mit unschuldigem, offenem Angesicht ihn ansieht, erkundigt er sich nach seinen Familienverhältnissen und erfährt, daß seine Mutter, die Wittwe eines gewesenen Feldwebels, mit sechs unmündigen Kindern auf einem Dachstübchen in der bezeichneten Straße und Hausnummer wohne und sich küm­ merlich vom Verfertigen kleiner Geldbörsen ernähre. „Nun," sagte der vermeinte Lieute­ nant, „dann gehe nach Hause und bringe deiner Mutter das Geld, ich will'S ihr schenken." Beglückt durch die reiche Gabe, saß eben die arme Familie bei ihrem frugalen, heute bessern Mittagsessen, als zu ihrem Erstaunen ein königlicher Adjutant in das kleine, aber reinlich gehaltene Zimmer trat, den Zusammenhang erzählte und sich erkundigte, ob der Knabe in allem dem Könige auch die Wahrheit gesagt habe. Und da sich dies auch noch auf anderem Wege bestätigte, ließ der König die jüngsten Kinder in einem Waisenhause erziehen und bewilligte der Wittwe eine jährliche Pension von 100 Thalern. An solchen kleinen Zügen einer milden, menschenfreundlichen Gesinnung ist sein Leben überreich, und wollte man sie alle sammeln, sie würden eine große Gallerie in lieblichen Genrebildchen darstellen, auf welchen jedes gute, reine Auge mit innigem Wohlgefallen ruhen würde. Gerade solche kleinen Züge in alltäglichen Lebensscenen sind, wie bei jedem Menschen, so besonders bei Regenten charakteristisch und enthalten mehr als große, Auf­ sehen machende den wahren, inneren Gehalt und die Grundstimmung deS Gemüths. Große, glänzende, von der Welt besprochene und gepriesene Gaben sind oft das Werk der Überlegung, der Klugheit, der Berathung und führen nicht selten einen politischen oder moralischen Zwang mit sich, so daß man nicht gut anders kann. Aber die kleinen Erweise der Liebe und Theilnahme, wie eben der Zufall die Veranlassung herbeiführt in tausend geringfügigen, täglich vorkommenden Dingen, können allein der Neigung entquellen und geschehen gewiß nicht, wenn diese dafür nicht da ist. Darum sagen und bedeuten sie bei der sittlichen Würdigung mehr als große, glänzende Akte der Freigebigkeit. Wenn man bei diesen den Umfang und die Ausdehnung preiset, so liebt man in jenen die reine, stille Quelle, auS der sie geräuschlos entspringen, und fühlt sich angezogen und erquickt. Wer im kleinen nicht rein und treu ist, wird's auch im großen nicht sein, und wer für jenes keinen sittlichen Takt hat, wird dieses gehörte Prachtstück zwar wohl spielen können, aber ohne Seele. DaS Saitengewebe in der Brust deS Menschen ist ein in sich fein verflochtenes Ganze, und da, wo es beim leisen Äolshauche rein anklingt und von einem stillen Schmer­

zensblick Schwingungen empfängt, ist es zarter und vollkommener als da, wo der laute Schrei der Noth erst die Akkorde wecken muß.

Erzählung.

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In der Brust des König- wohnte diese ftiKe Harmonie, und eine ruhige, ernste Milde war der Grundton seiner Seele. Darum ging seine Wohlthätigkeit nicht auS der über­ legenden Betrachtung, sondern auS seiner natürlichen Stimmung hervor. ES war ihm so umS Herz, er konnte nicht anders. Auf seine Liebeöerweisungen legte er deshalb auch nie einen besonderen Werth, es war ihm zuwider, wenn davon gesprochen und viel Aufhebens gemacht wurde. Und weil er, ohne alle Nebenabsichten aus reiner Liebe zum Guten Gutes that, so blieb er auch in allem und überall der gerade, einfache, schmucklose Mann; denn, wenn er spielende Kinder in ihrem Vergnügen nicht stören mochte, wenn er einen weinenden Knaben über eine zerbrochene Schüssel tröstet, und wenn er einem armen Jungen auf der Straße Beutelchen abkauft und ihn beschenkt, oder dann, wenn er Universitäten stiftet, Kirchen, Schulen, Museen baut, Millionen hingiebt zum Wohl seines Volkes und nicht müde wird, täglich aus seinem Privatvermögen im großen und kleinen still und unbemerkt Gutes zu thun, wahrlich! wenn es je einen Menschen und Regenten gegeben hat, auf den mau im vollsten Sinne anwenden kann das milde, schöne Wort: „homoßum, nihil humani a me alienum puto, “ so war er es. Die Kaiserin von Rußland hatte ihrem hochverehrten Vater eine aus Asien gekom­ mene, bis dahin in Deutschland noch unbekannte Blume von seltener Farbenpracht und angenehmem Duft geschickt, die von dem kunstsinnigen Hofgärtner Fintelmann auf der Pfaueninsel in dem sonnigen, prächtigen Palmenhause naturgemäß gepflegt wurde und sich herrlich entfaltete. Der König, ein Blumenfreund, hatte seine stille Freude an dieser sel­ tenen Blume, betrachtete sie oft und nannte sie nach seiner geliebten Tochter „ Charlotte." So oft er in dieser Zeit nach der Pfaueninsel kam, pflegte er daher gleich beim ersten Schritt ans Land zu fragen: „Wie geht's meiner lieben Charlotte?" Dies verdoppelte natürlich , die Aufmerksamkeit, Fürsorge und Pflege des Gärtners. Wer beschreibt daher den Schrecken und die Angst des besorgten Mannes, als er an einem der zwei Tage jeder Woche im Sommer, die dem Publikum zum Besuche der Pfaueninsel bewilligt sind uud zahlreich von demselben, oft bis zur Zahl von tausend benutzt werden, inS geöffnete Palmenhaus tretend, sehen muß, daß eben diese dem Könige so werthe Blume ganz und

gar abgepflückt ist. Aufgebracht, durchläuft er die Massen der fremden Gäste, nmherschauend, ob er nicht bei irgend einem das geraubte Kleinod wahrnehmen möchte. Von Unruhe hin und her getrieben, stellt er sich zuletzt anS Ufer, in die Nahe des Schiffes, mit welchem alle die Überfahrt machen müssen, indem nur dieser eine Weg gestattet ist. Nicht lange hat er dort gestanden, als er einen jungen, wohlgekleideten Mann rvahrnimmt, der wirklich die theure Blume unbefangen im Knopfloche seines Kleides trägt. Angefaßt und zur Rede gestelli über den von ihm begangenen Raub einer dem Könige so theuren, seltnen Blume, entschuldigt er sich mit seiner Unwissenheit und bedauert und beklagt die von ihm leichtsinnig verübte That. Der tief gekränkte, verantwortliche Hofgärtner aber kann sich nicht zufrieden geben und führt den bestürzten jungen Mann in seine Wohnung, um in Gegenwart von drei Zeugen über dessen Namen, Stand und Verhältnisse ihn zu Protokoll zu nehmen und demnächst den ganzen Thatbestand schriftlich zu seiner möglichen Rechtfertigung dem Könige vorzulegen. Als dieser bald nachher zur Pfaueninsel kam und wie gewöhnlich fragte: „Was macht meine liebe Charlotte?" und der Hofgärtner mit Thränen in den Augen den Hergang des schmerzlichen Verlustes erzählte, drückte sich zwar Unwillen im Angesicht des Königs aus, er blieb aber doch ruhig und gelassen und bemerkte nur, wie unrecht eS sei, ihm sc auch seine kleinen Freuden zu verderben. „DaS wird nicht aufhören," erwiderte der aufgebrachte Beamte, „wenn Ew. Majestät dem Publikum die Pfaueninsel nicht ver­ schließen lassen." „Was kann denn," entgegnete der König, „das Publikum dafür, wenn unter Tauseudeu ein Ungezogener ist, der die verstattete Freiheit mißbraucht? Die Insel

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Historische Prosa.

ist ja nicht für mich alleirn dar; ich kann nur selten hier sein; wozu denn alle diese Schön­ heiten, namentlich die schnell verblühenden Blumen, wenn sonst niemand seine Freude daran hat?" Wie nun cnbcu der Hofgärtner bat, daß der begangene Raub möchte bestraft und der Thäter zur Beramtlwortung gezogen werden, das Protokoll überreichen und seinen Namen nennen wollte, stiel der König abwehrend schnell ein: „Nein, nein, ich will den Namen gar nicht wissen. Habe darin ein unglückliches Gedächtnis; der könnte mir wieder einfallen, wenn derManm mal späterhin etwas zu bitten haben sollte, und würde ihm dann in dem unangenehmen Eiindruck, den er auf mich gemacht, vielleicht nachtheilig sein. Ver­ gessen, vergeben!" Hier sehen wir die wahre, volle Natur deS echten christlichen Zartgefühls, entsprungen auS höheren Quellen. Sein für angenehme Dinge und würdige Menschen ungemein glück­ liches Gedächtnis nennt er ein unglückliches, wenn es auch widrige Eindrücke aufnimmt und bewahrt, die denjenigen, von welchen sie ausgingen, nachtheilig werden könnten. Er kennet daS menschliche Herz und die Macht und Dauer einmal eingetretener bitterer Ge­ fühle; darum weiset er sie und ihre Versuchungen ab. DaS alles ging abrer beim Könige nicht aus Reflexion und Überlegung hervor wie

etwas StudirteS, nein, war in der reichen Ausbeute eines vielgeprüften LebenS sein Sinn, sein Takt, sein Wesen und darum alles an ihm einfach, natürlich und schmucklos. Der Hofgärtner Fintelmarnn sagte mir, daß der König obige Worte ohne alle besondere Betonung wie ganz gewöhnliche gesprochen habe, als wenn es sich so von selbst verstehe und damit nicht anders sein könne und dürfe. Schnell habe er dann das Gespräch ab­ gebrochen und nach andern Dingen ruhig gefragt, auch späterhin dieser verdrießlichen Sache nicht weiter mehr gedacht.. «u- EylertS Leben Friedrich Wilhelm« HL

31. Der Kamps in dem Walde von Sadowa am 3. Juli 1866. Ich hatte, erzählt wer Oberst des 2. Magdeburgischen Jnf.-Regim. Nr. 27, Franz von ZychlinSki, noch von Benatek aus die kleine Waldparzelle südwestlich vou Beuatek durch die 9. Komp, des 27. Regiments besetzen lassen, um von da aus den ferneren Angriff gegen den zwischen Benatek^ Cistowes und Maslowed gelegenen Wald von der rechten Flanke her zu unterstützen. Da avancirten rechts neben mir meine Musketierbataillone. Jetzt befahl auch ich wieder amzutreren, und ohne Verlust nahmen wir die unS gegenüber­ liegende Waldlisiere, daS. Fjjs.-Büt. 27 von Benatek aus in südöstlicher Richtung, das Füs.-Bat. 67 die nordöstliche Ecke des WaldeS umfassend. Bis dahin war alles gut gegangen. Kaum befanden wir unS aber im Walde, als der entsetzlichste Hagel zersprin­ gender Granaten sich über: uns ergoß und die Gewehrkugeln der im Walde versteckten Jäger um unS wie peitschender Biegen knatternd einschlugen. Instinktmäßig fühlte jeder, daß er diesen eisernen und bleiernem Gießbächen nach vorwärts zu entrinnen suchen müsse. Alle Übersicht hörte natürlich cttuf. Ich mußte sie um jeden Preis wiederzugewinnen suchen. Da fand ich einen Fußsteig, de r mich nach der westlichen Lisiere hinausführte, und dann den Weg, der parallel mit der südlichen Lisiere nach Maslowed geht. Diesen schlug ich ein und ge­ wahrte bald, daß ich mich vor meinen TirailleurS befand. Meinen Zuruf erkannten sie, und ich hatte die Freude, alllmahlich die verschiedenen Abtheilungen meines Füsilier-BataillonS über diesen Weg schreiten zu sehen. Ich ritt von West nach Ost und umgekehrt hin und her. Der Geschoßhagel dauerte mit entsetzlicher Heftigkeit fort und umfaßte uns nach einiger Zeit auch von der linken Flanke und vom Rücken her; denn der Feind hatte sich inzwischen mit Überlegenheit der 13. Brigade entgegengestellt. Diese hatte trotzdem den Angriff gewagt und war mach tapferem Ansturm gegen Benatek zurückgedrängt worden; der Feind hatte infolge dessen .ganze Kolonnen in den Wald geworfen, und mit diesen Bataillonen rangen nun mein Füsilier-Bataillon und daS 2. Bataillon, welches der Brigade-Kommandeur

Erzählung.

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mir zur Unterstützung in den Wald geschickt hatte. Fort und fort auf dem gedachten Wege hin- und herreitend, befand ich mich in dem beweglichen Mittelpunkt eines wirren KnäulS, dessen Kern meine beiden Bataillone bildeten, umwickelt von feindlichen Schwärmen und Haufen. Granaten und Kartätschen zerrissen denselben jeden Augenblick nach allen Rich­ tungen; Gewehrkugeln wickelten ihn gleichsam wieder zusammen, da sie, aus die Front, auf die linke Flanke und in den Rücken geschleudert, den Zusammenhang um den Kern herzu­ stellen nöthigten. Ach, sie fielen um mich herum, meine Offiziere und Mannschaften, wie gemäht, todt und verwundet: Fähnrich Hellmuth, der hoffnungsvolle Jüngling, nahm mit einem unvergeßlichen Blick voll Schmerz, daß er eine ruhmvolle Laufbahn verlassen müsse, von mir Abschied; Lieutenant von Zedtwitz wurde in der Schulter schwer verwundet; Hauptmann von Westernhagen wurde in daS Dickicht des Waldes an mir vorübergetragen; Hauptmann Joffroy ließ sich die schwerverletzte Hand verbinden, um sofort feine Kompagnie weiterzuführen, mit ritterlichem Beispiel, mit väterlichem Zuspruch voran bis zuletzt; der unermüdliche Dr. Koppe machte sich allgegenwärtig. Allmählich rollte sich nach Südwest gegen die beiden einzelnen Höfe des Dorfes Cistowes an dessen Westende mein Knäul weiter. Dort hatte das 1. Bataillon Nr. 27, die Spitze des Waldes schneller passirend, bereits Posto gefaßt. Der Kommandeur, Oberst­ lieutenant von Sommerfeld, war gefallen, Hauptmann Dietz, Chef der 4. Kompagnie, war verwundet, bald darauf fein Stellvertxeter Premier-Lieutenant von Witzleben getödtet worden. Die 9. Kompagnie war aus der bezeichneten Waldparzelle bis zu einem knickartigen Auf­ wurf zwischen den beiden Höfen an der Ostspitze von Cistowes und dem Walde von Sadowa vorgedrungen. Nach diesen beiden Positionen hin sammelte sich ein Theil der Mann­ schaften des 2. und des Füsilier-Bataillons wieder, als immer heftigere und umfassendere Angriffe des Feindes sie endlich zum Verlassen des Waldes nöthigten und ein von mir beabsichtigter Ansturm gegen den Haupttheil von Cistowes, trotzdem ich ihn mit mehreren kleineren Kolonnen tambour battant ausführen und wiederholen ließ, an der Stärke und Überlegenheit scheiterte, mit der der Feind dieses Dorf hielt. Inzwischen hatte der Kampf der 13. Brigade, der sich daS Füsilier-Bataillon angefchloffen haben muß, da ich es gänzlich aus dem Auge verlor, in der keffelartigen Einsattelung fortgedauert; dreimal harte die Brigade gegen die Höhen zwischen Maslowed und dem Walde gestürmt; dreimal war sie von der Übermacht zurückgeschlagen worden. Bei unS im Walde hatte sich der wechselnde Kamps seitwärts in dem Nachlassen der Heftigkeit, mit der der Feind uns umklammerte, oder in der Verdoppelung dieser Heftigkeit fühlbar gemacht. Zwei volle Stunden von 9 bis 11 Uhr hatten wir uns gehalten; furchtbar hatten die Kugeln und Granatsplitter um mich gewüthet; herzzerreißend war mancher Anblick, erhebend die Opferfreudigkeit, mit der die Masse der Mannschaften dem Tode trotzte, die Todesver­ achtung, mit der der Dr. Köppe an dem Wege, auf dem ich hin- und herritt, verband und half, wo er nur Hülfe zu bringen vermochte: da wollte ich nochmals meine Leute zum Sturme gegen Cistowes ermuthigen und ritt bis zur Lisiere deS Waldes hinaus. Ein Granatsplitter fiel dicht vor die Füße meines PserdeS. Ich ließ ihn mir aufheben und steckte ihn in die Tasche. Gleich daraus flog ein zweiter dem Pferde so nahe an der Nase vorbä, daß es eine Kontusion erhielt und Kehrt machte. Ich riß es herum, wieder in die Lisiere hinein. Da wurden ihm beide Kinnbacken von einer Gewehrkugel durchlöchert. Es blieb wie angewurzelt stehen; ich bekam es nicht mehr von der Stelle und mußte absteigen. DaS Blut strömte ihm in einem großen Strahl zur linken Seite des Kopses heraus. Wohl fünf Minuten blieb ich bei dem Thiere stehen und konnte mich nicht entschließen, es zu ver­ lassen. Der Oberst von Bothmer kam mit feinem Adjutanten heran; ihm folgten die beider Musketier - Bataillone feines Regiments (Nr. 67), welche bis dahin noch eine kleine unzureichende Reserve gebildet hatten. Ich 'orientirte ihn einigermaßen über den Stand des Gefechts. Er griff dann ein, während ich mich zur 9. Kompagnie nach dem erwähnten

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Historische Prosa.

Knick begab, mich dort orientirte und dann in der Absicht, die auS dem Walde kommenden Abtheilungen des 2. und des Füsilier-Bataillons zu ordnen, nach der Waldspitze zurückging. In diesem Augenblicke wurde ein Hauptmann des 2. Bataillons durch eine Flintenkugel in die Wade getroffen, gleich d arauf ich durch den rechten Oberschenkel und im nächsten Moment der Hauptmann der 9. Kompagnie, von Buddenbrock, in den Arm, alle drei leicht. Ich hatte nur einen harten Schlag, dann das warme Blut gefühlt und ging nun, vom Oberst­ lieutenant von Zedtwitz unterstützt, in das nächste der beiden Gehöfte von Cistowes. Dort fand ich meinen Brigade-Kommandeur, dem sein Pferd unter dem Leibe getödtet worden war, den ältesten Hauptmann des 1. Bataillons, den immer heiteren Schramm, der dieses führte, seitdem dessen Kommandeur durch einen Granatsplitter getödtet worden, die 1. Kom­ pagnie (die drei anderen standen bei dem andern Gehöft), einige Offiziere und Mann­ schaften, die sich mit Schwerverwundeten beschäftigten. Der Adjutant deS Füsilier-Bataillons, Lieutenant pon Carlowitz, und ein Unteroffizier legten mir auf dem Hofe den ersten Verband an, während Granatsplitter um uns in die Wände deS Hauses einschlugen. Man brachte mir erst ein umgestürztes Faß zum Sitzen, dann eine Küchenbank. Der Kampf um den Wald, in dem wir uns so lange gehalten, ließ jetzt nach, weil die Aufmerksamkeit des Feindes mehr durch die Vorgänge auf dem westlich der Chaussee von Sadowa nach Lipa gelegenen Kriegsschauplätze abgelenkt wurde und die furchtbare Batterie bei Chlum einen ebenbürti­ geren Gegner als bisher an 5 Batterien der Reserve-Artillerie des 4. Armeecorps ge­ funden zu haben schien, die an der Waldparzelle südwestlich Benatek auffuhren, gedeckt durch zwei Kompagnien des 2. Bataillons Nr. 27, die aus dem verhängnisvollen Walde nach dieser Waldparzelle verschlagen worden waren und nun vom General-Lieutenant von Voigts - Rheetz, dem Chef des Generalstabs der 1. Armee, verantwortlich für deren Sicherung gemacht wurden. Wir auf dem Hofe des bezeichneten Gehöfts befanden uns nunmehr in der Schußlinie der beiden feindlichen Batterien. Die Kugeln flogen in hohem Bogen über unsere Köpfe, die der Österreicher mit einer fabelhaften Präzision außerdem in die Südspitze des Sadowaer Waldes. Es trat für uns eine dreistündige, höchst interessante Pause voll peinlicher Spannung ein. Man ließ uns in Ruhe; wir waren zu erschöpft und dezimirt, um in den Gang des Gefechtes an anderer Stelle einzugreifen; außerdem erschien eS wichtig, die Dorfecke zu halten, um bei einem etwaigen Rückzüge des 2. ArmeecorpS, daS, unterstützt vom 3., im heftigen Ringen war, ohne Vortheile erreichen zu können, die linke Flanke einigermaßen zu sichern, auch den rückwärts aufgefahrenen Batterien Schutz zu gewähren. General von Gerten zügelte durch besonnene Beurtheilung der Sachlage die neuaufblitzende Kampfbegier. In dem Walde in unserem Rücken war alles still geworden, nachdem die darin ver­ borgen gewesenen feindlichen Abtheilungen theils versprengt, theils gefangen worden waren. Wahrscheinlich war dies bereits eine Folge des ersten Eingreifens der Armee deS Kron­ prinzen, dessen Spitzen die feindlichen Kolonnen, mit denen sich die 13. Brigade geschlagen hatte, auf sich gezogen haben mochten. SychltnSkt.

32. Die Erstürmung Weißenburgs am 4. August 1870. Mit derselben Übereilung, mit welcher Napoleon III. dem preußischen Könige Wilhelm die Kriegserklärung am 15. Juli 1870 entgegenschleuderte,'hatte er den Krieg mit dem „militärischenSpektakelstück" bei Saarbrücken eröffnet, indem er daselbst am 2.August drei Divisionen mit zahlreichen Kanonen und Mitrailleusen gegen drei preußische Kompagnien des 40. Jnfanterie-RegimentS in den Kampf führte, welche zusammen mit einer Schwadron Ulanen und zwei Geschützen den äußersten Vorposten der „Wacht am Rhein" bildeten. Noch hatte aber das französische Heer seine Aufstellung nicht vollendet. Mac Mahon, der berühmteste unter den französischen Generalen der Neuzeit, welcher sich durch den Sieg bei

Erzählung.

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Magenta 1859 die Würde eines Marschalls und den Titel eines Herzogs erworben hatte, stand mit seinem Corps, daS aus vier Infanterie-Divisionen und einer Kavallerie-Division zusammengesetzt war, nördlich von Straßburg und hatte die Division des Generals Douai, die zwei Linienregimenter, ein Regiment Zuaven, ein Regiment Turkos, ein Bataillon Zager, drei Batterien und einige Reiterschwadronen enthielt, bis nach Weißenburg vor­ geschoben. Weißenburg selbst, welches mit einer krenelirten Mauer und einem flachen Graben umgeben ist und seine Thore durch Zugbrücken gesichert hat, war durch das fran­ zösische 74. Infanterie-Regiment und ein Bataillon TurkoS, die Bahnhofs-Borstadt aber durch das 2. Bataillon des 1. Regiments der algerischen Tirailleure besetzt. Der Rest der Division Douai stand auf der Höhe des Geißberges, welcher unter den mit Wein- und Obstgärten bedeckten Hügeln, die auf drei Seiten das Städtchen umgeben, im Süden desselben am höchsten hervorragt. Die III. Armee unter dem Oberbefehl des Kronprinzen von Preußen stand dagegen in der Rheinpfalz völlig aufmarschirt und bivouakirte am 3. August südlich von Landau und zwar das 2. bairische Armee-Corps auf dem rechten Flügel, das 5. preußische Corps unter dem General von Kirchbach im Centrum, das 11. preußische Corps unter dem General von Bose auf dem linken Flügel, das 1. bairische Corps endlich und die 4. preußische Kavallerie-Division in der Reserve. Bei Weißenburg mußte die vormarschirende III. Armee auf den ersten Widerstand gefaßt sein; mit Rücksicht darauf war der Plan für die Vorwärtsbewegung, die am 4. August erfolgen sollte, entworfen und festgestellt. Die Armee brach am Morgen dieses Tages in drei Kolonnen gegen die Lauter auf. Das 2. bairische Corps war auf Schweigen, das 5. preußische Corps über Winden und Groß-Steinfeld nach Altenstadt, daS 11. Corps östlich davon an die Lauter dirigirt, an deren linkem Ufer alle Truppen Haltmachen sollten. Ein feiner Regen, der vom frühen Morgen an herabrieselte, war den Truppen, die frühzeitig aus ihren Bivouaks abrückten, nach der ermattenden Hitze der letzten Tage eine ersehnte Er­ quickung. Die Stimmung der Soldaten, die vor Begier brannten, die Grenze zu überschreiten und sich mit dem Feinde in der ersten ernsten Schlacht zu messen, war eine freudig erregte. General Douai, dem die Anwesenheit preußischer Corps vor seiner Front schon am Abend des 3. August durch seine Kundschafter gemeldet worden war, hatte auf seine Anfrage von Mac Mahon den Befehl erhallen, seine Stellung zu behaupten; statt aber auf den drohenden Angriff des Feindes sich aufs beste vorzubereiten, überließ er sich einer un­ begreiflichen und unverzeihlichen Sorglosigkeit, verwendete die Kavallerie, welche er bei sich hatte, gar nicht und wurde infolge dieser Nachlässigkeit durch den Anmarsch des 2. bairischen Corps vollständig überrascht, als seine Truppen eben abzukochen im Begriffe waren. Zwei bairische Batterien fuhren — es war ungefähr 8i/2 Uhr — auf den Anhöhen auf, welche westlich von der Landauer Straße gelegen sind, und warfen, um den Angriff der Infanterie wirksam vorzubereiten, ihre Granaten nach der Stadt. Um dieselbe Zeit hatte der Kronprinz von Preußen mit seinem Stabe die Anhöhe bei dem Dorfe Schweigen erreicht, welche den besten Überblick über die in schönem Thäte ge­

legene freundliche Stadt Weißenburg gewährt, an deren Stadiumwallung nach Südosten hin am rechten Üfer der Lauter entlang die sogenannten „Weißenburger Linien" sich an­ schließen, eine unregelmäßige Reihe von Schanzen und Brustwehren. Schon hatten drei Bataillone der bairischen Avantgarde ihre Schützenschwärme gegen die nördliche Seite der Stadt vorgeschickt, als die 17. Infanterie-Brigade, die Avantgarde des 5. Corps, zur größten Eile durch den Donner der bairischen Geschütze angetrieben, die Lauter nach 9 Uhr überschritt und das 59. Regiment, sowie das Füsilier-Bataillon 58. Regi­ ments gegen den Bahndamm nördlich von Gutleutenhof vorschickte. Das 1. Bataillon des

58. Regiments erhielt durch den Divisions-Kommandeur, General von Sandrart, den Befehl, gegen Weißenburg vorzugehen. In geschlossener Angriffskolonne rückte dasselbe auf Tielitz u. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur.

2. Aufl.

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der schnurgeraden Chaussee vor und marschirte durch das unbesetzte Altenstadt, um von der Ostseite her die bairische Division in ihrem Angriffe auf Weißenburg zu unterstützen. Jenseit dieses Dorfes erhielt das Bataillon plötzlich von dem Walle, der sich rechts der Chaussee von Altenstadt bis Weißenburg hinzieht, sowie von vorn, dem Bahnhof und der Vorstadt der ehemaligen Festung aus ein starkes Feuer. Die Kugeln flogen mit furchtbarer Genauigkeit unter die Truppen: ein entsetzlicher Moment der Überraschung und des Bangens trat ein. Da drang eine Kompagnie des 5. Jägerbataillons gegen die dichten Reihen der Turkos westlich vor; im tollsten Kugelregen lagen die braven Schützen ungedeckt auf der Erde und zielten nach dem Walle, von welchem ein schwarzer Kopf nach dem andern verschwand. Die gemeinsame Anstrengung der beiden Bataillone hatte den gewünschten Erfolg; von dort ließ das Feuer nach; dagegen rasselte es plötzlich vom Geißberg her, und gleich einem zahllosen Volke Rebhühner schwirrte die Ladung der ersten Mitrailleuse mit verheerender Wirkung in das Bataillon der ungestüm kämpfenden Achtundfunfziger. Sein Kommandeur, von Grone­ feld, stürzte, der Nächstälteste übernahm die Führung und kommandirte: Vorwärts! und vorwärts ging es auf der Chaussee und neben der Chaussee im Graben bis an die Mauern eines neuangelegten Kirchhofes. Von hier aus konnte endlich auch diesseits das Feuer wirksam erwidert, hier das Bataillon durch Premier-Lieutenant Spangenberg gesammelt werden. Der Major, zwei Hauptleute und eine große Anzahl der Mannschaften waren gefallen, der Fahnenträger verwundet. Doch es galt, ohne Aufschub weiter vorzudringen; wieder er­ scholl das Kommando: Vorwärts! und Premier-Lieutenant Baron, die schnell ergriffene Fahne hoch über sich schwingend, stürmte hinaus auf die Chaussee und rief: „Wer verläßt seine Fahne? Vorwärts, mir nach! Hurrah!" Und Hurrah schrie der Rest des Bataillons und stürzte sich, dem muthigen Führer folgend, hinein in den dichten Hagel der Chassepotkugeln den wilden, gefürchteten Turkos entgegen. Nach kurzem, aber heißem und blutigem Kampfe war die Lisiere der Vorstadt genommen, die Blutarbeit jedoch nicht beendigt; denn um jedes einzelne Haus und besonders um den Bahnhof entspann sich das heftigste Gefecht, da die Turkos, welche sich in die Häuser geflüchtet halten, aus den Kellerluken und Fenstern herausschossen. Die allein brauchbaren Waffen waren hier Beil, Gewehrkolben und Bajonnet, und sie wurden aufs zweckmäßigste benutzt. Nach schwerer, heißer Kampfesarbeit war endlich der Bahnhof in den Händen der Deutschen. Eine große Zahl gefangener Turkos wurde zurückgeschickt. Das Bataillon ordnete sich wieder — es war etwas nach 12 Uhr — und rückte, da an dieser Stelle die Arbeit vollendet war, bis zum Hagenauer Thor vor, wo es aus den krenelirten Mauern von neuem heftiges Feuer erhielt. Schnell wurden zwei Ge­ schütze herbeigeholt, die Zugbrücke niedergeschossen, die Stadt war genommen. Mannschaften vom 47. Regiment räumten die Häuser aus und folgten den nach Westen abgezogenen Turkos, während mittlerweile auch die Baiern durch das Landauer Thor in die Stadt ein­

gedrungen waren. Inzwischen waren das Königsgrenadier-Regiment (Nr. 7) und der Rest des 47. Regi­ ments bei Gutleutenhof eingetroffen und gingen von hier aus zum Sturm gegen den Geiß­ berg vor. Auf ihm liegen zwei Gehöfte: 300 Fuß über der Thalsohle „der Schafbusch", von dem aus man das ganze Thal beherrscht, und etwas niedriger, nördlich vom Schafbusch das Gehöft „Geißberg", das von einer festen und hohen Mauer umschlossen ist und den Franzosen ein starkes Bollwerk darbot. Gegen diese Gehöfte stürmten die Königsgrenadiere mit einem Heldenmuthe und einer Todesverachtung an, die der höchsten Bewunderung würdig ist. Ihr Weg, der eine Viertelmeile betrug, gewährte gar keine Deckung und war dem verheerendsten Feuer der feindlichen Infanterie und Artillerie ausgesetzt; aber sie legten ihn zurück in so musterhafter Ruhe und Ordnung, als ob sie im Frieden manövrirten. Sie vollführten, was fast unmöglich schien; sie nahmen, allerdings unter höchst schmerzlichen Opfern, die Gehöfte, wacker unterstützt von Truppen des 11. Corps, die in die rechte Flanke des Feindes vordrangen.

Erzählung.

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Der Sieg war errungen. Der Feind war geworfen und zog sich in Unordnung auf Wörth zurück. General Douai selbst war gefallen, ein Geschütz und tausend unverwundete Gefangene in unseren Händen. Aber furchtbar waren auch unsere Verluste; besonders schwer hatten das Königsgrenadier-Regiment und das 1. Bataillon 58. Regiments gelitten, welches letztere allein 5 todte und 9 verwundete Offiziere zu beklagen hatte. Die Übriggebliebenen wurden von Sr. Königlichen Hoheit dem Kronprinzen, unter

dessen Augen die Heldenthaten von den begeisterten Truppen vollbracht waren, aufs herz­ lichste begrüßt. Er sprach allen seine Anerkennung, allen seinen Dank für den Muth und die Tapferkeit aus, die sie bewiesen hatten. Er umarmte und küßte in seiner leutseligen, herzgewinnenden Weise den Führer des 1. Bataillons vom 58. Regiment, Premier-Lieutenant Baron, der den ersten Kampf seiner Armee zu einem so glänzenden Ende geführt habe, und nannte ihn scherzweise noch oft nachher „den Helden von Weißenburg". Dem ganzen Bataillon gewährte der Kronprinz zur Nacht Ehrenquartier in Altenstadt und befahl dasselbe nach der Schlacht bei Wörth auf acht Tage als Ehrenwache in sein Hauptquartier. Heinrichs.

33. Bei Mars la Tour am 16. August 1870. Für den Rückzug von Metz auf Verdun konnte der französische Oberbefehlshaber Bazaine drei Straßen einschlagen. Von diesen beschreibt die eine über Briey und Etain einen Bogen nach Norden und bietet daher den weitesten Weg. Die beiden anderen Straßen trennen sich erst bei Gravelotte, anderthalb Meilen westlich von Metz. Von hier g.eht die mittlere über Doncourt und Conflans auf Etain, wo sie sich mit der erstgenannten vereinigt. Die dritte Straße gehr in fast gerader westlicher Richtung von Gravelotte über Rezonville, Vionville, Mars la Tour und Maizeray auf Verdun. Die letztere über­ schreitet eine große Zahl von Schluchten und Einsenkungen, welche durch die vielen der Orne und der Mosel zufließenden Bäche gebildet werden und sich hauptsächlich in der Nähe der genannten Dörfer befinden. Um Bazaine den Rückzug nach Verdun ganz abzuschneiden, war es nöthig, ihm diese drei Straßen sämmtlich zu verlegen; daher richteten sich die Operationen der deutschen Armeen von Süden her zuerst naturgemäß gegen die letztgenannte, welche zugleich der kürzeste Rückzugsweg für die Armee Bazaines war. Gelang es der zweiten Armee, mit einem Theile ihrer Kräfte diese Straße vor dem Feinde zu erreichen und sich auf derselben ihm vorzulegen, so konnte an den folgenden Tagen die Umgehung fortgesetzt, der Feind von Westen her gegen die Festung zurückgeworfen und daselbst eingeschlossen werden. Demgemäß war der Vormarsch der zweiten Armee für den 16. August befohlen. Das III. Corps (von Alvensleben II.) sollte die Straße von Metz nach Verdun bei Vionville und Mars la Tour zu erreichen suchen, das IX. Corps (von Manstein) und das X. Corps (von Voigts-Rheetz) sollten nach vollendetem Übergang über die Mosel in der

Richtung über Gorze ihnen folgen. Die anderen Corps kamen an diesem Tage theils erst auf dem rechten Ufer der Mosel an, theils überschritten sie dieselbe auf den vorhandenen und geschlagenen Brücken. Es war ein heißer und beschwerlicher Marsch durch das bergige Uferland der Mosel. Hatte man hier den Kamm eines Berges glücklich erstiegen, so sah man in der Tiefe schon wieder eine Schlucht und drüben einen neuen Berghang. Wer in leichter Bluse, das Antlitz vom breitkrämpigen Sommerhut beschattet, die Skizzen- oder Liedermappe unter dem Arme, das lothringische Bergland am Wanderstabe durchschreitet, hin und wieder im Schatten einer alten Buche sich lagert oder in weinumrankter Laube sich niedersetzt und die Blicke über die Gegend schweifen läßt: den mag dieser Wechsel von Berg und Thal wohl entzücken; anders aber ist es für die Männer in Pickelhaube und Waffen, deren lange Heerzüge auf der staubigen Straße bergauf und bergab sich winden, und deren eigentliche 39*

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Historische Prosa.

Arbeit erst beginnt, wenn sie an dem Ziele ihres Marsches, auf dem Kampfplatze, ange­ kommen sind. Von den flimmernden blauen Heersäulen, die wir am Morgen des 16. auf allen Straßen des hügeligen Landes von der Mosel gegen die Straße von Metz nach Verdun im Anmarsch sehen, waren die meisten Truppen erst zwischen Mitternacht und 3 Uhr morgens in ihren Nachtlagern angekommen und jetzt feit 5 Uhr morgen- wieder auf dem Marsche; dennoch schallte freudiger Gesang aus ihren Kehlen. Gegen 10 Uhr hatten die vorausschwärmenden Kavallerieabtheilungen und die mit Ferngläsern bewaffneten Offizierpatrouillen den Feind entdeckt. Auf dem Plateau bei den Dörfern Tronville, Bionville und Flavigny erkannte man das schimmernde Zeltlager der Franzosen. Der kommandirende General des III. Corps beschloß sogleich mit allen Truppen, die er zur Hand hatte, den Angriff, um dem Feinde diese Position streitig zu machen und auf die Straße Metz-Verdun vorzustoßen. Die 6. Division (von Buddenbrock) machte eine kurze Rast in der Schlucht. Die schleswig-holsteinschen Ulanen Nr. 15 warfen unterdessen die feindlichen Vorposten und Flankeurs zurück, und eine reitende Batterie fuhr im Galopp auf und eröffnete ihr Feuer gegen das Lager. Das war in ein Wespennest gestochen. In kaum fünf Minuten er­ widerten 5 bis 6 feindliche Batterien das Feuer; gleichzeitig rückten auch Jnfanteriemassen auS dem Lager auf das Plateau vor. Die Höhen wurden nach heißem Kampfe von der wackern Division Buddenbrock genommen, auch die Dörfer Bionville und Flavigny in kühnem Anlauf erobert. Der Rand des Plateaus und das Gehölz von St. Arnould wurden von der Division besetzt, aber die heißeste Arbeit sollte jetzt erst beginnen. Der Feind, welcher die Wichtigkeit dieser Stellung für die Fortsetzung seines Marsches woht kannte, nahte in dichten Kolonnen zur Wiedereroberung des Plateaus. Auch die 5. Division (von Stülpnagel) war beim Ersteigen deffelben westlich des HolzeS von Bionville in lebhaften Kampf verwickelt worden. General von Döring, der sich schon bei Erstürmung der Spichern-Berge mit seiner Brigade (den Regimentern Nr. 8 und 48) ausgezeichnet hatte, war bereits in dem ersten Stadium des Kampfes ge­ fallen. Immer neue Bataillone drangen gegen den Höhenrand vor, um der Division die Entwickelung auf dem Plateau zu wehren und mußten oft mit dem Bajonnet zurückgeworfen werden. Zwischen den beiden Divisionen, von Stttlpnagel rechts und von Buddenbrock links, hatte die ganze Artillerie des III. Corps Aufstellung genommen. Alle Offensivstöße des Feindes brachen an dem Feuerwall der Geschütze und an der ehernen Stirn der beiden brandenburgischen Divisionen. Es war eine Riesenaufgabe für das brandenburgische Armeecorps, den Kampf gegen eine mehr als dreifache Übermacht zu unterhalten. Mit immer neuen Kräften wiederholte der Feind seine Angriffe, und die Brandenburger hatten ihnen nur immer wieder dieselben Regimenter, aber auch dieselbe Tapferkeit, dieselbe Zähigkeit entgegenzusetzen. Der ganze kühne KriegSplan wäre gescheitert, wenn sie hier dem überlegenen Feinde das Feld hätten lassen müssen. Die gewonnene Position mußte behauptet werden, und dieses Gefühl „es muß!" hatte sich jedem Brandenburger in die Seele geprägt. Auf die Meldung, daß feindliche Jnfanteriebataillone nach einem abgeschlagenen Angriff in Unordnung zurückgingen, wurde auch die 6. Kavalleriedivision unter Herzog Wilhelm von Mecklenburg zu ihrer Verfolgung auf das Plateau gezogen. Dieselbe formirte sich sogleich zur Attake, die leichte Brigade (Husaren Nr. 3 und Nr. 13) links, die schwere Brigade (Ulanen Nr. 3 und Nr. 15 und Kürassiere Nr. 6) rechts. In demselben Augenblicke erneuerte aber der Feind mit frischen Bataillonen seinen Angriff, und die attakirende Kavallerie stieß nicht auf geschlagene, sondern auf völlig ungebrochene Infan­ terie, die sich sofort in die Chausseegräben warf und ein mörderisches Schnellfeuer eröffnete. Todte Reiter und Roffe bedeckten in furchtbarer Zahl das Feld; aber es war doch der Kavallerie durch diesen mit glänzender Bravour ausgeführten Angriff gelungen, den Anprall

Erzählung.

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deL Feindes zu brechen und den bedrohten Infanteriedivisionen wieder Luft zu verschaffen. Der Feind sammelte sich zu einem Offensivstoß stets in einem Gehölz nördlich Bionville. Ihm diesen Stützpunkt zu entreißen, war jetzt die wichtigste Aufgabe des TageS geworden. Das 4. brandenburgische Infanterieregiment Nr. 24 war mit der Wegnahme desselben beauftragt und führte ein hartnäckiges und blutiges Waldgefecht, welches bei der großen Überlegenheit des Feindes entscheidungslos hin- und herwogte. In diesem bedenklichen Augenblicke kam die Meldung, daß ein starkes feindliches Corps, welches auf der mittleren der drei oben näher bezeichneten Straßen bereits bis Doncourt vorgedrungen war, dort wieder kehrtgemacht habe und sich anschicke, das Plateau südlich Bruville, also in der linken Flanke der Division Buddenbrock, zu ersteigen. Gegen diesen neuen Feind konnte General von Alvensleben nur noch zwei Bataillone (vom 2. brandenb. Jnfant.-Reg. Nr. 20) aus der Reserve herbeiziehen, alle übrigen, Truppen waren nicht nur in lebhaftes Gefecht verwickelt, sondern auch stark gelichtet. Gleichzeitig nahm die feindliche Artillerie, welche bis dahin unweit der alten Römerstraße aufgestellt war, eine nähere Position und überschüttete daS Plateau mit einem Hagel von Granaten und Schrapnels. Feindliche Infanteriewaffen avaneirten am Waldsaum von Bionville entlang und im Walde selbst und gewannen ungefähr lausend Schritt Terrain. Um diese Zeit hatte die Kavalleriebrigade v. Bredow, bestehend aus dem magdeburgischen Kürassierregiment Nr. 4 und dem altmärkischen Ulanenregiment Nr. 16, welche mit der 5. Kavalleriedivision (v. Rheinbaben) dem auf Maizeray in Marsch gesetzten X. Armeecorps im scharfen Trabe vorausgeeilt war, das Schlachtfeld erreicht und in einer Schlucht zwischen Tronville und Bionville Aufstellung genommen, wo die Kugeln immer dichter über ihre Helme und Lanzenspitzen dahinpfiffen. Der Kommandeur, General v. Bredow, dessen tapferes Herz keine Gefahr für zu groß, kein Wagnis für zu kühn er­ achtete , hielt an der Spitze seiner Truppe und blies die blauen Wölkchen seiner Pfeife kalt­ blütig in den Pulverdampf hinein, der ihm um daS Gesicht wehte, als Oberstl. v. BoigtsRheetz vom Generalstab des III. CorpS an ihn heransprengte und ihm salutirend zurief: „Herr General, der kommandirende General hat mit Ihrem Divisionskommandeur verabredet, daß Sie hier am Walde durchbrechen sollen, und Sie stehen noch ruhig hier?" „Ich soll hier am Walde die Infanterie durchbrechen?" fragte der altmärkische Degen noch einmal, um sich zu überzeugen, daß er auch recht gehört habe. „3a wohl! Das Schicksal der Schlacht hängt davon ab, daß alles aufgeräumt werde, was längs des Waldes steht) Sie müssen attakiren und zwar auf das energischste!" Der General verstand, was von ihm gefordert wurde, und daß es sich hier nicht blos um eine kühne Reiterattake, nicht um die Eroberung von Geschützen und Trophäen handelte, sondern um ein todesmuthiges Nieder­ reiten und Durchbrechen der feindlichen Linien, so weit man ihrer sichtbar werden konnte. Die Kürassiere unter dem Grafen v. Schmettow, einem berühmten Reiter in der preußischen Armee, formirten das erste Treffen mit dem linken Flügel am Waldsaum, die Ulanen, un­ gefähr 100 Schritt zurück, das zweite Treffen auf dem rechten Flügel, der General selbst vor der Mitte der Brigade. Zwei Tirailleurlinien werden zersprengt; von der nächsten Batterie behalten nur zwei Geschütze Zeit, ihr Feuer abzugeben, dann sitzen die Kürassiere schon mitten in der Batterie. Der Kommandeur der Batterie hebt seinen Revolver, aber der Äallasch des Grafen v. Schmettow ist schneller als die Kugel des Revolvers; der Battcriekommandeur liegt im Blute, neben ihm und rings um ihn der größte Theil seiner Mannschaft. Aber weiter, weiter! ES ist nicht Zeit, mit „so billigen Trophäen" sich zu begnrgen. Eine feindliche Infanteriekolonne wird niedergeritten und auseinandergesprengt; von panischem Schrecken ergriffen, sieht sie erst ihren Feind, nachdem er schon über sie hinweggrjagt ist, und feuert ihm nach, als er schon die zweite Batterie attakirt. Auch hier wird die Mannschaft von den Pferden gehauen oder in die Flucht getrieben, und immer noch weiter geht die wilde Jagd durch das mörderische Feuer, das sie von allen Seilen

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Historische Prosa.

umkracht, bis an eine neue Infanteriekolonne. Jetzt aber schwenken plötzlich aus einer Walvlücke französische Kürassiere und werfen sich in Flanken und Rücken der durch den wilden Ritt und die feindlichen Kugeln gelichteten Schaar. Aber auch diese vermögen nicht, den rasenden Ritt aufzuhallen; Lieutenant Kampbell erfaßt schon mit kräftiger Faust die Standarte des französischen Kürassierregiments, aber sogleich sieht er einen Wald von blitzenden Schwertern über sich, um den zu strafen, der sich an ihrem Palladium vergreift. Nach heftigem Kampfe wird er von seinen Kürassieren herausgehauen; dann aber schwenkt die ganze wolkenumdampfte Reitermaffe rechts ab, und in wirrem Knaul jagt alles durch einander, Kürassiere, Ulanen, dazwischen auch einige Spahis, Altmärker, Franzosen und die wilden Horden Afrikas mitten durch das höllische Feuer der ChassepotS und Mitrailleusen in die Aufstellung bei Vionville zurück. „ Blas' Appell!" rief hier der Kommandeur dem Trompeter zu; der stieß auch in die Trompete, aber sie gab einen Ton, der durch Mark und Bein ging; denn auch sie hatte einen Schuß erhalten. Nur klein war die Schaar, die sich um die Standarte sammelte; kaum mehr als der vierte Theil von denen, die ausgeritten waren, und auch von diesen hatten die. meisten ein Wahrzeichen aus dem Getümmel davongetragen, sei es auch nur eine Beule in der Stahlhaube oder ein zerschmettertes Säbelgefäß. Fünf Stunden lang hatten die beiden brandenburgischen Divisionen, unterstützt durch ihre Corpsartillerie und durch die glänzenden Attaken der beiden Kavalleriedivistonen, mit heldenmüthigen Anstrengungen allen Angriffsstößen des Feindes getrotzt, als auf dem Schlachtfelde sich die Kunde verbreitete: „Prinz Friedrich Karl ist angekcmmen!" Mit ihr erwachten zugleich neuer Muth und Siegeshoffnung in den Herzen der Kämpfenden; denn hie wackern Brandenburger, welche früher den Prinzen zum kommandirenden General ihres Corps hatten und sich darauf etwas zu gute thaten, der Augapfel des Prinzen zu heißen, konnten sich's nicht anders denken, als daß er ihnen auch jetzt in dieser Bedrängnis Hülfe und Verstärkung zuführen werde. Sie sollten sich auch nicht getäuscht haben. In einer Stunde hatte der Prinz die drei Meilen weite Entfernung von seinem Hauptquartier bis auf das Schlachtfeld zurückgelcgt und schon unterwegs Befehle an die auf dem Marsche und in der Nähe befindlichen Truppen abgesandt. Die Spitzen deö X. Armeecorps (das ostfriesische und das oldenburgische Regiment Nr. 78 und Nr. 91) hatten schon im Walde von Vionville daS Gefecht der Brandenburger unterstützt. Andere Abtheilungen des X. und deS IX. Corps hatten nach dem Schall des Kanonendonners die Marschrichtung an­ genommen oder waren- nach den gefährdetsten Stellen geleitet worden. Die Infanterie legte ihr Gepäck ab, befestigte nur die Kochgeschirre an den gerollten Mänteln, nahm die Patronen in die Brotbeutel und setzte im beschleunigten Tempo den Marsch fort. Die Batterien eilten nach dem Schlachtfelde voraus. Von den in immer größerer Zahl zurück­ kommenden Verwundeten hörte man, wie die Schlacht stehe, und wie die größte Eile nöthig sei. Ohne Zeit zu einem Trunk Waffer zu behalten, stürmten die Kolonnen in der brennenden Sonnenhitze vorwärts nach dem Schlachtfelde. Nachmittags 3 Uhr war es, als die 38. Jnfanteriebrigade (v. Wedell), bestehend aus den westfälischen Regimentern Nr. 16 und Nr. 57, nach beschwerlichem Marsche die Nähe des Schlachtfeldes westlich Mars la Tour erreichte und eine kurze Rast an einem Gehölz machte; aber sogleich brachten Adjutanten den Befehl zum Vorrücken. Ohne einen kühlen­ den Trunk brach die Brigade wieder auf. Sobald die ersten Bataillone deö Regiments Nr. 16 Mars la Tour paffirt hatten, suchte der Feind durch Granatfeuer ihren Marsch aufzuhalten. DaS Dorf Mars la Tour gerieth in Brand, so daß die folgenden Bataillone auf einem Umwege südlich deS Ortes den Grund durchschreiten mußten, um die jenseit des­ selben gelegenen Höhen anzugreifen. Der Grund wurde unter dem feindlichen Feuer mit unerschütterlicher Ruhe durchschritten, auch der jenseitige Hang erstiegen; hier aber brach sich der Stoß der beiden westfälischen Regimenter an den weit überlegenen Infanteriewaffen, die

Erzählung.

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her Hemd plötzlich auf den Höhen entwickelte. Der Kommandeur der Brigade , General D. Wedelt, fand hier den Heldentod, die Regimenter traten unter schweren Verlusten den Rückzug an. Dieses Mal war es die Gardedragoner-Brigade, Graf v. Brandenburg II., welche sich der verfolgenden feindlichen Infanterie in die rechte Flanke warf und das Schlachten­ glück herstellte. Wohl färbte sich tiefroth das strahlende Himmelblau ihrer Waffenröcke, wohl wurde da manche edle Ritterblüte vom Kugelhagel abgerissen, aber ein unvergängliches RuhmeSdenkmal setzten sich die beiden Regimenter in der Geschichte ihres Vaterlandes und ihrer Waffe. Auf der Ehrentafel der Gefallenen liest man unter den Namen der beiden Regimentskommandeure, v. AuerSwald und Graf v. Finkenstein, die weit vor der Front ihrer siegreich attakirenden Schwadronen gegen die feindlichen Glieder ansprengten und den Heldentod fanden, die Namen von Kleist, Graf Westarp, Prinz Reuß, Graf WeSdehlen, Beneckendorf von Hindenburg, Graf Schwerin, zwei von Treökow. Ehre den ritterlichen Führern! Ehre jedem braven Reitersmann, der in wogender Schlacht einen fröhlichen, seligen Reitertod gestorben! Unter dem Schutze dieser Kavallerie-Attaken sammelte sich die Jnfanteriebrigade wieder auf den Höhen von Tronville. Um dieselbe Zeit führte die Kavalleriedivision v. Rheinbaben eine glänzende Attake auf dem linken Flügel aus. Hier war zuerst das schleswig-holsteinische Dragonerregiment Nr. 13 mit den Chasseurs dÄfrique zusammengetroffen, welche die Dragoner bis auf dreißig Schritt herankommen ließen, dann nach ihrer beliebten Fechtweise ihre Karabiner abfeuerten und sich zur Flucht wandten. Die Dragoner jagten ihnen nach; plötzlich aber erblickten sie sich gegenüber die ganze Kavallerie der kaiserlichen Garde, fünf Regimenter in Linie. Inzwischen war auch die ganze Kavalleriedivision v. Rheinbaben, gleichfalls fünf Regimenter, in Front aufmarschirt und nahm die Dragoner auf. Beide Reitermaffen ritten in regelrechter Attake gegen einander an, im Trab, Galopp, Karriere, endlich im sausenden ventre ä terre bis zum Choc. Ein wüthendes Handgemenge entspann sich, ein tolles Durcheinander von Pallasch, Säbel und Lanze; mitten in das Gewühl hinein feuern die Franzosen ihre kurzen Schußwaffen aus nächster Nähe; Staub und Pulverdampf um­ hüllen das Gewühl, dann lockert sich der Knäul; die Garde ist geworfen, wird aber auf der Flucht noch von den magdeburgischen Husaren eingeholt; ihr Divisionskommandeur, General Montcyn, wird gefangen und ein großer Theil von den Pferden gehauen. Während dieser Kavalleriegefechte versuchte auch die feindliche Infanterie immer neue Offensivstöße in der Front zur Wiedergewinnung der Straße nach Verdun; aber der Eisen­ riegel hatte sich immer dichter vorgeschoben und gab keinem Drucke mehr nach. Auch die t Artillerieaufstellungen des Feindes waren von Bataillonen der Division Buddenbrock wiederholt angegriffen und sogar einige Geschütze erobert worden. Jetzt versuchte der Feind noch einmal, in der rechten Flanke der Division Stülpnagel durch das Bois deS OignonS vorzugehen, aber zur rechten Stunde waren auch hier Abtheilungen des VIII. ArmeecorpS eingetroffen, nämlich die Brigade Rex mit dem thüringischen Regiment Nr. 72 und dem hohenzollernschen Füsilierregiment Nr. 40, denen sich das schlesische Grenadier­ regiment Nr. 11 anschloß, sämmtlich unter Befehl des Generals v. Barnekow. Diese Truppen verhinderten jedes Vordringen des Feindes, gewannen sogar selbst mehr Terrain in seiner linken Flanke und stießen dabei auf die französischen Garden, welche zwischen Rezonville und Gravelotte in Reserve standen. Die Dunkelheit machte hier dem Kampfe ein Ende. Alle Versuche deS Feindes, sich die Straße über Mars la Tour nach Verdun wieder zu eröffnen, waren gescheitert. Er sah sich mit eisernen Klammern umfaßt, die sich langsam, aber sicher immer enger um ihn legten. Mit einer furchtbaren Kanonade auf der ganzen Front suchte Bazaine sich den Gegner nur noch für die Nacht fernzuhalten, um unter dem Schutze derselben zwischen Rezonville und Gravelotte seine Bivouaks zu beziehen. Aber

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Historische Prosa.

auch in diesen sollte er keine Ruhe finden. Noch in der Dunkelheit vollführte das zietefische Husarenregiment Nr. 3, unterstützt von den brandenburgischen und den schleswig-holsteini­ schen Ulanen Nr. 3 und Nr. 15 , eine glänzende Attake, bei welcher es mehrere Quarrss niederritt. Zwölf Stunden hatte das blutige Ringen gedauert. Mit der glorreichen Behauptung, der eroberten Position war ein Sieg erfochten, dessen volle Bedeutung in den nächstfolgen­ den Tagen leuchtend hervortreten sollte. Ein ernstes, stilles Bivouak folgte dem heißen Tage; hatten doch nahe an vierzigtausend Streiter auf diesen Feldern heute Tod und Wunden empfangen. Die Verluste auf preußischer Seite betrugen 626 Offiziere und 15925 Mann, wobei jedoch die Verluste der Kavalleriebrigaden v. Bredow und Graf Brandenburg II. noch nicht mit gerechnet sind, so daß der Gesammtverlust auf 17000 veranschlagt werden kann. Zwei Brigadekommandeure der Infanterie, die Generale v. Wedell und v. Döring, waren geblieben; zwei Kavalleriegenerale, v. Diepenbrock-Grüter und v. Rauch, hatten schwere Wunden erhalten. Viele Regimenter und Bataillone hatten ihre Kommandeure und mehr als die Hälfte ihrer Offiziere verloren. Die Verluste der Franzosen waren ohne Zweifel noch viel größer; auch hatten sie 2 Adler, 7 Kanonen und 2000 bis 3000 Gefangene eingebüßt. Ehre den Gefallenen, die mit bleichem Antlitz und gebrochenem Auge auf der Wahl­ statt lagen, keinen Lorbeerzweig in den Händen, wie sich's gebührt für jeden, aber einen Liebesgruß an die Heimat noch auf den Lippen! Und über ihnen webt still und friedlich die Nacht an ihrem Sternenschleier, und über die Todten zieht leise hin ein grüßender Hauchwie Kiefernduft und Waldeswehen: Es grüßt die märkische Haide Die lieben Todten auf fremder Flur, Den Eisenriegel von Mars la Tour,

v. Koppen.

b. Die beschreibende Prosa.

1. Das Gewitter. Das Gewitter ist eine der mächtigsten, prachtvollsten, aber auch der fürchterlichsten und erschreckendsten Erscheinungen in der Natur. Ein Feuerstrahl, Blitz genannt, fährt mit unglaublicher Schnelligkeit durch die finstern, den Niedersturz drohenden Wolkenberge im schlängelnden Fluge. Bisweilen, doch nicht oft, fällt dieser Strahl zur Erde nieder. Auf ihn folgt sogleich in den Höhen des Wolkenmeeres ein Krachen, ein Schlag, der alles erschüttert, ein Knall, ein lautes, sich in den Lufträumen langsam verlierendes Donnern und Brüllen. Eine heitere Stille, ein klarer Himmel, ein frohes Leben in der Natur herrscht am frühen Morgen. Es grünt und blüht, es rauscht und rieselt, es singt und hüpft. Ist's doch so, als ob die Schöpfung einen schönen Festtag feiern wollte, an dem sich der Mensch mit Vernunft und Gefühl am herrlichsten freuen soll. Die unermeßliche Bläue des Äthers

überzieht ein durchsichtiger Wolkenflor. Bald steigen dickere Wolken am Horizont herauf, erheben sich immer mehr, gleichen übereinandergelagerten Gebirgsmassen, mannigfaltig gestaltet, gräulich, düster, hell gefärbt. Durch sie wie durch einen Schirm werden die Strahlen der Sonne gehemmt, das Tageslicht verliert seine Helle, es wird trübe und dunkler. In der dunkeln Wolke blitzt es, sie wird plötzlich erleuchtet. Ein schwaches Donnern wird gehört, das lauter schallt, je näher das Gewitter kommt. Schwül ist die Luft. Regen-

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Historische Prosa.

auch in diesen sollte er keine Ruhe finden. Noch in der Dunkelheit vollführte das zietefische Husarenregiment Nr. 3, unterstützt von den brandenburgischen und den schleswig-holsteini­ schen Ulanen Nr. 3 und Nr. 15 , eine glänzende Attake, bei welcher es mehrere Quarrss niederritt. Zwölf Stunden hatte das blutige Ringen gedauert. Mit der glorreichen Behauptung, der eroberten Position war ein Sieg erfochten, dessen volle Bedeutung in den nächstfolgen­ den Tagen leuchtend hervortreten sollte. Ein ernstes, stilles Bivouak folgte dem heißen Tage; hatten doch nahe an vierzigtausend Streiter auf diesen Feldern heute Tod und Wunden empfangen. Die Verluste auf preußischer Seite betrugen 626 Offiziere und 15925 Mann, wobei jedoch die Verluste der Kavalleriebrigaden v. Bredow und Graf Brandenburg II. noch nicht mit gerechnet sind, so daß der Gesammtverlust auf 17000 veranschlagt werden kann. Zwei Brigadekommandeure der Infanterie, die Generale v. Wedell und v. Döring, waren geblieben; zwei Kavalleriegenerale, v. Diepenbrock-Grüter und v. Rauch, hatten schwere Wunden erhalten. Viele Regimenter und Bataillone hatten ihre Kommandeure und mehr als die Hälfte ihrer Offiziere verloren. Die Verluste der Franzosen waren ohne Zweifel noch viel größer; auch hatten sie 2 Adler, 7 Kanonen und 2000 bis 3000 Gefangene eingebüßt. Ehre den Gefallenen, die mit bleichem Antlitz und gebrochenem Auge auf der Wahl­ statt lagen, keinen Lorbeerzweig in den Händen, wie sich's gebührt für jeden, aber einen Liebesgruß an die Heimat noch auf den Lippen! Und über ihnen webt still und friedlich die Nacht an ihrem Sternenschleier, und über die Todten zieht leise hin ein grüßender Hauchwie Kiefernduft und Waldeswehen: Es grüßt die märkische Haide Die lieben Todten auf fremder Flur, Den Eisenriegel von Mars la Tour,

v. Koppen.

b. Die beschreibende Prosa.

1. Das Gewitter. Das Gewitter ist eine der mächtigsten, prachtvollsten, aber auch der fürchterlichsten und erschreckendsten Erscheinungen in der Natur. Ein Feuerstrahl, Blitz genannt, fährt mit unglaublicher Schnelligkeit durch die finstern, den Niedersturz drohenden Wolkenberge im schlängelnden Fluge. Bisweilen, doch nicht oft, fällt dieser Strahl zur Erde nieder. Auf ihn folgt sogleich in den Höhen des Wolkenmeeres ein Krachen, ein Schlag, der alles erschüttert, ein Knall, ein lautes, sich in den Lufträumen langsam verlierendes Donnern und Brüllen. Eine heitere Stille, ein klarer Himmel, ein frohes Leben in der Natur herrscht am frühen Morgen. Es grünt und blüht, es rauscht und rieselt, es singt und hüpft. Ist's doch so, als ob die Schöpfung einen schönen Festtag feiern wollte, an dem sich der Mensch mit Vernunft und Gefühl am herrlichsten freuen soll. Die unermeßliche Bläue des Äthers

überzieht ein durchsichtiger Wolkenflor. Bald steigen dickere Wolken am Horizont herauf, erheben sich immer mehr, gleichen übereinandergelagerten Gebirgsmassen, mannigfaltig gestaltet, gräulich, düster, hell gefärbt. Durch sie wie durch einen Schirm werden die Strahlen der Sonne gehemmt, das Tageslicht verliert seine Helle, es wird trübe und dunkler. In der dunkeln Wolke blitzt es, sie wird plötzlich erleuchtet. Ein schwaches Donnern wird gehört, das lauter schallt, je näher das Gewitter kommt. Schwül ist die Luft. Regen-

Beschreibung.

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wölken senken sich in der Ferne nieder. Plötzlich bricht ein Sturm loS, er braust und saust, er führt Staubwolken in die Luft empor, Seen und Ströme schlagen Wellen, das Waffer schäumt, die Wipfel der Bäume schwanken hin und her. Die Thiere deS Landes, die Bögel verbergen sich und suchen Schutzörter gegen das nahe Ungewitter. Selbst der Mensch kann nicht ohne Furcht sein. Er fragt: Wen wird der flammende, das Leben im nu zerstörende Strahl treffen? Auf welche Wohnung wird er niederfahren, zünden und sie in einen Aschen­ haufen verwandeln? Kann nicht ein Wolkenbruch, ein Platzregen eine verheerende Über­ schwemmung anrichten? Wird nicht der Hagel die Früchte deS Feldes niederschlagen? Leben, Gesundheit und Eigenthum steht auf dem Spiel. Wird es gerettet, wird es vernichtet werden? Diese Fragen kann niemand beantworten. DaS Herz bebt, Felsen zittern, von wüthenden Wogen wird das Ufer gepeitscht. Oft folgt Blitz und Schlag schnell auf einander. Es fallen große Regentropfen; in einem Platzregen strömt das Waffer aus den Wolken hernieder. Aus den Thälern und Wäl­ dern ist die ruhige Stille entflohen, daS Brüllen des Donners, das Toben und Stürmen hat sie verscheucht. Aber ohne Schaden ließ der Allmächtige daS Gewitter vorüberziehn, um seine Schrecken, aber auch seine Wohlthaten in andern Gegenden zu verbreiten. Strahlend und leuchtend tritt die Sonne am Tage, Mond und Sterne des Nachts hinter dem Gewölk wieder hervor. Der laute Krieg hat sich in einen fröhlichen Frieden verwandelt, die Natur lacht. Im frischen Grün prangt Wald und Flur, rein gewaschen vom Staub sind die Gewächse, munter und fröhlich singt der Chor der Bögel im Hain, trillernd schwingt sich die Lerche in die Luft, die Schwüle hat sich abgekühlt, die Brust kann freier athmen, der Hauch eines erquickenden Lebens weht durch die ganze Natur. Wie wohlthätig ist das Gewitter! Preis und An­ betung dem Allmächtigen, der sein Verderben in Segen verwandelt! Müller.

2. Das Pferd. Munter hüpft das Füllen auf grünem Rasen, sträubt die kurze, krause Mähne, schwingt sich leicht wie ein Hirsch über die Hecke, schlägt die kleinen Hufe hoch in die Lüfte, und wie ergriffen vom Windstoß stürzt es fort, steht plötzlich, und plötzlich wieder umkreist eö die ruhig weidende Stute, von ihren Blicken sorgsam bewacht. Schon verrathen die schlanken Glieder künftige Kraft und Behendigkeit, sein dunkles, großes Auge Muth, sein Spiel dir Kampflust. Es wächst zum Helden, zum beharrlichen Gefährten, zum Freunde des Menschen, treu bis in den Tod, heran. Edel ist daS Pferd; wie aus Erz gegoffen, so fest steht es da und dennoch schlank wie ein Reh und so friedlich. Sicher ist sein Gang, stolz trägt es sein Haupt mit schön gewölbter Stirn und Nase; das runde, rege Auge mit dem schwarzen Glanz erspäht den Feind; mit grünem Schein erleuchtet eS den dunkeln Pfad. Es spielt mit dem spitzen Ohr, erfaßt den verlorenen Laut, stutzt und warnt seinen Reiter. Zur Seite deS schlan­ ken, glatten Nackens fällt die seidenschimmernde Mähne. Seine Brust, voll und weich wie die des Schwans, stellt sich keck der Gefahr entgegen, und der glatte Leib ruht sicher auf festen Lenden, auf nervigen Füßen. Die eisenfesten Hufe stampfen ungeduldig den Boden; der volle, glänzend schwarze Schweif fließt ruhig über daS gewölbte Kreuz zur Ferse nieder. Auf des Reiters Wink springt es auf wie ein LuchS, rennt davon, den Hals gestreckt, wie ein Adler im Flug; wie ein Adler leicht, berührt es kaum die Erde, und es fliegt sein Schweif ihm nach. Die Bäume fliehen wie Schatten vorüber; der Boden weicht, als stürzt' er hinter ihm in den Abgrund. Unter dem Huf zerbersten die Kiesel, Funken sprühen um­ her. So stürzt eS mit dem Araber dem Löwen entgegen. Dieser wirft die Mähne empor und weist grinsend und brüllend die Zähne; er schlägt mit dem Schweife seine Lenden.

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Historische Prosa.

Jetzt steht er, jetzt duckt er sich nieder zum Sprunge: da schickt ihm rasch der Jäger die Lanze zu. Der Löwe achtet nicht den tödtlichen Stoß; mit zerbrochenem Schaft in der Brust schwingt er sich dem Jäger entgegen; da funkeln deö Pferdes Augen, die Adern spannen sich, die Mähne fliegt, es dampfen die Nüstern, die Muskeln spielen und schwellen, und zornwiehernd bäumt es sich auf, schlägt auö, sein eherner Huf hat die Stirn des Löwen zerspalten und ihn zu Boden geschmettert. Mit dem Krieger zieht das Pferd gegen den Feind, es beißt schäumend in die Zügel, schüttelt die Mähne, scharrt den Boden, schnaubend und wiehernd vor Kampflust. Da schmettern die Trompeten; es erwartet nicht des Reiters Sporn, sprengt entgegen den blitzenden Lanzenreihen. Es ist eins mit seinem Führer; ein Wille beherrscht beide, ein Held sind Ryß und Reiter zusammen. Das Roß ist des Reiters Schild, es ist sein Pfeil, mit dem er zugleich in die Reihen der Feinde trifft. Des Rosses Mähne flattert, eine schwarze TodeSfahne, dem blinkenden Schwerte des Reiters voran. ES steht vor der Lanze, aber es zittert nicht, bleibt besonnen, unerschrocken und fest wie ein Fels mitten im Rauch und im Donner deS Geschützes. Nicht das Getümmel, nicht daS Sausen der Kugeln, nicht der Wunden und Sterbenden Klagen heißen es wanken. Ist sein Führer gefallen, so stellt eS sich in die Reihen der Genossen. Es stürzt allein in das Gewitter der Schlacht. Und bluten ihm selber tiefe Wunden, nimmer vernimmt man von ihm einen Klageton, nimmer ein Zeichen des Schmerzes; nur Freude, nur Kampflust wecken seine Stimme. Ernst und langsam schreitet daS Pferd hinter dem Trauerwagen des Helden, den eS trug, einher. Die Rosse Achills weinten ob dem Gefallenen, Cids treue Babieya folgte mit gesenktem Haupte ihrem Herrn zum Grabe. Aber es gewinnt den Muth, es erwacht sein Stolz, wenn es unter dem Schalle der Trompeten den Triumphwagen zieht. Mit goldenem Gebiß, mit funkelndem Zügel, mit Purpurdecken geschmückt, schreitet der Anda­ lusier feierlich einher, trägt hoch fein Haupt, zeigt hell den Blick; denn auch ihm gehört der Lorbeer, und er weiß, daß er mit dem Herrn der Erde ein Bündnis geschlossen hat. Und wie das Pferd des Helden Schutz und Trutz in der Schlacht, so ist es auch sein Freund, sein Gehülfe im Frieden. Mit dem Krieger in die Heimat zurückgekehrt, legt es die Rüstung ab, zieht geduldig den Pflug und den Erntewagen. Es trägt den Reisenden über die rauhen Pfade der Alpen, in die Eisfelder Sibiriens und durchrennt mit ihm die Ebenen von Amerika. Der Zelter begleitet den Araber, wie dieser genügsam, in die brennenden Wüsten, trägt alle seine Habe, ist das Spiel seiner Kinder, ruht getreulich neben ihnen unter dem gleichen Dache. Stets bleibt das Pferd ein beharrlicher, geduldiger Arbeiter, ein unermüdlicher, rüstiger Gänger, ein behender Nenner, ein offener, kühner Held, ein treuer Waffengenoffe, ohne Falsch und ohne Bosheit. Es ist dem Menschen zugegeben, ihm gewogen, gelehrig und folgsam, durch ihn gehoben. Und wo es, seiner Leitung entzogen, frei umherstreift, in den Steppen der Tatarei und Sibiriens, in den Llanos Amerikas, da ist es ein kleiner, struppiger Sohn der Wildnis geworden und jagt scheu mit seinen Gefährten als brausender, verheerender Strom über die Ebene hin. Nur eines Tyrannen Laune, Bosheit und Eigennutz erschlaffen den Muth, erwecken die Tücke in dem edeln Pferde, Überspannen die Kräfte und machen eS alt vor der Zeit. Der Grausame schont auch seines Alters nicht und gedenkt nicht der Beschwerden, nicht der Thaten eines feurigen Renners, welcher siegte in den Schlachten, welcher den Stamm­ baum führt von Muhameds Zeiten her; die Loblieder sind verklungen, die ihm einst er­ schallten, die Lorbeerkränze vermodert. Armes Thier, grausame Qualen sind der Lohn, welcher deiner im Alter wartet! Undankbarer als gegen einen Belisar verfährt gegen manches Heldenroß der Mensch. Der Sporn hat die Seiten des Pferdes mit Narben bedeckt, seine Schenkel sind angelaufen, die Fesseln steif von angestrengter Arbeit, die Hufe

Beschreibung.

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durch die Nagel zerrissen, durch die Zügel, mit denen eine harte Hand eS leitete, ist der Mund erschlafft. Zum elenden Gerippe hat daS Alter es abgezehrt; das Feuer seiner Augen ist erloschen, lebensmüde senkt es sein Haupt. Und dennoch wird ihm keine Ruhe vergönnt; nicht die freundlichen Winke des ReiterS lenken es mehr,^ eine rohe Hand fesselt es an den schweren Karren und führt die Peitsche mit grausamer Übung. Kaum vermag es noch im düstern, von Spinngeweben auSgekleideten Stall aus modriger Krippe sein hartes Futter zu zermalmen. Nur ein schmachvoller Tod erlöst es von seinen Leiden. AuS Meyers Thierzelchnungen.

3. Deutschland. Die weiten Fluren, die sich, mannigfaltig durchschnitten, von den höchsten Alpen über dem mittelländischen und dem adriatischen Meere, in unbestimmten Grenzen, westlich an den Ufern der Maas und der Schelde hinab bis zur Nordsee hinbreiten und östlich von der March hinüber zur Oder bis zu dem Ausfluffe der Weichsel sich erstrecken, nennen wir Deutschland. Dieses Land in dieser Ausdehnung gehört zu den schönsten Ländern, welche die Sonne begrüßet in ihrem ewigen Laufe. Unter einem gemäßigten Himmel, unbekannt mit der sengenden Luft des Südens, wie mit der Erstarrung nördlicher Gegenden, die größte Ab­ wechselung, die reichste Mannigfaltigkeit, köstlich für den Anblick, erheiternd und erhebend für das Gemüth, bringt Deutschland alles hervor, was der Mensch bedarf zur Erhaltung und zur Förderung des Geistes, ohne ihn zu verweichlichen, zu verhärten, zu verderben. Der Boden ist. fähig zu jeglichem Anbau. Hier scheint sich die befruchtende Kraft gesam­ melt zu haben, die dort versagt ward. Unter dem bleibenden Schnee der Alpen dehnen sich die herrlichsten Weiden aus, von der Wärme doppelt belebt, die an jenem wirkungs­ los vorüberging. An der kahlen Felswand zieht sich ein üppiges Thal hinweg. Neben Moor und Haide, nur von der bleichen Binse und von der Brombeerstaude belebt und menschlichem Fleiße nichts gewährend als die magere Frucht des Buchweizens oder des Hafers, erfreuen das Auge deS Menschen die kräftigsten Fluren, geeignet zu den schönsten Saatfeldern und zu den herrlichsten Erzeugniffen deö Gartenbaues. Fruchtbäume prangen in unermeßlicher Menge und in jeglicher Art, vom sauern Holzapfel bis zur lieblichen Pfirsich. Hoch auf den Bergen deS Landes erhebt unter Buchen und Tannen die ge­ waltige Eiche ihr Haupt zu den Wolken empor und blickt über Abhänge und Hügel hin­ weg, welche den köstlichsten Wein erzeugen, die Freude der Menschen, von hohen, wie von geringen. Kein reißendes Thier schrecket, kein giftiges Gewürm drohet, kein häßliches Ungeziefer quälet; aber Überfluß gewähret das Land an nützlichem Vieh, an kleinem, wie an großem, für des Menschen Arbeit, Zwecke und Genüsse. Das Schaf trägt Wolle für das feinste Gespinst, der Stier verkündigt Kraft und Stärke in Ban und Gestalt, das Pferd gehet tüchtig einher im Fuhrwerke, prächtig vor dem Wagen der Großen und stolz als Kampfroß unter dem Krieger, hier ausdauernd und dort. In ihrem Innern verbirget die Erde große und reiche Schätze. Aus vielen und unerschöpflichen Quellen sprudelt sie freiwillig den Menschen Heilung zu und Gesundheit und Heiterkeit. Den fleißigen Bergmann belohnet sie bald mit dem edelsten Gewürze, dem Salze, bald mit Silber und Gold, hinreichend für den Verkehr und die Verzierung des Lebens, bald mit Eisen in Menge, dem Manne zur Waffe und Wehr, zu Schutz und Schirm dem Volke. Ein solches Land, mit so reichen Gaben, Eigenschaften und Kräften ausgestattet, ist von der Natur unverkennbar bestimmt, ein großes und starkes Volk zu ernähren in Ein­ falt und Tugend und eine hohe Bildung des Geistes in diesem Volke durch Übung und

Anstrengung zu erzeugen, zu erhalten,

zu fördern.

Auch ist das Land nicht umsonst

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Historische Prosa.

bestimmter Grenzen beraubt gegen Morgen wie gegen Abend und selbst gegen Mitternacht. Die Bewohner können sich gegen den Neid, die Habsucht und den Übermuth fremder Völker auf nichts verlaffen als auf ihre eigene Kraft. ES giebt für sie keine Sicherheit als in ihrem festen Zusammenhalten, in ihrer Einigkeit, in ihrer sittlichen Macht. Endlich ist den Bewohnern dieses Landes durch große und schöne Ströme daS Meer geöffnet und der Zugang zur Welt. Aber daS Meer drängt sich nicht so verführerisch an sie heran oder zwischen sie hinein, daß sie verlockt und dem heimatlichen Boden ent­ fremdet werden könnten. Vielmehr kann der edlere Mensch dem Gedanken an eine deutsche Erde und an einen deutschen Himmel nicht entgehen, und dieser Gedanke scheint in ihm die Sehnsucht erhalten zu müssen zu der Welt seiner Geburt und die Liebe zu dem Boden seines Vaterlandes. AuS Südens deutscher Geschichte.

3a. Die Erleuchtung Berlins am 21. September 1866. Mit dem Hereinbrechen des abendlichen Dunkels, dem leider Wind und Regen mit stündlich gesteigerter Heftigkeit folgten, begann die Illumination der Stadt, durch welche die Festfeier beim Einzuge der aus dem Kriege mit Österreich heimkehrenden Truppen ihren Abschluß fand. Das Wort vermag, obwohl immer nur in gröberen Umrissen, die Bilder der Formen wiederzugeben; die Farben schon kann die Sprache nur nennen, ihr Spiel und ihre Abtönungen müssen vom Auge unmittelbar aufgefaßt werden; Lichtesfekte vollends, die selbst dem Pinsel des Malers nicht mehr darstellbar sind, entziehen sich jeder Schilderung durch daS Wort; es kann von ihnen nur gesagt werden, daß sie da waren, höchstens, wie sie erzeugt wurden, nicht aber, wie sie erschienen. Das wesentlichste Merkmal der Erleuchtung vom 21. September 1866 war, daß sie ausnahmslos die ganze Stadt umfaßte. Mochten einzelne Straßen, Plätze, Gebäude durch besonderen Glanz sich hervorthun, lichtlos war kein Winkel, kein auch noch so entlegener Theil der mit den Enden ihrer Radien über eine Quadratmeile hinausreichenden Häuser­ massen. Ununterbrochen liefen die Flammenlinien durch die gesammte Stadt, Zeugnis zu geben von der Einmüthigkeit, mit welcher mehr als eine halbe Million Menschen in den­ selben Gefühlen sich unterschiedslos vereinigte. Wenn so die Ströme des Lichts, von der Mitte der Stadt ausgehend, an der Peri­ pherie in einzelne, immer schwächer werdende Strahlen sich spalteten, so entfaltete sich ein ganz wunderbares Gesammtbild, wenn man den Blick von außen nach innen, von der Höhe vor dem Prenzlauer Thore nach der Stadt wandte. Umgeben von undurchdringlicher Finsternis und lautlosem Schweigen sah man auf das fast die Hälfte des Horizontes ein­ nehmende Panorama hernieder. Die allernächsten Straßen zur Seite und zu den Füßen des Schauenden zeigten noch die Lichterreihe ihrer Fenster; weiterhin aber verschwanden die leuchtenden Linien, verdeckt von den Massen der Häuser; nur hin und wieder leckte die vom Winde gepeitschte Glut der Feuerbecken auf Häusern und Palästen wie Flammenspitzen einer unten unsichtbar wüthenden Feuersbrunst. Darüber aber schwebte, bis zum Zenith hinaufreichend, der unermeßliche Feuerschein, gleichmäßig gelagert über die ganze Breite und nur in den schweren Regenwolken zu formlosen Gestalten zusammengeballt. Wenig merkbar trat in diesem Glutmeere die Lichtkraft des Lustgartens und der Siegesstraße hervor; von hier aber wie von einem verborgnen Herde wurden von Zeit zu Zeit die in allen Farben leuchtenden Dampfwolken emporgetrieben und zogen dann vorüber, bald wallend und sich ausbreitend, bald vom Winde gejagt und zerrissen. Auf diesem Grunde verschwammen die Umrisse der unerleuchteten Thürme der Stadt; denn das Licht der ringumliegenden Häuser ließ ihnen keinen Schatten und gab ihnen auch nicht größere Helligkeit, als es der umgebenden regendunstigen Luft mittheilte; nur die gothischen Formen der Bartholomäuskirche lösten sich einigermaßen von dem hier schon dunkler werdenden Horizonte

Beschreibung.

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üb. Siegreich dagegen stiegen die Lichtgebilde der künstlich erhellten Thürme auf. Zur Rechten flimmerte die neue Synagoge im goldigen Schein. In der Mitte zeichneten die Fenster der Schloßkapelle sich in festen Linien, während die Kuppel selbst sich zu dehnen und wieder zu schwinden schien, je nachdem daS weiße, rothe und grüne Licht, mit denen ab­ wechselnd sie selbst und die obere, von Engeln getragene Laterne übergossen ward, auf­ flammte oder verlöschend sank. In weiterer Ferne schimmerten die Kuppeln der Zwillings­ thürme auf dem GenSdarmenmarkte. Am strahlendsten aber leuchtete der Fahnenthurm des RathhauseS, der ganz in die Nähe gerückt zu sein und nicht mehr in seinen Theilen sich zu bewegen, sondern von der Hitze deS Lichts zu zittern schien. Und zwischen diesen festen Lichtpunkten ging bald hier, bald da eine Leuchtkugel auf, zogen Raketen ihre feurigen Streifen, Schwärmer ihre krausen Windungen. Nicht minder jedoch als für daS Auge, war der Eindruck dieses Schauspiels auch für das Ohr ein seltsamer. Ringsum kein Laut; auS der Tiefe der Stadt ein einförmiges, dumpfe- Brausen, das nur durch den Schall der Freudenschüffe unterbrochen ward, der jetzt von weitem und kaum vernehmbar, jetzt aus den nächsten Häusern krachend an das Ohr schlug. Wenn der arge Südwestwind und der plätschernde Regen manches mühsam vor­ bereitete Erleuchtungswerk verwüstete, daS Gesammtbild, welches die Stadt, von diesen Höhen gesehen, darbot, ließ kein Mißlingen deS Einzelnen ahnen. Ebensowenig aber ver­ mochte die Unbill der Witterung das Vergnügen der schaulustigen Menge in den Straßen zu stören. Blieb auch mancher vorsichtig zu Hause, so war die Zahl der Fehlenden über­ reichlich ersetzt durch die Masien der Soldaten und der Fremden, welche sich zu diesem größten aller bei uns bisher erlebten Volksfeste in Berlin eingefunden hatten. Tage lang hatten die Eisenbahnen mit einem Extrazuge nach dem andern die Bewohner der Provinzen und der Nachbarstaaten in die Hauptstadt versetzt, ja selbst Amerika hatte sein Kontingent Schaulustiger gestellt, so daß man die Zahl der Gäste mit Einschluß der Soldaten auf nahezu 200000 veranschlagen durfte. Daher waren denn die Straßen während deS ganzen Abends mit fröhlichen, befriedigten Menschen überfüllt; oft staute die Flui sich bis zur Bewegungslosigkeit, und der Versuch einer prozessionsartigen Umfahrt mit illuminirten Wagen mußte scheitern, da schon die Spitze des ZugeS die Hauptstraßen fast undurchdring­ lich dicht mit Menschen bedeckt fand. Nur da machten die Massen mit Freuden Platz und schichteten sich zum Spaliere, als in offenem Wagen der König mit dem General v. Moltke an seiner Seite, der Kronprinz mit seinem ältesten Sohne und in geschlossenen Kutschen die Königin und die Prinzessinnen erschienen, um die festlichen Veranstaltungen einer dankbaren Bürgerschaft in Augenschein zu nehmen; unendlicher Jubel begleitete die Majestäten und die prinzlichen Herrschaften auf allen ihren Wegen. -ol-e.

4. Brockenreise. Die Sonne ging auf. Die Nebel flohen wie Gespenster beim dritten Hahnenschrei. Ich stieg wieder bergauf und bergab, und vor mir schwebte die schöne Sonne, immer neue Schönheiten beleuchtend. Der Geist des Gebirges begünstigte mich offenbar und ließ mich dieser Morgen seinen Harz sehen, wie ihn gewiß nicht jeder sah. Aber auch mich sah der Harz, wie mich nur wenige gesehen; in meinen Augenwimpern flimmerten ebenso kostbare Perlen, wie in den Gräsern des Thales. Morgenthau feuchtete meine Wangen, die rau­ schenden Tannen verstanden mich, ihre Zweige thaten sich von einander, bewegten sich herauf und herab gleich stummen Menschen, die mit den Händen ihre Freude bezeigen, und in der Ferne klang'S wunderbar geheimnisvoll wie Glockengeläute einer verlorenen Waldkirche. Mar sagt, das seien die Herdenglöckchen, die im Harz so lieblich, klar und rein gestimmt sind. Nach dem Stande der Sonne war eS Mittag, als ich auf eine solche Herde stieß, und der Hirt, ein freundlich blonder, junger Mensch, sagte mir, der große Berg, an dessen

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Historische Prosa.

Fuß ich stände, sei der alte,, weltberühmte Brocken. Viele Stunden ringsum liegt kein HauS, und ich war froh genug, daß mich der junge Mensch einlud, mit ihm zu essen. Wir setzten uns nieder zu einer Mahlzeit, die auS Käse und Brot bestand; die Schäfchen er­ haschten die Krumen, die liebem, blanken Kühe sprangen um uns herum, klingelten schelmisch mit ihren Glöckchen und lach ten uns an mit ihren großen braunen Augen. Wir tafelten recht königlich, nahmen darauf freundlich Abschied, und fröhlich stieg ich den Berg hinauf. Bald empfing mich eine Waldung himmelhoher Tannen, vor denen ich in jeder Hinsicht Respekt habe. Diesen Bäumen ist nämlich das Wachsen nicht ganz leicht gemacht worden, und sie haben es sich in der Jugend sauer werden lassen. Der Berg ist hier mit vielen Granitblöcken übersäet, und die meisten Bäume mußten mit ihren Wurzeln diese Steine umranken oder sprengen und mühsam den Boden suchen, woraus sie Nahrung schöpfen können. Hier und da liegen die Steine, gleichsam ein Thor bildend, über einander, und oben darauf stehen die Bäume, die nackten Wurzeln über jene Steinpforte hinziehend und erst am Fuße derselben den Boden erfassend, so daß sie in der freien Luft zu wachsen scheinen. Und doch haben sie sich zu jener gewaltigen Höhe emporgeschwungen, und, mit den um­ klammerten Steinen wie zusammengewachsen, stehen sie fester, als ihre bequemen Kollegen im zahmen Forstboden des flachen Landes. Auf den Zweigen der Tannen kletterten Eich­ hörnchen, und unter denselben spazierten die gelben Hirsche. Wenn ich solch ein liebes, edles Thier sehe, so kann ich nicht begreifen, wie gebildete Leute Vergnügen daran finden, es zu hetzen und zu tödten. Allerliebst schossen die goldenen Sonnenlichter durch daö dichte Tannengrün. Eine natürliche Treppe bildeten die Baumwurzeln. Überall schwellende Moosbänke; denn die

Bäume sind fußhoch von den schönsten Moosarteu, wie mit hellgrünen Sammetpolstern bewachsen. Liebliche Kühle und träumerisches Qnellengemurmel! Hier und da sieht man, wie das Wasser unter den Steinen silberhell hinrieselt und die nackten Baumwurzeln und Fasern bespült. Wenn man sich nach diesem Treiben hinabbeugt, so belauscht man gleich­ sam die geheime Bildungsgeschichte der Pflanzen und das ruhige Herzklopfen des Berges. An manchen Orten sprudelt das Wasser aus den Steinen und Wurzeln stärker hervor und bildet kleine Wasserfälle. Da läßt sich's gut sitzen. Es murmelt und rauscht so wunderbar, die Vögel singen abgebrochene Sehnsuchtslaute, die Bäume flüstern wie mit tausend Zungen, wie mit lausend Augen schauen und an die seltsamen Bergblumen, sie strecken nach uns aus die wundersamen breiten, drollig gezackten Blätter, spielend flimmern hin und her die lustigen Sonnenstrahlen, die sinnigen KrgMin erzählen sich grüne Märchen, es ist alles wie ver­ zaubert, es wird immer heimlicher und heimlicher. Je höher man den Berg aufsteigt, desto kürzer und zwerghafter werden die Tannen, sie scheinen immer mehr und mehr zusammenzuschrumpfen, bis nur Heidelbeer- und Rothbeersträucher und Bergkräuter übrigbleiben. Da wird eS auch schon fühlbar kälter. Die wunderlichen Gruppen der Granitblöcke werden hier erst recht sichtbar; diese sind oft von erstaunlicher Größe. DaS mögen wohl die Spielbälle sein, die sich die bösen Geister ein­ ander zuwerfen in der Walpurgisnacht, wenn hier die Hexen auf Besenstielen und Mist­ gabeln einhergeritten kommen. In der That, wenn man die obere Hälfte des Brocken­ besteigt, kann man sich nicht erwehren, an die ergötzlichen Blocksberggeschichten zu denken. ES ist ein äußerst erschöpfender Weg, und ich war froh, als ich .endlich daö langersehnte BrockenhauS zu Gesicht bekam. Dieses Haus, daS auf der Spitze des Berges liegt, wurde erst 1800 vom Grafen Stolberg-Wernigerode erbaut. Die Mauern sind erstaunlich dick wegen de- Windes und der Kälte im Winter; das Dach ist niedrig. Bor dem Hause steht eine thurmartige Warte, und in der Nähe liegen noch zwei kleine Nebengebäude, von denen das eine in früheren Zeilen den Brockenbesuchern zum Obdach diente. Heine.

Beschreibung.

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5. Der Rhein und die Donau. Die Ebenen und Hügel, welche sich vor den Hochgebirgen Tyrols und Österreichs im Norden ausbreiten, durchfließt und begrenzt die Donau. Wenn der Rhein, gleich einem kühnen, unternehmenden Jüngling, bald die Heimat verläßt, um zwischen fremden Bergen, auf fremden Fluren seine Kraft zu versuchen, Gaben zu bringen und zu empfangen, so weicht die Donau nicht von ihren Alpen, solang sie noch einen ihrer letzten Ausläufer zu umspülen findet. Als nasser Graben vor dem Wall des Gebirges schirmte auch sie einst die Grenzen der römischen Provinz, die Grenzen der Kulturwelt. War aber der Rhein durch die Richtung seines Laufes bestimmt, ein Strom der Grenze, des Übergangs für alle Zeiten

zu bleiben, so wurden die Ufer der Donau eine Wanderstraße, ein Land des Durchzugs. Hinter dem Rhein breitet sich ein großes, offenes Land aus, von Meeren und Hochgebirgen beschützt; im Süden der Donau nur eine lange, schmale Ebene, durch die Alpen von Italien getrennt, der Selbständigkeit unfähig. Wurden auch die Ufer des Rheins durch die ein­ brechenden Barbaren fast ebenso arg verwüstet, wie die der Donau, so waren sie doch seit der Gründung des fränkischen Reichs ein befriedetes Gebiet; noch oft genug der Schauplatz blutiger Fehden, aber niemals wieder von zermalmenden, vernichtenden Völkerfluten über­ schwemmt. Die Raubzüge der Normannen trafen allerdings auch das rheinische Land, aber vorübergehend; an der Donau hausten Avaren und Magyaren Jahrhunderte lang; und was haben die östlichen Gegenden nicht noch in späten Zeiten von Ungarn, Kumanen, Türken zu erleiden! Der Rhein hat ein halbes Jahrtausend der Ruhe, der Kultur, des im ganzen ununterbrochenen Fortschritts vor der Donau voraus. Die Spuren der Verheerung sind an der Donau lang verwischt; aber viel zahlreichere und in frühere Zeiten hinauf­ reichende Denkmale der Kunst zeugen an den Ufern des Rheins von älterer, ungestörter Blüte. Vom Fuß des Schwarzwaldes bis zu den Vorhöhen des Böhmerwaldes fließt die Donau am Saum einer weiten, einförmigen Ebene zwischen sumpfigen Niederungen, an ihrem linken Ufer von einem Hügelzug begleitet, der sich nickt hoch und selten steil über ihren Spiegel erhebt. Dann windet sie sich bald in engen Felsschluchten durch Granitberge, welche von Böhmen und Mähren herab den Vorhügeln der Alpen entgegenkommen; bald durchfließt sie reiche Ebenen in breitem Bett mit zahlreichen Armen. Hier beginnt Weinbau, zugleich andere, südlichere Kulturen. Wenn der Fall des Rheins klimatisch durch nördlichere Breite ausgeglichen und endlich weit überwogen wird, so strömt die Donau von den bairi­ schen Hochebenen hinab immer milderen Regionen zu, in Deutschland und jenseits seiner Grenzen. Wo sie zwischen Waldbergen über Granitblöcke hinrauscht, erinnert sie an den Rhein zwischen Bingen und Bonn. An Wasserfülle wird sie erst da dem Rhein vergleichbar, wo der Inn, viel breiter und wasserreicher als der namengebende Strom selber, im Innern der Berge mit ihr zusammenfließt und sie an das linke Ufer drängt. Wie der Neckar bei Heidelberg, so scheint auch der Inn bei Passau dem Landschaftsmaler zu Liebe eine Fels­ enge der Ebene vorzuziehen. Grünere, mehr bewaldete Berghänge verrathen an der Donau ein dem Weinbau minder günstiges Klima und eine jüngere Kultur als am Rhein. Auch die Schiffahrt ist noch in ihrer Kindheit. Aus Mendelssohns german. Europa.

6. Deutschlands vorzüglichste Laubhölzer, Eiche, Buche und Linde. Die Eiche ist der europäische Urbaum. Die Pelasger und jene Wanderschaaren, die einst an den Küsten von Griechenland eine Heimat suchten, verehrten ihn als Lebensbaum, als kostbare Gabe des großen Nährvaters. Seine Früchte sättigten sie, in seinen Stämmen fanden sie Wohnung, unter seinen Wurzeln sprang der tränkende Quell. Und selbst als längst die barbarische Rauheit menschlicher Sitte gewichen war, erhielt sich die Verehrung für den Segenspender unbekümmert fort in dem Gemüthe der Völker. Bei Griechen und

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Historische Prosa.

Römern blieb er dem Olympier geweiht, aus seinem Rauschen tönten ihnen Stimmen der Zukunft; der Deutsche aber und der Skandinavier sah das Haus deS Donnergottes in dem Wipfel der Eiche. Kein zweiter Baum glich ihr an wildkühner Schönheit; aber keiner bot sich auch dem ersten Bedürfnis zu ausgiebigerem Dienste. Das HauS deS Lebenden, den Sarg deS Todten, das Schiff, das den Seefahrer trug, die Lanze, die der Jäger schwang, alles gab die Eiche. Mark und Fülle zeigt ihr Wuchs von der tiefauSgreifenden Wurzel bis zum festen, schildgleichen Blatt und der derben, bronzenen Frucht. In dem trotzigen Zickzack ihrer Äste und in den großartigen Verkrümmungen ihres Stammes steht sie da als Baum der Stärke (Quercus robur), gleichsam als lege sie sich aus zum zerschmetternden Streiche; es ist der graue Wälderkönig, den der Adler sucht und der Held zum Bilde nimmt. Wie treffend, wenn Homer die beiden Lapithensöhne als Hüter vor den Schissen stehen läßt, »zwei hochwipflige Eichen des Berges, welche den Sturm ausharren und Regenschauer be­ ständig." Auch hierin scheint sich die heroische Natur des Baumes anzukündigen, daß er sich nie zu eigentlichen Waldungen häuft; denn die Eiche steht einsam oder im Gemisch mit andern Laubarten; nur in den nordischen Tiefebenen tritt sie oft zu schönen Gruppen zu­ sammen. Ein saftgrüner Rasen, ein blauer Himmel, ein klarer Quell — das giebt dann RuiSdaelsche Bilder. Da und dort hebt der Hirsch das stolze Geweih; er hat den Jagdruf auS der Ferne vernommen. Freundliche Blicke öffnen sich zwischen den schwarzen, gewaltigen Stämmen, und durch die dunkelernsten Laubmassen gleitet still ein goldner Strahl. In ihrer ganzen Großartigkeit erscheint die Eiche auf der Höhe des Gebirges. In der UrwaldwildniS muß man vie tausendjährige sehen. Weit über die Quaderwände hinaus, tief in Vie steinernen Rippen schlägt die Wurzel ihre mißgestalteten Pranken, als wolle sie die Erde spalten, und aus dem Grunde treibt und wächst es hinauf, langsam, aber riesengroß, bis zu der luftigen Wolkenstraße selber. Wie ein undurchdringlicher Harnisch legt sich die tief durch­ rissene Rinde dem Recken um Leib und Glieder, zornig zucken die knorrigen Äste, und wo der Nordwind seine Speere gegen den Eisenstamm schleudert, deckt ihn die zottige Moos­ hülle mit dichtem Schilde. So hat er seinen Fuß droben eingegraben, der Alte vom Berge, ein reisiger, riesiger Held, und freut sich, die Wolkenschlacht mit Äolus und seinem wilden Heer zu kämpfen. Bom Boven aber rankt Eppich und Geißblatt hinauf, und Fink und Amsel spinnen frische Lieder um seine Zweige. Das ist die deutsche Eiche. Sie hat Welf und Waibling, Ziska und Prokop, Friedland und die Schweden gesehen. Unter ihrem Wipfel mochte vielleicht daö Dies irae verfolgter Ketzer grollend in die Nacht hinausklingen; ihr Schatten deckte wohl den räuberischen Landsknecht, wenn er dem Hufschlag des schätzebeladenen SaumthierzugeS horchte. Sie steht noch, stolz und grün; aber es sind nur wenige ihresgleichen, und wird dem Beile, welches unsere Zeit schonungslos gegen jede Pflanzung der Natur schwingt, nicht Einhalt gethan, so werden auch sie bald fallen. Neben der Eiche gebührt der Buche der Preis unter unseren Waldbäumen. Sie liebt sanft gehobene Flächen und tritt gern von den Höhen des Gebirges auf die sonnigen Hügel­ züge am Fuße herab. Durch ganz Thüringen, in den Harzthälern, auf Rügen, in den holsteinischen Marschen herrscht dieser Baum; aber in der stolzesten Pracht seines Wachs­ thums blickt er über die Buchten von Kopenhagen, wie überhaupt der Norden das Buchen­ land ist. Unter allen Bäumen ist die Buche der geselligste; sie schießt ihre Wurzeln nicht tief ins Erdreich, sie muß sie mit ihren Schwesterbäumen kreuzen. So mit verschlungenen Wurzeln und Wipfeln trotzt ein Buchenwald den Stürmen und dem Sonnenbrand. Allein, ohne andern Schutz erliegt die Buche bald der Witterung. In Jugendkraft, leicht und doch stolz, wie aus Stahl, steigt der runde Schaft hinauf. Glatt und dicht umschließt ihn die silbergraue Rinde, von keinem Moose benagt, und wo es geschieht, gegen das Sammetgrün desselben freundlich abstechend. Fast meint man daran die Härte des Holzes zu erkennen, das in der knappen Bekleidung gleichsam nackt erscheint und in seinen Anschwellungen das Bild eines muskelstraffen Armes giebt. Ast und Zweig treten erst in der Höhe hervor, sie

Beschreibung.

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greifen scharflinicht aus fast wie die Zweige der Tanne und drängen ihre Fächer zu einem einzigen Gewölbe zusammen. Das stumpfeiförmige Blatt stimmt zu dem Charakter deS Ganzen. Es bildet, der Verzweigung entsprechend, meist dachartige Schichten, die spitz aus­ laufen, oder eS fliegt flockig aus einander, ohne in Masten zu verschmelzen. Fest gewebt und an den kurzen Stiel geheftet, giebt eS sich nicht zum leichten, tönenden Spiel des Windes. DaS Laub macht vielleicht den schönsten Schmuck der Buche aus; es quillt in der üppigsten, saftigsten Fülle hervor, und, von der Sonne beschienen, bietet jedes einzelne Blatt einen Spiegel, der die anmutigsten Lichtwechsel entfaltet. Und so tief saugt eS dieses Licht ein, daß, selbst wenn der Frost es schon berührt, das Buchenblatt vor allem andern Laube in den feurigsten Goldtinten erglänzt. Wer den Thüringer Wald oder daS Jlsethal durchzogen hat, wird den Zauber des Buchenwaldes kennen. Gewaltige Blöcke, von Farrenkraut um­ wuchert, liegen zu den Füßen der ernsten Bäume, unter denen hervor kühlathmend der Quell seine Silberfäden zwischen Blumen und Wurzeln hindurchzieht. Über den Wipfeln aber

brennt der Mittag. Jedes Blatt wird ein Sonnentropfen, ein funkelnder Smaragd, und grüngoldenes Märchenlicht dämmert durch die Halle. Der Fingerhut steckt seine Kerzen auf, aus den Steinritzen schlüpft die Eidechse, blauflüglige Libellen wiegen sich auf den Halmen. Dazwischen schießt ein Sonnenblitz an den Stämmen nieder, über den Moosteppich zittern schillernde Lichtkugeln, alles ist seltsam still, wie verzaubert; aber unten, wo das Waldthor sich öffnet, winken Wiesen und Dörfer, ein Flüßchen leuchtet auf, und befreundet grüßt melodisches Herdengeläute. Boll Würde und Anmuth, in Stärke und Zartheit steht die Linde da, der herrlichste unter allen unsern Bäumen. In edler Mächtigkeit mit der Eiche wetteifernd, erhebt sich der Stamm, ruhig und groß greift die Krone hinauf, und aus allen Röhren schießt Zacken und Zweig. Aber wie der Strahl des Springquells im Bogen sich wieder senkt, so rundet sich das spitz aufdringende Astdickicht gefälligen Schwunges wieder hinab und zerläßt seine Kraft in einem, weiten Zweiggehänge, das auch ohne Sommerschmuck noch schön ist. Um diesen reizenden Bau schmiegt sich die Fülle der Blätter, jedes ein leicht bewegtes, grünes Herz. Die Blüte hängt ihre Duftfäden daran, und in ihrem lockeren Umriß verschwimmt das Geäst. So bildet das Ganze einen einzigen Laubpalast voll Majestät und Lieblichkeit. Die Linde ist bei uns kein Waldbaum; vertraulich tritt sie aus der Wildnis an den Menschen und sein Haus. Selbst in den Pomp der Königsstädte hat sie, ein frommer Gruß der Natur, ihn begleitet. Aber dort ist ihre Heimat nicht. Im Dorfe, auf dem Burghof, am Quell, auf dem Hügel, wo die Schnitter rasten, im Thal, wo die Schalmeien klingen, da ist ihre Stelle. Das ist der Baum, unter dessen Zweigen die Jugend sich zum Spiel und die Alten zu ernster Rede sammeln; das ist die Linde, in deren Schatten der Dichter träumend sein Leid vergißt, aus deren Wipfeln die Nachtigall ihn grüßt. Aus Masius' auturftubten.

7. Die Pfalz. Heidelberg liegt am Ausgange eines nicht allzuweiten, von hohen, reich bewaldeten Bergen begrenzten Thales. Lang gestreckt dehnt sich die Stadt am Neckar hin, nach rückwärts an den hohen Kaiserstuhl gelehnt, an welchem mehrere ihrer Gassen emporklimmen, während ein anderer Theil bis in die freie Ebene hinaustritt, welche unmittelbar am Fuße deS hier zu beiden Seiten zurückweichenden Gebirges sich ausbreitet. Das Schloß, auf einem Vor­ sprunge des Gebirges in mäßiger Höhe gelagert, beherrscht den größten Theil der Stadt vollkommen. Von der nach der Flußseite hinausführenden breiten Terrasse desselben, sowie von dem westlichen Theile der Anlagen, dem Elisabethgarten auS, blickt man tief in die Straßen, auf die Plätze Heidelbergs hinab, den ganzen Lauf des Neckars entlang mit seiner schönen Brücke, mit seinen Schiffen und Kähnen und dem vielfach lebendigen Treiben an beiden Ufern. Nur die entfernteren Theile der Stadt drängen sich in eine undeutliche Masse Dielitz u. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur.

2. Ausl.

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zusammen, und die zunächst, gerade unter dem Abhänge des SchloßbergeS gelegenen ver­ bergen sich hinter Felsvorsprüngen, welche auch eine Strecke des Flusies verdecken, der erst weiter aufwärts wieder sichtbar wird. Nach dieser Seite hin schließt sich das Thal mit schroffen Höhen und entzieht sich der Fernsicht durch eine rasche Biegung nach Süden; un­ weit davon öffnet sich am jenseitigen Ufer eine kleinere Thalschlucht, aus welcher ein schmuckes Dörfchen hervordringt, das sich behaglich unter Obstpflanzungen und Weingeländen bis an den Neckar herab und an ihm hin abwärts zieht. Da, wo es aufhört, beginnen vereinzelte städtische Wohnungen; blanke Landhäuser inmitten reicher Weingärten folgen dem Laufe des Stromes und dem Zuge des Gebirges, und wo dieses gegenüber dem Schlöffe in einem hohen Gipfel, ähnlich dem diesseitigen des Kaiserstuhls, endet, liegt an der äußersten Spitze des Thales und zum Theil schon hinter dem heiligen Berge versteckt ein zweites, mehr fleckenartiges Örtchen, Neuenheim. Dorthin um jene Ecke des Berges wendet sich die große

und lebhafte Straße, von Süden von der Schweiz und Frankreich kommend, der Bergstraße zu. Bon dieser selbst sind nur die nächsten höchsten Spitzen bemerkbar; von ihrem Fuße aus nach Westen zu dehnt sich eine breite, reiche Ebene aus, die sich weithin nach Süden fortsetzt. Dichtgedrängte Ortschaften liegen inmitten üppiger Saatfelder, Weingelände und Obstgärten, "prächtige Nußbaumalleen fassen die Landstraßen ein, welche nach allen Richtun­ gen, weithin sichtbar, die Fläche durchschneiden. Schrankenlos schweift der Blick über die blühenden Gefilde hin, von Mannheim, dem fernsten deutlichen Punkte nördlich, bis zu den Minarets im Schwetzinger Garten, welche südlich die Aussicht begrenzen, über den Rhein, deffen gewaltige Wogenfläche hier und da hervorglitzert, nach Rheinbaiern hinüber, wo er endlich an den malerischen Formen der Hardtgebirge haften bleibt, die in tiefblauen Tönen sich von den grünen Borbergen und der helleren Ebene abheben. Während in diesem reichen Anschauen dem jugendlichen Gemüthe die Ahnung unend­ licher LebenSfülle aufgeht, locken die stilleren und geheimeren Reize der Umgebung Heidel­ bergs zu sinnigen, empfindsamen Naturbetrachtungen. Die dunklen Schattengänge deö Schloßgartens laden zu einsamen Spaziergängen ein; überall in dem Gebirge zu beiden Seiten hin öffnen sich versteckte Schluchten, und verschlungene Stege reizen zu weiterem Vordringen und lassen immer anmuthigere Thal- und Waldpartien, immer neue Durch­ sichten, immer romantischere Ruheplätzchen entdecken. Wir verlassen an irgend einer Stelle den Fluß oder die Thalebene, wo das heitere, geschäftige Leben sich regt; wenig Schritte aufwärts und die vollkommenste Einsamkeit umfängt und; statt der lachenden Felder und Weingärten ernste, dichte Buchwaldungen, in denen wir stundenlang keiner Spur mensch­ licher Thätigkeit begegnen. Wir begraben uns in die Öde deö Odenwaldes, und dann plötzlich treten wir auf einen freieren Berggipfel, oder eine weitere Schlucht reißt sich vor uns auf, und da liegt wieder die ganze Pracht der Nheinebene vor uns. Wir sehen in der Ferne das alte WormS und die Thürme von Speier und den Triefels, wo König Richard gefangen saß, und davor die Trümmer des Hambacher Schlosses; und in diesem einen Blicke geht ein ganzes, großes Stück der Geschichte an uns vorüber; daö Nibelungenlied und das alte heilige römische Reich mit seinen weltlichen und geistlichen Kurfürsten und Fürsten und der Kaiser und Luther auf dem Reichstage und dann wieder die Kreuzzüge und dann wieder die Zeiten, wo dort von jenseits des RheinstromS her die wilden Schaaren TurenneS kamen, wo französische Soldaten mit den Schädeln deutscher Könige im Dom zu Speier Ball spielten, und wiederum die jüngste Vergangenheit, wo auf jenem Hambacher Schlosse die deutsche und französische Trikolore über demselben Stamme flatterten. Und diese Ge­ schichte, die wir hier in diesem einen Anschauen erleben, ist noch nicht aus und todt, sie setzt sich in der lebendigsten Gegenwart fort; sie wickelt sich zu unsern Füßen da unten in den mannigfachsten Berschlingungen auf und ab. Ein Netz von Grenzen liegt vor unö; jeder Blick trifft auf ein anderes Landesgebiet, auf einen andern deutschen Volksstamm. Dort nach Süden hin dämmert das alte Schwabenland; hier nördlich scheiden sich die Hessen von

Beschreibung.

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den Pfälzern ab; da drüben jenseits deS Stromes kämpft der rasche, französische Sinn der Rheinländer gegen die strenge allbairische Zucht; weiter hinab können wir sogar in jenes Frankreich selbst hineinblicken, das seit Jahrhunderten so schicksalsschwer für uns gewesen ist. Diese Dampfschiffe, welche den Rhein bedecken und Reisende aller Nationen fahren, sind bereit, uns hinauf bis an den Fuß der Alpen und hinab bis ans Meer zu tragen; und der rastlose Verkehr, der sich täglich an uns vorüber zwischen jenen Punkten hin und wieder bewegt, rückt dieselben uns nahe und mitten in unsern Gesichtskreis herein. AuS den Halleschen Jahrbüchern.

8. T r i e st. Nahe bei Triest hört der öde Karst auf; die Gegend wird freundlicher, wenn auch der ganze Gebirgstranz dieses Amphitheaters nur in kahlen Häuptern emporstarrt. Die Abhänge sind mit weißleuchtenden Villen geschmückt; alles ist Weinberg, die Geländer und Gehege sind noch mit Reben umrankt. Jetzt tritt der Berg mit dem Kastell hervor, dann die neue, glänzend schöne Häusermasse von Triest selbst, regelmäßig, durchsichtig, ein heiteres und klares Bild. Keine winklige, schmutzige Vorstadt führt uns hinein, man tritt sogleich in die Reihe der überaus schönen, hohen Gebäude, die Breite der Straße gewährt einen voll­ ständigen, ungehinderten Anblick; man ist mitten in der Herrlichkeit einer der schönsten und blühendsten Seestädte. Triest ist sehr schön gebaut. Das leicht heranzuführende Material hat großen Auf­ wand von Quadern gestattet, und der täglich wachsende Wohlstand ist besonders in den Gebäuden sichtbar. Die Straßen sind regelmäßig, die meisten durchschneiden sich im rechten Winkel. Ein breiter Kanal geht weit in die Stadt hinein, gedrängt voll kleiner Kauf­ fahrteischiffe. So hat man in den Straßen immer eine schöne Durchsicht entweder auf das Meer und den Hafen oder auf den Mastenwald des Kanals, auf die Berge mit den Villen oder auf das hohe Kastell. Erst nachdem ich mehrere Tage in Triest war, gerieth ich einmal in die Altstadt, die eng, verworren und unsauber um den Berg her gelagert ist, auf welchem daS Kastell steht. Die Neustadt ist erst entstanden, nachdem Kaiser Karl VI. Triest zum Freihafen erklärte (1719), und erst seit vierzig Jahren steht sie in ihrer heutigen Schönheit da. Venedigs Fall hat Triest so schnell werden lassen, was es ist, und mit jugendlicher Kraft hat sich sein Handelsleben reich entwickelt. Am Ende des langen Korso tritt man auf die Piazza della Borsa, auf welcher die Säule mit der Statue Karls VI. steht zur dankbaren Erinnerung an den zweiten Stifter Triests. Die Börse ist vortrefflich eingerichtet; sie hat große schöne Säle für die Versammlung der Negozianten, Lesezimmer, Kaffeehaus, oben Tanz- und Gesellschaftssäle; die Front ziert den Platz, die Rückseite den Quai am Hafen. Wenige Schritte weiter tritt man auf die Piazza grande, und von dieser bis gegen die Mitte des Korso hin herrscht immerwährend reges und zu einzelnen Tageszeiten ein sehr elegantes Treiben. Man sieht unter der Menge häufig Türken, Griechen und Serben in ihren orientalischen Trachten. Besonders an Markttagen gewähren die Piazza gründe, die Seiten­ straßen zum Meere und einige andere einen anziehenden Anblick durch das bunte, gedrängte Volksleben italienischer, deutscher und slavischer Gestalten. Die Früchte deS Landes und deS Meeres sind in großen Vorräthen aufgehäuft, Wagen voll Orangen und Limonen werden» mit lautem Geschrei auf- und niedergefahren. Man muß nicht versäumen, das Kastell zu besteigen; es beherrscht Stadt und Hafen und hat eine kleine Besatzung; die Aussicht ist köstlich. Man sieht die venetianische Küste und eine weite Strecke der Voralpen, das prachtvolle Meer und auf der Ostseite hinter der Stadt den Halbkreis des Gebirges, auf dessen von Natur unfruchtbare Abhänge der Fleiß und die Ausdauer der Anwohner so schöne Weingärten hingetragen hat; die Erde nämlich, aus der der edle Triestiner Wein hervorwächst, ist von Istrien hierher gebracht worden. Rach Pirchs Earagoli.

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Historische Prosa.

S. Der Petersburger Winter. Im Jahre 1836 im Monate Dezember warf jemand in Moskau eine Apfelschale zu einem kleinen Luftfenster hinaus. Dieselbe langte nicht auf der Straße an, sondern blieb zufällig auf dem Rande der Fensterbrüstung hängen und fror hier sogleich fest an. Sechs Wochen hindurch sah man diese Apfelschale steif gefroren über dem Abgrunde schweben, ohne daß auch nur ein einziges Mal eine warme Witterung sie erweicht hätte. Endlich am Anfänge Februar- sechs Wochen und drei Tage, nachdem sie zum Fenster hinausgestürzt war, thaute sie beim warmen Sonnenschein auf und fiel, ihren vor sechs Wochen begonnenen Sturz vollendend, auf die Straße hinab; gewiß ein anschaulicher Beweis von der eigen­ sinnigen Ausdauer des moSkowitischen Klimas im Bösen! In Petersburg kann Ähnliches sich nicht ereignen; denn in dem sumpfigen NewaDelta hat das Klima nicht die Unveränderlichkeit des mittleren Rußlands. Die mildernden Einflüsse der Ostsee stellen sich hier noch oft den eisigen Winden entgegen, welche Sibirien schickt. Regnichte Westwinde, kalte Nordostwinde, dichte Nebel und heilere Frosttage wechseln eigentlich während dieser Jahreszeit beständig und ringen mit einander die ganzen sechs Monate hindurch, so daß man weder im Januar vor Regen und Schmutz ganz sicher ist, noch auch im FrühlingSmonat vor Eis und Schnee, ganz anders als in Moskau, wo der Dezember sich noch nie zu einer Wafferthräne erweichte und im Januar ein Mann sich noch nie die Stiefeln auf der Straße beschmutzte. Dennoch aber fällt das Thermometer in Petersburg häufiger auf niedrigere Grade herab als in Moskau, und ebenso zeigt die Durchschnittszahl des ganzen Winters eine niedrigere Temperatur an, als die deS mittleren Rußlands ist. Petersburgs Klima schwankt beständig zwischen Extremen. Im Sommer steigt die Hitze bis auf 30 Grad und im Winter der Frost bis auf 30 Grad. Es giebt dies eine Entfernung der äußersten Punkte von mehr als 60 Grad. Bei keiner andern Stadt in Europa sind die Differenzen der Extreme so groß. Dazu kommt, daß, so wie Wärme und Kälte im Laufe deS ganzen Jahres schlecht vertheilt sind, sie auch ebenso dis­ harmonisch in den einzelnen Theilen des JahreS unter einander sich mischen. Im Sommer nach einem überheißen Morgen fällt oft nachmittags ein rauher Wind ein, der daS Ther­ mometer auf der Wärmeskala um 12 Grad hinabwirft, gleichsam als ob die Stadt wie ein Ball bald zum Äquator, bald zum Nordpole schwanke. Auch im Winter betragen die Differenzen von einem Tage zum andern nicht selten 12 bis 18 Grad. ES wäre natürlich unmöglich, in einem solchen Klima zu existiren, wenn nicht der Mensch gegen die wechselvolle Unbeständigkeit der Natur, deren Launen er durchaus nicht beherrschen kann, sein Leben durch Beständigkeit schützte und erhielte. Bei uns, wo die Übergänge nicht so schroff und die Gegensätze der Temperatur nicht so schreiend sind, ist eS eher möglich, den Veränderungen des WetterS zu folgen und bald den Überrock abzulegen, bald zum Mantel oder Pelze zu greifen, bald etwas Holz mehr in den Ofen zu werfen, bald etwas weniger. In Petersburg ist man aber nicht so beweglich. Es wird angenommen, der Winter beginnt im Oktober und endet nach siebenmonatlicher Dauer im Mai. Demgemäß hüllt man sich zu Anfang Oktobers in Pelze, die gleich auf alle möglichen Kältegrade berechnet sind, und legt dieselben erst wieder ab, wenn alle Stürme ausgetobt haben. Ebenso unbeweglich wie in der Klei­ dung ist man in der Warmhaltung der Zimmer, die immer gleich stark geheizt werden, damit daS Haus sich nie auSkühle; ganz ebenso, wie man ein- für allemal angenommen hat, die Schlittenbahn dauere fünf Monate, demzufolge man die Wagen im Oktober in Ruhestand versetzt und ununterbrochen in Schlitten fährt, es mag nun der Schnee fallen oder schmelzen. Nur leichtsinnige Ausländer versuchen es wohl den Bewegungen des Wetters zu folgen, büßen aber, da sie zu ungeschickt darin sind, ihren Vorwitz mit Krankheit, zuweilen mit dem Tode. Gewöhnlich also geht das Leben im Winter, es mag nun regnen oder schneien, frieren

Beschreitung.

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oder thauen, seinen alten gewohnten Gang. Tag für Tag knistern die Birkenbäume im Ofen, einen Tag um den andern rutschen die Schlitten in den Straßen herum, beständig werden die öffentlichen Wärmestuben für die armen Leute geheizt und regelmäßig die öffent­ lichen Feuer auf der Straße, in der Nähe der Theater, für die Kutscher u. s.w. unterhalten. Nur wenn die Kälte ausnahmsweise zu außerordentlicher Höhe steigt, treten bedeutende Veränderungen in der Bewegung auf den Straßen ein und im Anblick deS Ganzen. Wenn eS heißt: „ DaS Thermometer ist auf 20 Grad herabgesunken," dann spitzt man die Ohren, beobachtet den Wärmemefler und zählt die Grade. Bei 23 bis 24 Grad wird die Polizei wach, die Offiziere machen Tag und Nacht die Runde, um die Schildwachen nnh Butschniks wach zu erhalten und die im Schlafe Überraschten auf der Stelle tüchtig strafen zu laffen, denn der Schlaf ist in diesem Falle daS sicherste Mittel zu einem sanften Hinübergleiten aus dieser Welt in jene. Mit 25 Grad hören die Theater auf, weil nicht mehr die nöthigen Sicherheitsmittel für die Schauspieler und die Kutscher getroffen werden können. Die Fuß­ gänger, die sonst in Petersburg einen ziemlich bedächtigen Schritt haben, laufen alsdann so eilig, als hätten sie die wichtigsten Geschäfte, und die Schlitten, die schon vorher ziemlich flink sich bewegten, fliegen nun im Galopp über den schreienden Schnee. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber gewiß ist, daß 20 Grad Kälte in Petersburg unendlich mehr bedeuten und weit schädlicher wirken als bei unS. Gesichter bekommt man dann gar nicht mehr auf den Straßen zu sehen; denn alles hat sich die Pelze über Kopf und Hut gezogen. Die Furcht, Augen, Ohren und Nase durch den Frost zu verlieren, beängstigt jeden, und da sich das Abfrieren durch kein unangenehmes Gefühl vorher ankündigt, so hat man genug zu denken, daß man nicht eine der verschiedenen Extremitäten des Körpers vergesse, sondern zu Zeiten etwas reibe. „Väterchen, deine Nase!" erinnert der Vorübergehende den Entgegen­ kommenden und reibt ihm ohne Umstände seine kreideweiße Nase mit Schnee ein. Mit den Augen hat man ebenfalls viel zu thun, weil sie alle Augenblicke zusammenfrieren. Man tappt dann in die erste beste Hausthür hinein und bittet die Leute auf ein paar Augenblicke um ein Plätzchen am Ofen, indem man dann hinterher eine zerthaute Thräne des Dankes dafür vergießt. Die Kälte Petersburgs ist allerdings viel empfindlicher als die unsrige, aber die Petersburger, wie alle Nordländer überhaupt, sind auch viel empfindlicher für die Kälte. Alle Ausländer, selbst Italiener, Spanier und Franzosen, sind bei weitem kühner und weniger zärtlich. Handschuhe, bei und ein Luxusartikel, sind in Rußland ein für jedermann unentbehrliches Kleidungsstück, und selbst die Bauern arbeiten nie ohne Handschuhe hinter ihrem Pfluge. Man sieht Verhüllungen von Personen mit Gürteln, Pelzen, Tüchern, KapotS, Kopf- und Ohrennetzen, wie sie bei uns gar nicht vorkommen und die der Fremde anfangs verschmäht, allmählich aber auch anlegt. Die russischen Öfen sind in ihrer Art das Vollkommenste, was Menschen erdacht haben.

Sie sind aus Kacheln gebaut und der Feuerzug windet sich in ihnen so vielfach auf und ab, daß die Hitze oft einen Weg von 100 Fuß Länge und mehr darin machen muß, ehe sie jn den Schornstein entlassen wird. Die große Steinmasse des OfenS erwärmt sich nur sehr langsam, während unsere eisernen gleich in wenig Minuten glühen) sie hält aber die Hitze desto länger in sich und wärmt, einmal geheizt, den ganzen Tag über. Man heizt fast durch­ gängig in Petersburg mit Birkenholz, daS am billigsten in der Umgegend zu haben ist und dabei viel dauerhaftere Kohlen giebt als das Holz der Nadelbäume. Und eben auf reichliche Kohlenbildung kommt es bei der russischen Heizungsweise hauptsächlich an. Denn während bei uns eigentlich nur die Flamme heizt, läßt man in Rußland dieselbe erst ausbrennen, und so viele Birkenstämme auch im Ofen verknisterten, so wird doch sein Inneres kaum davon durchwärmt. Erst wenn die Juschka (eine eiserne Platte und darüber gelegte Kapsel), die den Ofengang doppelt verriegelt, geschlossen ist, fängt die Wärme an, etwas im Zimmer durchzuwirken. Die russischen Ofenheizer sind sehr geschickt in allen bei dieser Heizart noth­ wendigen Verrichtungen. Zangen und Schaufeln kennen sie nicht, und sie haben kein anderes

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Instrument alS einen langen eisernen Feuerhaken, mit dem sie beständig den Kohlenbrei in dem Ofen umrühren und bearbeiten, die Kohlen zerschlagen und die noch nicht ganz aus­ gebrannten nach vorn bringen und dem Zuge mehr aussetzen. In jedem großen Hause giebt eS einen oder ein paar Ofenheizer, die den ganzen Tag nichts weiter zu thun haben, als die Öfen zu versehen, das Holz herbeizuschleppen und vorzubereiten. Damit die Herren deS Morgens beim Kaffee das Zimmer warm finden, müssen jene guten, alten, dienenden Geister ihre Arbeit bereits in der Nacht beginnen. Gewöhnlich bauen sie schon am Abend vorher recht künstlich ihren Holzmeiler im Ofen auf, damit die Birken noch ein wenig nachtrocknen, und zünden, dann früh am Morgen mit Kien und Fichtenholz daS Ganze an. Die Ein­ und Ausgänge sind gewöhnlich in den langen Korridors der Häuser, welche dadurch, wie das Vorderhaus, das aber in der Regel noch mit eigenen Öfen versehen ist, gänzlich mit

geheizt werden. Man kann'sich denken, welche wichtige Rolle der Ofen auch in den Häusern der ge­ meinen Ruffen spielt. Er ist hier eine zu einer außerordentlichen Größe gediehene Maschine, die zugleich als Koch-, Heiz- und Backapparat dient. Rundumher laufen Bänke zum Ge­ nießen der Wärme ; denn diesen Nordmenschen ist das Wärmeeinsaugen und alles , was damit zusammenhängt, daS Schwitzen, Sonnen u. s. w., ein eben solcher Genuß, wie das Ausruhen und Schlafen. Es sind viele kleine Vertiefungen und Löcher in dem Ofen an­ gebracht, um tausenderlei Dinge darin zu trocknen, und nasse Strümpfe und Kleider hängen immer daran herum. Auf der Plattform des Ofens liegen Betten, in denen sie, noch in Schafspelze gehüllt, deS Nichtsthuns und der Wärme sich erfreuen. Nicht wenig zum Zusammenhalten der Zimmerwärme tragen die doppelten Fenster bei, die in Petersburg wie in ganz Rußland üblich sind. Kaum tritt im Oktober der erste starke Frost ein, so rüstet man daS ganze Haus zu, verpickt alle kleinsten Öffnungen und setzt

überall doppelte Fenster ein, deren Fugen mit Papier überklebt werden. Fast jeder Bauer hat Doppelfenster. Kaum wird hier und da ein Luftfensterchen gelassen, und man kann sich denken, welche Freude, welche Heiterkeit und Frische in die Zimmer zieht, wenn endlich, endlich im Mai diese beengenden Verhüllungen wieder abgenemmen werden und die Fenster zum ersten Mal wieder sich öffnen können, hinter deren Verschluß man saß, wie Noah in seiner Arche. In der Höhlung zwischen den doppelten Fenstern pflegt man Salz oder Sand auSzubreiten, welche Substanzen die sich sammelnde Feuchtigkeit anziehen sollen. Das Salz häuft man in allerlei zierlichen Formen auf, die unberührt bis zum Frühlinge liegen, und daS Sandbeet bepflanzt man mit hübschen Kunstblumen, die daun ebenso lange in diesem Käfige blühen. Jedes HauS hat darin seine eigenen Einfälle und seine besondere Weise, und man geht wohl an einem hellen Wintertage gern durch die Straßen, um den Schmuck der Doppelfenster zu betrachten. Die Thüren bleiben nicht hinter den Fenstern zurück. Man findet nicht nur doppelte, sondern zuweilen selbst drei- und vierfache. Die kleinrussischen Bauern haben bei ihren Erdwohnungen einen verdeckten Gang, durch den man über einige Stufen zu der Thür des HauseS hinabgeht; an den Petersburger Häusern ist ein ähnlicher, nur daß man einige Stufen zur Hausthür aufwärts geht und daun noch eine Thür zu passiren hat, bevor man in das geheizte Vorhaus gelangt. Bei unS leiden die Armen in kalten Wintern erstaunliche Noth. Es ist kein Zweifel, daß sie in Petersburg viel ansehnlichere Mittel haben, sich vor Kälte zu schützen. Die öffentlichen Anstalten, die man für sie getroffen hat, die Wärmestuben, die in verschiedenen Stadttheilen sich finden, und die in eisernen Häuschen bei den Theatern brennenden Feuer, woran die Kutscher sich wärmen, sind noch das Wenigste. Aber die dicken Pelze und Kleider, in deren Besitz auch die Bettler sind, die dichten Wohnungen, die alle, selbst die Hütten nicht ausgenommen, lüft- und wasserdicht sind, bieten treffliche Schutzmittel. Bei 25 Grad erhalten alle Schildwachen in Petersburg Pelze. Nichtsdestoweniger ist es natürlich, daß bei den barbarischen Kältegraden manches warme Menschenleben zu Grunde geht. Doch

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sind die Sitten der Bewohner weit mehr Schulv daran als die Dürftigkeit ihrer Schutz­ mittel, und zwar vor allem drei Dinge, die Trägheit des Volks, das Branntweintrinken und die Rücksichtslosigkeit der Reichen. Die Russen, so sehr lebhaft sonst ihr Humor ist, lieben doch durchaus keinerlei Art von Anstrengung, und geistige, wie körperliche Gymnastik ist ihnen verhaßt. Sie ziehen es daher in der Kälte vor, sich hinter den Ofen oder in Pelze zu verkriechen und still auszu­ halten, anstatt, wie jeder Nichtrusse thun würde, mit Hand und Fuß sich gegen die Kälte zu wehren. Das unmäßige Branntweintrinken vergrößert die Gefahr, denn Trunkenheit und Schlaf sind beinl Frost daö Allergefährlichste. Da nun jeder plötzlich eintretende Frost eine Menge Trunkener und Schlafender auf den Straßen findet, so kann man sich denken, daß der Opfer nicht wenige sind. Die Zahl derselben wird durch die Rücksichtslosigkeit der Vor­ nehmen vermehrt. Es ist unglaublich, was man den armen Vorreitern, Dienern und Kutschern zumuthet. Bei Besuchen läßt man sie, sei es auch das härteste Wetter, stundenlang auf der Straße warten, um sie jeden Augenblick bereit zu haben. Die Kutscher schlafen dann auf ihren Böcken ein, und die kleinen zwölfjährigen Vorreiter, die noch nicht bis Mitter­ nacht wachen gelernt haben, hängen schlummernd auf ihren Pferden oder legen sich, den Zügel an den Arm gebunden, auf den gefrorenen Schnee des Straßenpflasters hin. Wie manchem armen Kutscher froren so Nase, Hände und Füße ab, während seine Herrschaften sich der ausgezeichnetsten Ohren- und Gaumengenüsse erfreuten! Die höchsten Kältegrade fallen gewöhnlich nur bei heiterem, ruhigem Wetter ein, und das prachtvolle Petersburg hat daher in der Regel bei 30 Grad Kälte seinen schönsten, heitersten Tag. Der Himmel ist hell, die Sonne leuchtet brillant und zwar um so brillanter, da ihre Strahlen durch Millionen kleiner blinkender Eiskrystalle hindurchschießen, mit denen die Luft gleich einem Diamantenstaub erfüllt ist. Aus allen Häusern und selbst aus den geheizten Kirchen wirbeln dicke Rauchsäulen, die in der atherklaren Luft so dicht erscheinen, als ob in jedem Hause eine Dampfmaschine stände, und dabei in allerlei Farben spielen. Schnee und Eis auf den Straßen und der Newa sind weiß und reinlich, als wäre alles aus Zucker gebacken. Die ganze Stadt hat das zierlichste Gewand von der Farbe der Unschuld, und sämmtliche Dächer blitzen von einer gleichmäßigen Lage schimmernden Krystallstaubes. Alles Wasser gefriert, wie man es ausgießt, und die Brunnen, die Pferdetränken, die Schöpfanstalten, die Wasserfuhrleute und ihre Wagen, die Wäscherinnen an den Kanälen, alles erscheint weiß, mit Eis inkrustirt. In den Straßen zeigt alles, um dem Tode zu ent­ gehen, das regste Leben. Alles rennt und jagt so hastig, weil jedem der Sensenmann buch­ stäblich auf den Fersen sitzt. Der getretene Schnee knistert und heult die sonderbarsten Me­ lodien , und selbst alle andern Klänge und Laute nehmen in dieser kalten Atmosphäre andere Klänge an. Es liegt Wahrheit in der Redensart: „Es friert, daß es brummt;" denn be­ ständig zieht ein leises Rauschen oder ein säuselndes Brummen durch die Luft, das von dem erklingenden Schnee UNd ßise kommt. Aus KohlS Reisen in Rußland.

10» Norwegens Natur. Welche KüsteNichts von den Dünen deS deutschen Meeres oder der Ostsee, auch nichts von den senkrecht abgeschnittenen Lehm- und Mergelwänden, auf denen zuweilen der Buchwald bis über die äußersten, unterhöhlten Spitzen hängt! Ebenso wenig erblickt man grünschimmernde Saaten, die über den flachen Strand ins blaue Wasser schauen, oder Stranddörfer und Fischerhütten zwischen dem schwarzen Tannenwalde, der im gelben Sande wurzelt. Hier stehst du zuerst an dem ungeheuern Felsblock, den, wie die Sage berichtet, der Teufel herbeischleppte, als die Erde schon fertig war, und der nun die skandinavische Halbinsel bildet. Der Weltherr blickte mitleidig darauf hin; er hatte jedoch von der frucht­ baren Erde nur noch eine kleine Hand voll, und diese streute er kümmerlich darüber auS, um

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doch etwas Grün und Säume hervorzulocken. Daher kommt es denn, daß man in einzelnen Thälern, wo die Erde dichter fiel, wohl auch Fruchtbarkeit antrifft, der größte Theil aber nackt und kahl geblieben ist und noch den Fluch des Teufels trägt. Der ungeheure Felsen, aus dem Norwegen besteht, ist von liefen Spalten durchsetzt, in denen die Flüsse und Bäche hinziehen. Diese Spalten sind die Thäler; in ihnen wohnen die Menschen mit ihrem Fleiß, mit ihrem mühseligen Feldbau und ihren Herden. Will man nun von einem Thale ins andere, so giebt es keinen anderen Weg, als hohe Berge zu überklettern, die zuweilen ewigen Schnee tragen, zuweilen auch mehr abgedacht sind. Aber alle diese Berge sind nicht spitz zulaufend, sondern Gebirgsrücken, welche oben große Flächen bilden; darum heißen sie auch Felder (Fjelde), und solcher Fjelde giebt es viele von größe­ rem und kleinerem Umfange. Alles ist Fjeld, was oben sich ausdehnt, und nur die einzelnen Erhebungen darauf, die Spitzen, welche aus diesen Massen hervortreten, werden wieder mit besonderen Namen, gewöhnlich Knoten (Knuden), in norwegischer Aussprache Nuten, ge­ nannt. Darum erfordert es oft viel Zeit, einige Meilen fortzukommen, und manche Mühe und Gefahr, den Nachbar zu besuchen, der jenseits des Fjeldes im nächsten Thale wohnt. Zuweilen ziehen sich die Fjelde in senkrechter Steilheit hinauf und fallen ebenso nieder. Schwindelnde Fußsteige führen dann wohl zwischen den Klüften hin, und ein beherzter Fuß mag sie wandeln; aber häufig müssen auch große Umwege gemacht werden; denn unten in der Thalsohle sammeln sich gewöhnlich die Wasser und bilden durch ihre zahllose Menge ganze Ketten größerer und kleinerer Gebirgsseen, aus denen stufenweis von Thal zu Thal bis zum Meere die Flüsse hinabstürzen. Durch diesen unermeßlichen Wasserreichthum wird das ganz von Gebirgsmassen durchwebte Land die wahre Heimat der Wasserfälle. Zahllose Gebirgsbäche kommen stark und rauschend von den hohen Fjelden herab, in deren Seen sie ihre Sammelplätze haben, und so hat die Natur Norwegen mit einem Element beschenkt, dessen nutzbare Kraft unerschöpflich ist und alle Dampfmaschinen überwiegt, welche anderen Ländern künstlichen Ersatz geben müssen. Unzählige Schneidemühlen werden dadurch in Bewegung gesetzt, alle Werke der Industrie mit Hülfe deS Wassers betrieben; aber es könnten tausend und aber tausend mehr dabei bestehen, ja man kann behaupten, daß die Gesammtindustrie der Erde von den Flüssen und Bächen Norwegens in Betrieb erhallen werden könnte. Überall da, wo die Flüsse sich in die Buchten der Fjorde ergießen, findet man einen Wall und dahinter einen Süßwassersee. Eide werden diese Stellen genannt, und genau sieht man ihnen meist an, wie sie einst entstanden. Mächtige Revolutionen bildeten diese Schutz­ wehren von Blöcken und Geröllen, die zuweilen in höchst merkwürdiger Weise, mehrere hundert Fuß hoch, das Süßwaffer vom Salzwasser trennen. In solchen Kesseln sammelten sich nun die Alpenbäche und bildeten die kleinen Seen von Mertelmeilenlänge, aber großer Tiefe, in welche die Felsenwände oft senkrecht niederstürzen. Waren sie angefüllt bis zum Überlaufen, dann sprengte endlich der Druck der Wasser die Wend und daS Süßwasser bahnte sich seinen Weg in den Fjord. So muß eS ungefähr gewesen sein; aber wie vieles ist daran dunkel! Welche gigantische Hand riß diese Felsen nieder und baute mit ihnen die Wälle auf? Welche unermeßliche Gewalt wühlte in allen diesen harten Felslagern der Ur­ gebirge und ließ die Meeresflulen tief in den tiefsten Schoß der Berge dringen? Ein un­ heimliches Gefühl muß jedes Herz beschleichen, ein geheimes Beben vor dem Ungeheuern, Unerforschlichen, dessen Wirkungen wir sehen, dessen Ursachen wir aber nicht ergründen können. Zwanzig, dreißig Meilen tief dringen zahllose Meeresarme in die hohen, schnee­ tragenden Felsen. Der Wanderer irrt durch die nackten Klippen; er windet sich durch die unermeßlichen Labyrinthe von Sumpf und Wildnis. So weit sein Auge reicht, erkennt er nichts als die Öde eines Alpenhochlands. Plötzlich aber stockt sein Fuß, schaudernd springt er zurück, er steht an einem gähnenden, schwindelnden Abgrunde, an einem Spalt, der drei-, viertausend Fuß tief senkrecht eingeschnitten, ihn auf viele Meilen Länge von dem jenseitigen

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Ufer trennt. Und was er unten erblickt, der schmale Wasierstreif, welcher zu ihm heraufblitzt, es ist das Meer, von dessen Nahe er keine Ahnung hatte. Und doch ist es so. Nehmt diesen gläsernen, beweglichen Boden fort, und ihr würdet zahllose stille, tiefe Thaler haben, in denen Menschen wohnen und Herden weiden könnten, wo jetzt der gierige Hai beutesuchend umherschwimmt und Ebbe und Flut den langen Seetang an die Felsen schaukeln. Wie wunderbar, wie seltsam ist das! Wie ist das salzige Element hereingedrungen mit seinen Ungeheuern der Tiefe? Wer öffnete ihnen den Weg, wer schickte sie in diese tausendfach ge­ wundenen Felsen, in diese enggähnenden Spalten, wo Lawinen hinabdonnern und Stürme rasen, vor denen kein Leben bestehen kann? Sie sind da, das ist alles, was wir sagen können; doch vergebens bestrebt sich der menschliche Witz auszuklügeln, welchen Weg die Schöpfung gewandelt. Sie sind da, diese wundersamen Fjorde, und wie ist der Tag zu preisen, an dem sie entstanden! Das Meer macht den Menschen regsam, es trägt ihn leicht von einem Ort zum andern, es erleichtert alle seine Verbindungen, es liefert ihm seinen Überfluß an Geschöpfen; wenn die tiefen Thäler der Fjorde trocken lägen, wie viel würde Norwegen dadurch entbehren? Denn eben an diesen Fjorden entwickelt sich ein höherer Grad von Kulturfähigkeit. An den Fjorden liegen die Handelsstädte des Landes, an ihnen grünt eS und blüht eS in zahllosen lieblichen Thälern; hier öffnen sich Gärten voll der eigenthümlichsten Reize, hier auch wohnt ein kräftiger, schöner Menschenstamm, der, voll Muth und Lebenskraft, schon vor Jahr­ hunderten die Welt mit seinen wilden Thaten erfüllte; denn hier an den Fjorden ist das eigentliche Vaterland der alten Wikinger und Kämpen. Von hier aus zogen sie in ihren langgeschnäbelten Schiffen unter den grausamen Seekönigen nach Schottland, England, Deutschland, Frankreich und Italien und kehrten zurück, mit Beute und Sklaven beladen, die nicht selten wohl unter dem Opfermeffer am Altare der finsteren Götter endeten. In diesen Fjorden schaarten die Häuptlinge auch ihre Heere, wenn sie sich gegenseitig bekämpften; denn daS streitlustige Geschlecht verzehrte sich selbst wie die Drachensaat, welche Jason auswarf. Aus MüggeS Reise durch Skandinavien.

11. Die Wafferwelt der Alpen. In dem Bilde unserer Alpenlandschaften nehmen die Gewäffer in ihren verschiedenen Gestalten eine sehr wichtige Stelle ein und beleben sie in ihrer Weise ebenso sehr, wie die Pflanzen- und Thierwelt. Sie sind die Seele des Thales. Ohne Waffer ist auch das üppigste Thal, die fruchtbarste Ebene in einem gewissen Grade leblos und reizlos. Ein breiter Bach, ein kleiner See zaubert hundert neue Farben und Töne in das Bild und bringt nicht nur den Spiegel seiner Wellen mit, sondern eine ganze kleine Welt von Pflanzen und Thieren, welche die einförmige Breite der Landformen fröhlich unterbricht. Die höhere Alpenregion ist besonders reich an Wasseradern; ihre Thäler sind zwar zu kurz, um Flüsse zu beher­ bergen; sie sind auch zu schmal und enge für größere Seebecken, dafür aber ist jene Alpen­ region die Geburtsstätte unserer großen Ströme und umfaßt ein höchst mannigfaltiges Quellengebiet. Tessin, Rhein, Reuß, Aar und Rhone nehmen ihren Ursprung in den Umgebungen des Gotthardstockes, die Linth auf der Sandalp, der Inn am Septimer, die Saane am Sanetsch, die Emme am Rothhorn, die Landquart am Selvrettagletscher: kurz, alle Hauptströme und die meisten Flüsse der Schweiz werden in den Hochalpen geboren. Ihre Wiegen sind aber sehr verschiedenartig. Bald entspinnen die jungen Ströme sich aus Moorwiesen, bald entfließen sie kleinen Bergseen oder großen Gletschern; manchmal sind sie ursprünglich blos zusammengesickerte Felsenausschwitzungen, oder aber sie entsprudeln als reiche Quellen dem Boden und bilden sofort ordentliche Bäche. Ihre Zuflüsse sind zahllos; man hat berechnet, daß nur im rhätischen Gebiete 370 Gletscher ihre Abflüsse an den Rhein abgeben, 66 Gletscher an den Inn, den einzigen Bach, der lange durch die Alpenzone strömt

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und in ihr zum Flusse wird, 25 Gletscher an die Etsch und den Po. Wer im Frühlinge die Alpen besucht und sieht, wie von allen Schneefeldern, über alle Felsen, auS jeder Bergfürche kleinere oder größere Bächlein niederströmcn, wird sich einen Begriff von der unendlichen Waffermasse bilden, die auS dem ganzen, gewaltigen Alpengebiete in daS Tiefland geht und dort so vielfach zur Bedingung der Fruchtbarkeit und des Verkehrs wird. Am mächtigsten ist aber der Wasserabgang zur Zeit der heißen Föhnwinde und warmen Regenniederschläge. Überall entstehen dann neue Wasseradern. Kleine Kieselbäche werden zu trüben, tobenden

Strömen; die Abtropfbretter der Gletscher sind von hundert sprudelnden Rinnsalen durch­ zogen. Wie viele Millionen Eimer Wassers das Rheinbett jede Minute aus den Hoch­ gebirgen entführt, mag man ahnen, wenn man sich erinnert, daß zur Zeit der Schnee­ schmelze das 33 Quadratstunden haltende Bodeuseebecken 8 bis 10 Fuß steigt, im Jahr 1770 aber um 20 bis 24 Fuß sich gehoben hat. Bei manchen Strömen ist es schwer, die eigentliche Quelle anzugeben, besonders wenn mehrere Bäche von ungefähr gleicher Stärke Zusammentreffen und nicht eine Bachader als Stamm deS Flusses sich heraushebt. Doch gilt der Grundsatz, daß den eigentlichen Quellbächen stets vor den bloßen Gletscherabflüssen der Vorzug, gegeben wird; jenen bezeugen die Alpenbewohner überhaupt Verehrung, diesen Verachtung, da die wilden Gletscherwasser kalt, trübe, rauh sind und für ungesund und entkräftend gelten, die lebendigen Quellen aber rein, klar und so warm, daß sie selbst im Winter oft eine grüne Vegetation an ihrem User erhalten. Ist der Bergkamm, über den der Abfluß hinuntergehl, von steiler Böschung, so wird der Bach zum Wasiersturz, und da überhaupt gerade das Grundgestell des Kalkgebirges die jähsten Felswände aufweist, so sind so viele der schweizerischen Bergthäler äußerst reich an schönen Wasserfällen. In allen höheren Revieren sieht man diese schwankenden Schaum­ faden an den Felsen hangen cder hört die jungen Bäche über die großen Felsenstufen ihrer Schluchten herunterkommen; aber auch in der niederen Bergregion hangen nach Hoch­ gewittern oder in der hohen Schueeschmelze die Kaskaden dutzendweise an allen Wänden, verschwinden aber zum größten Theile wieder in der Hitze des Sommers. Die echten, stehenden Wasserfälle aber, diese vielbewunderten Naturschauspiele, zeigen in Formen und Farben und Tönen jeder eine ausgeprägte Eigenthümlichkeit, ein eigenes Rauschen, eigen­ thümliche Dekorationen, Wassermassen, Beleuchtungen. Der eine rauscht melancholisch dumpf in einer grottenartigen Vertiefung mit starkem Gewässer; er hat sich mit seinen feuchten Zähnen einen tiefen Kessel auSgesressen, den er halb ausfüllt und halb durchsägt hat für seinen Abfluß. Die untere Hülste teS Falles trifft nie ein Sonnenstrahl; während die obere in der glühenden Ab«endbeleuchtung wie ein goldener Lavastrom daherstürzt, stiebt die untere mit grauen Nebelgebilden, die der eigene Luftzug phantastisch an dem Berge hinjagt, aus der triefenden Schlucht auf. Ein anderer Sturz ist tief im Fichtenwalde verborgen; plötzlich öffnet sich dieser wnd über der breiten Felswand spannt der starke Bergbach zwei-, dreitheilig seine feuchten Gewänder aus. Ein anderer Fall hängt ganz in der Luft. Eine vorspringende Schieferplatt«e weist die daherstürzenden Gewässer weit über den Felsen hinaus. Die Wand ist hoch, der Bach kann seine Wellen nicht zusammenhalten; sie lösen sich, wie beim Staubbach im Lanterbrunnenthale, in ein Netz von schimmernden Nebelperlen auf, daS scheinbar mit Mühe den Boden erreicht, dort sich rasch sammelt und nach dem ungeheuern Sprunge, in dem er sich allen Lüsten geopfert hat, wieder als ein munterer, kompakter Bach, als wäre nichts passirt, weiter geht. Bon fern nehmen sich diese Staubbäche ganz geisterhaft aus, besonders des Nachts. Dann flattern sie Schatten gleich unstet, in ewig sich verändernden Formen, grauweiß, mit hohlen, säuselnden Tönen am Felsen hin und her; bei Tage aber, wenn die Sonnenstrahlen in günstiger Brechung sie treffen, gleichen sie funkelnden Palmen, die fröhlich in immer neu sich gebärenden Gestalten an der Bergwand wallen. Oft auch stürzen pinge Strome mit muthiger Kraft von Absatz zu Absatz die Felsen­ terrassen herunter ; sie bilden zwei, drei und mehr einzelne Stürze, von denen jeder in

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Breite und Tiefe und Umgebung auch ein eigenes Ganzes ist, während sie in ihrem Zu­ sammenhänge ein bewundernswerthes Schauspiel darstellen. Oft breitet sich der Sturz in ganzer Fülle vor dem Auge aus, oft verhüllt einen Theil der schwarze Tannenwald, oft ein vorspringender Fels,, ein Busch: .keine von den lausend Kaskaden gleicht der anderen; jede aber ist ein höchst belebender Zug der Gebirgslandschaft. Während des Sommers und bis in den Herbst hinein bilden von Zeit zu Zeit die Bergbache oder Runsen die gefürchtetsten und verderblichsten Naturerscheinungen. Fällt im Sommer entweder auf . einmal oder in anhaltenden Regengüssen eine große Wassermenge, oder löst im Herbste der Föhnsturm mit fürchterlicher Gewalt die frühen Schneemaffeu der Berge auf, und folgt ein tüchtiger Regen, so schwellen in wenigen Stunden die Runsen zu wilden Strömen auf. Sie fallen über die steilen Böschungen der Felsenmauern donnernd ins Thal herab und füllen ihre breiten, trümmerreichen Rinnsale. In trockner Zeit findet man das Bett entweder ganz leer oder nur von einem dünnen, klaren Bächlein durchzogen; der Fremde verwundert sich über die Breite des steinigen Bettes, über die ungeheuern Schuttmassen, die an seiner Seite liegen, über die cyklopischen Wuhrsteine, die eS abdämmen. Er verfolgt es mit seinem Blicke nach der Höhe zu, sieht die oft 60 bis 100 Fuß tief aus­ gefressenen Schluchten, die das Wasser sich gegraben, und die breiten Straßen, die eS durch die alten Hochwälder gerissen hat. Wir kennen kaum etwas Grausenerregenderes, als diese Wasserdämone in voller Thätigkeit. Hoch oben am Berge sieht man sie auf mildgeneigten Triften gelbe Fluten sammeln; in jähem Sturze reißen sie mit rasender Gewalt die größten Felsblöcke durch ihr Bett herab, führen stehende Tannen, Geröll, Sand und Erde in schwarzbraunen Wellen mit und dehnen sich dem Thale zu, oft plötzlich durch gewaltige Stauungen aus dem Bette geworfen, über die bebauten Wiesen und Äcker aus, bis sie den

Fuß der Thalsohle erreicht haben. Der Donner dieser Stürze, das Poltern und Krachen der über einander wild hinrollenden Steinblöcke tönt weit durch Berg und Thal und erfüllt die Bewohner des Geländes mit Entsetzen. Mit Stangen, Hacken und Schaufeln eilen sie auf die Wuhrdämme, um die Aufstauungen möglichst zu hindern und zu zertheilen; alles, waS eine Schaufel führen kann, steht hülfreich an den empörten Runsen, und daS Schreien, Rufen, Jammern der Menschen mischt sich mit dem Krachen der Felstrümmer. Wer einmal in einer bangen Mitternacht diesem gräßlichen Schauspiele beigewohnt, vergißt es nie wieder. Die schönsten Wiesen werden in wenigen Stunden mit zehn bis fünfzehn Fuß hohem Schutt überführt und auf ewig in todte Steinhaufen und Sandwüsten umgewandelt, aus denen nur noch die Kronen der Obstbäume traurig herauSragen. Nicht selten verändert die Runs plötzlich ihren Lauf, reißt Häuser und Ställe mit Blitzesschnelle fort und vertilgt im nu das Besitzthum vieler Familien. Ihre Verheerungen haben schon manches schöne grüne Wiesen­ thal der Schweiz vertilgt und scheinen bei der Übeln Waldwirthschaft eher im Fortschritt als in Abnahme begriffen zu sein trotz der gewaltigen Wuhrbauten, die man bis hoch ins Ge­ birge angelegt hat. Wenn der Wanderer an dem öden Felsenbette eines schäumenden grünlichen Berg­ wassers hingegangen, wo rechts und links von den steil abstürzenden Alpenzinnen nur Geröllbalden, mit spärlichen Gebüschen besetzte Betten der im Frühjahr thätigen Alpenbäche und einzelne halb übermooste Felsblöcke zu sehen sind, wenn sich der Ausblick in die Ferne verloren hat, der Weg immer steiler und rauher wird und die Felsen immer enger zusammen­ rücken — plötzlich auf der Höhe des Paffes öffnet und weitet sich Himmel und Erde, daS hellgrüne Thal mit dem dunkelgrünen See liegt vor den entzückten Blicken, wie aus Ehr­ erbietung vor dem stillen, wehmüthigen Ernst der Landschaft sind ringS im Kreise die nackten Pyramiden der Berge zurückgetreten. Dunkle Buchen- und Tannenwälder reichen hin und wieder an das Wasser, das ihre Bilder und die der Berge mit den einzelnen Schneefeldern dankbar und klar nachzeichnet. Hinter dem See liegt eine duftige Mattenwelt, mit leuch­ tendem Grün in leichten Übergängen zu den Alpen ansteigend, welche im Hintergründe die

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Landschaft schließen. So> simd die unteren Gebirgsseen fast nach allen Seiten hin malerisch und reizend geschmückt. Jhrce Färbung ist nicht beständig; oft sind sie tiefblau, oft dunkel-, oft hellgrün, oft trübe weüßllich. Ihre Tiefe und der Grund ihres Beckens ist wenig genau untersucht, aber wahrscheinlich ist letzterer voller Felsen und Klüfte und gewöhnlich auch quellenreich. Die Bergbtewnhner rühmen den Fluten ihrer Seen gern eine unergründliche Tiefe nach und beleben diiese.', den Zug der Natur zum Geheimnisvollen und Wunderbaren theilend, mit ungeheuerlichem Fischgestalten. Von den Hängen der nahen Felsenmauern brausen bald wilde Runsien iin daS Becken deS stillen Sees und ziehen weithin schmutziggelbe Streifen in die Fluten; barld schwanken die flatternden Schleier dünner Waflerfälle am Felsufer und rieseln danm alls klare und stete Bäche farblos in daS geebnete Wellenreich hin. Einzelne Hügelvorsprüng,e older felsige Fortsetzungen deS Gebirgszuges ragen in die Becken­ mündung hinein und bilwen verborgene, trauliche Buchten, seltener grüne Inseln. Einzelne Hirten- oder Fischerwohmuncgen, manchmal kleine Dörfchen siedeln sich am Gestade an, und die fleißigen Menschen smchem ihr Brot bald in der Tiefe des Wassers, bald an den grünen Gallerten der nahen Gebürgte. Von den unteren G'ebirrgsseen unterscheiden sich vielfach die höher gelegenen, tiefgrünen, blauen oder weißlichgramen Älpenseen, die eine schöpferische Hand so reichlich über das Ge­ bilde von Bergen und Tchälerrn hingestreut hat. ES sind nur ganz kleine, gewöhnlich eirunde Wasserschalen, meist mit .zerklüftetem Felsengrunde. Innerhalb des Baumreviers umkränzen ihre Ufer noch dunkle Ro)thtcannen und Zirbelkiefergruppen. Die Einfassung des Seespiegels wird bald von schroffen Felssenzügen, aus denen unmittelbar die trotzigen Bergkegel auf­ steigen, gebildet, bald verläuft sie sich in feuchte, saure Wiesen. In klaren Farben malen sich die Alpen in dem Kr'hstcüllspiegel mit allen ihren grünen Gesimsen, dunkeln Schluchten, blinkenden Schneespiegeln', umd unendlichen Felsenterrassen ab. ES ist, als ob der Geist dieser Alpenwelt kühn auS dem Wafferauge blitze. Die oberen Wassersammler, die sich meistens von großen Gletscherfelverm nähren und an ihrem Rande keinen Baum, höchstens etliche Weiden-, Heckenkirschen-, ^.Alpenrosen- und Erlenbüsche hervorbringen oder auch ganz todt zwischen grauen Geschieloreroieren und Felsenwänden lagern, haben ein düsteres und tief­ ernstes Ansehen. Gewöhnlich ohne alle Wellenbewegung mit dunkelgrünen Farbentönen stimmen sie zum öden Greistce der Felsenlandschaft. Kein Nachen, kein Flößchen hat sie je berührt, keine Seerose ilhre' breiten Blätter auf dem Spiegel gewiegt, kein Fisch zieht durch die grünen Tiefen, kein Watsservogel, oft nicht einmal ein Frosch sitzt an den steinigen Ufern. Den größten Theil des Zah'jkks deckt sie Schnee und Eis, und manches flacher ausgewölbte Becken friert bis auf d«en Grund zu. Mühsam und langsam thaut der Frühling oder Sommer sie auf, und kl-eime Felder oder Blöcke von Eis schwimmen noch auf ihnen, wenn schon die Alpenrosenbüsähe iihrer Felsen freudig die Glockensträuße im Winde wiegen. Hin und wieder wirft noch eine späte Lawine haushohe, sprudelnde Schneemassen in ihre Becken, oder ein später Frost übe«rziceht die kaum geschmolzene Flut mit einer klaren, auS Krystall­ nadeln gewobenen DeckeWahrscheinlich haken die meisten muldenförmigen Einsattlungen der Berg- und viel­ leicht auch der Alpenreg ion. früher als Becken solcher stiller, grüner Seen gedient. Diese sind mit der Zeit abgeflyssem. Das Gebirge hat seine Schicksale wie das Volk. Mit leisem Zahne sagen die abfließemdeen Wasser jene Querriegel, welche das Seebecken von der nächsten unteren Thalplatte abtremneen, durch und entleeren sich nach den tieferen Flußgebieten. Wo diese Bergriegel und Qwerdmmme zu dick und fest sind, lehnt sich der See dicht an sie an, während er sich immer merhr von den Matten des Hintergrundes zurückzieht. Daher die Überraschung für den Wanlderer, der aus der Tiefe den Querberg hinansteigt und plötzlich das ruhige, kühn beforirte Wecken vor sich sieht. Viele Seen haben keinen sichtbaren Abfluß; ihr Wasser fällt in einen oft durch kreisende oder wirbelnde Wellenbewegung angezeigten Trichter, arbeitet sich kmrzene oder längere Zeit durch die Kanäle im Innern des Gebirges

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fort und springt oft in großer Entfernung wieder zu Tage. Manche Seen haben auch keinen sichtbaren Zufluß und nähren sich von unterirdischen Quellen. Beide Erscheinungen vermehren daS geheimnisvolle Dunkel, das über diesen stillen Fluten schwebt, und sind den abenteuerlichen Sagen, welche die Bergbewohner an sie knüpfen, besonder- günstig. Au- Tschudt- Raturvtldern au- der Alpenwelt.

12. Der Steinadler. Bon den Adlern des Gebirges ist der Steinadler, der, wenn er alt ist, auch Gold­ adler heißt, vielleicht der bekannteste, der am allgemeinsten verbreitete und zugleich der reißendste. Er ist ein durch Größe und Haltung hervorragender Bogel, 3 bis 3Va Fuß lang und klaftert mit auSgespannten Flügeln gegen 8 Fuß. Der abgerundete Schwanz mißt 14 Zoll, die zusammengeschlagenen Flügelspitzen erreichen daS Ende desielben nicht. Das Männchen, gewöhnlich etwas kleiner und lichter gefärbt als das Weibchen, sieht von fern fast ganz schwarz aus, ist aber eigentlich schwarzbraun, die Befiederung der Fuß­ wurzeln und Schwanzdeckfedern lichtbraun, der Hinterhals rostbraun, der Schwanz an der Wurzel weiß, dann aschgrau und schwarzgefleckt, mit breiter, schwarzer Endbinde. Je älter der Bogel wird, desto mehr bräunt sich sein Gefieder ab; die Jungen sind kohlschwarz mit schmutzigweißen Federfüßen. Der Schnabel ist Hornblau, mit gelber Wachshaut gesäumt und zwei Zoll lang, von der Wurzel an gekrümmt, während am Schnabel des GeierS blos die Spitze sich biegt; die Iris ist goldfarbig, im hohen Alter feuerfarben. Der Lauf ist bis an die Zehen mit kurzen, lichtbraunen Federn dicht besetzt, was den Steinadler von ähnlichen Arten sicher unterscheidet; die Zehen sind hellgelb, die Ballen groß und derb, die schwarzen Krallen groß und sehr spitz, die Hinteren fast drei Zoll lang. Das Gewicht eines alten Adlers steigt selten über 12 Pfund. Dieser schöne, mächtige Bogel findet sich in der Schweiz nur in den Hochgebirgen; im übrigen Europa, in Asien und Nordamerika aber auch neben den tiefländischen Adlern in den großen Wäldern der Ebene und an den Küsten. Nur im Winter, wo die Murmel­ thiere unter der Erde liegen, die Gemsen, Hasen, Schafe und Ziegen sich in die tieferen Wälder und ins Thal ziehen, verläßt er in den Alpen seine Horste, um die Thäler und Niederungen zu durchstreifen, und auch dann nur auf kurze Zeit. Er ist kühner, rüstiger und lebhafter als der Lämmergeier, von dem er sich auch durch seinen hüpfenden Gang unterscheidet. Stundenlang scheint er in unermeßlicher Höhe am blauen Himmel zu hangen und ohne Flügelschlag in weiten Kreisen dahinzuschweben; Jäger wollen ihn über dem Gipfel deS Wetterhorns und des Eigers, also in einer Höhe von mehr als 12000 Fuß, schwebend gesehen haben. Muthig, kräftig, klug, scharfsichtig und von so feiner Witterung, daß er hierin kaum vom Kondor übertroffen wird, ist er zugleich außerordentlich scheu und vorsichtig, meist einsam seiner Beute nachspähend, seltener auch mit seinem Weibchen. Sein Helles „Pfülüf" oder „Hiä, hiä" klingt weit durch die Lüfte und erfüllt das kleinere Geflügel mit Schrecken. Wenn er sich seiner Beute nähert, stößt er oft ein „Kik, kak, kak" aus, senkt sich allmählich festen Blickes auf sein Opfer und stößt dann blitzschnell in schiefer Linie auf daffelbe. Keines unserer kleineren Thiere ist vor seiner Kralle sicher; Reh­ kälber, Hasen, wilde Gemsen, Lämmer, Ziegen, die er kühn vor Häusern und Ställen weg­ holt, Füchse, Dachse, Katzen, Feld- und Waldhühner, Hunde, Trappen, Störche, zahmes Geflügel, selbst Ratten, Maulwürfe und Mäuse sind ihm angenehm, vorzüglich aber Hasen, die er seinen Jungen stundenweit mit ungeschwächter Kraft zuträgt. Den Vier­ füßler rettet der flüchtigste Lauf nicht, eher den kleinen Bogel der hastige Flug. Der Adler setzt seine Jagd mit ebenso großer Beharrlichkeit als List fort und ermüdet das flinke Reb­ huhn und die rasche Waldschnepfe durch fortgesetzte Verfolgung. Oft jagt er dem Wander­ falken seine Taube, dem Habicht sein Haselhuhn ab. Er ist überhaupt Herr des Reviers;

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kein Bogel, überhaupt kein Thier wird ihm gefährlich. Wo er einmal gute Beute gemacht, dahin kehrt er gern zurück. Er ist muthig und stark genug, gelegentlich auch auf kleine Kinder zu schießen und sie wegzutragen. An den unzugänglichsten Felswänden und lieber im Innern des Hochgebirges als in den Borbergen, in Deutschland gern in alten Kieferwäldern in der Nähe von Flüssen baut er auS groben Prügeln, Stengeln, Haidekraul und Haaren einen roh gefügten, flachen Horst, den er in der Niederung zwischen den obersten Eichenästen, im Gebirge in einer überdachten Felsenspalte anlegt und mit 3 bis 4 weißen, braungesprenkelten, sehr großen Eiern besetzt. Den Jungen bringen die Eltern allerlei Wild zu und zerfleischen es in anschaulicher Lehr­ weise vor ihren Augen am Rande deS Nestes. Sie sollen ihnen sogar junge Reiher auf 3 bis 4 Meilen zutragen. Nicht selten gelingt es dem Jäger, die Nestvögel auszunehmen, welche sich leicht zähmen lassen, sehr gelehrig sind und mit Glück zur Jagd abgerichtet werden. Än der Gefangenschaft kann der Steinadler ohne völlige Erschöpfung 4 bis 5 Wochen lang hungern und soll 30, ja 100 Jahre darin dauern. Im Berner Oberlande ist das Dorf Eblingen am Brienzer See seiner Steinadler­ jagd wegen berühmt. Etwa eine Stunde oberhalb dieses Dorfes ist in einer wilden Berg­ partie ein merkwürdiger Sammelplatz und Lieblingsaufenthalt der Adler. Dort lieben sie einzelne unzugängliche Felszinnen, von denen aus sie das große Thal der Seen be­ herrschen. Die Jäger von Eblingen sind von jeher wegen ihrer Weidmannsfähigkeit der ganzen Gegend bekannt gewesen; sie verstehen aber auch als echte Jäger ihr Wild zu fesseln und tragen Sorge, daß ihren Vögeln das ganze Jahr der Tisch gedeckt sei. Die Beizstellen sind auf Bäumen und am Boden so gewählt, daß die Jäger von ihren Woh­ nungen unten am See auS sie beobachten können. Mit ihren Fernröhren treten sie dort ans Fenster und überblicken, wenn sie die Adler erwarten, den Lockplatz. Bemerken sie einen bei der Lockspeise, so haben sie zwar noch eine Stunde weit durch Büsche und Felsen zu klettern, aber nur selten entgeht ihnen die Beute; denn wenn diese sich einmal auf dem Fraße niedergelassen hat, so bleibt sie stundenlang sitzen, und mit der Sättigung läßt gewöhnlich ihre Vorsicht nach. Minder gewaltig als die Lämmergeier, sind die Steinadler doch von stolzerer, wür­ digerer Haltung, die das Gepräge der Freiheit und Unabhängigkeit trägt. Auch an Sinnen­ schärfe , Gewandtheit und List möchten sie wohl höher stehen als die Lämmergeier, die nie wie die Adler zum Sinnbild eines königlichen Charakters gewählt wurden. Aas Tsckudis Thierlebcn der Alpenwelt.

13. Die Kantone am Vierwaldstätter See. Wenn einer der schweizer Seen Ähnlichkeit mit den Fjorden Norwegens hat, so ist es dieser Felsensee mit seinen liefen Buchten, seinen nackten, oft wildromantischen Ufern, seinen Föhren, welche die steilen Wände krönen, und seiner malerischen Einsamkeit. Wie alle Gebirgsseen, sind auch die der Schweiz sehr tief, weil sie die tiefsten Thäler ausfüllen. Die beiden größten, der Genfer See von 11 geographischen Quadratmeilen Flachenraum und der Bodensee von 9f/2 Quadratmeilen, sind zugleich die tiefsten; denn der erste hat über 1000 Fuß Tiefe, der andere soll sogar bei Lindau 2200 Fuß hinabgehen. Der Vier­ waldstätter See ist bis 900 Fuß tief, seine Breite sehr ungleich, im allgemeinen aber nur Vi bis >/z Meile. So liegt er eingeklemmt und gewunden zwischen 6—8000 Fuß hohen Felsen, und je weiter das Dampfschiff hinaufzieht, desto wilder und prächtiger werden seine Ufer. An den Ufern dieses schönen SeeS scheidet sich auch die Gebirgsformation der Nagelflue und des Sandsteins vom Kalk, der an den Südufern in mächtigen Lagern auftritt. Der See liegt so recht im Mittelpunkt der Schweiz und in ihrem historischen Urleben; denn rund um seine Becken ziehen sich die vier Staaten, welche die erste Eidgenossenschaft bildeten. DaS Westende besitzt Luzern; blickt man rechts in die tiefe Bucht, so erkennt man den Thurm

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von Stanz, dem Hauptflecken in Unterwalden; verfolgt man die Krümmungen des Sees bis an seine südlichste Spitze, so liegt Uri vo.r uns; die linsen Ufer aber, Küßnacht und der Rigi, gehören zu Schwyz, das an den Gehängen seiner Gebirge wunderschön unter den kühnen Pyramiden deS Schwyzer Haken liegt. Kein schweizer See hat so großartige Umgebungen, eine solche Mannigfaltigkeit von Naturseenerie, einen solchen Wechsel von Licht. Schneeige Häupter und Gletscher steigen in Uri auf; liebliche Matten ziehen an den Abhängen hin, daS tiefe Grün der Gebirgs­ triften wechselt mit Wald und nacktem Gestein, mit senkrechten Felsenmauern und den freund­ lichsten, sonnenglänzenden, fruchtbaren Thal- und Uferrändern, die eine gütige Himmels­ hand reich gesegnet hat. Das ist aber die eigenthümliche Natur der Schweiz. Dicht neben dem Eis und Schnee blühen oft die Fruchtbäume, dicht unter den ungeheuren Giganten liegen die saftigsten Matten, und das fette Vieh weidet bis an die Gletscher. Norwegische Wildheit und Zerklüftung, die ungeheuren, grenzenlosen Einöden Skandinaviens, diese schmalen, schauerlichen Fjorde, welche zuweilen, wie mit Rolands Schwert zerhauen, zwischen 4000 Fuß hohen, glatten, bezackten Wänden liegen, solche Wunder einer hochgearteten Natur trifft man in der Schweiz nicht. Hier mischt sich immer eine versöhnende Milde mit dem Schrecken, aus dem Eis und Schnee gelangt man nach wenigen Stunden wieder zu Fruchtbäumen und Feldern, und nach einem beschwerlichen Marsche ist man sicher, immer wieder ein Wirthshaus, und meist ein gutes, zu finden. Wie in der Schwei; alles Bergsteigen und Klettern meist auf Stunden hinauSkommt, so sind auch die kleinen Hirtenstaaten meist winzige Ländchen, von denen man in der Ferne kaum begreift, wie sie den österreichischen Herzogen widerstehen konnten. Sieht man jedoch hier in der Nähe die steilen Felswege, die engen Pässe, die schmalen Thäler und die glatten Wände, so nimmt dies so wenig Wunder, wie der hartnäckige Kampf der Unterwaldner und Schwyzer gegen die Franzosen im Jahre 1798. Ein paar hundert Büchsenschützen können hier gegen viele Tausende kämpfen. Von den vier Waldstätten liegen Unterwalden und Uri jenseit des Vierwaldstätter Seeö im eigentlichen Hochgebirge, während Luzern und Schwyz gleichsam die Vorwächter gegen die andringende Kultur bilden. Ganz Unterwalden ist 7 Stunden lang und 5 Stun­ den breit; dennoch ist dieses schon so winzige Staatsleben nochmals getheilt, denn der Kanton zerfällt in zwei Halbkantone, in das Land Nied- und Ob dem Kernwald, und jeder hat seine Landesgemeinden, seinen Landrath und vielerlei Räthe und Behörden. Wie seine Natur es mit sich bringt, ist Unterwalden ganz und gar ein Hirtenland, eben wie Uri und Schwyz. Die Bewohner von Unterwalden sind Hirten und Ackerleute, welche in Dörfern und zerstreuten Höfen, die zu Gemeinden gesammelt sind, wohnen. Eine Stadt giebt eS nicht in ihrem kleinen Lande. Von Stanz, dem Hauptorte in Niedwalden, das, ganz in einem Walde von Obstbäumen versteckt, in einem schönen Thale liegt, führt der Weg durch den Kernwald hinauf nach Sarnen, dem Hauptorte oder -dorfe in Obwalden.

Schöne Alpen und Weiden, freundliche Thäler und eine erhabene Gebirgsnatur füllen diese kleinen Kantone. Hoch oben im Gebirge in einem Thale, umringt von wilden Felsen, liegt das reiche und alte Benediktinerkloster Engelberg, umgeben von dem Dorfe gleichen Namens. Von Engelberg aus hat man die großartigste Alpennatur in der Nähe. Wer den Titlis besteigen will, muß es von hier aus unternehmen; er findet rüstige und gewandte Führer. Über das Joch ins Genthal hinab geht es nach Oberbern einen wilden Paß hinauf;

ein noch wilderer führt über die Surenen nach Altorf im Kanton Uri zwischen dem TitliS und Uri-Rolhstock hin über Schneefelder und hohe Alpen, an Felsenhäuptern von 9—10000 Fuß Höhe vorüber, und oben blickt man in eine hehre Gebirgöwelt grauer und eisiger Riesenhäupter, unten in den blauen See und inS Reuß-, Madra- undSchächenthal. So steigt man nach Altorf nieder, macht einen Weg von neun derben Schweizer-

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stunden und ist im Lande des Tell, der überall dem Wanderer hier entgegentritt in Bil­ dern und in Sagen. Was diesen kleinen Kanton Uri betrifft, so ist er in seinen Grundeinrichtungen mit geringen Abänderungen wie Unterwalden. Er ist der Zwillingsbruder seines Nachbars. ES ist dieselbe Natur mit Ihren saftigen Matten und hohen FelSthälern, ihren GebirgSeinfamkeiten und wilden Scenerien von rauschenden Bergströmen, Quellen, Schuttstürzen, Waldleisten und Schluchterr. In den Thälern wächst der Obstbaum, die Pfirsiche reift und die Melone. Es weht ein Hauch von Italiens Nähe durch das Reußthal und die Gotthardstraße herunter. An den Gehängen und Höhen stehen die Häuser der Menschen, welche in kleinen Dörfern umd Gehöften wohnen, im Sommer aber zum größten Theil auf den Alpen bei ihrem Vieh Leben und erst zur Winterzeit mit diesem in die Thäler hinab­ steigen. Es ist auch dasselbe Volk wie in Unterwalden, daffelbe Leben, dieselben Sitten und Gebräuche, welche zu demselben Verfasiung vereint sind. Durch Uri zieht die Gotthardstraße nieder, dieser wichtige Hauptpaß, welcher durch den Kanton Tessin nach Mailand und Italien führt. Biel Fuhrwerk und jährlich wohl 20000 Reisende gehen das Reußthal hinab und hinauf über den hohen Gebirgsstock, bessert bequeme Straße in den Jahren 1820 bis 1830 mit bedeutenden Kosten von Uri und Tessin erbaut wurde. Es ist einer der schönsten und prachtvollsten Wege in der Schweiz, dieser Weg durch das Reußthal bis zum Gotthard hinauf. Eine wild erhabene Alpen­ natur begleitet von der Einfassung des Vierwaldstätter Sees den Wanderer. Zehntausend Fuß hohe nackte, mit Gletschern und ewigem Schnee gekrönte Hörner und Felsenhäupter fassen die Straße zu beiden Seiten ein. Der prächtige Uri-Rothstock, der Susten-, der Galenstock, die Windgellen und das Schneehorn, die ungeheure weiße Pyramide desBristenstocks und die Oberalp bild en Reihen von Giganten, welche endlich sich mit dem Wall der Gotthardsgebirge verschmelzen, der Italien von Deutschland scheidet. Und zwischen ihnen liegt das Thal der brausenden Reuß, erst grün und lieblich mit Fruchtbäumen und Men­ schenwohnungen besetzt, daun immer wilder und schmaler, immer schauerlicher und öder. Die Straße windet sich bald rechts, bald links über den Gebirgsstrom. Zufluchtsörter vor fallenden Lawinen sind in die Felsen gehauen; dann führt sie im Zickzack aufwärts durch die Felsenschlucht der Schölilenen, die, zur Winterzeit von stürzenden Schneemaffen oft ge­ füllt, gefährlich genug zu passiren ist, und endlich über die Teufelsbrücke und durch die Felsengallerie des Urnerloch s in das Urserenthal, das mit seinen grünen Malten wie eine Oase in der Wüste erscheint. Die Teufelsbrücke ist ein kühneö Werk der Menschenhand. Die wüthende Reuß stürzt in einem schönen Fall durch den mächtigen Bogen von Quadern und läßt ihren Wafserstaub. weit darüber hinfliegen. Die Wildheit und Nacktheit dieser Geldmassen, die Enge des Thales, die mächtigen Schuttstürze und die leblose Ode erinnern lebhaft an die engen bilftetn Felsenthäler der Hardanger Fjellen Norwegens und an den Felsenspalt RomSdalen. Aber hier ist doch ein anderes Kulturwesen; schöne Straßen, Brücken, Posten, menschlicher Fleiß; dort sucht der Reisende seinen Weg durch bahnlose Wildnis und Gießbäche und braucht Tage, um eine Menschenwohnung zu erreichen. Wenn der Wanderer über den Kinzigkulm inö Muottathal steigt oder das Dampf­ schiff, welches von Flüelen hinauf an der TellSkapelle und dem Grüti vorüberfährt, wo einst die drei Männer, Walther Fürst aus Uri, Arnold von Melchthal aus Unterwalden und Werner Stauffacher anS Schwyz, im Jahre 1307 den ersten Bund der Freiheit be­ schworen, ihn nach Brunnen führt, so steht er auf dem Grunde des dritten Urkantons, des Kantons Schwyz, der d em ganzen Lande den Namen gab und am meisten genannt wird unter jenen dreien, weil er foer größte und einflußreichste unter ihnen ist. Wenn man in Brunnen landet, liegt das Schwyzerland im schönen Amphitheater vor dem Wanderer. Fruchtbar und wohl angebaut, dehnt es sich von hier bis um den Rigi nach Arth an den Roßberg hin aus und läuft über die schönen Felspyramiden des

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Mythen und Schwyzer Haken bis an den Züricher See. ES ist ganz voll Berge und Gebirge, welche bis zu einer Höhe von 7000 Fuß aufsteigen, voll kleiner Thäler und schöner Matten, ein großes Weideland, in welchem Biehwirthschaft die Hauptbeschäftigung der Bewohner sein muß. Zur Rechten öffnet sich mit einer engen, romantisch wilden Schlucht das große, fünf Stunden lange Muottathal, das über den Pragel nach GlaruS führt. Der Flecken Schwyz liegt an den Bergabhängen, von Gärten umgeben, die mit Frucht- und Wallnußbäumen besetzt sind. Es ist grün und sonnig an diesen Bergen und der Blick auf denWaldstätter See, auf den Rigi, auf das Thal von Arth, auf die Felsen und Menschenwohnungen, Dörfer und Matten ein wechselnder und überaus lieblicher. In den ältesten Zeiten waren diese Urschweizer der Kern und die Kraft der Eidgenosien. Ihre wilde Tapferkeit entschied die Schlachten, ihre Führer saßen im Rath voran, man rühmte das Volk, schmeichelte ihm und suchte seine Freundschaft. DaS änderte sich alles. Die Städte kamen an die Spitze, um die kleinen Hirtenstaaten kümmerte man sich nicht mehr; ihr Trotz, ihre Roheit wurden verrufen, ihre Anmaßungen lächerlich gemacht, ihre Einrichtungen verspottet, und je mehr sich die großen Kantone reformirten, das Korporationswesen sich mehr auflöste und eine neue Zeit hereinbrach, umso greller zeigten sich die Unterschiede. In Schwyz und Uri läßt man es sich aber noch jetzt nicht nehmen, daß hier allein das rechte Schweizervolk wohne. Die alten Erinnerungen leben dort am tiefsten fort; die wahre alte Schweizerfreiheit, so sagen sie, sei nur bei ihnen noch vorhanden. Mügges Schwei) und ihre Zustände.

14. Eintritt in Italien. Selten hat mir das Herz über Naturpracht und MenschenlooS höher geschlagen als au jenem unvergeßlichen Sonntage, an welchem wir die herrliche, gewaltige Strecke von Trient bis Venedig, mehr als 25 Meilen, durchrollten. Flugschnell ging es an der breit­ strömenden Etsch hin durch das prangende Thal nach Roveredo, dieser alten, über einem ausgerodeten Eichenwalde gegründeten Stadt, deren neuer, mit stattlichen Bauten geschmück­ ter Korso den Gegensatz zu den grauen, hochschattigen Häusern der Altstadt bildet. Links und rechts trägt die Natur und die menschliche Kultur bereits völlig ein italienisches Ge­ präge. Überall hohes, reizend ausgezacktes kaum bis zur Mittelhöhe bebautes Hoch­

gebirge, oben ins Himmelblau hineinschimmernd; in den Niederungen der Maulbeerbaum, die Rebe, der Mais außer den in herrlichen Gärten gezogenen Feigen, Pomeranzen und Granaten, großentheils aber den verheerenden Etschüberschwemmungen auSgesetzt. Von einzelnen Höhen blickten alte Schlösser und Kirchen herunter, und die Städtchen und Dör­ fer gruppirten sich mit ihrem antiken Baustil in der Ferne wunderlieblich umher. Mit unaussprechlichem Gefühle aber begrüßte ich die durch eine Säule bezeichnete Scheidegrenze von Deutschland und Italien, diese hochwichtige Mark, die an so vieles erinnert, was Deutschland nach Welschland mit Wafsenklang, dieses mit Priesterklugheit nach Deutschland getragen hat. Doch war mir's ein Fest, ein Gottesgeschenk, nun das Land betreten zu dürfen, woher unsere klassische Kultur stammt, und von wannen das jugendliche Gemüth seine ersten, geschichtlichen Anschauungen empfängt. Ich konnte den Blick nicht abwenden von dem Orte, wo so manche Völkerschaar vorübergezogen ist, um in den sonnigen Gauen HeSperiens ihre Kraft zu versuchen, und wo auch so viele lausend Seelen, als ihnen das Mittagsland vors Auge trat, mit glühender Begeisterung zum Himmel emporgeschaut haben. Die Morgensonne vergoldete den Scheidepunkt, aber ohne Rast rollte der Wagen durch die weithin gezogene Heerstraße fort, durch Ala, Peri, dann über das alte schauerliche St. Marko, wo die schwarzgebrannten Felsblöcke eines tausendjährigen Bergsturzes die Gegend überallhin bedecken. Einmal eröffnet sich das mit aller Königsfülle der Natur buntprangende Thal zu einem ungeheuern Parallelogramm, in welchem daS Auge unschlüssig Dielitz u. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur. 2. Aufl.

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bewundernd umherschweift. Alle Säle von Babylon und Ninive sind bloße Nußschalen vor diesem Wundersaal. Vom Anschauen ermüdet, gelangten wir endlich an das Bonapartistische Blutfeld Rivoli. Hier wendet sich die Heerstraße linkshin zu der altberühmten Berner Klause, einem feierlich dunkeln Felsenportal, durch welches sich ein eingehauener Weg hoch über die unten vorbeibrütende Etsch dahinstreckt. Dieser alte, schon für Bar­ barossa durch den Raubritter Alberich gefährdete Paß ist von Österreich stark befestigt,

und man fahrt durch die finster drohenden Bergwände mit Ehrfurcht, aber auch mit einer süßen Ahnung hinan, bald nun den ersten Wonneblick nach Italien vollauf zu genießen. Das geschieht auch, wenn man endlich den Höhepunkt erreicht hat. Welch eine Wunder­ schau, wie wenn ein Vorhang aufgerollt wäre, bietet sich dem entzückten Auge dann mit einem Mal! Wie soll ich beschreiben, was hier sich vor unseren Blicken aufgethan! Ich rief ein Mal ums andere: „ Ja, das ist Italien! das ist wahrlich das Land der Sehn­ sucht!" Hier befindet man sich nicht mehr im Etschthale, sondern auf einer freien Hoch­ ebene und gleichsam in einer ganz neuen Welt. Rechts verliert sich ein entfernter Ausläufer des Höhenzugs auf einer weitschimmernden Fläche, und linkshin eröffnen sich unaussprechlich wonnige Thalgründe, sanftgewölbte Einbuchtungen mit holdseligen, duftigen Fernen, mit Dörfern und Städtchen besät, deren Thürme freundlich emporglänzen, ein Meer des viel­ fältigsten Lebens, eine prangende Natur, von Menschenhand überall sorgsam geordnet, bepflanzt und geschmückt, an deren blühenden Wechfelformen das Auge mit sprachloser Wonne hangen bleibt. Dieses prachtvolle Panorama ist näher und fernerhin theils von niedrigeren Berggeländen, theils drüber hinaus von einem blaudustigen Alpengürtel um­ säumt, dessen lichtumflossene, in violetten Purpur gekleidete Häupter sich mit dem dunkeln Himmelsblau vermählen. Wie hehr und stillselig ist hier alles ringsum! Das Freuden­ gezeter der Cikaden erfüllt wie ein millionenfacher, wortloser Psalm die Lüfte; die sanft­ bewegten Maulbeerbäume glänzen in langen Linien überall hin; das Heer der sorgsam geordneten Gewächse steht unter einem Himmelsglanze da, wie ich zuvor nichts gesehen, und alles athmet in einem südlichen Sonnenelemente, das sogar der Luft einen würzigen Geruch verleiht. Von einem Maulbeerbaume zum andern schlingt der Weinstock seinen festlichen Kranz, und auch die dunkelgrünen, säulenartigen Cypressen begrüßen den Wan­ derer nicht selten, besonders aber links drüben vor dem stattlichen Lustschlosse eines Vero­ nesers, wo sie in regelmäßigen Gliedern wie Grenadiere der Kaisergarde Napoleons her­ überschauen. Viel süßes Licht mit wenig Schalten ist das Bild dieser vortrefflichen, für den Deutschen so fremdartig reizenden Gegend, und wenn unser Germanien mit seinen schattigen Bergwäldern Prangt, so ist Italien besonders durch seinen Himmel schön, der alles mit doppeltem Sonnenglanze beleuchtet. Unter einem nordischen Firmament würde es viel von. seinem Schmucke verlieren. Was uns an Italien so wundersam erscheint, ist jener Hauch der ewigen Jugend über den Gräbern großer Vergangenheit, jene holde, sich stets erneuernde LebenSfülle, jenes heilige Stillleben der Natur im Bunde mit längst verschwundenen Geistern: ein unaussprechliches Gefühl, das niemand schöner besungen hat, als Goethe in seinem herrlichsten Liede: „Kennst du daö Land, wo die Zitronen blühn?" Darum weiß auch der deutsche Jüngling kein glänzenderes Ziel für seinen Zugvogeltrieb zu finden als den schmalen, hinter der Alpenwelt sich hinunterziehenden Landesstreif, der seine äußersten Längen mit zwei unverlöschlichen Vulkanen bis in die Nähe des fremden Afrikas erstreckt. AuS Knapps italienischer Reifeskizze.

15. Genua. Genua liegt hart am Fuße des Gebirges, das hier zwei niedrige Vorsprünge inS Meer treten läßt. Zwischen diesen Borsprüngen wogt daS Meer, und um dasselbe her in einem Halbmond steigt die prächtige Stadt am Abhang hinauf. Wo die Stadt auf-

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hört, beginnen die grünenden Gärten mit den Landhäusern der reichen Genueser. Die Hauptmasse der Häuser liegt am östlichen Rande der Bucht und dort am Abhang deS Hügelvorsprungs hinauf, auf dessen Spitze die Kirche Carignano sich erhebt. Auf der äußersten Spitze deS Hügels am westlichen Rande der Bucht gegen daS Meer zu steht der hohe, runde, scharfgespitzte Leuchtthurm auf Felsengrund, die kommenden Schiffer auf hoher See in finsteren Nächten zurechtzuweisen; und zwischen dem Leuchtthurm und jenem östlichen Hügel wird die ganze große Bucht vom Hafen eingenommen, der mit unzähligen Masten prangt. Der Hafen ist rund wie ein Kessel und außerordentlich groß. Hunderte der größten Kriegsschiffe hätten in seinem Innern Raum. Doch ist seine Südseite, wenn­ gleich durch zwei ins Waffer gebaute Dämme etwas geschützt, immer noch zu sehr offen gegen das Meer, um bei Südstürmen den Schiffen hinlängliche Sicherheit zu gewähren. Hohe Wogen schlagen dann oft herein, werfen die Fahrzeuge, die beisammen liegen, an einander und zerschmettern sie wüthender als auf der offenen See. Man verlängerte und verstärkte seit 1829 ven einen Damm, nm den Hafen beffer vom Meere abzuschließen. Gelingt dieses Werk, wie man erwartet, so wird der Hafen von Genua einer der besten von Europa werden, wie er einer der schönsten und prächtigsten ist. Die Lage von Genua hat große Ähnlichkeit mit der von Konstantinopel.

Das Klima dieser Seestadt ist eines der glücklichsten Italiens. Unerachtet sie der nördlichste Punkt deS Landstrichs ist, den wir betrachten, so sind Witterung und Boden dennoch milder als selbst in Rom. Man ahnt hier die Herrlichkeiten der neapolitanischen Natur; nur von Kampanien und den noch südlicheren Ländern wird an Naturpracht die genuesische Küste übertroffen. Zitronen und Apfelsinen wachsen hier schon frei in den Gär­ ten, deren wilde Partien die Pinie verschönert. Die Aloe, diese prächtige Südpflanze, wächst wild. Die Berge des Seeufers sind mit unermeßlichen Pflanzungen von Oliven­ bäumen bedeckt, worin zugleich der Schmuck und der Reichthum dieser Küsten besteht. Auch Palmen trifft man hier, auf dem Wege nach Nizza. Wer Italien besucht und nicht nach Neapel geht, muß, wenn er sich von der Natur der italienischen Halbinsel überhaupt eine Anschauung schaffen will, wenigstens Genna mit seiner Küstenpracht gesehen haben. Genua liegt mit Bologna unter demselben Grade der Breite; und dennoch welcher Unterschied in der Natur beider Orte! Wer von Bologna nach Genua käme, würde glau­ ben, aus dem Norden unmittelbar in den Süden versetzt zu sein. So große Kontraste kehrt die Narur diesseits und jenseits der Apenninen an den Tag. Doch ist zu bedenken, daß, was die Naturerscheinungen im ganzen betrifft, die Gegend um Genua auch von keiner anderen in Mittelitalien übertroffen werden möchte. Diese Landschaft, die zugleich am wenigsten an dem verwüstenden Übel verdorbener Luft leidet, hat eine durchaus eigen­ thümliche Konstruktion. Nirgends ist der Apennin vielleicht von wilderem Ansehen als hier, wo er oft bis unmittelbar ins Meer sich erstreckt, und wo er, wenn dies nicht der Fall ist, doch immer nur wenige hundert Schritte ebenen Landes zwischen sich und dem Meere läßt. Eigentlicher Landbau ist dadurch fast unmöglich gemacht, und nur Gartenbau findet statt. Im ganzen ist die Bemerkung richtig, daß die Natur des Genovese fast nur für Pracht und gar nicht für den Nutzen gesorgt habe, daß fast jeder Busch ein unbrauch­ barer Lorbeer sei, und daß die Menschen ohne die See in dieser Landschaft das armseligste Geschlecht sein würden, das sich denken läßt. Auf die See weist also hier das Land selbst hin, und kein Wunder ist es deshalb, wenn wir den Genueser vorzugsweise als eine Matrosennatur kennen lernen. Wie das Land aus Gebirgen von plumper Gestalt besteht, so ist von jeher der Cha­ rakter deS Genuesers plumpe Derbheit gewesen. Geldgier und Geldstolz waren von jeher die Eigenschaften des Volks, dessen Weiber nach der Aussage deS übrigen Italiens ohne Scham, dessen Männer ohne Zuverlässigkeit sind. So gewährt denn auch die ganze Geschichte Genuas nicht einen einzigen Punkt, der sich über gemeine Kraft erhöbe; wie 41*

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Haufen roher und sich selbst überlassener Menschen unfähig sind, sich selbst zu regieren, und um jeden geringen Hader Schlägerei anfangen, so ist in Genua fortwährend eine Balgerei zwischen Parteien, welche aus den gemeinsten Anläffen entstehen und bald die Deutschen, bald die Franzosen, bald die Spanier, bald italienische Fürsten und Gewalthaber herbeiziehen. Genua hat keinen einzigen bedeutenden Schriftsteller, keinen eminenten Maler, keinen großen Musiker hervorgebracht, und hätte nicht die verwegene Kraft eines Genuesers Amerika entdeckt, so würde außer den Palästen an Genua wenig geistig Großes zu rühmen sein. Wenn Venedig eine Aristokratie des feinen Verstandes zu nennen ist, so ist dagegen in Genua eine Aristokratie roher Kraft gebildet worden, die nicht selten vor dem noch roheren gemeinen Haufen gezittert hat. Nach KnappS Italien und Leos Gefch. der ital. Staaten.

16. Neapel. So gut wie Rom und Sicilien, ist auch Neapel eine wunderbare, nie gesehene Welt für sich allein; aber wie eigenthümlich, wie verschieden von jenen ergreift es unsere Seele! Hier wandelt unser Fuß nicht auf alten Trümmern zusammengesunkener Römerpracht, keine Säulen schauen auö dem Boden, kein Koloffeum oder Antoninische Riesenmauern drohen in die Lüfte, verschollen ist das Alterthum; hier hat kein Bramante mit unsterblicher Kühn­ heit Wunderbaue aufgeführt, kein Michel Angelo einen unermeßlichen Dom gleichsam an das Gewölbe des Himmels befestiget; über Neapel hat der Meißel der Antike und die Hand Raphaels nicht gewaltet; die Kraft der Päpste und die Zinsbarkeit der Christenheit hat hier keine ehernen Paläste und Marmorhäuser aufgerichtet, wie den ewigen Sitz des Sankt Peter; kein venetianisch Gold hat mit römischer Kühnheit unvergängliche Dämme ins Meer geworfen; kein Denkmal bekränzt siegreich Denkmäler der Vorwelt; verschwunden ist alle Vergangenheit: dagegen aber, wie mächtig wallet der Zauber der lebendigsten Ge­ genwart über dieser wundervollen Stadt! Die längst gepriesenen Schönheiten der jung­ fräulichen Natur um die glückselige Parthenope sind so blendend und unendlich, daß sie das Herz, welches sie kaum zu fassen vermag, gewaltsam erschüttern und wie mit ahnungs­ reicher Bangigkeit erfüllen. Ach, welche Purpurglut hat den lichten Saphir deö neapoli­ tanischen Himmels angehaucht! Gegen den klaren Guß des dunkelblauen Meeres ist aller Lasur trübe und gegen den glänzenden Sammt der grünen, erquickten Matten aller Sma­ ragd düster. Statt prachtvoller Kuppeln steigen aller Orten sanftgerundete Höhen, statt marmorner Säulen gothische Felsennadeln in die Lüfte; die schwellend üppige Natur sprengt unwiderstehlich jede Fessel, duldet nirgends die Hand des Künstlers. So auch die Neapo­ litaner selbst, die in dieses Meer von Schönheit und Fülle dergestalt versenkt sind, daß sie eigentlich nie zu innerer Besinnung gelangen können. Kraftvoll, aber ungezähmt, wie die Neben ihres Posilippv, wuchern die Neapolitaner; unbändig zwar, aber mit hoher Volkstümlichkeit wogt und lebt' die zahllose Menge auf dem Toledo, der Chiaja und an dem Strand der heiligen Lucia. Pulcinelle, Pagliasien und Taschenspieler schlagen aller Orten ihre Bühne auf und unterhalten das Volk mit unversiegbarer Geschwätzigkeit und recht gesundem Nationalwitz; beredte Priester sprechen mit unglaublicher Lebendigkeit zur Menge, und es ist ihnen ein Leichtes, sich, wenn cd die Kanonen der Kastelle erlauben, fünfzigtausend Zuhörer zu verschassen; alles ist und lebt, Neapel kennt nur eine Zeit: die Gegenwart; Vergangenheit und Zukunft sind ihm unverständliche Namen. Nichts ist daher natürlicher, als daß der, dessen Herz bei aller unendlichen Fülle irdischer Schönheit sich nach dem wunderbaren Wehen einer ahnungsvollen Vergangenheit sehnt, Neapel gern verläßt, um, nachdem er in Italiens reizendem Körper geschwelgt hat, in Nom Italiens unsterbliche Seele zu schauen. Die Villa reale ist ein neu angelegter Garten, der um seiner Lage am Meere willen

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im Angesichte des Vesuvs und der Insel Capri, des Posilippo nnd des Vorgebirges Misenum den herrlichsten Spaziergang in Europa gewahren mag; auch ist hier die Gruppe des Farnesischen Stieres, ein wundervolles Meisterwerk, aufgestellt; an den Anlagen selbst aber ist nichts Besonderes, wie denn die Italiener überhaupt Gärten einzurichten nicht ver­ stehen ; doch ist freilich alles noch jung und erst im Werden. Die Aussicht von dem königlichen Lustschlosse Capo di Monte, das auf einem ziemlich hohen Berge an einem Ende der Stadt liegt, ist schon bezaubernd; aber wer oben vom Kastell San Elmo und dem Kloster San Martino herab das erste Mal seine Augen über Italien öffnete, würde ganz gewiß von der düsteren Erde in einen glänzenden Himmel entrückt zu sein glauben; die kühnsten Flügel der Phantasie sinken jedem, der es wagen wollte, Himmel, Erde und Meer, gebadet in allen brennenden Farben des Regenbogens, zu beschreiben, und kaum sollte man glauben, daß es möglich wäre, einen noch erhabneren Standpunkt zu wählen; dennoch gewährt diesen ohne Zweifel das Kloster der Kamaldolenser, zu dem man auf einem Wege von etwa zwei Stunden über den Vomero und Monte delle Donzelle hinaufsteigt. Wie herrlich schaut der hohe Epomeo auf der Insel Ischia über den niedrigeren Posilippo herüber! Noch ehe man das Kloster erreicht, lieft man auf einem Steine die Inschrift: „Es sollen keine Frauen über diese Grenzlinie treten bei Strafe der Exkommunikation." Die Aussicht von dem Garten der frommen Väter herab übertrifft an schillerndem Glanz der Farben und an Mannigfaltigkeit der Gegen­ stände vielleicht die meisten unseres Erdbodens; man erblickt alle Gebirge der südlichen Erdzunge, welche mit grünen Wäldern ganz bedeckt sind; der Vesuv und Monte Somma, der Posilippo liegt wie ein breites grünes Bett mit allen seinen Ulmenwäldern und Reben­ gewinden gerade unter uns sammt der ungeheuern Stadt, die sich schlangenförmig am Meere hinlegt bis Torre del Greco hinaus; der agnaner See, der wunderbare Kesselteich von Astruni und die ihn umschließenden Berge und Thäler in tausendfachen Farben von Grün, alle Inseln, Ischia mit dem hohen Epomeo, Spitzen, Landzungen, Meerengen und Vorgebirgen, das wilde Capri mit seinen kühnen Felskrystallen, die höchste Zierde des ganzen Golfs, ja, weiterhin selbst Gaeta, der Massikus, die salernischen und formianischen Hügel, Terracina, Monte Circello und die Insel Ventotiene im fernen Meere: alle diese seligen Schönheiten im sanften prachtvollen Glanze des italienischen Himmels erfüllen hier die Seele des Fremdlings, der nicht hoffen'kann, sie jemals wiederzusehen, mit unaussprechlicher Wehmuth, und vermuthlich mag von diesem Garten der Kamaldolenser das bekannte Wort gesagt sein: „Neapel sehen und dann sterben." Nach Kcphalides' Reise durch Italien und Sicilien.

17. Das neapolitanische Volk. Eines Tages schlich ich beobachtend meiner Weise nach durch Neapel und notirte mir viele Punkte zur Schilderung der Stadt. Alles deutet dahin, daß ein glückliches, die ersten Bedürfniffe reichlich anbietendes Land auch Menschen von glücklichem Naturell er­ zeugt, die ohne Kümmernis erwarten können, der morgende Tag werde bringen, was der heutige gebracht, und deshalb sorgenlos dahinleben. Augenblickliche Befriedigung, mäßiger Genuß, vorübergehender Leiden heiteres Dulden! Von dem letzteren ein artiges Beispiel. Der Morgen war kalt und feucht, es hatte wenig geregnet. Ich gelangte auf einen Platz, wo die großen Quadern des Pflasters reinlich gekehrt erschienen. Zu meiner großen Verwunderung sah ich auf diesem völlig ebenen, gleichen Boden eine Anzahl zer­ lumpter Knaben im Kreise kauzend, die Hände gegen den Boden gewendet, als wenn sie sich wärmten. Erst hielt ich eö für eine Posie; als ich aber ihre Mienen völlig ernsthaft und beruhigt sah wie bei einem befriedigten Bedürfnis, so strengte ich meinen Scharf­ sinn möglichst an; er wollte mich aber nicht begünstigen. Ich mußte daher fragen, was

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denn die Äffchen zu der sonderbaren Positur verleite und sie in diesen regelmäßigen Kreis versammle. Hierauf erfuhr ich, daß ein anwohnender Schmied auf dieser Stelle eine Rad­ schiene heiß gemacht, welches auf folgende Weise geschieht. Der eiserne Reif wird auf den Boden gelegt und auf ihn im Kreise so viel Eichenspäne gehäuft, als man nöthig hält, ihn bis auf den erforderlichen Grad zu erweichen. Das entzündete Holz brennt ab, die Schiene wird um das Rad gelegt und die Asche sorgfältig weggekehrt. Die dem Pflaster mitgetheilte Wärme benutzen sogleich die kleinen Huronen und rühren sich nicht eher von der Stelle, als bis sie den letzten warmen Hauch ausgesogen haben. Beispiele solcher Genügsamkeit und aufmerksamen Benutzens dessen, was sonst verloren ginge, giebt eS hier unzählige. Ich finde in diesem Volke die lebhafteste und geistreichste Industrie, nicht um reich zu werden, sondern um sorgenfrei zu leben. Der gute und so brauchbare Volkmann nöthigt mich, von Zeit zu Zeit von seiner Meinung abzugehen. Er spricht z. B., daß 30—40000 Müßiggänger in Neapel zu finden wären, und wer spricht es ihm nicht nach! Ich vermuthete zwar sehr bald nach einiger erlangter Kenntnis des südlichen Zustandes, daß dies wohl eine nordische Ansicht sein möchte, wo man jeden für einen Müßiggänger hält, der sich nicht den ganzen Tag ängstlich abmüht. Ich wendete deshalb vorzügliche Aufmerksamkeit auf daS Volk, es mochte sich bewegen oder in Ruhe verharren, und konnte zwar sehr viel übelgekleidete Menschen bemerken, aber keine unbeschäftigten. Ich fragte deswegen einige Freunde nach den un­ zähligen Müßiggängern, welche ich doch auch wollte kennen lernen; sie konnten mir aber solche ebensowenig zeigen, und so ging ich, weil die Untersuchung mit Betrachtung der Stadt genau zusammenhing, selbst auf die Jagd aus. Ich fing an, mich in dem ungeheuren Gewirre mit den verschiedenen Figuren bekannt zu machen, sie nach ihrer Gestalt, Kleidung, Betragen, Beschäftigung zu beurtheilen und zu klassificiern. Ich fand diese Operation hier leichter als irgendwo, weil der Mensch sich hier mehr selbst gelassen ist und sich seinem Stande auch äußerst gemäß bezeigt. Ich fing meine Beobachtungen bei früher Tageszeit an, und alle die Menschen, die ich hie und da stillstehen oder ruhen fand, waren Leute, deren Beruf es in dem Augenblicke mit sich brachte. Die Lastträger, die an verschiedenen Plätzen ihre privilegirten Stände haben und nur erwarten, bis sich jemand ihrer bedienen will; die Kalessaren, ihre Knechte und Jungen, die bei den einspännigen Kaleschen ans großen Plätzen stehen, ihre Pferde besorgen und einem Jeden, der sie verlangt, zu Diensten sind; Schiffer, die auf dem Molo ihre Pfeife rauchen; Fischer, die an der Sonne liegen, weil vielleicht ein ungünstiger Wind geht, der ihnen auf das Meer auszufahren verbietet; ich sah auch wohl noch manche hin und wieder gehen, doch trug meist ein Jeder ein Zeichen seiner Thätigkeit mit sich. Von Bettlern war keiner zu bemerken als ganz alte, völlig unfähige und krüppelhafte Menschen. Je mehr ich mich umsah, je genauer ich beobachtete, desto weniger konnte ich weder von der geringern, noch von der mittleren Klaffe, weder am Morgen, noch den größten Theil des TageS, ja von keinem Alter und Geschlecht eigentliche Müßiggänger finden. Ich gehe in ein näheres Detail, um das, was ich behaupte, glaubwürdiger und anschaulicher zu machen. Die kleinsten Kinder sind auf mancherlei Weise beschäftigt. Ein großer Theil derselben trägt Fische zum Verkauf von Santa Lucia in die Stadt; andere sieht man sehr oft in der Gegend deö Arsenals, oder wo sonst etwas gezimmert wird, wobei es Späne giebt, auch am Meere, welches Reiser und kleines Holz auswirft, beschäftigt, sogar die kleinsten Stückchen in Körbchen aufzulesen. Kinder von einigen Jahren, die nur auf der Erde so hinkriechen, in Gesellschaft älterer Knaben von fünf bis sechs Jahren befassen sich mit diesem kleinen Gewerbe. Sie gehen nachher mit dem Körb­ chen tiefer in die Stadt und setzen sich mit ihren kleinen Holzportionen gleichsam zu Markte. Der Handwerker, der kleine Bürger kauft es ihnen ab, brennt es auf seinem Dreifuß zu Kohlen, um sich daran zu erwärmen, oder verbraucht es in seiner sparsamen Küche.

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Andere Kinder tragen daS Wasser der Schwefelquellen, welches besonders im Frühjahr sehr stark getrunken wird, zum Verkauf umher; andere suchen einen kleinen Gewinn, indem sie Obst, gesponnenen Honig, Kuchen und Zuckerwaare einkaufen und wieder als kindische Handelsleute den übrigen Kindern anbieten und verkaufen, allenfalls nur um ihren Theil daran umsonst zu haben. ES ist wirklich artig anzusehen, wie ein solcher Junge, dessen ganzer Kram und GerLthschaft in einem Brett und Messer besteht, eine Wassermelone oder einen halben gebratenen Kürbis herumträgt, wie sich um ihn eine Schaar Kinder ver­ sammelt, wie er sein Brett niedersetzt und die Frucht in kleine Stücke zu zertheilen an­ fängt. Die Käufer schauen sehr ernsthaft, ob sie auch für ihr klein Stückchen Kupfergeld genug erhallen sollen, und der kleine Handelsmann traktirt gegen die Begierigen die Sache ebenso bedächtig, damit er ja nicht um ein Stückchen betrogen werde. Ich bin über­ zeugt, daß man bei längerem Aufenthalt noch manche Beispiele solches kindlichen Erwerbes sammeln könnte. Eine sehr große Anzahl von Menschen theils mittleren Alters, theils Knaben, welche meistentheils sehr schlecht gekleidet sind, beschäftigen sich, daS Kehricht auf Eseln aus der Stadt zu bringen. Das nächste Feld um Neapel ist nur ein Küchengarten, und eS ist eine Freude zu sehen, welche unsägliche Menge von Küchengewächsen alle Markttage hereingeschafft wird, und wie die Industrie der Menschen sogleich die überflüssigen, von der Köchin verworfenen Theile wieder in die Felder bringt, nm den Zirkel der Vegeta­ tion zu beschleunigen. Bei der unglaublichen Konsumtion von Gemüse machen wirklich die Strünke und Blätter von Blumenkohl, Broccoli, Artischoken, Kohl, Salat, Knoblauch einen großen Theil des neapolitanischen Kehrichts aus; diesem wird denn auch besonders nachgestrebt. Zwei große biegsame Körbe hängen auf dem Rücken eines Esels und werden nicht allein ganz vollgefüllt, sondern noch auf jeden mit besonderer Kunst ein Haufen aufgethürmt. Kein Garten kann ohne einen solchen Esel bestehen. Ein Knecht, ein Knabe, manchmal der Patron selbst, eilen des TageS so oft als möglich nach der Stadt, die ihnen zu allen Stunden eine reiche Schatzgrube ist. Wie aufmerksam diese Sammler auf den Mist der Pferde und Maulthiere sind, läßt sich denken. Ungern verlassen sie die Straße, wenn es Nacht wird, und die Reichen, die nach Mitternacht aus der Oper fahren, denken wohl nicht, daß schon vor Anbruch des Tages ein emsiger Mensch sorgfältig die Spuren ihrer Pferde aufsuchen wird. Man hat mir versichert, daß ein paar solcher Leute, die sich zusammenthun, sich einen Esel kaufen und einem größeren Besitzer ein Stückchen Krautland abpachten, durch anhaltenden Fleiß in dem glücklichen Klima, in welchem die Vegetation niemals unterbrochen wird, es bald so weit bringen, daß sie ihr Gewerbe an­ sehnlich erweitern. Ich würde zu weit aus meinem Wege gehen, wenn ich hier von der mannigfaltigen Krämerei sprechen wollte, welche man mit Vergnügen in Neapel, wie in jedem anderen großen Orte bemerkt; allein ich muß doch hier von den Herumträgern sprechen, weil sie der letzteren Klaffe des Volks besonders angehören. Einige gehen umher mit Fäßchen Eis­ wasser und Zitronen, um überall gleich Limonade machen zu können, einen Trank, den auch der Geringste nicht zu entbehren vermag; andere mit Kredenztellern, auf welchen Flaschen mit verschiedenen Liqueuren und Spitzgläsern, in hölzernen Ringen vor dem Fallen gesichert, stehen; andere tragen in Körbchen allerlei Backwerk, Näscherei, Zitronen und anderes Obst umher, und es scheint, als wolle jeder das große Fest deS Genusses, daS in Neapel alle Tage gefeiert wird, mit genießen und vermehren. Wie diese Art Herumträger geschäftig sind, so giebt es noch eine Menge kleiner Krämer, welche gleichfalls umhergehen und ohne viele Umstände auf einem Brette in einem Schachteldeckel ihre Kleinigkeiten oder auf Plätzen geradezu auf flacher Erde ihren Kram ausbieten. Da ist nicht von einzelnen Waaren die Rede, die man auch in größeren Läden fände, es ist der eigentliche Trödelkram. Kein Stückchen Eisen, Leder, Tuch, Leinwand, Filz u. s. w., daS nicht wieder als Trödelwaare

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zu Markte käme, und das nicht wieder von einem oder dem andern gekauft würde. Noch sind viele Menschen der niedern Klasse bei Handelsleuten und Handwerkern als Beiläufer und Handlanger beschäftigt. Es ist wahr, man thut nur wenige Schritte, ohne einem sehr übelgekleideten, ja sogar einem zerlumpten Menschen zu begegnen ; aber dies ist deswegen noch kein Faulenzer, kein Tagedieb. Durchgängig ist diese Klasse von Menschen eines sehr lebhaften Geistes und zeigt einen freien, richtigen Blick. Ihre Sprache soll figürlich, ihr Witz sehr lebhaft und beißend sein. Das alte Atella lag in der Gegend von Neapel, und wie ihr geliebter Pulcinell noch jene Spiele fortsetzt, so nimmt die ganze gemeine Klasse von Menschen noch jetzt Antheil an dieser Laune. Eine ausgezeichnete Fröhlichkeit erblickt man überall mit dem größten, theilnehmenden Vergnügen. Die vielfarbigen, bunten Blumen und Früchte, mit welchen die Natur sich ziert, scheint den Menschen einzuladen, sich und alle seine Geräthschaften mit so hohen Farben als möglich auszuputzen. Seidene Tücher und Binden, Blumen auf den Hüten schmücken einen jeden, der es einigermaßen vermag. Stühle und Kommoden in den ge­ ringsten Häusern sind auf vergoldetem Grund mit bunten Blumen geziert, sogar die ein­ spännigen Kaleschen hochroth angestrichen, das Schnitzwerk vergoldet, die Pferde davor mit gemachten Blumen, hochrothen Quasten und Rauschgold ausgeputzt. Manche haben Federbüsche, andere sogar kleine Fähnchen auf den Köpfen, die sich im Laufe nach jeder Bewegung drehen. Wir pflegen gewöhnlich die Liebhaberei zu bunten Farben barbarisch und geschmacklos zu nennen, sie kann es auch auf gewisse Weise sein und werden; allein unter einem recht heitern und blauen Himmel ist eigentlich nichts bunt, denn nichts vermag den Glanz der Sonne und ihren Wiederschein im Meere zu überstrahlen. Die lebhafteste Farbe wird durch das gewaltige Licht gedämpft, und weil alle Farben, jedes Grün der Bäume und Pflanzen, das gelbe, braune, rothe Erdreich in völliger Kraft auf das Auge wirken, so treten dadurch selbst die farbigen'Blumen und Kleider in die allgemeine Har­ monie. Die scharlachnen Westen und Röcke der Weiber, mit breitem Gold und Silber besetzt, die andern farbigen Nationaltrachten, die bemalten Schiffe, alles scheint sich zu beeifern, unter dem Glanze des Himmels und des Meeres einigermaßen sichtbar zu werden. Und wie sie leben, so begraben sie auch ihre Todten ; da stört kein schwarzer, langsamer Zug die Harmonie der lustigen Welt. Ich sah ein Kind zu Grabe tragen. Ein rothsammetner, großer, mit Gold breilgestickter Teppich überdeckte eine breite Bahre; darauf stand ein geschnitztes, stark vergoldetes und versilbertes Kästchen, worin das weißgekleidete todte Kind mit rosenfarbenen Bändern ganz überdeckt lag. Auf den vier Ecken des Kästchens waren vier Engel, ungefähr jeder zwei Fuß hoch, welche große Blumeubüschel über das ruhende Kind hielten und, weil sie unten nur an Drähten befestigt waren, sowie die Bahre sich bewegte, wackelten und mildbelebende Blumengerüche auszustreuen schienen. Die Engel schwankten desto heftiger, als der Zug sehr über die Straße wegeilte und die vorangehen­ den Priester und Kerzenträger mehr liefen als gingen. Es ist keine Jahreszeit, wo man sich nicht überall von Eßwaaren umgeben sähe, und der Neapolitaner freut sich nicht allein des Essens, sondern er will auch, daß die Waare zum Verkauf schön aufgeputzt sei. Bei Santa Lucia sind die Fische nach ihren Gattungen meist in reinlichen und artigen Körben, Krebse, Austern, kleine Muscheln, jedes besonders aufgetischt und mit grünen Blättern unterlegt. Die Läden von getrocknetem Obst und Hülsenfrüchten sind auf das mannigfaltigste herausgeputzt. Die ausgebreiteten Pomeranzen und Zitronen von allen Sorten mit dazwischen hervorstechendem grünen Laub sind dem Auge sehr erfreulich. Aber nirgends putzen sie mehr als bei den Fleischwaaren, nach welchen das Auge des Volkes besonders lüstern gerichtet ist, weil der Appetit durch perio­ disches Entbehren nur mehr gereizt wird. In den Fleischbänken hängen die Theile der Ochsen, Kälber, Schöpse niemals aus, ohne daß neben dem Fett zugleich die Seite oder

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die Keule ganz vergoldet sei. Es sind verschiedene Tage im Jahre, besonders die Weih­ nachtsfeiertage , als Schmausfeste berühmt; alsdann feiert man eine allgemeine Cocagna, wozu sich 500000 Menschen das Wort gegeben haben. Dann ist aber auch die Straße Toledo und neben ihr mehrere Straßen und Plätze auf das appetitlichste verziert. Die Butiken, wo grüne Sachen verkauft werden, wo Rosinen, Melonen und Feigen auf­ gesetzt sind, erfreuen das Auge auf das allerangenehmste. Die Eßwaaren hängen in Guirlanden über die Straße hinüber; große Paternoster von vergoldeten, mit rothen Bändern geschnürten Würsten; welsche Hähne, welche alle eine rothe Fahne unter dem Bürzel stecken haben; man versicherte, daß deren 30000 verkauft werden, ohne die zu rechnen, welche die Leute im Hause gemästet hatten. Außer diesem werden noch eine Menge Esel, mit grüner Waare, Kapaunen und jungen Lämmern beladen, durch die Stadt und über den Markt getrieben, und die Haufen Eier, welche man hier und da sieht, sind so groß, daß man sich ihrer niemals so viele beisammengedacht hat. Und nicht genug, daß alles dies verzehrt wird, alle Jahre reitet ein Polizeidiener mit einem Trompeter durch die Stadt und verkündigt auf allen Plätzen und Kreuzwegen, wie viele tausend Ochsen, Kälber, Lämmer, Schweine u. s. w. der Neapolitaner verzehrt habe. Das Volk hört aufmerksam zu, freut sich unmäßig über die großen Zahlen, und jeder erinnert sich des Antheils an diesem Genusse mit Vergnügen. Was die Mehl- und Milchspeisen betrifft, welche unsere Köchinnen so mannigfaltig zu bereiten wissen, so ist für jenes Volk, das sich in dergleichen Dingen gern kurz faßt und keine wohleingerichtete Küche hat, doppelt gesorgt. Die Maccaroni, ein zarter, stark durchgearbeiteter, gekochter, in gewisse Gestalten gepreßter Teig von feinem Mehle, sind von allen Sorten überall um ein Geringes zu haben. Sie werden meistens nur in Wasser abgekocht, und der geriebene Käse schmälzt und würzt zugleich die Schüssel. An der Ecke fast jeder großen Straße sind die Backwerkverfertiger mit ihren Pfannen voll siedenden Öls besonders an Festtagen beschäftigt, Fische und Backwerk einem Jeden nach seinem Verlangen sogleich zu bereiten. Diese Leute haben einen unglaublichen Abgang, und viele tausend Menschen tragen ihr Mittag- und Abendessen von da auf einem Stückchen Papier davon. 2lu6 Goethes italienischer Reift.

18. Granada. Als wir auf dem Berge standen, an welchem sich die Straße von der Hochebene zum Thal von Granada hinabzieht, bot sich uns ein entzückender Anblick dar. Zu unseren Füßen lagen wunderbar geformte Felsen, die gleich Vorposten am Eingänge der erhabensten Gebirgssceneriestanden, aus welcher, in den Hintergrund zurückweichend, kühne Felsen­ zacken und Hörner in den abenteuerlichsten Gestalten auftauchten. Zu unserer Rechten dehnte sich, die Ebene durchschneidend, ein überaus lieblicher Wald gegen die Stadt hin, das schönste Gehölze der Welt, dessen glänzende Eichen, .Kastanien, Orangenbäume und Ulmen die naheliegenden Hügel bekrönen und die reichen Felder beschatten. Die überreifen Ähren der Kornfelder zogen in unendlich langen Streifen, gleich goldenen Brücken, über

den grünen Teppich, der sich über diesen fruchtbaren Boden auöbreitet. Die zierlichsten Gruppen von Zitronen, Örangen, Granaten, Feigen und Mandelbäumen bedecken die üppig blühende Ebene, die der klare Genil gleich einem glänzenden Bande durchströmt. Reben ziehen sich gleich Guirlanden an den hohen Schwarzpappeln fort, und in den Tau­ senden von Erlen, Espen, Silberpappeln und Eichen vergraben, glänzen Hunderte weiß­ schimmernder Pächter- und Winzerwohnungen und Landhäuser aus dem grünen Meere hervor. Vier Flüsse und unzählige, in arabische Kanäle geleitete, Gebirgswässer durch­ ziehen dieses liebliche Thal, das dreißig Stunden im Umfang hat und durch beständigen Überfluß an Wasser jenes ewig frische, blühende und glänzende Ansehen erhält, das man

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in der Ebene von Damaskus mit Recht so sehr bewundert. Hinter diesem grünen Sammet­ teppich mit seiner majestätischen Felseneinfassung erheben sich in sanftem Ansteigen die von Thälern durchschnittenen Berge, die das alte arabische Granada und seine Kalifenburg tragen. Gegen Osten schließt sich der Horizont durch eine Wand, die schauerliche Gebirgs­ kette der Sierra Nevada, die bis über die Alhambra hineinragt und zur Hälfte mit ewigem Schnee bedeckt ist. In weiterer Ferne streckten die Gletscher ihre Eisscheitel in den blauen Äther hinauf, und gleich einem Zuckerhut überragte sie alle der hohe, unersteigbare Veleta und der prächtige Cerro de Caballo. Unter dem starren Haupte des Mulhacen, auf grünem Bergabhange tritt uns Granada entgegen, das bei jedem Schritte des Wanderers anders sich darstellt, bald verhüllt, bald theilweise sichtbar, bald die neue, weiße Stadt, bald die dunkelroth gefärbte hohe Alhambra, dahinter aber stets die weiße Schneewand und die tieferen, grünen Bergkuppen. Es ist die vollendetste, aber eine veredelte Schweizer­ alpen-Partie , in den wärmsten Hauch der südlichen Zone getaucht. Bald sind es lange Reihen hochstämmiger Schwarzeichen und Cypressen, bald Orangen und Zitronengehölze, bald einsame Palmen, überall aber Obstgärten aller Art und Rebengewinde, die dem Auge des Wanderers begegnen, und durch alle diese reizenden Hindernisse nähert man sich der Stadt, die man einige Stunden ferner viel besser übersehen konnte, als in ihrer nächsten Nähe. Unbeschreiblich ist die Treibkraft dieses Bodens, stets befeuchtet von Gewässern, die Früchte und Blumen zu einer Frische treiben, wie an keiner andern Stelle der Welt. Unbeschreiblich aber ist auch diese feine, zephyrfächelnde Luft, welche von den so nahen Gletschern herab die sengende Hitze Spaniens mildert und das hochgelegene Granada zum gesundesten, erquickendsten Aufenthalte macht. Durch eine Allee hoher Ulmen gelangt man an die Brücke des Genil, über welche man in die Stadt eintritt. Nach leichter Mauthvisitation durchzogen wir die langen reinlichen Straßen und hielten unsern Einzug in einem freundlichen Wirthshause auf dem Theaterplatze. Brave Wirthsleute, bequeme Zimmer, ein vorzügliches Mittagsessen waren gute Vorboten für unsern Aufenthalt. Es war Festtag, und ein Stiergefecht feierte den Namenstag einer spanischen Heiligen. Wir kamen gerade noch recht, um zwei erstochene Stiere und einen halbtodten Piccador wegschleppen zu sehen, und folgten dann dem Menschenstrome, der sich nach der Alameda ergoß, die den schönsten Theil der untern Stadt durchschneidet und am Fuße der Alhambra endet. Diese Spaziergänge sind das vorherrschendste Bedürfnis in dem heißen Spanien; die kleinste Stadt, fast jedes Dorf hat eine solche Baumanlage, wo abends sich die Einwohner ohne allen merkbaren Rang­ unterschied zusammenfinden und zwar aus aufrichtigem Drange, sich zu sehen und einige Stunden mit einander zu verplaudern. Granada, das in allem begünstigte, dieser schönste Juwel in Spaniens Krone, zeichnet sich auch durch seine Alameda aus, die schönste, die ich in Spanien kenne. Hohe, vierfache Akazien- und Ulmenalleen ziehen durch die breiteste und schönste Straße der Stadt, welche seit wenigen Jahren für diesen Zweck erweitert wurde. Alle Balköne, alle Fenster waren mit Damen besetzt, welche die Vorübergehen­ den musterten. Am Ende dieser Straße, mit welcher auch die Stadt aufhört, ziehen sich die Alleen links fort: die drei inneren Gänge sind mit steinernen Bänken und diese mit weißen und schwarzen Mantillas besetzt, und unter diesen blitzten wieder die gutmüthigen, dunkeln, melancholisch-schelmischen Augen heraus. Anfangs gehen nur Männer auf und ab, deren Schaaren immer dichter werden, und die sich ohne Äusnahme durch sorgfältigen Anzug auszeichnen, ohne das mindeste Geckenhafte zu verrathen; sobald sich aber der Abend nähert mit seinen kühlen, dämmernden Schatten, so erhebt sich auch die Frauenwelt von ihren Ruheplätzen und mischt sich unter die Fußgänger. Auch die stattlichen Karossen, deren Alter freilich nicht immer mit dem ihrer feurigen andalusischen Pferde in Einklang steht, verschwinden jetzt, denn alles will lustwandelnd den herrlichen Abend genießen. Rechts

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von der Promenade sind die geschmackvollsten Blumenanlagen, in zierliche eiserne Schranken gefaßt. Weiter hinaus folgt wieder dichtes, duftendes Gesträuch und Gehölz, aus dem eine alte romantische Kapelle herüberblickt. Wir waren von all diesen unerwarteten Erscheinungen und Eindrücken wie belaubt. Den ganzen Tag über waren wir in Erwartung von Räubern gefahren, und abends sahen wir uns in den lieblichsten Park der Welt versetzt. Das Land, das wir durch Bürgerkrieg verloren glaubten, bot uns Scenen aus dem Wiener Prater. Mein Begleiter weidete sich an meinem Erstaunen, das aufS höchste stieg, als ich mit ihm, ohne eine weitere Ausdeh­ nung der Alameda zu ahnen, um die Ecke der Allee bog und die ganz neu angelegte, noch längere vierfache Allee mit demselben anziehenden Gedränge fand. Am Schluffe erhebt sich über diesem Gewirre eine prachtvolle Fontaine in hohen Bogen, die sich in weite Marmorbassins ergießen, und über der Fontaine der Berg der Alhambra und über der Alhambra die Gletscher Granadas und auf den Gletschern die volle Mondscheibe, alles gerade vor, gerade über uns, wie wenn man an einer hohen Leiter in den Mond hinauf­ steigen könnte. Entzückt von dem unvergleichlichen Anblicke trieben wir uns noch lange in den dichten Massen umher, allen so fremd und doch von allen so bekannt angesehen, und folgten der heimkehrenden Menge. Vierzehn Tage verschwelgte ich in dem himmlischen Granada; sie schwanden mir da­ hin, wie so viele Stunden. Der Tag meiner Abreise nach Madrid kam heran, und ich machte mich am Vorabend auf, um alles Schöne noch einmal zu übersehen, was mich in dieser Zaubergegend entzückt hatte. Noch war die Alameda ziemlich menschenleer, und ich konnte ungestört und nicht abgezogen von dem Menschengewühl ihre ganze Schönheit über­ blicken. Ein frischer Ostwind kam von den Eisspitzen des benachbarten Mulhacen über das Thal von Granada herab und trieb seine säuselnden Zephyre durch die hohen Wipfel der Schwarzpappeln, dieser wunderbaren Kronenbäume, der Zierde des Thals von Granada und seiner herrlichen Spaziergänge. Die Frische des erquickenden Windes verband sich mit der Kühle der ringsum rauschenden Gewäffer, und alle Blätter glänzten gleich denen des Lorbeers. Rechts von mir zog sich jener wunderbare Rosengarten hin, in welchem Millionen rother Rosen von Cypreffen durchwebt sind. Die Rosensträuche sind in Baumeshöhe zu großen Bouquets gebunden, und mehrere fächerähnliche, wasserreiche Fontainen brachen ihren Strahl, vom lebhaften Winde gepeitscht, in weitverbreitetem Staubregen, der sich belebend über alle Rosenbeete ausbreitet. Die Sonnenstrahlen lösten sich in diesem Perlen­ dufte in unzählige Regenbogen auf, deren mannigfaltig bunte Farben sich mit der herr­ schenden der Rose verbanden. Gleich Palmen neigten die hohen schwarzen Pappeln ihre schönen Häupter sich zu; alle Blätter, die ganze Natur bebte von dem Hauche des erquicken­ den Windes. Über den Südabhang der Alhambra stieg ich hinab, wo über den hoch-

aufgemauerten Terrassen Garten an Garten sich reiht. Weinreben, über Baumspaliere hingebreitet, bilden das natürliche Dach dieser Gärten, alles von Rosen und Oleander durchzogen. Herrliche Rosen von Granada, ihr duftet bei jedem Schritte, auf den Balkönen und in den Straßen, ihr dient zum Putz der Gärten und Häuser, ziert das rabenschwarze Haar der schönen Andalusierin, ihr seid überall in Granada; denn ganz Granada ist nur eine Rose. Au- -allbronner- Morgen- und Abendland.

19. Lissabon. Liffabon (portugiesisch und spanisch Lisboa), Hauptstadt des Reiches, Residenz seiner Könige, Sitz der Regierung und des Patriarchen, des Hauptes der portugiesischen Kirche, große, blühende und opulente Stadt von 275286 Einwohnern, daö Centrum des portu­ giesischen Handels und einer der wichtigsten Handels- und Hafenplätze Europas, liegt prachtvoll auf sieben Hügeln am nördlichen Ufer der herrlichen, von der Tajomündung

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gebildeten Bai in einer unbeschreiblich reizenden Gegend, umringt von vielen freundlichen und wohlhabenden Flecken und Klöstern und von mehr als 6000 Landhäusern. Am 1. November 1755 wurden zwei Drittheile der gewaltigen Stadt durch das berühmte, von einem furchtbaren Brande und noch gräßlicheren Überflutungen des Meeres begleitete Erdbeben gänzlich zerstört und der Rest bedeutend beschädigt, nachdem schon im Jahre 1531 ein acht Tage anhaltendes Erdbeben furchtbare Verheerungen angerichtet hatte. Infolge der kräftigen Maßregeln des Marquis von Pombal erhob sich die Stadt rasch wie ein Phönix aus ihrer Asche und wurde nach einem ganz neuen Plane wieder auf­ gebaut. Das jetzige Lissabon liegt ungemein malerisch in amphitheatralischer Form theils eben dicht am Ufer der Bai, theils auf und zwischen drei großen und vier kleinen Hügeln und bietet mit seinen 43000 Häusern, 246 Kirchen und Kapellen (die Kirchen der Klöster mir eingerechnet), mit seinen vielen Palästen und großen öffentlichen Gebäuden, mit den lieb­ lichen Terrassen von S. Pedro de Alcnntara und seinem großartigen Aquädukt, unter dessen höchsten, über die am westlichen Ende der Stadt befindliche Thalschlucht von Alcüntara gespannten Bogen ein Linienschiff mit vollen Segeln hinwegfahren kann, von der Bai aus einen unbeschreiblich prachtvollen und imposanten Anblick dar. Diese Ansicht würde noch großartiger sein, besäße die Stadt höhere Thürme. Allein aus Furcht vor neuen heftigen Erderschütterungen hat man keine Kirche mit einem hohen Thurme versehen. Lissabon ist von sehr verschiedener Bauart. Der bei dem großen Erdbeben stehen gebliebene östliche Stadttheil, welcher sich an den Abhängen des von einem alten maurischen Kastell gekrönten Monte de Castello, des höchsten Hügels, hinzieht, besteht aus engen, krummen, schlecht gepflasterten, steil ansteigenden Gassen und finstern, schmalen, hohen, mit gothischen Zierrathen überladenen Häusern, die neuern Stadttheile dagegen sind regelmäßig und gut gebaut. Den schönsten Theil Lissabons bildet die in der Ebene dicht am Tajoufer gelegene Neustadt, in welcher sich stolze Paläste befinden. Dennoch besitzt Lissabon wenige oder gar keine Gebäude von edler und wahrhaft schöner Architektur. Das großartigste Bauwerk Lissabons ist aber der unter Johann V. erbaute Aquädukt von Alcüntara, welcher die 20 öffentlichen Brunnen der Stadt und viele Privatbrunnen mit Trinkwasser versorgt, das durch ihn über eine Meile weit von Bellas hergeleitet wird. Diese gänzlich aus Mar­ morquadern erbaute Wasserleitung ruht beim Übergange über das Aleüntarathal auf

35 Bogen, von denen der mittelste 230' hoch und 107' breit ist. Lissabon war früher, nach dem Erdbeben und noch zu Anfänge dieses Jahrhunderts, wegen der Unsicherheit seiner Gassen, besonders bei Nachtzeit, sehr berüchtigt. Die Gassen wurden nämlich damals nicht beleuchtet, lagen zum Theil noch voll Schutt und Steinen, und diese Umstände begünstigten im Vereine mit der großen Unregelmäßigkeit und Un­ ebenheit der Stadt das schlechte Gesindel, welches sich massenhaft in Lissabon aufhäufte, bei Nacht oft bandenweise die Straßen durchzog, raubte und mordete. Fast kein Morgen brach an, ohne daß nicht mehrere Leichname von Beraubten und Ermordeten gefunden wurden; ja selbst am Hellen, lichten Tage gehörten Raubanfälle auf offener Gasse in den älteren und einsameren Stadtvierteln keineswegs zu den Seltenheiten. Dabei starrten die Gassen selbst in den neuen Stadttheilen von Schmutz und Unflat, indem der Abfall der Küchen, todte Katzen, Hunde, Ratten, Mäuse, Vögel, Fische und aller Unrarh der Häuser, fester wie flüssiger, auf die Gassen geworfen wurde und niemand daran dachte, dieselben zu reinigen. Dort begünstigte die Sonnenhitze die Fäulnis der animalischen Stoffe, und viele Gassen waren daher häufig mit pestilenzialischem Gestanke erfüllt und der Herd typhöser Fieber. Zu diesen Übelständen gesellte sich ein Heer von herrenlosen, halbwilden Hunden, die sich in den Gassen herumtummelten, wo sie von dem Abfalle der Häuser sich ernährten und niemand daran dachte, diese Bestien zu entfernen, da sie allein es waren, welche die Gassen bis zu einem gewissen Grade von Unrath reinigten. Zu Anfänge dieses Jahrhunderts

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schätzte man die Zahl der herrenlosen Hunde auf 60000! Noch jetzt ist es nicht gelungen, dieselben ganz zu entfernen; doch hat sich ihre Zahl bedeutend verringert, so daß dieselbe nicht mehr als einige Tausende beträgt. Sie ganz zu entfernen, wird unmöglich sein, so lange in den alten und vom Proletariat bewohnten Sladttheilen, die noch immer sehr schmutzig sind, nicht gewaltsam eine Änderung des Zustandes herbeigeführt wird. Die neueren Stadttheile sind jetzt ziemlich reinlich, und die Unsicherheit der Gassen hat fast ganz aufgehört, seitdem durchgängig eine gute Beleuchtung und eine bewaffnete, zahlreiche Straßenpolizei, die bei Nacht in den verdächtigen Stadttheilen patrouillirt, eingeführt worden ist. Auch das Proletariat ist jetzt nicht mehr so schreckenerregend wie früher, wo die Hälfte der Einwohnerzahl aus Proletariern bestanden haben soll, von denen mindestens ein Zehntheil ein herrenloses Gesindel ohne Dach und Fach war, das keinen andern Wohn­ ort hatte als die Gasse und kein anderes Geschäft als unstetes Herumlungern. Aber noch immer ist Lissabon der Sammelplatz des Abschaumes der portugiesischen Nation und alles fremden Gesindels und die einzige Stadt der pyrenäischen Halbinsel, die ernste sozialistische oder kommunistische Bewegungen zu besorgen Ursache hat. Es giebt daher hier auch ein Heer von Bettlern. Unter den Mittelklassen der Bevölkerung Lissabons herrscht ziemlicher Wohlstand und mehr Bildung als im ganzen übrigen Portugal, Oporto ausgenommen; die höheren Stände zeichnen sich durch feine Welrsitte aus, sind aber entsetzlich demoralisirt. Lissabon besitzt keine eigentlichen Vorstädte, indem die äußeren Stadttheile, die vor dem Erdbeben die Vorstädte bildeten, jetzt unmittelbar mit dem Centrum der Stadt Zu­ sammenhängen und in entgegengesetzter Richtung ganz allmählich in den breiten Gürtel von Landsitzen übergehen, welcher die Hauptstadt Portugals schon in einer Entfernung von mehreren Meilen ankündigt und das Gebiet von Lissabon bildet. Lissabon hat daher auch keine Thore. Innerhalb des Stadtgebietes, welches 71/2 Meile laug und 2]/2 Meile breit ist, und nahe bei dessen Grenzen liegen mehrere blühende, ebenfalls mit stattlichen Land­ sitzen, Schlössern, Klöstern geschmückte Dörfer, Flecken und Villas. Der in den Jahren 1717 bis 1731 erbaute Klosterpalast von Mafra, das pracht­ vollste Bauwerk Portugals und eines der schönsten und großartigsten Europas, bildet ein Viereck von 760z Länge und 670z Breite und enthält 866 Gemächer und 5200 Fenster. Die das Centrum einnehmende, ganz und gar aus Marmor in Form eines Kreuzes erbaute Kirche ist 186 z lang, im Kreuze 135 z breit, inwendig mit 58 Statuen aus karrarischem Marmor und vielen Kunstschätzen und Kostbarkeiten geschmückt und besitzt eine imposante Kuppel und an der prächtigen Faaade zwei 216Z hohe Glockenthürme. Das weitläufige Kloster enthält 300 gewölbte Zellen. Dasselbe gehörte den Franziskanern von der strengen Observanz dos Arrabidos. Unter Joseph I. wurde in ihm eine Erziehungsanstalt für die männliche Jugend angelegt, die aber längst eingegangen ist. Nach Willkomms Halbinsel der Pyrenäen.

20. Jerusalem und die umliegenden heiligen Orte. Es war ein feierliches Erwachen am ersten Morgen, der mich in Jerusalem begrüßte. Kaum graute der Tag, so zitterte meine Seele schon vor Erwartung dessen, was ich sehen sollte. Nur ein paar Schritte noch, und das Ziel der Reise war erreicht; das heilige Grab hatte zum Anblick mich empfangen. Langsam ging uns die erste Stunde des Morgens vor­ über; wir drangen in unsern Führer, nicht zu säumen und uns einzulassen in das Heiligthum. Aber wie bitter traf mich die Antwort, die mir auf mein Drängen zu Theil wurde, daß die Grabeskirche nur zu gewissen Stunden sichtbar und daß die Erlaubnis zum Eintritt erst von den Türken einzuholen sei! Da erwachte in meiner Seele der Grimm, und ich verstand in diesem Augenblicke das Geheimnis, über welches die Geschichtschreiber

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aller Zeiten sich verwunderten, das Geheimnis des heiligen Triebes, der Millionen hierher ins ferne Land geführt, um auf dem fremden Boden ihr Herzblut zu verspritzen. Endlich traten wir in die Grabeskirche; mir bangte fast, festen Fußes aufzutreten, und ich wußte, warum der Prophet, als sein großer Beruf ihn in die Nähe Gottes riß, die Füße entblößte, ehe er sich dem Heiligsten näherte. Ich schweige von den Formen der Kirche, welche schon von so vielen Reisenden beschrieben wurden; auch waren meine Augen wie getrübt und meine Seele so voll in diesen Stunden, daß mir das steinerne Schnitzwerk und alle kolossale Pracht des heiligen Hauses nur etwa so zum Bewußtsein kam wie die Zinne einer Burg, welche der Wanderer erschaut, wenn sie an den fernen Bergen aus dem Nebel steigt. Ohne daß ich wußte, wie mir geschah, war ich aus dem Grabesmysterium herausgestiegen und hatte die Terrasse der Kirche erstiegen, von welcher man ganz Jerusalem übersieht. Betäubend wie Opferdampf stiegen mir da Gedanken aus der Seele auf, und dem Griechen gleich, der in Delphi in stummem Sinnen auf die verhängnisvolle Antwort des befragten Gottes harrte, lehnte ich mich an die Kuppel des Doms zurück. Da lag sie vor mir, die Stadr der Jahrtausende, und erschien mir wie die Wittwe in ihrer Trauer; denn die Jahrhunderte, welche auf ihr liegen, die vor Alter sinkenden Olbäume, die Grab­ male mit den weißen Steinen, die durchlöcherten Felsen, das zerstreute Gemäuer und alle Schwere der Erinnerungen mahnen genugsam an die Last von Begebnissen und Verlusten, die sie schon in Zeiten, wohin das Denken der Geschichte kaum reicht, getragen. Der Fremdling vermeint darum, es sollte still sein in ihrer Mitte wie in einem Trauerhause, und die Menschen auf ihren Gassen sollten mit verhüllten Häuptern gehen. Aber auch dieses Trauerhaus von Jahrhunderten ist vom Getümmel der Erde nicht verschont, und wo man nur stille Klage erwartet und frommes Sehnen, drängen sich Käufer und Ver­ käufer, zudringliche Führer und gieriges Gesindel. „Sehen Sie," sagte mein Führer zu mir, „dieser Weg, der zur Grabeskirche führt, ist die Via dolorosa." Und auch auf dem Schmerzenswege dasselbe Getriebe! Hier ist kein Stein und keine Platte, die nicht Zeugen einer großen Begebenheit wären. Dieser Raum hat den Heiligen gesehen in aller seiner Schmach, ihn, den Verurtheilten und Leidenden, den Dorngekrönten und unter der Last des Kreuzes zum Tode Geführten! Welch heilige Erinnerungen sind in diese Steine eingebaut, wie viel tausend Herzen seit Konstantins und Helenas Zeilen haben über diesen Anblick geblutet, sind von diesem Anblick getröstet wieder von dannen gezogen! „Was willst du klagen, kleine Seele?" so sprach ich zu mir, „was ist doch all dein Leid, das du groß nennst über Vermögen, gegen den Jammer, der auf dieser Bahn der Leiden und Erniedrigungen von dem Edelsten aller freiwillig ist ge­ tragen worden?" So sind wir armseliges Geschlecht! dachte ich und athmete freier bei dem Gedanken: Jeder mit seinem kleinen Leide wähnt in seiner Blindheit, er leide das Höchste, und zuletzt ist es mit all den großen Schmerzen Täuschung nur gewesen. Doch sei es, wie es will, die Via dolorosa endigt am gewissen Ziel. Da wollte der Gedanke mich eben in die Heimat führen, als mein Begleiter mich aus den Träumereien mit den Worten weckte: „Dort im Süden liegt Bethlehem." Bethlehem, die anmuthigste unter den Städten! Sie liegt so gottgeliebt und friedlich auf dem Berge, und die hohe Sonne schaut so ruhig auf sie, daß ich mich nicht erinnere, irgendwo einen Ort gesehen zu haben, der mit solcher Anmuth solche Majestät verbände. Zur Linken zwischen den Hügeln dehnt sich das Thal der Hirten; eng und stille liegt es zwischen den Bergen, und nur wenige Bäume bekränzen seinen Saum. Dort haben in der heiligen Nacht die Heerschaaren des Himmels zuerst den Ärmsten unter dem Volke das neue Heil verkündet. Viele Klöster erheben sich über die Häuser von Bethlehem, und die Kuppel, welche am höchsten hervorragt, gehört der durch die Kaiserin Helena erbauten Kirche an, welche über der heiligen Grotte steht, wo Christus geboren ist. Vom unscheinbarsten An­ fang liebt das Größte aufzuwachsen, und auf den kleinsten Schauplatz mag das umfassendste

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Leben sich zusammendrangen. Aber nicht allein durch die Geburt Christi ist das kleine Bethlehem zur größten unter den Städten geworden; auch durch die Geschichte der späteren Zeit ist es geadelt. Denn auf dem bei Bethlehem liegenden Frankenberg haben die Helden unter den Christen gegen die Übermacht der Sarazenen sich bis aufs äußerste gehalten und

in der Tapferkeit ihres felsenfesten Glaubens den letzten Blutstropfen verspritzt. Der Himmel war ohne Wolke und das schönste Wetter begünstigte die Fernsicht. Erscheint mir Jerusalem wie eine Wittwe in ihrer. Trauer, so liegt Bethlehem auf seinen Bergen still und schicksalloS wie ein jungfräuliches Kind und in ruhigem Stolze wie eine Propheten­ tochter. „ Welches Namens ist dort die Burg," fragte ich den Begleiter, „welche nur einige hundert Schritte von hier auf dem Gipfel jenes Hügels steht? Jene Gruppe von Gebäuden gemahnt mich heimatlich an die Bauart in dem Weltteil, in welchem mein Vaterland sich findet." „DaS ist die Davidsburg auf Zion," sagte eintönig der Führer, nur bestätigend, was ich zuvor schon selbst gedacht. Also hier hat der Mann gehaust, der größte seiner Zeit, der ein Prophet war, ein Dichter und ein König! Der Himmel ist zu karg geworden in unserer Zeit; große Spenden theilt er nimmer aus, daß er demselben Manne, dem er die Worte der göttlichen Offenbarung in das Herz giebt und von den Lippen rauschen läßt, eine Leier in die Hand drückt, deren Saiten weithin, ja durch Jahrtausende hallen, und ihm zugleich ein Diadem um das Haupt windet. Von Zion aus konnte der König Jeru­ salem beschauen, seine Stadt, der Dichter ungestört des Flusses strömende Welle und das stille, grünende Thal, die Terebinthen und Olivenbäume betrachten, wie sie die Häupter der Hügel schmücken, der Prophet aber von der Höhe der Burg den Willen des Himmels erlauschen und in ihren stillen Räumen den Geheimnissen der göttlichen Weisheit nach­ forschen. „Dort außerhalb der Stadt," sagte mein Begleiter weiter, „sehen Sie das Haus, wo Christus das Abendmahl stiftete." Gegen Südost dehnt die Aussicht sich weiter. Vor dem Auge des Betrachters liegt das Thal Josaphat, die Moschee auf Morija und weiterhin der Kessel des todten MeereS. Es giebt wohl keinen andern Anblick, der die Seele mit so trüben Gedanken zu füllen vermag, wie das Thal Josaphat; ein enges Thal zwischen zwei Hügeln, deren einer den Ölberg, der andere die Stadt Jerusalem auf seiner Höhe trägt,

von dem fast wasserlosen Kidron durchschlichen; und was es an Zierde hat, sind die Grab­ mäler, die in seinem Schoße liegen. Niemals scheint die Sonne in diese düstre Tieft; morgens verbirgt sie sich dem Thale hinter dem Ölberg und nachmittags hinter Morija. Es ist das Thal der Schalten und der Gräber, und wer über die Brücke geht, die dort den Kidron überbaut, wird unwillkürlich von allen Schauern des Orkus beschlichen. Rechts von der Kidronbrücke befinden sich die Gräber Absalons, Josaphats und Sacharjas. Betende liegen in der Nähe dieser Gräber hingestreckt, und eine Masse aufgeschichteter Steine, namentlich vor Absalons Grab, vermehrt noch das Traurige dieser Stätte. Der Zorn der Türken hat diese Steine vor das Grab AbsalonS geworfen. Indem sie die Steine hinwerfen vor seine Gruft, sprechen sie einen Fluch aus wider den gottlosen Sohn und wider jeden, der seinen Eltern nicht gehorcht. Ein hoher sittlicher Ernst liegt in diesem Gebrauche, und der Orientale, der mit dem durch das Thal hallenden Fluch einen Stein vor dieses Mausoleum wirft, gemahnt aufs lebhafteste an den Ernst des Gottes, der mit dem Arme seiner Stärke die böse That des Menschen rächt. In der Nähe von dem Grab­ mal Sacharjas befindet sich eine Grotte, in welche sich Jakobus mit einigen andern Jüngern während der Gefangenschaft Jesu gesiüchtet und verborgen haben soll. Doch hinweg von diesen Grabern, hinweg von dieser Schlucht, hinüber zum Teiche Bethesda, hinauf zur Quelle Siloah! Der Teich Bethesda erinnert an die heilende Kraft der Natur und läßt im Anblick seiner von Mauern überbauten Tiefe die von Schrecknissen erfüllte Seele sich einigermaßen wieder beruhigen. Am Ende des Thales Josaphat liegt die Quelle Siloah.

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Könige und Propheten halben auf das Rieseln dieses Quells gehorcht; wenn sie Trost suchen wollten in der Be.'künmnernis, setzten sich die Edeln in seine Kühle. Nirgends in der ganzen Umgegend Jeruscalenns kann der Wanderer mit einem Trünke Wassers sich erfrischen, nirgends findet er Schallten,, um auszuruhen von der Mühseligkeit der Reise; nur hier am Quell Siloah ist ihm vewgölnnt, die lechzende Zunge zu erfrischen, den vertrockneten Gau­ men zu netzen und das emncattete Haupt im Schatten niederzulegen. Wenn die Frauen aus dem Dorfe Siloah kommen,, um sich Wasser zu schöpfen und die Stufen hinabsteigen, welche in den Felsen gehauen fintb, und in stillem Sinnen die Krüge füllen, dann meint der Reisende in die Zeit des grcauesten Alterthums sich zurückversetzt, und lebendig vor seinen Augen steigen jene schönern Wilder auf, welche die Bibel uns malt von den Töchtern der Patriarchen und dem Wierbeen der Hirten, welche Stamm- und Erzvater wurden. Auf Morija, dem Tlempelberge, auf derselben Stätte, wo einst der alte jüdische Tempel gestanden, steht: mut hoch emporgewölbter Kuppel die Moschee des Omar, nächst der Moschee in Mekka darr Muhamedaner größtes Heiligthum; denn in ihr soll die Stelle sein, wo Muhamed gen Hinnmel fuhr. Durch den Kessel des todten Meeres ist die Aussicht gegen Südost hin begremzt. Ich schweige von all dem Schauerlichen, was man von dem todten Meere erzählt; ^es ist wie besonders geschaffen für diese Gegend des düstersten Schweigens und der Tramen. Von der Terrasse auf der Grabeskirche erscheint bisweilen das todte Meer wie ein sspiecgelglatter See, und gerne läßt man in der dürren Gegend das Auge über dasielbe hinschnverifen. „Dort im Osten," sagzte der Führer zu mir, „sehenSie Bethanien und denÖlberg."

Nächst Bethlehem ist Bcethcanien gewiß das lieblichste Dörflein, daö weit und breit der Reisende findet. Und w>elch)e theure Erinnerungen knüpfen sich an diese Stätte! Hier hat Lazarus gewohnt und Mariia und Martha; in ihrem Kreise hat Iesuö ausgeruht von der heiligen Arbeit, um neue Kttäfte zu sammeln zur Ausführung des schweren Berufs, den er über sich genommen; hier that der aus Jerusalem Verstoßene ein Obdach, der Heimatlose eine Heimat, der von sieincem Volk einem Missethäter gleich Verachtete Liebe und Ehre ge­ funden. Bethanien möchtt' icch den Ort der stillen Liebe nennen; es ist so einsam, so traulich an den Berg gebaut, rin.gs von schattigen Bäumen, von grünenden Feldern umgeben, daß man, wenn nian’6 auch rnur anschaut aus der Ferne, Wohnung darin machen möchte, um­ geben von geliebten Herren.. Noch heute wallen alle Pilger besonders gerne dorthin, und viele Christen verweilen dasielbst, um sich der Erinnerung au die Stunden zu erfreuen, da Jesus in Lazarus' Haus amsstrahlte allen Glanz seiner Liebe, und wo der Geliebte Liebe um Liebe genoß. Wäre de>r Orient zur neuen Heimat mir beschieden, so möcht' ich mit jenen Christen in Berhamiem wohnen und oft vorübergehen an LazaruS' Haus und der Martha gedenken und ihrer- Schwester Maria. Lange ruhte mein Blick auf Bethanien, der Heimat der Seelen, wellche der Herr lieb hatte, und die Seele war mir bewegt von unbe­ schreiblicher Wallung. Mit Bethanien übersiceht das Auge den Ölberg. Der Ölberg — jede Spanne des Berges eine Geschichte! Mähe am Ölberg liegt Gethsemane, unten an seinem Fuße der Olivengarten und oben autf dem Gipfel die Himmelfahrtskirche. Steht der Sinai in der Wüste wie ein Berg des Zonns, so ist der Ölberg mit seinen Bäumen wie ein Berg deö

Friedens anzuschauen. Ich konnte mein Auge fast nicht wenden von den heiligen Hügeln; nur unvermerkt schweifte e.»s mir hin und wieder nach Bethanien hinüber. Noch einmal trank ich im vollsten Zuge d>as heilige Schauspiel und wandte mich dann mit dem Wunsche des heimatlichen Dichters- alb: „Btteibt mir nah mit eurem heil'gen Walten, Hoche Bilder, himmlische Gestalten!" Aus Hackländers Reise in den Orient.

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21. Kairo. Kairo, die jetzige Hauptstadt Ägyptens, ist zugleich auch die vornehmste arabische Stadt

unserer Zeit. Sie giebt den Ton an, so weit arabische Sitte und Sprache herrscht; in ihr sehen wir, was die Kalifenperiode Großes erzeugte, und was noch jetzt daS arabische Wesen Höheres in sich trägt. Gelbgrau gleich dem Grunde, der sie trägt, erhebt sich die Sarazenen­ stadt, wie keine andere, auf den kühnen Ausläufern des Mokattam-GebirgeS. Ihr gegen­ über thronen auf den starren Felsenhügeln der libyschen Wüste die königlichen Pyramiden der Pharaonen, die ewigen Wächter des zauberischen Nilthales. Kairo ist die Pforte von Oberägypten. Zwischen Gebirg und Strom, zwischen Wüste und Wüste gebaut, ist sie würdig, die Nachfolgerin von Theben und Memphis, den ältesten und größten Königs­ städten der Welt, zu sein. Nur wer sich einmal in seinem Leben durch die belebtesten Stadttheile von Paris oder London gewunden hat, kann sich einen Begriff von dem Gedränge in den Straßen Kairos machen. Diese sind dazu noch sehr schmal, und der Lärm ist wegen der unglaublichen Leb­ haftigkeit der arabischen Bevölkerung mit dem Getöse keiner andern Stadt zu vergleichen. Ich brachte in der ersten Zeit stets Kopfschmerz von den Straßen mit nach Hause. Es ist, wie wenn alles im Zustande von Aufruhr und Kampf sich befände. Kameelzüge mit schweren Lasten, flüchtige Reiter auf arabischen Pferden, Packträger ohne Barmherzigkeit, Herden von Büffeln und Ochsen, ägyptische Aufzüge mit den eintönigen Pauken und gellenden Pfeifen, Tausende dieser leise tretenden Eset, die einem auf den Fersen sind, ehe man sie auf den ungepflasterten Straßen hört: alles das kreuzt sich in unentwirrbarem Knäuel und unter ohrenzerreißendem Geschrei und Gesang durch die schmalen Gassen, und es wäre noth, Augen hinten und vorn zu haben, um nicht ewig umgerannt und gestoßen zu werden. Tausendfach wechseln die Bilder in dieser eigenthümlichen Stadt. Das unwissende, Kindern gleiche Volk vergnügt sich an den albernsten Vorstellungen, und jeden Augenblick stößt man auf Springer, Seiltänzer und Ringkämpfer, die eine erstaunliche Gewandtheit und Körperkraft entwickeln. Die rohen Späße und schlechten Witze der Possenreißer brin­ gen alle zu heftigem Lachen. Derwische, die durch geheimnisvolle Künste Schlangen aus den Häusern locken, Magier, die den Dieb mittelst des berühmten Zauberspiegels entdecken, die sinnreichsten Taschenspieler, von deren Geschwindigkeit man sich bei uns keinen Begriff machen kann, das Geschrei der Kameeltreiber, die den Fußgängern zurufen, das Gebrüll und die Beschwörungen der Gaukler, die malerisch gekleideten, ernst einherschreitenden hohen Beduinengestalten, die glänzenden rothen Uniformen der durch die Straßen sprengenden ägyptischen Offiziere, die Menge abyssinischer und äthiopischer Sklaven, das Geheul der Klageweiber, welche die Todten zum Grabe geleiten, indem sie sich die Haare zerreißen und die Brüste zerschlagen, der traurig tönende Ruf der Muezzins von 400 Minarets, der nie endende Tumult in 1100 Kaffeebuden, nackte Menschen und Kinder, halbverhungerte, herrenlose Hunde, in großen Banden herumschweifend und alles angreifend: all dieser sinnverwirrende Spektakel windet sich den ganzen Tag durch Straßen, die oft so schmal sind, daß man mit ausgespreizten Armen beide Häuserreihen erreichen kann. Wenn eö unendlich mühsam ist, sich durch diesen Menschenknäuel durchzuarbeiten, so ist es gewiß eben so wunderbar, daß nicht mehr, ja daß nicht unausgesetzt große Unglücksfälle aus solcher Verwirrung entstehen. Grau in Grau getaucht, erheben sich die Sarazenenschlösser des alten Kairo längs den Höhen des Gebirges, welche das Kastell krönt. Feindlich ist alles gegen einander ab­ geschlossen. Wie die Florentiner ihre Paläste verschanzten, im nächsten Nachbar den Feind erblickend, so ist die Kalifenstadt in hundert Festungen gespalten, durch dicke Mauern und mächtige Thore verwahrt und nur durch enge Gänge unter sich verbunden, die sich gleich Laufgräben durch sie fortwinden. D'elitz u. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur. 2. Aufl.

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Historische Prosa. Eine Stadt ohne Fenster ist gewiß eine eigenthümliche Erscheinung.

Die Öffnungen

nach der Straße, welche sie vertreten, sind mit festem, dichtem Holzgitterwerk verschloffen. Kleinere Hauser sind ganz ohne Fenster und Gitterwerk, und alle empfangen das Licht von dem oben offenen Hofraume, in dessen Innerem sich daö ganze Leben der Wohnung bewegt. Dahin aber zu dringen, blielb mir lange ein unerfüllter Wunsch. Biele Tage wanderte ich an diesen sprachlosen Wanden herum, vom Gewühl der Straßen fortgetrieben; manche Nacht besah ich mit Erstaunen die unheimlichen Gebäude, die kein Lichtstrahl erleuchtete, aus denen kein Ton der Freude hervordrang, die todte, ausgestorbene Stadt mit ihren dunkeln hohen Häusern, die gleich Statuen ohne Augen mich anstarrten, die nämliche Stadt, die des Tages so laur, so schrecklich laut sich hatte vernehmen lassen! Nach Hailbronners Morgen» und Abendland.

22. Der südliche Sternenhimmel in der heißen Zone. Seit wir in die heiße Zone eingetreten waren, konnten wir jede Nacht die Schönheit des südlichen Himmels nicht genugsam bewundern, welcher in dem Maß, als wir nach Süden vorrückten, neue Sternbilder unsern Augen entfaltete. Man hat ein wunderbar unbekanntes Gefühl, wenn man bei der Annäherung gegen den Äquator und besonders, wenn man von der einen Halbkugel in die andere übergeht, allmählich die Sterne niedriger werden und zuletzt verschwinden sieht, welche man von seiner ersten Kindheit an kennt. Nichts erinnert einen Reisenden lebhafter an die unermeßliche Entfernung seines Vater­ landes als der Anblick eines neuen Himmels. Die Gruppirung der großen Sterne, einige zerstreute Nebelsterne, welche an Glanz mit der Milchstraße wetteifern, und Räume, welche durch eine außerordentliche Schwärze ausgezeichnet sind, geben dem südlichen Himmel eine eigenthümliche Physiognomie. Dieses Schauspiel setzt selbst die Einbildungskraft derjenigen in Bewegung, welche ohne Unterricht in den höheren Wissenschaften daS Himmelsgewölbe gern betrachten, wie man ein e schöne Landschaft oder eine majestätische Aussicht bewundert. Man hat nicht nöthig, Botaniker zu sein, um die heiße Zone bei dem bloßen Anblick der Vegetation zu erkennen; ohne Kenntnis in der Astronomie erlangt zu haben, ohne mit den Himmelskarten von Flamsteev und La Eaille vertraut zu sein, fühlt man, daß man nicht in Europa ist, wenn man daö ungeheure Sternbild deö Schiffs oder die selbstleuchtenden Wolken MagellanS am Horizont aufsteigen sieht. Die Erde und der Himmel, alles nimmt in der Äquinoktialgegend ein.en fremden Charakter an.

Die niedern Gegenden feer Lüft waren seit einigen Tagen mit Dämpfen angefüllt. Wir sahen erst in der Nacht 'vom 4. zum 5. Juli (1799) im sechzehnten Grade der Breite das Kreuz des Südens zum ersten Male deutlich; es war stark geneigt und erschien von Zeit zu Zeit zwischen Wolken, deren Mittelpunkt, von dem Wetterleuchten gefurcht, ein silberfarbenes Licht zurückwarf. Wenn eö einem Reisenden erlaubt ist, von seinen persön­ lichen Rührungen zu reden, so setze ich hinzu, daß ich in dieser Nacht einen der Träume meiner ersten Jugend in Erfüllung gehen sah. Wenn man anfängt, den Blick auf geographische Karten zu heften und die Beschrei­ bungen der Reisenden zu lesen, so fühlt man eine Art von Vorliebe für gewisse Länder und Klimate, von welcher man sich in einem höhern Alter nicht wohl Rechenschaft geben kann. Diese Eindrücke haben einen merkbaren Einfluß auf unsere Entschlüsse, und wir suchen unS wie instinktmäßig mit den Gegenständen in Beziehung zu setzen, welche seit langer Zeit einen geheimen Reiz für uns hatten. In einer Epoche, wo ich den Himmel studirte, nicht um mich der Astronomie zu widmen, sondern um die Sterne kennen zu ler­ nen, wurde ich von einer Furcht in Bewegung gesetzt, welche denjenigen unbekannt ist, die eine sitzende Lebensart lieb en. ES schien mir schmerzhaft, der Hoffnung zu entsagen, die schönen Sternbilder zu seh en „ welche in der Nähe deS Südpols liegen. Ungeduldig, die

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Gegenden des Äquators zu durchwandern, konnte ich die Augen nicht gegen das gestirnte

Gewölbe des Himmels erheben, ohne an das Kreuz des Südens zu denken, und ohne mir die erhabene Stelle des Dante in das Gedächtnis zurückzurufen, welche die berühmtesten Kommentatoren auf dieses Sternbild bezogen haben: Zur Rechten kehrt' ich mich, den Geist gewandt, Zum andern Pol und sah vier Stern' im Schimmer, Die niemand, als das erste Paar, erkannt. Den Himmel letzt' ihr funkelndes Geflimmer; O du verwaistes Land, du öder Nord, Du siehst den Glanz der schönen Lichter nimmer!

Die Befriedigung, welche wir bei der Entdeckung dieses Kreuzes des Südens empfan­ den, wurde lebhaft von denjenigen Personen der Schiffsmannschaft getheilt, welche die Kolonien bewohnt hatten. In der Einsamkeit der Meere grüßt man einen Stern wie einen Freund, von dem man lange Zeit getrennt war. Bei den Portugiesen und Spaniern scheinen noch besondere Gründe dieses Interesse zu vermehren; ein religiöses Gefühl macht ihnen ein Sternbild lieb, dessen Form ihnen das Zeichen des Glaubens ins Gedächtnis ruft, welches von ihren Voreltern in den Wüsten der neuen Welt aufgepflanzt wurde. Da die beiden großen Sterne, welche die Spitze und den Fuß des Kreuzes bezeichnen, ungefähr die nämliche gerade Aufsteigung haben, so muß das Sternbild in dem Augenblick, wo es durch den Meridian geht, beinahe senkrecht stehen. Diesen Umstand kennen alle Völker, welche jenseits des Wendekreises oder auf der südlichen Halbkugel wohnen. Man hat beobachtet, um welche Zeit in der Nacht in den verschiedenen Jahreszeiten das Kreuz im Süden gerade oder geneigt ist. Es ist dies eine Uhr, welche ziemlich regelmäßig, nahezu um vier Minuten täglich, vorrückt, und kein anderes Sternbild bietet bei dem bloßen An­ blick eine so leicht anzustellende Beobachtung der Zeit dar. Wie oft hörten wir in den Savannen von Venezuela oder in der Wüste, welche sich von Lima nach Trujillo erstreckt, unsere Wegweiser sagen: Mitternacht ist vorbei, das Kreuz fängt an sich zu neigen. A. v. Humboldt.

23. Ein Tag unter dem Äquator. Wie glücklich bin ich hier, wie tief und innig kommt hier so manches zu meinem Ver­ ständnisse, das mir vorher unerreichbar stand! Die Heiligkeit dieses Ortes, wo alle Kräfte sich harmonisch vereinen, zeitiget Gefühle und Gedanken. Ich meine, besser zu verstehen, was es heiße, Geschichtschreiber der Natur zu sein. Ich versenke mich täglich in das große und unaussprechliche Still-Leben der Natur, und vermag ich auch nicht, es ganz zu erfassen, so erfüllt mich doch die Ahnung seiner Herrlichkeit mit nie gefühlter Wonne. Es ist drei Uhr morgens; ich verlasse meine Hangmatte, denn der Schlaf flieht mich Aufgeregten; ich öffne die Läden und sehe hinaus in die dunkle, hehre Nacht. Feierlich flimmern die Sterne, und der Strom glänzt im Wiederscheine des untergehenden Mondes zu mir herüber. Wie geheimnisvoll und stille ist alles um wich her! Ich wandle mit der Blendlaterne hinaus in die kühle Veranda und betrachte meine trauten Freunde: Bäume und Gesträuche, die um die Wohnung her stehen. Manche schlafen mit dicht zusammengelegten Blättern, andere aber, die Tagschläfer sind, ragen ruhig ausgebreitet in die stille Nacht auf; wenige Blumen stehen geöffnet; nur ihr, süß duftende Paullinien-Hecken, begrüßet mit feinstem Wohlgeruche den Wanderer, und du, erhabene, düsterschattende Manga, deren dichtbelaubte Krone mich gegen den Nachtthau schützet. Gespensterhaft flattern große Nachtschmetterlinge um die verführenden Lichter meiner Laterne. Immer stärker durchnäßt der Thau die frisch auf­ athmenden Wiesen, und die Nachtluft legt sich feucht auf die erwärmten Glieder. Eine Cikade, die im Hause wohnet, lockt mich mit heimischem Gezirpe wieder hinein und leistet dem glücklichen Halbträumer Gesellschaft, der den Tag erwartet, vom Gesumse der Mos42*

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fiten, den paukenähnlichen Schlägen eines Ochsenfrosches oder dem klagenden Rufe des Ziegenmelkers wach erhalten. Ihn fünf Uhr seh' ich ringsum den Morgen dämmern, ein feines, gleichmäßiges Grau, mit Morgenroth verschmolzen und davon erheitert, umzieht den Himmel; nur der Zenith ist dunkler. Die Formen der Bäume treten näher und näher; der Landwind, der im Osten aufsteht, bewegt sie langsam; schon schimmern rosenrothe Lichter und Reflexe tun die Gipfel der Bäume. Die Zweige, die Blätter regen sich; Käfer fliegen, Mücken summen, Vögel rufen, Affen klettern schreiend ins Dickicht zurück; die Nachtschmetterlinge suchen, lichtscheu taumelnd, ihre Waldnacht wieder; auf den Wegen regt sich's, die Nagethiere laufen ins Gemäuer zurück und die hinterlistigen Marderarten schleichen sachte vom Geflügel, dem der prunkende Haushahn den Morgen anrufr. Immer Heller wird's in der Luft; der Tag bricht au; eine unbeschreibliche Feier liegt über der Natur; wie rothe Blitze leuchtet der Sennenrand; jetzt steigt die Sonne empor, in einem nn ist sie ganz über dem Horizonte, auftauchend aus feurigen Wellen, und wirft glühende Strahlen über die Erde hin. Die magische Dämmerung weicht, große Reflexe flüchten sich, verfolgt von Dunkel zu Dunkel, und auf einmal steht rings um den entzückten Beschauer die Erde in frischem Th anglanz festlich, jugendlich heiter. Kein Wölkchen am Himmel, ungetrübt wölbt er sich über der Erde. Alles ist Leben; Thiere und Pflanzen im Genuß, im Kampf. Ihn sieben Uhr beginnt der Than zu verschwinden, der Landwind läßt etwas nach, schon wird die zunehmende Wärme bemerklich. Die Sonne steigt schnell und senkrecht am klaren und durchsichtig blauen Himmel auf, in welchem alle Dünste gleich­ mäßig aufgelöst sind, bis sich späterhin niedrig am westlichen Horizonte kleine, weißflockige Wolken bilden; diese spitzen sich gegen das Tagesgestirn zu und verlängern sich allmählich weithin am Firmamente. Ihn die neunte Stunde wird die Wiese ganz trocken ; der Wald steht im Glanze seiner Lorbeerblätter; andere Blüten entfalten sich, andere hat die schnellere Entwickelung bereits hinweggerafft. Noch eine Stunde später, und die Wolken wölben sich hochauf, sie gestalten sich zu breiten, dichteren Massen und ziehen, bisweilen verdunkelnd und kühlend, unter der Sonne hin, die in leuchtender Fülle die Landschaft beherrscht. Es zucken die Pflanzen unter den sengenden Strahlen der Sonne; ganz selbst verloren geben sie sich dem mächtigen Reize hin. Goldbeschwingte Käfer und Kolibris schwirren lustig näher; ein lebendiges Farbenspiel, gaukeln bunte Schmetterlinge und Libellen am Ufer durch einander; die Wege wimmeln von Ameisen, die in ausgedehnten Zügen Blätter zu ihren Bauwerken schleppen. Aber auch die trägern Thiere empfinden den Sonnenreiz; das Krokodil steigt vom Schlamme des mttern Ufers weiter herauf und lagert sich in den heißen Sand; Schildkröten und Eidechsen werden aus ihrem feuchten Schatten hervorgelockt; buntschillernde und düsterfarbige Schlangen schleichen in die warm beleuchteten Fußwege. Die Wolken senken sich tief, sie sondern sich schichtenweise ab, immer schwerer, dichter, düsterer umhüllen sie bläulichgran den Horizont, gegen den Zenith thürmen sie sich an zu Hellern, weitverbreiteten Massen, ein Abbild riesiger Gebirge in der Luft. Auf einmal überzieht sich der ganze Himmel, nur hie und da blickt noch die tiefe Bläue zwischendurch; die Sonne verbirgt sich, aber um so heißer liegt die Glut der Lust auf der Landschaft. Mittag ist vorüber; trüb, schwer, melancholisch hängt diese Stunde über der Natur, immer tiefer greift die Spannung, und das Wehe ist da, welches die Lust des Tages ge­ zeugt hat. Hunger und Durst jagen die Thiere umher; nur die ruhigen, die trägen, in die Schatten des Waldes geflüchteten ahnen nichts von der gewaltigen Krise der Natur; aber sie kommt; schon erkaltet sich die Lnft, die Winde fahren wild gegen einander; sie wühlen den Wald ans und dann das Meer, das immer schwärzer einherwogt, und die Flüsse, die dunkler und, vom Winde übertönt, lautlos dahinzufließen scheinen. Der Sturm ist da! Zwei-, dreimal reißt ein fahler Blitz durch die Wolken; zwei-, dreimal rollt der Donner, rollt langsam, ruhig, erbebend. Tropfen fallen. Die Pflanzen athmen aus der Ermattung nett auf; ein neuer Donner, und — nicht Regen, sondern Wasserströme

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gießt nun der erschütterte Himmel aus. Der Wald erseufzt; das lispelnde Plätschern der bewegten Blätter wächst zum Rauschen an, zum weithin tönenden dumpfen Getrommel. Blumen schwanken, Blätter fallen, zerrissene Äste, morsche Stämme stürzen; mit Gewalt nimmt der Orkan den letzten Reiz der Zartheit von den niedergedrückten Pflanzengeschlech­ tern. Auch die Thierwelt hat diese furchtbare Stunde ergriffen; verstummt, entsetzt flattert das Gefieder des WaldeS am Boden; zitternd suchen die zahllosen Geschlechter der Insekten unter Blättern, an Stämmen Schutz; von Krieg und Mord abgemahnt, läßt das Säuge­ thier nach in der Verfolgung; nur die kaltblütigen Amphibien freuen sich der herab­ stürzenden Flut, und tausendstimmig singen die Chöre der Frösche und Unken auS den feuchten Wiesen auf. In Bächen rauscht daö trübe Wasser durch die engen Waldwege dem Strome zu oder ergießt sich in die Risse deS Bodens. Mehr und mehr nimmt dabei die Temperatur der Luft ab, die Wolken entleeren sich allmählich; aber nur noch kurze Zeit,

und der Sturm ist vorüber. In verjüngtem Glanze tritt die Sonne aus langgedehnten Wolkenschichten hervor, die mehr und mehr auseinanderziehen, nach Süden und Norden sich senken und wie am Morgen in dünnen, leichten Gestalten den azurnen Grund des Firmaments umsäumen. Schon lächelt der Himmel aus tiefblauem Auge die Erde wieder an, und bald hat sie den Schreck vergeffen. Eine Stunde länger, und keine Spur des Sturms ist mehr vorhanden; in neuer Frische, vom warmen Sonnenstrahl abgetrocknet, stehen die Pflanzen, und das Thier bewegt sich wieder nach alter Weise, den angestammten Trieben folgeleistend. So zieht der Abend heran, und neue Wolken erscheinen zwischen den weißen Flocken am Hori­ zonte; sie führen bald einen violetten, bald einen fahlgelben Schein in die Landschaft ein, der harmonisch den Hintergrund der hohen Waldung, den Strom und das Meer verbindet. Die Sonne sinkt und tritt, umgeben vom buntesten Farbenschmelze, auö dem westlichen Thore des Firmaments. Mit ihr verschwinden die unruhigen Bewegungen der Thierwelt, welche nun, stille werdend, sich der nächtlichen Ruhe überläßt. Noch schimmern einzelne Lichtblicke im Abglanz der untergegangenen Sonne um die Firsten: da steigt in stiller Kühle ruhig, mild und geisterhaft der silberweiße Mond über den dunkeln Wald hervor, und in neue, weichere Formen verschmelzen sich die Gestalten. Es kommt die Nacht; in Schlaf und Traum sinkt die Natur, und der Äther, sich in ahnungsvoller Unermeßlichst über die Erde wölbend, von zahllosen Zeugen fernster Herrlichkeit erglänzend, strahlt Demuth und Vertrauen in das Herz des Menschen, die göttlichste Gabe nach einem Tage des Schauens und des Genießens. Aus Martins' Reise in Brasilien.

24. Die Hauptstadt Mexiko. Mexiko, im Jahre 1524 durch Cortez auf derselben Stelle gegründet, auf der einst Tenochtitlan, die glänzende Hauptstadt der Herrscher von Anahnak, inmitten des Sees von Tezkuko sich erhob, bildet ein fast genaues Quadrat und ist so orientirt, daß die einander beinahe überall in rechten Winkeln durchschneidenden Straßen fast genau von Süd nach Nord und von Ost nach West gerichtet sind. Nur in den Vorstädten trifft man hie und da anders laufende, nirgends aber eigentlich krumme Straßen an. Beinahe alle Straßen der eigentlichen Stadt sind sehr breit, größtentheils wohl breiter als die Hauptstraßen der größten Städte Europas. Dabei sind sie schnurgerade und bei einer Länge von 6000 bis 9000 Fuß so vollkommen eben, daß sie daö Auge mit einem einzigen Blicke überfliegt und ausruht auf den düsteren Gebirgen, welche das Thal von Mexiko rings umgeben und in der dünnen und klaren Atmosphäre so nahe erscheinen, als erhöben sie sich unmittelbar am Ende der Straßen. Kaum dürfte es irgend eine andere Stadt auf dem Erdboden geben, welche hinsichtlich der Ebene deS Bodens, der Regelmäßigkeit und Breite der Straßen und

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der Großartigkeit der öffentlichen Plätze den Vergleich mit Mexiko aushielte. Die meisten Straßen haben bedeckte, einige aber auch offene Kanäle, welche daS Regenwaffer abzuführen bestimmt sind, sich aber jeden Augenblick verstopfen, da sie nur wenig Fall haben und haben können, weil das Bett und mit ihm der Wasserstand deö Sees von Tezkuko, an dessen Ufern die Stadt liegt, sich jährlich erhöht. Der Unterschied zwischen dem Niveau der Stadt und dem gewöhnlichen höchsten Wasserstande des Sees beträgt jetzt kaum noch 18 spanische Zoll. Die bedeckten Kanäle sind mit dicken Steinplatten nicht gar dicht zugelegt. Bei starkem Regenwetter vermögen sie die vom Himmel herabströmende Waffermafse nicht zu fassen, und die Straßen werden überschwemmt, während bei trockenem und warmem Wetter der in den Kanälen angehäufte Schlamm übelriechende Dünste aushaucht, die von den fast jeden Nachmittag eintretenden Winden selten ganz vertrieben werden. Schmutziger noch sind die Straßen, in welchen statt der bedeckten Kanäle offene Rinnen die Mitte deS Fahr­ weges durchziehen. In ihnen herrscht, wenn nicht etwa das Wetter lange Zeit sehr trocken war, ein Morast, der oft bis zur Höhe mehrerer Zolle das Pflaster bedeckt. Schmutziger noch als die eigentliche Stadt, selbst elend, sind die Vorstädte der so­ genannten Barrios. Der Reisende, welcher zum ersten Male nach Mexiko kommt, kann, da er sie stets zuerst betritt, kaum glauben, daß er sich wirklich in der berühmten, reichen Hauptstadt Neu-Spaniens, dieses vermeintlichen Dorado, befinde. Ich erstieg einen der Thürme der Kathedrale, von denen herab man eines aus­ gedehnten Überblickes über die Stadt genießt. Unmittelbar zu meinen Füßen lag der große

Hauptplatz, auf dem eine Menge Menschen gleich Ameisen durch einander gingen, liefen, ritten und fuhren. Lange, volkreiche Straßen dehnen nach allen Richtungen sich aus. Rasch überfliegt das Auge die terrassenförmig, bald niedriger, bald höher sich erhebenden platten Dächer der Häuser, die nicht entstellt sind durch unfönnliche Schornsteine, deren Qualm die Atmosphäre verfinstert. Hell und glänzend lagen sie da im glühenden Sonnen­ scheine des Südens, und wenn ja hie und da ein einzelnes Rauchwölkchen rasch aufwirbelte, so hatte es doch keinen Einfluß auf die tiefe, klare Bläue deS Himmels über ihm, in deffeu unendlichen Weiten es bald verschwand. Hie und da erblickt man ein Dach, besetzt mit Blumenvasen und Kübeln voll blühender Sträuche, unter denen nach altspanischer Sitte am Abende der Klang der Guitarren ertönt. Kuppeln und Thürme in großer Anzahl erheben sich allenthalben, weit hinausragend über die platten Dächer. Ein Amerikaner zählte 105 Kuppeln, Dome und Thurmspitzen. Über die Stadt hinaus erblickt man die großen Ebenen des Thales von Tenochtitlau mit den von,der Stadt weit sich hinziehenden Alleen und Landstraßen, nut seinen spiegelglatten, in der Sonne blitzenden Seen, von Deichen durchschnitten, mit seinen freundlichen Dörfern, Meiereien und Landhäusern und mit seinen isolirten, kegelförmigen Hügeln, umgürtet von düsteren, wolkenumlagerten Ge­ birgen. Leider halten die Vulkane, der Popokatepetl und Jztaccihuatl, neidisch ihre glän­ zenden Häupter verhüllt und dem vor mir auögebreiteten prachtvollen Panorama damit eine seiner herrlichsten Schönheiten geraubt, aber dennoch war eö ein großer, ein unaussprechlich erhabener Anblick! Kein Panorama irgend einer anderen Stadt, am wenigsten einer euro­ päischen, dürfte dem von Mexiko an erhabener, majestätischer Schönheit gleichkommen. Lange stand ich da, verloren in den Anblick der zu meinen Füßen ausgebreiteten Pracht. Humboldt hat Recht. Es sind nicht seine Gebäude und Monumente, ich setze hinzu, es ist auch nicht seine Regelmäßigkeit und die Breite seiner endlosen Straßen, durch welche Mexiko jenen großartigen Eindruck hervorbringt, der ewig unverlöschlich in der Erinnerung des Reisenden fortdauert, den auch ich empfand und mit mir forttrug in bewegter Brust; nicht vergängliche Werke der Menschen sind es, eö ist die Erhabenheit, die Majestät der die Stadt umgebenden hohen, unvergleichlich prachtvollen Natur! Man darf hier nicht an eine schöne europäische Gegend denken. Mexiko ist etwas ganz Anderes. Nichts Einzelnes zieht hier das Auge an. Dies ist oft traurig, häßlich. Es ist die unbeschreibliche, fremdartige Er-

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habenheil des großen Ganzen, welche mit unwiderstehlicher Gewalt eindringt auf den Be­ schauer und ihn fortreißt zu Bewunderung und Entzücken. Unter den öffentlichen Plätzen Mexikos ist der, dessen eine Seite die Kathedrale ein­ nimmt, und welcher Plaza mayor genannt wird, der größte. Er ist vielleicht größer als irgend ein ähnlicher in einer andern Stadt der Welt, von Nord nach Süd 1153 Fuß lang und von Ost nach West 768 Fuß breit. Auf dem nördlichen Theile desselben steht die Kathedrale, ein schönes Gebäude im reinsten dorischen Stil, erbaut auf derselben Stelle, auf welcher einst der Haupitempel der Azteken sich erhob. Ein reges Leben und Treiben bewegt sich vom frühen Morgen bis in die späte Nacht unter den Arkaden und Säulengängen, welche die West- und Südseite des großen Platzes umgeben und sich von ersterer noch weit in die Straßen de los TlapaleroS und del Coliseo viejo hinabziehen. Kaufläden, Speise-, Wein- und Kaffeehäuser befinden sich unter diesen Hallen. Kleine Krämer in Galanteriewaaren, Büchern, Wachsfiguren, Spielsachen, Obst und hundert anderen Gegenständen haben unter ihnen ihre Stände, und Verkäufer von Zeitungen und Flugschriften drängen sich schreiend durch die hier beständig auf- und ab­ wogende Menge. Beutelschneider und Taschendiebe haben hier ebenfalls ihr Standquartier. Geputzte Herren aller Stände drängen und stoßen einander oder sitzen, Erfrischungen neh­ mend, in den glänzenden, lockenden, stets offenen Sälen der Restaurationen und Kaffee­ häuser. In zerrissene Mäntel und Decken gewickelt, lehnt das Volk der Leperos und Bettler an den Pfeilern, die Vorübergehenden anbettelnd oder bestehlend. Die Verkäufer sind meist Azteken, und das Ausrufen geschieht in ihrer Muttersprache, nicht in der spanischen, so daß nur die in der Stadt Mexiko Einheimischen verstehen, was ausgeboten wird. Die Ver­ käufer tragen gemeinhin alles auf den Köpfen in Körben und anderen Gefäßen. Eine andere Art von Menschen, welche ebenfalls gleich mit Anfang deö Tages rege werden, sind die Wasserträger (Aguadores), Männer, durch welche die Haushaltungen der Vornehmeren mit ihrem Bedarf an Wasser für den Tag versehen werden. Sie tragen das flüssige Ele­ ment in großen, fast kugelrunden Flaschen von gebranntem Thon, von welchen die eine, größere, an einem breiten, über die Stirn des Trägers laufenden Bande befestigt, auf dessen Rücken hangt, während die zweite, bei weitem kleinere, durch Stricke mit jener ver­ bunden und ihr alö Gegengewicht dienend, vorn vor der Brust schwebt. Gegen neun Uhr morgens ist das Geschäft dieser Leute beendet; sie haben ihren geringen Lohn bekommen und überlassen sich nun größtenteils während der übrigen Dauer des Tages dem Müßig­ gänge. Welcher Fremde hätte nicht auch auf der Plaza mayor und in deren Nähe jene wohlgekleideten Männer bemerkt, welche, versehen mit Feder, Dinte und Papier, unter Sonnenschirmen von Matten sitzen oder unter der Menge umherwandeln und den darin Unerfahrenen ihren Beistand in der edlen Schreibkunst anbieteu? Vielleicht dürfte eine ähnliche Menschenklasse außer Mexiko nirgends gefunden werden. Diese Leute heißen Evangelistas; sie schreiben mit gleicher Fertigkeit einen Liebesbrief, eine Bittschrift, eine Rechnung, eine Klageschrift oder Vorstellung an einen Gerichtshof oder was sonst immer nieder und besitzen das Talent, die verworrensten, oft kaum halb ausgesprochenen Gedanken und Andeutungen zu einem verständlichen und gefälligen Aufsatze zusammenzustellen. Rach MühlenpfordtS Schilderung der Republik Mexiko.

25. Die Llanos des Orinoko. Am Fuße des hohen Granitrückens, welcher im Jugendalter unseres Planeten bei Bildung des antillifchen Meerbusens dem Einbruch der Wasser getrotzt hat, beginnt eine weite, unabsehbare Ebene. Wenn man die Bergthäler von Caracas und den inselreichen See Takarigua, in dem die nahen Pisang - Stämme sich spiegeln, wenn man die Fluren, welche mit dem zarten und lichten Grün des tahitischen Zuckerschilfes prangen, oder den

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ersten Schatten der Kakao-Gebüsche zurückläßt: so ruht der Blick im Süden auf Steppen, die, scheinbar ansteigend, in schwindender Ferne den Horizont begrenzen. Aus der üppigen Fülle des organischen Lebens tritt der Wanderer betroffen an den öden Rand einer baum­ losen, pflanzenarmen Wüste. Kein Hügel, keine Klippe erhebt sich inselförmig in dem un­ ermeßlichen Raume. Nur hier und dort liegen gebrochene Flözschichten von zweihundert Quadratmeilen Oberfläche, bemerkbar höher als die angrenzenden Theile. Bänke nennen die Eingebornen diese Erscheinung, gleichsam ahnungsvoll durch die Sprache den alten Zustand der Dinge bezeichnend, da jene Erhöhungen und Tiefen, die Steppen selbst aber der Boden eines großen MittelmeereS waren. Bon der Küstenkette von Caracas erstreckt sich die Steppe bis zu den Wäldern der Guiana, von den Schneebergen von Merida, an deren Abhange der Natrum-See Urao ein Gegenstand des religiösen Aberglaubens der Eingebornen ist, bis zu dem großen Delta, welches der Orinoko an seiner Mündung bildet. Südwestlich zieht sie sich gleich einem MeereSarme jenseits der Ufer des Meta und des Vichada bis zu den unbesuchten Quellen des Guaviare und bis zu dem einsamen Gebirgsstock hin, welchen spanische Kriegsvölker im Spiel ihrer regsamen Phantasie den Paramo de la Suma Paz, gleichsam den schönen Sitz des ewigen Friedens, nannten. Diese Steppe nimmt einen Raum von 16000 Quadrat­ meilen ein. Aus geographischer Unkunde hat man sie oft in gleicher Breite alö ununter­ brochen bis an die Magellanische Meerenge fortlaufend geschildert, nicht eingedenk der waldigen Ebene des Amazonenflusses, welche gegen Norden und Süden von den Grassteppen deS Apure und deS La Plata-Stroms begrenzt wird. Die Andeskette von Cochabamba und die brasilianische Berggruppe senden zwischen der Provinz Chiquitos und der Landenge von Villabella einzelne Bergjoche sich entgegen. Eine schmale Ebene vereinigt die Hyläa des AmazonenfluffeS mit den Pampas von Buenos-Ayres. Letztere übertreffen die LlanoS von Venezuela dreimal an Flächeninhalt. Ja, ihre Ausdehnung ist so wundervoll groß, daß sie auf der nördlichen Seite durch Palmengebüsche begrenzt und auf der südlichen fast mit ewigem Eise bedeckt sind. Der kasuarähnliche Tuyu (Struthio Rliea) ist diesen Pampas eigenthümlich, wie die Kolonien verwilderter Hunde, welche gesellig in unterirdischen Höhlen wohnen, aber oft blutgierig den Menschen anfallen, für dessen Vertheidigung ihre Stamm­ väter kämpften. Gleich dem größten Theile der Wüste Sahara liegen die LlanoS oder die nördlichste Ebene von Südamerika in dem heißen Crdgürtel. Dennoch erscheinen sie in jeder Hälfte des Jahres unter einer verschiedenen Gestalt: bald verödet wie das libysche Sandmeer, bald als eine Grasflur wie so viele Steppen von Mittelasien. Seit der Entdeckung des neuen Kontinents sind die Ebenen (Llanos) dem Menschen bewohnbar geworden. Um den Verkehr zwischen der Küste und der Guiana (dem OrinokoLande) zu erleichtern, sind hier und da Städte an den Steppenflüsien erbaut. Überall har Viehzucht in dem unermeßlichen Raume begonnen. Tagereisen von einander entfernt liegen einzelne, mit Rindsfellen gedeckte, aus Schilf und Riemen geflochtene Hütten. Zahllose Schaaren verwilderter Stiere, Pferde und Maulesel (man schätzte sie zur friedlichen Zeit meiner Reise noch auf anderthalb Millionen Köpfe) schwärmen in der Steppe umher. Die ungeheuere Vermehrung dieser Thiere der alten Welt ist um so bewunderungswürdiger, je mannigfaltiger die Gefahren sind, mit denen sie in diesen Erdstrichen zu kämpfen haben. Wenn unter dem senkrechten Strahl der nie bewölkten Sonne die verkohlte Grasdecke in Staub zerfallen ist, klafft der erhärtete Boden auf, als wäre er von mächtigen Erdstößen erschüttert. Berühren ihn dann entgegengesetzte Luftströme, deren Streit sich in kreisender Bewegung ausgleicht, so gewährt die Ebene einen seltsamen Anblick. Als trichterförmige Wolken, die mit ihren Spitzen an der Erde hingleiten, steigt der Sand dampfartig durch die luftdünne, elektrisch geladene Mitte des Wirbels empor gleich den rauschenden Wasser­ hosen, die der erfahrene Schiffer fürchtet. Ein trübes, fast strohfarbiges Halblicht wirft die

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nun scheinbar niedrigere Himmelsdecke auf die verödete Flur. Der Horizont tritt plötzlich näher. Er verengt die Steppe, wie das Gemüth des Wanderers. Die heiße, staubige Erde, welche im nebelartig verschleierten Dunstkreise schwebt, vermehrt die erstickende Luft­ wärme. Statt Kühlung führt der Ostwind neue Glut herbei, wenn er über den lang erhitzten Boden hinweht. Auch verschwinden allmählich die Lachen, welche die gelb gebleichte Fächer­ palme vor der Verdunstung schützte. Wie im eisigen Norden die Thiere durch Kalte er­ starren, so schlummert hier unbeweglich das Krokodil und die Boa-Schlange. Überall

verkündet Dürre den Tod, und doch überall verfolgt den Dürstenden im Spiele des gebrochenen Lichtstrahls das Trugbild des wellenschlagenden WasierspiegelS. Ein schmaler Luftstreif trennt das ferne Palmengebüsch vom Boden. Es schwebt durch Kimmung gehoben bei der Berührung ungleich erwärmter und also ungleich dichter Luftschichten. In finstere Staubwolken gehüllt, von Hunger und brennendem Durste geängstigt, schweifen Pferde und Rinder umher, diese dumpf aufbrüllend, jene mit langgestrecktem Halse gegen den Wind anschnaubend, um durch die Feuchtigkeit des Luftstroms die Nähe einer nicht ganz verdampften Lache zu errathen. Bedächtiger und verschlagener sucht das Maulthier auf andere Weise seinen Durst zu lindern. Eine kugelförmige und dabei vielrippige Pflanze, der MelonenKaktuS, verschließt unter seiner stachligen Hülle ein wasierreiches Mark. Mit dem Vorder­ fuße schlägt das Maulthier die Stacheln seitwärts und wagt es dann erst, die Lippen be­ hutsam zu nähern und den kühlen Distelsaft zu trinken. Aber das Schöpfen aus dieser lebendigen, vegetabilischen Quelle ist nicht immer gefahrlos; oft sieht man Thiere, welche von Kaktus-Stacheln am Hufe gelähmt sind. Folgt auf die brennende Hitze des Tages die Kühlung der hier immer gleich langen Nacht, so können Rinder und Pferde selbst dann nicht der Ruhe sich erfreuen. Üngeheure Fledermäuse saugen ihnen während deö Schlafes

vampirartig das Blut aus oder hängen sich an dem Rücken fest, wo sie eiternde Wunden erregen, in welchen Moskitos und eine Schaar stechender Insekten sich ansiedeln. So führen die Thiere ein schmerzenvolles Leben, wenn vor der Glut der Sonne das Waffer auf dem Erdboden verschwindet. Tritt endlich nach langer Dürre die wohlthätige Regenzeit ein, so verändert sich plötzlich die Scene in der Steppe. Das tiefe Blau des bis dahin nie bewölkten Himmels wird lichter. Kaum erkennt man bei Nacht den schwarzen Raum im Sternbild des süd­ lichen Kreuzes. Der sanfte, phosphorartige Schimmer der Magellanischen Wolken verlischt. Selbst die scheitelrechten Gestirne des Adlers und des Schlangenträgers leuchten mit zittern­ dem, minder planetarischem Lichte. Wie ein entlegenes Gebirge erscheint einzelnes Gewölk im Süden, senkrecht aufsteigend am Horizonte. Nebelartig breiten allmählich die vermehrten Dünste sich über den Zenith aus. Den belebenden Regen verkündigt der ferne Donner. Kaum ist die Oberfläche der Erde benetzt, so überzieht sich die duftende Steppe mit Kyllingien, mit vielriSpigem PaSpalum und mannigfaltigen Gräsern. Vom Lichte gereizt, ent­ falten krautartige Mimosen ihre gesenkt schlummernden Blätter und begrüßen die aufgehende Sonne, wie der Frühgesang der Vögel und die sich öffnenden Blüten der Wafferpflanzen. Pferde und Rinder weiden nun in frohem Genusse des Lebens. Das hoch aufschießende Gras birgt den schön gefleckten Jaguar. Im sichern Versteck auflauernd und die Weite des eigenen Sprunges vorsichtig meffend, erhascht er die vorüberziehenden Thiere katzenartig wie der asiatische Tiger. Bisweilen sieht man (so erzählen die Eingebornen) an den Ufern der Sümpfe den befeuchteten Letten sich langsam und schollenweise erheben. Mit heftigem Getöse, wie beim Ausbruche kleiner Schlammvulkane, wird die aufgewühlte Erde hoch in die Lust geschleudert. Wer des Anblicks kundig ist, flieht die Erscheinung; denn eine riesen­ hafte Wafserschlange oder ein gepanzertes Krokodil steigen aus der Gruft hervor, durch den ersten Regenguß aus dem Scheintode erweckt. Schwellen nun allmählich die Flüsie, welche die Ebene südlich begrenzen, der Arauka, der Apure und der Payara, so zwingt die Natur dieselben Thiere, welche in der ersten Jahreshälfte auf dem wafferleeren, staubigen Boden

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Historische Prosa.

vor Durst verschmachtetem, als Amphibien zu leben. Ein Theil der Steppe erscheint nun wie ein unermeßliches Biinnenwaffer. Die Mutterpferde ziehen sich mit den Füllen auf die höheren» Bänke zurück, uvelche inselförmig über dem Seespiegel hervorragen. Mit jedem Tage verengt sich der trockene Raum. Aus Mangel an Weide schwimmen die zusammen­ gedrängten Thiere stund-enlang umher und nähren sich kärglich von der blühenden GraSrispe, die sich über denn braun gefärbten, gährenden Wasier erhebt. Viele Füllen er­ trinken, viele werden vom den Krokodilen erhascht, mit dem zackigen Schwänze zerschmettert und verschlungen. Nicht selten bemerkt man Pferde und Rinder, welche, dem Rachen dieser blutgierigen, riesemhaften Eidechsen entschlüpft, die Spur des spitzigen Zahnes am Schenkel tragen. Ein solcher Anblick erinnert unwillkürlich den ernsten Beobachter an die Biegsamkeit, mit welcher die alles aneignende Natur gewisse Thiere und Pflanzen begabt hat. Wie die mehlreichen Früchte der Ceres, so sind Stier und Roß dem Menschen über den ganzen Erdkreis gefolgt vom Ganges bis an den Platastrom, von der afrikanischen Meeresküste bis zur Gebirgsebene deK Antisana, welcher höher als der Kegelberg von Teneriffa liegt. Hier schützt die nordische Birke, dort die Dattelpalme den ermüdeten Stier vor dem Strahl der Mittagssonne. Dieselbe Thiergattung, welche im östlichen Europa mit Bären und Wölfen kämpft, wird unter einem anderen Himmelsstriche von den Angriffen der Tiger und der Krokodile bedroht. Aber nicht die Krokodile und der Jaguar allein stellen den südamerikanischen Pferden nach; auch unter den Frschen haben sie einen gefährlichen Feind. Die Sumpfwasier von Bera und Rastro sind mit zahllosen elektrischen Aalen gefüllt, deren schleimiger, gelb ge­ fleckter Körper aus jedem Theile die erschütternde Kraft nach Willkür aussendet. Diese Gymnoten haben 5 bis (6 Fuß Länge. Sie sind mächtig genug, die größten Thiere zu tobten, wenn sie ihre mervenreichen Organe auf einmal in günstiger Richtung entladen. Die Steppenstraße von Nrituku mußte einst verändert werden, weil sich die Gymnoten in solcher Menge in einem F lüßchen angehäuft hatten, daß jährlich vor Betäubung viele Pferde in der Furt ertranken. %ud) fliehen alle anderen Fische die Nähe dieser furchtbaren Aale. Selbst den Angelnden am hohen Ufer schrecken sie, wenn die feuchte Schnur ihm die Erschüt­ terung auö der Ferne zukeitet. So bricht hier elektrisches Feuer aus dem Schoße der Ge­ wässer auö. Ein malerisches Schauspiel gewährt der Fang der Gymnoten. Man jagt Maulthiere und Pferde in einen Sumpf, welchen die Indianer eng umzingeln, bis der ungewohnte Lärmen die Muthigcn Fische zum Angriff reizt. Schlangenartig sieht man sie auf dem Wasser schwimmen und sich verschlagen unter den Bauch der Pferde drängen. Bon diesen erliegen viele der Starke unsichtbarer Schläge; mit gesträubter Mähne, schnau­ bend, wilde Angst im funkelnden Auge, fliehen andere das tobende Ungewitter. Aber die Indianer, mit langen B ambusstäben bewaffnet, treiben sie in die Mitte der Lache zurück. Allmählich läßt die Wuth des ungleichen Kampfes nach. Wie entladene Wolken zerstreuen sich die ermüdeten Fische. Sie bedürfen einer langen Ruhe und einer reichlichen Nahrung, um zu sammeln, waö sie an galvanischer Kraft verschwendet haben. Schwächer und schwächer erschüttern nun. allmählich ihre Schläge. Bom Geräusch der stampfenden Pferde erschreckt, nahen sie sich furchtsam dem Ufer, wo sie durch Harpunen verwundet und mit dürrem, nicht leitendem Holze auf die Steppe gezogen werden. Dies ist der wunderbare Kampf der Pferde und Fische. Was unsichtbar die lebendige Waffe dieser Wasserbewohner ist; was, durch die Berührung feuchter und ungleichartiger Theile erweckt, in allen Organen der Thiere und Pflanzen umtreibt; was die weite Himmelsdecke donnernd entflammt; waö Eisen an Eisen bindet umd den stillen, wiederkehrenden Gang der leitenden Nadel lenkt: alles, wie die Farbe des getheilten Lichtstrahls, fließt aus einer Quelle; alles schmilzt in eine ewige, allverbreitete 'Kraft zusammen. Ich könnte hier dem gewagten Versuch eines Naturgemäldcs der Steppe schließen;

Beschreibung.

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aber wie auf dem Ocean die Phantasie sich gern mit den Bildern ferner Küsten beschLftigt, so werfen auch wir, ehe die große Ebene uns entschwindet, vorher einen flüchtigen Blick auf die Erdstriche, welche die Steppe begrenzen. Afrikas nördliche Wüste scheidet die beiden Menschenarten, welche ursprünglich dem­ selben Welttheil angehören, und deren unausgeglichener Zwist so alt als die Mythe von Osiris und Typhon scheint. Nördlich vom Atlas wohnen schlicht- und langhaarige Bölkerstämme von gelber Farbe und kaukasischer Gesichtsbildung; dagegen leben südlich vom Senegal gegen Sudan hin Negerhorden, die auf mannigfaltigen Stufen der Civilisation gefunden werden. In Mittel-Asien ist durch die mongolische Steppe sibirische Barbarei von der uralten Menschenbildung auf der Halbinsel von Hindostan getrennt. Auch die südamerikanischen Ebenen begrenzen das Gebiet europäischer Halbkultur. Nördlich, zwischen der Gebirgskette von Venezuela und dem antillischen Meere, liegen gewerbsame Städte, reinliche Dörfer und sorgsam bebaute Fluren an einander gedrängt. Selbst Kunstsinn, wissenschaftliche Bildung und die edle Liebe zur Bürgerfreiheit sind längst darinnen erwacht. Gegen Süden umgiebt die Steppe eine schaudervolle Wildnis. Tausendjährige Wälder, ein undurchdringliches Dickicht erfüllen den feuchten Erdstrich zwischen dem Orinoko und dem Amazonenstrome. Mächtige, bleifarbige Granitmasien verengen das Bett der schäu­ menden Flüsse. Berge und Wälder hallen wieder von dem Donner der stürzenden Wasser, von dem Gebrüll des tigerartigen Jaguar, von dem dumpfen, regenverkündenden Geheul der bärtigen Affen. Wo der seichte Strom eine Sandbank übrig läßt, da liegen mit offenem Rachen, unbeweglich wie Felsstücke hingestreckr, oft bedeckt mit Vögeln, die ungeschlachten Körper der Krokodile. Den Schwan; um einen Banmast befestigt, znsammengerollt, lauert am Ufer, ihrer Beute gewiß, die schachbrett-fleckige Boa-Schlange. Schnell entrollt und vorgestreckt, ergreift sie in der Furt den jungen Stier oder das schwächere Wildbret und zwängt den Raub, in Geifer gehüllt, mühsam durch den schwellenden Hals. In dieser großen und wilden Natur leben mannigfaltige Geschlechter der Menschen. Durch wunderbare Verschiedenheit der Sprachen gesondert, sind einige nomadisch, dem Ackerbau fremd, Ameisen, Gummi und Erde genießend, ein Auswurf der Menschheit; an­ dere angesiedelt, von selbsterzielten Früchten genährt, verständig und sanfter Sitten. Große Räume zwischen dem Kassiquiare und dem Arabapo sind nur vom Tapir und von geselligen Affen, nicht von Menschen bewohnt. In Felsen gegrabene Bilder beweisen, daß auch diese Einöde einst der Sitz höherer Kultur war. Sie zeugen für die wechselnden Schicksale der Völker, wie eö auch die ungleich entwickelten, biegsamen Sprachen thun, welche zu den ältesten und unvergänglichsten historischen Denkmälern der Menschheit gehören. Wenn aber in der Steppe Tiger und Krokodile mit Pferden und Rindern kämpfen, so sehen wir an ihrem waldigen Ufer, in den Wildnissen der Guiana, ewig den Menschen gegen den Menschen gerüstet. Mit unnatürlicher Begier trinken hier einzelne Völkerstämme das ausgesogene Blut ihrer Feinde; andere würgen, scheinbar waffenlos und doch zum Morde vorbereitet, mit vergiftetem Daumnagel. Die schwächeren Horden, wenn sie das sandige Ufer betreten, vertilgen sorgsam mit den Händen die Spur ihrer schüchternen Tritte. So bereitet der Mensch auf der untersten Stufe thierischer Roheit, so im Scheinglanze seiner höheren Bildung sich stets ein mühevolles Leben. So verfolgt den Wanderer über den weiten Erdkreis, über Meer und Land, wie den Geschichtsforscher durch alle Jahrhun­ derte, das einförmige, trostlose Bild des entzweiten Geschlechts. Darum versenkt, wer im ungeschlichteten Zwist der Völker nach geistiger Ruhe strebt, gern den Blick in das stille Leben der Pflanzen und in der heiligen Naturkraft inneres Wirken; oder, hingegeben dem angestammten Triebe, der seit Jahrtausenden der Menschen Brust durchglüht, blickt er ahnungsvoll aufwärts zu den hohen Gestirnen, welche in un­ gestörtem Einklang die alte, ewige Bahn vollenden. A. v. Humboldt.

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Historische Prosa.

26. Die Siidsee-Inseln (Oceanien-. Die Südsee bietet eine ungeheure Menge Inseln dar, doch zeigt sich ein verschiedener Charakter bei denjenigen, welche sich an die Festländer zunächst anschließen, und denen, die in größerer Entfernung von ihnen liegen. Lassen wir alle zu den Festländern gehörigen Inselgruppen außer Betracht, so bleibt in der Südsee nur die unendliche Menge kleiner Inseln übrig, welche zwischen den Wendekreisen oder ein wenig außerhalb derselben (die Pitcairninsel, die Osterinsel bis 27 0 südl. Breite) liegen, und eben diese sind es, die wir Oceanien oder die Südsee-Inseln in engerer Bedeutung nennen. Was diese Inselwelt auszeichnet, ist fürs erste die unendliche Menge von Inseln, dann, daß sie alle so klein sind. Man vergleiche West-Indien, den griechischen Archipel, Polynesien (die Inseln zwischen Asien und Neu-Holland). Die größte von den Südsee-Jnseln in diesem Sinne istOwaihi, eine der Sandwichs-Jnseln, welche, obwohl nur ein halb Mal größer als Seeland, doch im Vergleich mit den übrigen Inseln sehr groß ist. Oceanien stellt sich auf der Karte als eine Wasserfläche mit einer unendlichen Menge ganz kleiner, hingespritzter Flecken Landes dar. Hieraus folgt, daß Oceanien in Hinsicht auf Klima, Pflanzenwelt, Thierwelt, Verkehrs­ verhältnisse und Lebensart der Bewohner in hohem Grade vom Meere abhängig ist. Beim ersten Blick nimmt man keine Ordnung oder Regelmäßigkeit in der Vertheilung der Inseln wahr. Doch nördlich vom Äquator sind dieJnseln mehr in Reihen, südlich von

demselben mehr in rundliche Gruppen geordnet. Demnächst wird man bemerken, daß sämmtliche Inseln einen Bogen von Norden nach Südosten, von den nördlichen Marianen bis zur Osterinsel bilden. Die Sandwichs-Jnseln liegen in bedeutender Entfernung von den übrigen mitten vor dem Bogen. Die Ausdehnung von Ost nach West, je nach der Breite verschieden, beträgt nach einem mittleren Verhältnis 800 Meilen, von Norden nach Süden 700 Meilen. In Hinsicht der geognostischen Verhältnisse der Südsee-Jnseln müssen wir zuerst die Korallenbildungen erwähnen, welche hier eine wichtige Rolle spielen, und unter diesen zu­ nächst die sogenannten Atolls (Lagunen-Jnseln). Es sind ganz kleine Inseln, welche einen Ring oder Theile eines Ringes, rings um einen See im Innern, eine Lagune, bilden. Der Ring ist entweder ganz geschlossen oder läßt eine oder mehrere Öffnungen; er ist indeß auch oft länglich, statt kreisförmig; die ganze Insel erhebt sich nur sehr wenig über das Meer, sechs, zwölf, höchstens dreißig Fuß; sie wird ausschließlich aus Korallen und Korallen­ bruchstücken gebildet; die Breite des Ringes beträgt 1000 bis 2000 Fuß und wird zum Theil zur Flutzeit überschwemmt. Die Lagune hat keine bedeutende Tiefe; sie wird all­ mählich von den Bruchstücken, die vom Meere ausgeworfen werden, angefüllt, und das Wasser wird, wenn der Ring geschlossen ist und eine gewisse Höhe erreicht hat, Süßwasser. Die Atolls sind vornehmlich in einem Gürtel von den Karolinen über die Mulgraves-Jnseln bis zu den niedrigen Inseln, also von Nordwest nach Südost, herrschend und machen den größten Theil von Oceanien aus. Ein Beispiel eines Atolls giebt die Psingstinsel unter den niedrigen Inseln. Die zweite Art von Korallenbildungen zeigt sich als Korallenriffe, welche in einiger Entfernung von Inseln liegen, verschiedene Größe und geognostische Zusammensetzung haben, aber den Umrissen der Küste folgen. Ein Beispiel ist Borraborra und Rajatea unter den Gesellschafts-Inseln. Diese Riffe sind ganz klein, ringförmig und niedrig und gleichen insofern wesentlich den Atolls im Bau, besonders wenn die Insel, welche umgeben wird, klein ist. Das Wasser oder der Kanal zwischen der Insel und den Riffen ist selten ganz abgeschlossen, sondern es sind an sich darin mehr oder weniger Öffnungen. Die Tiefe des Kanals übersteigt nicht 50 Faden, während sich oft außer dem Kreise der Riffe kein Grund findet. Hierzu gehören die Gesellschafts-Inseln, die Fidji-Inseln und einige kleinere Gruppen.

Beschreibung.

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Endlich kommen Korallenbildungen als Korallenbänke vor, welche sich der Küste -größerer oder kleinerer Inseln entweder unmittelbar oder mit dazwischenliegendem Grundwasier anschließen; so die Sandwichs-Jnseln, die Marianen und einige kleinere. Die Koralleninseln zunächst unter der Meeresfläche werden durch die Korallenthiere gebilDet. Es sind kleine schleimige Polypen mit vielen runden Fangarmen, welche in großen Kolonien leben, indem das eine Thier aus dem anderen, wie Knospen auf den Bäumen, hervorwächst. Solche Kolonien zeigen sich daher bald verzweigt wie Bäume, bald in niedrigen Haufen oder halbkugeligen Massen. Das Klima ist im höchsten Grade angenehm und dabei sehr gesund. Die vielen gefährlichen und verheerenden Krankheiten, welche in anderen Klimaten zwischen den Wende­ kreisen, wie auf Java, in Guinea, auf West-Indien, vorkommen, findet man hier nicht. Man genießt einer frischen Seeluft. Wo ein hoher Wärmegrad und hinreichende Feuchtigkeit sich vereinigen, pflegt eine üppige und an Formen reiche Flora zu sein, wie in Brasilien, Java, Indien. Üppig ist die Vegetation zwar auch hier, wenigstens auf den gebirgigen Inseln, obschon man eine so große Fülle von Gewächsen, wie in anderen tropischen Gegenden, nicht findet, aber an Formen sind die Südsee-Jnseln arm, und die hervortretenden sind nicht sehr eigenthümlich. Die Flora stimmt am meisten mit der von Asien, weniger mit der Neu-Hollands, am wenigsten mit der von Amerika, und zwar selbst auf den Inseln, die diesem Festlande näher als Asien liegen, überein. Merkwürdig ist die verhältnismäßig große Anzahl von Farrnkräurern und Lykopodien. JstOceanien arm an Pflanzenarten, so ist es noch weit ärmer anLand-Säugethieren, ja, es entbehrt deren fast gänzlich. Als die Europäer zuerst nach diesen Inseln kamen, fanden sie keine anderen Land-Säugethiere als das Schwein, den Hund und die Ratte, Thiere, von welchen man annehmen muß, daß sie entweder mit oder gegen ihren Willen dahin gebracht worden sind; sie fanden sich auch nicht auf allen Inseln. Die neueren Naturforscher erwähnen außerdem die Maus, welche wohl mit europäischen Schiffen dahin gekommen ist, ein paar Arten Fledermäuse und ein kleines Nagethier. Die Anzahl der Land-Säugethiere ist also außerordentlich gering. Die Ursache davon muß wohl in der Schwierigkeit, welche das Meer der Ausbreitung der Land - Säugethiere entgegengestellt, gesucht werden. Seehunde, Fische, Schildkröten, Krebse, Mollusken und andere Seethiere find dagegen im Überfluß vorhanden. Die Südsee-Bewohner gehören alle zu einer Race, welche sogar die Neuseeländer unter sich begreift, eine Race von übereinstimmendem Körperbau und mit derselben Sprache, jo daß sie einander gegenseitig verstehen. W. v. Humboldt hat dargethan, daß diese Sprache ein Zweig der Malayensprache ist, weshalb die Neueren auch die Oceaniten als einen Hauptzweig der malayischen Menschenrace betrachten, welche vermuthlich trotz des im Passatwinde liegenden Hindernisses allmählich den größten Theil dieser Inseln bevölkert habe. Sie sind eher groß als klein, von kräftigen, muskulösen und abgerundeten Formen, welche in passenden Verhältnissen zu einander stehen. Der Schädel ist nicht sehr abweichend von dem indisch-europäischen Bau, doch ist die Stirn etwas zurücktretend, die Backen sind ein wenig mehr vorstehend und daS Gesicht etwas breiter. Die Lippen sind etwas dicker, die Augen groß und nicht schräge gestellt. Das Haar ist gewöhnlich glatt oder lockig, schwarz, braun, ja hier und da sogar röthlich. Die Hautfarbe ist gelbbraun oder schmutzig­ gelb, bei einigen, namentlich den Otaheitern, verhältnismäßig hell, nicht dunkler als bei den Süd-Europäern, besonders bei denen, die nicht in freier Luft arbeiten. Auch Sitten und Gebräuche sind sehr übereinstimmend; so das Tätowiren, welches darin besteht, daß man Linien in die Haut punktirt und dadurch Verzierungen über den ganzen Körper oder ein­ zelne Theile desselben anbringt. Diese Punktirungen werden mit einem Flügelknochen gemacht, dessen Ende kammförmig mit vielen Spitzen ausgeschnitten wird; die dadurch

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Wissen sch astlich e Prosa.

hervorgebrachten Wunden werden mit Kohle von der sogenannten Brenn-Nuß eingerieben. Die Operation dauert mehrere Wochen. Von den Geschickteren werden diese Verzierungen mit Kunst, Zierlichkeit, Symmetrie und Geschmack ausgeführt, z. B. Schilde auf den Waden, Streifen auf Armen und Beinen. Als die Europäer zuerst nach den Südsee-Inseln kamen, fanden sie auf den meisten einen gewissen Grad von Civilisation. Ackerbau, zum Theil mit künstlicher Bewässerung, und Gartenbau waren allgemein; Bereitung von Zeugen, besonders von dem Papier-Maul­ beerbaume, Farbestoffe, hübsch verzierte Holzgeräthe, mancherlei Putz, Doppelböte. Kunst verrieth sich in diesen Gerathen und im Tätowiren. Es gab Sänger; Beredsamkeit wurde in Volksversammlungen geübt; eine geordnete Negierungsform, Häuptlinge und Fürsten waren vorhanden. Doch war es nicht ungewöhnlich, die Feinde zu verzehren, ein Ge­ brauch, der wohl in Verbindung mit dem Mangel an Hausthieren stand. Die Oceaniten, die von Natur aufgeweckt und wohlbegabt find, zeigen eine seltene Empfänglichkeit für europäische Bildung, und auf den Inseln, welche die Europäer unaufhörlich besuchen, sind die Bewohner des Landes schon fast unkenntlich geworden. Die Eingeborenen kleiden sich europäisch, bedienen sich europäischer Möbel, kennen Kanonen und Schießgewehre, haben Kirchen und Schulen, bauen Schiffe nach europäischer Weise, legen Straßen an. Wo man Pferde eingeführt hat, sind die Bewohner, Männer und Frauen, ausgezeichnete Reiter geworden. Sie haben zum Theil mit Enthusiasmus die europäischen Bildungsmittel aus­ genommen. Als die Bewohner der Sandwichs-Inseln erfuhren, daß man mit Hülfe der Schreibekunst einander seine Gedanken mittheilen könne, machte dies einen solchen Eindruck auf sie, daß alle, groß und klein, mit Schreibebüchern nach den Schulen eilten und diese wahrhaft bestürmten. Ein ähnlicher Auftritt bot sich bei Ankunft der ersten Druckerei auf Eimeo, einer der Gesellschafts-Inseln, dar. In Honolulu erscheinen vier Zeitschriften in der englischen Sprache und in der Sprache der Eingeborenen (Kanak-Sprache). Auf den Sandwichs-Inseln, wo vor 72 Jahren Cook von den Eingeborenen getödtet wurde, sieht man jetzt europäische Trachten und Wohnungen, Packhäuser, Kaffeehäuser, Billards, Gast­ häuser, Schildwachen in Uniform, montirte Batterien und mehrere hundert Schiffe, die alljährlich von Nord-Amerika und Europa kommen. Wären die Inseln nicht so zahlreich und so zerstreut, so würde die Zeit nicht mehr fern sein, in welcher die nationalen Sitten und Gebräuche der Oceaniten in Alterthums-Museen studirt werden müßten, so wie wir jetzt die Sitten unserer heidnischen Vorfahren dort studiren. Zu dieser großen Umwälzung in den Sitten der Oceaniten haben vor allem die englischen Missionäre von den Sekten der Dissenters beigetragen. Aus Schouws Proben einer Erdbeschreibung.

II. Are wissenschaftliche Mrosa. a.

Philosophie.

1. Die Unsterblichkeit der Seele. Wie beklagenswerth ist das Schicksal eines Sterblichen, der sich durch unglückliche Sophistereien um die tröstliche Erwartung eines zukünftigen Lebens gebracht hat! Er muß über seinen Zustand nicht nachdenken und wie in einer Betäubung dahinleben oder ver­ zweifeln. Was ist der menschlichen Seele schrecklicher als die Zernichtung und was elender als ein Mensch, der sie mit starken Schritten auf sich zukommen sieht und in der trostlosen Furcht, mit der er sie erwartet, sie schon vorher zu empfinden glaubt? Im Glücke schleicht sich der entsetzliche Gedanke vom Nichtsein zwischen die wollüstigen Vorstellungen, wie eine

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Wissen sch astlich e Prosa.

hervorgebrachten Wunden werden mit Kohle von der sogenannten Brenn-Nuß eingerieben. Die Operation dauert mehrere Wochen. Von den Geschickteren werden diese Verzierungen mit Kunst, Zierlichkeit, Symmetrie und Geschmack ausgeführt, z. B. Schilde auf den Waden, Streifen auf Armen und Beinen. Als die Europäer zuerst nach den Südsee-Inseln kamen, fanden sie auf den meisten einen gewissen Grad von Civilisation. Ackerbau, zum Theil mit künstlicher Bewässerung, und Gartenbau waren allgemein; Bereitung von Zeugen, besonders von dem Papier-Maul­ beerbaume, Farbestoffe, hübsch verzierte Holzgeräthe, mancherlei Putz, Doppelböte. Kunst verrieth sich in diesen Gerathen und im Tätowiren. Es gab Sänger; Beredsamkeit wurde in Volksversammlungen geübt; eine geordnete Negierungsform, Häuptlinge und Fürsten waren vorhanden. Doch war es nicht ungewöhnlich, die Feinde zu verzehren, ein Ge­ brauch, der wohl in Verbindung mit dem Mangel an Hausthieren stand. Die Oceaniten, die von Natur aufgeweckt und wohlbegabt find, zeigen eine seltene Empfänglichkeit für europäische Bildung, und auf den Inseln, welche die Europäer unaufhörlich besuchen, sind die Bewohner des Landes schon fast unkenntlich geworden. Die Eingeborenen kleiden sich europäisch, bedienen sich europäischer Möbel, kennen Kanonen und Schießgewehre, haben Kirchen und Schulen, bauen Schiffe nach europäischer Weise, legen Straßen an. Wo man Pferde eingeführt hat, sind die Bewohner, Männer und Frauen, ausgezeichnete Reiter geworden. Sie haben zum Theil mit Enthusiasmus die europäischen Bildungsmittel aus­ genommen. Als die Bewohner der Sandwichs-Inseln erfuhren, daß man mit Hülfe der Schreibekunst einander seine Gedanken mittheilen könne, machte dies einen solchen Eindruck auf sie, daß alle, groß und klein, mit Schreibebüchern nach den Schulen eilten und diese wahrhaft bestürmten. Ein ähnlicher Auftritt bot sich bei Ankunft der ersten Druckerei auf Eimeo, einer der Gesellschafts-Inseln, dar. In Honolulu erscheinen vier Zeitschriften in der englischen Sprache und in der Sprache der Eingeborenen (Kanak-Sprache). Auf den Sandwichs-Inseln, wo vor 72 Jahren Cook von den Eingeborenen getödtet wurde, sieht man jetzt europäische Trachten und Wohnungen, Packhäuser, Kaffeehäuser, Billards, Gast­ häuser, Schildwachen in Uniform, montirte Batterien und mehrere hundert Schiffe, die alljährlich von Nord-Amerika und Europa kommen. Wären die Inseln nicht so zahlreich und so zerstreut, so würde die Zeit nicht mehr fern sein, in welcher die nationalen Sitten und Gebräuche der Oceaniten in Alterthums-Museen studirt werden müßten, so wie wir jetzt die Sitten unserer heidnischen Vorfahren dort studiren. Zu dieser großen Umwälzung in den Sitten der Oceaniten haben vor allem die englischen Missionäre von den Sekten der Dissenters beigetragen. Aus Schouws Proben einer Erdbeschreibung.

II. Are wissenschaftliche Mrosa. a.

Philosophie.

1. Die Unsterblichkeit der Seele. Wie beklagenswerth ist das Schicksal eines Sterblichen, der sich durch unglückliche Sophistereien um die tröstliche Erwartung eines zukünftigen Lebens gebracht hat! Er muß über seinen Zustand nicht nachdenken und wie in einer Betäubung dahinleben oder ver­ zweifeln. Was ist der menschlichen Seele schrecklicher als die Zernichtung und was elender als ein Mensch, der sie mit starken Schritten auf sich zukommen sieht und in der trostlosen Furcht, mit der er sie erwartet, sie schon vorher zu empfinden glaubt? Im Glücke schleicht sich der entsetzliche Gedanke vom Nichtsein zwischen die wollüstigen Vorstellungen, wie eine

Philosophie.

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Schlange zwischen Blumen, und vergiftet den Genuß des Lebens; und im Unglück schlägt er den Menschen ganz hoffnungslos zu Boden, indem er ihm den einzigen Trost verküm­ mert, der das Elend versüßen kann, die Hoffnung einer besseren Zukunft. Ja, der Begriff einer bevorstehenden Zernichtung streitet so wider die Natur der menschlichen Seele, daß wir ihn mit seinen nächsten Folgen nicht zusammenreimen können und, wohin wir uns wenden, auf lausend Ungereimtheiten und Widersprüche stoßen. Was ist das Leben mit allen seinen Mühseligkeiten, besonders wenn die angenehmen Augenblicke desselben von der Angst vor einer unvermeidlichen Zernichtung vergällt werden? Was ist eine Dauer von gestern und heute, die morgen nicht mehr sein wird? Eine höchst verächtliche Kleinigkeit, die uns die Mühe, Arbeit, Sorgen und Beschwerlichkeiten, mit welchen sie erhalten wird, sehr schlecht belohnt! Und gleichwohl ist dem, der nichts Besseres zu hoffen hat, diese Kleinig­ keit alles. Seiner Lehre zufolge müßte ihm das gegenwärtige Dasein das höchste Gut sein, dem nichts in der Welt die Wage halten kann, müßte das schmerzlichste, das gequälteste Leben dem Tode, als der völligen Zernichtung seines Wesens, unendlich vorzuziehen sein, seine Liebe zum Leben müßte schlechterdings von nichts überwunden werden können. Welcher Bewegungsgrund, welche Betrachtung würde mächtig genug sein, ihn in die geringste Lebensgefahr zu führen? Ehre und Nachruhm? Diese Schatten verschwinden, wenn von wirklichen Gütern die Rede ist, die mit ihnen in Vergleichung kommen sollen. Es betrifft das Wohl seiner Kinder, seiner Freunde, seines Vaterlandes? Und wenn es das Wohl des ganzen menschlichen Geschlechts wäre; ihm ist der armseligste Genuß weniger Augenblicke alles, was er sich zu getrösten hat, und daher von unendlicher Wichtigkeit. Wie kann er sie in die Schanze schlagen? Was er wagt, ist mit dem, was er zu erhalten hofft, gar nicht in Vergleichung zu bringen; denn das Leben ist nach dem Gedanken dieser Sophisten in Ver­ gleichung mit allen anderen Gütern unendlich groß. Hat es aber keine Heldengeister gegeben, die, ohne von ihrer Unsterblichkeit überführt zu sein, für die Rechte der Menschlichkeit, Freiheit, Tugend und Wahrheit ihr Leben hin­ gegeben? O ja, und auch solche, die es um weit minder löblicher Ursachen willen auf das Spiel gesetzt. Aber gewiß hat sie das Herz und nicht der Verstand dahin gebracht. Sie haben, ohne es zu wissen, durch diese That ihre eigenen Grundsätze verleugnet. Wer ein künftiges Leben hofft und das Ziel seines Daseins in der Fortschreitung zur Vollkommen­ heit setzt, der kann zu sich selber sagen: Siehe, du bist hierher gesendet worden, durch Beförderung des Guten dich selbst vollkommener zu machen; du darfst also das Gute, wenn es nicht anders erhalten werden kann, selbst auf Unkosten deines Lebens befördern. Drohet die Tyrannei deinem Baterlande den Untergang, ist die Gerechtigkeit in Gefahr unterdrückt, die Tugend gekränkt und Religion und Wahrheit verfolgt zu werden, so mache von deinem Leben den Gebrauch, zu welchem es dir verliehen worden; stirb, um dem menschlichen Geschlechte diese theuren Mittel zur Glückseligkeit zu erhalten! Das Verdienst, mit so vieler Selbstverleugnung das Gute befördert zu haben, giebt deinem Wesen einen unaussprechlichen Werth, der zugleich von unendlicher Dauer sein wird. Sobald mir der Tod das gewähret, was das Leben nicht gewähren kann, so ist es weine Pflicht, mein Beruf, meiner Bestimmung gemäß zu sterben. Nur alsdann läßt sich der Werth dieses Lebens angeben und mit anderen Gütern in Vergleich bringen, wann wir es als ein Mittel zur Glückseligkeit betrachten. Sobald wir aber mit dem Leben auch unser Dasein verlieren, so hört es auf, ein bloßes Mittel zu sein; es wird der Endzweck, das letzte Ziel unserer Wünsche, das höchste Gut, wonach wir streben können, das um sein selbst willen gesucht, geliebt und verlangt wird, und kein Gut in der Welt kann mit ihm in Ver­ gleichung kommen, viel weniger ihm vorgezogen werden; denn es übertrifft alle anderen Betrachtungen an Wichtigkeit. Ich kann daher unmöglich glauben, daß ein Mensch, dem mit diesem Leben alles aus ist, sich nach seinen Grundsätzen dem Wohl des Vaterlandes oder des ganzen menschlichen Geschlechtes aufopfern könne. Ich bin vielmehr der Meinung,

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Wissenschaftliche Pros a.

daß, so oft die Erhaltung des Vaterlandes z. B. unumgänglich erfordert, daß ein Bürger das Leben verliere oder auch nur in Gefahr komme, es zu verlieren, nach dieser Voraus­ setzung ein Krieg zwischen dem Vaterlande und diesem Bürger entstehen muß und, was das Seltsamste ist, ein Krieg, der auf beiden Seiten gerecht ist. Denn hat das Vater­ land nicht ein Recht, von jedem Bürger zu verlangen, daß er sich dem Wohl des Ganzen aufopfere? Wer wird dieses leugnen? Allein dieser Bürger hat das gerade entgegen­ gesetzte Recht , sobald das Leben sein höchstes Gut ist. Er kann, er darf den Untergang seines Vaterlandes suchen, um sein allertheuerstes Leben einige Tage zu verlängern. Jedem moralischen Wesen kommt nach dieser Voraussetzung ein entschiedenes Recht zu, den Unter­ gang der ganzen Welt zu verursachen, wenn es sein Leben, sein Dasein nur fristen kann. Ebendasselbe Recht haben alle seine Nebenmenschen. Welch ein allgemeiner Aufstand! Welche Zerrüttung, welche Verwirrung in der sittlichen Welt! Ein Krieg, der auf beiden Seiten gerecht ist, ein allgemeiner Krieg aller moralischen Wesen, wo jedes in Wahrheit das Recht auf seiner Seite hat; ein Streit, der an und für sich selbst auch von dem aller­ gerechtesten Richter der Welt nicht nach Recht und Billigkeit entschieden werden kann! Was kann ungereimter sein? Offenbar hat der Staat, wie jede andere sittliche Person, ein Recht, denjenigen zu strafen, der sie beleidigt, und wenn es leichtere Strafen nicht thun, ihn sogar am Leben zu strafen. Wenn dies der Fall ist, so muß der Beleidiger auch nach der Strenge der Gerechtigkeit verbunden sein, die Strafe zu dulden. Ohne diese leidende Verbindlichkeit wäre jenes Recht ein leerer Ton, Worte ohne Sinn und Bedeutung. So wenig es in der physischen Welt ein Wirken ohne ein Leiden giebt: ebensowenig kann in der sittlichen Welt ein Recht auf eine Person ohne eine Verbindlichkeit von Seiten dieser Person gedacht werden. Aber so könnten wir nicht denken, wenn das Leben uns alles wäre. Dieser irrigen Meinung zufolge käme dem abscheulichen Verbrecher nicht die Obliegenheit zu, die wohlverdiente Strafe zu leiden; sondern wenn er bei der Republik sein Leben verwirkt hat, so ist er befugt, das Vaterland, das seinen Untergang will, zu Grunde zu richten. Das Geschehene ist nicht mehr zu ändern. Das Leben ist sein höchstes Gut; wie kann er ihm das Wohl der Republik vorziehen? Wie kann ihm die Natur eine Pflicht ver­ schreiben, die nicht auf sein höchstes Gut abzielet? Wie kann er verbunden sein, etwas zu thun oder zu leiden, das mit seiner ganzen Glückseligkeit streitet? Es wird also ihm nicht unerlaubt sein, ja sogar obliegen, den Staat durch Feuer und Schwert zu ver­ wirren, wenn er sein Leben dadurch retten kann. Wodurch aber hat der Bösewicht diese Befugnis erlangt? Bevor er das zu bestrafende Verbrechen begangen, war er als Mensch verbunden, das Wohl der Menschen, als Bürger, das Wohl seiner Mitbürger zu beför­ dern. Was kann ihn nunmehr von dieser Verbindlichkeit befreien und ihm dagegen das entgegengesetzte Recht gegeben haben, alles neben sich zu vernichten? Was hat diese Veränderung in seinen Pflichten verursacht? Wer untersteht sich zu antworten: Das begangene Verbrechen selbst! Eine andere unglückselige Folge von dieser Meinung ist, daß ihre Anhänger genöthigt sind, die Vorsehung Gottes zu leugnen. Da nach ihren Gedanken das Leben der Menschen zwischen die engen Grenzen von Geburt und Tod eingeschränkt ist, so können sie den Lauf desselben mit ihren Augen verfolgen und ganz übersehen. Sie haben also Kenntnis der Sache genug, die Wege der Vorsehung, wenn es eine giebt, zu beurtheilen. Nun bemerken sie in den Begebenheiten dieser Welt vieles, das offenbar mit dem Begriffe, den wir uns von den Eigenschaften Gottes machen müssen, nicht übereinstimmt. Manches widerspricht seiner Güte, manches seiner Gerechtigkeit, und bisweilen sollte man glauben, das Schicksal der Menschen sei von einer Ursache angeordnet worden, die am Bösen Vergnügen gefunden. In dem physischen Theile des Menschen entdecken sie lauter Ordnung, Schönheit und Har­ monie, die allerweisesten Absichten und die vollkommenste Übereinstimmung zwischen Mittel

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und Endzweck: lauter sichtbare Beweise der göttlichen Weisheit und Güte. Aber in dem gesellschaftlichen und sittlichen Leben der Menschen, soviel wir allhier davon übersehen können, sind die. Spuren dieser göttlichen Eigenschaften ganz unkenntlich. Triumphirende Laster, gekrönte Übelthaten, verfolgte Unschuld, unterdrückte Tugenden sind wenigstens nicht selten. Die Unschuldigen und Gerechten leiden nicht seltener als die Übelthäter; Meuterei

gelingt so oft als die weiseste Gesetzgebung und ein ungerechter Krieg so gut als die Ver­ tilgung der Ungeheuer oder jede andere wohlthätige Unternehmung, die zum Besten des menschlichen Geschlechtes gereicht; Glück und Unglück trifft Gute und Böse ohne merklichen Unterschied und müssen in den Augen dieser Sophisten wenigstens ganz ohne Absicht auf Tugend und Verdienst unter die Menschen vertheilt zu sein scheinen. Wenn sich ein weises, gütiges und gerechtes Wesen um das Schicksal der Menschen bekümmerte und es nach seinem Wohlgefallen ordnete: würde nicht in der sittlichen Welt eben die weise Ordnung herrschen, die wir in der physischen bewundern? Zwar dürfte mancher sagen: „Diese Klagen rühren nur von unzufriedenen Gemü­ thern her, denen es weder Götter, noch Menschen recht machen können. Erfüllet ihnen alle ihre Wünsche , setzet sie auf den Gipfel der Glückseligkeit: sie finden in den düsteren Winkeln ihres Herzens noch allemal Eigensinn und üble Laune genug, sich über ihre Wohl­ thäter selbst zu beklagen. In den Augen eines mäßigen und genügsamen Menschen sind die Güter dieser Welt so ungleich nicht auögetheilt, als man glaubt. Die Tugend hat mehrentheils eine innere Selbstberuhigung zur Gefährtin, welche eine süßere Belohnung für sie ist als Glück, Ehre und Reichthum. Die unterliegende Unschuld würde sich viel­ leicht selten an die Stelle des Würhrichs wünschen, der ihr den Fuß in den Nacken setzt; sie würde das in die Augen fallende Glück nur allzutheuer durch innere Unruhen erkaufen müssen. Überhaupt wer mehr auf die Empfindungen der Menschen Achtung giebt als auf ihre Urtheile, der wird ihren Zustand lange so beklagenswerth nicht finden, als sie ihn in ihren gemeinen Reden und Unterhaltungen machen." So dürfte mancher vorgeben, um die Wege einer weisen Vorsehung in der Natur zu retten. Allein alle diese Gründe haben nur alsdann ein Gewicht, wenn mit diesem Leben nicht alles für uns aus ist, wenn sich die Hoffnungen vor uns hin ins Unendliche erstrecken. In diesem Falle kann es, ja es muß für unsere Glückseligkeit weit wichtiger sein, wenn wir hienieden mit dem Unglück ringen, wenn wir Geduld, Standhaftigkeit und Ergebung in den göttlichen Willen lernen und üben, als wenn wir uns im Glück und Überfluß vergessen. Wenn ich auch das

Leben unter tausend Martern endige, was thut dieses? Hat nur meine Seele dadurch die.Schönheit der leidenden Unschuld erworben, so ist sie für alle ihre Pein mit Wucher bezahlt. Die Qual ist vergänglich und der Lohn von ewiger Dauer. Aber was hält den schadlos, der unter diesen Qualen sein ganzes Leben aufgiebt und mit dem letzten Odem auch alle Schönheiten seines Geistes fahren läßt, die er durch diesen Kampf er­ worben? Ist daö Schicksal eines solchen Menschen nicht grausam? Kann der gerecht und gütig sein, der eö so geordnet? Und gesetzt, das Bewußtsein der Unschuld hielte allen schmerzhaften Empfindungen, der Todesqual selbst, die der Unschuldige von den Händen seines Verfolgers leidet, das Gleichgewicht: soll jener Gewaltthäter, jener Beleidiger der göttlichen und menschlichen Rechte so dahinfahren, ohne jemals aus der blinden Verstockt­ heit, in welcher er gelebt, geriffen zu werden und vom Guten und Bösen richtigere Be­ griffe zu erlangen, ohne jemals gewahr zu werden, daß diese Welt von einem Wesen regiert wird, welches an der Tugend Wohlgefallen findet? Wenn kein zukünftiges Leben zu hoffen ist, so ist die Vorsehung gegen den Verfolger so wenig zu rechtfertigen als gegen den Verfolgten. Unglücklicherweise werden viele durch diese anscheinenden Schwierigkeiten verführt, die Vorsehung zu leugnen. DaS allerhöchste Wesen, wähnen sie, bekümmere sich um das Schicksal des Menschen gar nicht, so sehr es sich auch die Vollkommenheit seiner physischen Dtelitz u. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur. 2. Aufl.

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Natur hat angelegen sein lassen. Tugend und Laster, Unschuld und Verbrechen, wer ihm dienet, und wer ihn lästert, sprechen sie, seien dem allgemeinen Weltgeist vollkommen gleich, und waS dergleichen so lächerliche alö strafbare Meinungen mehr sind, auf die man noth­ wendig gerathen muß, sobald man den Weg zur Wahrheit verfehlt. Ich halte es für überflüssig, von dem Ungrunde dieser Meinungen viele Worte zu machen, da wir alle ver­ sichert sind, daß wir unter der göttlichen Obhut stehen und das Gute von seinen Händen, sowie das Böse nicht anders als mit seiner Zulassung empfangen. Hingegen wissen wir einen sicheren und leichteren Weg, unS aus diesem Labyrinthe zu finden. In unseren Augen verleugnet das Sittliche so wenig als das Physische dieser Well die Vollkommenheit ihres Urhebers. So wie sich in der physischen Welt Unordnung in den Theilen, Stürme, Ungewitter, Erdbeben, Überschwemmung, Pest u. s. w. in Voll­ kommenheit des unermeßlichen Ganzen auflösen: eben also dienen in der sittlichen Welt, in dem Schicksale und den Begegnissen des geselligen Menschen, alle zeitlichen Mängel zu ewigen Vollkommenheiten; vergängliches Ungemach und die Leiden selbst verwandeln sich in bloße Übungen, die zur Seligkeit unentbehrlich sind. Das Schicksal eines einzigen Menschen in seinem gehörigen Lichte zu betrachten, müßten wir es in feiner ganzen Ewig­ keit übersehen können. Alsdann erst könnten wir die Wege der Vorsehung untersuchen und beurtheilen, wenn wir die ewige Fortdauer eines vernünftigen Wesens unter einen einzigen, unserer Schwachheit angemessenen Gesichtspunkt bringen könnten; aber alsdann würden wir weder tadeln, noch murren, noch unzufrieden sein, sondern voller Verwunderung die Weisheit und Güte des Weltbeherrschers verehren und anbeten. Aus allen diesen Beweisgründen zusammengenommen erwächst die zuverlässigste Gewißheit von einem zukünftigen Leben, die unser Gemüth vollkommen befriedigen kann. Das Vermögen zu empfinden ist keine Beschaffenheit des Körpers und seines feinen Baues, sondern hat seine Bestandtheile für sich. Das Wesen dieser Bestandtheile ist einfach und folglich unvergänglich. Auch die Vollkommenheit, die diese einfache Substanz erworben, muß in Absicht auf sie selbst von unaufhörlichen Folgen sein und sie immer tüchtiger machen, die Absichten Gottes in der Natur zu erfüllen. Insbesondere gehört unsere Seele, als ein vernünftiges und nach der Vollkommenheit strebendes Wesen, zu dem Geschlechte der Geister, die den Endzweck der Schöpfung enthalten und niemals aufhören, Beobachter und Bewunderer der göttlichen Werke zu sein. Der Anfang ihres Daseins ist, wie wir sehen, ein Bestreben und Fortgehen von einem Grade der Vollkommenheit zum andern; ihr Wesen ist des unaufhörlichen Wachsthums fähig; ihr Trieb hat die augenscheinliche Anlage zur Unendlichkeit, und die Natur beut ihrem nie zu löschenden Durste eine unerschöpfliche Quelle an. Ferner haben sie, als moralische Wesen, ein System von Pflichten und Rechten, das voller Ungereimtheiten und Widersprüche sein würde, wenn sie auf dem Wege zur Vollkommenheit gehemmt und zurückgestoßen werden sollten. Und endlich verweiset uns die anscheinende Unordnung und Ungerechtigkeit in dem Schicksale der Menschen auf eine lange Reihe von Folgen, in welcher sich alles auflöset, was hier verschlungen scheinet. Wer hier mit Standhaftigkeit und gleichsam dem Ünglücke zum

Trotz seine Pflicht erfüllet und die Widerwärtigkeiten mit Ergebung in den göttlichen Willen erduldet, muß den Lohn seiner Tugenden endlich genießen; und der Lasterhafte kann nicht hahinfahren, ohne auf eine oder die andere Weise zur Erkenntnis gebracht zu sein, daß die Übelrhaten nicht der Weg zur Glückseligkeit sind. Mit einem Worte, allen

Eigenschaften Gotteö, seiner Weisheit, seiner Güte, seiner Gerechtigkeit, würde es wider­ sprechen, wenn er die vernünftigen und nach der Vollkommenheit strebenden Wesen nur zu einer zeitlichen Dauer geschaffen hätte.

Aus Mendelssohns Phädon.

Philosophie.

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2. Das Temperament. Physiologisch betrachtet, versteht man, wenn vom Temperament die Rede ist, die körperliche Konstitution (den starken oder schwachen Bau) und Komplexion (das Flüssige, durch die Lebenskraft gesetzmäßig Bewegliche im Körper; worin die Wärme oder Kälte in Bearbeitung dieser Säfte mit begriffen ist). Psychologisch aber erwogen, d. i. als Temperament der Seele (Gefühls- und BegehrungsvermögenS) werden jene von der Blut­ beschaffenheit entlehnten Ausdrücke nur als nach der Analogie des Spiels der Gefühle und Begierden mit körperlichen bewegenden Ursachen (worunter das Blut die vornehmste ist) vorgestellt. Da ergiebt sich nun, daß die Temperamente, die wir blos der Seele beilegen, doch wohl insgeheim das Körperliche im Menschen auch zur mitwirkenden Ursache haben mögen; ferner daß, da sie erstlich die Obereintheilung derselben in Temperamente des Gefühls und der Thätigkeit zulasten, zweitens jede derselben mit Erregbarkeit der Lebens­ kraft (intensio) oder Abspannung (remissio) derselben verbunden werden kann, gerade nur vier einfache Temperamente (wie in den 4 syllogistischen Figuren durch den meäius terminus) aufgestellt werden können: das sanguinische, das melancholische, das cholerische und das phlegmatische; wodurch dann die alten Formen beibehalten werden können und nur eine dem Geist dieser Temperamentenlehre angepaßte, bequemere Deutung erhalten. Hierbei dient der Ausdruck der Blutbeschaffenheil nicht dazu, die Ursache der Phäno­ mene des sinnlich afsizirten Menschen anzugeben (es sei nach der Humoral- oder der Nerven­ pathologie), sondern sie nur den beobachteten Wirkungen nach zu klassifiziren; denn man verlangt nicht vorher zu wissen, welche chemische Blutmischung eö sei, die zur Benennung einer gewissen Temperamentseigenschaft berechtige, sondern welche Gefühle und Neigungen man bei der Beobachtung deS Menschen zusammenstellt, um für ihn den Titel einer beson­ deren Klasse schicklich anzugeben. Die Obereintheilung der Temperamentenlehre kann also die sein: in Temperamente des Gefühls und Temperamente der Thätigkeit, und diese kann durch Untereintheilung wiederum in zwei Arten zerfallen, die zusammen die 4 Temperamente geben. Zu den Temperamenten des Gefühls zähle ich nun daö sanguinische und sein Gegenstück, das melancholische. Daö erstere hat nun die Eigenthümlichkeit, daß die Empfindung schnell und stark afsizirt wird, aber nicht tief eindringt (nicht dauerhaft ist); dagegen in dem zweiten die Empfindung weniger auffallend ist, aber sich tief einwurzelt. Hierin muß man diesen Unterschied der Temperamente des Gefühls und nicht in den Hang zur Fröh­ lichkeit oder Traurigkeit setzen. Denn der Leichtsinn der Sanguinischen disponirt zur' Lustigkeit, der Tiefsinn dagegen, der über einer Empfindung brütet, benimmt dem Froh­ sinn seine.leichte Veränderlichkeit, ohne darum eben Traurigkeit zu bewirken. Weil aber alle Abwechselung, die man in seiner Gewalt hat, das Gemüth überhaupt belebt und stärkt, so ist der, welcher alles, waS ihm begegnet, auf die Achsel nimmt, wenngleich nicht weiser, doch gewiß glücklicher, als der an Empfindungen klebt, die seine Lebenskraft starren macht.

Temperamente des Gefühls. Der Sanguinische giebt seine Sinnesart an folgenden Äußerungen zu erkennen.

Er

ist sorglos und von guter Hoffnung, giebt jedem Dinge für den Augenblick eine große Wichtigkeit, und den folgenden mag er daran nicht weiter denken. Er verspricht ehrlicher­ weise, aber hält nicht Wort, weil er nicht vorher tief genug nachgedacht hat, ob er es auch zu halten vermögend sein werde. Er ist gutmüthig genug, anderen Hülfe zu leisten, ist aber ein schlimmer Schuldner und verlangt immer Fristen. Er ist ein guter Gesell­ schafter, scherzhaft, aufgeräumt, mag keinem Dinge gerne große Wichtigkeit geben (vive la bagitelle!) und hat alle Menschen zu Freunden. Er ist gewöhnlich kein böser Mensch,

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aber ein schlimm zu bekehrender Sünder, den etwas zwar sehr reuet, der aber diese Reue (die nie ein Gram wird) bald vergißt. Er ermüdet unter Geschäften und ist doch rastlos beschäftigt in dem, was blos Spiel ist, weil dieses Abwechselung bei sich führt und das Beharren seine Sache nicht ist. Der zur Melancholie Gestimmte (nicht der Melancholische; denn daö bedeutet einen Zustand, nicht den bloßen Hang zu einem Zustande) giebt allen Dingen, die ihn selbst angehen, eine große Wichtigkeit, findet allerwärts Ursache zu Besorgniffen und richtet seine Aufmerksamkeit zuerst auf die Schwierigkeiten; so wie dagegen der Sanguinische von der Hoffnung des Gelingens anhebt, daher jener auch tief, so wie dieser nur oberflächlich denkt. Er verspricht schwerlich, weil ihm das Worthalten theuer- aber das Vermögen dazu bedenk­ lich ist. Nicht daß dieses alles aus moralischen Ursachen geschähe (denn es ist hier von sinnlichen Triebfedern die Rede), sondern weil ihm das Widerspiel Ungelegenheil und ihn eben darum besorgt, mißtrauisch und bedenklich, dadurch aber auch für den Frohsinn unempfänglich macht. Übrigens ist diese Gemüthsstimmung, wenn sie habituell ist,

doch der des Menschenfreundes, welche mehr ein Erbtheil des Sanguinischen ist, wenigstens dem Anreize nach entgegen, weil der, welcher selbst die Freude entbehren muß, sie schwer­ lich anderen gönnen wirdTemperamente der Thätigkeit. Man sagt von dem Warmblütigen: er ist hitzig, brennt schnell auf wie Strehfeuer, läßt sich durch Nachgeben des Anderen bald besänftigen, zürnt alsdann., ohne zu baffen, und liebt wohl gar den noch desto mehr, der ihm bald nachgegeben hat. Seine Thätigkeit ist rasch, aber nicht anhaltend. Er ist geschäftig, aber unterzieht sich selbst ungern den Geschäften, eben darum weil er es nicht anhaltend ist, und macht also gern den bloßen Befehlshaber, der sie leitet, aber selbst nicht ausführen will. Daher ist seine herrschende Leidenschaft Ehrbegierde; er hat gern mit öffentlichen Geschäften zu thun und will laut gepriesen feilt. Er liebt daher den Schein und den Pomp der Formalitäten, nimmt gerne in Schutz und ist dem Scheine nach großmüthig, aber nicht ans Liebe, sondern aus Stolz ; denn er liebt sich mehr'selbst. Er hält auf Ordnung und scheint deshalb klüger, als er ist. Er ist habsüchtig, nm nicht filzig zu sein, ist höflich, aber mit Ceremonie, steif und geschroben im Umgänge und hat gerne irgend einen Schmeichler, der das Stichblatt seines Witzes ist, leidet mehr Kränkungen durch den Widerstand anderer gegen seine stolzen Anmaßungen, als je der Geizige durch seine habsüchtigen, weil ein bißchen kaustischen Witzeö ihm den Nimbus seiner Wichtigkeit ganz wegbläst, indessen daß der Geizige doch durch den Gewinn dafür schadlos gehalten wird. Mit einem Wort das cholerische Tem­ perament ist unter allen am wenigsten glücklich, weil es am meisten den Widerstand gegen sich aufruft. Phlegma bedeutet Affektlosigkeir, nicht Trägheit (Leblosigkeit), und man darf den Mann, der viel Phlegma hat, darum sofort nicht einen Phlegmatiker oder ihn phlegmatisch nennen und ihn. unter diesem Titel in die Klaffe der Faulenzer setzen. Phlegma, als Schwäche, ist Hang zur Unthätigkeit, sich durch selbst starke Trieb­ federn zu Geschäften nicht bewegen zu lasten. Die Unempfindlichkeit dafür ist willkürliche Unnützlichkeit, und die Neigungen gehen nur auf Sättigung und Schlaf. Phlegma, als Stärke, ist dagegen die Eigenschaft. nicht leicht oder rasch, aber wenngleich langsam, doch anhaltend bewegt zu werden. Der, welcher eine gute Dosts von Phlegma in seiner Mischung hat, wird langsam warm, aber er behält die Wärme länger. Er geräth nicht leicht in Zorn, sondern bedenkt sich erst, ob er nicht zürnen solle, wenn andererseits der Cholerische rasend werden möchte, daß er den festen Mann nicht aus seiner Kaltblütigkeit bringen kann. Mit einer ganz gewöhnlichen Dosis der Vernunft, aber zugleich diesem Phlegma von der Natur ausgestattet, ohne zu glänzen und doch von Grundsätzen, nicht

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vom Instinkt ausgehend, hat der Kaltblütige nichts zu bereuen. Sein glückliches Tem­ perament vertritt bei ihm die Stelle der Weisheit, und man nennt ihn selbst im gemeinen Leben oft den Philosophen. Durch dieses ist er anderen überlegen, ohne ihre Eitelkeit zu kränken. Man nennt ihn auch oft durchtrieben; denn alle auf ihn loSgeschnellte Ballisten und Katapulten prallen von ihm als einem Wollsack ab. Er ist ein verträglicher Ehe­ mann und'weiß sich die Herrschaft über Frau und Verwandte zu verschaffen, indesien daß er scheint allen zu Willen zu sein, weil er durch seinen unbiegsamen, aber überlegten Willen den ihrigen zu dem seinigen umzustimmen versteht, wie Körper, welche mit kleiner Masse und großer Geschwindigkeit den Stoß ausüben, durchbohren, mit weniger Geschwin­ digkeit aber und größerer Masse das ihnen entgegenstehende Hindernis mit sich fortführen, ohne eö zu zertrümmern. Wenn ein Temperament die Beigesellung eines andern sein soll, wie das gemeiniglich geglaubt wird, so widerstehen sie entweder einander, oder sie neutralisiren sich. Das erstere geschieht, wenn daS sanguinische mit dem melancholischen, ingleichen wenn das cholerische mit dem phlegmatischen in einem und demselben Subjekt als vereinigt gedacht werden will; denn sie stehen gegen einander im Widerspruch. Das zweite, nämlich die Neutralisirung, würde in der (gleichsam chemischen) Mischung deS sanguinischen mit dem cholerischen und des melancholischen mit dem phlegmatischen geschehen; denn die gutmüthige Fröhlichkeit kann nicht in demselben Akt mit dem abschreckenden Zorn zusammenschmelzend gedacht werden, ebensowenig wie die Pein des Selbstquälers mit der zufriedenen Ruhe des sich selbst genügsamen Gemüths. Soll aber einer dieser zwei Zustände in demselben Subjekt mit dem andern wechseln, so giebt das bloße Launen, aber kein bestimmtes Tem­ perament ab. Also giebt es keine zusammengesetzten Temperamente, z. B. ein sanguinisch­ cholerisches (welches die Windbeutel alle haben wollen, indem sie alsdann gnädige, aber doch auch strenge Herrn zu sein vorgaukeln), sondern eS sind in allem deren nur vier und jedes derselben einfach, und man weiß nicht, waS aus dem Menschen gemacht werden soll, der sich ein gemischtes zueignet. Frohsinn und Leichtsinn, Tiefsinn und Wahnsinn, Hochsinn und Starrsinn, endlich Kaltsinn und Schwachsinn sind nur als Wirkungen des Temperaments in Beziehung auf ihre Ursache unterschieden. Welchen Einfluß die Verschiedenheit des Temperaments auf die öfsentlichen Geschäfte oder umgekehrt diese (durch die Wirkung, die die gewohnte Übung

in diesen auf jene) hat, will man dann auch theils durch Erfahrung, theils auch mit Beihülfe der mutmaßlichen Gelegenheitsursachen erklügelt haben. So heißt es z. B., in der Religion ist der Choleriker orthodox, der Sanguinische Freigeist, der Melancholische Schwärmer, der Phlegmatische Jndifferentist. Allein das sind so hingeworfene Urtheile, die für die Charakteristik so viel gelten, als skurrilischer Witz ihnen einräumt (valent, Quan­ tum possunt).

AuS Kants Anthropologie.

3. Das Gefühl vom Erhabenen und Schönen. Die verschiedenen Empfindungen des Vergnügens oder deö Verdrusses beruhen nicht so sehr auf der Beschaffenheit der äußern Dinge, die sie erregen, als auf dem jedem Menschen eigenen Gefühle, dadurch mit Lust oder Unlust gerührt zu werden. Daher kommen die Freuden einiger-Menschen, woran andere einen Ekel haben, die verliebte Leidenschaft, die öfters jedermann ein Räthsel ist, aber auch der lebhafte Widerwille, den der eine woran empfindet, waS dem andern völlig gleichgültig ist. Das Feld der Beob­ achtungen dieser Besonderheiten der menschlichen Natur erstrecket sich sehr weit und ver­ birgt rnnoch einen reichen Vorrath zu Entdeckungen, die eben so unmuthig als lehrreich sind. Ich werfe vorjetzt meinen Blick nur auf einzelne Stellen, die sich in diesem Bezirke besonders auszunehmen scheinen, und auch auf diese mehr das Auge eines Beobachters als des Pbilosophen.

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Wissenschaftliche Prosa.

Weil ein Mensch sich nur insofern glücklich findet, als er eine Neigung befriedigt, so ist das Gefühl, welches ihn fähig macht, große Vergnügen zu genießen, ohne dazu aus­ nehmende Talente zu bedürfen, gewiß nicht eine Kleinigkeit. Wohlbeleibte Personen, deren geistreicher Autor ihr Koch ist, und deren Werke von feinem Geschmacke sich in ihrem Keller befinden, werden bei gemeinen Zoten und einem plumpen Scherze in ebenso lebhafte Freude gerathen, als diejenige ist, worauf Personen von edeler Empfindung so stolz thun. Ein bequemer Mann, der die Vorlesung der Bücher liebt, weil es sich sehr wohl dabei einschlafen läßt, der Kaufmann, dem alle Vergnügen läppisch scheinen, dasjenige ausgenommen, was ein kluger Mann genießt, wenn er seinen Handlungsvortheil überschlägt, der Liebhaber der Jagd, er mag nun Fliegen jagen, wie Domitian, oder wilde Thiere, wie A-------- : alle diese haben ein Gefühl, welches sie fähig macht, Ver­ gnügen nach ihrer Art zu genießen, ohne daß sie andere beneiden dürfen oder auch von andern sich einen Begriff machen können; allein ich wende vorjetzt darauf keine Auf­ merksamkeit. Es giebt noch ein Gefühl von feinerer Art, welches entweder darum so genennet wird, weil man es länger ohne Sättigung und Erschöpfung genießen kann, oder weil es, so zu sagen, eine Reizbarkeit der Seele voraussetzt, die diese zugleich zu tugend­ haften Regungen geschickt macht, oder weil sie Talente und Verstandeövorzüge anzeigt; da im Gegentheile jene bei völliger Gedankenlosigkeit stattfinden können. Dieses Gefühl ist eö, wovon ich eine Seite betrachten will. Doch schließe ich hiervon die Neigung aus, welche auf hohe Verstandeseinsichten geheftet ist, und den Reiz, dessen ein Kepler fähig war, wenn er, wie Bayle berichtet, eine seiner Empfindungen nicht um ein Fürstenthum würde verkauft haben. Diese Empfindung ist gar zu fein, als daß sie in gegenwärtigen Entwurf gehören sollte, welcher nur das sinnliche Gefühl berühren wird, dessen auch ge­ meinere Seelen fähig sind. Das feinere Gefühl, das wir jetzt erwägen wollen, ist vornehmlich zwiefacher Art: das Gefühl des Erhabenen und des Schönen. Tie Rührung von beiden ist angenehm, aber auf sehr verschiedene Weise. Der Anblick eines Gebirges, dessen beschneite Gipfel sich über Wolken erheben, die Beschreibung eines rasenden Sturmes oder die Schilderung des höllischen Reiches von Milton erregen Wohlgefallen, aber mit Grausen; dagegen die Aussicht auf blumenreiche Wiesen, Thäler mit schlängelnden Bächen, bedeckt von weidenden Herden, die Beschreibung deö Elysiums oder Homers Schilderung von dem Gürtel der Venus veranlassen auch eine angenehme Empfindung, die aber fröhlich und lächelnd ist. Damit jener Eindruck auf unö in gehöriger Stärke geschehen könne, so müssen wir ein Gefühl des Erhabenen und, um die letztere recht zu genießen, ein Gefühl für das Schöne haben. Hohe Eichen und einsame Schatten im heiligen Haine sind erhaben. Blumenbeete, niedrige Hecken und in Figuren geschnittene Bäume sind schön. Die Nacht ist erhaben, der Tag ist schön. Gemüthsarten, die ein Gefühl für das Erhabene besitzen, werden durch die ruhige Stille eines Sommerabends, wenn daö zitternde Licht der Sterne durch die braunen Schatten der Nacht hindurchbricht und der einsame Mond im Gesichtskreise steht, allmählich in hohe Empfindungen gezogen von Freundschaft, von Verachtung der Welt, von Ewig­ keit. Der glänzende Tag flößt geschäftigen Eifer und ein Gefühl von Lustigkeit ein. Daö Erhabene rührt, das Schöne reizt. Die Miene deö Menschen, der im vollen Gefühle des Erhabenen sich befindet, ist ernsthaft, bisweilen starr und erstaunt. Dagegen kündigt sich die lebhafte Empfindung des Schönen durch glänzende Herrlichkeit in den Augen, durch Züge des Lächelns und oft durch laute Lustigkeit an. Daö Erhabene ist wiederum ver­ schiedener Art. Das Gefühl desselben ist bisweilen mit einigem Grausen oder auchSchwermuth, in einigen Fällen blos mit ruhiger Bewunderung und in noch andern mit einer über einen erhabenen Plan verbreiteten Schönheit begleitet. DaS erstere will ich das Schreckhafterhabene, das zweite das Edle und daö dritte das Prächtige nennen. Tiefe Einsamkeit ist erhaben, aber auf eine schreckhafte Art. Daher große, weitgestreckte Ein-

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oben, wie die ungeheure Wüste Schamo in der Tartarei, jederzeit Anlaß gegeben haben, fürchterliche Schatten, Kobolde und Gespensterlarven dahin zu versetzen. Das Erhabene muß jederzeit groß, daS Schöne kann auch klein sein. DaS Er­ habene muß einfältig, das Schöne kann geputzt und geziert sein. Eine große Höhe ist ebensowohl erhaben, als eine große Tiefe; allein diese ist mit der Empfindung des Schau­ derns begleitet, jene mit der Bewunderung; daher diese Empfindung schreckhaft erhaben und jene edel sein kann. Der Anblick einer ägyptischen Pyramide rührt, wie Haselquist berichtet, weit mehr, als man fich aus aller Beschreibung es vorstellen kann; aber ihr Bau ist einfältig und edel. Die Peterskirche in Rom ist prächtig. Weil auf diesen Entwurf, der groß und einfältig ist, Schönheit, z. B. Gold, mosaische Arbeit u. s. w., so verbreitet ist, daß die Empfindung des Erhabenen doch am meisten hindurchwirkt: so heißt der Gegenstand präch­ tig. Ein Arsenal muß edel und einfältig, ein Nesidenzschloß prächtig und ein Lustpalast schön und geziert sein. Eine lange Dauer ist erhaben. Ist sie von vergangener Zeit, so ist sie edel. Wird sie in einer unabsehlichen Zukunft vorausgesehen, so hat sie etwas vom Schreckhaften an sich. Ein Gebäude aus dem entferntesten Alterthum ist ehrwürdig. HallerS Beschreibung von der künftigen Ewigkeit flößt ein sanftes Grausen und von der vergangenen starre Bewunderung ein. Kant.

4. Über die Verbindung der deutschen Völker und Provinzen zur Humanität. Ein Athanasium, ein Mnemeion Deutschlands? Wahrlich unser Vaterland ist zu beklagen, daß es keine allgemeine Stimme, keinen Ort der Versammlung hat, wo man sich sämmtlich höret. Alles ist in ihm zertheilt, und so manches schützet diese Zertheilung: Religionen, Sekten, Dialekte, Provinzen, Regierungen, Gebräuche und Rechte. Nur auf dem Gottesacker kann unS etwa eine Stelle gemeinsamer Überlegung und Anerkennung

gestaltet werden. Aber warum nur hier? Arbeiten nicht in allen, vom höchsten bis zu den niedrigsten Ständen sichtbare und unsichtbare Kräfte, diese gemeinsame Überlegung und Anerkennung

zu erleichtern, zu bewirken? Ein Theil Deutschlands hatte sich vor dem andern mit unleug­ baren Fortschritten ein großes Voraus gegeben; der andere Theil eifert ihm nach, und wir können bald an der Stelle sein, ein Ebenmaß zu finden. Jeder biedere Mensch muß sich bestreben, dieses zu fördern, und glücklicherweise scheinen mir diejenigen, die die biedersten Deutschen sein sollen, die Fürsten, auf denselben Weg zu treten. Gewiß, der Unterschied der Religionen macht es nicht; denn in allen Religionen Deutschlands giebt eö aufgeklärte, gute Menschen. Der Unterschied von Dialekten, von Bier- und Wein­ ländern macht es auch nicht, was uns voneinanderhält und sondert; ein leidiges Staatsintereffe, eine Anmaßung mehreren Geistes, mehrerer Kultur auf der einen, auf der anderen Seite mehreren Gewichts, mehreren Reichthums u. f. war es, was uns entzweiet; und dem, dünkt mich, muß und wird die allmächtige Zeit obsiegen. Denn was hindert uns Deutsche, uns allesammt als Mitarbeiter an einem Bau der Humanität anzuerkennen, zu ehren und einander zu helfen? Haben wir nicht alle eine Sprache, ein gemeinschaftliches Interesse, eine Vernunft, ein und daffelbe menschliche Herz? Der Philosophie und Kritik hat man nirgend den Weg versperren können; sie arbeitet sich überall durch, sie wird in allen guten Köpfen rege; ihre Regeln sind allenthalben dieselben, ihr Zweck allenthalben nur einer. Auch der Wetteifer verschiedener Provinzen gegen einander kann nicht anders als diesen Zweck befördern. Ruhm und Dank verdient also ein Jeder, der die Gemein­ schaft der Länder Deutschlands durch Schriften, Gewerbe und Anstalten zu befördern sucht; er erleichtert die Zusammenwirkung und Anerkennung mehrerer und der verschieden-

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sten Kräfte; er bindet die Provinzen Deutschlands durch geistige und also die stärksten

Bande. Daß uns eine Hauptstadt fehle, thut zu unserer Sache gewiß nichts. Der Ausbil­ dung des Geschmacks mag ihr Mangel ein Hindernis sein; und auch der Geschmack kann durch sie ebensowohl verderbt und gefesielt werden, als sie ihm anfangs Politur und Flügel verleihen mochte. Einsichten aber, ruhige Überlegungen, thätige Versuche, Empfindungen und Äußerungen desien, was örtlich und allenthalben zu unserm Frieden dienet, sie ver­

schmähen die Mauern einer Hauptstadt und suchen das freie Land; ihre Werkstätte ist das gesammte Deutschland. Je mehrere und leichtere Boten allenthalben her-, allenthalben hingelangen, destemehr wird die Mittheilung der Gedanken befördert, und kein Fürst, kein König wird diese zu hemmen suchen, der die unendlichen Vortheile der Geistesindustrie, der Geisteskultur, der gegenseitigen Mittheilung von Empfindungen, Gedanken, Vorschlägen, selbst von begangenen Fehlern und Schwächen einsieht. Jedes dieser Stücke kommt der Menschennatur, mithin auch der Gesellschaft zu gut; der Fehler wird entdeckt, der Irrthum wird gebessert, Gedanke weckt Gedanken, Empfindungen und Entschlüffe regen und treiben. Denn das ist eben die große und gute Einrichtung der menschlichen Natur, daß in ihr, wenn ich so sagen darf, alles im Keim da ist und nur auf seine Entwicklung wartet. Ent­ schließet sich die Blüte nicht heute, so wird sie sich morgen zeigen. Auch alle möglichen Antipathien sind in der menschlichen Natur da; jedem Gift ist nicht nur sein Gegengift gewachsen, sondern die ewige Tendenz der waltenden lebendigen Kraft geht dahin, aus dem schädlichsten Gift die kräftigste Arznei zu bereiten. Ach, die Extreme liegen in unserer engbeschränkten Natur so nahe, so dicht bei einander, daß es oft nur auf einen geschickten Fingerdruck ankommt, aus dem Einfalls- den Absprungswinkel zu machen, da unabänder­ lichen Gesetzen nach beide in ihrem Verhältnis einander gleich sind. Gedanken zu hemmen, dies Kunststück hat noch keine irdische Politik erfunden; ihr selbst wäre es auch sehr unzu­ träglich. Aber Gedanken zu sammeln, zu ordnen, zu lenken, zu gebrauchen: dies ist ihr für alle Zeiten hinaus unabsehlicher, großer Vortheil. Doch die Seite des Verstandes ist's nicht allein, in Absicht welcher ich Deutschland einen gemeinsamen Zusammenhang wünsche; vielmehr ist'S die Seite des Charakters, der Entschlüsse, der Unternehmung. Wir wissen alle, daß die Deutschen von jeher mehr­ gethan , als von sich reden gemacht haben; das thun sie auch noch. In jeder Provinz Deutschlands leben Männer, die ohne französische Eitelkeit, ohne englischen Glanz gehorsam, oft leidend Dinge thun, deren Anblick jedermann schönen und großen Muth einspräche, wenn sie bekannt wären. Denen vollends wünsche ich keinen Hof, keine Hauptstadt, einen Altar der Biedertreue wünsche ich ihnen, an dem sie sich mit Geist und Herzen versammeln. Er kann nur im Geist existiren, d. i. in Schriften; und o daß ausgezeichnet vor allen eine solche Schrift da wäre! An ihr würden sich Seelen entflammen und Herzen stärken. Der deutsche Name, den jetzt viele Nationen geringzuhalten sich anmaßen, würde vielleicht als der erste Name Europas erscheinen, ohne Geräusch, ohne Anmaßung, nur in sich selbst stark, fest und groß. Aus Herders Briefen zur Deferd. der Humanität.

5. Roms Einrichtungen zu einem herrschenden Staats- und Kriegsgebände. Der römische Senat, wie das römische Volk wären von frühen Zeiten an Krieger: Rom von seinem höchsten bis im Nothfall zum niedrigsten Gliede war ein Kriegsstaat. Der Senat rathschlagte: er gab aber auch in seinen Patriziern Feldherrn und Gesandte; der wohlhabende Bürger von seinem 17. bis zum 46. oder gar 50. Jahr mußte zu Felde dienen. Wer nicht zehn Kriegszüge gethan hatte, war keiner obrigkeitlichen Stelle würdig. Daher also der Staatsgeist der Römer im Felde, ihr Kriegsgeist im Staat. Ihre Berathschlagungen waren über. Sachen, die sie kannten, ihre Entschlüsse wurden Thaten. Der

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römische Gesandte prägte Königen Ehrfurcht ein; denn er konnte zugleich Heere führen und im Senat sowohl, als im Felde das Schicksal über Königreiche entscheiden. Das Volk der oberen Centurien war keine rohe Masse des Pöbels; es bestand aus kriegs-, länder-, geschaftserfahrenen, begüterten Männern. Die ärmeren Centurien galten mit ihren Stim­ men auch minder und wurden in den besieren Zeiten Roms des Kriegs nicht einmal fähig

geachtet. Dieser Bestimmung ging die römische Erziehung insonderheit in den edlen Geschlech­ tern entgegen. Man lernte rathschlagen, reden, seine Stimme geben oder das Volk lenken; man ging früh in den Krieg und bahnte sich den Weg zu Triumphen oder Ehren­ geschenken und Staatsämtern. Daher der so eigne Charakter der römischen Geschichte und Beredsamkeit, selbst ihrer Rechtsgelehrsamkeit und Religion, Philosophie und Sprache; alle hauchen einen Staats- und Thatengeist, einen männlichen, kühnen Muth, mit Ver­ schlagenheit und Bürgerurbanität verbunden. Es läßt sich beinahe kein größerer Unter­ schied gedenken, als wenn man eine chinesische oder jüdische und römische Geschichte oder Beredsamkeit mit einander vergleichet. Auch vom Geiste der Griechen, Sparta selbst nicht ausgenommen, ist der römische Geist verschieden, weil er bei diesem Volke gleichsam auf einer härtern Natur, auf älterer Gewohnheit, auf festeren Grundsätzen ruhet. Der römische Senat starb nicht aus; seine Schlüffe, seine Maximen und der von Romulus her geerbte Römercharakter war ewig. Die römischen Feldherrn waren oft Konsuls, deren Amt und Feldherrnwürde ge­ wöhnlich nur ein Jahr dauerte: sie mußten also eilen, um im Triumph zurückzukehren, und der Nachfolger eilte seines Vorfahren Götterehre nach. Daher der unglaubliche Fortgang und die Vervielfältigung der römischen Kriege; einer entstand aus dem andern, wie einer den andern trieb. Man sparte sich sogar Gelegenheit auf, um künftige Feld­ züge zu beginnen, wenn der jetzige vollendet wäre, und wucherte mit denselben wie mit einem Kapital der Beute, des Glücks und der Ehre. Daher das Jntereffe, das. die Römer so gern an fremden Völkern nahmen, denen sie sich als Bundes- und Schutzverwandte oder als Schiedsrichter gewiß nicht aus Menschenliebe aufdrängten. Ihre Bundes­ freundschaft ward Vormundschaft, ihr Rath Befehl, ihre Entscheidung Krieg oder Herr­ schaft. Nie hat eß einen kälteren Stolz und zuletzt eine schamlosere Kühnheit des befehlen­ den Aufdringens gegeben, als diese Römer bewiesen haben; sie glaubten, die Welt sei die ihre, und darum ward sie's. Auch der römische Soldat nahm an den Ehren und am Lohne des Feldherrn theil. In den ersten Zeiten der Lürgertugend Roms diente man nm keinen Sold: nachher ward er sparsam ertheilt; mit den Eroberungen aber und der Emporhebnng des Volks durch seine Tribunen wuchsen Sold, Lohn und Beute. Oft wurden die Acker der Überwundenen

unter die Soldaten vertheilt, und cs ist bekannt, daß die meisten und ältesten Streitigkeiten der römischen Republik über die Austheilung der Äcker unter das Volk entstanden. Später­ hin bei auswärtigen Eroberungen nahm der Soldat an der Beute und durch Ehre sowohl, als durch reiche Geschenke am Triumph seines Feldherrn selbst theil. Es gab Bürger-, Mauer-, Schiffskronen, und L. Dentatus konnte sich rühmen, daß, da er hundertundzwanzig Treffen beigewohnt, achtmal im Zweikampf gesiegt, vorn am Leibe fünfundvierzig Wunden und hinten keine erhalten, er dem Feinde fünfunddreißigmal die Waffen abgezogen und mit achtzehn unbeschlagenen Spießen, mit fünfundzwanzig Pferdezieraten, mit dreiundachtzig Ketten, hundertundsechzig Armringen, mit sechsundzwanzig Kronen, nämlich vierzehn Bürger-, acht goldnen, drei Mauer- und einer Errettungskrone, außerdem mit baarem Gelde, zehn Gefangenen und zwanzig Ochsen beschenkt sei. Der größte Theil der gepriesenen Römertugend ist uns ohne die enge, harte Ver­ fassung ihres Staats unerklärlich; jene fiel weg, sobald diese wegfiel. Die Konsuls traten in die Stelle der Könige und wurden nach den ältesten Beispielen gleichsam gedrungen,

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eine mehr als königliche, eine römische Seele zu beweisen; alle Obrigkeiten, insonderheit des Censors, nahmen an diesem Geiste theil. Man erstaunt über die strenge Unparteilich­ keit, über die uneigennützige Großmuth, über das geschäftsvolle bürgerliche Leben der alten Römer vom Anbruch des Tages an, ja noch vor Anbruch desselben bis in die spate Dämmerung. Kein Staat der Welt hat es vielleicht in dieser ernsten Geschäftigkeit, in dieser bürgerlichen Härte soweit als Rom gebracht, in welchem sich alles nahe zusammen­ drängte. Der Adel ihrer Geschlechter, der sich auch durch Geschlechtsnamen glorreich auözeichnete, die immer erneuerte Gefahr von außen und das unaufhörlich kämpfende Gegen­ gewicht zwischen dem Volk und den Edlen von innen, wiederum das Band zwischen beiden durch Klientele und Patronate, daS gemeinschaftliche Drängen an einander auf Märkten, in Häusern, in politischen Tempeln, die nahen und doch genau abgetheilten Grenzen zwischen dem, was dem Rath und dem Volk gehörte, ihr engeS häusliches Leben, die Erziehung der Jugend im Anblick dieser Dinge von Kindheit auf: alles trug dazu bei, das römische Volk zum stolzesten, ersten Volk der Welt zu bilden. Ihr Adel war nicht, wie bei andern Völkern, ein träger Landgüter- oder Namenadel; eS war ein stolzer Familien-, ein Bürger­ und Römergeist in den ersten Geschlechtern, auf welchen das Vaterland als auf seine stärkste Stütze rechnete; in fortgesetzter Wirksamkeit, im dauernden Zusammenhänge desselben ewigen Staats erbte es von Vätern auf Kinder und Enkel hinunter. Ich bin gewiß, daß in den gefährlichsten Zeiten kein Römer einen Begriff davon gehabt habe, wie Rom untergehen könne; sie wirkten für ihre Stadt, als sei ihr von den Göttern die Ewigkeit beschieden, und alö ob sie Werkzeuge dieser Götter zur ewigen Erhaltung derselben wären. Nur als das ungeheure Glück den Muth der Römer zum Übermuth machte, da sagte schon Scipio beim Untergänge Karthagos jene Verse Homers, die auch seinem Vaterlande das Schicksal Trojas weiffagten. Die Art, wie die Religion mit dem Staat in Rom verwebt war, trug allerdings zu seinxr bürgerlich-kriegerischen Größe bei. Da sie von Anbeginn der Stadt und in den tapfersten Zeiten der Republik in den Händen der angesehensten Familien, der Staats- und Kriegsmänner selbst war, sodaß auch noch die Kaiser sich ihrer Würde nicht schämten, so bewahrte sie sich in ihren Gebräuchen vor jener wahren Pest aller Landesreligionen, der Verachtung, die der Senat auf alle Weise von ihr abzuhalten strebte. Der staatskluge Polybius schrieb also einen Theil der Römertugenden, vornehmlich ihre unbestechliche Treue und Wahrheit, der.Religion zu, die er Aberglaube nannte, und wirklich sind die Römer bis an die späten Zeiten ihres Verfalls diesem Aberglauben so ergeben gewesen, daß auch einige Feldherrn vom wildesten Gemüth sich die Geberde eines Umganges mit den Göttern gaben und durch ihre Begeisterung, wie durch ihren Beistand nicht nur über die Gemüther des Volks und Heers, sondern selbst über das Glück und den Zufall Macht zu haben glaubten. Mit allen Staats- und Kriegshandlungen war Religion verbunden, also daß jene durch diese geweihet wurden; daher die edlen Geschlechter für den Besitz der Religions­ würden als für ihr heiligstes Vorrecht gegen das Volk kämpften. Man schreibt dieses gemeinlich blos ihrer Staatsklugheit zu, weil sie durch die Auspizien und Aruspizien als durch einen künstlichen Religionsbetrug den Lauf der Begebenheit in ihrer Hand hatten; aber wiewohl ich nicht leugne, daß diese auch also gebraucht worden, so war dies die ganze Sache nicht. Die Religion der Väter und Götter Roms war dem allgemeinen Glauben nach die Stütze ihres Glücks, das Unterpfand ihres Vorzugs vor andern Völkern und das geweihte Heiligthum ihres in der Welt einzigen Staats. Wie sie nun im Anfang keine fremden Götter aufnahmen, ob sie wohl die Götter jedes fremden Landes schöneren, so sollte auch ihren Göttern der alte Dienst, durch den sie Römer geworden waren, bleiben. Hierin etwas verändern, hieß die Grundsäule des Staats verrücken. Was soll ich von der römischen Kriegskunst sagen „nie nachzulafsen, bis der Feind im Staube lag; und daher immer nur mit einem Feinde zu schlagen; nie Frieden anzu-

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nehmen im Unglück, wenn auch der Friede mehr, als der Sieg brächte, sondern festzustehen und desto trotziger zu sein gegen den glücklichen Sieger; großmüthig und mit der Larve der Uneigennützigkeit anzufangen, als ob man nur Leidende zu schützen, nur Bundesver­ wandte zu gewinnen suchte, bis man zeitig genug den Bundesgenossen befehlen, die Be­ schützten unterdrücken und über Freund und Feind als Sieger triumphiren konnte"? Diese und ähnliche Maximen römischer Insolenz oder, wenn man will, felsenfester, kluger Großmuth machten eine Welt von Ländern zu ihren Provinzen und werden es immer thun, wenn ähnliche Zeiten mit einem ähnlichen Volke wiederkämen. Aus Herders Ideen zur Pdilof. der Gesch. der Menschheit.

6. Der Übergang der Feudalherrschaft in die Monarchie. Der Fortschritt der praktischen Bewegungen im Staate ist wesentlich negativ und besteht im Brechen der subjektiven Willkür der Vereinzelung der Macht. Das Affirmative ist das Hervorgehen einer Obergewalt, die ein Gemeinsames ist, einer Staatsmacht als solcher, deren Angehörige gleiche Rechte erhallen, und worin der besondere Wille dem substantiellen Zweck unterworfen ist. Das ist der Fortschritt der Feudalherrschaft zur Monarchie. In der Feudalherrschaft gilt nur das Prinzip der Dynasten, und es find nur Verpflichtungen der Persönlichkeiten vorhanden: die Untergebenen werden zu ihrer Pflicht entweder mit Gewalt gezwungen oder durch Vergünstigungen dazu bewogen. Der Wille des Herrn ist nur persönliche Willkür, das monarchische Princip dagegen ist das Ent­ gegengesetzte: es ist die Obergewalt über solche, die keine selbständige Macht für ihre Will­ kür besitzen; die Obergewalt der Monarchie ist wesentlich eine Staatsgewalt und hat in sich den substantiellen, rechtlichen Zweck. Die Feudalherrschaft ist eine Polyarchie: es sind lauter Herren und Knechte; in der Monarchie dagegen ist einer Herr und keiner Knecht, denn die Knechtschaft ist durch sie gebrochen, und in ihr gilt das Recht und das Gesetz; auS ihr geht die reelle Freiheit hervor. In der Monarchie wird also die Willkür der Einzelnen unterdrückt und ein Gesammtwesen der Herrschaft aufgestellt. Die Dynasten werden Staatsbeamte und bilden ein StaatSwesen, das einen Zusammenhang in sich hat. Die Monarchie geht auö dem Feudalismus hervor und trägt zunächst noch den Charakter desselben an sich: die Individuen, welche dem Oberhaupte nahe stehen, gehen aus ihrer Einzelberechtignng in Stände und Korporationen über; die Vasallen werden Stände; die Städte bilden Mächte im Gemeinwesen, und auf diese Weise kann die Macht des Herr­ schers keine blos willkürliche mehr sein. Es bedarf der Einwilligung der Stände und Korporationen, und will der Fürst diese haben, muß er nothwendig das Gerechte und Billige wollen. Wir sehen jetzt eine Staatenbildung beginnen, während die Feudalherrschaft keine Staaten kennt. Der Übergang von ihr zur Monarchie geschieht auf dreifache Weise: 1) indem der Lehnsherr Meister über seine unabhängigen Vasallen wird, indem er ihre partikulare Gewalt unterdrückt, so daß die Einzelnen nicht mehr als selbständig gelten; 2) indem die Fürsten sich ganz vom Lehnsverhältnis frei machen und selbst Landesherren über eigene Staaten werden, oder' endlich 3) indem der oberste Lehnsherr auf eine wahrhaft friedliche Weise die besonderen Herrschaften mit seiner eigenen vereinigt und so Herrscher über das Ganze wird. Die geschichtlichen Übergänge sind zwar nicht immer so rein, wie sie hier vorgestellt

worden sind: oft kommen mehrere zugleich vor; aber der eine oder der andere bildet immer das Überwiegende. Die Hauptsache ist, daß für solche Staatsbildung eine partikulare

Nationalität erfordert wird, iüdem man eine bestimmte Nation sein muß, um einen eigen­ thümlichen und unterschiedenen Staat vorzustellen. Das Erste, was wir hier zu betrachten haben, ist das römische Kaiserreich, wozu

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Deutschland überhaupt und Italien gehört. Der Zusammenhang von Deutschland und Italien geht auS der Vorstellung des Kaiserreichs hervor: die weltliche Herrschaft sollte verbunden mit der geistlichen ein Ganzes auSmachen, aber diese Formation war immer mehr Kampf, als daß sie wirklich geschehen wäre. In Deutschland und Italien geschah der Übergang vom Feudalverhältnis zur Monarchie, so daß das Feudalverhältnis gänzlich ver­

drängt wurde: die Vasallen wurden selbständige Monarchen. In Deutschland war nach dem Untergänge der Hohenstaufen das allgemeine Zerfallen zur völligen Gewalt gekommen: es war Maxime der Kurfürsten, nur schwache Fürsten zu Kaisern zu wählen, ja sie haben die Kaiserwürde an Ausländer verkauft. So verschwand die Einheit deS Staates der Sache nach. ES bildeten sich eine Menge Punkte, deren jeder ein Raubstaat war: das Feudalrecht ist zur förmlichen Räuberei übergegangen, und die mächtigen Fürsten haben sich als Landesherren konstituirt. Jene vollkommene Anarchie wurde aber endlich durch Affoziationen für allgemeine Zwecke gebrochen. Kleinere Affoziationen waren schon die Städte selbst; jetzt aber bildeten sich Städtebündniffe im gemein­ schaftlichen Interesse gegen die Räuberei: so der Hansebund im Norden, der rheinische Bund aus den Städten längs dem Rhein, der schwäbische Städtebund. Diese Bündnisse waren sämmtlich gegen die Dynasten gerichtet, und selbst Fürsten traten den Städten bei, um dem Fehdezustand entgegenzuarbeiten und den allgemeinen Landfrieden herzustellen. Es ist alsdann gegen jene Übermacht der Bewaffnung noch ein anderes, technisches Mittel

gefunden worden, das Schießpulver. Die Menschheit bedurfte seiner, und alsobald war es da. ES war ein Hauptmittel zur Befreiung von der physischen Gewalt. Zwar hat man bedauert, daß nun der Tapferste und Edelste sein Leben, wie jeder andere, ohne persönlichen Widerstand verliere; aber nur durch dieses Mittel konnte eine wahre Tapferkeit hervorgehn, eine Tapferkeit ohne Leidenschaft, ohne Rache, Zorn u. s. w. Mit vollkommener Ruhe geht nun der Krieger dem Tode entgegen und opfert sich für das Allgemeine auf. Das ist aber die Tapferkeit gebildeter Nationen, die nur wesentlich in Gemeinschaft mit anderen wirksam ist. Auch die Festigkeit der Burgen hat das Schießpulver gebrochen. In Italien wiederholt sich, wie oben schon gesagt ist, dasselbe Schauspiel, das wir in Deutschland gesehen, daß nämlich die einzelnen Punkte zur Selbständigkeit gelangt sind. Das Kriegführen wurde dort durch die Condottieri zu einem förmlichen Handwerk. Die Städte mußten auf ihr Gewerbe sehen und nahmen deshalb Söldner in Dienst, deren Häupter häufig Dynasten wurden; Verwirrung und Krieg war nicht minder wie in Deutschland vorhanden. In Florenz wurden die Medici, eine Familie von Kaufleuten, herrschend; ebenso war es auch mit den anderen größeren Städten Italiens; aber jene großen Städte unterwarfen sich wiederum eine Menge von kleineren und von Dynasten. Ebenso bildete sich ein päpstliches Gebiet. Auch hier hatte sich eine unzählige Menge von Dynasten unabhängig gemacht; nach und nach wurden sie sämmtlich der einen Herrschaft des Papstes unterworfen. Wie zu dieser Unterwerfung im sittlichen Sinne durchaus ein Recht vorhanden war, ersieht man aus der berühmten Schrift Macchiavellis „der Fürst". Ost hat man dieses Buch, als mit den Maximen der grausamsten Tyrannei erfüllt, mit Abscheu verworfen, aber in dem hohen Sinne der Nothwendigkeit einer Staatsbildung hat Macchiavelli die Grundsätze aufgestellt, nach welchen in jenen Umständen die Staaten ge­ bildet werden sollten. Die einzelnen Herren und Herrschaften sollten durchaus unterdrückt werden, und wenn wir mit unserem Begriffe von Freiheit die Mittel, die er uns als die einzigen und vollkommen berechtigten zu erkennen giebt, nicht vereinigen können, weil zu ihnen die rücksichtsloseste Gewaltthätigkeit, alle Arten von Betrug, Mord u. s. w. gehörte, so müssen wir doch gestehen, daß die Dynasten, die niederzuwerfen waren, nur so ange­ griffen werden konnten, da ihnen unbeugsame Gewissenlosigkeit und eine vollkommene Ver­ worfenheit durchaus zu eigen waren. Durch- so elende Häupter wurde Italien zerrissen, unterdrückt und mit allen Greueln angefüllt, bis sich nach und nach ein besserer Zustand bildete.

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In Frankreich ist der umgekehrte Fall als in Deutschland und Italien eingetreten. Mehrere Jahrhunderte hindurch besaßen die Könige von Frankreich nur ein sehr kleines Territorium, so daß viele der ihnen untergebenen Vasallen mächtiger als sie selbst waren. Der König von Frankreich wurde deshalb auch vom AuSlande geringgeschätzt; aber sehr vortheilhaft war es für die königliche Würde in Frankreich, daß sie als erblich festgesetzt war. Auch gewann sie dadurch Ansehn, daß die Korporationen und Städte von dem Könige ihre Berechtigungen und Privilegien bestätigen ließen und die Berufungen an den obersten Lehnshof, den Pairshof, aus zwölf Pairs bestehend, immer häufiger wurden. Philipp der Schöne berief im Jahre 1302 zum ersten Male Repräsentanten der Städte zu Reichs­ versammlungen und befestigte durch eine bessere Einrichtung des Gerichtswesens ganz außerordentlich seine Macht. Auch kam der König in das Ansehn, daß bei ihm vor den Unterdrückern Schutz zu suchen sei. Was aber dem Könige wesentlich auch bei den mächtigen Vasallen zu Ansehn verhalf, war seine sich vermehrende Hausmacht: auf mannigfache Weise durch Beerbung, durch Heirat, durch Gewalt der Waffen u. s. w. waren die Könige in den Besitz vieler Grafschaften und mehrerer Herzogthümer gekommen. Die Herzöge der Nor­ mandie waren jedoch Könige von England geworden, und eS stand so eine starke Macht Frankreich gegenüber, welcher durch die Normandie daS Innere geöffnet war. Ebenso blieben mächtige Herzogthümer übrig; aber der König war trotzdem ein Landesherr ge­ worden: er hatte eine Menge von Baronen und Städten unter sich, die seiner unmittel­ baren Gerichtsbarkeit unterworfen waren, ja er hatte das Recht, seinen Städten Steuern aufzuerlegen. Die Barone und Städte erhoben sich alsdann zu Ständen. Wenn nämlich der König Geld brauchte und alle Mittel, wie Steuern und gezwungene Kontributionen aller Art, erschöpft waren, so wandte er sich an die Städte. Wenn sie auch auf diese Weise nicht direkt an der Gesetzgebung theilnahmen, so bekamen sie dennoch eine Bedeutung und Macht im Staate und so auch einen Einfluß auf die Gesetzgebung. Besonders auffallend ist eS, daß die Könige von Frankreich erklärten, daß die leibeigenen Bauern für ein Ge­ ringes in ihrem Kronlande sich freikaufen könnten. Auf diese Weise kamen die Könige von Frankreich sehr bald zu einer großen Macht, und die Blüte der Naturpoesie durch die Troubadours, sowie die Ausbildung der scholastischen Theologie, deren eigentlicher Mittel­ punkt Paris war, gaben Frankreich eine Bildung, welche eS vor den übrigen europäischen Staaten voraus hatte, und welche demselben im Auslande Achtung verschaffte. England wurde von Wilhelm dem Eroberer, Herzog der Normandie, unterworfen. Dieser führte daselbst die Lehnsherrschaft ein und theilte daS Königreich in Lehnsgüter, die er fast nur seinen Normannen verlieh. Er selbst behielt sich bedeutende Kronbesitzungen vor; die Vasallen waren verpflichtet, in den Krieg zu ziehen und bei Gericht zu sitzen; der König war Vormund der Minderjährigen unter seinen Vasallen: sie durften sich nur nach erhaltener Zustimmung verheiraten. Erst nach und nach kamen die Barone und die Städte zu einer Bedeutsamkeit. Besonders bei den Streitigkeiten und Kämpfen um den Thron erlangten sie ein großes Gewicht. Alö der Druck und die Anforderungen von Seiten des Königs zu groß wurden, kam es zu Zwistigkeiten, selbst zum Kriege: die Barone zwangen den König Johann , die magna Charta, die Grundlage der englischen Freiheit, besonders der Privilegien deö Adels, zu beschwören. Unter diesen Freiheiten stand das Eigenthums­ recht obenan: keinem Engländer sollte eö ohne ein gerichtliches Urtheil von seinesgleichen genommen werden. Der König sollte ferner keine Steuern auflegen ohne Zustimmung der Vasallen, Grafen und Barone; auch den Städten wurden ihre alten Gewohnheiten und Freiheiten bestätigt. Dennoch war der König immer sehr mächtig, wenn er Charakterstärke besaß: seine Krongüter verschafften ihm ein gehöriges Ansehn; später jedoch wurden dieselbigen nach und nach veräußert und verschenkt, so daß der König dazu kam, vom Par­ lamente Subsidieu zu empfangen. DaS Nähere und Geschichtliche, wie die Fürstenthümer den Staaten einverleibt worden

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sind, und die Mißverhältnisse und Kämpfe bei solchen Einverleibungen berühren wir hier nicht näher. Nur das ist noch zu sagen, daß die Könige, als sie durch die Schwächung der Lehnsverfasiung zu einer größeren Macht gelangten, diese nun gegen einander im bloßen Interesse ihrer Herrschaft gebrauchten. So führten Frankreich und England hundertjährige Kriege gegen einander. Immer versuchten es die Könige nach außenhin Eroberungen zu machen; die Städte, welche meist die Beschwerden und Auflagen zu tragen hatten, lehnten sich dawider auf, und die Könige räumten ihnen, um sie zu beschwichtigen, wichtige Vor­ rechte ein. Aus Hegels Dortes, über d. Philos. der Geschichte.

7. Unser Bildungsweg. Ein weiter Bildungsweg liegt hinter uns, denn unser Weg setzt den fort, den andere Völker wir freilich Epigonen und müssen uns klar bewußt gabe uns damit zugefallen ist. In der Aufeinanderfolge der Kulturvölker ist

seine Dauer zählt nach Jahrtausenden; vor uns gegangen sind. Insofern sind werden, welches Loos und welche Auf­ zugleich eine Fortsetzung und Überliefe­

rung des geistigen Erwerbes gegeben. Die Summe desien, was von einem Geschlecht und Volk zum andern vererbt wird, ist in stetem Wachsen und in dem Fortschritt vom Einfachen zu immer größerer Mannigfaltigkeit und Vielseitigkeit. Verfolgen wir etwa die Linie, die von Ägypten über Griechenland und Rom nach Deutschland führt, und versetzen uns zurück in die ersten Zeilen, von denen wir Kunde haben, so macht es uns im Gegensatz zu der Vielseitigkeit geistiger Bestrebungen, der oft unbesinnlichen Unruhe und athemlosen Betrieb­ samkeit, die uns in der Gegenwart umgiebt, den Eindruck, daß damals gleichsam noch eine Stille auf der Welt lag und die Sitte, sowie das gestimmte Leben der Menschen in seiner Beschaffenheit Luf enge Kreise des Thuns und Begehrens eine in sich befriedigte Einfachheit hatte. 2n einem der platonischen Gespräche erzählt Sokrates, einst habe einer der alten Götter des Landes dem Könige von Ägypten allerlei neue Künste für daS Volk gebracht, darunter die Schreibekunst, mit der ja auch daS Lesen gegeben ist; der König habe sie aber keineswegs mit dem erwarteten Dank ausgenommen, weil das ein Mittel sei, die Menschen mehr nach außen als nach innen zu führen und ihnen die Einbildung zu geben, als würden sie dadurch an Wissen reicher, ohne cs wirklich zu sein. Was würde der König erst von der Buchdruckerkunst gesagt haben! und dennoch war jene wie diese ein Gottesgeschenk. Wer kennt nicht die glückliche Einfachheit aller Lebensverhältnisse in der homerischen Welt? und als auf diese in der späteren griechischen Zeit ein nach vielen Seiten durch Kunst und Wissenschaft bereichertes Dasein folgte, wußte sich das Volk der Hellenen doch durch ein wunderbares Vermögen, womit eS das Fremde seiner nationalen Eigenart assimilirte, wenn nicht die Einfachheit, so doch die innere Einheit seiner Bildung zu bewahren; sie behielt in allem den Charakter einer Ursprünglichkeit, als ob nichts vor ihnen gewesen wäre. Die Römer dann setzten sich zu Universalerben aller bis dahin erworbenen geistigen Habe des Alterthums ein ohne die eben gerühmte Kraft und Kunst selbständiger Aneignung. Sie sammelten und häuften auf, um zu besitzen und um sich zu schmücken, waren jedoch zugleich die Vermittler der überkommenen und der eigenen Kultur an die neueren Völker und so auch an das germanische. Zu den Eigenschaften unsers Volks hat von jeher eine außerordentliche Rezeptivität, große Bereitwilligkeit, das Fremde aufzunehmen, und innerlicher Antheil an allem geistigen Leben gehört. Von Jahrhundert zu Jahrhundert führte ein kosmopolitischer Zug immer weiter und endlich dahin, daß dem deutschen Wisienstriebe alle Weiten aufgeschlossen waren. Wie die ersten Reiche und der erste Handelsverkehr auf Flußthäler sich beschränkten, dieser sich dann hinauswagte auf Binnenmeere und endlich überö Weltmeer sich erstreckte, so ist es auch mit den Fortschritten der Wiffenökultur gegangen, die gegenwärtig keine Schranken

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mehr kennt. In dem heutigen Bildungsstoff vereinigt sich mit dem auS langer Vergangen­ heit Überkommenen das Eigene und das aller Orten in der Gegenwart von anderen

Hervorgebrachte, woran wir durch die verschiedenartigen Kommunikationsmittel, welche uns jetzt auch das Entfernteste bald nahe bringen, theilhaben. Ist dies nun eine Entwickelung, in welcher der Baum der Menschheit nach dem innern Gesetz seines Wachsthums naturgemäß nur das seiner Vollendung Dienende zu Saft und Kraft verarbeitet, alles andere aber zu seiner Zeit abstößt? und ist nicht gerade dem deut­ schen Volk, um diesen organischen Verlauf einzuhalten, in den großen Epochen seines Geisteslebens, vor allem im Christenthume und in der Reformation, eine Direktion dazu gegeben? Gewiß; aber die Geschichte zeigt, wie diese Entwickelung dennoch immer wieder tief eingreifende Störungen erfahren hat, und wie keineswegs blos der bleibende Reinertrag des in einem Zeitalter Erworbenen dem nächsten überliefert wird. Darum will das Bild eines im gesunden Wachsthum und reicher Verzweigung emporstrebenden Baumes doch nicht pasien: vielmehr sehen wir auf ein Neben- und Durcheinander der verschiedenartigsten Bildungsstoffe, auf große im Laufe der Jahrhunderte gesammelte Massen, an denen wir zu tragen haben. WaS war Salomos gerühmte Weisheit, der reden konnte von der Ceder deö Libanon bis an den Ysop, der aus der Wand wächst, gegen das Wissen unserer Tage! Bei erwachendem Bewußtsein findet sich jeder von zahllosen Resultaten der Thätigkeit früherer Geschlechter und von einer unermeßlich reichen Erfahrung umgeben; es gilt nun für ihn, seine Stellung dazu zu nehmen, sich darin zurechtzufinden und davon zu er­ werben, um eö selbst zu besitzen oder zu mehren und weiterzuführen. Gegenüber dieser Massenhaftigkeit möchte man die Griechen glücklich preisen, die wie ohne Gepäck leichten und fröhlichen Schritts dem Triebe der Ursprünglichkeit ihres Geistes folgen konnten und eine aufspeichernde Gelehrsamkeit, wie sie für uns unentbehrlich ge­ worden ist, in ihrer besten Zeit nicht kannten, Philologie nicht zu studiren brauchten; und was war für sie die Geschichte? Aber ist es denn kein Vorzug, um so viel reicher geworden zu sein und einen so viel weiteren Gesichtskreis zu haben? Ja; es fragt sich nur, ob uns der Reichthum und die Fülle nicht arm macht, ob wir im Stande und geschickt sind, die Massen zu bewältigen und so zu beherrschen, daß der Bildungszweck nicht verfehlt wird. Es ist Thorheit, über Unvermeidliches zu klagen: unsre gesammte Bildung hat mit Nothwendigkeit einen überwiegend historischen Charakter,- und an die Stelle der Einfachheit und glücklichen Beschränkung alter Zeiten mußte eine vielseitige Mannigfaltigkeit treten. Aber wie steht es um die zusammenhaltende Einheit? Sie ist in der That bei den Deutschen geringer als bei den anderen europäischen Völkern, welche erstlich Wissensschätze zu sam­ meln und den Kulturprozeß früherer Zeiten nachzuleben viel weniger bemüht sind als wir, sodann aber allem, was sie aufnehmen, schneller das Gepräge ihres nationalen Geistes zu geben wissen. Wiese.

8. Alterthum unj) Neuzeit — Synthesis und Analysis. Ebenso wie der einzelne Mensch mit seiner Geburt in eine gewordene, fertige Welt eintritt und anschauend ihre Erscheinungen in seine Seele aufnimmt, wie er lange unter dem Eindruck des Ganzen steht, ehe er daran denkt, sich diesen Zusammenhang zu zerlegen, im Einzelnen zu erforschen und darüber zu reflektiren, so ist es auch mit den Völkern in ihrer Aufeinanderfolge. In den Anfängen der Geschichte begegnen uns überall Zeichen der hingebenden Bewunderung, mit der die Erscheinungen der Natur in ihrem Ineinander­ wirken von den Menschen ausgenommen werden; erst sehr allmählich entwickelt sich der Trieb zu wissen, wie das geworden und wie es in seinen Theilen beschaffen ist. Von der­ selben Hingebung an das Ganze zeugt auch alles das, was die nachschaffenden menschlichen

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Kräfte in den ersten Zeiten hervorbrachten. Im Beginn aller geschichtlichen Entwickelung sind schöpferische Gedanken wirksam. Die Poesie war wie alle Kunst früher da als ihre Theorie und als eine Aufstellung metrischer Gesetze; diese wurden erst viel später auf analytischem Wege gefunden, während in den Gedichten selbst die unreflektirte volle Empfindung des Ganzen spricht und die Seele auf den Flügeln der Phantasie frei über der unzertrennten lebendigen Einheit und Fülle des Daseins schwebt. Das ganze Alterthum, besonders das hellenische, trägt überwiegend den Charakter der Synthese. DaS läßt sich nachweisen an seiner Sprache, seiner Kunst, seiner gesummten Bildung und Lebensauffassung. Wie die eigentlich hellenische Kunst die Plastik ist, so hat bei den Griechen alles auch im Gebiet des geistigen und sittlichen Lebens den Trieb nach plastischer Ausgestaltung, nach Darstellung in schmuckloser Einfachheit und anschaulicher Einheit. Was wir aus ihrer Sprache Idee nennen, und was bei uns so oft ein sehr un­ klares Gedankending ist, heißt ihnen nichts anderes als Bild und Gestalt. Kritische Unter­ suchungen lagen ihnen fern; wie hätten sie an einem persönlichen Homer zweifeln können? und wie sie sich mit der Etymologie, der Erforschung des Entstehens und der ursprüng­ lichen Zusammensetzung der Wörter, wenig oder nicht beschäftigten, so auch nicht mit der Anatomie, namentlich des menschlichen Körpers, und vollends nicht mit Experimenten au den Kräften der Natur, was alles zu den wirksamsten Mitteln der wissenschaftlichen Thä­ tigkeit unserer Zeit gehört. Aus diesem Gegensatz wird es verständlich sein, daß an pla­ stischen Kunstwerken, die auf uns gekommen sind, z. B. Pferden, zwar die anatomische Betrachtung Fehler entdeckt, das Ganze aber einen naturgemäßen, lebensvollen Eindruck macht; während neuere Künstler, die auf Grund anatomischer Studien alle diese Fehler vermieden hatten, von ihrer daneben gestellten Kopie gestehen mußten: ja, meines ist in allem richtiger, jenes ist wahrer; jenes lebt, meines ist tobt; es hatte bei aller Genauigkeit im Einzelnen an der schöpferischen Kraft gefehlt, ein beseeltes Ganzes darzustellen, die sich nur am Ganzen bildet. Das gesammte Leben des griechischen Volks hatte die innere Übereinstimmung, daß eö

nach allen Richtungen und wie in naturnothwendiger Entwickelung von der nationalen Religion, Kunst und Sitte durchdrungen war. Der stillen, einfachen Größe, die wir an ihrer Kunst bewundern, entsprach daS Ebenmaß und der Rhythmus in ihren anderen GeisteSerzeugnisien. Sittliche Güte und Schönheit waren in ihrer Vorstellung untrennbar eins, und die Übereinstimmung von Erkenntnis und Handeln bei jedem freien Manne etwas Selbstverständliches. Ich meine, gegenüber der Vielgestaltigkeit und Verworrenheit der neueren Zeit muß es jeder als eine Wohlthat erkennen, daß unsere Jugend in den Gymnasien einige Jahre im Anschauen und jedenfalls unter dem Eindruck jener so viel einfacheren und zu ruhiger Objektivität und harmonischer Einheit abgeschlossenen Verhält­ nisse und ethischen Wahrheiten lebt. Nur Unkenntnis kann den Werth leugnen, den das Alterthum dadurch als eine pädagogische Vorstufe für die unendlich tiefere, aber darum auch um so viel schwieriger zu erreichende Einheit der christlichen Geistesbildung hat. Natürlich hat auch das Alterthum seine zersetzenden Tendenzen gehabt, und eS ist an ihnen zu Grunde gegangen; aber lange Zeit war die angegebene Richtung die vorherr­ schende; und der Philosoph, der die eigentlich klassische Zeit des Hellenismus abschließt, ein bewunderungswürdiger Geist auch schon in der analytischen Einzelforschung, Aristoteles, spricht in echt hellenischer Anschauung z. B. den Satz auS: „Der Staat ist eher als der Einzelne"; d. h. die Idee des Ganzen ist vorhanden, ehe sie sich als geschichtliches Werden im Einzelnen realisirt, wie der wahre Künstler erst dann an die Ausführung geht, wenn die Idee des Werkes voll und ganz in seiner Seele lebt. Das Christenthum emanzipirte die Persönlichkeit des Einzelnen von der Übermacht des Staates, die im Alterthum Unterwerfung und Hingebung an das Ganze und Allgemeine

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bis zur Selbstlosigkeit forderte und erlangte; aber andererseits, was in der Welt hat mehr den Einheitsgedankeu der Menschheit, die wahre Humanität, gelehrt und in das sittliche Bewußtsein und Thun der Menschen gebracht als der christliche Glaube? Im Mittelaller, so weit eS auch hinsichtlich der Form hinter der plastischen Beschlostenheit und Einfachheit der alten Welt zurückblieb, gestaltete sich unter dem Einfluß der Kirche wiederum eine groß­ artige Einheit und Übereinstimmung des ganzen Lebens und Strebens in Kunst und

Wiffenschaft, in öffentlichen und Privatverhältniffen: in allem wurde der Zusammenhang mit der übersinnlichen Welt festgehalten und zum Ausdruck gebracht; auch der nationale Gedanke stand mit dem religiösen noch in inniger Verbindung. Lange über das Reformationszeitalter hinaus dauerte auf vielen Gebieten der ein­ heitliche Charakter des deutschen Lebens fort, bis allmählich die Wirkungen eines falschen Protestantismus hervortraten, der sich von den zusammenhaltenden objektiven Mächten abwandte und in allem die Selbstgerechtigkeit des einzelnen Subjekts begünstigte. Zugleich erhielt der analysirende Forschungstrieb an dem durch zahlreiche Entdeckungen wachsenden Wisiensmaterial immer neue Nahrung. Der Natur stand man nicht mehr mit den Voraus­ setzungen überlieferter allgemeiner Begriffe beobachtend gegenüber, sondern man drang mit Hülfe deS Experiments in sie ein und nöthigte diese Sphinx, auf ihre Räthsel eins nach dem andern selbst die Antwort zu geben. Verhängnisvoll waren die Folgen des dreißig­ jährigen Krieges, seit welcher Zeit die Grundlagen unserer Bildung, nämlich das national Deutsche, das Christliche und die aus dem Alterthum aufgenommenen Kuliurelemente, ihre vorherige Verbindung allmählich lösten und in ein unklares, zum Theil feindliches Ver­ hältnis zu einander traten. Die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts brachte sodann unter dem Einfluß der Philosophie mit dem Vorherrschen der Verstandesbildung eine Schärfung des kritischen Bewußtseins und Vermögens, dessen unerbittlicher Konsequenz sich kein geistiger Besitz des Menschen entzog; zugleich führte die Erweiterung aller Wissens­ provinzen mit Nothwendigkeit immer mehr zu der Theilung der Arbeit, welche ihr Anbau und ihre Beherrschung erfordert. Das sind die Elemente, an welchen im Gebiet des geistigen Kulturlebens die Signatur unserer Zeit erkennbar ist. Zu der Ausdehnung des WiffensstoffS, die an sich schon die Synthese erschwert, tritt als weiteres Hindernis die einseitige Verstandesbildung hinzu. Die Wirkungen davon werden überall fühlbar und treten bei einer Vergleichung des Sonst und Jetzt noch schärfer hervor. stefe.

9. Über die zunehmende Verminderung der Allgememgnltigkeit sittlicher Begriffe. Es ist eine merkwürdige Wahrnehmung, daß die Allgemringültigkeit sittlicher Begriffe, die Summe von Wahrheiten, die allen zugehören, worin alle einig sind, sich immer mehr vermindert. Kommen wir uns nicht bisweilen wie in einer Sprachverwirrung lebend vor, in der einer den Andern nicht mehr versteht, weil sie über die Vordersätze, welche die allge­ meinen und nothwendigen Voraussetzungen alles Verständnisses über das Einzelne bilden, uneinig sind oder solche überhaupt nicht haben? Daher so viel ungerechtes Aburtheilen von willkürlichen Jsolirpunkten aus, daher so viel Zwietracht und Parteiung auf den Ge­ bieten des Staatslebens und der Kirche bei der menschlichen Geneigtheit, das, was trennt, daS Einzelne, schärfer zu betonen, als was uns verbindet und gemeinsam ist. Wovon ist im politischen Leben jetzt mehr die Rede als von Rechten? Das ist gleich so ein Begriff, bei dem viel Mißverständnis und unberechtigter Anspruch vermieden werden würde, wenn man ihn in seinem organischen Zusammenhänge fassen und nicht isoliren, nicht gleichsam seiner Heimat entfremden wollte. Recht gehört zusammen mit Pflicht; eS ist ein sich gegenseitig ergänzendes Begriffspaar. Wie verhalten sich beide zu einander, welches ist die Voraussetzung deS andern, welches daS frühere? Ich weiß nicht, ob wir Dtelitz u. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur,

r. Änfl.

44

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Wissenschaftliche Prosa.

alle dieselbe Antwort auf diese Frage haben. Meines Dafürhaltens ist die Pflicht das Ursprüngliche und ihre Anerkennung die Vorbedingung des Rechts. Das Grundgefühl von dem, waS an sich recht ist, das Gewissen, spricht mir wohl von Pflichten, die ich habe, nicht von Rechten. Und man sehe auf die Entwickelung des Menschen: eine vernünftige Erziehung beginnt nicht mit der Überweisung von Rechten, sondern mit der Gewöhnung an die Pflicht deS Gehorsams. Die umgekehrte Anschauung, welche daS Recht vor die Pflicht stellt, ist weder aus dem Geiste des Christenthums, das auch die Rechte des Men­ schen alsbald in Pflichten verwandelt, noch ist sie ursprünglich deutsch, sondern importirt. Das starke Betonen und Voranstellen des isolirten Rechts führt überall nothwendig zu dem EgoiSmuS, der, auch auf dem sittlichen Gebiet, daS Recht leicht zur Willkür macht und die Menschen trennt, während die entgegengesetzte Auffassung sie vereinigt. Aber noch ein weiterer Zusammenhang ist festzuhalten: wie der Menschengeist seine Wahrheit überall nur an Gottes Geiste hat, so kann sich auch daS sittliche Leben, soll es Bestand haben, nicht von den Ordnungen GotteS isoliren; darum haben alle Menschen-Pflichten und -Rechte ihre Weisung und ihr Maß nicht in sich selbst, sondern in dem ewigen Gesetze Gottes. Wie bei dem Recht die Auflösung des ursprünglichen und nothwendigen Zusammen­ hanges Irrthum und Unheil mit sich führt, ebenso ist es mit einer ganzen Reihe anderer sittlicher Begriffe, die gleichsam zu unserm täglichen Brot gehören. Sie verlieren ihre nährende Kraft, wenn sich, wie häufig infolge der Jsolirung, ihr positiver Gehalt in eine negative Auffassung verkehrt. Pflicht und Recht setzen beide die Freiheit voraus. Diese nun, was wird aus ihr, wenn man sie auf sich selbst stellt? Die Karrikatur, daß ich, von keinerlei Autorität abhängig, thun kann, was mir beliebt, und meine Willkür für das Maß deS Rechten und Erlaubten halte; während im Wesen der Freiheit daS Wollen un­ trennbar ist von einem Sollen, das wiederum nach einem ewigen und heiligen Gesetze sich bestimmt. Die wahre Freiheit ist nichts als daS ungehinderte Vermögen, das Rechte und Gute zu thun; sie ist nicht ein Zustand, sondern eine Kraft und eine Tugend, die geübt sein will, um zu wachsen und sicherer Besitz zu werden. Daß zwischen Wissen und Gewissen die schon an der Wortform erkennbare Verbin­ dung auch in der Sache besteht, also Klarheit der Erkenntnis von der Reinheit der Ge­ sinnung abhängig ist und wahre Intelligenz von Hause aus immer auch einen sittlichen Zusammenhang hat, kann nur von denen bestritten werden, welche eine innere Einheit der Menschennatur nicht anerkennen. AuS dem kirchlichen Gebiet will ich nur an die herkömmliche Auffassung des Pro­ testantismus erinnern. Wer diesen Begriff in dem Zusammenhänge seiner Geschichte und seines Wesens kennt, weiß, wie falsch eö ist, ihn zu einer Negation und Opposition zu stempeln. Sein Grundwesen ist die positive Berufung auf die Wahrheit. Erst daraus erwuchs bei Luther die Kraft und der Muth, daS Entgegengesetzte zu bestreiten. Das Ja ist vor dem Nein, wie daS Gute vor dem Bösen, und ist die Voraussetzung desselben. Die landläufige irrige Vorstellung von dem, was Protestantismus sei, ist einö der größten Hindernisse der Einigkeit des Geistes in der evangelischen Kirchengemeinschaft. Der er­ wähnte Irrthum hängt aber bei den Meisten zusammen mit der Unklarheit religiöser Grund­ begriffe überhaupt. Wie kann eö auch anders sein, wenn die ganze Einsicht vom Wesen und Inhalt der christlichen Religion, dem mächtigsten Faktor, den die Weltgeschichte und daS Leben der Völker kennt, nur etwa in verworrenen Reminiscenzen aus der Schulzeit und gelegentlich aufgenommenen vereinzelten Notizen besteht, eine zusammenhängende und be­ gründete Erkennmis aber darin niemals erstrebt oder erlangt worden ist? Gegenüber dieser heutzutage so verbreiteten Halbheit der Geistesbildung hat die ungleich größere Harmonie, die wir auch nach der religiösen Seite bei fast allen bedeutenden Männern deö Alterthums wahrnehmen, etwas Beschämendes. Wiese.

Philosophie.

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10 (7). Synonyma. a.

Schwärmerei.

Fanatismus.

Enthusiasmus.

Begeisterung.

Ich nenne Schwärmerei eine Erhitzung der Seele von Gegenständen, die entweder gar nicht in der Natur sind oder wenigstens das nicht sind, wofür die berauschte Seele sie ansieht. So schwärmt z. B. Horaz, wenn ihn Bacchus, von dessen Gottheit er voll ist, in unbekannte Haine und Felsenhöhlen fortreißt. Dem Worte Schwärmerei, in dieser Bedeutung genommen, entspricht das Wort Fanatismus ziemlich genau, wiewohl dies letztere durch den Gebrauch und die Ableitung (von fanum) einer besonderen Gattung von Schwärmerei, nämlich der religiösen, zugeeignet worden ist. Der Fanatiker geht in der Schwärmerei bis zur Wuth der Zerfleischung seiner selbst und anderer im physischen und moralischen Sinne und bewaffnet darum gern den weltlichen Arm gegen Andersdenkende. Aber es giebt auch eine Erhitzung der Seele, die nicht Schwärmerei ist, sondern Wirkung des unmittelbaren AnschauenS des Schönen und Guten, Vollkommenen und Göttlichen in der Natur und unserm Innersten, ihrem Spiegel, eine Erhitzung, die der menschlichen Seele, sobald sie mit gesunden, unerschlafften, unverstopften äußern und innern Sinnen sieht, hört und fühlt, was wahrhaft schön und gut ist, ebenso natürlich ist als dem Eisen, im Feuer glühend zu werden. Diesem Zustande der Seele weiß ich keinen angemesseneren Namen als Enthusiasmus. Das Wort bezeichnet nämlich nach seiner Etymologie den erhöhten Zustand der Seele, worin sie ganz außergewöhnliche Kräfte zeigt und Wirkungen äußert, und den sich die Alten nicht anders erklären konnten als aus dem Jnwohnen eines Gottes in der Seele, dem Einwirken eines Gottes auf dieselbe. Besonders Dichtern und Propheten schrieb man daher Enthusiasmus zu. Est deus in nobis, agitante calescimus illo, sagt Ovid. Das, wovon die enthusiastisch erregte Seele glüht, ist göttlich, ist, nach Menschenweise zu reden, Strahl, Ausfluß, Berührung von Gott; und diese feurige Liebe zum Wahren, Schönen und Guten ist ganz eigentlich Einwirkung der Gottheit oder, wie Plato sagt, Gott in uns. Hebet eure Augen auf und sehet! Was sind Menschenseelen, die diesen Enthusiasmus nie erfahren haben? Und was sind die, deren gewöhnlichster, natürlichster Zustand er ist? Wie frostig, düster, unthätig, wüst und leer jene! Wie heiter und warm, wie voller Leben, Kraft und Muth, wie gefühlvoll und anziehend, fruchtbar und wirksam für alles, waS edel und gut ist, diese! Schwärmerei ist Krankheit der Seele, eigentliches Seelenfieber; Enthusiasmus ist ihr wahres Leben. Welch ein Unterschied in wesentlicher Beschaffenheit, Ursache und Wirkung! Ich vergesse hier gar nicht, daß die Grenzen des Enthusiasmus und der Schwärmerei in jedem Menschen schwimmen, daß der Enthusiast oft schwärmt, daß weder wir noch er selbst allemal mit Gewißheit sagen können, was von allem, was in ihm vorgeht, der einen oder der andern Ursache zuzuschreiben ist. Beiläufig merk' ich noch an, daß Enthusiasmus wenigstens niemals, wo man sich ganz bestimmt auszudrücken hat, durch Begeisterung übersetzt werden sollte. Dies letzte Wort hat eine weitere Bedeutung, denn der Geister sind mancherlei. Der Schwärmer ist be­ geistert wie der Enthusiast, nur daß diesen ein Gott begeistert und jenen ein Fetisch. Man kann wohl Begeisterung zum Mittelpunkt machen. Dem Begeisterten zur einen Seite steht der Enthusiast, zur andern der Schwärmer. Jener erglüht für eine Idee, dieser für eine Chimäre. Jeder will sie anerkannt, realisirt wissen und ist eifrig darin. Der Enthusiast wählt nur gute Mittel; dem Schwärmer wird das Mittel durch den Zweck geheiligt. Ter Enthusiast ist allezeit mit der Vernunft in Einklang, der Schwärmer nicht. Enthusiasmus ist ein Affekt, Schwärmerei eine Leidenschaft, und daher das Schwärmen d. i. das Umher­ schweifen mit lautem Getös und zwar in Masse; der Schwärmer will auch Schwarm machen. Endlich sollt' ich kaum hinzusetzen dürfen, daß es, waS man auch über den wesent­ lichen Unterschied zwischen Enthusiasmus und Schwärmerei und den verschiedenen Gebrauch dieser Wörter festsetzen will, immer hohe Zeit wäre, die Namen Enthusiast und Schwärmer 44*

Wissenschaftliche Prosa.

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nicht länger als Schimpfwörter zu gebrauchen. Ein Schwärmer sein ist nicht schimpflicher, als ein hitziges Fieber haben; ein Enthusiast sein ist das Liebenswürdigste, Edelste und Beste sein, was ein Sterblicher sein kann. Aber freilich wer wird die frostigen, lichttosen, öden und leeren Seelen jemals dahin bringen, dies zu fühlen? Wieland. b.

Beherzt.

Muthig.

Kühn.

Tapfer.

Herzhaft.

Aus der Verachtung der Gefahr und des Widerstandes überhaupt, indem man sie, eS sei aus welchen Gründen, für gering hält, entsteht die Kühnheit. Die Kühnheit kann daher auch oft auS der Unbekanntschaft mit der Gefahr entstehen. Ein neuer Soldat wagt oftmals kühnere Unternehmungen, weil er die damit verknüpften Gefahren nicht kennt. Vertrauen auf seine Kräfte, indem man gewiß hofft, den Widerstand überwinden und der

Gefahr entgehen zu können, giebt Muth. Ein geschlagenes Heer ist muthlos, es hat kein Vertrauen auf seine Stärke; es erhält einen Theil seines Muthes wieder, wenn es Ver­ stärkung erhält; der Überwinder hat Muth bekommen zu neuen Unternehmungen, denn

der erfochtene Sieg hat ihm das Gefühl seiner Kräfte gegeben und ihn mit neuem Ver­ trauen auf dieselben belebt. Das Ertragen der Übel, die die Menschen am meisten zu scheuen pflegen, ist Tapferkeit. ES gehört eine große Tapferkeit dazu, mitten in einem Kanonenfeuer sich zu halten, ohne weder zu rasch vorwärts zu gehen, noch zurückzuweichen. Der Kühne wagt, der Muthige greift an, der Tapfere weicht nicht. Zu gefährlichen Unter­ nehmungen, wenn sie glücklich sollen ausgeführt werden, gehört geschwinde Entschließung ohne langes Bedenken der Gefahr und des bevorstehenden Übels, verbunden mit kräftigen

Handlungen, die durch keine Furcht gelähmt werden; diese Eigenschaft ist die Herzhaftigkeit. Herzhaft ist derjenige, der nicht gewohnt ist, sich zu fürchten; beherzt auch der, den in diesem Augenblicke die Furcht verläßt, ob er gleich gewöhnlich nicht herzhaft ist. Selbst ein furchtsames Weib kann eine heftige Leidenschaft auf eine kurze Zeit beherzt machen, ob sie gleich von Natur nicht herzhaft ist. In einem Sturme zur See kann die Verzweif­ lung einen Menschen, der von Natur nicht herzhaft ist, beherzt machen. Beherzt würde also blos das furchtlose Handeln anzeigen, herzhaft die gewohnte Gemüthseigenschaft der Furchtlosigkeit. Hierin liegt wohl auch der Grund, warum der Herzhafte die Furcht, der Beherzte den Schrecken überwindet. Der Herzhafteste kann nämlich auch einen augenblick­ lichen Schrecken empfinden; wenn er sich aber ermannet, so geht er wieder beherzt dem Tode entgegen. Charlotte Corday, so herzhaft sie war, erblaßte bei dem Anblicke von den Zurüstungen zu ihrem nahen Tode auf dem Richtplatze, als man ihr den Hals entblößte; der Gedanke aber, daß der geringste Beweis.von Furcht ihr schimpflich sein würde, machte sie so beherzt, daß sie zu den Umstehenden sagte: „Wenn ich erblasse, so ist es nicht vor Furcht, sondern vor Scham." c.

Ehrgeiz.

Ehrliebe.

Ehrbegierde.

Ehrsucht.

Die Ehrliebe ist der gemäßigtste Grad deö Verlangens nach Ehre. Sie schätzt die Ehre als ein kostbares Gut und sucht es durch eine untadelhafte Aufführung unverletzt und unvermindert zu erhalten. Die Ehrbegierde bestrebt sich, durch immer neue und größere Verdienste seinen Werth in den Augen der Menschen zu vergrößern. Der Ehrgeiz sucht sich immer mehrerer und größerer Zeichen der Ehre mit Ausschließung anderer zu versichern und in seiner Person zusammeuzuhäufen. So wie der Geldgeiz unersättlich ist in der Anhäufung von Schätzen, die bloße Zeichen von dem Werthe der Dinge sind, deren Genuß er sich selbst versagt: so jagt der Ehrgeiz blos nach äußern Ehrenzeichen. Ehrsucht zeigt ein Verlangen nach Ehre an, welches wie das Gelüste eines Kranken nicht allein im höchsten Grade quälend, sondern auch so heftig ist, daß eS selbst nicht durch die Vorstellung von der Gefährlichkeit und Strafbarkeit der Mittel seiner Befriedigung bezwungen werden kann. Die Ehrliebe hält sich in den Schranken der Rechtschaffenheit, der Sittsamkeit und

Philosophie.

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Anständigkeit, um nicht die Achtung der Menschen zu verlieren; die Ehrbegierde spornt den Menschen zu der Anstrengung seiner Kräfte an, um sich durch immer neue Verdienste hervorzuthun; der Ehrgeiz drängt sich vor andern hervor, um sich in die höchsten Stellen zu schwingen und sich aller möglichen Ehrenzeichen zu bemächtigen; die Ehrsucht treibt zu den äußersten Aufopferungen, zu den gefahrvollsten Unternehmungen, ja zu den größten Ver­ brechen, wenn sie ihre Befriedigung durch keine anderen Mittel finden kann. d.

Geist.

Seele.

Gemüth.

Herz.

Seele bezeichnet das empfindende und bewegende Prinzip in dem Menschen. Geist war ursprünglich so viel als Hauch; es ist also das Unsichtbare, Feinste, Subtilste, das in der sichtbaren, fühlbaren, groben Materie thätig ist. Und ans dieser ursprünglichen Be­ deutung sind in der Folge, so wie die Bedeutung des Wortes Geist immer unsinnlicher geworden, die Nebenbegrifse entstanden, wodurch es sich von Seele unterscheidet. In der gegenwärtigen Sprache ist die lebendige Seele dem todten Körper und der feine, unsicht­ bare Geist der groben Materie entgegengesetzt. Die Seele, als lebendiges und belebendes Prinzip, empfindet und bewegt. Seele bezeichnet also zuvörderst den Sitz und das aus­ nehmende Subjekt der Empfindungen, nicht aber Geist. „Die Hälfte unserer Reizungen geht an ihnen verloren, weil sie keine Seele haben, um die Schönheiten einer Seele zu empfinden." Wieland. Seele bezeichnet hiernächst das innere Prinzip der Bewegung des Körpers. Diese Bewegungen sind, wenn- sie sich am stärksten und merklichsten äußern, Wirkungen deö innern Gefühls und der daraus eutstehenden Leidenschaften. Der Geist ist zunächst das feine Wesen, welches die gröbere Materie in Thätigkeit setzt. Der Wein hat vielen Geist, wenn er viele dieser feinen Theile hat, die ihm seine Kraft geben. Von dieser Bedeutung hat man sogleich einen uneigentlichen Gebrauch gemacht, indem man den wesentlichen Inhalt einer Rede, ihre Absicht und die Kraft, womit sie wirkt, ihren Geist nennt. „Vorausgesetzt, daß die VerSart dem Geist und Ton des Ganzen angemeffen sei." Wieland. Ebenso wird die Absicht, der Grund des Gesetzes, dasjenige, wodurch eS seine wohlthätige und vernünftig verbindende Kraft erhält, sein Geist genannt. Der Geist des Gesetzes ist also sein unsichtbarer Grund, seine wohlthätige Absicht, die nur durch vernünftiges Nachdenken erkannt wird; er ist dem Buchstaben oder dem in der Vor­ schrift bekannt gemachten Willen deö Gesetzgebers entgegengesetzt. „Der Buchstabe tödtet, der Geist aber macht lebendig." 2.Kor. 3, 6. Dieser Begriff des Feinsten, Unsichtbarsten und Subtilsten hat dann auch die Bedeutung des Wortes Geist in dem innern, thätigen Prinzip des Menschen bestimmt und sie auf den Verstand eingeschränkt. Denn die Be­ griffe des Verstandes sind desto feiner und unsinnlicher, je abgezogener und höher sie sind. Wenn man unter der Seele den Sitz deö Empfindens und des stärkern Begehrens ver­ standen, so hat man sich unter dem Geiste das Werkzeug deö Denkens, des Forschens und Überlegens vorgestellt. Cromwell war kein großer Geist, aber er hatte eine starke Seele. Es ist zweifelhaft, ob der Kanzler Franz Bacon ein großer Geist kann genannt werden; aber gewiß hatte er eine schwache Seele; Friedrich der Große war ein großer Geist und hatte eine starke Seele. Gemüth bezeichnet das innere Prinzip des Menschen von der Seite seiner gesummten Begehrungsvermögen, der vernünftigen und sinnlichen, und dadurch unterscheidet es sich sowohl von Geist als von Seele. „Nieder am Staube zerstreuen sich unsere gaukelnden Wünsche, eins wird unser Gemüth droben, ihr Sterne, bei euch." Schill. Musenalm. 1796. Dieser Begriff des gesammten Begehrungsvermkgens nach seinen verschiedenen Mischungen liegt auch in den Zusammensetzungen Gemüthsart, Gemüthscharakter zum Grunde. Das Herz bezeichnet die geselligen Neigungen, womit wir an dem Wohl und Weh anderer theilnehmen. Es unterscheidet sich also zuvörderst von dem Geist dadurch, daß es zum Begehrungsvermögen gehört. Der Anblick der Natur giebt unserm Geiste Nahrung zu Betrachtungen, so wie unserm Herzen zu theilnehmendem

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Wissenschaftliche Prosa.

Vergnügen. Von Seele unterscheidet es sich dadurch, daß es nicht daö ganze sinnliche Begehrungsvermögen, sondern nur die geselligen Neigungen, die sich durch Liebe äußern, in sich begreift. „Hab' ich treu im Busen dich getragen, dich geliebt, wie je ein Herz ge­ liebt. " Horen. e. Müssen. Sollen. Diese Wörter werden zuvörderst von der Bestimmung physischer Kräfte gebraucht. Wenn ein frei handelndes Wesen die Wirklichkeit von etwas will, so sagt es: Es soll sein; wenn die Gewalt wirkender Ursachen oder das Übergewicht zureichender Gründe etwas

nothwendig macht, so muß es geschehen. Der Müller will, daß seine Mühle gehen soll, weil er etwas zu mahlen hat. Wenn man ihm sagte: Die Mühle wird sich an dein Wollen nicht kehren, so wird er antworten: Wenn ich das Schützbrett aufziehe, so muß sie wohl gehen; und er hat Recht, denn er macht alsdann die wirkende Ursache von der Bewegung des Mühlrades wirklich. Diese ist der Anstoß des strömenden Wasiers an die Schaufeln deffelben. Beide Ausdrücke werden aber auch von vernünftigen und moralischen Wesen gebraucht. Ich soll das thun, was ich nicht lasten darf; ich muß das thun, was ich nicht lasten kann. Insonderheit müssen wir das thun, was wir sollen, wenn wir es ungern thun und also dazu gezwungen werden, der Zwang mag ein physischer oder moralischer sein. Man sagt: Du wirst wohl müsten, ich will dir den Willen machen. Das, was den Willen bestimmt, ist die Vernunft und die Empfindung. Wenn beide mit einander harmoniren oder die Bewegungsgründe der Bernünft stärker auf unsern Willen wirken als unsere Triebe, Neigungen und Leidenschaften, so thun wir, was wir sollen; wenn aber die letztem das Übergewicht haben und den erstem entgegengesetzt sind, so thun wir nicht, was

wir sollen, wir fühlen oft mit Bedauern, daß wir der Gewalt der Leidenschaften haben nachgeben müsten. Wenn das Sittengeseh und nur bekannt macht, was wir thun sollen, und nicht durch die vernünftigen Bewegungsgründe, daß das, was es vorschreibt, das Beste ist, auf den Willen wirkt, wenn die Vernunft nicht mit so überwiegender Kraft wirkt, daß der Wille seine Vorschriften befolgen muß, so ist es unkräftig. AuS Eberhards synonym. Handwörterbuch.

11 (8). Über Fußreisen. Biele griechische Weise konnten mit Goethe sagen: „Was ich nicht erlernt habe, das habe ich erwandert," und die griechischen Gymnasien bildeten wie die Kraft, Gewandtheit und Ausdauer des Körpers überhaupt, so auch die Marschfertigkeit iu hohem Grade aus. Die gewöhnliche Weite eines Tagemarscheö betrug bei den griechischen Heeren drei bis vier deutsche Meilen; doch kommt in besondern Fällen eine Steigerung bis zu sechs, ja bis zu zehn Meilen vor. Nach der Schlacht bei Salamis lief der Platäer Euchidas, um von Apollons Altar reines Feuer zu holen, den Weg von Platää nach Delphi und zurück, also tausend Stadien oder fünfundzwanzig Meilen, an einem Tage; er wurde freilich ein Opfer dieser patriotischen Anstrengung. Bei so großen Anstrengungen, wie sie die griechische Gymnastik dem Körper zumuthete, erschien dagegen das Spazierengehen als ein erschlafsendes Sichgehenlasten, und Man erzählt: „Als die Ephoren zu Lacedämon erfuhren, daß ihre Truppen, die in Decelea als Besatzung lagen, Abendspaziergänge zu machen pflegten, ent­ boten sie ihnen: Gehet nicht spazieren! Denn ihre Ansicht war, es sei dies ein Vergnügen, nicht aber eine körperliche Anstrengung, und die Lacedämonier sollten nicht durch Spazier­ gänge, sondern durch Leibesübungen für ihre Gesundheit sorgen." Eine Fußreise unterscheidet sich von einem Spaziergange hauptsächlich durch die Ver­ schiedenheit des erstrebten Ziels und demnächst durch ihre längere Dauer, woraus die übrigen Unterschiede von selbst folgen. Der Spaziergänger sucht in bekannter, gewohnter Umgebung, die zugleich den Geist angenehm berührt, ohne ihn aufzuregen, in wenig an-

Philosophie.

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strengender Bewegung lediglich Erholung von geistiger Anstrengung oder auch von ein­ seitiger körperlicher Thätigkeit. Der Reisende hingegen verfolgt ein bestimmtes Ziel, welches jenseits der gewohnten Umgebung liegt und zugleich im Stande ist, die größere Anstrengung und die längere oder kürzere Verzichtleistung auf die gewohnte LebenSordnung zu belohnen, ohne welche es nicht erreicht werden kann. Ein Gang nach einer mehrere Stunden entfernten Höhe, einem Strom, einer Burg oder einem anziehenden Punkte anderer Art, wenn Hin- und Herweg einen vollen Tag in Anspruch nehmen, kann schon als eine kleine Fußreise betrachtet werden. Noch besser, wenn die Entfernung so groß ist, daß an einem oder mehreren fremden Orten übernachtet werden muß. Es wäre zu beklagen, wenn Dampfschiffe und Dampfwagen diesen namentlich für Knaben und Jünglinge, besonders wenn sich dieselben zu einer kleinen Reisegesellschaft zusammenschaaren, so genußreichen, so wohlthätigen Wanderungen Eintrag thun sollten. Welches Vergnügen gewährt schon die Zurüstung zur Wanderfahrt! Mi.t welcher Spannung wird der Reiseplan entworfen, eines jeden Tages Aufgabe und Ziel festgesetzt! Welche Lust, am Abend vor dem Aufbruch das Ränzel und den Beutel mit der leichten Last zu füllen, welche Wonne, am frischen Morgen in der muntern Schaar unter heilerem Lieder­ klang muthig und erwartungsvoll wie ein Abenteurer mit ausznrücken einer friedlichen, niemand beeinträchtigenden, sicheren Eroberung entgegen! Da thut schon nach ein paar Stunden eine neue Welt sich auf, wo alles die Aufmerksamkeit wunderbar anregt, zumal da, was viele Augen entdeckt haben, doch einem jeden Einzelnen zu gute kommt. Wie schließen sich alle Reisegenoffen im Gefühle gleichen Genusses und gleicher Anstrengung bald innig und immer inniger an einander! Aus Reisebrüdern werden Herzensfreunde, welche lebenslang zusammenhallen. Wie werden in dem jugendfrischen Kreise alle Unannehmlich­ keiten und Beschwerden mit Muth, ja mit fröhlichem Übermuth ertragen, wie bald begreift ein Jeder, daß doppelt leide, wer bei Regenwetter und schlechter Kost noch sauer sieht! Wie werden andrerseits die Freuden, welche die schöne Natur oder irgend ein heiteres Erlebnis bereitet, durch die Kameradschaft gewürzt, wie sprudeln alle, auch die sonst schüchternen, stilleren, in sich gekehrten Naturen von munterem Zuruf und Gespräch, von neckenden! Scherz und jauchzender Lust! Freilich nicht die einförmigen Ebenen, wo man alles so lange voraussieht, wo keine Überraschung, keine Neuheit der Gegenstände daö Gefühl der Ermüdung zerstreut und

der Verdruß, nur langsam aus der Stelle zu kommen, leicht die Oberhand gewinnt, son­ dern nur unmuthige Landschaften, besonders die hohen Gebirgsgegenden, können den Genuß des Wanderns in seiner ganzen Fülle verschaffen. Wer begrübe im Gebirge nicht alsbald mit dem Dichter den selbst schon zum „ treuen Gefährten" gewordenen Trübsinn? Die Beschwerden sind zwar anfänglich für den Weichlichen und Ungeübten nicht gering; der steinige Boden verletzt seine Füße, das Hinanklimmen erschöpft seinen Athem, ihm schwin­ delt auf dem schmalen Pfade über unermeßlichen Abgründen. Allein bald wird man für das Vergnügen empfänglich, etwas blos mit eigenen Kräften errungen zu haben; man nimmt einen ganz anderen Maßstab der Entfernungen und Schwierigkeiten an als für die gewohnten Spaziergänge; man unterzieht sich gleichmüthig tagelang dem Ungemach einer Witterung, welcher man bei der zum Sitzen nöthigenden Lebensart der Städte auch nur auf eine Stunde sich auSzusetzen vermeidet. Über alles geht das Gefühl der Rückkehr in die unmittelbare Pflege der Natur. Wie die reine Berglust stärke und belebe, hat man oft gepriesen; überall ist ein erquickender Trunk bereitet in den unzähligen Quelladern, welche den Alpen entrieseln, wenn man anders die heilsamen Gewäffer von den schädlichen, aus geschmolzenem Schnee zusammengelaufenen, gehörig zu unterscheiden weiß; Kühlung weht um die Wasserfälle, aus den Schluchten und von den beschneiten Firnen herab; würzige Erdbeeren reifen am Wege, und in den Sennhütten findet man Überfluß an süßem Rahm.

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Wissenschaftliche Prosa.

Mit solchem Genuß erringt sich der Fußreiseude aber zugleich auch einen unschätz­ baren Segen für Leib und Seele. Vor allen Dingen erweisen sich die Wanderungen für körperliche Kräftigung und Übung ersprießlich. Gerade darin liegt für unser sitzendes und lesendes und schreibendes Zeitalter der Hauptwerth dieser Reisen. Sie helfen die verloren gegangene Gleichmäßigkeit der menschlichen Bildung wiederherstellen, indem sie der einseitigen Sorge für die geistige Entwickelung das Streben nach einer gesunden, kräf­ tigen Leibesbeschaffenheit als nicht minder berechtigt zuordnen und der Überfeinerung in

der wiedergewonnenen Männlichkeit das nothwendige Gegengewicht geben. Wenn die Turnkunst vorzugsweise die gleichmäßige Stärkung und Übung des Muskel­ systems erzielt, während beim Gehen die oberen Theile des Körpers und deren Muskulatur nicht in demselben Grade wie die Beine in Thätigkeit versetzt werden: so hat dagegen das Wandern den Vorzug, daß es zugleich den Körperwuchs fördert, gegen die Einflüsse der Witterung und der Nahrung in höherem Grade abhärtet und zur Schärfung und Übung der Sinne die vielseitigste Gelegenheit darbietet. Nicht nur die Fernsicht wird ge­ schärft, zu deren Übung sich sonst nur wenig Gelegenheit findet, sondern auch die Aufmerk­ samkeit des Stadtbewohners auf die Erscheinungen der ländlichen Natur und des ländlichen Lebens hingezogen und ihm dadurch ein weites Gebiet zur Weide und Beschäftigung der Sinne eröffnet. Das Auge lernt die Getreidearten, die Feld- und Waldbäume, überhaupt Thiere, Pflanzen und Gesteine aus der Nähe und Ferne unterscheiden, und dem Ohre erschallt bei ausdauernder Beobachtung keine Vogelstimme mehr, die nicht ihre richtige Deutung erführe. Mit der Kräftigung und Übung deö Körpers steht die Stärkung des Willens in dem unmittelbarsten Zusammenhänge. Auch von dem Fußwanderer gelten die Worte deS Schillerschen Reiterliedes „Da tritt kein anderer für ihn ein, auf sich selber steht er da ganz allein." Nichts dient so sehr zur Erregung eines kräftigen, gesunden Selbstgefühls als das Bewußtsein, durch tüchtige Anstrengung die Länge und die Beschwerden des Weges überwunden und ein lohnendes Ziel erreicht zu haben, das Bewußtsein, unabhängig von Lokomotiven und Kutschern, Eseltreibern und Packträgern, auf eigenen Füßen gehn und stehn zu können. Dem durch Fußreisen geübten rüstigen Knaben und Jünglinge werden Wind und Wetter allmählich zu eingebildeten Übeln, ja zu willkommenen Herausforderungen,

mit der Kraft deö Körpers und deö Willens den Kampf gegen sie zu versuchen. Ferner sind Fußreisen ein vortreffliches Mittel zur Bereicherung und namentlich zur Belebung des Wissens. Wie gewinnen da der Wirklichkeit gegenüber die Lehren der Natur­ wissenschaft, der Erdkunde und Geschichte erst rechtes Leben! Aus Phantasiebildern werden feste, kräftige Gestalten. Pflanzen-, Mineralien- und Jnsektensammlungen erhöhen den Reiz und den Nutzen der Reise; nicht nur erhalten die geographischen Grundbegriffe von Berg, Thal und Ebene, GebirgSzug, Bergrücken und Wasserscheide, O.uelle, Bach und Fluß u. dgl. erst ihren vollen Inhalt, sondern auch die Verhältnisse, welche den Gegenstand der politischen Geographie bilden, die verschiedene Dichtigkeit der Bevölkerung, der Unter­ schied der städtischen und ländlichen Beschäftigungen, die Verschiedenheit der Bodenbeschaffenheit und der Bodenkultur werden klar. Der Besuch gewerblicher und künstlerischer Werk­ häuser und Anlagen erweitert den Blick und die Einsicht in das Gebiet menschlicher Betriebsamkeit; ganz besonders aber geben die Denkmale der Vorzeit zu geschichtlicher Be­ lehrung einen trefflichen Anlaß. So bleiben die Worte deS alten Turnerliedes: „Und uns allen wohlbekannt wird das deutsche Vaterland" nicht mehr bloße Worte; daß ihm das deutsche Vaterland bekannt und lieb wird, ist der schönste und werthvollste Gew'.nn des rüstigen Wanderers. Dies führt uns auf den letzten Punkt, auf den Einfluß, welchen Fußreisen ruf die Bildung des Gemüthes üben. Vor allem kommt nur der Fußreisende der Natur und ihren Schönheiten- recht nahe; nur er kann sich ihr völlig ungestört hingeben. Aber auch den

Sprache und Literatur.

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Menschen kommt er näher. Er kann sie ruhig beobachten in ihrer Arbeit, in ihrer Noth und in ihrem Genuß, und zu dem eingehenden Gespräche mit den Begegnenden, welches das Gesehene erläutert und deutet, findet nur er Gelegenheit. Und wie die glückliche, heitere Reisegesellschaft für die bittende Armuth Herz und Hand offen haben wird, so bietet sich auch reichlicher Anlaß, die Gefühle der auf der Reise angeknüpften oder befestigten Freundschaft in wechselseitiger Aushülfe und in der Unterstützung schwächerer Kameraden zu bewähren. Das freudig bewegte Gemüth aber findet seinen Ausdruck im Gesänge; ein frisches Lied läßt augenblickliche Beschwerden vergessen, und unwillkürlich folgen die er­ müdeten Füße seinem munteren Takte. Gar manche deutsche Männer, welche den Ruf rüstiger Fußwanderer erworben haben, mahnen durch ihr Beispiel zur Nachahmung: vor allen Goethe, der in seinen jungen Jahren vom Wandern ein so großer Freund war, daß er sich selbst den Namen Wanderer beilegte, und deffeu schönste Lieder die auf den frischen Wanderfahrten empfangenen Natureindrücke wiederspiegeln; ferner Arndt, welcher in trüber Zeit einen großen Theil Europas mit dem Stabe in der Hand durchzog; Schleiermacher, welcher mit sokratischer Herrschaft über sich selbst einen oft kränklichen Körper zu den Anstrengungen der Fußreise zu zwingen, an ihre Beschwerden zu gewöhnen und so seinem Geiste den erfrischenden Einfluß dieser natürgemäßesten Bewegung zu verschaffen wußte; endlich Seume, der rüstige „Spaziergänger nach Syrakus," welcher die Vorzüge des Wanderns vor dem Fahren etwa mit folgenden Worten kurz bezeichnet hat: „Wer geht, sieht von der Welt und vom Menschenleben mehr, als wer fährt. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. Der Fahrende kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll. Der Gang ist daS Ehrenvollste für den selbständigen Mann, und alles würde bester gehen, wenn man mehr ginge." Nach Baur.

b.

Sprache und Literatur.

1.

Poesie und Prosa.

Die erste und natürlichste menschliche Mittheilung war Poesie, unabhängig von aller Literatur und Urtypus derselben. Auf literarischem Wege bildete sich die Prosa, ein Kind künstlicherer Sitten, verständigen und praktischen Lebensforschungen sich anschließend. Von dem poetischen Zeitalter der Sprache selbst in ihrem frühesten Naturbau haben wir schon früher gesprochen und die beginnende Epoche der Prosa in dem genetischen Leben der Wörter angedeutet. Herder behauptete, die Sprache in ihrer ersten Schöpfung rein nach Natur­ lauten und Interjektionen ausgenommen, sei immer eine Art von Gesang gewesen; gewiß aber ist, daß auch die erste Aufzeichnung der Rede bei allen Völkern einen rhythmischen Charakter an sich trug, der sich bald an eigenthümliche Versgebilde fesselte. Das Metrum war zugleich eine natürliche Form für das Gedächtnis, und alles, waS zu dem ersten Bedarf schriftlicher Mittheilung gehörte, Gesetze, moralische Lebens- und Tagesregeln, selbst Rezepte und die ersten wissenschaftlichen Kenntnisse fügten sich wie von selbst in poetische Gewandung. Denn alle Schreibart war an sich schon poetisch, weil es keine

andern Formen der Aufzeichnung gab, geordnete Rede und Metrum aber dasselbe waren. Die Produktion jedoch überlieferte sich im eigentlichsten Sinne des Wortes durch den Gesang von Mund zu Mund, und in diesem Naturzustand ihrer Verbreitung war ihr der BerS ebenfalls nothwendiges Gliederwerk, ohne das sie nicht gedacht werden kann. Diesen Cha­ rakter poetischer Naturstufe zeigt noch immer alle Versdarstelllung zugleich darin auf, daß sie nur der allereinfachsten Satzbildung fähig ist. Die kunstvollere Komposition des Satzes gehört der Bildnerei der Prosa an.

Sprache und Literatur.

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Menschen kommt er näher. Er kann sie ruhig beobachten in ihrer Arbeit, in ihrer Noth und in ihrem Genuß, und zu dem eingehenden Gespräche mit den Begegnenden, welches das Gesehene erläutert und deutet, findet nur er Gelegenheit. Und wie die glückliche, heitere Reisegesellschaft für die bittende Armuth Herz und Hand offen haben wird, so bietet sich auch reichlicher Anlaß, die Gefühle der auf der Reise angeknüpften oder befestigten Freundschaft in wechselseitiger Aushülfe und in der Unterstützung schwächerer Kameraden zu bewähren. Das freudig bewegte Gemüth aber findet seinen Ausdruck im Gesänge; ein frisches Lied läßt augenblickliche Beschwerden vergessen, und unwillkürlich folgen die er­ müdeten Füße seinem munteren Takte. Gar manche deutsche Männer, welche den Ruf rüstiger Fußwanderer erworben haben, mahnen durch ihr Beispiel zur Nachahmung: vor allen Goethe, der in seinen jungen Jahren vom Wandern ein so großer Freund war, daß er sich selbst den Namen Wanderer beilegte, und deffeu schönste Lieder die auf den frischen Wanderfahrten empfangenen Natureindrücke wiederspiegeln; ferner Arndt, welcher in trüber Zeit einen großen Theil Europas mit dem Stabe in der Hand durchzog; Schleiermacher, welcher mit sokratischer Herrschaft über sich selbst einen oft kränklichen Körper zu den Anstrengungen der Fußreise zu zwingen, an ihre Beschwerden zu gewöhnen und so seinem Geiste den erfrischenden Einfluß dieser natürgemäßesten Bewegung zu verschaffen wußte; endlich Seume, der rüstige „Spaziergänger nach Syrakus," welcher die Vorzüge des Wanderns vor dem Fahren etwa mit folgenden Worten kurz bezeichnet hat: „Wer geht, sieht von der Welt und vom Menschenleben mehr, als wer fährt. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. Der Fahrende kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll. Der Gang ist daS Ehrenvollste für den selbständigen Mann, und alles würde bester gehen, wenn man mehr ginge." Nach Baur.

b.

Sprache und Literatur.

1.

Poesie und Prosa.

Die erste und natürlichste menschliche Mittheilung war Poesie, unabhängig von aller Literatur und Urtypus derselben. Auf literarischem Wege bildete sich die Prosa, ein Kind künstlicherer Sitten, verständigen und praktischen Lebensforschungen sich anschließend. Von dem poetischen Zeitalter der Sprache selbst in ihrem frühesten Naturbau haben wir schon früher gesprochen und die beginnende Epoche der Prosa in dem genetischen Leben der Wörter angedeutet. Herder behauptete, die Sprache in ihrer ersten Schöpfung rein nach Natur­ lauten und Interjektionen ausgenommen, sei immer eine Art von Gesang gewesen; gewiß aber ist, daß auch die erste Aufzeichnung der Rede bei allen Völkern einen rhythmischen Charakter an sich trug, der sich bald an eigenthümliche Versgebilde fesselte. Das Metrum war zugleich eine natürliche Form für das Gedächtnis, und alles, waS zu dem ersten Bedarf schriftlicher Mittheilung gehörte, Gesetze, moralische Lebens- und Tagesregeln, selbst Rezepte und die ersten wissenschaftlichen Kenntnisse fügten sich wie von selbst in poetische Gewandung. Denn alle Schreibart war an sich schon poetisch, weil es keine

andern Formen der Aufzeichnung gab, geordnete Rede und Metrum aber dasselbe waren. Die Produktion jedoch überlieferte sich im eigentlichsten Sinne des Wortes durch den Gesang von Mund zu Mund, und in diesem Naturzustand ihrer Verbreitung war ihr der BerS ebenfalls nothwendiges Gliederwerk, ohne das sie nicht gedacht werden kann. Diesen Cha­ rakter poetischer Naturstufe zeigt noch immer alle Versdarstelllung zugleich darin auf, daß sie nur der allereinfachsten Satzbildung fähig ist. Die kunstvollere Komposition des Satzes gehört der Bildnerei der Prosa an.

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DaS Metrum ist gleichwohl aus dem Satz entstanden. Der Rhythmus des einfachsten Satzes, dem man den Wellenschlag seiner Hebungen und Senkungen ablauscht, krystallisirt sich durch den Takt, welcher ihn an bestimmte Bewegungen bindet, zum entschiedenen Vers­ bild. Die Prosa, welche die höchste Entwickelung des Satzes ist, schwebt darum ebenfalls in den Gesetzen des Rhythmus, aber ohne vom Metrum abhängig zu werden, indem sie vielmehr die metrischen Formen, in denen auch ihre Vielfachheit und Verschlungenheit sich individualisirt,, nach den wandelnden Bewegungen des Gedankens zu bestimmen und zu wechseln vermag. Die Metra der Poesie haben ihre Geschichte und können daher ver­ alten und aussterben; das metrische Wesen der Prosa ist etwas Geistiges, das den innern Gesetzen der Darstellung folgt und auf den eigenthümlichen Grundcharakter der Sprachen sich mit Freiheit gründet. Die modernen Sprachen sind für die Prosa günstiger organisirt als für die metrische Poesie. Daher die vorwaltende Neigung der neuern Literatur, die Poesie in die Prosa übergehen zu lasten, oder vielmehr der völlige Mangel einer ausgebildeten Verschiedenheit zwischen poetischem und prosaischem Sprachgebrauch, der sich in den alten Sprachen, sowohl grammatisch als literarisch, so scharf und fest sonderte. Eine Grundursache scheint mir darin zu liegen, daß die modernen Sprachen vorwallend accentuirte sind, während die Sprachen deS Alterthums die Quantität und damit den eigensten Grund und Boden besaßen, auf dem eine entschieden ausgeformte und gußfeste Metrik, die zugleich an diese starke Form einen besondern Sprachgebrauch fesselte, entstehen konnte. Dagegen gewährt die Accentuation der neuern Sprachen, die in der deutschen vornehmlich auf der Wurzel ruht, der metrischen Form keine tiefgreifende Stätte, dem Gedanken aber den allerweitesten und willkürlichsten Spielraum, ja jedes Übergewicht über die leicht verwischbare Form.

Die Betonung der Silbe, deren Messung gleichgültig wird, steht sofort unter dem Einfluß des Gedankens, der Accent ist der lautwerdende Verstand des Wortes. Graf Schlabrendorf, dessen genialer Betrachtungssinn überall hinreichte, hat in seinen Bemerkungen über die Sprache die innerliche Bedeutsamkeit der accentuirten Sprachen sehr treffend mit folgen­ den Worten hervorgehoben: „Der Accent, die unendliche Abwechselung der Töne, spricht das Tiefste deS Gemüths an; daö Silbengewicht wird dabei nicht überhört, aber zur Nebensache. Ist es somit nicht ein Vorzug der neuern Sprachen, daß in ihnen die Be­ tonung Hauptsache geworden ist? Die alten schmückten hauptsächlich die Vorhalle der Gemüthswelt; die neuern dringen in das Allerheiligste. Hat nicht also auch die Sprache der Menschen jetzt höhere Bedeutung und höhern Charakter angenommen, indem sie sich aus der Sinnenwelt in das Gebiet deö Geistigen erhob? Ich möchte fast sagen, das Christenthum wirkte auf daö Innere des Sprachwesens ein und schied auch hier Altes und Neues. Der durch das Silbengewicht gewonnene Rhythmus kann der extensive, der durch Betonung entspringende der intensive genannt werden. Jener bezeichnet die Dauer, dieser die Kraft. Alle neuern Völker haben vorzugsweise für den letztern Empfänglichkeit; selbst die Neugriechen haben auS ihrer alten quantitirenden Sprache eine neue accentuirende gemacht." Daß jedoch auch die deutsche Sprache ursprünglich das Gesetz der Quantität besessen und erst später eingebüßt habe, ist dnrch Jakob Grimm wahrscheinlich geworden. Das Streben der Sprachen zur Vergeistigung, das sich nach Verlöschung des sinnlichen Natur­ lebens der Wörter durch die Accentuation von neuem ein festes Gepräge schafft, muß die Metra der Quantität immer zu Grunde richten; es ist aber auch möglich, daß es einmal in eine Periode ausläuft, in der die Poesie auch das letzte Eigenthum ihrer Formen, worin sie der Prosa noch getrennt gegenüber steht, aufgeben muß, z. B. den Reim. Grimm bemerkt einmal, daß eS Zeiten gebe, wo die Kunst deS Reimes aussterbe, weil sich die sinnliche Zartheit der wurzelärmeren Sprache verhärte und neugebildete Zusammensetzungen eine von Natur steifere Bewegung hätten; aber bis jetzt ist noch keine moderne Sprache

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auf dieser Stufe völliger Verschmelzung von Poesie und Prosa angelangt, obwohl einige, vornehmlich die deutsche, ihr nahe stehen. Auf der einen Seite zeigt sich jetzt eine große Verarmung und Nacktheit der deutschen Metrik, eine Erschlaffung und Monotonie in For­ men, die kaum noch für metrisch gelten können, sondern, wie gerade bei den Tonangebern der neuesten Lyrik, dem Numerus der Prosa angenähert werden, während die poinürten, geistreichen und spekulativen Stichwörter der Zeitbildung, an denen sich die Sprache vor­ herrschend weiter entwickelt, immer weniger für den Reim laugen, welcher auch in diesen Gedichten fast immer nur auf die unbedeutendsten Endsilben sich wirft. Die antiken Metra, dann die südlichen Maße und zuletzt auch orientalische Weisen sind durch unsere Dichtersprache nach einander erklungen, alle haben ihr genützt und sogar den Sprachschatz bereichert, obwohl viel thörichtes und vergebliches Bemühen damit verbunden gewesen; aber jetzt weiß man nicht, ob unsere Metrik, nachdem ihr diese schönen fremden Kleider zerrissen und schlotterig geworden, mit einem völligen Bankerott endigen oder irgendwie neue Quellen, sich zu bewässern und zu befruchten, entdecken wird. Auf der andern Seite entfaltet sich dagegen eine höchste und ausgebildetste Form der Prosa, die sich keine Poesie des Inhalts mehr versagt, in ihrem gedankenfreien Lauf den kecksten Wendungen der Rede sich hingiebt und an rhythmischer Schönheit und Melodie der Verskunst fast nicht mehr uachsteht, sie vielmehr auf ihrer gegenwärtigen Verfallsstufe bald an tonvoller Gediegen­ heit des Numerus Übertressen wird. Die Schranke zwischen Poesie und Prosa ist im Gedanken durchbrochen; sie bezeichnen nicht mehr verschiedene Jdeenkreise, und wenn man auch dem Verse seinen poetischen Heiligenschein und die Berechtigung für einen gewissen Inhalt nie wird ableugnen können, so büßt dagegen die Prosa durch dessen Entbehrung keine innerlichen poetischen Vortheile der Darstellung mehr ein. Die dynamische Ver­ schiedenheit hat sich ausgeglichen. Aus Mundts Kunst der deutschen Prosa.

2. Homer, verglicheu mit andern Epikern. Vergleichen wir das hohe Werk der homerischen Gesänge mit andern, indischen und persischen oder nordischen und altdeutschen, Helden- und Göttergedichten, so sind es vor­ züglich zwei Eigenschaften, welche dasselbe vor jenen auszeichnen. Zuerst ist eS das harmo­ nische Ebenmaß in der heitern Lebensansicht und in der ganzen Darstellungswelse selbst und die in beiden vorwaltende künstlerische Klarheit des Verstandes, welche nebst jenem Ebenmaß der Harmonie wie den Homer, so auch den Charakter der griechischen Geistes­ bildung überhaupt vorzüglich bezeichnet und im Ganzen derselbell vorwaltet. Sodann ist es die in dem Maße wenigstens, nicht eben wesentlich in der Natur deS epischen Gedichts begründete, wohl aber in der besonderen Anlage des griechischen Geistes liegende reiche dramatische Entfaltung im Einzelnen der homerischen Gesänge und die damit zusammen­ hängende episodische Verflechtung des Ganzen. Ebendaher entspringt auch oder ist nahe verwandt damit jenes entschiedene Hervortreten des rhetorischen Bestandtheils, wozu sich die dem Griechen angeborene Hinneigung und Meisterkraft, zwar noch ganz natürlich und wie sie dem klaren Lebensspiegel freier Poesie durchaus angemessen ist, die sich daher auch von der falschen Rhetorik der spätern Dichtkunst so ganz unterscheidet, hier schon in bewundernswerther Fülle und Kunst der Rede und deS Geistes entfaltet; wie denn auch in manchen Ansichten und Gesinnungen durch die Darstellung des heroischen Lebens selbst der aufkeimende republikanische Sinn schon sehr sichtbar hindurchschimmerte. Durch eben diese Eigenschaften, nur in geringerem Maße der Verschiedenheit, bleibt Homer auch vor den andern Rhapsoden der jonischen Zeit und vor den übrigen epischen Dichtern der Griechen ausgezeichnet, statt derer aller uns Hesiodus zum Beispiel dienen kann, und steht allein und einzig unter den andern da, obwohl alle diese geringeren heroischen oder mythi• schen Dichter in unzähligen einzelnen Manieren der epischen Weise unter einander gleich

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Wissenschaftliche Prosa.

und dem Homer ganz ähnlich sind. Eine chaotische Sagenfülle von oft gigantischem Inhalt besingt Hestodus in jener Weise oder in jenem Stil, welchen die Alten als den mittel­ mäßigen bezeichnen, weil zwar kein Übermaß der verwilderten Kraft, aber auch keine be­ sondere Größe und Erhabenheit des Geistes darin sichtbar ist. Es fehlt der homerische Reichthum jener herrlichen dramatischen Entfaltung, obwohl sich, den Hesiodus als Sitten­ gemälde betrachtet, Züge genug darin vorfinden von dem sehr merkwürdig emporwachsen­ den republikanischen Geiste, der bald das heroische Leben mehr und mehr verdrängen und endlich ganz überwältigen sollte. Aus F. v. Schlegels Gesch. der alten u. neuen Liter.

3. Die zwei klassischen Perioden unserer Nationalliteratur. Unsere Literatur hat eine Erscheinung aufzuweisen, welche die Literatur keines Volkes der Erde mit ihr theilt: sie hat zweimal in dem Glanze einer heitern, frischen, kräftigen Jugend gestrahlt, mit einem Worte, sie hat nicht, wie die Literaturen der übrigen Nationen, nur eine, sie hat zwei klassische Perioden gehabt; zweimal ist es uns vergönnt gewesen, auf der Höhe der Zeiten zu stehen und in dem vollen Bewußtsein reicher Lebenskräfte unser gejammtes inneres und äußeres Leben in dichterischen Kunstwerken mit einfacher Treue und großartiger Wahrhaftigkeit abzuspiegeln; zweimal hat der edelste und reinste Lebensinhalt unserer Nation sich in gleich edle und reine, in naturgemäße und darum vollendete Formen gegossen, und die eine dieser Glanzperioden, welche an Fülle und Frische der Formen, an Gediegenheit und Reichthum des Stoffes der andern, von uns erlebten, nicht das geringste nachgiebt, ja dieselbe in mehrfacher Hinsicht weit überbietet, liegt eben in jenen scheinbar so weit entlegenen, so unbekannten und vermeintlich öden Regionen. Vielleicht dürste der gerechte Stolz auf diesen Nationalvorzug, welchen in seinem vollen Umfange nicht einmal die Griechen mit uns theilen, eine genaue Erwägung desselben, mit­ hin ein etwas eindringenderes Eingehen auf jenen ersten Glanzpunkt unserer literarischen Existenz nicht allein rechtfertigen, sondern sogar gebieterisch fordern. Wessen Selbstgefühl hätte es nicht verletzt, wenn uns, wie gar oft von Unkundigen geschehen, bei aller Aner­ kennung unserer Klopstock, Lessing, Schiller und Goethe, vorgehalten worden ist, daß wir doch nur durch die Voltaire, Corneille und Racine, durch die Shakspeare, die Tasso und Ariost das geworden seien, was wir wirklich sind, und daß wir, nachdem alle anderen Nationen längst ihr Blütenalter gefeiert, erst spät und gar langsam als die allerletzten, gleichsam als träge Nachzügler und nur angefeuert durch den Stachel der Treiber, uns auch auf die Höhe unseres literarischen Selbstbewußtseins erhoben hätten? Wenn es sich aber answeist, daß längst vor dem Blütenalter unserer westlichen und südlichen Nachbarn die Zeit unserer ersten und frischesten Jugend gelegen hat, daß längst, nicht allein vor Tasio und Ariost, sondern auch vor Dante und Petrarca wir unsern Walther von der Vogelweide, unsern Wolfram von Eschenbach, unsere Gudrun und unser Lied von der Nibelungen Not gehabt haben, Dichter und Dichtungen, mit denen sich die Fremden kaum und, was das Epos betrifft, gar nicht messen können, da nur die Griechen eine Ilias und nur wir ein Lied von den Nibelungen besitzen, daß wir also nicht die letzten, sondern die ersten oder vielmehr die ersten und die letzten sind, verjüngt wie die Adler und dem Phönix gleich aus der Asche zu neuem Leben erstehend: dann werden wir zwar nicht auf undeutsche Weise prahlen mit unsern Leistungen, wohl aber mit hoher und inniger und darum desto stillerer Freude unserer bevorzugten Stellung unter den Nationen der Erde und der reichen Gaben inne werden, die uns geworden sind, wie es denn überall der höchste Preis des Lebens ist, mit dem sichersten Selbstgefühle und dem edelsten Stolze die einfachste Beschei­ denheit und die stillste Demuth zu verbinden. Die Bedingungen, unter welchen die imponirende Erscheinung einer zweimaligen klassischen Blüte unserer Literatur möglich und wirklich wurde, liegen in der innersten

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Natur und dem eigenthümlichen welthistorischen Berufe unseres Volkes. Den Griechen war es vergönnt, sich rein aus sich selbst, aus der ursprünglichen Triebkraft ihres natio­ nalen Geistes allein zu entwickeln, ohne durch fremde Einflüsse bald gehindert, bald gefördert zu werden; überall sind sie sie selbst, ihrer eigenthümlichen Stoffe und der naturgemäßesten Formen, der festesten und sichersten Masse gewiß; versagt war ihnen die Fähig­ keit, sich fremden Elementen zu öffnen, sich ihnen liebend hinzugeben, um wiederum sie liebend zu durchdringen, die Fähigkeit, an einer fremden, stärkeren Volkspersönlichkeil, an einem höheren, kräftigeren Geiste sich aufzuerbauen, zu erfrischen, zu verjüngen und die erlöschende Flamme des eigenen Nationallebens durch neuen, von außen zugeführten Brenn­ stoff zu erneuerter Glut anzufachen. Ihr Leben war eine heitere, unbesorgte Jugend, ein lachender, in wunderbarer Blütenpracht glänzender Frühling, welchem nicht die heiße Arbeit des Sommers, der kühle Schauer des Herbstes, das eisige Erstarren des Winters, aber auch kein zweiter Frühling mit neuem Grün und frischen Blüten gefolgt ist. Als das Leben fremder Nationen auf das griechische eindrang, erlag dieses wehrlos und kampflos dem doch nur physisch überlegenen Gegner, und selbst das Christenthum hat die griechische Nationalität nicht zu- beleben vermocht oder, richtiger, sie nicht erhalten und neu beleben wollen. Ganz anders ist dies alles bei uns. Vom Anfänge an zum umfassendsten geistigen Weltverkehr, über ein Jahrtausend lang auch zur äußeren Weltherrschaft berufen, haben wir nie das Zusammenstößen mit fremden Nationalitäten, nie den Kampf mit fremden Geistern gefürchtet; ja, wie Kampf und Krieg, wie Streiten und Stürmen die beste Freude unserer Altväter war und sie keine höhere Lust kannten, als wenn Schild an Schild rannte und das scharfe Schwert in kräftigem Hiebe auf dem Eisenhelm erklang, so ist es unsere höchste Lust gewesen und ist es noch, die Geister, um mit Luthers Worten zu reden, auf einander platzen zu lassen. In diesem Kampfe haben wir bald gesiegt und den starken Fuß auf des Feindes Nacken gesetzt, bald haben wir Schrammen und Narben, die wir nie ver­ bergen, davon getragen; ja wir sind in die Gefangenschaft des Gegners gerathen und haben in schwächlicher Botmäßigkeit Sklavenketten geschleppt; bald haben wir wie Offerus, der heidnische Riese, uns der weltbezwingenden Macht und Herrlichkeit unsers Gegners freiwillig ergeben und sind Christusträger geworden, wie Offerus zum Christophorus wurde. Berufen zu Trägern des Evangeliums, hatte das deutsche Volk niemals in einseitiger Abgeschlossen­ heit, hochmüthiger Selbstbespiegelung und eigensinnigem Nationaldünkel sich gefallen können, vielmehr willig und offen sich hingegeben und jedem fremden Eindruck sich bloßgestellt, willig das Fremde anerkannt und ausgenommen zuweilen bis zum Selbstvergessen des eigenen Werthes; fähig, alle eigenen Ansprüche an das Objekt fahren zu lassen und sich ganz in dasselbe zu versenken, ist das deutsche Volk durch diese erste und größte Dichter­ fähigkeit das eigentliche Dichtervolk unter den Nationen der Erde. Jener Kampf, jenes gewaltige Ringen mit fremden Geistern, diese Fähigkeit, sich aufzuschließen und hinzugeben, Fremdes zu empfangen, dasselbe in fortwährendem, kräftigem Aneignungsprozesse dem eigenen Selbst zu assimiliren und dann wieder in freier Schöpfung als volles Eigenthum zu reproduziren, dies ist es, durch welches unsere Literatur gekenn­ zeichnet, durch welches ihre Geschichte bedingt und die Perioden derselben bestimmt werden. So oft einer jener Kämpfe siegreich ausgekämpft, ein solcher Aneignungsprozeß vollendet war, trat die neue Schöpfung in reicher Fülle und reinen Formen an den Tag, erreichte unser geistiges, zumal dichterisches Nationalleben seinen Höhepunkt und seine klassische Voll­ endung. Zweimal ist auf diese Weise unser Selbst von fremden Elementen durchdrungen worden, um wiederum sie innig zu durchdringen: das erste Mal von dem Geiste des Chri­ stenthums, dessen volle und ganze Aneignung die erste klassische Periode im 13. Jahr­ hundert schuf; das zweite Mal von dem Geiste des griechisch-römischen Alterthums und dem unsrer Nachbarvölker, am Ende des vorigen Jahrhunderts. Im Anfänge, als zuerst unser Volk in die Geschichte der geistigen Entwicklung des

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Menschengeschlechtes eintritt, sehen wir dasselbe in allen seinen Stämmen in heftiger Gährung begriffen. In wilder Wanderlust und roher Kampfesgier drängte Volk an Volk, Stamm an Stamm vorwärts nach dem Süden und dem Westen, also daß die Völkerbande sich zu lösen und unsere Bolksstämme in zügelloser Kriegeswuth sich selbst zu verzehren drohten; da wurde von dem Süden und dem Westen, wohin die ungezählten Schaaren drängten, mit mächtiger Stimme der Friede Gottes des Herrn tief in den Norden und Osten hinein und über die wogenden Völkerschaaren hinausgerufen: und es ward still in den Wäldern und auf den Haiden, und die Schaaren lauschten ehrerbietig dem Worte des GottesfriedenS; das Kreuz wurde aufgepflanzt an den Scheidewegen der Völkerstraßen, und die wandernden Heere standen und baueten Hütten und Burgen und Städte um die Kreuze. Der Gesang von den Göttern, von Wuotan, von Donar und Ziu verstummte, aber der Heldengesang, der Gesang von den alten Stammeshäuptern, von den Königen und Volksherzogen dauerte fort und vermischte sich nun mit den Stimmen der Gläubigen, welche Gott den Herrn lobten und den Gekreuzigten priesen. Die alte Wildheit wich christlicher Sitte und christlicher Milde, und nur die Tapferkeit und die Treue, die Frei­ gebigkeit und die Dankbarkeit, die Keuschheit und die Familienliebe, die ältesten und echte­ sten Züge des deutschen Charakters,-sie blieben nicht allein ungeschmälert und ungebrochen, sondern sie wuchsen an dem Stamm des Kreuzes, diesem „lebendigen Holze," wie der alte katholische Kirchengesang wenigstens in dieser Beziehung höchst treffend sagt, aus dem sie neue Nahrung sogen, nur kräftiger und herrlicher heran. Es war das Christenthum nichts, was dem Deutschen fremd und widerwärüg gewesen wäre; vielmehr bekam der deutsche Charakter durch das Christenthum nur die Vollendung seiner selbst; er fand sich in der Kirche Christi selbst, nur gehoben, verklärt und geheiligt, wieder; und wenn von einem Kampfe des deutschen Gemüthes und LebenS mit dem Christenthum bei der Ein­ führung desselben die Rede ist, so kann davon nur als von einem Kampfe der Liebe die Rede sein: die apostolische Darstellung von der Gemeinde als der Braut deS Herrn hat in der Gemeinde der Deutschen ihr vollstes und wahrhaftiges Gegenbild gefunden. Da­ her denn auch, als die Vermählung des deutschen Geistes mir dem christlichen Geiste voll­ zogen war, dieser Charakter der Liebe, der Zartheit, der Innigkeit, welcher die Poesien unserer ersten klassischen Periode in so hohem Grade auszeichnet, daß unsere nur allzuliebe­ leere Zeit eben um dieser Eigenschaft willen der Fähigkeit fast entbehrt, sich ganz einzutauchen in das Verständnis jener Dichtungen, die nur begriffen werden kennen von einem gleich­ gesinnten Herzen, von einem Herzen, welches zugleich ganz deutsch und ganz christlich ist. Unter wesentlich verschiedenen Bedingungen bereitete sich die zweite klassische Periode unserer Literatur seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts vor und trat dieselbe im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts ein; es war dies nicht, wie vorher, ein Kampf der Liebe, sondern ein Krieg auf Tod und Leben, in welchem früher, im sechzehnten und weit mehr im siebzehnten Jahrhundert, unser eigenstes deutsches Bewußtsein, unser National­ leben, unsere Eigenthümlichkeit und Selbständigkeit als Deutsche, später, im achtzehnten Jahrhundert, das christliche Bewußtsein und die Geltung und Würde der christlichen Kirche von allen Seiten angegriffen, bekämpft und zeitweise besiegt, ja sogar scheinbar zer­ stört und vernichtet wurde. Erst nach langem Ringen und heißem Kampfe gelang es uns, unser selbst wieder bewußt, der feindseligen Elemente Herr und der reichen Beute aus dem langen, gefahrbringenden und verwüstenden Kriege der Geister froh zu werden. Darum trägt unsere zweite klassische Periode etwas vorzugsweise Kriegsfertiges und Kampfgerüstetes an sich; die hingebende Liebe der ersten Zeit ist dahin, die Traulichkeit und Heimlichkeit der Minnesänger und den herzbewegenden Gesang unseres Epos von der Treue des Die­ ners gegen die Herren bis in den Tod suchen wir umsonst; die Kritik ist die stete Beglei­ terin, ja sie ist die Mutter und Ernährerin des größten Theiles unserer modernen klassischen Literatur; Wellverstand und Weltgewandtheit haben wir eingetauscht für die jugendliche.

Sprache und Literatur.

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oft rührende Befangenheit und Naivität jener älteren Zeiten; war ehedem der Blick beschränkt auf HauS und Hof und die dunkeln Wälder und grünen Bergeshalden, welche die friedliche Stätte der Heimat umkränzen, so schweift er jetzt sonnenhell und frei weit hinaus über die Grenzen des väterlichen GaueS, über die Marken des BaterlandeS in die entlegensten Regionen der Erde, um sich an Indiens und Chinas Wundern, an der wüsten öde des Pclarmeeres, wie an den glühenden Steppen Afrikas mit gleicher Lust Aus Dilmars Gesch. d. deutsch. Nation.'Ltter.

zu weiden.

4. Aus Lessings Hamburgischer Dramaturgie. a.

Die Schauspielkunst.

Wenn Shakspeare nicht ein ebenso großer Schauspieler in der Ausübung gewesen ist, als er ein dramatischer Dichter war, so hat er doch wenigstens ebenso gut gewußt, was zu der Kunst des einen, als was zu der Kunst des andern gehört. Ja vielleicht hatte er über die Kunst des erstem um so viel tiefer nachgedacht, weil er so viel weniger Genie dazu hatte. Wenigstens ist jedes Wort, das er dem Hamlet, wenn er die Komödianten abrichtet, in den Mund legt, eine goldene Regel für alle Schauspieler, denen an einem vernünftigen Beifall gelegen ist. „Ich bitte euch," läßt er ihn unter andern: zu den Komö­ dianten sagen, „sprecht die Rede so, wie ich sie euch vorsagte; die Zunge muß nur eben darüber hinlaufen. Aber wenn ihr mir sie so heraushalset, wie es manche von unsern Schauspielern thun, seht, so wäre mir es ebenso lieb gewesen, wenn der Stadtschreiber meine Verse gesagt hätte. Auch durchsägt mir mit eurer Hand nicht so sehr die Luft, sondern macht alles hübsch artig; denn mitten in dem Sturme, mitten, so zu reden, in dem Wirbelwinde der Leidenschaften müßt ihr noch einen Grad von Mäßigung beobachten, der ihnen das Glatte und Geschmeidige giebt." Man spricht so viel von dem Feuer des Schauspielers; man zerstreitet sich so sehr, ob ein Schauspieler zu viel Feuer haben könne. Wenn die, welche es behaupten, zum Beweise anführen, daß ein Schauspieler ja wohl am unrechten One heftig oder wenigstens heftiger sein könne, als es die Umstände erfordern: so haben die, welche es leugnen, Recht zu sagen, daß in solchem Falle der Schauspieler nicht zu viel Feuer, sondern zu wenig Verstand zeige. Überhaupt kommt es aber wohl darauf an, was wir unter dem Worte Feuer verstehen. Wenn Geschrei und Kontorsionen Feuer sind, so ist eS wohl unstreitig, daß der Akteur darin zu weit gehen kann. Besteht aber das Feuer in der Geschwindig­ keit und Lebhaftigkeit, mit welcher alle Stücke, die den Akteur ausmachen, das Ihrige dazu beitragen, um seinem Spiele den Schein der Wahrheit zu geben: so müssen wir diesen Schein der Wahrheit nicht bis zur äußersten Illusion getrieben zu sehen wünschen, wenn es möglich wäre, daß der Schauspieler allzuviel Feuer in diesem Verstände anwen­ den könnte. Es kann also auch nicht dieses Feuer fein, dessen Mäßigung Shakspeare selbst in dem Strome, in dem Sturme, in dem Wirbelwinde der Leidenschaften verlangt: er muß blos jene Heftigkeit der Stimme und der Bewegung meinen; und der Grund ist leicht zu finden, warum auch da, wo der Dichter nicht die geringste Mäßigung beobachtet hat, dennoch der Schauspieler sich in beiden Stücken mäßigen muffe. Es giebt wenig Stimmen, die in ihrer äußersten Anstrengung nicht widerwärtig würden: und allzuschnelle, allzustürmische Bewegungen werden selten edel sein. Gleichwohl sollen weder unsere Augen, noch unsere Ohren beleidigt werden; und nur alsdann, wenn man bei Äußerungen der

heftigen Leidenschaften alles vermeidet, was diesen oder jenen unangenehm sein könnte, haben sie das Glatte und Geschmeidige, welches ein Hamlet auch noch da von ihnen ver­ langt, wenn sie den höchsten Eindruck machen und ihm das Genüssen verstockter Frevler aus dem Schlafe schrecken sollen.

Wissenschaftliche Prosa.

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Die Kunst des Schauspielers steht hier zwischen den bildenden Künsten und der Poesie mitten inne. Als sichtbare Malerei muß zwar die Schönheit ihr höchstes Gesetz sein; doch als transitorische Malerei braucht sie ihren Stellungen jene Ruhe nicht immer zu geben, welche die alten Kunstwerke so imponirend macht. Sie darf sich, sie muß sich das Wilde eines Tempesta, das Freche eines Bernini öfters erlauben; es hat bei ihr alles das Aus­ drückende, welches ihm eigenthümlich ist, ohne das Beleidigende zu haben, das es in den bildenden Künsten durch den permanenten Stand erhält. Nur muß sie nicht allzulange darin verweilen; nur muß sie es durch die vorhergehenden Bewegungen allmählich vorbereiten und durch die darauffolgenden wiederum in den allgemeinen Ton des Wohlanständigen auflösen; nur muß sie ihm nie alle die Stärke geben, zu der sie der Dichter in seiner Be­ arbeitung treiben kann; denn sie ist zwar eine stumme Poesie, aber die sich unmittelbar unseren Augen verständlich machen will; und jeder Sinn will geschmeichelt sein, wenn er die Begriffe, die man ihm in die Seele zu bringen giebt, unverfälscht überliefern soll.

b.

Bon den dramatischen Charakteren.

Weswegen wählt der tragische Dichter wahre Namen? Nimmt er seine Charaktere aus diesen Namen, oder nimmt er diese Namen, weil Charaktere, welche ihnen die Ge­ schichte beilegt, mit den Charakteren, die er in Handlung zu zeigen sich vorgenommen, mehr oder weniger Gleichheit haben? Ich rede nicht von der Art, wie die meisten Trauerspiele vielleicht entstanden sind, sondern wie sie eigentlich entstehen sollten. Oder, mich mit der gewöhnlichen Praxis der Dichter übereinstimmender auszudrücken, sind es die bloßen Fakta, die Umstände der Zeit und des Orts, oder sind es die Charaktere der Personen, durch welche die Fakta wirklich geworden, warum der Dichter lieber diese als eine andere Be­ gebenheit wählt? Wenn es die Charaktere sind, so ist die Frage gleich entschieden, wie weit der Dichter von der historischen Wahrheit abgehen könne: in allem, was die Charaktere nicht betrifft, so weit er will. Nur die Charaktere sind ihm heilig; diese zu verstärken, diese in ihrem besten Lichte zu zeigen, ist alles, was er von dem Seinigen dabei hinzuthun darf; die geringste wesentliche Veränderung würde die Ursache aufheben, warum sie diese und nicht andere Namen führen; und nichts ist anstößiger, als wovon wir uns keine Ursache angeben können. Ich habe mich vielmehr schon dahin geäußert, daß die Charaktere dem Dichter weit heiliger sein müssen als die Fakta. Einmal weil, wenn jene genau beobachtet werden, diese, insofern sie eine Folge von jenen sind, von selbst nicht viel anders ausfallen können, da hingegen einerlei Faktum sich aus ganz verschiedenen Charakteren herletten läßt; zweitens weil das Lehrreiche nicht in bloßen Faktis, sondern in der Erkenntnis besteht, daß diese Charaktere unter diesen Umständen solche Fakta hervorzubringen pflegen und hervorbringen müssen. Gleichwohl hat es Marmontel gerade umgekehrt. Daß es einmal in dem Seraglio eine europäische Sklavin gegeben, die sich zur gesetzmäßigen Gemahlin des Kaisers zu machen gewußt: das ist das Faktum. Die Charaktere dieser Sklavin und dieses Kaisers bestimmen die Art und Weise, wie dieses Faktum wirklich geworden, und da es durch mehr als eine Art von Charakteren wirklich werden können, so steht es freilich bei dem Dichter, als Dichter, welche von diesen Arten er wählen will: ob die, welche die Historie bestätigt, oder eine andere, so wie der moralischen Absicht, die er mit seiner Er> zählung verbindet, das Eine oder das Andere gemäßer ist. Nur sollte er sich, im Fall daß er andere Charaktere als die historischen oder wohl gar diesen völlig entgegengesetzte wählt, auch der historischen Namen enthalten und lieber ganz unbekannten Personen das bekannte Faktum beilegen, als bekannten Personen nicht zukommende Charaktere andichten. Jenes vermehrt unsere Kenntnis oder scheint sie wenigstens zu vermehren und ist dadurch ange­ nehm; dieses widerspricht der Kenntnis, di^ wir bereits haben, und ist dadurch unange­ nehm. Die Fakta betrachten wir als etwas Zufälliges, als etwas, das mehreren Personen gemein sein kann, die Charaktere hingegen als etwas Wesentliches und Eigenthümliches.

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Mit jenen lassen wir den Dichter umspringen, wie er will, so lange er sie nur nicht mit den Charakteren in Widerspruch setzt; diese hingegen darf er wohl ins Licht stellen, aber nicht verändern; die geringste Veränderung scheint uns die Individualität aufzuheben und andere Personen unterzuschieben, betrügerische Personen, die fremde Namen usurpiren und sich für etwas auSgeben, was sie nicht sind. Aber dennoch dünkt es mich immer ein weit verzeihlicherer Fehler, seinen Personen nicht die Charaktere zu geben, die ihnen die Geschichte giebt, als in diesen freiwillig ge­ wählten Charakteren selbst, es sei von Seiten der inneren Wahrscheinlichkeit oder von Seiten des Unterrichtenden, zu verstoßen. Denn jener Fehler kann vollkommen mit dem Genie bestehen, nicht aber dieser. Dem Genie ist eS vergönnt, lausend Dinge nicht zu wissen, die jeder Schulknabe weiß: nicht der erworbene Vorrath seines Gedächtnisses, sondern da-, was es aus sich selbst, aus seinem eigenen Gefühl hervorzubringen vermag, macht seinen Reich­ thum aus; was es gehört oder gelesen, hat eS entweder wieder vergessen oder mag es weiter nicht wissen, als insofern es in seinen Kram taugt; es verstößt also bald auS Sicher­ heit, bald aus Stolz, bald mit, bald ohne Vorsatz, so oft so gröblich, daß wir anderen guten Leute uns nicht genug darüber verwundern können; wir stehen und staunen und schlagen die Hände zusammen und rufen: „Aber, wie hat ein so großer Mann nicht wissen können! Wie ist es möglich, daß ihm nicht beifiel! Überlegte er denn nicht?"

O laßt uns ja schweigen! Wir glauben, ihn zu demüthigen, und wir machen uns in seinen Augen lächerlich; alles, was wir besser wissen als er, beweiset blos, daß wir fleißiger zur Schule gegangen als er; und das hatten wir leider nöthig, wenn wir nicht voll­ kommene Dummköpfe bleiben wollten. Denn nach dem angedeuteten Begriffe, den wir uns von dem Genie zu machen haben, sind wir berechtigt, in allen Charakteren, die der Dichter ausbildet oder sich schafft, Über­ einstimmung und Absicht zu verlangen, wenn er von uns verlangt, in dem Lichte eines Genies betrachtet zu werden; Übereinstimmung: nichts muß sich in den Charakteren wider­

sprechen; sie müssen immer einförmig, immer sich selbst ähnlich bleiben; sie dürfen sich jetzt stärker, jetzt schwächer äußern, nachdem die Umstände auf sie wirken; aber keine von diesen Umständen müssen mächtig genug sein können, sie von schwarz auf weiß zu ändern. Ein Türke und Despot muß, auch wenn er verliebt, noch Türke und Despot sein.

5. Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwickelung. Schillers Dichtergenie kündigte' sich gleich in seinen ersten Arbeiten an; ungeachtet aller Mängel der Form, ungeachtet vieler Dinge, die dem gereiften Künstler sogar roh erscheinen mußten, zeugten die Räuber und FieSko von einer entschiednen großen Natur­ kraft. Es verrieth sich nachher durch die bei ganz verschiedenartigen philosophischen und historischen Beschäftigungen immer durchbrechende, auch in diesen Briefen so oft ange­ deutete Sehnsucht nach der Dichtung wie nach der eigenthümlichen Heimat seines Geistes; es offenbarte sich endlich in männlicher Kraft und geläuterter Reinheit in den Stücken, die gewiß noch lange der Stolz und Ruhm der deutschen Bühne bleiben werden. Aber dies Dichtergenie war auf das engste an das Denken in allen seinen Tiefen und Höhen geknüpft, eS tritt ganz eigentlich auf dem Grunde einer Jntellektualität hervor, die alles ergründend spalten und alles verknüpfend zu einem Ganzen vereinen möchte. Darin liegt Schillerbesondere Eigenthümlichkeit. Er forderte von der Dichtung einen tieferen Antheil deS Ge­ dankens und unterwarf sie strenger einer geistigen Einheit; letzteres auf zwiefache Weise, indem er sie an eine festere Kunstform band, und indem er jede Dichtung so behandelte, daß ihr Stoff unwillkürlich und von selbst seine Individualität zum Ganzen einer Idee erweiterte. Auf diesen Eigenthümlichkeiten beruhen die Vorzüge, welche Schiller charak­ teristisch bezeichnen. Aus ihnen entsprang es, daß er, das Größeste und Höchste hervorDielitz u. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur.

2. Äufl.

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zubringen, dessen er fähig war, erst eines Zeitraums bedurfte, in welchem sich seine ganze JntellekLualitäL, an die sein Dichtergenie unauflöslich geknüpft war, zu der von ihm gefor­ derten Klarheit und Bestimmtheit durcharbeitete. Diese Eigenthümlichkeiten endlich erklären die tadelnden Urtheile derer, die in Schillers Werken, ihm die Freiwilligkeit der Gabe der Musen absprechend, weniger die leichte, glückliche Geburt des Genies, als die sich ihrer selbst bewußte Arbeit des Geistes zu erkennen meinen; worin allerdings das Wahre liegt, daß nur die intellektuelle Größe Schillers die Veranlassung zu einem solchen Tadel dar­ bieten konnte. Ich würde es für überflüssig halten, zur Rechtfertigung dieser Behauptungen in eine Zergliederung der Schillerschen Werke einzugehen, die jedem zu gegenwärtig sind, um nicht, welches auch seine Meinung sein möchte, die Anwendung selbst zu machen. Dagegen ist es vielleicht dem Leser des Briefwechsels angenehm, wenn ich mit wenigem zu entwickeln ver­ suche, wie diese meine Ansicht von Schillers Eigenthümlichkeit zugleich und besonders durch meinen Umgang mit ihm, durch Erinnerungen aus seinen Gesprächen, durch die Ver­ gleichung seiner Arbeiten in ihrer Zeitfolge und den Nachforschungen über den Gang seines Geistes entstand. Was jedem Beobachter an Schiller am meisten als charakteristisch bezeichnend auffallen mußte, war, daß in einem höheren und prägnanteren Sinn, als vielleicht je bei einem Andern, der Gedanke das Element seines Lebens war. Anhaltend selbstthätige Beschäftigung„des Geistes verließ ihn fast nie und wich nur den heftigeren Anfällen seines körper­ lichen Übels. Sie schien ihm Erholung, nicht Anstrengung. Dies zeigte sich am meisten

im Gespräch, für das Schiller ganz eigentlich geboren schien. Er suchte nie nach einem bedeutenden Stoff der Unterredung, er überließ es mehr dem Zufall, den Gegenstand herbeizuführen; aber von jedem aus leitete er das Gespräch zu einem allgemeinen Gesichts­ punkt, und man sah sich nach wenigen Zwischenreden in den Mittelpunkt einer den Geist anregenden Diskussion versetzt. Er behandelte den Gedanken immer als ein gemeinschaftlich zu gewinnendes Resultat, schien immer des Mitredenden zu bedürfen, wenn dieser auch sich bewußt blieb, die Idee allein von ihm zu empfangen, und ließ ihn nie müßig werden. Hierin unterschied sich sein Gespräch am meisten von dem Herderschen. Nie vielleicht hat ein Mann schöner gesprochen als Herder, wenn man, was bei Berührung irgend einer leicht bei ihm anklingenden Saite nicht schwer war, ihn in aufgelegter Stimmung antraf. Alle seltenen Eigenschaften dieses mit Recht bewunderten Mannes schienen, so geeignet waren sie für dasselbe, im Gespräch ihre Kraft zu verdoppeln. Der Gedanke verband sich mit dem Ausdruck, mit der Anmuth und Würde, die, da sie in Wahrheit allein der Person angehören, nur vom Gegenstände herzukommen scheinen. So floß die Rede ununterbrochen hin in der Klarheit, die doch noch dem eignen Erahnen übrig läßt, und in dem Helldunkel, das doch nicht hindert, den Gedanken bestimmt zu erkennen. Aber wenn die Materie erschöpft war, so ging man zu einer neuen über. Man förderte nichts durch Einwendungen, man hätte eher gehindert. Man hatte gehört, man konnte nun selbst reden, aber man ver­ mißte die Wechselthätigkeit des Gesprächs. Schiller sprach nicht eigentlich schön, aber sein Geist strebte immer in Schärfe und Bestimmtheit einem neuen geistigen Gewinne zu; er beherrschte dies Streben und schwebte in vollkommener Freiheit über seinem Gegenstände. Daher benutzte er in leichter Heiterkeit jede sich darbietende Nebenbeziehung, und daher war sein Gespräch so reich an den Worten, die das Gepräge glücklicher Geburten des Augenblicks an sich tragen. Die Freiheit that aber dem Gange der Untersuchung keinen Abbruch. Schiller hielt immer den Faden fest, der zu ihrem Endpunkt führen mußte, und wenn die Unterredung nicht durch einen Zufall gestört wurde, so brach er nicht leicht vor Erreichung des Zieles ab. So wie Schiller im Gespräche immer dem Gebiete des Denkens neuen Boden zu gewinnen suchte, so war überhaupt seine geistige Beschäftigung immer eine von angestrengter

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Selbstthäügkeit. Auch seine Briefe zeigen dies deutlich. Er kannte sogar keine andere. Bloßer Lektüre überließ er sich nur spät abends und in seinen leider so häufig schlaflosen Nächten. Seinen Tag nahmen seine Arbeiten ein oder bestimmte Studien für dieselben, wo also der Geist durch die Arbeit und die Forschung zugleich in Spannung gehalten wird. Das bloße, von keinem andern unmittelbaren Zweck als dem des Wissens geleitete Stndiren, das für den damit Vertrauten einen so unendlichen Reiz hat, daß man sich ver­ wahren muß, dadurch nicht zu sehr von bestimmterer Thätigkeit abgehalten zu werden, kannte er nicht und achtete es nicht genug. Das Wissen erschien ihm zu stoffartig und die Kräfte des Geistes zu edel, um in dem Stoffe mehr zu sehen als ein Material zur Be­ arbeitung. Nur weil er die allerdings höhere Anstrengung des. Geistes, welche selbstthätig aus ihren eigenen Tiefen schöpft, mehr schätzte, konnte er sich weniger mit der geringeren befreunden. Es ist aber auch merkwürdig, aus welchem kleinen Vorrath des Stoffes, wie entblößt von den Mitteln, welche andern ihn zuführen, Schiller eine sehr vielseitige Welt­ ansicht gewann, die, wo man sie gewahr wurde, durch genialische Wahrheit überraschte; denn man kann die nicht anders nennen, die durchaus auf keinem äußerlichen Wege ent­ standen war. Selbst von Deutschland hatte er nur einen Theil gesehen, nie die Schweiz, von der sein Tell doch -so lebendige Schilderungen enthält. Wer einmal am Rheinfall steht, wird sich beim Anblick unwillkürlich an die schöne Strophe des Tauchers erinnern, welche dies verwirrende Wassergewühl malt, das den Blick gleichsam fesselnd verschlingt; doch lag auch dieser keine eigne Ansicht zum Grunde. Aber was Schiller durch eigne Er­ fahrung gewann, das ergriff er mit einem Blick, der ihm hernach auch das anschaulich machte, was ihm blos fremde Schilderung zuführte. Dabei versäumte er nie, zu jeder Arbeit Studien durch Lektüre zu machen; auch was er in dieser Art Dienliches zufällig fand, prägte sich seinem Gedächtnis fest ein, und seine rastlos angestrengte Phantasie, die in beständiger Lebendigkeit bald diesen, bald jenen Theil des irgend je gesammelten Stosses bearbeitete, ergänzte das Mangelhafte einer so mittelbaren Auffassung. Auf ganz ähnliche Weise eignete er sich den Geist der griechischen Dichtung an, ohne sie je anders als ans Übersetzungen zu kennen. Er scheute dabei keine Mühe; er zog die Übersetzungen vor, die darauf Verzicht leisten, für sich zu gelten; am liebsten waren ihm

die wörtlichen lateinischen Paraphrasen. So übersetzte er die Scenen und die Hochzeit der Thetis auS dem Euripides. Ich gestehe, daß ich diesen Chor immer mit großem Vergnügen wieder lese. Es ist nichi blos eine Übertragung in eine andere Sprache, sondern in eine andere Gattung von Dichtung. Der Schwung, in den die Phantasie von den ersten Versen an versetzt wird, ist ein verschiedener, also gerade das, waS die rein poetische Wirkung aus­ macht. Denn diese kann man nur in die allgemeine Stimmung der Phantasie und des Gefühles setzen, die der Dichter, unabhängig von dem Ideengehalte, blos durch den seinen Werken beigegebenen Hauch seiner Begeisterung im Leser hervorruft. Der antike Geist blickt wie ein Schatten durch das ihm geliehene Gewand. Aber in jeder Strophe sind einige Züge des Originals so bedeutsam herausgehoben und so rein hingestellt, daß man dennoch vom Anfang bis zum Ende beim Antiken festgehalten wird. Ich meinte indeß nicht vor­ zugsweise diese Übersetzung, wenn ich von Schillers Eingehen in den griechischen Dichter­ geist sprach, sondern zwei seiner späteren Stücke. Auch hierin hatte Schiller bedeutende Fortschritte gemacht. Die Kraniche des Jbykus und das Siegesfest tragen die Farben deS Alterthums so rein und treu an sich, als man es nur von irgend einem modernen Dichter erwarten kann, und zwar auf die schönste und geistvollste Weise. Der Dichter hat den Sinn des Alterthums in sich ausgenommen, er bewegt sich darin mit Freiheit, und so ent­ springt eine neue, in allen ihren Theilen nur eine athmende Dichtung. Beide Stücke stehen aber wieder in einem merkwürdigen Gegensatz gegen einander. Die Kraniche des JbykuS erlaubten eine ganz epische Ausführung; was den Stoff dem Dichter innerlich werth machte, war die daraus entspringende Idee der Gewalt künstlerischer Darstellung über die

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menschliche Brust. Diese Macht der Poesie, einer unsichtbaren, blos durch den Geist ge­ schaffnen, in der Wirklichkeit verfliegenden Kraft, gehörte wesentlich in den Jdeenkreis, der Schiller lebendig beschäftigte. Schon acht Jahre, ehe er sich zur Ballade in ihm gestaltete, schwebte ihm dieser Stoff vor, wie deutlich aus den Künstlern aus den Versen bervorgeht: Bom Eumenidenchor geschrecket, Zieht sich der Mord, auch nie entdecket, Das ^oos des Todes aus dem ^ied.

Diese Idee erlaubte aber auch eine vollkommen antike Ausführung; ras Alterthum besaß alles, um sie in ihrer ganzen Reinheit und Stärke hervortreten zu lassen. Daher ist alles in der ganzen Erzählung unmittelbar aus ihm entnommen, besonders das Erscheinen und der Gesang der Eumeniden. Ter Äschyleische bekannte Eher ist so kunstvoll in die moderne Dichtungsform, in Reim und Silbeumaß verwebt, daß nichts von seiner stillen Größe aufgegeben scheint. Tas Siegesfest ist lyrischer und betrachtender Natur. Hier konnte und mußte der Dichter aus der Fülle seines Busens hinzufügen, was nicht im Jdeenund Gefühlskreise des Alterthums lag. Aber im Übrigen ist alles im Sinne der homerischen

Dichtung ebenso rein als in dem andern Gedicht. Das Ganze ist nur wie in einer höheren, mehr abgesondert gehaltenen Geistigkeit ausgeprägt, als dem alten Sänger eigen ist, und erhält gerade dadurch seine größesten Schönheiten. An einzelnen, aus den Alten entnommenen Zügen, in die aber oft eine Höhere Be­ deutung gelegt ist, sind auch frühere Gedichte Schillers reich. Ich erwähne hier nur die Schilderung des Todes aus den Künstlern: „den sanften Bogen der Nothwendigkeit/' der so schön an die cfyarä ßtß.soc (die sanften Geschosse, bei Homer erinnert, wo aber die Übertragung des Beiworts vom Geschoß auf den Bogen selbst dem Gedanken einen zarteren und tieferen Sinn giebt. Die Zuversicht in das Vermögen der menschlichen Geisteskraft, gesteigert zu einem dichterischen Bilde, ist in den „Kolumbus" überschriebenen Distichen ausgedrückt, die zu dem Eigenthümlichsten gehören, was Schiller gedichtet hat. Dieser Glaube an die dem Menschen unsichtbar inwohnende Kraft, die erhabene und so tief wahre Ansicht, daß es eine innere geheime Übereinstimmung geben muß zwischen ihr und der das ganze Weltall ordnenden und regierenden, da alle Wahrheit nur Abglanz der ewigen, ursprünglichen sein kann, war ein charakteristischer Zug in Schillers Jdeensystem. Ihm entsprach auch die Beharrlichkeit, mit der er jeder intellektuellen Aufgabe so lange nachging, bis sie be­ friedigend gelöst war. Schon in den Briefen Raphaels an Julius in der Thalia in dem kühnen, aber schönen Ausdruck: „als Kolumbus die bedenkliche Wette mit einem unbefah­ renen Meer einging," findet sich der gleiche Gedanke an dasselbe Bild geknüpft. Dem Inhalte und der Form nach waren Schillers philosophische Ideen ein getreuer Abdruck seiner ganzen geistigen Wirksamkeit überhaupt. Beide bewegten sich immer im nämlichen Gleise und strebten dem gleichen Ziele zu, allein auf eine Weise, daß die leben­ digere Aneignung immer reicheren Stoffs und die Kraft des ihn beherrschenden Gedankens sich unaufhörlich zu wechselseitiger Steigerung bestimmten. Der Endpunkt, an den er alles knüpfte, war die Totalität in der menschlichen Natur durch das Zusammeustimmen ihrer geschiedenen Kräfte in ihrer absoluten Freiheit. Beide dem Ich, das nur einsund ein nntheilbares sein kann, angehörend, aber die eine Mannigfaltigkeit und Stoff, die andre Einheit und Form suchend, sollten sie durch ihre freiwillige Harmonie schon hier auf einen über alle Endlichkeit hinausliegenden Ursprung hindeuten. Die Vernunft, unbedingt herr­ schend in der Erkenntnis und Willensbestimmung, sollte die Anschauung und Empfindung mit'schüttender Achtung behandeln und nirgends in ihr Gebiet übergreifen; dagegen sollten Briese Zich aus ihrem eigenthümlichen Wesen und auf ihrer selbstgewählten Bahn zu einer Gestalt emporbilden, in welcher jene bei aller Verschiedenheit des Prinzips sich der Form nach wiedersände. Diese, nicht auf entdeckbaren Wegen entstehende, sondern wie durch

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plötzliches Wunder überraschende Übereinstimmung zu vermitteln, den in sich unabweisbaren Widerspruch beider Naturen durch einen in ihrer Wechselbeziehung auf einander gegründeten Schein aufzuheben und dem Menschen dadurch in der Erscheinung ein Bild desjenigen zu geben, was außer aller Erscheinung liegt, vermag allein die Richtung in ihm, welche wir die ästhetische nennen; denn sie behandelt den Stoff mit einer auf dem Gebiete der Sinn­ lichkeit entsprungenen, nicht von der Idee erborgten und dennoch als Freiheit erscheinenden Selbstthätigkeil. Aus W. v. -umvoldts Dorerinnerung zu seinem Briefwechsel mit Schiller.

6. Wallensteins Lager von Schiller. Über Wallensteins Lager schreibt der Verfaffer im Briefwechsel mit Goethe, das ganze Verdienst dieser Dichtung könne blos Lebhaftigkeit sein. Aber gerade, weil sie nur dieses Verdienst haben sollte, ist sie so vortrefflich geworden. Der Dichter wollte einmal mit seinem Werke nichts anderes als das Werk selbst; darum erreichte er in dieser Gattung das Höchste. Das Stück ist an keinen höhern Zweck, an kein sonstiges Interesse seines Urhebers gebunden; so weht uns denn aus ihm zur rechten Erquickung der freie Geist der Poesie an. An einer andern Stelle jenes Briefwechsels sagt Schiller von ShakSpeare, er habe in seinem Julius Cäsar das gemeine Volk mit einer ungemeinen Großheit behandelt; der Stoss habe ihn bei der Darstellung des Volkscharakters gezwungen, mehr ein poetisches Abstraktum vor Augen zu haben; mit einem kühnen Griffe nehme Shakspeare aus der bedeutungsvollen Menge und Masse ein paar Figuren oder vielmehr ein paar Stimmen heraus und lasse sie für das ganze Volk gelten, und das gellen sie wirklich, so glücklich habe er sie gewählt. Man kann dasselbe mit vollem Rechte von den Figuren in Wallensteins Lager behaupten; ja der Dichter ist offenbar in der Wahl und Zeichnung seiner Personen bewußt oder unbewußt von dieser Bemerkung über den englischen Dramatiker ausgegangen. Der Kroate, welcher sich in seiner Dummheit übertölpeln läßt und „ daö Sprüchel des Pfässleins" gläubig anhört, repräsentirt den niedrigsten Haufen des HeereS, der wie das blöde Vieh zur Schlachtbank geführt wird. Von einem solchen Volke ist dann Jsolani, der roheste und leichtsinnigste aller Generale Wallensteins, der würdige Anführer. Der erste Jager, „der lange Peter ans Itzehoe", und sein Kamerad, „des Friedländers wilde Jagd", vertreten die große Masse der Abenteurer und Glücksritter im Wallensteinschen Heere und vergegenwärtigen also im allgemeinen das wilde, wüste, unstete Kriegshandwerk der damaligen Zeit. Daher ist dieser Stimmführer des Allgemeinen auch der Hauptsänger im Reiterliede am Ende des Stücks. Der Arkebusier, welcher dem betrügerischen Bauern das Wort spricht, weil er doch „auch ein Mensch sei, so zu sagen," der den Gehorsam gegen den Kaiser schon gefährdet glaubt und die Marketenderin nach seiner Zeche fragt, als die Anderen auch nur eine gemeinschaftliche Abrede wegen einer Bittschrift treffen wollten, und von dem der Jäger sagt: „Das denkt wie ein Seifensieder," dieser Arkebusier.gehört ja dem Tiefenbachschen Regiments an, von welchem Oktavio bezeugt: „Dies Regiment ist treu," und er spielt ganz die Rolle seines schwerfälligen und einfältigen, aber ehrlichen „teutschen Herrn". Gerade so, wie von diesem Deutschen der erste Kürassier spricht: „Schad' um die Leut'! Sie sind sonst wackre Brüder," urtheilt Jsolani (Wallensteins Tod, Ml 2, Sc.5) von ihren Anführern: „Es sind nicht eben schlechte Männer." Den Gegen­ satz zu ihm bildet der Trompeter und ist durch seine unbedingte Hingabe an Wallenstein dir Stimme der Terzkyschen Regimenter: „Aber wir halten ihn aufrecht, wir." Sein Landsmann, der breitstilige Pedant, welcher den feinen Griff und den rechten Ton „von deS Feldherrn Person gelernt hat," der „urkundlich" dessen Worte herzusagen weiß, der gravitätisch einen Rekruten einweiht: „Sieht Er! das hat Er wohl erwogen! Einen neuen Menschen hat Er angezogen." Dieses „Befehlsbuch", welches weiter als andere sieht, der

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Wissenschaftliche Prosa.

unvergleichliche Wachtmeister, ist offenbar eine Karikatur von Wallenstein selbst. Er ist eine so individuell gezeichnete Gestalt, wie sich nicht manche mehr findet in sämmtlichen Werken Schillers. Er ahmt seinen General nach, wie Don Quixote die alte Nitterzeit. Dann charakterisirt der Dragoner durch einen einzigen Vers: „ Der Irländer folgt des Glückes Stern" nicht allein sich selbst, sondern auch die Unzuverlässigkeit des Buttlerschen Regiments. Der erste Kürassier endlich ist aus dem Pappenheimschen Regimente, welches der jüngere Piccolomini befehligt, und hiermit ist alles gesagt. Er stellt die noble, edle Seite des damaligen Kriegslebens dar. Der Geist des Max spricht aus ihm. Ungeachtet er seine Eltern nicht nennen kann, ist er ein Adliger unter den Gemeinen. Gleich sein erstes Auftreten mit den Worten: „Friede! Was giebt's nut dem Bauern da?" und wie er den Scharfschützen schilt, daß er sich so wegwerfen und blamiren konnte, mit einem Bauern sein Glück zu probiren, kündigt sein geistiges Übergewicht und stolzes Ehrgefühl an, und diesen Charakter führt er auf eine herrliche Weise durch. So sind die Figuren des Stücks die Stimmführer ihrer Regimenter und die Vorbilder ihrer Führer. Aber auch ihre Nationen charakterisiren einige Soldaten. Der zweite Scharf­ schütze sagt: „Der Tyroler dient nur dem Landesherrn." Der ebenfalls treue zweite Arkebusier ist auö der Schweiz, dem Vaterlaude der Treue; der leichtsinnige erste Scharf­ schütze, der den Kroaten prellt und dagegen sich im Spiele vom Bauern betrügen läßt, ist ein Lothringer: „Der Lothringer geht mit der großen Flut, wo der leichte Sinn ist und lustiger Muth." Wie verschieden aber die Soldaten sich auch charakterisiren, so vereinigen sich doch alle in der vollsten Anhänglichkeit an Wallenstein und in dem förmlichen Beschlusse, ihn nicht zu verlassen, welcher nur in dem stumpfen Blödsinne der Kroaten und der ängstlichen Treue der ehrlichen Deutschen eine Grenze findet. Dieser Beschluß, eine Bittschrift zum Unter­ zeichnen in Umlauf zu bringen und einzureichen, daß die Regimenter nicht getrennt werden, ist auch die Handlung, in welcher sich die bunten Gespräche, Vorfälle, Scenen und die mancherlei Personen des Stücks vereinigen. Eine solche Willensäußerung kann in der Sphäre, in welcher sich das Gemälde hält, füglich als die That gelten, und man möchte überhaupt in einem Drama, in welchem die Ansichten und Gesinnungen, das Trachten und Streben der Menschen so lebendig vor die Augen gemalt sind, die Handlung nicht ver­ missen; denn diese hat ja doch eigentlich keinen andern Zweck als den, welchen der Dichter hier auch ohne Handlung im engsten und äußern Sinne des Wertes so vortrefflich erreichte. Mit dieser ernsten Angelegenheit sammelt sich das Zerstreute zur Einheit, steigert sich die Darstellung zum Wichtigen und Gruell- Schillers Natur trug alles zum Hohen empor, wie ja auch seine lyrische und epische Poesie einen vorherrschend erhabenen Charakter hat. So entwickelt in dem letzten Auftritte der erste Kürassier, der Wallone, eine so hohe Denk­ weise, wie sie mit dem gemeinen Kriegshandwerke nur immer verträglich ist. Wallensteins Lager ist ein abgeschlossenes Bild, und daher möchte ihm, obgleich es noch einen höhern Zweck außer sich hat, der Name einer selbständigen Dichtung nicht verweigert werden können. Wie der dem Schreibpulte entlaufene Jäger seinen Dienst wechselte, so erfahren wir eö auch von dem ersten Kürassier, daß er in der ganzen Welt sein Glück versuchte; und von der Marketenderin hören wir mit Vergnügen, wie sie „der rauhe Kriegesbesen gefegt und geschüttelt von Ort zu Ort." Die Gustel aus Blasewitz ist eine heitere Reminiscenz Schillers an seinen unmuthigen Aufenthalt an dem Elbufer zu Loschwitz. Unter diesem Namen war nämlich die hübsche Gastwirthstochter des seiner Wohnung geradeüber, auf dem jenseitigen Ufer recht einladend gelegenen Dörfchens Blasewitz in der Gegend bekannt. Es heiratete das artige Mädchen späterhin ein angesehener und sehr geachteter Mann in Dresden, wo sie noch vor kurzer Zeit als hochbejahrte Wittwe lebte. Man sieht eS, daß Schiller, wenn auch scherzhafter Weise, nun die Gewohnheit Goethes nachahmte, Personen

Kunst.

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aus feiner Bekanntschaft in die Dichtung zu bringen; mußte sich doch später sogar Goethe abkonterfeien lassen! ES ist auch nicht zu bezweifeln', daß dem Dichter zur Schilderung dieses Soldatenlebens sein Aufenthalt in der Karlsschule zu Hülfe kam. Das Lager machte gleichsam eine isolirte Welt aus, wie sie Schiller in dem Johanniter­ orden auf Malta gefunden zu haben glaubte. Damit aber auch die Bezüge nach außen anschaulich würden, ist ein ruinirter Bauer eingeführt, der sich nun aufs Bettügen legt; dann erscheint ein Bürgerssohn als Rekrut, den der jammernde Baler vergebens bei ihm zu bleiben bittet, und endlich der Kapuziner. Sie sind Repräsentanten des Bauern-, Bürger- und geistlichen Standes. Überall im Stücke sind Nachrichten und Winke gegeben, welche uns mit Wallenstein und den hauptsächlichsten anderen Anführern, mit dem Zustande des Heeres, den Verhält­ nissen der Zeit vorläufig bekannt machen. Aber nichts ist gesucht und herbeigezogen; das Gedicht entwickelt sich wie eine Naturbegebenheit von selbst; jede Person scheint nur um ihrer selbst willen da zu sein, jedes Wort nur in sich zu gelten, und doch ist jedes Einzelne nur ein Beitrag für das Ganze, und alles zeigt gleichsam symbolisch auf einen großem Hintergrund hin. Die Darstellung setzt eine außerordentliche Anschauung und die sicherste Kenntnis der Zeit voraus und gewährt sie uns. Da im Stücke eine Steigerung stattfindet vom Gemeinen und Unbedeutenden bis zur höchsten Auffassung des Kriegerlebens, die sich dramatisch in den Worten deS herrlichen Wallonen und lyrisch in dem Reiterliede entfaltet, so scheidet der Zuhörer wirklich mit einer erweiterten Ansicht und gehobenen Stimmung. Aber ungeachtet das Gedicht in das Ideale ausläuft, bleibt doch die Behandlung durchweg real. Von Sentimentalität hat die Dichtung durchaus keine Spur. Alles ist kräftig, heiter, leicht, originell. Das Drama schließt sich hinsichtlich seiner objektiven Gestaltung an die besten Balladen an, ja es hat vielleicht am meisten plastische Form von allem, was Schiller geschrieben hat. Man kann nicht müde werden, das Gedicht immer wieder von neuem zu lesen und zu genießen. Es steht in makelloser Schöne vor uns wie ein vollkommenes Na­ turprodukt und übertrifft in seiner Art die beiden nachfolgenden Stücke. Die Kritik sieht ihr Unvermögen nicht besser ein als einem solchen Meisterwerke gegenüber. Das Grundulotiv des Ganzen ist die Hingebung an Wallenstein. Sein Geist beseelt die Personen und das Stück selbst, und die Verehrung deö Feldherrn läßt die Beschlußnahme hervortreten, in welcher man sich zuletzt vereinigt. Au- Schiller- Leven von Karl Hoffmeister.

c.

K u n st.

1. Laokoon. Laokoon ist eine Statue im höchsten Schmerze, nach dem Bilde eines Mannes ge­ macht, der die bewußte Stärke des Geistes gegen denselben zu sammeln sucht; und indem fein Leiden die Muskeln aufschwellet und die Nerven anzieht, tritt der mit Stärke bewaff­ nete Geist in der aufgetriebenen Stirn hervor, und die Brust erhebt sich durch den be­ klemmten Athem und durch Zurückhaltung des Ausbmchs der Empfindung, um den Schmerz in sich zu fassen und zu verschließen. Das bange Seufzen, welches er in sich, und der Athem, den er an sich zieht, erschöpft den Unterleib und macht die Seilen hohl, welches uns gleichsam von der Bewegung seiner Eingeweide urtheilen läßt. Sein eignes Leiden aber scheint ihn weniger zu beängstigen als die Pein seiner Kinder, die ihr Angesicht zu ihrem Vater wenden und um Hülfe schreien; denn das väterliche Herz offenbart sich in den wehmüthigen Augen, und das Mitleiden scheint in einem trüben Dufte auf denselben zu schwimmen. Sein Gesicht ist klagend, aber Nicht schreiend, seine Augen sind nach der höheren Hülfe gewandt. Der Mund ist voll Wehmuth und die gesenkte Unterlippe schwer

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aus feiner Bekanntschaft in die Dichtung zu bringen; mußte sich doch später sogar Goethe abkonterfeien lassen! ES ist auch nicht zu bezweifeln', daß dem Dichter zur Schilderung dieses Soldatenlebens sein Aufenthalt in der Karlsschule zu Hülfe kam. Das Lager machte gleichsam eine isolirte Welt aus, wie sie Schiller in dem Johanniter­ orden auf Malta gefunden zu haben glaubte. Damit aber auch die Bezüge nach außen anschaulich würden, ist ein ruinirter Bauer eingeführt, der sich nun aufs Bettügen legt; dann erscheint ein Bürgerssohn als Rekrut, den der jammernde Baler vergebens bei ihm zu bleiben bittet, und endlich der Kapuziner. Sie sind Repräsentanten des Bauern-, Bürger- und geistlichen Standes. Überall im Stücke sind Nachrichten und Winke gegeben, welche uns mit Wallenstein und den hauptsächlichsten anderen Anführern, mit dem Zustande des Heeres, den Verhält­ nissen der Zeit vorläufig bekannt machen. Aber nichts ist gesucht und herbeigezogen; das Gedicht entwickelt sich wie eine Naturbegebenheit von selbst; jede Person scheint nur um ihrer selbst willen da zu sein, jedes Wort nur in sich zu gelten, und doch ist jedes Einzelne nur ein Beitrag für das Ganze, und alles zeigt gleichsam symbolisch auf einen großem Hintergrund hin. Die Darstellung setzt eine außerordentliche Anschauung und die sicherste Kenntnis der Zeit voraus und gewährt sie uns. Da im Stücke eine Steigerung stattfindet vom Gemeinen und Unbedeutenden bis zur höchsten Auffassung des Kriegerlebens, die sich dramatisch in den Worten deS herrlichen Wallonen und lyrisch in dem Reiterliede entfaltet, so scheidet der Zuhörer wirklich mit einer erweiterten Ansicht und gehobenen Stimmung. Aber ungeachtet das Gedicht in das Ideale ausläuft, bleibt doch die Behandlung durchweg real. Von Sentimentalität hat die Dichtung durchaus keine Spur. Alles ist kräftig, heiter, leicht, originell. Das Drama schließt sich hinsichtlich seiner objektiven Gestaltung an die besten Balladen an, ja es hat vielleicht am meisten plastische Form von allem, was Schiller geschrieben hat. Man kann nicht müde werden, das Gedicht immer wieder von neuem zu lesen und zu genießen. Es steht in makelloser Schöne vor uns wie ein vollkommenes Na­ turprodukt und übertrifft in seiner Art die beiden nachfolgenden Stücke. Die Kritik sieht ihr Unvermögen nicht besser ein als einem solchen Meisterwerke gegenüber. Das Grundulotiv des Ganzen ist die Hingebung an Wallenstein. Sein Geist beseelt die Personen und das Stück selbst, und die Verehrung deö Feldherrn läßt die Beschlußnahme hervortreten, in welcher man sich zuletzt vereinigt. Au- Schiller- Leven von Karl Hoffmeister.

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K u n st.

1. Laokoon. Laokoon ist eine Statue im höchsten Schmerze, nach dem Bilde eines Mannes ge­ macht, der die bewußte Stärke des Geistes gegen denselben zu sammeln sucht; und indem fein Leiden die Muskeln aufschwellet und die Nerven anzieht, tritt der mit Stärke bewaff­ nete Geist in der aufgetriebenen Stirn hervor, und die Brust erhebt sich durch den be­ klemmten Athem und durch Zurückhaltung des Ausbmchs der Empfindung, um den Schmerz in sich zu fassen und zu verschließen. Das bange Seufzen, welches er in sich, und der Athem, den er an sich zieht, erschöpft den Unterleib und macht die Seilen hohl, welches uns gleichsam von der Bewegung seiner Eingeweide urtheilen läßt. Sein eignes Leiden aber scheint ihn weniger zu beängstigen als die Pein seiner Kinder, die ihr Angesicht zu ihrem Vater wenden und um Hülfe schreien; denn das väterliche Herz offenbart sich in den wehmüthigen Augen, und das Mitleiden scheint in einem trüben Dufte auf denselben zu schwimmen. Sein Gesicht ist klagend, aber Nicht schreiend, seine Augen sind nach der höheren Hülfe gewandt. Der Mund ist voll Wehmuth und die gesenkte Unterlippe schwer

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von derselben; in der überwärts gezogenen Oberlippe aber ist dieselbe mit Schmerz ver­ mischt, welcher mit einer Regung von Unmuth, wie über ein unverdientes unwürdiges Leiden, in die Nase hinauf tritt, dieselbe schwülstig macht und sich in den erweiterten und aufwärts gezogenen Nüstern offenbar:. Unter der Stirn ist der Streit zwischen Schmerz und Widerstand, wie in einem Punkte vereinigt, mit großer Weisheit gebildet; denn indem der Schmerz die Augenbrauen in die Höhe treibet, so drückt das Sträuben wider denselben das obere Augenfleisch niederwärts und gegen das obere Augenlid zu, so daß dasselbe durch das übergetretene Fleisch beinahe ganz bedeckt wird. Die Natur, welche der Künstler nicht verschönern konnte, hat er ausgewickelter, angestrengter und mächtigerzuzeigengesucht; da, wohin der größte Schmerz gelegt ist, zeigt sich auch die größte Schönheit. Die linke Seite, in welche die Schlange mit dem wüthenden Bisse ihr Gift ausgießet, ist diejenige, welche durch die nächste Empfindung zum Herzen am heftigsten zu leiden scheint; und dieser Theil des Körpers kann ein Wunder der Kunst genannt werden. Seine Beine wollen sich erheben, um seinem Übel zu entrinnen; kein Theil ist in Ruhe; ja die Meißelstriche selbst helfen zur Bedeutung einer erstarrten Haut. Aus Winckelmanns Geschichte der Kunst.

2. Aus Lessings Laokoon. a.

Die Gruppe des Laokoon.

Es giebt Kenner des Alterthums, welche die Gruppe Laokoon zwar für ein Werk griechischer Meister, aber aus der Zeit der Kaiser halten, weitste glauben, daßderBirgilische Laokoon dabei zum Vorbilde gedient habe. Sie fanden ohne Zweifel zwischen dem Kunst­ werke und der Beschreibung des Dichters eine so besondere Übereinstimmung, daß es ihnen unmöglich dünkte, daß beide von ungefähr auf einerlei Umstände sollten gefallen sein, die sich nichts weniger als von selbst darbieten. Dabei setzten sie voraus, daß, wenn es auf die Ehre der Erfindung und des ersten Gedankens ankomme, die Wahrscheinlichkeit für den Dichter ungleich größer sei als für den Künstler. Nur scheinen sie vergessen zu haben, daß ein dritter Fall möglich sei. Denn vielleicht hat der Dichter ebenso wenig dem Künstler, als der Künstler dem Dichter nachgeahmt, sondern beide haben aus einerlei ältern Quellen geschöpft. Bewiesen oder nicht bewiesen, daß die Bildhauer dem Virgil nachgearbeitet haben; ich will es blos annehmen, um zu sehen, wie sie ihm sodann nachgearbeitet hätten. Über

das Geschrei habe ich mich schon erklärt. Vielleicht, daß mich die weitere Vergleichung auf nicht weniger unterrichtende Bemerkungen leitet. Der Einfall, den Vater mit seinen beiden Söhnen durch die mörderischen Schlangen in einen Knoten zu schürzen, ist ohnstreitig ein sehr glücklicher Einfall, der von einer un­ gemein malerischen Phantasie zeugt. Wem gehört er? Dem Dichter oder den Künstlern? Der Dichter hat die Schlangen von einer wunderbaren Länge geschildert. Sie haben die Knaben umstrickt, und da der Vater ihnen zu Hülfe kommt, ergreifen sie auch ihn. Nach ihrer Größe konnten sie sich nicht auf einmal von den Knaben loswinden; es mußte also einen Augenblick geben, da sie den Vater mit ihren Köpfen und Vordertheilen schon an­ gefallen hatten und mit ihren Hintertheilen die Knaben noch verschlungen hielten. Dieser Anblick ist in der Fortschreitung des poetischen Gemäldes nothwendig; der Dichter läßt ihn empfinden; nur ihn auszumalen, dazu war jetzt die Zeit nicht. Daß ihn die alten Ausleger auch wirklich empfunden haben, scheint eine Stelle des Donatus zu bezeugen. Wie viel weniger wird er den Künstlern entwischt sein, in deren verständiges Auge alles, was ihnen vortheilhaft werden kann, so schnell und deutlich einleuchtet? In den Win­ dungen selbst, mit welchen der Dichter die Schlangen um den Laokoon führt, vermeidet er sorgfältig die Arme, um den Händen alle ihre Wirksamkeit zu lassen. Hierin mußten ihm

Kunst.

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die Künstler nothwendig folgen. Nichts giebt mehr Ausdruck und Leben als die Bewegung der Hände; im Affekte besonders ist das sprechendste Gesicht ohne sie unbedeutend. Arme, durch die Ringe der Schlangen fest an den Körper geschloffen, würden Frost und Tod über die ganze Gruppe verbreitet haben. Also sehen wir sie an der Hauptfigur sowohl, als an den Nebenfiguren in völliger Thätigkeit und da am meisten beschäftigt, wo gegenwärtig der heftigste Schmerz ist. Weiter aber auch nichts als diese Freiheit der Arme fanden die Künstler zuträglich in Ansehung der Verstrickung der Schlangen von dem Dichter zu entlehnen. Virgil läßt die Schlangen doppelt um den Leib und doppelt um den Hals des Laokoon sich winden und hoch mit ihren Köpfen über ihn hinauöragen. Dieses Bild füllt unsere Einbildungskraft vortrefflich; die edelsten Theile sind bis zum Ersticken gepreßt, und das Gift geht gerade nach dem Gesichte. Dessenungeachtet war es kein Bild für Künstler, welche die Wirkungen des Giftes und deS Schmerzes in dem Körper zeigen wollten. Denn um diese bemerken zu können, mußten die Haupitheile so frei sein als möglich, und durchaus mußte kein äußerer Druck auf sie wirken, welcher das Spiel der leidenden Nerven und arbeitenden Muskeln verändern und schwächen könnte. Die doppelten Windungen der Schlangen würden den ganzen Leib verdeckt haben, und jene schmerzliche Einziehung des Unterleibes, welche so sehr ausdrückend ist, würde unsichtbar geblieben sein. Was man über oder unter oder zwischen den Windungen von dem Leibe noch erblickt hätte, würde unter Pressungen und Aufschwel­ lungen erschienen sein, die nicht von dem innern Schmerze, sondern von der äußern Last gewirkt worden. Der eben so oft umschlungene Hals würde die pyramidalische Zuspitzung der Gruppe, welche dem Auge so angenehm ist, gänzlich verdorben haben; und die aus dieser Wulst ins Freie hinauSragenden spitzen Schlangenköpfe hätten einen so plötzlichen Abfall von Mensur gemacht, daß die Form des Ganzen äußerst anstößig geworden wäre. Es giebt Zeichner, welche unverständig genug gewesen sind, sich dessenungeachtet an den Dichter zu binden. Was denn aber auch daraus geworden, läßt sich unter anderm aus einem Blatte des Franz Cleyn mit Abscheu erkennen. Die alten Bildhauer übersahen eS mit einem Blicke, daß ihre Kunst hier eine gänzliche Abänderung erforderte. Sie verlegten alle Windungen von dem Leibe und Halse um die Schenkel und Füße. Hier konnten diese Windungen, dem Ausdrucke unbeschadet, so viel decken und pressen, als nöthig war. Hier erregten sie zugleich die Idee der gehemmten Flucht und einer Art von Unbeweglichkeit, die der künstlichen Fort­ dauer des nämlichen Zustandes sehr vortheilhaft ist. Ich weiß nicht, wie es gekommen, daß die Kunstrichter diese Verschiedenheit, welche sich in den Windungen der Schlangen zwischen dem Kunstwerke und der Beschreibung des Dich­ ters so deutlich zeigt, gänzlich mit Stillschweigen übergangen haben. Sie erhebt die Weisheit der Künstler eben so sehr als die andere, auf die sie alle fallen, die sie aber nicht sowohl an­ zupreisen wagen, als vielmehr nnr zu entschuldigen suchen. . Ich meine die Verschiedenheit in der Bekleidung. Virgils Laokoon ist in seinem priesterlichen Ornate, und in der Gruppe erscheint er mit seinen beiden Söhnen völlig nackend. Man sagt, es gebe Leute, welche eine große Ungereimtheit darin fänden, daß ein Königssohn, ein Priester bei einem Opfer nackend vorgestellt werde. Und diesen Leuten antworten Kenner der Kunst in allem Ernste, daß eS allerdings ein Fehler wider das Übliche sei, daß aber die Künstler dazu gezwungen worden, weil sie ihren Figuren keine anständige Kleidung geben können. Die Bildhauerei, sagen sie, könne keine Stoffe nachahmen; dicke Falten machten eine üble Wirkung; aus zwei Unbequem­ lichkeiten habe man also die geringste wählen und lieber gegen die Wahrheit selbst verstoßen, als in den Gewändern tadelhaft werden müssen. Wenn die alten Artisten bei dem Einwurfe lachen würden, so weiß ich nicht, was sie zu der Beantwortung sagen dürften. Man kann die Kunst nicht tiefer herabsetzen, als es dadurch geschieht. Denn gesetzt, die Skulptur könnte die verschiedenen Stoffe eben so gut nachahmen, als die Malerei: würde sodann Laokoon nothwendig bekleidet sein müssen? würden wir unter dieser Bekleidung nichts verlieren?

Wissenschaftliche Prosa.

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Hat ein Gewand, das Werk sklavischer Hände, eben so viel Schönheit, als das Werk der ewigen Weisheit, ein organisirter Körper? Erfordert es einerlei Fähigkeiten, ist es einerlei Verdienst, bringt es einerlei Ehre, jenes oder diesen nachzuahmen? Wollen unsere Augen nur getäuscht sein, und ist es ihnen gleichviel, womit sie getäuscht werden? Bei dem Dichter ist ein Gewand kein Gewand, es verdeckt nichts; unsere Einbildungskraft sieht überall hin­ durch, Laokoon habe es bei dem Virgil oder habe es nicht; sein Leben ist ihr an jedem Theile seines Körpers einmal so sichtbar, wie das andere. Die Stirne ist mit der priesterlichen Binde für sie umbunden, aber nicht umhüllt. Ja sie hindert nicht allein nicht, diese Binde, sie verstärkt auch noch den Begriff, den wir uns von dem Unglücke des Leidenden machen. Nichts hilft ihm seine priesterliche Würde, selbst das Zeichen derselben, das ihm überall An­ sehn und Verehrung verschafft, wird von dem giftigen Geifer durchnetzt und entheiligt. Aber diesen Nebenbegriff mußte der Artist aufgeben, wenn das Hauptwerk nicht leiden sollte. Hätte er dem Laokoon auch nur diese Binde gelassen, so würde er den Ausdruck um ein großes geschwächt haben. Die Stirne wäre zum Theil verdeckt worden, und die Stirne ist der Sitz des Ausdrucks. Wie er also dort, bei dem Schreien, den Ausdruck der Schön­ heit aufopferte, so opferte er hier das Übliche dem Ausdrucke auf. Überhaupt war das

Übliche bei den Alten eine sehr geringschätzige Sache.

Sie fühlten, daß die höchste Bestim­

mung ihrer Kunst sie auf die völlige Entbehrung desselben führte. Schönheit ist diese höchste Bestimmung; Noth erfand die Kleider, und was hat die Kunst mit der Noth zu thun? Ich gebe es zu, daß es auch eine Schönheit der Bekleidung giebt; aber was ist sie gegen die Schönheit der menschlichen Form? Und wird der, der das Größere erreichen kann, sich mit dem Kleinern begnügen? Ich fürchte sehr, der vollkommenste Meister in Gewändern zeigt durch diese Geschicklichkeit selbst, woran es ihm fehlt,

b.

Ü ber homerische Gemälde.

Wenn Homers Werke gänzlich verloren wären, wenn wir von seiner Ilias und Odyssee nichts übrig hätten als eine ähnliche Folge von Gemälden, dergleichen Caylus daraus vor­ geschlagen: würden wir wohl aus diesen Gemälden, sie sollen aus der Hand des voll­ kommensten Meisters sein, ich will nicht sagen, von dem ganzen Dichter, sondern blos von seinem malerischen Talente uns den Begriff bilden können, den wir jetzt von ihm haben? Man mache einen Versuch mit dem ersten dem besten Stücke. Es sei das Gemälde der Pest (II. I. 44—53). Was erblicken wir auf der Fläche des Künstlers? Todte Leichname, brennende Scheiterhaufen, Sterbende mit Gestorbenen beschäftigt, den erzürnten Gott auf einer Wolke, seine Pfeile abdrückend. Der größte Reichthum dieses Gemäldes ist Armuth des Dichters. Denn sollte man den Homer aus diesem Gemälde wieder herstellen, was könnte man ihn sagen lassen: „Hierauf ergrimmte Apollo und schoß seine Pfeile unter das Heer der Griechen. Viele Griechen starben, und ihre Leichen wurden verbrannt." Nun lese man den Homer selbst. So weit das Leben über das Gemälde ist, so weit ist der Dichter hier über den Maler. Ergrimmt, mit Bogen und Köcher steigt Apollo von den Zinnen des Olympus. Ich sehe ihn nicht allein herabsteigen, ich höre ihn. Mit jedem Tritte erklingen die Pfeile um die Schultern des Zornigen. Er geht einher gleich der Nacht. Nun sitzt er gegen den Schiffen über und schnellt (fürchterlich erklingt der silberne Bogen) den ersten Pfeil auf die Maulthiere und Hunde. Sodann faßt er mit dem giftigeren Pfeile die Men­ schen selbst; und überall lodern unaufhörlich Holzstöße mit Leichnamen. Es ist unmöglich, die musikalische Malerei, welche die Worte des Dichters mit hören lassen, in eine andere Sprache überzutragen. Es ist ebenso unmöglich, sie aus dem materiellen Gemälde zu ver­ muthen, ob sie schon nur der allerkleinste Vorzug ist, den das poetische Gemälde vor selbigem hat. Der Hauptvorzug ist dieser, daß uns der Dichter zu dem, was das materielle Gemälde aus ihm zeigt, durch eine ganze Galerie von Gemälden führt.

K u n st.

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Aber vielleicht ist die Pest kein vorteilhafter Vorwurf für die Malerei. Hier ist ein anderer, der mehr Reize für das Auge hat, die rathpflegenden, trinkenden Götter (II. IV. 1—4). Ein goldener, offener Palast, willkürliche Gruppen der schönsten und verehrungswürdigsten Gestalten, den Pokal in der Hand, von Hebe, der ewigen Jugend, bedient. Welche Architektur, welche Massen von Licht und Schatten, welche Kontraste, welche Mannigfaltigkeit des Ausdrucks! Wo fange ich an, wo höre ich auf, mein Auge zu weiden? Wenn mich der Maler so bezaubert, wie vielmehr wird es der Dichter thun? Ich schlage ihn auf, und ich finde mich betrogen. Ich finde vier gute, plane Zeilen, die zur Unterschrift eines Gemäldes dienen können, in welchen der Stoff zu einem Gemälde liegt, aber die selbst kein Gemälde sind. Das würde ein Apollonius oder ein noch mittelmäßigerer Dichter nicht schlechter gesagt haben; und Homer bleibt hier eben so weit unter dem Maler, wie der Maler dort unter ihm blieb. Noch dazu findet Caylus in dem ganzen vierten Buche der Ilias sonst kein einziges Gemälde als nur eben in diesen vier Zeilen. So sehr sich, sagt er, das vierte Buch durch die mannigfaltigen Ermunterungen zum Angriffe, durch die Fruchtbarkeit glänzender und abstechender Charaktere und durch die Kunst ausnimmt, mit welcher uns der Dichter die Menge, die er in Bewegung setzen will, zeigt: so ist es doch für die Malerei gänzlich un­ brauchbar. Er hätte dazu setzen können: so reich es sonst auch an dem ist, was man poetische Gemälde nennt. Denn, wahrlich, es kommen deren in dem vierten Buche so häufige und so vollkommene vor als nur in irgend einem andern. Wo ist ein ausgeführteres, täuschenderes Gemälde als das vom Pandarus, wie er auf Anreizen der Minerva den Waffenstillstand bricht und seinen Pfeil auf den Menelaus losdrückt; als das von dem Anrücken des griechischen Heeres; als das von dem beiderseitigen Angriffe; als das von der That des Ulysses, durch die er den Tod seines Leukus rächt? Was folgt aber hieraus, daß nicht wenige der schönsten Gemälde des Homer kein Gemälde für den Artisten geben; daß der Artist Gemälde aus ihm ziehen kann, wo er selbst keine hat; daß die, welche er hat und der Artist gebrauchen kann, nur sehr armselige Gemälde sein würden, wenn sie nicht mehr zeigten, als der Artist zeigt? was sonst als die Verneinung meiner obigen Frage? Daß aus den materiellen Gemälden, zu welchen die Gedichte des Homer Stoff geben, wenn ihrer auch noch so viele, wenn sie auch noch so vortrefflich wären, sich dennoch auf das malerische Talent des Dichters nicht schließen läßt. Ist dem aber so, und kann ein Gedicht sehr ergiebig für den Maler, dennoch aber selbst nicht malerisch, hinwiederum ein anderes sehr malerisch und dennoch nicht ergiebig für den Maler sein: so ist es auch um den Einfall des Grafen Caylus gethan, welcher die Brauchbarkeit für den Maler zum Probirsteine der Dichter machen und ihre Rangordnung nach der Anzahl der Gemälde, die sie dem Artisten darbieten, bestimmen wollen. Fern sei es, diesen Einfall auch nur durch unser Stillschweigen das Ansehu einer Regel gewinnen zu lassen. Milton würde als das erste unschuldige Opfer derselben fallen. Denn es scheint wirklich, daß das verächtliche Urtheil, welches Caylus über ihn spricht, nicht sowohl Nationalgeschmack, als eine Folge seiner vermeinten Regel gewesen. Der Verlust des Gesichts, sagt er, mag wohl die größte Ähnlichkeit sein, die Milton mit dem Homer gehabt hat. Freilich kann Milton keine Galerien füllen. Aber müßte, so lange ich das leibliche Auge hätte, die Sphäre desselben auch die Sphäre meines innern Äuges sein, so würde ich,

um von dieser Einschränkung frei zu werden, einen großen Werth auf den Verlust des erstern legen. Das verlorne Paradies ist darum nicht weniger die erste Epopöe nach dem Horner, weil es wenig Gemälde liefert, als die Leidensgeschichte Christi deswegen ein Poem ist, weil man kaum den Kopf einer Nadel in sie setzen kann, ohne auf eine Stelle zu treffen, die nicht eine Menge der größten Artisten beschäftigt hätte. Die Evangelisten erzählen das Faktum mit aller möglichen trockenen Einfalt, und der Artist nutzt die mannigfaltigen Theile desselben, ohne daß sie ihrerseits den geringsten Funken von malerischem Genie gezeigt haben.

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Miss enschaftliche Prosa.

Es giebt malbare und unmalbare Fakta, und der Geschichtschreiber kann die malbarsten eben so unmalerisch erzählen, als der Dichter die unmalbarsten malerisch barzustellen vermögend ist. Man läßt sich blos von der Zweideutigkeit des Wortes verführen, wenn man die Sache anders nimmt. Ein poetisches Gemälde ist nicht nothwendig das, was in ein materielles Gemälde zu verwandeln ist; sondern jeder Zug, jede Verbindung mehrerer Züge, durch die uns der Dichter seinen Gegenstand so sinnlich macht, daß wir uns dieses Gegenstandes deutlicher bewußt werden als seiner Worte, heißt malerisch, heißt ein Ge­ mälde , weil es uns dem Grade der Illusion näher bringt, dessen das materielle Gemälde besonders fähig ist, der sich von dem materiellen Gemälde am ersten und leichtesten abstrahiren läßt. Nun kann der Dichter zu diesem Grade der Illusion, wie die Erfahrung zeigt, auch die Vorstellungen anderer als sichtbarer Gegenstände erheben. Folglich müssen nothwendig dem Artisten ganze Klassen von Gemälden abgehen, die der Dichter vor ihm im voraus bat. Drpdens Ode auf den Cäcilientag ist voller musikalischer Gemälde, die den Pinsel müßig lassen. Doch ich will mich in dergleichen Exempel nicht verlieren, aus welchen man am Ende doch nicht mehr lernt, als daß die Farben keine Töne und die Ohren keine Augen sind. Ich will bei den Gemälden blos sichtbarer Gegenstände stehen bleiben, die dem Dichter und Maler gemein sind. Woran liegt es, daß manche poetische Gemälde von dieser Art für den Maler unbrauchbar sind und hinwiederum manche eigentliche Gemälde unter der Be­ handlung des Dichters den größten Theil ihrer Wirkung verlieren? Exempel mögen mich leiten. Ich wiederhole es: das Gemälde des Pandarus im vierten Buche der Ilias ist eines von den ausgeführtesten, täuschendsten im ganzen Homer. Von dem Ergreifen des Bogens bis zum Fluge des Pfeiles ist jeder Augenblick gemalt, und alle diese Augenblicke sind so nahe und doch so unterschieden angenommen, daß, wenn man nick: wüßte, wie mit dem Bogen umzugehen wäre, man es aus diesem Gemälde allein lernen könnte (II. IV. 105 ff,). Pandarus zieht seinen Bogen hervor, legt die Sehne an, öffne: den Köcher, wählt einen noch ungebrauchten, wohlbefiederten Pfeil, setzt den Pfeil an die Sehne, zieht die Sehne sammt dem Pfeile unten an dem Einschnitte zurück, die Sehne nah: sich der Brust, die eiserne Spitze des Pfeiles dem Bogen, der große, gerundete Bogen schlag: tönend auseinander, die Sehne schwirrt, ab sprang der Pfeil, und gierig fliegt er nach seinem Ziele. Übersehen kann Caplus dieses treffliche Gemälde nicht haben. Was fand er also

darin, warum er es für unfähig achtete, seinen Artisten zu beschäftigen? Und was war es, warum ihm die Versammlung der rathpflegenden, zechenden Götter zu dieser Absicht taug­ licher dünkte? Hier sowohl als dort sind sichtbare Vorwürfe, und was braucht der Maler mehr als sichtbare Vorwürfe, um seine Fläche zu füllen? Der Knoten muß dieser sein. Obschon beide Vorwürfe als sichtbar der eigentlichen Malerei ganz fähig sind, so findet sich doch dieser wesentliche Unterschied unter ihnen, daß jener eine sichtbare, fortschreitende Handlung ist, deren verschiedene Theile sich nach und nach in der Folge der Zeit ereignen, dieser hingegen eine sichtbare, stehende Handlung, deren verschiedene Theile sich neben ein­ ander im Raume entwickeln. Wenn nun aber die Malerei vermöge ihrer Zeichen oder der Mittel ihrer Nachahmung, die sie nur im Raume verbinden kann, der Zeit gänzlich entsagen muß' so können fortschreitende Handlungen, als fortschreitend, unter ihre Gegen­ stände nicht gehörens sondern sie muß sich mit Handlungen neben einander oder mit bloßen Körpern, die durch ihre Stellungen eine Handlung vermuthen lassen, begnügen. Die Poesie hingegen --------Doch ich will versuchen, die Sache aus ihren ersten Gründen herzuleiten. Ich schließe so. Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel oder Zeichen gebraucht als die Poesie, jene nämlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulirte Töne in der Zeit ; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu

K u ii st.

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dem Bezeichneten haben müssen- so können neben einander geordnete Zeichen auch nur Gegenstände, die neben einander oder deren Theile neben einander epftimi, auf einander folgende Zeichen aber auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander oder deren Theile auf einander folgen. Gegenstände, die neben einander oder deren Theile neben einander existiren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigent­ lichen Gegenstände der Malerei. Gegenstände, welche auf einander oder deren Theile auf einander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie. Doch alle Körper epistiren nicht allein in dem Raume, sondern auch in der Zeit. Sie dauern fort und können in jedem Augenblicke ihrer Dauer anders erscheinen und in anderer Verbindung stehen. Jede dieser augenblicklichen Erscheinungen und Verbindungen ist die Wirkung einer vorhergehenden und kann die Ursache einer folgenden und sonach gleichsam das Centrum einer Handlung sein. Folglich kann die Malerei auch Handlungen nach­ ahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper. Auf der andern Seite können Handlungen nicht für sich selbst bestehen, sondern müssen gewissen Wesen anhangen. Insofern nun diese Wesen Körper sind oder als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie auch Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen. Die Malerei kann in ihren koepistirenden Kom­ positionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen und muß daher den präg­ nantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird. Ebenso kann auch die Poesie in ihren fortschreitenden Nachahmungen nur eine einzige Eigen­ schaft der Körper nutzen und muß daher diejenige wählen, welche das sinnlichste Bild des Körpers von der Seite erweckt, von welcher sie ihn braucht. Hieraus fließt die Regel von der Einheit der malerischen Beiwörter und der Spar­ samkeit in den Schilderungen körperlicher Gegenstände. Ich würde in diese, trockene Schluß­ kette weniger Vertrauen setzen, wenn ich sie nicht durch die Praxis des Homer vollkommen bestätigt fände, oder wenn es nicht vielmehr die Praxis des Homer selbst wäre, die mich darauf gebracht hätte. Nur aus diesen Grundsätzen läßt sich die große Manier des Griechen bestimmen und erklären, so wie der entgegengesetzten Manier so vieler neuern Dichter ihr Recht ertheilen, die in einem Stücke mit dem Maler wetteifern wollen, in welchem sie noth­ wendig von ihm überwunden werden müssen. Ich finde, Homer malt nichts als fort­ schreitende Handlungen, und alle Körper, alle einzelnen Dinge malt er nur durch ihren Antheil an diesen Handlungen, gemeiniglich nur mit einem Zuge. Was Wunder also, daß der Maler da, wo Homer malt, wenig oder nichts für sich zu thun sieht, und daß seine Ernte nur da ist, wo die Geschichte eine Menge schöner Körper in schönen Stellungen in einem der Kunst vortheilhaften Raume zusammenbringt, der Dichter selbst mag diese Körper, diese Stellungen, diesen Raum so wenig malen, als er will? Man gehe die Folge der Ge­ mälde, wie sie Caylus aus ihm vorschlägt, Stück vor Stück durch, und man wird in jedem den Beweis von dieser Anmerkung finden. Ich lasse also hier den Grafen, der den Farbeustein des Malers zum Probirsteine des Dichters machen will, um die Manier des Homer näher zu erklären. Für ein Ding, sage ich, hat Homer gemeiniglich nur einen Zug. Ein Schiff ist ihm bald das schwarze Schiff, bald das hohle Schiff, bald das schnelle Schiff, höchstens das wohlberuderte schwarze Schiff. Weiler läßt er sich in die Malerei des Schiffes nicht ein. Aber wohl das Schiffen, das Abfahren, das Anlanden des Schiffes macht er zu einem ausführlichen Gemälde, zu einem Gemälde, aus welchem der Maler fünf, sechs besondere Gemälde machen wüßte, wenn er es ganz auf seine Leinwand bringen wollte. Zwingen den Homer ja besondere Umstände, unsern Blick auf einen einzelnen körperlichen Gegenstandlänger zu heften, so wird demohngeachtet kein Gemälde daraus, dem der Maler mit dem Pinsel folgen könnte ; sondern er weiß durch unzählige Kunstgriffe diesen einzelnen Gegen­ stand in eine Folge von Augenblicken zu setzen, in deren jedem er anders erscheint, und in

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Wissenschaftliche Pro sa.

deren letztem ihn der Maler erwarten muß, um uns entstanden zu zeigen, was wir bei dem Dichter entstehen sehen. Zum Exempel: Will Homer uns den Wagen der Juno sehen lassen, so muß ihn Hebe vor unsern Augen Stück vor Stück Zusammensetzen. Wir sehen die Räder, die Achsen, den Sitz, die Deichsel und Riemen und Stränge, nicht sowohl, wie es beisammen ist, als wie es unter den Händen der Hebe zusammenkömmt. Auf die Räder allein verwendet der Dichter mehr als einen Zug und weist uns die ehernen acht Speichen, die goldenen Felgen, die Schienen von Erz, die silberne Nabe, alles insbesondere. Man sollte sagen: da der Räder mehr als eines war, so mußte in der Beschreibung ebenso viel Zeit mehr auf sie gehen, als ihre besondere Anlegung deren in der Natur mehr erforderte (II. V. 722—731). Will uns Homer zeigen, wie Agamemnon gekleidet gewesen, so muß sich der König vor unsern Augen seine völlige Kleidung Stück vor Stück umthun: das weiche Unterkleid, den großen Mantel, die schönen Halbstiefeln, den SDegen; und so ist er fertig und ergreift das Scepter. Wir sehen die Kleider, indem der Dichter die Handlung des Bekleidens malt: ein anderer würde die Kleider bis auf die geringste Franze gemalt haben, und von der Handlung hätten wir nichts zu sehen bekommen (II. II. 43—47). Und wenn wir von diesem Scepter, welches hier blos das väterliche, unvergängliche Scepter heißt, so wie ein ähnliches ihm an einem andern Orte blos xqvGeiotg das mit goldenen Stiften beschlagene Scepter, ist, wenn wir, sage ich, von diesem wichtigen Scepter ein vollständigeres, genaueres Bild haben sollen: was thut sodann Homer? malt er uns außer den goldenen Nägeln nun auch das Holz, den geschnitzten Knopf? Ja, wenn die Beschreibung in eine Heraldik sollte, damit einmal in den folgenden Zeiten ein anderes genau darnach gemacht werden könne. Und doch bin ich gewiß, daß mancher neuere Dichter eine solche Wappenkönigs - Beschreibung daraus würde gemacht haben in der treuherzigen Meinung, daß er wirklich selber gemalt habe, weil der Maler ihm nachmalen kann. Was bekümmert sich aber Homer, wie weit er den Maler hinter sich läßt? Statt einer Abbildung giebt er uns die Geschichte des Scepters: erst ist es unter der Arbeit des Vulkan; nun glänzt es in den Händen des Jupiter; nun bewirkt es die Würde Merkurs; nun ist es der Kommandostab des kriegerischen Pelops, nun der Hirtenstab des friedlichen Atreus u. s. w. (II. II. 101—108). So kenne ich endlich dieses Scepter besser, als mir es der Maler vor Augen legen oder ein zweiter Vulkan in die Hände liefern könnte. Es würde mich nicht befremden, wenn ich fände, daß einer von den alten Auslegern des Homer diese Stelle als die vollkommenste Allegorie von dem Ursprünge, dem Fortgänge, der Befestigung und unendlichen Beerbfolgung der königlichen Gewalt unter den Menschen bewundert hätte. Ich würde zwar lächeln, wenn ich läse, daß Vulkan, welcher das Scepter gearbeitet, als das Feuer, als das, was dem Menschen zu seiner Erhaltung das Unentbehrlichste ist, die Ab­ stellung der Bedürfnisse überhaupt anzeige, welche die ersten Menschen, sich einem Einzigen zu unterwerfen, bewogen ; daß der erste König ein Sohn der Zeit (Zsvg KqovIwv), ein ehrwürdiger Alter gewesen sei, welcher seine Macht mit einem beredten, klugen Manne, mit einem Merkur ((haxvogw AgysiyovuTi) theilen oder gänzlich auf ihn übertragen wollen; daß der kluge Redner zur Zeit, als der junge Staat von auswärtigen Feinden bedroht worden, seine oberste Gewalt Dem tapfersten Krieger (Jlskont nfafannw) überlassen habe; daß der tapfere Krieger, nachdem er die Feinde gedämpft und das Reich gesichert, es seinem Sohne in die Hände spielen können, welcher als ein friedliebender Regent, als ein wohl­ thätiger Hirte seiner Völker (noi^v Xawv), sie mit Wohlleben und Überfluß bekannt gemacht habe, wodurch nach seinem Tode dem reichsten seiner Anverwandten (no'kvotQvi der Weg gebahnt worden, das, was bisher das Vertrauen ertheilt und das Ver­ dienst mehr für eine Bürde als Würde gehalten hatte, durch Geschenk und Bestechungen an sich zu bringen und es hernach als ein gleichsam erkauftes Gut seiner Familie auf immer zu versichern. Ich würde lächeln, ich würde aber demohngeachtet in meiner Achtung für den Dichter bestärkt werden, Dem man so vieles leihen kann. Doch dieses liegt außer meinem

Narurwissens chaft.

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Wege, und ich betrachte jetzt die Geschichte des Scepters blos als einen Kunstgriff, uns bei einem einzelnen Dinge verweilen zu machen, ohne sich in die frostige Beschreibung seiner Theile einzulasien. Auch wenn Achilles bei seinem Scepter schwört, die Geringschätzung, mit welcher ihm Agamemnon begegnet, zu rächen, giebt unS Homer die Geschichte dieses Scepters. Wir sehen ihn auf den Bergen grünen, daS Eisen trennt ihn vom Stamme, entblättert und entrindet ihn und macht ihn bequem, den Richtern des Volks zum Zeichen ihrer göttlichen Würde zu dienen (II. I. 234—239). Dem Homer war nicht sowohl daran gelegen, zwei Stäbe von verschiedener Materie und Figur zu schildern, als uns von der Verschiedenheit der Macht, deren Zeichen diese Stäbe waren, ein sinnliches Bild zu machen. Jener ein Werk deS Vulkan, dieser von einer unbekannten Hand auf den Bergen geschnitten; jener der alte Besitz eines edlen HauseS, dieser bestimmt, die erste die beste Faust zu füllen; jener von einem Monarchen über viele Inseln und über ganz Argos erstreckt, dieser von einem aus dem Mittel der Griechen geführt, dem man nebst andern die Bewahrung der Gesetze anvertraut hatte. Dieses war wirklich der Abstand, in welchem sich Agamemnon und Achill von einander befanden, ein Abstand, den Achill selbst bei allem seinem blinden Zorne einzugestehen nicht umhin konnte. Doch nicht blos da, wo Homer mit seinen Beschreibungen dergleichen weitere Absichten verbindet, sondern auch da, wo es ihm um das bloße Bild zu thun ist, wird er dieses Bild in eine Art von Geschichte deS Gegenstandes verstreuen, um die Theile desselben, die wir in der Natur neben einander sehen, in seinem Gemälde ebenso natürlich auf einander folgen und mit dem Fluß der Rede gleichsam Schritt halten zu lassen. Z. E. er will uns den Bogen des Pandarus malen: einen Bogen von Horn von der und der Länge, wohl polirt und an beiden Spitzen mit Goldblech beschlagen. WaS thut er? Zählt er uns diese Eigen­ schaften so trocken eine nach der andern vor? Mit nichten; daS würde einen solchen Bogen angeben, vorschreiben, aber nicht malen heißen. Er fängt mit der Jagd des Steinbocks an, aus dessen Hörnern der Bogen gemacht worden; Pandarus hatte ihm in den Felsen aufgepaßt und ihn erlegt; die Hörner waren von außerordentlicher Größe, deswegen be­ stimmte er sie zu einem Bogen; sie kommen in die Arbeit, der Künstler verbindet sie, polirt sie, beschlägt sie. Und so, wie gesagt, sehen wir bei dem Dichter entstehen, waS wir bei dem Maler entstanden sehen können (II. IV. 105—111). Ich würde nicht fertig werden, wenn ich alle Exempel dieser Art ausschreiben wollte. Sie werden jedem, der seinen Homer inne hat, in Menge beifallen.

d. Naturwissenschaft. 1. Der gestirnte Himmel. Die gruppenweise so mannigfaltigen Ortsveränderungen der Gestirne, nicht die parallaktischen, der Ortsveränderung deS Beobachters unterworfenen, sondern die wirklichen, im Weltraum unausgesetzt fortschreitenden, offenbaren unS auf das unwidersprechlichste durch eine Klaffe von Erscheinungen, durch die Bewegung der Doppelsterne, durch das Maß ihrer langsameren oder schnelleren Bewegung in verschiedenen Theilen ihrer elliptischen Bahnen das Walten der Gravitaüonsgesetze auch jenseits unsers Sonnensystems, in den fernsten Regionen der Schöpfung. Die menschliche Neugier braucht nicht mehr auf diesem Felde in unbestimmten Vermuthungen, in der ungemeffenen Ideenwelt der Analogien Be­ friedigung zu suchen. Sie ist durch die Fortschritte der beobachtenden und rechnenden ilstronomie endlich auch hier auf sicheren Boden gelangt. Es ist nicht sowohl die Erstaunen rrregende Zahl der bereits aufgefundenen, um einen außer ihnen liegenden Schwerpunkt kreisenden, doppelten und vielfachen Sterne (an 2800 bis zum Jahre 1837); es sind die

Narurwissens chaft.

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Wege, und ich betrachte jetzt die Geschichte des Scepters blos als einen Kunstgriff, uns bei einem einzelnen Dinge verweilen zu machen, ohne sich in die frostige Beschreibung seiner Theile einzulasien. Auch wenn Achilles bei seinem Scepter schwört, die Geringschätzung, mit welcher ihm Agamemnon begegnet, zu rächen, giebt unS Homer die Geschichte dieses Scepters. Wir sehen ihn auf den Bergen grünen, daS Eisen trennt ihn vom Stamme, entblättert und entrindet ihn und macht ihn bequem, den Richtern des Volks zum Zeichen ihrer göttlichen Würde zu dienen (II. I. 234—239). Dem Homer war nicht sowohl daran gelegen, zwei Stäbe von verschiedener Materie und Figur zu schildern, als uns von der Verschiedenheit der Macht, deren Zeichen diese Stäbe waren, ein sinnliches Bild zu machen. Jener ein Werk deS Vulkan, dieser von einer unbekannten Hand auf den Bergen geschnitten; jener der alte Besitz eines edlen HauseS, dieser bestimmt, die erste die beste Faust zu füllen; jener von einem Monarchen über viele Inseln und über ganz Argos erstreckt, dieser von einem aus dem Mittel der Griechen geführt, dem man nebst andern die Bewahrung der Gesetze anvertraut hatte. Dieses war wirklich der Abstand, in welchem sich Agamemnon und Achill von einander befanden, ein Abstand, den Achill selbst bei allem seinem blinden Zorne einzugestehen nicht umhin konnte. Doch nicht blos da, wo Homer mit seinen Beschreibungen dergleichen weitere Absichten verbindet, sondern auch da, wo es ihm um das bloße Bild zu thun ist, wird er dieses Bild in eine Art von Geschichte deS Gegenstandes verstreuen, um die Theile desselben, die wir in der Natur neben einander sehen, in seinem Gemälde ebenso natürlich auf einander folgen und mit dem Fluß der Rede gleichsam Schritt halten zu lassen. Z. E. er will uns den Bogen des Pandarus malen: einen Bogen von Horn von der und der Länge, wohl polirt und an beiden Spitzen mit Goldblech beschlagen. WaS thut er? Zählt er uns diese Eigen­ schaften so trocken eine nach der andern vor? Mit nichten; daS würde einen solchen Bogen angeben, vorschreiben, aber nicht malen heißen. Er fängt mit der Jagd des Steinbocks an, aus dessen Hörnern der Bogen gemacht worden; Pandarus hatte ihm in den Felsen aufgepaßt und ihn erlegt; die Hörner waren von außerordentlicher Größe, deswegen be­ stimmte er sie zu einem Bogen; sie kommen in die Arbeit, der Künstler verbindet sie, polirt sie, beschlägt sie. Und so, wie gesagt, sehen wir bei dem Dichter entstehen, waS wir bei dem Maler entstanden sehen können (II. IV. 105—111). Ich würde nicht fertig werden, wenn ich alle Exempel dieser Art ausschreiben wollte. Sie werden jedem, der seinen Homer inne hat, in Menge beifallen.

d. Naturwissenschaft. 1. Der gestirnte Himmel. Die gruppenweise so mannigfaltigen Ortsveränderungen der Gestirne, nicht die parallaktischen, der Ortsveränderung deS Beobachters unterworfenen, sondern die wirklichen, im Weltraum unausgesetzt fortschreitenden, offenbaren unS auf das unwidersprechlichste durch eine Klaffe von Erscheinungen, durch die Bewegung der Doppelsterne, durch das Maß ihrer langsameren oder schnelleren Bewegung in verschiedenen Theilen ihrer elliptischen Bahnen das Walten der Gravitaüonsgesetze auch jenseits unsers Sonnensystems, in den fernsten Regionen der Schöpfung. Die menschliche Neugier braucht nicht mehr auf diesem Felde in unbestimmten Vermuthungen, in der ungemeffenen Ideenwelt der Analogien Be­ friedigung zu suchen. Sie ist durch die Fortschritte der beobachtenden und rechnenden ilstronomie endlich auch hier auf sicheren Boden gelangt. Es ist nicht sowohl die Erstaunen rrregende Zahl der bereits aufgefundenen, um einen außer ihnen liegenden Schwerpunkt kreisenden, doppelten und vielfachen Sterne (an 2800 bis zum Jahre 1837); es sind die

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Erweiterung unsers Wissens von den Grundkräften der ganzen Körperwelt, die Beweise von der allverbreiteten Herrschaft der Massenanziehung, welche zu den glänzendsten Ent­ deckungen unserer Epoche gehören. Die Umlaufszeit zweifarbiger Doppelsterne bietet die mannigfaltigsten Unterschiede dar; sie erstrecken sich von 43 Jahren, wie in 7 der Krone, bis zu mehreren Tausenden, wie bei 66 des WalfischeS, 38 der Zwillinge und 100 der Fische. Seit Herschels Messungen im Jahr 1782 hat in dem dreifachen Systeme von £ des Krebses der nähere Begleiter nun schon mehr als einen vollen Umlauf zurückgelegt. Durch geschickte Kombination der veränderten Distanzen und Posiüonswinkel werden die Elemente der Bahnen gefunden, ja Schlüsse über die absolute Entfernung der Doppelsterne von der Erde und die Vergleichung ihrer Masse mit der Masse der Sonne gezogen. Ob aber hier und in unserm Sonnensystem die Quantität der Materie das alleinige Maß der anziehenden Kräfte sei, oder ob nicht zugleich spezifische, nicht der Masse proportionale Attraktionen wirksam sein können, wie Bessel zuerst erwiesen hat, ist eine Frage, deren faktische Lösung der späteren Zukunft vorbehalten bleibt. Wenn wir in der linsenförmigen Sternenschicht, zu der wir gehören, unsre Sonne mit den andern sogenannten Fixsternen, also mit anderen selbstleuchtenden Sonnen, ver­ gleichen, so finden wir wenigstens bei einigen derselben Wege eröffnet, welche annäherungs­ weise, innerhalb gewisser äußerster Grenzen, zu der Kenntnis ihrer Entfernung, ihres Volums, ihrer Masse und der Geschwindigkeit derOrtsveranderung leiten können. Nehmen wir die Entfernung des Uranus von der Sonne zu 19 Erdweiten, d. h. zu 19 Abständen der Sonne von der Erde, an, so ist der Centralkörper unsres Planetensystems vom Sterne a im Sternbilde des Centauren 11900, von 61 im Sternbilde des Schwans fast 31300, von a im Sternbilde der Leier 41600 Uranusweiten entfernt. Die Vergleichung des Volums der Sonne mit dem Volum der Fixsterne erster Größe ist von einem äußerst un­ sicher optischen Elemente, dem scheinbaren Durchmesser der Fixsterne, abhängig. Nimmt man nun mit Herschel den scheinbaren Durchmesser des Arkturus auch nur zum zehnten Theil einer Sekunde an, so ergiebt sich daraus doch der wirkliche Durchmesser dieses Sterns noch elfmal größer als der der Sonne. Die durchBessel bekannt gewordene Entfernung des 61. Sterns des Schwans hat annäherungsweise zu der Kenntnis der Menge von körperlichen Theilen geführt, welche derselbe als Doppelstern enthalt. Ohnerachtet seit Bradleys Be­ obachtungen der durchlaufene Theil der scheinbaren Bahn noch nicht groß genug ist, um daraus mit Genauigkeit auf die wahre Bahn und den größten Halbmesser derselben schließen zu können, so ist es doch dem großen Königsberger Astronomen wahrscheinlich geworden, „daß die Masse jenes Doppelsterns nicht beträchtlich kleiner oder größer ist als die Hälfte der Masse unsrer Sonne." Dies ist das Resultat einer wirklichen Messung. Analogien, welche von der größeren Masse der mondenbegleiteten Planeten unsres Sonnensystems und von der Thatsache hergeuommen werden, daß Struve sechsmal mehr Doppelsterne unter den helleren Fixsternen als unter den teleskopischen findet, haben andere Astronomen vermuthen lassen, daß die Masse der größeren Zahl der Sternenpaare im Durchschnitt die Sonnen­ masse übertrifft. Allgemeine Resultate sind hier noch lange nicht zu erlangen. In Bezug auf eigene Bewegung int Welträume gehört unsre Sonne nach Argelander in die Klaffe der stark bewegten Fixsterne. Der Anblick des gestirnten Himmels, die relative Lage der Sterne und Nebelflecke, wie die Vertheilung ihrer Lichtmaffen, die landschaftliche Anmuth des ganzen Firmaments, wenn ich mich eines solchen Ausdrucks bedienen darf, hangen im Lauf der Jahrtausende gleichmäßig ab von der eigenen wirklichen Bewegung der Gestirne und Lichtnebel, von der Translation unsres Sonnensystems im Welträume, von dem einzelnen Auflodern neuer Sterne und dem Verschwinden oder der plötzlich geschwächten Lichtintensität der älteren, endlich und vorzüglich von den Veränderungen, welche die Erdachse durch die Anziehung der Sonne und des Mondes erleidet. Die schönen Sterne des Centaur und deS südlichen

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Kreuzes werden einst in unseren nördlichen Breiten sichtbar werden, während andere Sterne (Sirius und der Gürtel des Orion) dann niedersinken. Der ruhende Nordpol wird nach

und nach durch Sterne des Cepheus (ß unb «) und des Schwans (d) bezeichnet werden, bis nach 12000 Jahren Wega der Leier als der prachtvollste aller möglichen Polarsterne erscheinen wird. Diese Angaben versinnlichen uns die Größe von Bewegungen, welche in unendlich kleinen Zeittheilen ununterbrochen wie eine ewige Weltuhr fortschreiten. Denken wir uns, als ein Traumbild der Phantasie, die Schärfe unserer Sinne übernatürlich bis zur äußersten Grenze des teleskopischen Sehens erhöht und zusammengedrängt, was durch große Zeitabschnitte getrennt ist, so verschwindet urplötzlich alle Ruhe des räumlichen Seins. Wir finden die zahllosen Fixsterne sich wimmelnd nach verschiedenen Richtungen gruppen­ weise bewegen, Nebelflecke wie kosmische Gewölke umherziehen, sich verdichten und lösen, die Milchstraße an einzelnen Punkten aufbrechen und ihren Schleier zerreißen, Bewegung ebenso in jedem Punkte des Himmelsgewölbes walten, wie auf der Oberfläche der Erde in den keimenden, blättertreibenden, Blüten entfallenden Organismen der Pflanzendecke. Der berühmte spanische Botaniker Cavanilles hat zuerst den Gedanken gehabt, „GraS wachsen* zu sehen, indem er in einem stark vergrößernden Fernrohr den horizontalen MikrometerFaden bald auf die Spitze des Schößlings einer Bambusa, bald auf die des so schnell sich entwickelnden Blütenstengels einer amerikanischen Aloe richtete, genau, wie der Astronom den kulminirenden Stern auf das Fadenkreuz setzt. In dem Gesammtleben der physischen Natur, der organischen wie der siderischen, sind an Bewegung zugleich das Sein, die Er­ haltung und das Werden geknüpft. Die Zahl der unterscheidbaren, durch keinen Nebel unterbrochenen teleskopischen Sterne der Milchstraße wird auf 18 Millionen geschätzt. Um die Größe dieser Zahl, ich sage nicht zu fasten, aber mit etwas Analogem zu vergleichen, erinnere ich, daß von erster bis sechster Größe am ganzen Himmel nur etwa 8000 Sterne mit bloßen Augen gesehen werden. In dem unfruchtbaren Erstaunen, welches Zahl-und Naumgrößen ohne Beziehung auf die geistige Natur oder das Empfindungsvermögen des Menschen erregen, begegnen sich übrigens die Extreme des Räumlichen, die Weltkörper mit dem kleinsten Thierleben. Ein Kubikzoll des Polirschiefers von Bilin enthält nach Ehrenberg 40000 Millionen von kieselartigen Pan­ zern der Galionellen. Wenn man die im Durchschnitt uns gewiß näheren Sterne erster Größe mit den nebellosen teleskopischen, wenn man die Nebelsterne mit ganz unauflöslichen Nebelflecken, z.B. mit dem der Andromeda, oder gar mit den sogenannten planetarischen Nebeln vergleicht, so drängt sich uns bei Betrachtung so verschiedener Ferne, wie in die Schrankenlosigkeit des Raums versenkt, eine Thatsache auf, welche die Welt der Erscheinungen und das, was ihr ursachlich als Realität zum Grunde liegt, abhängig von der Fortpflanzung des LichteS zeigt. Die Geschwindigkeit dieser Fortpflanzung ist nach Struves neuesten Untersuchungen 41518 geogr. Meilen in einer Sekunde, also fast eine Million mal größer als die Geschwin­ digkeit des Schalles. Nach dem, was wir durch die Mestungen von Maclear, Beffel und Struve von den Parallaxen und Entfernungen dreier Fixsterne sehr ungleicher Größen (« Centaur, 61 Schwan, a Leier) wissen, bedarf ein Lichtstrahl 3,9l/4 oder 12 Jahre, um von diesen Weltkörpern zu uns zu gelangen. In der kurzen, denkwürdigen Periode von 1572 bis 1604, von Kornelius Gemma und Tycho bis Kepler, loderten plötzlich drei neue Sterne auf, in der Kassiopea, im Schwan und am Fuß deö Schlangenträgers. Dieselbe Erscheinung, aber mehrfach wiederkehrend, zeigte sich 1670 im Sternbild des Fuchses. In der neuesten Zeit, seit 1837, hat Sir John Herschel am Vorgebirge der guten Hoffnung den Glanz des Sternes ij im Schiffe Solche Begebenheiten Zeiten an als denen, kündigt; sie sind wie

von der zweiten Größe bis zur ersten prachtvoll anwachsen sehen. des Weltraums gehören aber in ihrer historischen Wirklichkeit anderen in welchen die Lichterscheinung den Erdbewohnern ihren Anfang ver­ Stimmen der Vergangenheit, die urt? erreichen. Man hat mit Recht

Dielitz u. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur. 2. Ausl.

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gesagt, daß wir mit unsern großen Fernrohren gleichzeitig vordringen in den Raum und in die Zeit. Wir messen jenen durch diese; eine Stunde Weges sind für den Lichtstrahl 148 Millionen Meilen. Während in der Hesiodischen Theogonie die Dimensionen des Weltalls durch den Fall der Körper auSgedrückt werden („nicht mehr als neun Tage und neun Nächte fällt der eherne Amboß vom Himmel zur Erde herab"), glaubte Herschel der Vater, daß daS Licht fast zwei Millionen Jahre brauche, um von den fernsten Lichtnebeln, die sein 40füßiger Refraktor erreichte, zu uns zu gelangen. Vieles ist also längst verschwunden, ehe es unS sichtbar wird; vieles war anders geordnet. Der Anblick deS gestirnten Himmels bietet Ungleichzeitiges dar; und so viel man auch den milde leuchtenden Duft der Nebelflecke oder die dämmernd aufglimrnenden Sternhaufen uns näher rücken und die Tausende von Jahren vermindern will, welche als Maß der Entfernung gelten, immer bleibt es nach der Kenntnis, die wir von der Geschwindigkeit des LichtS haben, mehr als wahrscheinlich, daß das Licht der fernen Weltkörper das älteste sinnliche Zeugnis von dem Dasein der Materie darbietet. So erhebt sich, auf einfache Prämiffen gestützt, der reflektirende Mensch zu ernsten, höheren Ansichten der Naturgebilde da, wo in den tief vom Licht durchströmten Gefilden

„Wie Gras der Nacht Myriaden Welten keimen." Aus A. v. Humboldts Kosmos.

2. Die Schwefelsäure. Man kann als die Grundlage unserer heutigen Industrie die Aussetzung eines Preises von einer Million Franken betrachten, welcher von der französischen Regierung unter Napoleon auf die Entdeckung eines einfachen Verfahrens, Soda aus Kochsalz zu gewinnen, ausgesetzt wurde. Die Soda oder ihr Hauptbestandtheil, das Natron, dient in Frankreich seit undenk­ lichen Zeiten zur Bereitung der Seife und deS Glases, zweier Produkte der chemischen In­ dustrie, durch welche an und für sich schon sehr große Kapitalien in Bewegung gesetzt werden. Die Seife ist ein Maßstab für den Wohlstand und die Kultur der Staaten. Diesen Rang werden ihr freilich die Nationalökonomen nicht zuerkennen wollen; allein nehme man eS im Scherz oder Ernst, so viel ist gewiß, man kann bei Vergleichung zweier Staaten von gleicher Einwohnerzahl mit positiver Gewißheit denjenigen für den reicheren, wohlhabenderen und kultivirteren erklären, welcher die meiste Seife verbraucht; denn der Verkauf und Ver­ brauch derselben hängt nicht von der Mode, nicht von dem Kitzel des Gaumens ab, sondern von dem Gefühl des Schönen, des Wohlseins, der Behaglichkeit, welches aus der Reinlichkeit entspringt. Wo dieser Sinn neben den Anforderungen anderer Sinne berücksichtigt und genährt wird, da ist Wohlstand und Kultur zugleich. Die Neichen deö Mittelalters, welche mit wohlriechenden kostbaren Spezereien die üble Ausdünstung ihrer Haut und Kleider, die niemals mit Seife in Berührung kamen, zu ersticken wußten, trieben im Essen und Trinken, in Kleidern und Pferden größeren Luxus als wir; aber welche Kluft bis zu uns, wo Schmutz und Unreinlichkeit gleichbedeutend sind mit Elend und dem unerträglichen Mißgeschick! Die Seife gehört endlich zu denjenigen Produkten, deren Kapitalwerth unausgesetzt aus der Cirkulation verschwindet und wieder erneuert werden muß; es ist eins der wenigen Pro­ dukte der Industrie, welche nach dem Gebrauch wie Talg und Öl, die man als Erleuchtungs­

mittel verbrennt, absolut werthlos werden. Mit alten Glasscherben kann man Fensterscheiben und mit Lumpen Kleider kaufen, mit Seifenwasier läßt sich aber nichts anfangen. Eine AuSmittelung des Kapitals, welches durch die Seifensiederei im Umlauf erhalten wird, wäre von großem Interesse; denn es ist sicher ebenso bedeutend, als was im Kaffeehandel cirkulirt, mit dem Unterschiede, daß das Kapital der Seifenfabrikation auf unserm Grund und Boden entsteht. Für Soda allein gingen von Frankreich aus jährlich 20 bis 30 Millionen Franken nach Spanien, denn die spanische Soda war die beste. Der Preis der Seife und des Glases

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stieg während der Kriege mit England beständig; alle Fabrikationen litten darunter. Das heutige Verfahren der Darstellung der Soda aus Kochsalz, welches Frankreich bereicherte, wurde damals von Le Blanc entdeckt; allein den großen Preis erhielt er nicht, die Restauration kam dazwischen, sie erkannte die Schuld nicht an, man hatte dringendere Schulden zu bezahlen, und so verjährte sie dann. In ganz kurzer Zeit nahm die Soda­ fabrikation in Frankreich einen ungewöhnlichen Aufschwung, in dem größten Maßstab ent­ wickelte sie fid) an dem Sitz der Seifenfabrikation. Marseille besaß, wiewohl nur auf kurze Zeit, das Monopol der Seife- und Sodafabrikation zugleich. Der Haß einer er­ bitterten Bevölkerung, die ihre Haupterwerbsquelle, den Sodahandel, unter Napoleon eingebüßt hatte, kam durch eine seltene Vereinigung von Umständen der nachfolgenden Regierung zu gut. Um daS Kochsalz in kohlensaures Natron überzuführen, muß es, dies ist der Gang der Fabrikation, vorher in Glaubersalz (schwefelsaures Natron) verwandelt werden; hierzu sind auf 100 Pfund Kochsalz im Durchschnitt 80 Pfund konzentrirte Schwefelsäure er­ forderlich. Man sieht wohl ein, nachdem der Preis des Kochsalzes auf ein Minimum reduzirt war, wozu sich die Negierung aufö bereitwilligste entschloß, wurde der Preis der Soda abhängig von dem der Schwefelsäure. Die Nachfrage nach Schwefelsäure stieg iuS ungeheure; von allen Seiten stossen die Kapitalien diesem gewinnreichen Gewerbszweige zu, die Entstehung und Bildung der Schwefelsäure wurde auf das genaueste studirt, man kam von Jahr zu Jahr auf besiere, einfachere und wohlfeilere Gewinnungsmethoden. Mit jeder neuen Verbesserung siel der Preis der Schwefelsäure, und ihr Absatz nahm im näm­ lichen Verhältnis zu. Die Gefäße, worin man die Schwefelsäure darstellt, sind von Blei, ihr Umfang ist jetzt so gewachsen, daß man in eins dieser Gefäße (Bleikammer) ganz be­ quem ein mäßig großes zweistöckiges Hans stellen kann. Was das Verfahren und die Apparate betrifft, so hat die Schwefelsäurefabrikation ihren Kulminationspunkt erreicht, sie kann kaum weiter verbessert werden. Das Lothen der Bleiplatten mit Blei (Zinn und gemischte Lothe würden zerfressen werden) kostete früher beinahe so viel wie die Platten selbst; jetzt, wo man sich des Knallgasgebläses dazu bedient, können zwei Platten mit ein­ ander durch ein Kind verbunden werden. Aus 100 Pfund Schwefel kann man der Rech­ nung nach nur 306 Pfund Schwefelsäure darstellen: man gewinnt 300 Pfund; man sieht, der Verlust ist nicht der Rede werth. Nebst dem Schwefel hatte früher auf den Preis der Schwefelsäure einen Haupteinstuß der zu dieser Fabrikation unentbehrliche Salpeter. Mau brauchte freilich auf zehn Gentner Schwefel nur einen Gentner Salpeter; allein der letztere kostete viermal so viel als ein gleiches Gewicht Schwefel. Auch dies hat sich geändert. Reisende hatten in Peru in dem Distrikt von Atakama in der Nähe deö kleinen Hafenplatzes Nquique mächtige Salzauswit­ terungen entdeckt, als deren Hauptbestandtheil die chemische Analyse salpetersaures Natron nachgewiesen hatte; der Handel, der mit seinen Polypenarmen die Erde umstrickt und überall neue Quellen des Erwerbs für die Industrie eröffnet, bemächtigte sich dieser Entdeckung; die Vorräthe dieses kostbaren Salzes erwiesen sich als unerschöpflich, man fand Lager von mehr als vierzig Quadratmeilen Ausdehnung, eö wurden Massen davon zu Preisen nach Europa gebracht, welche noch nicht die halben Frachtkosten des indischen Salpeters (Kali­ salpeters) erreichten, und da in der chemischen Fabrikation weder das Kali, noch das Natron, sondern nur die damit verbundene Salpetersäure in Anschlag kam, so verdrängte in un­ glaublich kurzer Zeit der Ghilisalpeter den indischen oder Kalisalpeter so gut wie ganz aus dem Handel. Die Schwefelsäurefabrikation gewann einen neuen Aufschwung; ohne Nach­ theil für den Fabrikanten sank ihr Preis fortdauernd; jetzt ist derselbe so gut wie stationär geworden, nachdem die unterdrückte Schwefelausfuhr aus Sicilien ihn für einige Zeit im Schwanken erhalten hatte. Die verminderte Nachfrage nach Salpeter erklärt sich jetzt leicht: nur zur Pulverfabrikation wird jetzt noch Salpeter verwendet, und wenn die Regierungen

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Hunderttausende an dem Preise des Pulvers ersparen, so verdanken sie dies der Schwefelsäurefabrikaüon. Um sich eine Vorstellung über den Verbrauch der Schwefelsaure zu machen, reicht es hin zu erwähnen, daß eine kleine Schwefelsäurefabrik 5000 Centner, eine mäßig große 20000 Centner Schwefelsäure in den Handel bringt) es giebt Fabriken, welche 60000 Centner jährlich produziren. Durch die Schwefelsäurefabrikation fließen ungeheure Summen nach Sicilien, sie brachte in die öden Gegenden Atakamas Gewerbfleiß und Wohlstand, sie ist es, welche die Platingewinnung in Rußland gewinnreich macht) denn die Konzentrations­ gefäße der Schwefelfabrikanten sind von Platin, und ein jeder Kessel kostet 10- bis 20000 Gulden; das immer schönere und wohlfeilere Glas, unsere vortreffliche Seife, sie werden heutzutage nicht mehr mit Asche, sondern mit Soda dargestellt. Unsere Asche fließt als der kostbarste und nützlichste Dünger unsern Feldern und Wiesen zu. Es ist unmöglich, alle Fäden dieses wunderbaren Gewebes der Industrie im einzelnen zu verfolgen, allein es sollen einige der unmittelbaren weitern Folgen der Entwicklung der chemischen Gewerbe hier noch erwähnt werden. Es ist berührt worden, daß das Kochsalz in Glaubersalz verwandelt werden muß, ehe es zur Natronfabrikation verwendet werden kann; durch die geeignete Behandlung mit Schwefelsäure erhält man daraus Glaubersalz, und man gewinnt hierbei als Nebenprodukt das anderthalbfache bis doppelte Gewicht der Schwefel­ säure an rauchender Salzsäure, eine Quantität im ganzen, die ins Ungeheure steigt. In der ersten Zeit war die Fabrikation der Soda so gewinnreich, daß man sich gar nicht die Mühe gab, die Salzsäure aufzufangen) sie besaß keinen Handelswerth) einer Menge nütz­ licher Anwendungen fähig, änderte sich dies Verhältnis bald. — Die Salzsäure ist eine Chlorverbindung; aus keinem Material läßt sich reineres und wohlfeileres Chlor darstellen wie aus Salzsäure. Die Anwendbarkeit des Chlors zum Bleichen der Zeuge war längst bekannt, aber im Großen niemals in Ausführung gebracht worden. Man fing an, die Salzsäure in der Form von Chlor zum Bleichen der Baumwollenstoffe zu benutzen, man lernte das Chlor durch Verbindung mit Kalk in eine auf weite Strecken hin versendbare Form bringen) ein neuer, höchst einflußreicher Erwerbszweig erhob sich, und kaum möchte sich in England ohne den Bleichkalk die Fabrikation der Baumwollenzeuge auf die so außer­ ordentliche Höhe erhoben haben, auf der wir sie kennen; auf die Dauer hin konnte dieses Land mit Deutschland und Frankreich in dem Preis der Baumwollenstoffe nicht konkurriren, wäre es auf die Rasenbleiche beschränkt und angewiesen geblieben. Zur Rasenbleiche gehört vor allen Dingen Land und zwar gut gelegene Wiesen; jedes Stück Zeug muß in den Sommermonaten der Luft und dem Licht ausgesetzt, es muß durch Arbeiter unaufhörlich feucht erhalten werden. Eine einzige, nicht sehr bedeutende Bleicherei in der Nähe Glasgows bleicht täglich 1400 Stücke Baumwollenzeug Sommer und Winter hindurch. Um diese kolossale Anzahl von Stücken Zeug, die diese einzige Bleicherei den Fabrikanten jährlich liefert, fertig zu bringen, welches ungeheure Kapital würde in der Nähe der volkreichen Stadt zum Ankauf des Grundes und Bodens gehören, den man nöthig hätte, um diesem Zeug zur Unterlage zu dienen! Die Zinsen dieses Kapitals würden einen sehr merklichen Einfluß auf den Preis des Stoffes haben, ein Einfluß, der in Deutschland kaum fühlbar wäre. Mit Hülfe des Bleichkalks bleicht man die Baumwollzeuge in wenigen Stunden mit außerordentlich geringen Kosten, und in den Händen geschickter und intelligenter Menschen leiden die Zeuge hierdurch weit weniger als durch die Rasenbleiche. Jetzt schon bleichen die Bauern im Odenwalde mit Bleichkalk und finden ihren Vortheil dabei. So dient die wohlfeile Salzsäure unter anderm, wer sollte es sich denken, zur Fabrika­ tion des Leims aus Knochen, welche im Durchschnitt 30 bis 36 Prozent davon enthalten. Knochenerde (phosphorsaurer Kalk) und Leim sind die Bestandtheile der Knochen; die erstere ist in schwacher Salzsäure leicht löslich, der Leim wird davon nicht merklich angegriffen. Man läßt die Knochen in schwacher Salzsäure so lange stehen, bis sie durchscheinend und

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biegsam

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wie das geschmeidigste Leder werden; von aller anhängenden Salzsäure durch sorg­ fältiges Waschen befreit, hat man jetzt Stücke Leim von der Form der Knochen, die ohne weiteres, in heißem Wasser gelöst, zu allen Anwendungen tauglich sind. Eine höchst wichtige Anwendung der Schwefelsäure kann hier nicht unerwähnt ge­ lassen werden; es ist die zum Affiniren des Silbers und zur Gewinnung des im Silber nie fehlenden Goldes. Unter dem Prozeß des Affinirens versteht man bekanntlich die Rein­ darstellung des Silbers, seine Scheidung nämlich von Kupfer. Wir erhalten aus den Bergwerken 8- bis 1 (Nöthiges Silber, welches in 16 Lothen (1 Mark) also 6 bis 8 Loth Kupfer enthält. Unser Münz- und Werksilber enthält in der Mark 12 bis 13 Loth Silber, was in den Münzstätten durch Legirung von bergfeinem Silber mit Kupfer in dem be­ stimmten Verhältnis dargestellt wird. Das Rohsilber muß zu diesem Zweck in bergfeines verwandelt, affinirt werden. Früher geschah dies durch den Saigerungsprozeß und durch das Abtreiben mit Blei; es war dazu ein Kostenaufwand nöthig, der für 100 Mark Silber etwa 20 Gulden betrug. In dem auf diese Weise gereinigten Silber blieb aber 71200 bis 1/2000 zurück, dessen Scheidung durch die Quart die Kosten nicht lohnte; dieses Gold zirkulirte in unsern Münzen und Geräthen völlig werthlos, und der größte Theil des Kupfers ging für den Besitzer des Rohsilbers gänzlich verloren. Diese Verhält­ nisse haben sich jetzt auf eine überraschende Weise geändert. Das Tausendstel Gold im Rohsilber macht nämlich etwas mehr als 11 /2 Prozent vom Silberwerth aus, was nicht allein die Kosten des Affineurs deckt, sondern ihm auch noch einen erklecklichen Gewinn ge-. währt. So tritt denn der sonderbare Fall ein, daß wir dem Affineur Rohsilber geben, für welches er uns den durch die Probe genau ausgemittelten Gehalt an feinem Silber, so wie das Kupfer wieder liefert, ohne daß wir ihm für seine Arbeit scheinbar etwas be­ zahlen : er ist bezahlt durch den Goldgehalt unseres Silbers, den er zurückbehält. Die Affinirung des Silbers nach dem neuen Verfahren ist eine der schönsten chemischen Opera­ tionen. Das granulirte Metall wird in konzentrirter Schwefelsäure gekocht, wo sich Silber und Kupfer auflösen, während alles Gold als schwarzes Pulver beinahe rein zurückbleibt. Die Auflösung enthält Silber- und Kupfervitriol. Man bringt sie in Tröge von Blei, wo sie mit altem Kupfer in Berührung gelassen wird. Eine Folge davon ist, daß sich das auf­ gelöste Silber völlig rein und vollkommen ausscheidet, während von dem Kupfer eine gewisse Portion in Auflösung tritt; man hat also zu Ende der Operation reines metallisches Silber­ und Kupfervitriol, das zur Darstellung grüner und blauer Farben dient und einen beträcht­ lichen Handelswerth besitzt. Es würde die Grenze dieser Skizze überschreiten, wenn man alle Anwendungen der Schwefelsäure, der Salzsäure und des Natrons hier in ihren äußersten Verzweigungen verfolgen wollte; allein kaum dürfte man vermuthen, daß die so schönen Stearinsäure­ kerzen, unsere so wohlfeilen Phosphorfeuerzeuge (die vortrefflichen Reibzündhölzchen) je in Gebrauch gekommen sein würden ohne die so außerordentliche Vervollkommnung der Schwefelsäurefabrikation. Die jetzigen Preise der Schwefelsäure, Salzsäure, Salpetersäure, der Soda, des Phosphors rc. würde man vor 25 Jahren für fabelhaft erklärt haben; wer kann voraussehen, welche neue Fabrikationen wir in weiteren 25 Jahren erhalten werden! Man wird nach dem Vorhergehenden die Behauptung nicht für übertrieben halten, daß die chemische Industrie eines Landes mit großer Genauigkeit nach der Anzahl von Pfunden Schwefelsäure beurtheilt werden kann, die man in diesem Lande verbraucht. In dieser Beziehung giebt es keine Fabrikation, welche von Seite der Regierungen einer größeren Beachtung verdient. Daß England sich zu so extremen Schritten gegen Neapel wegen des Schwefelhandels entschloß, lag ganz einfach in dem Druck, den die gesteigerten Schwefelpreise auf die Preise der gebleichten und gedruckten Baumwollzeuge, der Seife und des Glases ausübten. Wenn man erwägt, daß England zum Theil Amerika, Spa­ nien, Portugal, den Orient und Indien mit Glas und Seife versieht, daß es dagegen

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Baumwolle, Seide, Wem, Rosinen, Korinthen und Indigo eintauscht, daß zuletzt der Sitz der Regierung, London, der Hauptstapelplatz für den Handel mit Wein und Seide ist, so wird man die Bemühungen der englischen Regierung um die Aushebung des Monopols des Schwefelhandelö erklärlich finden. Es war die Zeit für Sicilien, daß ein seinen wahren Interessen so entgegengesetztes Verhältnis so bald ausgeglichen wurde; denn hätte eS einige Jahre länger gedauert, so wäre sein ganzer Reichthum an Schwefel für das Königreich höchst wahrscheinlich völlig werthloS geworden. Wissenschaft und Industrie bilden heutzutage eine Macht,' die von Hindernissen nichts weiß. Aufmerksame Beobachter konnten leicht den Zeitpunkt bestimmen, wo die Ausfuhr deS Schwefels aus Sicilien aufhören mußte. Es sind in England 15 Patente genommen worden auf Verfahrungsweiseu, mit den Schwefel bei der Sodafabrikation wieder zu gewinnen, und um ihn rückwärts wieder in Schwefelsäure zu verwandeln. Vor dem Schwefelmonopol dachte niemand an eine Wiedergewinnung; die Vervollkomm­ nung dieser 15 gelungenen Versuche wäre sicher nicht ausgeblieben, und die Rückwirkung auf den Schwefelhandel muß auch dem Befangensten einleuchtend sein. Wir besitzen Berge von Schwefelsäure im Gips und Schwerspath, von Schwefel im Bleiglanz, im Schwefel­ kies; mit den steigenden Schwefelpreisen kam man darauf, den Schwefel dieser Natur­ produkte für den Handel zu gewinnen; man stellte sich die Ausmittelung deö wohlfeilsten Weges zur Aufgabe, um diese Materien für die Schwefelsäurefabrikation tauglich zu machen. Tausende von Centnern Schwefelsäure wurden bei den hohen Schweselpreisen aus Schwe­ felkies gewonnen; man würde dahin gelangt sein, die Schwefelsäure aus dem Gips zu ziehen, freilich nicht ohne viele Hindernisse zu besiegen, allein sie würden überwunden worden sein. Der Impuls ist jetzt gegeben, die Möglichkeit des Gelingens dargethan; wer weiß, welche schlimmen Folgen sich aus einer unvernünftigen Finanzspekulation für Neapel in wenigen Jahren entwickeln werden! Es mag ihm leicht gehen wie Rußland, das sich durch sein Prohibitivsystem mit seinen Handel mit Talg und Pottasche ganz und gar ge­ bracht hat. Nur durch die Noth gezwungen, kauft man Waaren in einem Lande, welches unsere eigenen Waaren von seinem Verkehr ausschließt. Anstalt hnnderttausende von Centnern Talg und Hanföl verbraucht jetzt England hunderttausende von Centnern Palm­ butter und Kokosöl, die es nicht von Rußland erhält. Die Aufstände der Arbeiter gegen die Fabrikbesitzer des hvhern Taglohus wegen haben zu den bewundernswürdigen Ma­ schinen geführt, durch die sie entbehrlich wurden. So straft sich im Handel und in der Industrie jede Unklugheit von selbst, und jeder Druck, jede Sperrung deö Verkehrs wirkt auf daö Land am fühlbarsten zurück, von dem sie ausgehl. Liebig.

3. Der Instinkt. In keiner Thierklafse zeigt sich der Instinkt so mannigfach modisizirt, so wunderbar in seinen Wirkungen, wie in der Jnsektenwelt. Es sind viele und treffliche Werke über die Instinkte der Insekten geschrieben, und es haben geistvolle Naturforscher, wie die beiden Huber, ihr ganzes Leben der Beobachtung von den Trieben der Bienen und der Ameisen gewidmet. Es kann also nicht die Rede davon sein, daß ich diesen reichhaltigen Gegen­ stand hier erschöpfe; ich will nur mit einigen Pinselstrichen zu zeigen versuchen, wie und warum ich diese Triebe für etwas Ursprüngliches, d. h. nicht aus der Körperbeschaffenheit Hervorgehendes, sondern über ihr Stehendes halte. Nur auf ein paar der geläufigsten Beispiele will ich mich berufen. Die Mücke lebt in ihren Jugendzuständen nur im Wasser und kann nur im Wasser leben, da ihre ganze Organisation nur für dieses Element ein­ gerichtet ist und ihre Nahrung nur int Wasser sich findet. Sie bekommt aber bei der letzten Verwandlung Flügel, einen langen Saugestachel und Luftröhren, die an der Seite des Leibes sich öffnen. Jetzt erhebt sie sich in die Luft und scheut das Wasser; denn

Naturwissenschaft.

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jetzt würde sie im Waffer bald ersticken. Sobald aber im Weibchen die Eier völlig reif sind, sucht dieses wieder das Waffer, in das sie sich nicht versenken darf, ohne zu verderben. Vorsichtig sucht sie daher ein schwimmendes Blättchen oder einen überhängenden Grashalm, um, darauf ruhend, ihre Eier in das Waffer fallen zu laffen. Das Männchen fühlt den Trieb nicht, das Waffer aufzusuchen. Ist nicht der Trieb hier offenbar eine Ergänzung des LebensprozeffeS? Der Lebensprozeß der Mücke hat ein Thier hervorgebracht, welches sein Leben im Waffer beginnt und in der Luft beschließt; damit dieser in den neugebildeten Keimen wieder beginnen könne, müssen diese ins Waffer gelegt werden. Diese Nöthigung, welche den Willen der weiblichen Mücke im entscheidenden Momente bindet, die wir, Instinkt zu nennen, uns gewöhnt haben, ist also wohl eine Ergänzung des LebensprozeffeS. So in tausend andern Fällen. Der Schmetterling benutzt seine Flügel und seinen Säug­ rüssel, um auö den Blumen Honigsaft aufzusaugen; aber wenn er seine Eier zu legen hat, muß er mit Hülfe derselben Flügelbewegungen diejenigen grünen Pflanzeutheile aufsuchen, von denen die aus den Eiern kriechenden Raupen sich nähren können, um an diese seine Eier zu legen. Die Stubenfliege, eine mehr unbequeme als theure Kostgängerin, nascht am liebsten von den süßen Speisen unserer Tafeln wie ein verwöhntes Kind; wenn aber die Zeit gekommen ist, daß sie gebären soll, so muß sie die schmutzigsten Örter auf­

suchen, weil nur an solchen ihre Brut gedeihen kann. Werfen wir noch einen Blick auf die wunderbaren Verhältnisse des Bienenstaates. Ein einziges Individuum, die sogenannte Königin, ist vollkommen weiblich organisirt, um Eier legen zu können. Sie legt sie aber zu mehreren Hunderten an einem Tage. Nun bedürfen aber die Larven, die aus diesen Eiern kriechen, zur Nahrung des Honigs, den sie aus den Blumen nicht selbst sammeln können, da sie weder Flügel, noch Füße haben. Die Königin hat auch nicht Zeit dazu, sie legt immerfort Eier. Dafür sind nun aber in großer Zahl die Arbeitsbienen da, treue Dienerinnen des Hauses, welches so zahlreich bewohnt ist, daß man es mit Recht einen Staat genannt hat. Selbst unfähig zu erzeugen, kennen sie neben der eigenen Ernährung keine andere Freude, als für die kommende Generation zu sorgen. Für diese bauen sie Zellen aus Wachs, für diese sammeln sie Vorräthe von Honig. Sie füttern die aus­ wachsende Brut und verschließen ihre Zellen mit Dächern, wenn die Umwandlung der Larven beginnt. Aber alle diese aufopfernde Thätigkeit besteht nur so lange, als eine Königin da ist oder Brut, aus der eine Königin bald werden kann. Wird die Königin dem Stocke genommen, und fehlt die Hoffnung, sie bald ersetzt zu sehen, so hört der Zellenbau und das geregelte Einsammeln des Honigs ans. Es ist ja auch nicht mehr nöthig; denn es werden keine Eier mehr gelegt. Allerdings sehen diese und ähnliche Äußerungen des Instinktes so aus, als ob ihnen Einsichten in die Naturverhältniffe zu Grunde lägen. Doch ist es unmöglich, der Meinung sich hinzugeben, daß diese Einsicht in den Bienen liege. Wir finden selbst bei solchen Thieren, die dem Menschen am ähnlichsten sind, deren Hirn fast den Bau des menschlichen hat, bei den nngeschwänzten Affen, noch so wenig Einsicht in die Naturverhältniffe oder so wenig Urtheil, daß sie wohl an einem von Menschen augemachten Feuer sich wärmen, aber, wenn eS ausgeht, davonlaufen und nicht darauf fallen, neues Holz herbeizutragen. Die dem Menschen ähnlichsten Affen haben also noch nicht einmal die erste Erfindung

machen können, welche daS Menschengeschlecht vor allen andern machen mußte und überall gemacht hat. Wie unwahrscheinlich ist es, daß Insekten mit so wenig ausgebildetem Hirn so umsichtiger Kombinationen fähig sein sollten! Überdies sieht man bei ziemlich ähnlichen

Insekten, denen aber eine etwas verschiedene Entwickelung zukommt, daß die eine Form einen Instinkt offenbart, der für die Erhaltung dieser Art nothwendig ist, die andere aber, die solchen Instinktes nicht bedarf, auch ohne scheinbare Regungen deS Denkvermögens bleibt. Deshalb erscheint mir der Instinkt als Ergänzung des LebensprozeffeS. Den Lebens-

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Wissenschaftliche Prosa.

Prozeß aber halten wir- nicht für ein Resultat des organischen Baues, sondern für den Rhythmus, gleichsam die Melodie, nach welcher der organische Körper sich aufbaut und umbaut. Allerdings müssen im Organismus die Mittel sich finden, durch welche die ein­ zelnen Verrichtungen des Lebensprozesses sich äußern können. Aber aus ihnen wird nicht der Lebensprozeß, sonst müßte ihm die Einheit fehlen. In einem Klavier, auf dem man soeben eine Melodie abgespielt hat, müssen allerdings die verschiedenen Saiten sich finden, durch welche man die einzelnen Töne hörbar machen kann; deswegen hat aber doch das Klavier die Arie nicht abgespielt, die wir von ihm hörten; es kann auch ganz andere Arien oder musikalische Gedanken hören lassen. In den Organismen sind aber die einzelnen Theile derselben nach dem Typus und Rhythmus des zugehörigen Lebensprozesses und durch dessen Wirksamkeit gebaut, sodaß sie einem andern Lebensprozesse nicht dienen können. Deswegen glaube ich die verschiedenen Lebensprozesse, mit musikalischen Gedanken oder Thematen sie vergleichend, Schöpfungs­ gedanken nennen zu können, die sich ihre Leiber selbst aufbauen. Was wir in der Musik Harmonie und Melodie nennen, ist hier Typus (Zusammensein der Theile) und Rhythmus (Aufeinanderfolge der Bildungen). Daß diese Gedanken ihre Verkörperung als ihren Leib selbst ausbauen, ist schon ein Grad von Selbständigkeit. Ein höherer ist der, wenn sie ein Gefühl von sich selbst und von der Außenwelt, als verschieden von ihrem Selbst, bekommen und die Möglichkeit, auf diese zu wirken, oder den Willen. Aber der Wille ist noch nicht frei, am wenigsten bei den niedern Thieren. Eine Nöthigung wirkt auf ihn, die sie drängt, für Erhaltung ihres Selbst und ihrer Art zu sorgen. Diese Nöthigung ist es, die wir Instinkt nennen. Die jungen Fische und Amphibien sind, wenn sie aus dem Ei schlüpfen, schon fähig, sich Nahrung zu suchen. Der Instinkt der Mutter geht auch nur so weit, die Eier an den für ihre Entwickelung passenden Ort zu bringen. Die Eier der Vögel bedürfen der Er­ wärmung, um ausgebrütet zu werden, und die ausgekrochenen Jungen müssen noch einige Zeit gefüttert werden. Den Vögeln gab die Natur den Instinkt des Nestbaues, des Brütens und der Mutterliebe, um zu vervollständigen, was dem physischen Lebensprozesse für die Fortpflanzung fehlt. Bei den Säugethieren werden die Jungen im Leibe der Mütter erwärmt und ausgebrütet. Der Instinkt des Nestbaues und des äußeren Brütens ist also überflüssig und fehlt auch. Aber der Nahrungsstoff für die Neugebornen bildet sich in der Brust der Mutter. Damit sie diesen Stoff darreiche, war die Liebe zu den Jungen nothwendig, und sie ist auch da und um so lebhafter, je hülfloser das Junge ohne die Mutter wäre. Der Mensch, der am selbständigsten entwickelte Gedanke der irdischen Schöpfung, hat von allen thierischen Instinkten wenig mehr als die Mutterliebe behalten. Sein Wille ist frei von dem Müssen oder von dem Zwange, der auf dem Willen der Thiere ruht. Dagegen fühlt er in sich ein Sollen, d. h. einen Ruf zu Verpflichtungen, die sich als Gewissen oder als Verpflichtung gegen andere und als Glaube oder als Ruf zu dem all­ gemeinen Quell des Daseins offenbaren. Ich meine diese höchsten Vorzüge des Menschen nicht zu entweihen, wenn ich sie die höchsten Formen des Instinktes nenne. Didse Gefühle sind es, durch welche das Menschengeschlecht sich ausgebildet, sich veredelt hat. Die thierischen Instinkte dienen nur zur Erhaltung der Arten, nicht zur Veredlung derselben. Darum ermangeln die Thiere des Fortschrittes. Ist diese Zusammenstellung eine richtige, wie es mir scheint, dann ist auch der Instinkt ein Ausfluß aus dem Weltganzen und nicht aus körperlichen Verhältnissen hervorgegangen. Die Einsicht, die ihm zu Grunde zu liegen scheint, ist nicht die Einsicht der Thiere, sondern eine Nöthigung, die eine höhere Einsicht ihnen auferlegt hat. Aus Baers Vorles. über die Auffassung der lebenden Natur.

Geistliche Beredsamkeit.

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III. Pie oratorische Arosa. a. Geistliche Beredsamkeit. 1. Betrachtungen über den gestirnten Himmel. Alles in der Natur ist lehrreich, das Leblose wie daS Lebendige, daS Kleine wie das Große, die Theile wie das Ganze. Alles verkündigt uns die Größe Gottes; alles er­ innert uns an unsere Bestimmung und an unsere Pflichten. Alles ist Stimme unseres Balers im Himmel, der uns, seine Kinder, gleichsam an der Hand führet, uns seine Werke zeigt, uns dadurch zum Nachdenken erweckt und zur Weisheit und Glückseligkeit leitet. Jeder Stein, jede Pflanze, jedes Thier, jeder Mensch ist ein Herold seiner Weis­ heit, seiner Macht und Güte, ein Wegweiser zu dem, der alles erschaffen hat und alles erhält und regiert, und in welchem wir alle sind und leben und wirken. Ja, alles, was uns umgiebt, ist Lehre, Erinnerung, Warnung, Ermunterung, Trost für den, der Augen zu sehen und Ohren zu hören und ein Herz zu empfinden hat. Inzwischen ist wohl unter allem, was wir sehen können, nichts, was den Geist mehr erhebt und ihn auf einmal mit mehreren und größeren Gedanken und Empfindungen, soll ich sagen bestürmt oder durch­ strömt, als der Anblick des gestirnten Himmels. Wer da ungerührt und unempfindlich bleibt, da nicht die Stimme des Schöpfers und Vaters der Natur vernimmt, da nicht die Spuren der höchsten Macht und Weisheit entdeckt und sich in der Bewunderung derselben nicht verliert, der steht noch auf der untersten Stufe der Menschheit, nicht weit über die Thiere des Feldes erhoben. Höre denn die Stimme des gestirnten Himmels, o Mensch! Er ruft dir zu: Bete Gottes Größe und Herrlichkeit an. Und wie könntest du ihn, den Ewigen, den Unend­ lichen, den Allmächtigen, den Höchstweisen, den Allgütigen, in diesen seinen Werken ver­ kennen! Welche Werke! Wer kann ihre Menge, ihr zahlloses Heer übersehen; wer ihre Größe und ihre Entfernung ausmeffen; wer ihre Ordnung, ihre Verbindung, ihre Bewe­ gung , ihren wohlthätigen Einfluß in die Glückseligkeit aller lebendigen und empfindenden Wesen beschreiben? Wo ist hier Anfang, wo Mittelpunkt, wo Ende? Der Himmel umgiebt dich ganz, o Mensch! Von jeder Seite des Erdballs, den du bewohnst, vom Anfänge und vom Niedergänge, von dem Mittage und der Mitternacht zeiget sich dir ein neues, unzähl­ bares Heer von Sternen, von Sonnen und Welten. Schon mit deinem Auge erblickst du ihrer mehr, als du zählen kannst; von allen Seiten drängen sich aus den entferntesten Gegenden des unermeßlichen Ganzen Lichtstrahlen in dein Auge, und wenn du dasselbe mit den Werkzeugen der Kunst bewaffnest, so siehst du da Millionen leuchtende Körper, wo du erst nur einen blassen Schimmer erblicktest. Und wenn du dich mit deinem Geiste von einem Sterne zum andern, von einer Sonne zur andern erhebst und von da aus den gestirnten Himmel betrachtest: wann wirst du aufhören, neue Schauplätze von Wundern zu entdecken? wo die Grenzen der Werke deS Unendlichen finden? Vielleicht haben Millionen von diesen leuchtenden Körpern, deren Lichtstrahlen vom Anfänge der Schöpfung her mit unbegreiflicher Geschwindigkeit nach deinem Auge hinströmen, den Weg zu demselben in Jahrtausenden noch nicht ganz zurückgelegt! Und nun denke an die noch weit zahlloseren dunklen Körper, um deretwillen diese Quellen des Lichts und des Lebens da sind, und die du, sehr wenige ausgenommen, weder mit bloßem, noch mit bewaffnetem Auge auszuspähen vermagst; denn für dich sind jene entfernten Sonnen gewiß nicht da, o Mensch; dieser Gedanke würde unverzeihlicher Stolz sein. So wie deine Sonne deinen Erdball mit allen seinen Bewohnern erleuchtet, erwärmt, belebt und Kraft und Freude in alle empfindende Wesen ausgießt, so thun es jene unzählbaren Heere von Sonnen in Absicht auf die Welten,

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Oratorische Prosa.

die ihnen der Schöpfer zugeordnet hat. In dem Reiche des Gottes, der die Weisheit und Liebe selbst ist, da kann nirgends Pracht ohne Nutzen, Mittel ohne Absicht, Ursach ohne Wirkung sein; da kann nicht empfindungslose, freudenleere Todesstille, da müssen allent­ halben Kraft und Thätigkeit, Leben und Seligkeit herrschen! Ja, die ganze, unermeßliche Schöpfung Gottes ist mit Myriaden von Myriaden lebendiger, empfindender, denkender, seligkeitsfähiger Wesen angefüllt, die alle ihren Schöpfer preisen und sich in dem Genusse seiner Wohlthaten freuen. Jede Sonne hat ihren größeren oder kleineren Wirkungskreis, ihre näheren und entfernteren Weltkörper, jeder Weltkörper seine ihm eigenen Bewohner, die aus der ihnen geöffneten Lichtquelle Licht und Leben und Freude die Fülle schöpfen. Und wenn du nun, o Mensch, dieses ganze, ins Unendliche sich erstreckende System von Sonnen und Welten in deinen Gedanken zu umfassen dich bestrebst und dich dann zu dem, der sie alle schuf und alle erhält, mit deinem Geiste erhebst: wie undenkbar groß muß nicht er, der Schöpfer und Vater aller Welten, der Urquell aller Kraft und aller Bewegung, die erste, ewige Ursache aller Dinge sein! O wirf dich vor ihm in den Staub hin, bete ihn, den Unbegreiflichen, den Unerforschbaren, in tiefster Ehrfurcht an! Ihn, von dem und durch den und zu dem alles ist, was ist, war und sein wird in Ewigkeit! Ihn, den Allmächtigen, der alle diese Sonnen und Welten, deren Größe, Entfernung und Schwere alle deine Begriffe von Maß und Raum und Gewicht so weit übertreffen, sein hieß, sie alle in seiner Hand hält, alle trägt und belebt und durch sie in allen Theilen seines Reiches alles wirket, was er will! Bete ihn an, den Höchstweisen, der sie alle so neben einander geordnet, so von einander entfernt, so mit einander verbunden, so gegen einander abgewogen, so ihre Bewegung und ihren Lauf festgesetzt hat, daß alles zu dem­ selben Endzweck übereinstimmt, alles gemeinschaftlich wirket, alles unveränderlich in seinem Wirkungskreise bleibt, alles sich nähert und nichts sich berührt, keine noch so gewaltige Bewegung die andere zerstört, kein noch so schneller Lauf irgend eines Weltkörpers den anderen in seinem Laufe aufhält oder von der ihm vorgeschriebenen Bahn mit sich fort­ reißt. Bete ihn an, den Allgütigen, den Gott der Liebe, der so viel, so unendlich viel Leben und Freude und Seligkeit außer sich hervorgebracht hat, stets mit mehr als väter­ lichem Wohlwollen auf seine ganze, grenzenlose Schöpfung herabsieht und sie in jedem Augenblick mit neuen Ausflüssen seiner alles belebenden und alles beseligenden Gotteskrast durchströmt. Ja, werde ganz Andacht, ganz Anbetung, o Mensch, wenn du diesen Schau­ platz der Wunder deines Gottes betrachtest! Fühle seine unendliche, unerforschliche Größe, verliere dich selbst in der Bewunderung seiner Herrlichkeit! Laß Dank und Preis und Lob aus deiner gedrängten Brust zu dem Gotte des Himmels emporsteigen und sei selig in diesem würdigsten aller Geschäfte! Fühle aber auch dein Nichts und lerne Demuth! Auch dies ruft dir die Betrachtung des gestirnten Himmels zu. Wandelt dich je die rhörichtste aller menschlichen Leidenschaften, der eitle Stolz, an, o Mensch, verleitet er dich je, deine Schwachheit zu vergessen oder dich über deine Brüder zu erheben: dann, ja dann betrachte diesen Schauplatz der göttlichen Herrlichkeit. Sieh mit mir in die Höhe und antworte mir, ich will dich fragen. Kannst du die Sterne zählen? Kannst du sie alle mit Namen nennen? Kennst du die Kraft, die sie hebt und trägt, die ihnen ihren Lauf vorgeschrieben, ihren Standpunkt angewiesen hat, die sie aufgehen und niedergehen heißt? Kennst du ihre Gestalt, ihren Bau, ihre innere Beschaffenheit, die Millionen Welten, die sich um jene Millionen funkelnde Sonnen herum­ wälzen, und die unzählbaren Geschöpfe, die diese Welten bewohnen? Weißt du, wann eine jede von diesen Sonnen, von diesen Welten entstanden ist, wie lange eine jede in ihrem Kreise fortlaufen, wie lange sie leuchten und wann sie ihren Schein verlieren, ihr Ende erreichen soll? Kannst du der Macht dessen, der dieses Heer hervorruft und ordnet und leitet, Grenzen setzen? Kannst du aus deiner finsteren Behausung die ganze, uner­ meßliche Lichtwelt übersehen? Würdest du nicht in jeder noch so ungeheuer großen Ent-

Geistliche Beredsamkeit.

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fernung neue Himmel, neue Sonnen, neue Welten erblicken, sowie diejenigen, die du jetzt siehst, unter deinem Fuße verschwänden? Und wenn du dieses erkennst und fühlst, deine Unwissenheit und die Größe Gottes fühlst, einige weitreichende Blicke in die Höhe und in die Tiefe, in den grenzenlosen Umfang der Schöpfung wirfst: dann sieh auf deine Woh­ nung, sieh auf dich selbst herab und vergleiche die Erde mit dem Himmel, das Sichtbare mit dem Unsichtbaren und dich mit allem dem, was außer dir ist! Was ist nun der Erd­ ball, den du bewohnest, gegen dieses unermeßliche All? Ist er mehr als ein Tropfen, der am Eimer hangt, mehr als ein Stäubchen, das an der Wage klebt? Und du, was bist du gegen den Erdball, den du bewohnst? Zähle, wenn du kannst, die Menschengeschlechter, die nach dir entstehen werden, und deren Staub sich dereinst mit dem deinigen vermischen wird! Zähle alle Thiere, die jetzt auf dem Erdboden wimmeln, alle Menschen, die auf demselben leben und weben! Halte diese Heere von Erdbewohnern gegen die unendlich viel zahlreicheren Heere der übrigen Bewohner der Welt, und sage dann: Machst du wohl einen großen, einen beträchtlichen Theil des Ganzen aus? wie weit erstreckt sich denn dein Wirkungskreis? wie viele Spannen umfasiest du mit deiner Macht? was thust du Großes, wenn du auch ein Eroberer wärest? Du durchwühlest einen Maulwurfshaufen oder vermehrest die Hand voll Erde, die du dein Reich nennst, miteinerzweiten. Und wieviel Staub wirst du dereinst mit deinem Staube bedecken? Wie lange wird der Sand­ hügel stehen, der ihn verschließt? O Mensch, mußt du nicht dich selbst unter der Menge von den Geschöpfen dieses Erdbodens verlieren? O kannst du hier, kannst du bei dem Anblicke des gestirnten Himmels noch stolz sein, so hast du das Einzige, was dich wirklich adelt, du hast deinen Verstand verloren! Doch meine Absicht ist nicht, dich durch diese Betrachtungen niederzuschlagen, o Mensch, oder dich kleinmüthig zu machen.. Du sollst nicht stolz, aber auch nicht niedrig denken, dich, nicht für mehr, aber auch nicht für weniger halten, als du in der That bist. Wenn dir der gestirnte Himmel zuruft: Fühle dein Nichts und lerne Demuth! so ruft er dir drittens zu: Fühle deine Würde und lerne derselben gemäß denken! Freilich mußt du dich selbst unter der zahllosen Menge von Geschöpfen und Welten, die dich umringen, gleichsam verlieren. Freilich muß dir der Raum, den du unter denselben einnimmst, unendlich klein, die Stelle, die du unter ihnen bekleidest, vergleichungsweise sehr unbeträchtlich vorkommen. Freilich sagt dir jeder Versuch, womit du die Größe, die Ordnung, die Verbindung des unermeßlichen Weltgebäudes dir vorzustellen dich bestrebest, und die sich allenthalben aufthürmenden Schwierigkeiten und unergründlichen Tiefen, die dich bei jedem Schritte deiner Untersuchungen aufhalten, die sagen dir, wie unwiffend, wie schwach, wie eingeschränkt du bist. Aber schon dieses Gefühl deiner Unwissenheit und deiner Schranken, o Mensch, schon dieser unersättliche Durst nach Licht und Erkenntnis, dieses unablässige Streben nach Erweiterung deines Wirkungskreises, schon diese Vergleichungen, die du zwischen dir und höheren Wesen anstellen kannst, selbst die Fehltritte, die du auf dem Wege der Unter­ suchung begehst: die sagen dir, daß du nicht ganz Staub bist, daß eine geistige, thätige Kraft in dir ist, die dich weit über den Staub erhebt, und die noch nicht alles ist und wirket, waS sie sein und wirken kann. Ja, fühle bei aller deiner Niedrigkeit deine Hoheit, bei allen deinen Einschränkungen deine Würde! Du, nur du unter allen Bewohnern des Erdbodens kannst deine Augen dem Staube, auf dem du wandelst, entziehen und sie in die Höhe richten und da zahllose Heere von Sonnen und Welten erblicken. Dich, nur dich unter allen Bewohnern des Erdbodens rührt und entzückt dieses herrliche, göttliche Schauspiel. Dich durchströmen bei diesem Anblick Gedanken und Empfindungen, die deine ganze Seele erweitern, deinen ganzen Geist in Thätigkeit setzen, und die doch viel zu groß, viel zu zahlreich sind, als daß

du sie alle umfassen oder ganz durchdenken könntest. Und wenn du dich dann daran erinnerst, daß der Mensch, dein Bruder, so schwach

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OraLorische Prosa.

und eingeschränkt er immer sein mag, die Größe, die Schwere, die Entfernung, das Ver­ hältnis einiger dieser Sonnen und Welten gegen einander — freilich nicht ausrechnet — aber doch berechnet, ihre Bewegung und ihren Kreislauf ausmißt, daß er auf Jahrtausende hinaus die Stelle, die sie in dem unermeßlichen Raume einnehmen, die Verbindungen, in welchen sie gegen einander stehen, die Gesetze, nach welchen sie sich bewegen und wirken werden, mit Zuverlässigkeit zu bestimmen vermag, daß er durch seine künstlichen Werkzeuge Lichtstrahlen von so entfernten und ihm sonst ganz verborgenen Weltkörpern nach seinem Auge zu leiten und demselben sichtbar zu machen weiß, und daß er sich dann mit seinen Gedanken noch geschwinder als der Lichtstrahl über alles, was er sieht, emporschwingen und dieses alles, so unermeßlich es ist, als einen unmerklich kleinen Theil des Ganzen, als den ersten Vorhof des Himmels denken kann: mußt du da nicht ausrufen: Herr! was ist der Mensch, daß du seiner gedenkest! Und wenn du dann von den Geschöpfen zu dem Schöpfer hinaufsteigst, dir der Gedanke recht lebhaft wird: Der Gott, der alle diese Sonnen und Welten erschaffen hat, sie und alle ihre Bewohner trägt und erhält, belebt und erfreut, der ist auch mein Gott, mein Schöpfer, mein Erhalter, der kennt, der liebt auch mich, der will auch meine Glückseligkeit! Und diesen Gott kann ich denken, mit diesem Gotte Gemeinschaft haben, dieses Gottes mich freuen! wenn dir dieser Gedanke lebhaft wird, o Mensch, welch Wonnegefühl muß da nicht dein Innerstes durchströmen? kannst du da noch deine Würde verkennen? Wie? Du solltest alle deine Begierden, Absichten, Bemühungen in den engeren Kreis thierischer, sinnlicher Beschäftigungen und Vergnügungen einschränken? solltest die Güter dieser Erde für deine ganze Glückseligkeit halten? solltest das deiner Ehrbegier zum Ziele setzen, auf dem Sandkorn, das du jetzt mit deinen Brüdern bewohnest, eine etwas höhere Stelle vor ihnen zu erstreben und dann mit Verachtung auf sie herabzusehen? Sind dies wohl Bestrebungen, die eines Geschöpfes würdig sind, das seine Augen gen Himmel richten, sich mit seinem Geiste über Millionen Sonnen und Welten hinaufschwingen und bis zum Schöpfer derselben hindurchdringen kann? Nein, du bist zu höheren Dingen geschaffen, o Mensch. Ahne, auch dies ruft dir die Betrachtung des gestirnten Himmels zu, ahne deine künftige Vollkommenheit und Glück­ seligkeit, freue dich derselben zum voraus, und mache dich ihrer immer fähiger! Siehe, jetzt bekleidest du eine niedrige Stufe auf der Leiter der Dinge; aber die Begierde, die Fähigkeit, das Streben höher zu steigen, die fühlst du in deiner Brust, und die kann dir der Schöpfer nicht umsonst gegeben haben. Nein, er, der Wahrhaftige, der Allgütige, kann und wird dich nicht täuschen, dich keine Vollkommenheit, keine Seligkeit ahnen lassen, die er dir nie zu geben beschlossen hätte! Nein, du kannst, du sollst von einer Stufe der Voll­ kommenheit und Seligkeit zur andern fortgehen, kannst und sollst immer weiser, immer besser, immer glückseliger werden! Das ist der Wille deines Schöpfers und Vaters im Himmel! Siehe, hier in seinem unermeßlichen Reiche sind Quellen des Lichts und der Erkenntnis, die nie versiegen, aus welchen man von Ewigkeit zu Ewigkeit schöpfen und die kein erschaffener Geist jemals erschöpfen kann! Hier ist Stoff zum ewigen Denken, zu unaufhörlichen Entdeckungen, zu stets neuen Empfindungen der erhabensten Andachts­ freude! Hier sind zahllose Gesellschaften edlerer, vollkommnerer Verehrer Gottes, denen wir uns nähern, mit denen wir uns vereinigen, in deren Vereinigung und Umgang wir höhere, unnennbare Wonne und Seligkeit schmecken können! Hier sind unendliche Mittel und Gelegenheiten und Antriebe, unsere Kräfte zu üben, sie ganz zu entwickeln, unseren Wirkungskreis zu erweitern und alles zu sein und zu werden, was wir jetzt nicht sein und werden können! Hier zeigt sich jedes Vergnügen, das uns jetzt die Betrachtung der Natur, die Äußerung unserer Kräfte, das Wohlthun, die Gottesliebe und die Menschen­ liebe gewähren, und in tausendfachen, herrlichen Gestalten! Hier sind Wohnplätze der

Geistliche Beredsamkeit.

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größten, gemeinnützigsten Thätigkeit, Wohnplätze der innigsten, wirksamsten Liebe, der reinsten, göttlichen Freude! Ja, hier können wir von einer Ewigkeit zur andern leben und wirken, immer höher steigen, immer mehr Wahrheit erkennen, mehr Gutes thun und genießen, der Gottheit immer naher kommen und in ihrer Gemeinschaft immer seliger werden! Keine Erwartungen können hier zu groß, keine Hoffnungen zu kühn sein! Die Unendlichkeit Gottes und die Unermeßlichkeil seiner Welt, was öffnen uns die nicht für Aussichten in die entfernteste Zukunft! SoMkofer.

2. Rede an Nathanaels Grabe. Meine theuren Freunde, die ihr hergekommen seid, um mit dem gebeugten Vater am Grabe des geliebten Kindes zu trauern! Ich weiß, ihr seid nicht gekommen in der Meinung, ein Rohr zu sehen, das vom Winde bewegt wird. Aber was ihr findet, ist doch nur ein alter Stamm, der so eben nicht bricht von dem einen Windstoße, der ihn plötzlich aus heilerer Höhe getroffen hat. Ja, so ist es! Für einen zwanzigjährigen, vom Himmel gepflegten und verschonten glücklichen Hausstand habe ich Gott zu danken, für eine weit längere, von unverdientem Segen begleitete Amtsführung, für eine große Fülle von Freuden und Schmerzen, die ich in meinem Berufe und als theilnehmender Freund mit andern durchgelebt habe; manche schwere Wolke ist über das Leben gezogen, aber was von außen kam, hat der Glaube überwunden, waö von innen, hat die Liebe gut gemacht: nun aber hat dieser eine Schlag, der erste in seiner Art, das Leben in seinen Wurzeln erschüttert. Ach, Kinder sind nicht nur theure, von Gott anvertraute Pfänder, für welche wir Rechenschaft zu geben haben, nicht nur unerschöpfliche Gegenstände der Sorge und der Pflicht, der Liebe und des Gebets: sie sind auch ein unmittelbarer Segen für das Haus; sie geben leicht ebensoviel, als sie empfangen; sie erfrischen das Leben und erfreuen das Herz. Ein solcher Segen war nun auch dieser Knabe für unser Haus. Ja, wenn der Erlöser sagt, daß die Engel der Kleinen das Angesicht seines Vaters im Himmel sehen, so erschien uns in diesem Kinde, als schaue ein solcher Engel aus ihm heraus, die Freund­ lichkeit unseres Gottes. Als Gott mir ihn gab, war mein erstes Gebet, daß väterliche Liebe mich nie verleiten möge, mehr von dem Knaben zu halten, als recht sei, und ich glaube, der Herr hat mir dies gegeben. Ich weiß sehr wohl, es giebt weit ausgezeichnetere Kinder an geistigen Gaben, an regem Eifer, und auf die sich weit größere Erwartungen bauen lasten von dem, was sie in der Welt leisten werden, und ich freue mich, wenn es deren recht viele giebt. Als ich ihm den Namen gab, den er führte, wollte ich ihn durch denselben nicht nur alö eine theure, willkommene Gottesgabe begrüßen, sondern ich wollte dadurch zugleich den innigen Wunsch ausdrücken, daß er möge werden, wie sein biblischer NamenSahn, eine Seele, in der kein Falsch ist; und auch das hat mir der Herr gegeben. Redlich und treuherzig, wie der Knabe war, schaute er voll Vertrauen jedem ins Auge, zu allen Menschen sich nur Gutes versehend, und Falsches haben wir nie in ihm gefun­ den. Und eben deshalb, meine theuren Kinder, die ich hier um mich sehe, weil er wahr­ haft war, blieb er auch frei von manchem Treiben, waS sonst auch euren Jahren schon naht, war ihm auch selbstisches Wesen fern, und trug er Liebe und Wohlwollen zu allen Menschen. So lebte er unter uns als die Freude deS ganzen Hauses; und als die Zeit gekommen war, da es nöthig schien, ihn in eine größere Gemeinschaft der Jugend und in weitere Kreise des Unterrichts einzupflanzen, sing er auch da an,' sich einzuleben und zu gedeihen, und auch der verdiente und wohlgemeinte Tadel seiner Lehrer fiel auf guten Boden. So gedachte ich ihn noch weiter zu begleiten mit väterlichem Auge und erwartete ruhig, in welchem Maße seine geistigen Kräfte sich weiter entwickeln und nach welcher Seite menschlicher Thätigkeit hin seine Neigung sich wenden würde. Ja, wenn ich mir oft sagte,

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TratorisHe Prosa.

in ganz anderem Sinne, als nun geschehen ist, daß es mir nicht gegeben sein würde, seine Erziehung zu vollenden, so war ich doch gutes Muthes. Ich sah auch das als einen schönen Segen meines Berufes an, daß es ihm dereinst nie fehlen würde, treuen, väterlichen Rath und kräftigen Beistand zu finden um meinetwillen: aber ich hoffte, er werde ihm auch nicht entstehen um seinetwillen. Diese mir über alles wichtige Aufgabe für mein ganzes übriges Leben, an der mein Herz mit voller Liebe hing, ist nun aufgelöst, durchstrichen ; das freundlich erquickende Lebensbild ist plötzlich zerstört, und alle Hoffnungen, die auf ihm ruhten, liegen hier und sollen eingesenkt werden mit diesem Sarge! Was soll ich sagen? Es giebt einen Trost, durch den sich viele fromme Christen beschwichtigen in solchem Falle, den auch mir schon mancher liebe, freundliche Mund in diesen Tagen zugerufen hat, und der um so weniger zu übersehen ist, als er von einer richtigen Schätzung der menschlichen Schwachheit aus­ geht; es ist nämlich der, daß Kinder, die jung hinweggenommen werden, doch allen Ver­ suchungen und Gefahren dieses Lebens entrückt und zeitig in den sichern Hafen gerettet sind. Diese Gefahren waren gewiß auch dem Knaben nicht ganz erspart; aber doch will dieser Trost nicht recht bei mir haften, wie ich bin. Wie ich diese Welt immer ansehe als die, welche durch das Leben des Erlösers verherrlicht und durch die Wirksamkeit seines Geistes zu immer unaufhaltsam weiterer Entwickelung alles Guten und Schönen geheiligt ist; wie ich immer nur habe sein wollen ein Diener des göttlichen Wortes in freudigem Geist und Sinn; warum'denn hätte ich nicht glauben sollen, daß der Segen der christlichen

Gemeinschaft sich auch an ihm bewähren würde, und daß durch christliche Erziehung ein unvergänglicher Samen in ihm wäre niedergelegt worden? Warum sollte ich nicht auch für ihn, selbst wenn er strauchelte, auf die gnädige Bewahrung Gottes hoffen, warum nicht fest vertrauen, daß nichts ihn werde aus der Hand des Herrn und Heilandes reißen können, dem er ja geweiht war, und den er auch aus kindlichem Herzen schon angefangen hatte zu lieben? wie denn noch eine seiner letzten besonnenen Äußerungen in den Tagen der Krankheit eine freundliche Bejahung war auf die Frage der Mutter, ob er auch seinen Heiland recht liebe. Und diese Liebe, wäre sie auch nicht gleichmäßig fortgeschritten, hätte sie auch bei ihm ihre Störungen erfahren: warum sollte ich doch nicht glauben, daß sie ihm nie erloschen sein, daß sie ihn doch dereinst würde ganz beherrscht haben? Und wie ich Muth gehabt hätte, dies alles mit ihm durchzuleben, ihn dabei zu ermahnen, zu trösten, zu leiten: so ist mir jene Betrachtung nicht so tröstlich, wie vielen anderen. Auf andere Weise schöpfen viele Trauernde ihren Trost aus einer Fülle reizender Bilder, in denen sie sich die fortbestehende Gemeinschaft der Vorangegangenen und Zurückgebliebenen dar­ stellen, und je mehr diese die Seele erfüllen, um desto mehr müssen alle Schmerzen über den Tod gestillt werden. Aber dem Manne, der zu sehr an die Strenge und Schärfe des Gedankens gewöhnt ist, lassen diese Bilder tausend unbeantwortete Fragen zurück und verlieren dadurch gar viel von ihrer tröstenden Kraft. So stehe ich denn hier mit meinem Troste und meiner Hoffnung allein auf dem bescheidenen, aber doch so reichen Worte der Schrift: Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden; wenn es aber erscheinen wird, werden wir ihn sehen, wie er ist! und auf dem kräftigen Gebete des Herrn: Vater, ich will, daß, wo ich bin, auch die seien, die du mir gegeben hast. Auf diesen starken Glauben gestützt und von kindlicher Liebe getragen, spreche ich denn von Herzen: Der Herr hat ihn gegeben, der Name des Herrn sei gelobt dafür, daß er ihn mir gegeben, daß er diesem Kinde ein wenn auch kurzes, doch helles und heiteres und von dem Liebeshauche seiner Gnade erwärmtes Leben verliehen, daß er es so treu bewacht und geleitet har, daß sich nun dem theuren Andenken nichts Bitteres beimischt, vielmehr wir bekennen müssen, daß wir reichlich gesegnet worden sind durch das liebe Kind. Der Herr hat es genommen; sein Name sei gelobt, daß er es wiewohl genommen, uns doch auch gelaffen hat, daß es uns bleibt auch hier in unaussprechlichen Erinnerungen ein theures und unvergängliches Eigenthum.

Geistliche Beredsamkeit.

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Doch ich kann mich nicht trennen von diesen der Verwesung geweihten Überresten der lieblichen Gestalt, ohne nun auch noch, nachdem ich den Herrn gepriesen, den gerührtesten Dank meines Herzens auszusprechen vor allen der theuren Hälfte meines Lebens, durch welche Gott mir dieses geschenkt, für alle mütterliche Liebe und Treue, die sie ihm bewiesen von seinem ersten bis zu seinem letzten, in ihren treuen Armen ausgehauchten Athemzuge; und meinen lieben ältern Kindern allen für die Liebe, mit der sie diesem jüngsten zugethan waren und es ihm erleichterten, heiter und froh seinen Weg zu gehen in den Schranken der Ordnung und des Gehorsams; und allen lieben Freunden, die mit uns sich an ihm gefreut und mit uns um ihn gesorgt haben, zumal aber euch, liebe Lehrer, die ihr es euch zur Freude machtet, an der Entwickelung seiner Seele thätigen Antheil zu nehmen, und euch, ihr lieben Gespielen und Mitschüler, die ihr ihm in kindlicher Freundschaft zugethan wäret, denen er so manche von seinen frohen Stunden verdankte, und die ihr auch um ihn trauert, weil ihr gern auf dem gemeinschaftlichen Wege noch weiter mit ihm fort­ gegangen wäret; und allen denen Dank, die mir diese Stunde des Abschieds schöner und feierlicher gemacht haben. Aber mit dem Danke verbindet sich ja immer gern eine Gegengabe; und so nehmet denn ihr alle zum Andenken an diesen mir so schmerzlich bedeutenden Augenblick noch eine wohlgemeinte Gabe christlicher Ermahnung. Meine Gattin und ich, wir haben beide dieses Kind herzlich und zärtlich geliebt, und überdies sind Freundlichkeit und Milde der herrschende Ton unseres Hauswesens; und doch zieht sich durch unsere Erinnerungen an das Leben mit dem geliebten Kinde hie und da ein leiser Ton des Vorwurfs hindurch; und so glaube ich denn, eö geht vielleicht keiner dahin, gegen den diejenigen, die am meisten mit ihm zu leben hatten, sich, wenn sie sich vor Gott prüfen, vollkommen genügten, wäre auch das anvertraute Leben nur so kurz gewesen, wie dieses. Darum laßt unö doch uns alle unter einander lieben als solche, die uns bald, und ach! wie bald, könnten entrissen werden. Ich sage das euch Kindern, und glaubt mir, dieser Rath, wenn ihr ihm folgt, wird euch keine unschuldige Freude trüben, aber euch gewiß vor vielen, wenn auch nur kleinen Verschuldungen bewahren. Ich sage es euch Eltern; denn wenn ihr nicht in meinen Fall kommt, werdet ihr euch desto ungetrübter der Frucht dieses Wortes erfreuen. Ich sage es mit meinem besten Danken euch Lehrern; denn wenn ihr auch zu sehr im großen mit der Jugend zu thun habt, um euch mit der einzelnen besonders in Verhältnis zu setzen, so wird doch immer mehr alles, waö ihr thun müßt, um Ordnung und Gesetz aufrecht zu halten, von dem rechten Geiste heiliger christlicher Liebe durchdrungen sein. Ach ja, lasset und alle einander als solche lieben, die bald von einander können getrennt werden! Nun du, Gott, der du die Liebe bist, laß mich auch nicht nur jetzt deiner Allmacht mich unterwerfen, nicht nur deiner unerforschlichen Weisheit mich fügen, sondern auch deine väterliche Liebe erkennen! Mache mir auch diese schwere Prüfungen einem Segen

in meinem Berufe, laß für mich und alle die Meinigen den gemeinsamen Schmerz ein neues Band womöglich noch innigerer Liebe werden und ihn meinem ganzen Hause zu einer neuen Auffasiung deines Geistes gereichen. Gieb, daß auch diese schwere Stunde ein Segen werde für alle, die da zugegen sind; laß uns alle immer mehr zu der Weisheit reifen, die, über das Nichtige hinwegsehend, in allem Irdischen und Vergänglichen nur das Ewige sieht und liebt, in allen deinen Rathschlüsien auch deinen Frieden findet und das ewige Leben, zu dem wir durch den Glauben ans dem Tode hindurchgedrungen sind. Schleiermacher.

Oratorische Prosa.

736 b.

1.

Weltliche Beredsamkeit.

Anrede Friedrichs II. an seine Generale,

gehalten auf offenem Felde am 4. Dezember 1757 vor der Schlacht bei Leutben. (Aus dem Gedächtnis niedergeschrieben vom General von Retzow.)

Ihnen, meine Herren, ist es bekannt, daß es dem Prinzen Karl von Lothringen gelungen ist, Schweidnitz zu erobern, den Herzog von Bevern zu schlagen und sich zum Meister von Breslau zu machen, während ich gezwungen war, den Fortschritten der Fran­ zosen und Reichsvölker Einhalt zu thun. Ein Theil von Schlesien, meine Hauptstadt und alle meine darin befindlich gewesenen Kriegsbedürfnisse sind dadurch verloren gegangen, und meine Widerwärtigkeiten würden aufs höchste gestiegen sein, setzte ich nicht ein unbe­ dingtes Vertrauen in Ihren Muth, Ihre Standhaftigkeit und Ihre Vaterlandsliebe, die Sie bei so vielen Gelegenheiten mir bewiesen haben. Ich erkenne diese dem Vaterlande und mir geleisteten Dienste mit der innigsten Rührung meines Herzens. Es ist fast keiner unter Ihnen, der sich nicht durch eine große, ehrenvolle Handlung ausgezeichnet hätte, und ich schmeichle mir daher, Sie werden, wenn es gilt, nichts an dem mangeln lassen, was der Staat von Ihrer Tapferkeit zu fordern berechtigt ist. Dieser Zeitpunkt rückt heran; ich würde glauben, nichts gethan zu haben, ließe ich die Österreicher im Besitze von Schlesien. Lassen Sie es sich also gesagt sein: ich werde gegen alle Regeln der Kunst die beinahe dreimal stärkere Armee des Prinzen Karl angreifen, wo ich sie finde. Ich darf nicht fragen nach der Anzahl der Feinde, noch nach der Schwierigkeit ihrer Stellung; alles dieses, hoffe ich, wird die Herzhaftigkeit meiner Truppen bei richtiger Befolgung meiner Anordnungen zu überwinden suchen. Ich muß diesen Schritt wagen, oder es ist alles verloren; wir müssen den Feind schlagen oder uns alle vor seinen Batterien begraben lassen. So denke ich, so werde ich handeln. Machen Sie diesen meinen Entschluß allen Offizieren der Armee bekannt; bereiten Sie den gemeinen Mann auf die Ereignisse vor, die bald folgen werden, und kündigen Sie ihm an, daß ich mich für berechtigt halte, unbedingten Gehorsam von ihm zu fordern. Wenn Sie übrigens bedenken, daß Sie Preußen sind, so werden Sie gewiß dieses Vorzuges sich nicht unwürdig machen. Ist aber einer oder der andere unter Ihnen, der sich fürchtet, alle Gefahren mit mir zu theilen, der kann noch heute seinen Ab­ schied erhalten, ohne von mir den geringsten Vorwurf zu leiden. („Wir folgen Euer Majestät in den Tod! Gut und Blut für unsern König!" riefen die versammelten Offi­ ziere, und der König bemerkte mit Freuden die Begeisterung, welche seinen Worten folgte ; dann fuhr er fort:) Schon im voraus hielt ich mich überzeugt, daß keiner von Ihnen mich verlassen würde; ich rechne also ganz auf Ihre treue Hülfe und auf den gewissen Sieg. Sollte ich bleiben und Sie für Ihre mir geleisteten Dienste nicht belohnen können, so muß es das Vaterland thun. Gehen Sie nun in das Lager, und wiederholen Sie Ihren Regi­ mentern, was Sie von mir gehört haben! Das Regiment Kavallerie, welches nicht sofort, wenn es befohlen wird, sich unaufhaltsam in den Feind stürzt, lasse ich gleich nach der Schlacht absitzen und mache es zu einem Garnisonregimente; das Bataillon Infanterie, das, es treffe, worauf es wolle, nur zu stutzen anfängt, verliert die Fahnen und die Säbel, und ich lasse ihm die Borten von der Montirung abschneiden. Nun leben Sie wohl, meine Herren! In kurzem haben wir den Feind geschlagen, oder wir sehen uns nie wieder.

2. Der König von Preußen, Friedrich Wilhelm III., an sein Volk. a.

Vor Beginn des Krieges von 1813.

So wenig für Mein treues Volk, als für Deutsche bedarf es einer Rechenschaft über die Ursachen des Krieges, welcher jetzt beginnt: klar liegen sie dem unverblendeten Europa

Weltliche Beredsamkeit. vor Augen.

Wir erlagen unter der Übermacht Frankreichs.

737 Der Friede, der die Hälfte

Meiner Unterthanen Mir entriß, gab Uns seine Segnungen nicht, denn er schlug unS tiefere Wunden, als selbst der Krieg. DaS Mark des Landes ward ausgesogen. Die Hauptfestungen blieben vom Feinde besetzt, der Ackerbau ward gelähmt, so wie der sonst so hochgebrachte Kunstfleiß Unserer Städte. Die Freiheit des Handels ward gehemmt und dadurch die Quelle des. Erwerbes und des Wohlstandes verstopft. Das Land ward ein Raub der Verarmung. Durch die strengste Erfüllung eingegangener Verbindlichkeiten hoffte Ich Meinem Volke Erleichterung zu verschaffen und den französischen Kaiser endlich zu überzeugen, daß es sein eigener Vortheil sei, Preußen seine Unabhängigkeit zu laffen. Aber meine reinsten Absichten wurden durch Übermuth und Treulosigkeit vereitelt, und nur zu deutlich sahen Wir, daß des Kaisers Verträge mehr noch wie seine Kriege Uns langsam verderben mußten. Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo alle Täuschung über Unsern Zustand schwindet. Brandenburger, Preußen, Schlesier, Pommern, Lithauer! Ihr wißt, was Ihr seit sieben Jahren erduldet habt, Ihr wißt, was Euer trauriges LooS ist, wenn Wir den beginnenden Kampf nicht ehrenvoll enden. Erinnert Euch an die Vor­ zeit, an den großen Kurfürsten, an den großen Friedrich! Bleibet eingedenk der Güter, die unter ihnen Unsere Vorfahren blutig erkämpften: Gewiffensfreiheit, Ehre, Unabhängig­ keit, Handel, Kunstfleiß und Wissenschaft 1 Gedenkt des großen Beispiels Unserer mächtigen Verbündeten, gedenkt der Spanier und Portugiesen; selbst kleine Völker sind für gleiche Güter gegen mächtigere Feinde in den Kampf gezogen und haben den Sieg errungen; erinnert Euch an die heldenmüthigen Schweizer und Niederländer. Große Opfer werden von allen Ständen gefordert werden; denn unser Beginnen ist groß und nicht gering die Zahl und die Mittel Unserer Feinde. Ihr werdet jene lieber bringen für das Vaterland, für Euren angebornen König als für einen fremden Herrscher, der, wie so viele Beispiele lehren, Eure Söhne und Eure letzten Kräfte Zwecken widmen würde, die Euch ganz fremd sind. Vertrauen auf Gott, Ausdauer, Muth und der mächtige Beistand Unserer Bundes­ genoffen werden Unseren redlichen Anstrengungen siegreichen Lohn gewähren. Aber welche Opfer auch von einzelnen gefordert werden mögen, sie wiegen die heiligen Güter nicht auf, für die Wir sie hingeben, für die Wir streiten und siegen müffen, wenn Wir nicht aufhören wollen, Preußen und Deutsche zu sein. Es ist der letzte entscheidende Kampf, den Wir bestehen für Unsere Existenz, Unsere Unabhängigkeit, Unsern Wohlstand. Keinen andern Ausweg giebt es als einen ehrenvollen Frieden oder einen ruhmvollen Untergang. Auch diesem würdet Ihr getrost entgegengehen, weil ehrlos der Deutsche nicht zu leben vermag. Allein Wir dürfen mit Zuversicht vertrauen, Gott und Unser fester Wille werden unserer gerechten Sache den Sieg verleihen, mit ihm einen sichern glorreichen Frieden und die Wiederkehr einer glücklichen Zeit. Breölau, den 17. März 1813. Friedrich Wilhelm. b.

Nach Beendigung des Krieges. An Mein Volk!

Beendigt ist der Kampf, zu dem Mein Volk mit Mir zu den Waffen griff! Glücklich beendigt durch die Hülfe Gottes, durch Unserer Bundesgenossen treuen Beistand, durch die Kraft, den Muth, die Ausdauer, die Entbehrung, die jeder, der Preuße sich nennt, in diesem schweren Kampfe bewiesen hat. Nehmt Meinen Dank dafür! Groß sind Eure Anstrengungen, Eure Opfer gewesen! Ich kenne und erkenne sie; und auch Gott, der über uns waltet, hat sie erkannt. Errungen haben Wir, was Wir erringen wollten. Mit Ruhm gekrönt steht Preußen vor Mit- und Nachwelt da, selbständig durch bewiesene Kraft, bewährt im Glück und Unglück! Allesammt, einer wie alle, eiltet Ihr zu den Waffen; im ganzen Volke nur ein Gefühl! So auch war der Kampf! Solchen Sinn, sprach ich damals, lohnet Gott. Er wird ihn jetzt lohnen durch den Frieden, den er uns gab! Eine bessere Zeit wird wiederDielitz u. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur.

L. Aufl.

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Oratorische Prosa.

kehren durch diesen Frieden! Nicht für Fremde wird der Landmann mehr säen: er wird ernten für sich! Handel, Kuristfleiß und Wiffenschaft wird wieder aufleben, Wohlstand aller Klaffen wird sich wieder gründen, und in einer neuen Ordnung werden die Wunden heilen, die langes Leiden Euch schlug. Paris, den 3. Juni 1814. Friedrich Wilhelm.

3. Die Vaterlandsliebe. Der natürliche, nur im wahren Falle der Noth aufzugebende Trieb des Menschen ist der, den Himmel schon auf dieser Erde zu finden und ewig Dauerndes zu verflößen in sein irdisches Tagewerk; das Unvergängliche im Zeitlichen selbst zu pflanzen und zu erziehen, nicht blos auf eine unbegreifliche Weise und allein durch die sterblichen Augen undurchdringbare Kluft mit dem Ewigen zusammenhängend, sondern auf eine dem sterblichen Auge selbst sichtbare Weise. Daß ich bei diesem gemeinfaßlichen Beispiele anhebe: Welcher Edeldenkende will nicht und wünscht nicht, in seinen Kindern und wiederum in den Kindern dieser sein eignes Leben von neuem, auf eine verbesserte Weise zu wiederholen und in dem Leben derselben veredelt und vervollkommnet auch auf dieser Erde noch fortzuleben, nachdem er längst gestorben ist; den Geist, den Sinn und die Sitte, mit denen er vielleicht in seinen Tagen abschreckend war für die Verkehrtheit und daö Verderben, befestigend die Rechtschaffenheit, aufmunternd die Trägheit, erhebend die Niedergeschlagenheit, der Sterblichkeit zu entreißen und sie als sein bestes Vermächtnis an die Nachwelt niederzulegen in den Gemüthern seiner Hinterlaffenen, damit auch diese sie einst eben also, verschönert und vermehrt, wieder niederlegen? Welcher Edeldenkende will nicht durch Thun oder Denken ein Samenkorn streuen zu unend­ licher , immer fortgehender Vervollkommnung seines Geschlechts, etwas Neues und vorher nie Dagewesenes hineinwerfen in die Zeit, das in ihr bleibe und nie versiegende Quelle werde neuer Schöpfungen, seinen Platz auf dieser Erde und die ihm verliehene kurze Spanne Zeit bezahlen mit einem auch hienieden ewig Dauernden, so daß er, als dieser Einzelne, wenn auch nicht genannt durch die Geschichte (denn Durst nach Nachruhm ist eine verächt­ liche Eitelkeit), dennoch in seinem eigenen Bewußtsein und seinem Glauben offenbare Denk­ male hinterlasse, daß auch er dagewesen sei? Welcher Edeldenkcndc will das nicht, sagte ich; aber nur nach den Bedürfnissen der also Denkenden, als der Regel, wie alle sein sollten, ist die Welt zu betrachten und einzurichten, und um ihrer willen allein ist eine Welt da. Sie sind der Kern derselben, und die anders Denkenden sind, als selbst nur ein Theil der vergänglichen Welt, solange sie also denken, auch nur um ihrer willen da und müssen sich nach ihnen bequemen, solange bis sie geworden sind wie sie. WaS könnte eS nun sein, das dieser Aufforderung und diesem Glauben des Edlen an die Ewigkeit und Unvergänglichkeit seines Werkes die Gewähr zu leisten vermöchte? Offenbar nur eine Ordnung der Dinge, die er für selbst ewig und für fähig, Ewiges in sich aufzunehmen, anzuerkennen vermöchte. Eine solche Ordnung aber ist die freilich in keinem Begriffe zu erfaffende, aber dennoch wahrhaft vorhandene, besondere geistige Natur der menschlichen Umgebung, auS welcher er selbst mit allem seinem Denken und Thun und mit seinem Glauben an die Ewigkeit desselben hervorgegangen ist, das Volk, von welchem er abstammt, und unter welchem er gebildet wurde und zu dem, was er jetzt ist, Herauf­ wuchs. Denn so unbezweifelt es auch wahr ist, daß sein Werk, wenn er mit Recht Anspruch macht auf deffen Ewigkeit, keineswegs der bloße Erfolg deS geistigen Naturgesetzes seiner Nation ist und mit diesem Erfolge rein aufgeht, sondern daß es ein Mehreres ist denn daS und insofern unmittelbar ausströmt aus dem ursprünglichen und göttlichen Leben: so ist es dennoch ebenso wahr, daß jenes Mehrere sogleich bei seiner ersten Gestaltung zu einer sicht­ baren Erscheinung unter jenes besondere geistige Naturgesetz sich gefügt und nur nach dem-

Weltliche Beredsamkeit.

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selben sich einen sinnlichen Ausdruck gebildet hat. Unter daffelbe Naturgesetz nun werden, solange dieses Volk besteht, auch alle fernere Offenbarungen des Göttlichen in demselben eintreten und in ihm sich gestalten. Dadurch aber, daß auch er da war und so wirkte, ist selbst dieses Gesetz weiter bestimmt, und seine Wirksamkeit ist ein stehender Bestandtheil deffelben geworden. Auch hiernach wird alles Folgende sich fügen und an daffelbe sich an­ schließen müssen. Und so ist er denn sicher, daß die durch ihn errungene Ausbildung bleibt in seinem Volke, solange dieses selbst bleibt, und fortdauernder Bestimmungsgrund wird aller fernern Entwicklung deffelben. Dies nun ist in höherer, vom Standpunkte der Ansicht einer geistigen Welt über­ haupt genommener Bedeutung des Wortes ein Volk: das Ganze der in Gesellschaft mit einander fortlebenden und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesammt unter einem gewissen besonderen Gesetze der Entwickelung des Göttlichen aus ihm steht. Die Gemeinsamkeit dieses besonderen Gesetzes ist es, was in der ewigen Welt und eben darum auch in der zeitlichen diese Menge zu einem natürlichen und von sich selbst durchdrungenen Ganzen verbindet. Dieses Gesetz, selbst seinem Inhalte nach, kann wohl im Ganzen erfaßt werden, so wie wir eS an den Deutschen, als einem Urvolke, erfaßt haben; es kann sogar durch Erwägung der Erscheinungen eines solchen Volkes noch näher in manchen seiner weiteren Bestimmungen begriffen werden; aber es kann niemals von irgend einem, der ja selbst immerfort unter deffelben ihm unbewußtem Einflüsse bleibt, ganz mit dem Begriffe durchdrungen werden, obwohl im allgemeinen klar eingesehen werden kann, daß es ein solches Gesetz gebe. Es ist dieses Gesetz ein Mehr der Bildlichkeit, das mit dem Mehr der unbildlichen Ursprünglichkeit in der Erscheinung unmittelbar verschmilzt; und so sind denn, in der Erscheinung eben, beide nicht wieder zu trennen. Jenes Gesetz bestimmt durchaus und vollendet das, was man den National­ charakter eines Volkes genannt hat, jenes Gesetz der Entwickelung des Ursprünglichen und Göttlichen. Es ist aus dem Letztern klar, daß Menschen, welche, so wie wir bisher die Ausländerei beschrieben haben, an ein Ursprüngliches und an eine Fortentwickelung des­ selben gar nicht glauben, sondern blos an einen ewigen Kreislauf deS scheinbaren Lebens, und welche durch ihren Glauben werden, wie sie glauben, im höheren Sinne gar kein Volk sind, und da sie in der That eigentlich auch nicht da sind, ebensowenig einen National­ charakter zu haben vermögen. Der Glaube des edlen Menschen an die ewige Fortdauer seiner Wirksamkeit auch auf dieser Erde gründet sich demnach auf die Hoffnung der ewigen Fortdauer des Volkes, aus dem er selber sich entwickelt hat, und der Eigenthümlichkeit deffelben, nach jenem ver­ borgenen Gesetze, ohne Einmischung und Verderbung durch irgend ein Fremdes und in das Ganze dieser Gesetzgebung nicht Gehöriges. Diese Eigenthümlichkeit ist das Ewige, dem er die Ewigkeit seiner selbst und seines Fortwirkens anvertraut, "die ewige Ordnung der Dinge, in die er sein Ewiges legt; ihre Fortdauer muß er wollen, denn sie allein ist ihm das entbindende Mittel, wodurch die kurze Spanne seines Lebens hienieden zu fort­ dauerndem Leben hienieden ausgedehnt wird. Sein Glaube und sein Streben, Unvergäng­ liches zu pflanzen, sein Begriff, in welchem er sein eignes Leben als ein ewiges Leben erfaßt, ist das Band, welches zunächst seine Nation und vermittelst ihrer das ganze Menschen­ geschlecht innigst mit ihm selber verknüpft und ihrer aller Bedürfnisse bis anö Ende der Tage einführt in sein erweitertes Herz. Dies ist seine Liebe zu seinem Volke, zuvörderst achtend, vertrauend, deffelben sich freuend, mit der Abstammung daraus sich ehrend. Es ist Göttliches in ihm erschienen, und das Ursprüngliche hat daffelbe gewürdigt, es zu seiner Hülle und zu seinem unmittelbaren Verflößungsmittel in die Welt zu machen; es wird darum auch ferner Göttliches aus ihm hervorbrechen. Sodann thätig, wirksam, sich auf­ opfernd für daffelbe. Das Leben, blos als Leben, als Fortsetzen des wechselnden Daseins, hat für ihn ja ohnedies nie Werth gehabt, er hat eS nur gewollt als Quelle des dauernden; 47 e

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Oratorische Prosa.

aber diese Dauer verspricht ihm allein die selbständige Fortdauer seiner Nation; um diese zu retten, muß er sogar sterben wollen, damit diese lebe und er in ihr lebe das einzige Leben, das er von je gemocht hat. So ist eS. Die Liebe, die wahrhaftig Liebe sei und nicht blos eine vorübergehende Begehrlichkeit, haftet nie auf Vergänglichem, sondern sie erwacht und entzündet sich und ruht allein in dem Ewigen. Nicht einmal sich selbst vermag der Mensch zu lieben, es sei denn, daß er sich als EwigeS erfasse; außerdem vermag er sich sogar nicht zu achten, noch zu billigen. Noch weniger vermag er etwas außer sich zu lieben, außer also, daß er es auf­ nehme in die Ewigkeit seines Glaubens und seines Gemüths und es anknüpfe an diese. Wer nicht zuvörderst sich als ewig erblickt, der hat überhaupt keine Liebe und kann auch nicht lieben ein Vaterland, dergleichen es für ihn nicht giebt. Wer zwar vielleicht sein unsicht­ bares Leben, nicht aber eben also sein sichtbares Leben als ewig erblickt, der mag wohl einen Himmel haben und in diesem sein Vaterland, aber hienieden hat er kein Vaterland, denn auch dieses wird nur unter dem Bilde der Ewigkeit und zwar der sichtbaren und versinn­ lichten Ewigkeit erblickt, und er vermag daher auch nicht sein Vaterland zu lieben. Ist einem solchen keins überliefert worden, so ist er zu beklagen; wem eins überliefert worden ist, und in wessen Gemüthe Himmel und Erde, Unsichtbares und Sichtbares sich durch­ dringen und so erst einen wahren und gediegenen Himmel erschaffen, der kämpft bis auf den letzten Blutstropfen, um den theuren Besitz ungeschmälert wiederum zu überliefern an die Folgezeit. So ist eS auch von jeher gewesen, ohnerachtet es nicht von jeher mit dieser Allgemein­ heit und mit dieser Klarheit ausgesprochen worden. Was begeisterte die edlen unter den Römern, deren Gesinnungen und Denkweise noch in ihren Denkmalen unter uns leben und athmen, zu Mühen und Aufopferungen, zum Dulden und Tragen fürs Vaterland? Sie sprechen es selbst oft und deutlich auS. Ihr fester Glaube war es an die ewige Fort­ dauer ihrer Roma und ihre zuversichtliche Aussicht, in dieser Ewigkeit selber ewig mit fort­ zuleben im Strome der Zeit. Inwiefern dieser Glaube Grund hatte und sie selbst, wenn sie in sich selber vollkommen klar gewesen wären, denselben gefaßt haben würden, hat er sie auch nicht getäuscht. Bis auf diesen Tag lebet das, waS wirklich ewig war in ihrer ewigen Roma und sie mit demselben in unserer Mitte fort und wird in seinen Folgen fortleben bis ans Ende der Tage. Volk und Vaterland in dieser Bedeutung, als Träger und Unterpfand der irdischen Ewigkeit, und als dasjenige, was hienieden ewig sein kann, liegt weit hinaus über den Staat im gewöhnlichen Sinne des Worts, über die gesellschaftliche Ordnung, wie dieselbe im bloßen, klaren Begriffe erfaßt und nach Anleitung dieses Begriffs errichtet und erhalten wird. Dieser will gewisses Recht, innerlichen Frieden, und daß jeder durch Fleiß seinen Unterhalt und die Fnstung seines sinnlichen Daseins finde, solange Gott sie ihm gewähren will. Dieses alles ist nur Mittel, Bedingung und Gerüst dessen, waS die Vaterlandsliebe eigentlich will, des Aufblühens des Ewigen und Göttlichen in der Welt, immer reiner, vollkommener und getroffener im unendlichen Fortgänge. Eben darum muß diese Vater­ landsliebe den Staat selbst regieren als durchaus oberste, letzte und unabhängige Behörde, zuvörderst indem sie ihn beschränkt in der Wahl der Mittel für seinen nächsten Zweck, den innerlichen Frieden. Für diesen Zweck muß freilich die natürliche Freiheit des Ein­ zelnen auf mancherlei Weise beschränkt werden, und wenn man gar keine andere Rücksicht und Absicht mit ihnen hätte denn diese, so würde man wohlthun, dieselbe so eng, als immer möglich, zu beschränken, alle ihre Regungen unter eine einförmige Regel zu bringen und sie unter immerwährender Aufsicht zu erhalten. Gesetzt, diese Strenge wäre nicht nöthig, so könnte sie wenigstens für diesen alleinigen Zweck nicht schaden. Nur die höhere Ansicht des Menschengeschlechtes und der Völker erweitert diese beschränkte Berechnung. Freiheit, auch in den Regungen des äußerlichen Lebens, ist der Boden, in welchem die höhere

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Bildung keimt ; eine Gesetzgebung, welche diese letztere im Auge behält, wird der ersteren einen möglichst auSgebreiteten Kreis kaffen selber auf die Gefahr hin, daß ein geringerer Grad der einförmigen Ruhe und Stille erfolge, und daß das Regieren ein wenig schwerer und mühsamer werde. Um dies an einem Beispiele zu erläutern: man hat erlebt, daß Nationen ins Angesicht gesagt worden, sie bedürften nicht so vieler Freiheit als etwa manche andere Nation. Diese Rede kann sogar eine Schonung und Milderung enthalten, indem man eigentlich sagen wollte, sie könnte so viele Freiheit gar nicht ertragen, und nur eine hohe Strenge könne verhindern, daß sie sich nicht unter einander selber aufrieben. Wenn aber die Worte also genommen werden, wie sie gesagt sind, so sind sie wahr unter der Voraussetzung, daß eine solche Nation des ursprünglichen Lebens und des Triebes nach solchem durchaus unfähig sei. Eine solche Nation, falls eine solche, in der auch nicht wenige Edlere eine Ausnahme von der allgemeinen Regel machten, möglich sein sollte, bedürfte in der That gar keiner Freiheit, denn diese ist nur für die höheren, über den Staat hinausliegenden Zwecke; sie bedarf blos der Bezähmung und Abrichtung, damit die Einzelnen friedlich neben einander bestehen, und damit das Ganze zu einem tüchtigen Mittel für willkürlich zu setzende, außer ihr liegende Zwecke zubereitet werde. Wir können unentschieden lassen, ob man irgend einer Nation dies mit Wahrheit sagen könne; so viel ist klar, daß ein ursprüngliches Volk der Freiheit bedarf, daß diese das Unterpfand ist seines Beharrens als ursprünglich, und daß es in seiner Fortdauer einen immer höher steigenden Grad derselben ohne alle Gefahr erträgt. Und dies ist das erste Stück, in Rücksicht dessen die Vaterlandsliebe den Staat selbst regieren muß. Sodann muß sie es sein, die den Staat darin regiert, daß sie ihm selbst einen höheren Zweck setzt denn den gewöhnlichen der Erhaltung des innern Friedens, des Eigenthums, der persönlichen Freiheit, des Lebens und des Wohlseins aller. Für diesen höheren Zweck allein und in keiner andern Absicht bringt der Staat eine bewaffnete Macht zusammen. Wenn von der Anwendung dieser die Rede entsteht, wenn es gilt, alle Zwecke des Staats im bloßen Begriffe, Eigenthum, persönliche Freiheit, Leben und Wohlsein, ja die Fortdauer des Staats selbst auf das Spiel zu setzen, ohne einen klaren Verstandesbegriss von der sichern Erreichung deS Beabsichtigten, dergleichen in Dingen dieser Art nie möglich ist, ursprünglich und Gott allein verantwortlich zu entscheiden: dann lebt am Ruder des Staates erst ein wahrhaft ursprüngliches und erstes Leben, und an dieser Stelle erst treten ein die wahren Majestätsrechte der Regierung, gleich Gott um höhern Lebens willen das niedere Leben daran zu wagen. In der Erhaltung der hergebrachten Verfassung, der Gesetze, des bürgerlichen Wohlstandes ist gar kein rechtes eigentliches Leben und kein ursprünglicher Entschlnß. Umstände und Lage, längst vielleicht verstorbene Gesetzgeber haben diese er­ schaffen; die folgenden Zeitalter gehen gläubig fort auf der angetretenen Bahn und leben so in der That nicht ein eigenes öffentliches Leben, sondern sie wiederholen nur ein ehe­ maliges Leben. Es bedarf in solchen Zeiten keiner eigentlichen Regierung. Wenn aber dieser gleichmäßige Fortgang in Gefahr geräth und es nun gilt, über neue, nie also da­ gewesene Fälle zu entscheiden: dann bedarf eS eines Lebens, das aus sich selber lebe. Welcher Geist nun ist es, der in solchen Fällen sich an das Ruder stellen dürfe, der mit eigner Sicherheit und Gewißheit und ohne unruhiges Hin- und Herschwanken zu entscheiden ver­ möge, der ein unbezweifeltes Recht habe, jedem, den es treffen mag, ob er nun selbst es wolle oder nicht, gebietend anzumuthen und den Widerstrebenden zu zwingen, daß er alles bis auf sein Leben in Gefahr setze? Nicht der Geist der ruhigen bürgerlichen Liebe der Verfassung und der Gesetze, sondern die verzehrende Flamme der höheren Vaterlandsliebe, die die Nation als Hülle des Ewigen umfaßt, für welche der Edle mit Freuden sich opfert und der Unedle, der nur um des ersten willen da ist, sich eben opfern soll. Nicht jene bürgerliche Liebe der Verfassung ist es; diese vermag dies gar nicht, wenn sie bei Verstände

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Oratorische Prosa.

bleibt. Wie es auch ergehen möge, da nicht umsonst regiert wird, so wird sich immer ein Regent für sie finden. Lasset den neuen 9?egcnten sogar die Sklaverei wollen (und wo ist Sklaverei, außer in der Nichtachtung und Unterdrückung der Eigenthümlichkeit eines ursprünglichen Volkes, dergleichen für jenen Sinn nicht vorhanden ist?), lasset ihn auch die Sklaverei wollen, da aus dem Leben der Sklaven, ihrer Menge, sogar ihrem Wohlstände sich Nutzung ziehen läßt, so wird, wenn er nur einigermaßen ein Rechner ist, die Sklaverei unter ihm erträglich ausfallen. Leben und Unterhalt wenigstens werden sie immer finden. Wofür sollten sie denn also kämpfen? Nach jenen beiden ist es die Ruhe, die ihnen über alles geht. Diese wird durch die Fortdauer des Kampfes nur gestört. Sie werden darum alles anwenden, daß dieser nur recht bald ein Ende nehme, sie werden sich fügen, sie werden nachgeben, und warum sollten-sie nicht? ES ist ihnen ja nie um mehr zu thun gewesen, und sie haben vom Leben nie etwas weiteres gehofft denn die Fortsetzung der Gewohnheit, dazusein unter erleidlichen Bedingungen. Die Verheißung eines Lebens auch hienieden über die Dauer des LebenS hienieden hinaus, allein diese ist eS, die bis zum Tode fürs Vaterland begeistern kann. So ist es auch bisher gewesen. Wo da wirklich regiert worden ist, wo bestanden worden sind ernsthafte Kämpfe, wo der Sieg errungen worden ist gegen gewaltigen Widers­ stand, da ist es jene Verheißung ewigen LebenS gewesen, die da regierte und kämpfte und siegle. Im Glauben an diese Verheißung kämpften die in diesen Reden früher erwähnten deutschen Protestanten. Wußten sie etwa nicht, daß auch mit dem alten Glauben Völker regiert und in rechtlicher Ordnung zusammengehalten werden könnten, und daß man auch bei diesem Glauben seinen guten Lebensunterhalt finden könne? Warum beschlossen denn also ihre Fürsten bewaffneten Widerstand, und warum leisteten ihn mit Begeisterung die Völker? Der Himmel war es und die ewige Seligkeit, für welche sie willig ihr Blut ver­ gossen. Aber welche irdische Gewalt hätte denn auch in das innere Heiligthum ihres Ge­ müths eindringen und den Glauben, der ihnen ja nun einmal aufgegangen war, und auf welchen allein sie ihrer Seligkeit Hoffnung gründeten, darin austilgen können? Also, auch ihre eigene Seligkeit war eö nicht, für die sie kämpften; dieser waren sie schon versichert: die Seligkeit ihrer Kinder, ihrer noch ungebornen Enkel und aller ungebornen Nachkommen­ schaft war es; auch diese sollten theilhaftig werden deö Heiles, das für sie angebrochen war; diese Hoffnung allein war es, die durch den Feind bedroht wurde; für sie, für eine Ordnung der Dinge, die lange nach ihrem Tode über ihren Gräbern blühen sollte, verspritzten sie mit dieser Freudigkeit ihr Blut. Geben wir zu, daß sie sich selbst nicht ganz klar waren, daß sie in der Bezeichnung des Edelsten, lvaö in ihnen war, mit Worten sich vergriffen und mit dem Munde ihrem Gemüthe Unrecht thaten; bekennen wir gern, daß ihr Glaubensbekenntnis nicht das einige und ausschließende Mittel war, des Himmels jenseits deS Grabes theilhaftig zu werden: so ist doch dies ewig wahr, daß mehr Himmel diesseits des Grabes, ein muthigeres und fröhlicheres Emporblicken von der Erde und eine freiere Regung des Geistes durch ihre Aufopferung in alles Leben der Folgezeit gekommen ist und die Nachkommen ihrer Gegner ebensowohl, als wir selbst, ihre Nachkommen, die Früchte ihrer Mühen bis auf diesen Tag genießen. In diesem Glauben setzten unsre ältesten gemeinsamen Vorfahren, das Stammvolk der neuen Bildung, die von den Römern Germanier genannten Deutschen, sich der herandrin­ genden Weltherrschaft der Römer muthig entgegen. Sahen sie denn nicht vor Augen den höhern Flor der römischen Provinzen neben sich, die feinern Genüsse in denselben, dabei Gesetze, Richterstühle, Ruthenbündel und Beile in Überfluß? Waren die Römer nicht bereit­

willig genug, sie an allen diesen Segnungen theilnehmen zu lassen? Erlebten sie nicht an mehrern ihrer eigenen Fürsten, die sich nur bedeuten ließen, daß der Krieg gegen solche Wohlthäter der Menschheit Rebellion sei, Beweise der gepriesenen römischen Klemenz, indem sie die Nachgiebigen mit Königstiteln, mit Anführerstellen in ihren Heeren, mit römischen

Weltliche Beredsamkeit.

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Opferbinden zierten, ihnen, wenn sie etwa von ihren Landsleuten auSgetrieben wurden, einen Zufluchtsort und Unterhalt in ihren Pflanzstädten gaben? Hatten sie keinen Sinn für die Vorzüge römischer Bildung, z.B. für die bessere Einrichtung ihrer Heere, in denen sogar ein Arminius das Kriegshandwerk zu erlernen nicht verschmähte? Keine von allen diesen Unwissenheiten oder Nichtbeachtungen ist ihnen aufzurücken. Ihre Nachkommen haben sogar, sobald sie es ohne Verlust für ihre Freiheit konnten, die Bildung derselben sich angeeignet, inwieweit es ohne Verlust ihrer Eigenthümlichkeit möglich war. Wofür haben sie denn also mehrere Menschenalter hindurch gekämpft im blutigen, immer mit derselben Kraft sich wieder erneuernden Kriege? Ein römischer Schriftsteller läßt es ihre Anführer also aussprechen, „ob ihnen denn etwas anderes übrigbleibe, als entweder die Freiheit zu behaupten, oder zu sterben, bevor sie Sklaven würden." Freiheit war ihnen, daß sie eben Deutsche blieben, daß sie fortführen, ihre Angelegenheiten selbständig und ursprünglich, ihrem eignen Geiste gemäß zu entscheiden und diesem gleichfalls gemäß auch in ihrer Fortbildung vorwärts zu rücken, und daß sie diese Selbständigkeit auch auf ihre Nachkommenschaft fortpflanzten; Sklaverei hießen ihnen alle jene Segnungen, die chnen die Römer antrugen, weil sie dabei etwas anderes denn Deutsche, weil sie halbe Römer werden müßten. Es verstehe sich von selbst, setzten sie voraus, daß jeder, ehe er dies werde, lieber sterbe, und daß ein wahrhafter Deut­ scher nur könne leben wollen, um eben Deutscher zu sein und zu bleiben und die ©einigen zu eben solchen zu bilden. Sie sind nicht alle gestorben, sie haben die Sklaverei nicht gesehen, sie haben die Frei­ heit hinterlassen ihren Kindern. Ihrem beharrlichen Widerstände verdankt eö die ganze neue Welt, daß sie da ist, so wie sie da ist. Wäre es den Römern gelungen, auch sie zu nnterjochen und, wie dieS der Römer allenthalben that, sie als Nation auszurotten, so hätte die ganze Fortentwicklung der Menschheit eine andere und man kann nicht glauben erfreu­ lichere Richtung genommen. Ihnen verdanken wir, die nächsten Erben ihres Bodens, ihrer Sprache und ihrer Gesinnung, daß wir noch Deutsche sind, daß der Strom ursprünglichen und selbständigen Lebens uns noch trägt; ihnen verdanken wir alles, was wir seitdem als Nation gewesen sind, ihnen, falls es nicht etwa jetzo mit uns zu Ende ist und der letzte von ihnen abgestammte Blutstropfen in unsern Adern versiegt ist; ihnen werden wir verdanken alles, waS wir noch ferner sein werden. Ihnen verdanken selbst die übrigen, uns jetzt zum Auslande gewordenen Stämme, in ihnen unsere Brüder, ihr Dasein; als jene die ewige Roma besiegten, war noch feind aller dieser Völker vorhanden; damals wurde zugleich auch ihnen die Möglichkeit ihrer künftigen Entstehung mit erkämpft. Diese und alle anderen in der Weltgeschichte, die ihres Sinnes waren, haben gesiegt, weil das Ewige sie begeisterte, und so siegt immer und nothwendig diese Begeisterung über den, der nicht begeistert ist. Nicht die Gewalt der Arme, noch die Tüchtigkeit der Waffen, sondern die Kraft des Gemüths ist eö, welche Siege erkämpft. Aus Fichtes Reden an die deutsche Ration.

4. An das Deutsche Volk! Wir

Wilhelm,

von Gottes Gnaden Köniz von Preußen,

nachdem die Deutschen Fürsten und freien Städte den einmüthigen Ruf an UnS gerichtet haben, mit Herstellung des Deutschen Reiches die feit mehr denn sechzig Jahren ruhende Deutsche Kaiserwürde zu erneuern und zu übernehmen, und nachdem in der Verfassung deS Deutschen Bundes die entsprechenden Bestimmungen vorgesehen sind, bekunden hiermit, daß Wir es als eine Pflicht gegen das gemeinsame Vaterland betrachtet haben, diesem Rufe der verbündeten Deutschen Fürsten und Städte Folge zu leisten und die Deutsche Kaiserwürde

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Anhang.

anzunehmen. Demgemäß werden Wir und Unsere Nachfolger an der Krone Preußen fortan den Kaiserlichen Titel in allen Unseren Beziehungen und Angelegenheiten des Deutschen Reiches führen und hoffen zu Gott, daß es der Deutschen Nation gegeben sein werde, unter dem Wahrzeichen ihrer alten Herrlichkeit das Vaterland einer segensreichen Zukunft entgegenzuführen. Wir übernehmen die Kaiserliche Würde in dem Bewußtsein der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reichs und seiner Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die geeinte Kraft seines Volkes, zu vertheidigen. Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß dem Deutschen Volke vergönnt sein wird, den Lohn seiner heißen und opfermuthigen Kampfe in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen, welche dem Vaterlande die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe Frankreichs gewähren. Uns aber und Unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allzeit Mehrer des Deutschen Reichs zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung. Gegeben Hauptquartier Versailles, den 18. Januar 1871.

Wilhelm.

Anhang. Briefe.

1. C. Plinius seinem Cornelius Tacitns. Du ersuchst mich, Dir über den Tod meines Oheims Nachricht zu ertheilen, um der Nachwelt desto getreueren Bericht davon zu überliefern. Ich danke Dir dafür; denn ich weiß, daß seinem Tode, von Dir gefeiert, ein unsterblicher Nachruhm zu Theil werden wird. Wenngleich er bei der Zerstörung der herrlichsten Länder seinen Tod fand, gleich Völkern und Städten durch ein großartiges Unglück unsterblich; wenngleich er selbst viel Werke, die ihn überdauern werden, schrieb: so wird dennoch die Unvergänglichkeit Deiner Schriften

seinen ewigen Nachruhm noch vergrößern. In gleicher Weise glücklich preise ich diejenigen, welchen eS durch die Gunst der Götter beschieden ist, zu thun, was niedergeschrieben, oder niederzuschreiben, was gelesen zu werden verdient; am glücklichsten aber diejenigen, denen beides zu Theil ward. Zu den letzteren wird mein Oheim durch seine und Deine Schriften gehören. Um so bereitwilliger übernehme ich, was Du mir austrägst, ja ich fordere Dich sogar dazu auf. Er befand sich zu Miscnum, wo er persönlich den Befehl über die Flotte führte. Am 9. Tage vor den Kalenden des Septembers in der 7. Stunde zeigt ihm meine Mutter an, es sei eine Wolke von ungewöhnlicher Größe und Art sichtbar. Mein Oheim hatte sich gesonnt, ein kaltes Wasierbad genommen, dann liegend gefrühstückt und studirte; er verlangt seine Sandalen und steigt sogleich auf die Anhöhe, von der man die wunderbare Erscheinung am besten sehen konnte. Eine Wolke erhob sich (aus welchem Berge, konnten die Fern­ stehenden nicht genau wissen; erst später erfuhr man, daß es der Vesuv gewesen sei), deren Ähnlichkeit und Gestalt kein anderer Baum besser als die Pinie wiedergegeben haben würde.

Denn gleichsam zu einem mächtigen Stamme hoch aufgeschossen, breitete sie sich oben in mehrere Zweige aus, wie ich glaube, weil sie zuerst von einem heftigen Windstoß gehoben,

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Anhang.

anzunehmen. Demgemäß werden Wir und Unsere Nachfolger an der Krone Preußen fortan den Kaiserlichen Titel in allen Unseren Beziehungen und Angelegenheiten des Deutschen Reiches führen und hoffen zu Gott, daß es der Deutschen Nation gegeben sein werde, unter dem Wahrzeichen ihrer alten Herrlichkeit das Vaterland einer segensreichen Zukunft entgegenzuführen. Wir übernehmen die Kaiserliche Würde in dem Bewußtsein der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reichs und seiner Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die geeinte Kraft seines Volkes, zu vertheidigen. Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß dem Deutschen Volke vergönnt sein wird, den Lohn seiner heißen und opfermuthigen Kampfe in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen, welche dem Vaterlande die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe Frankreichs gewähren. Uns aber und Unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allzeit Mehrer des Deutschen Reichs zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung. Gegeben Hauptquartier Versailles, den 18. Januar 1871.

Wilhelm.

Anhang. Briefe.

1. C. Plinius seinem Cornelius Tacitns. Du ersuchst mich, Dir über den Tod meines Oheims Nachricht zu ertheilen, um der Nachwelt desto getreueren Bericht davon zu überliefern. Ich danke Dir dafür; denn ich weiß, daß seinem Tode, von Dir gefeiert, ein unsterblicher Nachruhm zu Theil werden wird. Wenngleich er bei der Zerstörung der herrlichsten Länder seinen Tod fand, gleich Völkern und Städten durch ein großartiges Unglück unsterblich; wenngleich er selbst viel Werke, die ihn überdauern werden, schrieb: so wird dennoch die Unvergänglichkeit Deiner Schriften

seinen ewigen Nachruhm noch vergrößern. In gleicher Weise glücklich preise ich diejenigen, welchen eS durch die Gunst der Götter beschieden ist, zu thun, was niedergeschrieben, oder niederzuschreiben, was gelesen zu werden verdient; am glücklichsten aber diejenigen, denen beides zu Theil ward. Zu den letzteren wird mein Oheim durch seine und Deine Schriften gehören. Um so bereitwilliger übernehme ich, was Du mir austrägst, ja ich fordere Dich sogar dazu auf. Er befand sich zu Miscnum, wo er persönlich den Befehl über die Flotte führte. Am 9. Tage vor den Kalenden des Septembers in der 7. Stunde zeigt ihm meine Mutter an, es sei eine Wolke von ungewöhnlicher Größe und Art sichtbar. Mein Oheim hatte sich gesonnt, ein kaltes Wasierbad genommen, dann liegend gefrühstückt und studirte; er verlangt seine Sandalen und steigt sogleich auf die Anhöhe, von der man die wunderbare Erscheinung am besten sehen konnte. Eine Wolke erhob sich (aus welchem Berge, konnten die Fern­ stehenden nicht genau wissen; erst später erfuhr man, daß es der Vesuv gewesen sei), deren Ähnlichkeit und Gestalt kein anderer Baum besser als die Pinie wiedergegeben haben würde.

Denn gleichsam zu einem mächtigen Stamme hoch aufgeschossen, breitete sie sich oben in mehrere Zweige aus, wie ich glaube, weil sie zuerst von einem heftigen Windstoß gehoben,

Briefe.

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dann von dem schwacher werdenden wieder sinken gelassen wurde oder auch, von ihrem eigenen Gewichte überwunden, sich in die Breite verlor, zuweilen weiß, zuweilen schmutzig und grau, je nachdem sie Erde oder Asche mit sich in die Höhe geführt. Ihm, als einem sehr gelehrten Manne, dünkte es gut, daS Ereignis in der Nähe kennen zu lernen. Er be­ fiehlt, eine Liburnika in Bereitschaft zu setzen, und fordert mich auf, ihn zu begleiten, worauf ich antworte, ich zöge es vor zu studiren,' und zufällig hatte er mir selbst etwas zum Ab­

schreiben gegeben. Er verließ das Haus und nahm Schreibtafeln mit sich. Die Bewohner von Retina, durch den Vorfall und die drohende Gefahr erschreckt, baten, er möge sie so großer Noth entreißen. Er ändert nun seinen Plan, und was er aus Wißbegierde unter­ nommen, vollendet er mit dem größten Muthe. Er läßt die Quadriremen in die See stechen, besteigt ein solches Schiff, um nicht allein den Bewohnern von Retina, sondern auch vielen anderen, denn die Küste war wegen ihrer schönen Lage sehr bewohnt, Beistand zu leisten. Er eilt dahin, von wo die anderen fliehen, und wendet den Lauf des Schiffes und die Steuer der Gefahr gerade entgegen so furchtlos, daß er alle Bewegungen jenes Unheils, alle Erscheinungen, wie er sie erblickte, niederschreiben ließ und selbst aufzeichnete. Schon fiel Asche auf die Schiffe, je näher heran, desto heißer und dichter; auch Bimstein und schwarze, vom Feuer gebrannte und zerborstene Steine. Schon war eine plötzliche Ebbe eingetreten, und der Einsturz des Berges hatte diese Ufer verschüttet. Nach einigem Bedenken, ob er umkehren solle, ruft er dem Steuermanne, der solches anräth, zu: „ Dem Muthigen ist das Glück günstig; (teure zu dem Pomponianns!" Von diesem war er durch den Meerbusen geschieden; denn das Meer dringt hier nach und nach in die im Bogen gelegenen Ufer hinein. Dieser hatte, obwohl die Gefahr sich noch nicht näherte, allein, wenn sie Fortschritte machte, sehr nahe kommen mußte, daS Gepäck auf die Schiffe ge­ bracht, zur Flucht entschlossen, sobald der widrige Wind sich gelegt haben würde. Mein Oheim, durch denselben für ihn sehr günstigen Wind dorthin geführt, umarmt den Zittern­ den, tröstet, ermahnt ihn, und um die Furcht desselben durch seine Gemüthsruhe zu be­ schwichtigen, läßt er sich in das Bad bringen. Nachdem er sich gebadet, legt er sich nieder, speist zu Abend sehr vergnügt oder, was ebenso großartig, doch dem Anscheine nach vergnügt. Unterdessen schlugen aus dem Vesuv an vielen Stellen große Flammen und hohe Feuer hervor, deren Glanz und Helle durch die Finsternis der Nacht gesteigert wurden. Um den Andern die Furcht zu benehmen, sagte mein Oheim, daß die von den erschrockenen Land­ leuten verlassenen Dörfer in Brand gerathen seien, dann legte er sich zur Ruhe und schlief in der That sehr fest; denn sein Athmen, welches bei ihm wegen seiner Wohlbeleibtheit im Schlafe schwerer und tönender als bei anderen war, wurde von denen, die sich vor der Thür befanden, sehr wohl gehört. Schon füllte sich der Hofraum, welcher zu seinem Zimmer führte, so mit Asche und Bimstein an, daß ihm, wenn er länger auf dem Ruhebette gelegen, der AuSgang verwehrt gewesen sein würde. Man weckt ihn auf, er kommt heraus und kehrt zu Pomponianus und den Anderen, welche die Nacht hindurch gewacht hatten, zurück. Sie pflegten gemein­ schaftlich Rath, ob sie unter Dach bleiben oder ins Freie gehen sollen; denn durch häufige und starke Erdstöße wurden die Gebäude ins Schwanken gebracht und schienen sich bald da-, bald dorthin zu neigen. Im Freien befürchtete man das Herabfallen der, wenngleich leichten, porösen Bimsteine; jedoch bestimmte eine Vergleichung der Fährlichkeiten sie zu dem letzteren. Bei meinem Oheim wurde die Überlegung durch die Überlegung, bei jenen die

Furcht durch die Furcht besiegt. Sie banden sich Kissen mit Tüchern auf den Kopf als Schutzmittel gegen den Brand. Schon ward es anderwärts Tag; hier war es noch Nacht, schwärzer und dichter, als jemals eine war, welche man jedoch durch Fackeln und andere Erleuchtung zu erhellen suchte. Man fand für gut, an den Strand zu gehen, um zu sehen, ob das Meer die Fahrt gestatte, welches jedoch noch aufgeregt und . entgegen war. Hier,

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auf einen Teppich gestreckt, forderte mein Oheim mehrmals kaltes Wasser und trank. Hier­ auf vertreiben Flammen und der ihnen vorangehende Schwefelqualm die Anderen, ihn nöthigen sie aufzustehen. Auf zwei Knaben gestützt, erhebt er sich, sinkt aber sogleich todt nieder, da ihm, wie ich vermuthe, in dem dichten Dunst der Athem beklommen ward und sich ihm die Luftröhre, die von Natur schwach, beengt und öfter stöhnend war, schloß. Als es wiederum Tag ward, es war nach dem, den er zuletzt gesehen hatte, der dritte, fand man ihn unversehrt und unbeschädigt, vollständig angekleidet, dem Aussehen nach mehr einem Schlummernden als einem Entschlafenen ähnlich. Ich und die Mutter befanden uns unter­ dessen zu Misenum. Allein dies gehört nicht zur Geschichte, und Du wolltest nichts weiter als nur das Nähere über seinen Tod wissen. Ich schließe daher und füge nur noch hinzu, daß ich alles, wobei ich zugegen war, und was ich in dem ersten Augenblicke, wo man die Wahrheit noch am sichersten erfährt, hörte, getreu mitgetheilt habe. Du wirst das Wichtigste davon für Dich ausziehen. Denn ein anderes ist es, eine Geschichte, ein anderes, einen Brief, ein anderes, dem Freunde, ein anderes, für alle zu schreiben. Lebe wohl!

2.

Rabener an Gellert. Dresden, am 9. August 1760.

Liebster Gellert! Erlauben Sie mir, daß ich mich auch mit Ihnen von meinem traurigen Schicksale unter­ halte; denn ich finde eine große Beruhigung darinnen, wenn ich einem so lieben Freunde, wie Sie sind, mein Unglück klagen kann. Was die Umstände dieser Belagerung überhaupt betrifft, so werde ich mich dabei wenig aufhalten und mich auf ein Diarium beziehen, welches unter der Autorität unseres Gouverneurs heute herausgekommen und sehr zuverlässig ist; nur von meinen eigenen Zufällen will ich etwas melden. Am 14. Juli mit Anbruche des Tages fing sich die Kanonade und das Einwerfen der Haubitzgranaten auf die schrecklichste Art an. Früh um acht Uhr kam eine solche Granate in mein Zimmer (sie mochte mehr als 30 Pfund wiegen), zerschmetterte die Stube meines Bedienten und zündete. Wir löschten den Brand und machten alle mögliche Anstalten. Weil es aber Granaten und zwölfpfündige Kugeln auf mein Haus und die benachbarte Gegend regnete, welches die Absicht haben mochte, das zwanzig Schritte von meiner Wohnung befindliche Pulvermagazin in die Luft zu sprengen, so packte ich meine Sachen, soviel es ohne Gefahr, erschossen zu werden, anging, zusammen, schasste sie theils in den Keller, theils in ein Gewölbe und flüchtete abends acht Uhr nach der Neustadt. Aber auch hier sing am 15. die Angst an, und in kurzer Zeit fuhren einige zwölfpfündige Kugeln ins Haus nahe bei mir vorbei. In dieser Lebensgefahr brachten wir bis Sonnabend zu, wo die Daunische Armee die Seite von der Neustadt befreite, welches die größte Gnade war, die uns Gott in der Beängstigung erzeigen konnte. Denn eben diesen Tag, besonders um 12 Uhr mittags, ging das un­ glückliche Bombardement der Residenz an. Mehr als hundert Bomben sielen in einer Zeit von drei Stunden auf die Kreuzgasse und Kirche; um zwei Uhr brannte mein Haus, und um vier Uhr wußte ich mein Schicksal. Die Bomben hatten das Gewölbe, wohin wir alle unsere Sachen geschafft hatten, zerschmettert und alles verbrannt; der Keller aber war von den Soldaten, welche löschen sollten, rein ausgeplündert worden. Mein Bedienter, der treueste Mensch von der Welt, hatte sich so lange im Hause aufgehalten, bis es anfing ein­ zustürzen; er hatte ein Dutzend solcher Schurken hinausgeprügelt, endlich aber ward er übermannt und flüchtete zu mir nach der Neustadt. Vor Vergnügen, den ehrlichen Kerl, den ich schon für erschossen oder verbrannt hielt, wiederzusehen, fühlte ich den Schmerz nur halb, den mir die Nachricht von meinem Verluste natürlicher Weise verursachen mußte. Sollte es nicht weh thun, liebster G., zu erfahren, daß alle meine Betten, Kleider, Wäsche, Bücher, Papiere, Schränke und Stühle zu Asche verbrannt waren? Und Sie wissen, wie

Briefe.

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reichlich mich der Himmel mit allen diesen gesegnet hatte. Gott zum Preise muß ich ge­ stehn, daß ich mich über diesen großen Verlust nicht einen Augenblick betrübte. ES war weder Reflexion, noch Philosophie, die mich so wunderbar beruhigte; Gottes Gnade allein war es. Nichts von allem habe ich gerettet als einen abgetragenen Zeugrock und ein paar alte Oberhemden, die ich auf die Seite gelegt hatte, um sie meinem Bedienten zu geben. Sonntags früh fing man an, auch für die Neustadt besorgt zu sein, und viel tausend Men­ schen gingen zum Thore hinaus auf das offene Feld und die Weinberge. Ich folgte mit, nnd mein Bedienter mußte mein Bündelchen unter den Arm nehmen, meinen ganzen Reich­ thum. Vor dem Schlag fand ich einen zerbrochenen Weinpfahl, auf den stützte ich mich und wadete bei einer brennenden Hitze durch den Sand einer Meile Wegs weit zu meinem Freunde auf seinen Weinberg, wo ich nothdürftiges Esten und gutes Master fand. Seit dem 13. abends war ich in kein Bette gekommen, und auch hier lag ich bis Mittwochs auf der Erde. Ich ritt endlich selbigen Tags nach Hohenstein, vier Meilen von Dresden, und weil mein Bedienter ganz kraftlos war, so ließ ich ihn zwei Meilen reiten und den übrigen Weg ging er zu Fuße. In Hohenstein fand ich gute Freunde, die auch abgebrannt waren, und wir lebten ruhig, bequem und sehr vergnügt. Sonnabends nach dem Bußtage gingen wir zurück, und ich befinde mich seitdem gesund, doch, wie Sie wohl glauben können, gar nicht in meiner Ordnung. Ich bin noch vor vielen tausend Menschen glücklich, denn keiner von meinen Freunden und Bekannten ist verbrannt oder erschoffen worden, ich bin gesund geblieben und habe noch baar Geld gerettet. Etwas von altem Tisch- und Bettzeuge ist bei einem Bekannten unvermuthet geborgen worden, und so wenig ich eö vordem achtete, so lieb ist es mir nunmehr. Der Mangel an Kleidern und Wäsche ist mir der empfind­ lichste, weil man hier nichts bekommen kann und nicht weiß, wie lange uns Gott Ruhe schenkt. Meine Bücher, die dauern mich; alle Aufsätze und Manuskripte, die nach meinem Tode sollten gedruckt werden, sind mit verbrannt. Ein großes Glück für die Narren künf­ tiger Zeit! Alle Briefe von Ihnen und meinen übrigen Freunden nebst einer zum künftigen Drucke fertig liegenden Sammlung von witzigen Briefen verschiedener Art sind leider auch fort. Empfehlen Sie mich allen meinen Freunden aufs beste. Leben Sie wohl, mein bester Freund! Ich bin in Feuer - und Wassersnoth Ihr redlicher Raben er.

3.

Gellert an Nabener. Leipzig, den 29. Januar 1761.

Liebster Rabener! Sie mögen mit mir machen, was Sie wollen, so werde ich Ihnen doch diesmal keine ausführliche Antwort schreiben; denn ich bin schon seit vierzehn Tagen von einem Husten und von Schmerzen in der linken Hüfte krank. Es ist wahr, daß ich in der Mitte des letzten Monats vorigen Jahres durch einen Major zu dem Könige gerufen worden bin, daß er sich von vier Uhr bis drei Viertel auf sechs Uhr mit mir von den schönen Wissenschaften und der deutschen Literatur und der Methode, womit er seine Hypochondrie kurirt, und mit der ich die meinige kuriren sollte, unterredet; daß er mir sehr gnädig begegnet hat, daß ich wider allen meinen Charakter ohne die geringste Furcht, ohne Begierde zu gefallen blos das, was Wahrheit und Ehrerbietung befahlen, geredet und eben deswegen gefallen habe. Am Ende des Gesprächs fragte er mich, ob ich keine von meinen Fabeln auswendig könne? „Nein, Sire." „Besinne Er sich doch, Herr Professor, ich will etliche Male in der Stube auf- und niedergehen." Endlich fiel ich, ohne zu wissen warum, auf den Maler, die letzte Fabel im ersten Theile. „Nun," sagte er, „das ist gut, das ist sehr gut, natürlich, kurz und leicht. Das habe ich nicht gedacht. Wo hat Er so schreiben lernen?" „In der Schule der Natur." „Hat Er Lafontaine nachgeahmt?" „Nein, JhroMajestät, ich bin ein

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Original; aber darum weiß ich noch nicht, ob ich ein gutes bin." „Nein, ich muß Ihn loben." Und da sagte er zum Major, der dabei stand, noch viel zu meinem Lobe, das ich in der That nicht hören wollte. „Komme Er wieder zu mir, und stecke Er seine Fabeln bei sich, und lese Er mir welche vor." Allein, guter Rabener, ich bin nicht wiedergekommen. Der König hat mich nicht wieder rufen lasten, und ich habe an Sirachs Worte gedacht: Dränge dich nicht zu den Königen. Er hat mich den Tag darauf bei der Tafel gegen den Obristlieutenant Marwitz, auch den englischen Gesandten, den Marquis d’Argens, den Lektor le Cat und andere, die mir's wieder gesagt haben, mit einem Lobspruche gelobt, den ich nicht hersetzen will, weil eS doch eitel sein würde. Der König sprach bald deutsch, bald französisch, ich meistens deutsch, nur im Nothfalle französisch. Den ausführlichen Inhalt einem Briefe anzuvertrauen, würde wenigstens wider die Klugheit sein. Warten Sie, bis ich Sie spreche. Gott gebe, daß dieses bald geschehen und daß ich Sie gesund uud zufrieden umarmen kann, wo es auch sei. Das Ende Ihres Briefes, lieber Rabener, ist sehr ernsthaft. Allein Ihr Ernst ist mir so schätzbar, als kaum Ihr Scherz. Sie reden von Ihrem Tode. Ja, davon sollten wir alle reden, oft reden und getrost wie Sie reden. Gott laste uns leben, um wohl zu sterben zu der Zeit, da er es beschloffen hat. Menschlich zu urtheilen, müssen Sie mich lange und weit überleben. Ich umarme Sie, liebe Sie und bin ewig der Ihrige. Gellert. N. S. Den 5. Februar. Ich habe alle Tage noch mehr zu diesem Briefe schreiben wollen und nicht gekonnt; morgen soll er also fortgehen. Eins können Sie noch anhören. Der König fragte nach den guten deutschen Schriftstellern, und die ersten, die mir einfielen, waren Sie und Cramer. Er schmälte auf die Härte und Unförmlichkeit der deutschen Sprache. „Aber warum nöthigen uns die Deutschen nicht durch solche gute Bücher wie die Franzosen, daß wir sie lesen müssen?" „Bielleicht, Sire, fehlt uns noch die Zeit, vielleicht auch fehlen uns noch Auguste und Louis XIV." „ Sachsen hat ja schon zween Auguste gehabt." „ Ja, Sire, und wir haben auch schon einen guten Anfang in der schönen Literatur gemacht. Als die Griechen aufhörten zu schreiben, .fingen die Römer an. Wir hosten ruhigere Zeiten." „So? Ge­ fallen Ihm diese Zeilen nicht? Sind's böse Zeiten?" „Ich wünsche ruhigere Zeilen, und wenn ich der König von Preußen wäre, so hätten die Deutschen Frieden." „So? Steht dies bei mir? Drei wider Einen!" „Ich wiederhole es noch einmal, Sire, wollte Gott, Sie gäben uns den Frieden." „Ja! ja!" Gellert.

4. Goethe an Schiller. Zu meinem Geburtstag, der mir diese Woche erscheint, hätte mir kein angenehmer Geschenk werden können als Ihr Brief, in welchem Sie mit freundschaftlicher Hand die Summe meiner Existenz ziehen und mich durch Ihre Theilnahme zu einem emsigern und lebhaftern Gebrauch meiner Kräfte aufmuntern. Reiner Genuß und wahrer Nutzen kann nur wechselseitig sein, und ich freue mich, Ihnen gelegentlich zu entwickeln, was mir Ihre Unterhaltung gewährt hat, wie ich von jenen Tagen an auf eine Epoche rechne, und wie zufrieden ich bin, ohne sonderliche Auf­ munterung auf meinem Wege fortgegangen zu sein, da es nun scheint, als wenn wir nach einem so unvermutheten Begegnen mit einander fortwandern müßten. Ich habe den red­ lichen und so seltenen Ernst, der in allem erscheint, was Sie geschrieben und gethan haben, immer zu schätzen gewußt, und ich darf nunmehr Anspruch machen, durch Sie selbst mit

Briefe.

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dem Gange Ihres Geistes, besonders in den letzten Jahren, bekannt zu werden. Haben wir uns wechselseitig die Punkte klar gemacht, wohin wir gegenwärtig gelangt sind, so wer­ den wir desto ununterbrochener gemeinschaftlich arbeiten können. Alles, was an und in mir ist, werde ich mit Freuden mittheilen. Denn da ich sehr lebhaft fühle, daß mein Unternehmen das Maß der menschlichen Kräfte und ihre irdische Dauer weit übersteigt, so möchte ich manches bei Ihnen deponiren und dadurch nicht allein erhalten, sondern auch beleben. Wie groß der Vortheil Ihrer Theilnehmung für mich sein wird, werden Sie bald selbst sehen, wenn Sie bei näherer Bekanntschaft eine Art Dunkelheit und Zaudern bei mir entdecken, über die ich nicht Herr werden kann, wenn ich mich ihrer gleich bewußt bin. Doch dergleichen Phänomene finden sich mehr in unserer Natur, von der wir uns denn doch gerne regieren lassen, wenn sie nur nicht gar zu tyrannisch ist. Ich hoffe, bald einige Zeit bei Ihnen zuzubringen, und dann wollen wir manches durchsprechen. Leben Sie recht wohl und gedenken Sie mein in Ihrem Kreise!

Ettersberg, den 27. August 1794. Goethe.

5. Schiller an Goethe. Jena, den 31. August 1794.

Bei meiner Rückkunft aus Weißenfels, wo ich mit meinem Freunde Körner aus Dresden eine Zusammenkunft gehabt, erhielt ich Ihren Brief, dessen Inhalt mir doppelt erfreulich war; denn ich ersehe daraus, daß ich in meiner Ansicht Ihres Wesens Ihrem eigenen Gefühl begegnete, und daß Ihnen die Aufrichtigkeit, mit der ich mein Herz darin sprechen ließ, nicht mißfiel. Unsre späte, aber mir manche schöne Hoffnung erweckende Be­ kanntschaft ist mir abermals ein Beweis, wie viel besser man oft thut, den Zufall machen zu lassen, als ihm durch zu viele Geschäftigkeit vorzugreifen. Wie lebhaft auch immer mein Verlangen war, in ein näheres Verhältnis zu Ihnen zu treten, als zwischen dem Geist des Schriftstellers und seinem aufmerksamsten Leser möglich ist, so begreife ich doch nunmehr vollkommen, daß die so sehr verschiedenen Bahnen, auf denen Sie und ich wandelten, uns nicht wohl früher als gerade jetzt mit Nutzen zusammenführen konnten. Nun kann ich aber hoffen, daß wir, so viel von dem Wege noch übrig sein mag, in Gemeinschaft durchwandeln werden und mit um so größerem Gewinn, da die letzten Gefährten auf einer langen Reise sich immer am meisten zu sagen haben. Erwarten Sie bei mir keinen großen materialen Reichthum von Ideen; dies ist es, was ich bei Ihnen finden werde. Mein Bedürfnis und Streben ist, aus wenigem viel zu machen, und wenn Sie meine Armuth an allem, was man erworbene Kenntnis nennt, einmal näher kennen sollten, so finden Sie vielleicht, daß es mir in manchen Stücken damit mag gelungen sein. Weil mein Gedankenkreis kleiner ist, so durchlaufe ich ihn eben darum schneller und öfter und kann eben darum meine kleine Baarschaft besser nutzen und eine Mannigfaltigkeit, die dem Inhalte fehlt, durch die Form erzeugen. Sie bestreben Sich, Ihre große Ideenwelt zu simplifiziren, und ich suche Varietät für meine kleinen Besitzungen. Sie haben ein Königreich zu regieren, ich nur eine etwas zahlreiche Familie von Begriffen, die ich herzlich gern zu einer kleinen Welt erweitern möchte. Ihr Geist wirkt in einem außerordentlichen Grade intuitiv, und alle Ihre denkenden Kräfte scheinen auf die Imagination als ihre gemeinschaftliche Repräsentantin gleichsam kompromittirt zu haben. Im Grund ist dies das Höchste, was der Mensch aus sich machen kann, sobald es ihm gelingt, seine Anschauung zu generalisiren und seine Empfindung gesetz­ gebend zu machen. Darnach streben Sie, und in wie hohem Grade haben Sie es schon erreicht! Mein Verstand wirkt eigentlich mehr symbolisirend, und so schwebe ich als eine Zwitterart zwischen dem Begriff und der Anschauung, zwischen der Regel und der Empfin-

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düng, zwischen dem technischen Kopf und dem Genie. Dies ist eS, was mir besonders in früheren Jahren sowohl amf dem Felde der Spekulation, als der Dichtkunst ein ziemlich linkisches Ansehen gegeben; denn gewöhnlich übereilte mich der Poet, wo ich philosophiren sollte, und der philosophische Geist, wo ich dichten wollte. Noch jetzt begegnet es mir häufig genug, daß die Einbildungskraft meine Abstraktionen, und der kalte Verstand meine Dich­ tung stört. Kann ich dieser beiden Kräfte insoweit Meister werden, daß ich einer jeden durch meine Freiheit ihre Grenzen bestimmen kann, so erwartet mich noch ein schönes Loos; leider aber, nachdem ich meinte moralischen Kräfte zu kennen und zu gebrauchen angefangen, drohte eine Krankheit meine physischen zu untergraben. Eine große und allgemeine Geistes­ revolution werde ich schwerlich Zeit haben in mir zu vollenden, aber ich werde thun, was ich kann, und wenn endlich daS Gebäude zusammenfällt, so habe ich doch vielleicht das ErhaltungSwerthe aus dem Brande geflüchtet. Sie wollten, daß ich von mir selbst reden sollte, und ich machte von dieser Erlaubnis Gebrauch. Mit Vertrauen lege ich Ihnen diese Geständnisse hin, und ich darf hoffen, daß Sie sie mit Liebe aufnehmen.. Alles bei uns empfiehlt sich Ihrem freundschaftlichen Andenken; ich bin mit der herzlichsten Verehrung der Ihrige. Schiller.

6. Wilhelm v. Humboldt an Schiller. Tegel, den 25. Oktober 1795. Ihre Elegie, liebster Freund, hat mich zu sehr gefeflelt, als daß ich es mir nicht, da Sie mir kein baldiges Zurückschicken empfohlen hatten, hätte vergönnen sollen, sie länger zu behalten, um sie ganz zu.studiren und mich mit jedem einzelnen Theile genau bekannt zu machen. Wohin man sich wendet, wird man durch den Geist überrascht, der in diesem Stücke herrscht, aber vorzüglich stark wirkt daö Leben, daS dies unbegreiflich schön organifirte Ganze beseelt. Ich gestehe offenherzig, daß unter allen Ihren Gedichten ohne Aus­ nahme dies mich am meisten anzieht und mein Inneres am lebendigsten und höchsten bewegt. Es hat den reichsten Stoff und überdies gerade den, der mir meiner Ansicht der Dinge nach immer am nächsten liegt. Es stellt die veränderliche Strebsamkeit des Menschen der sicheren Unveränderlichkeit der Natur zur Seite, führt auf den wahren Gesichtspunkt, beide zu über­ sehen, und verknüpft somit alles Höchste, was ein Mensch zu denken vermag. Den ganzen, großen Inhalt der Weltgeschichte, die Summe und den Gang alles menschlichen Beginnens, seine Erfolge, seine Gesetze und sein letztes Ziel, alles umschließt es in wenigen, leicht zu übersehenden und doch so wahren und erschöpfenden Bildern. DaS eigentliche poetische Ver­ dienst scheint mir in diesem Gedichte sehr groß; fast in keinem Ihrer übrigen sind Stoff und Form so mit einander amalgamirt, erscheint alles so durchaus als das freie Werk der Phantasie. Vorzüglich schön ist die Mannigfaltigkeit der verschiedenen Bilder, die eS auf­ stellt. Im Anfang und Schluß die reine und große Natur, in der Mitte die menschliche Kunst, erst an ihrer Hand, dann sich allein überlasten. DaS Gemüth wird nach und nach durch alle Stimmungen geführt, deren eS fähig ist. Die lichtvolle Heiterkeit des blos malenden Anfanges ladet die Phantasie freundlich ein und giebt ihr eine leichte, sinnlich angenehme Beschäftigung; das Schauervolle der darauf veränderten Naturscene bereitet zu größerem Ernst vor und macht die Folge noch überraschender. Mit dem Menschen tritt nun die Betrachtung ein. Aber da er noch in großer Einfachheit der Natur getreu bleibt, braucht sich der Blick nicht auf viele Gegenstände zu verbreiten. Allein der ersten Einfalt folgt nun die Kultur, und die Aufmerksamkeit muß sich auf einmal auf alle mannigfaltigen Gegenstände des gebildeten Lebens und ihre vielfachen Wechselwirkungen zerstreuen. Der Blick auf daS letzte Ziel der Menschen, auf die Sittlichkeit, sammelt den herumschweifenden. Geist wieder auf einen Punkt. Er kehrt bei der Verwilderung deS Menschen zur rohen Natur?

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Briefe.

wieder in sich zurück und wird getrieben, die Auflösung des Widerstreites, den er vor Augen sieht, in einer Idee aufzusuchen. So entlasten Sie den Leser, wie Sie ihn am Anfang durch sinnliche Leichtigkeit einladen, am Schluß mit der erhabenen Sache der Vernunft. Bei dem ersten Lesen ist es schwer, das Ganze zu übersehen. Sogar beim zweiten habe ich dies noch gefunden, und leicht dürsten einige auch bei noch öfterem Wiederholen dies Urtheil fällen. Anfangs schien es mir wirklich, als läge hierin ein Fehler in Ihrer Arbeit, als wären Sie ununterbrochen mit Schilderungen fortgegangen und hätten nicht genug dafür gesorgt, die zerstreute Phantasie'wieder zu sammeln, jedes einzelne Bild in wenig einzelnen Zügen zusammenzustellen. Allein bei genauerer Untersuchung muß ich dies Urtheil gänzlich zurücknehmen, das blos subjektiv war. Alles ist im höchsten Grade klar, unglaublich schön, und freiwillig fließt eins auö dem andern her, und mit der größten Deutlichkeit durchschaue ich jetzt die herrliche Organisation dieser eignen Welt. Ich wähle diese beiden Ausdrücke hier nicht umsonst, ich weiß kein Gedicht, bei dem sie so an ihrem Orte ständen. Da, wo sich die Kultur an die erste Einfachheit anschließt, ist der Übergang: „ Aber wer raubt mir auf einmal" u. s. f. allerdings abgebrochen; aber dies vermehrt, dünkt mich, sehr die poetische Bewegung und die lyrische Wirkung. Jedes einzelne Bild für sich ist äußerst charakteristisch. Nur einmal bin ich angestoßen. ES ist eine der schönsten Stellen des Gedichts, wo Sie der „länderverknüpfenden Straße" gedenken. Auch bei mir haben sich von jeher an eine Landstraße so viele Ideen angereiht. Sie erinnern sich viel­ leicht, daß wir einmal auf einem Spaziergange weitläufig davon redeten. Aber gehört die Straße wohl recht in dieses Zeitalter zwar nicht ganz ursprünglicher, aber doch immer sehr früher Einfalt? Und hätten Sie sie nicht besser in das Folgende gebracht, das erst den Handel und den Krieg kennt, die beiden vorzüglichsten Mittel der Länderverknüpfung? Mir ist es um so mehr ausgefallen, da Sie mir in dem gleich darauf folgenden Verse nicht ohne Absicht und mit großem Recht „Flöße" statt „Schiffe" gewählt zu haben scheinen. Und doch ging die Seekommunikation der Landkommunikation voraus. Die Schönheiten der Diktion im Einzelnen erreichen ganz und gar die Größe der An­ lage des Ganzen. Jeder Ausdruck giebt ein schönes Bild, und die meisten einzelnen Distichen laden zu einem eigenen Studium ein. Vorzüglich sind mir einige Bilder und Beiwörter aufgefallen, die zugleich Neuheit und Schönheit auözeichnet, das „ energische Licht," des Schmetterlings „zweifelndem Flügel," die Vergleichung bcr begrenzten Äcker mit einem Teppich Demeters, die Beschreibung der Spindel, des Brückenbogens. Andere Stellen zeichnen sich durch Tiefe des Sinnes und die Wahrheit der Empfindung, zu welchen beiden der Ausdruck so herrlich paßt, aus; so: „Enger wird um ihn u. s. w. Welt." „Sucht das vertraute Gesetz in deö Zufalls grausenden Wundern, sucht den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht." „Es irrt selbst in dem Busen der Gott." „Weit von dem Menschen fliehe der Mensch." Dann die Kühnheit des Verses: „Hängt nur der Adler und knüpft an das Gewölle die Welt," und die unnachahmliche Kürze dieses: „ und in der Asche der Stadt sucht die verlorne Natur. * m.., , ~ f. 1 Wilhelm v. Humboldt.

7. Schiller an Wilhelm v. Humboldt. Jena, den 29. November 1785. Ich habe noch allerlei Materien in Ihren vorigen Briefen zu beantworten, lieber Freund, und werde dies mit Gelegenheit nachholen. Heute z. B. einiges, Ihre Anmerkungen über die Elegie betreffend. Ich will Ihnen nicht leugnen, daß ich mir auf dieses Stück auch am meisten zu gut thue und vorzüglich in Rücksicht auf einige Erfahrungen, die ich unterdessen darüber machte. Mir däucht das sicherste empirische Kriterium von der wahren poetischen Güte eines Produkts

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Anhang.

dieses zu sein, daß es die Stimmung, worin es gefällt, nicht erst abwartet, sondern hervor­ bringt, also in jeder Gemüthslage gefällt. Und das ist mir noch mit keinem meiner Stücke begegnet, außer mit diesem. Ich muß oft den Gedanken an das Reich der Schalten, die Götter Griechenlands, die Würde der Frauen u. s. f. fliehen, auf die Elegie besinne ich mich immer mit Vergnügen und mit keinem müßigen, sondern wirklich schöpferischem, denn sie bewegt meine Seele zum Hervorbringen und Bilden. Der gleichförmige und ziemlich all­ gemein gute Eindruck dieses Gedichts auf die ungleichsten Gemüther ist ein neuer Beweis. Personen sogar, deren Phantasie in den Bildern, die darin vorzüglich herrschen, keine Übung

hat, wie z. B. meine Schwiegermutter, sind auf eine überraschende Weise davon be­ wegt worden. Herder, Goethe, Meyer, die Kalb, hier in Jena Hederich, den Sie auch kennen, sind alle ganz ungewöhnlich davon ergriffen worden. Rechne ich Sie und Körner und Ihre Frau dazu, so bringe ich eine beinahe vollständige Repräsentation des Publikums heraus; ich glaube deswegen, daß, wenn es diesem Stücke an einem allgemeinen Beifall fehlt, blos zufällige, selbst in den Personen, die es ungerührt läßt, zufällige Ursachen daran schuld sind. Mein eigenes Dichtertalent hat sich, wie Sie gewiß gefunden haben werden, in diesem Gedichte erweitert; noch in keinem ist der Gedanke selbst so poetisch gewesen und geblieben, in keinem hat das Gemüth so sehr als eine Kraft gewirkt. Ich werde deswegen noch alle mir mögliche Sorgfalt an die Vollendung desselben wenden und nicht nur Ihre Anmerkungen darüber nutzen, sondern auch auf Veranlassung derselben eine noch größere Strenge aus­ üben, als Sie bewiesen haben. An dem Ganzen ist nichts mehr zu ändern, es sei denn, daß einige Theile faßlicher verbunden, einiges besser unterschieden würde. Ihr Einwurf gegen zu frühe Einführung der Landstraße in dem Gemälde ist nicht ungegründet, die Land­ straße war einmal in der Scene, die meiner Phantasie sich empirisch eingedrückt hatte. Es wird mir Mühe kosten, die Landstraße nachher einzuführen, und doch muß ich die sinnlichen Gegenstände, an denen der Gedanke fortläuft, so sehr als möglich zu Rathe zu halten suchen. Sie werden bemerkt haben, daß ich bis da, wo die Betrachtungen über die Korruption an­ gehen, beinahe immer von einem äußern Objekt ausgehe. Bei der Korruption war es in der Natur der Sache, daß das Gemüth in sich selbst versinkt und die Einbildungskraft die ganzen Kosten des Gemäldes trägt. Ich gewann dadurch den großen Vortheil, daß nach einer so langen Zerstreuung, während der doch die Reise immer fortgeht, die Natur auf einmal als Wildnis dastehen kann. Vielleicht aber kann ich noch mehr, als ich gethan, aus der sinnlichen Anschauung nehmen, so daß alle Spur eines Planes verschwindet, indem die Wirkungen desselben noch fühlbar werden. Für den Versbau will ich noch so viel als möglich zu thun suchen. Ich bin hierin der roheste Empiriker, denn außer Moritz' kleiner Schrift über Prosodie erinnere ich mich auch gar nichts, selbst nicht auf Schulen, darüber gelesen zu haben. Besonders sind mir die Hexameter und Pentameter, die mich nie genug interessirt hatten, ganz fremd in Rücksicht auf Theorie und Kritik. Wenn wir wieder beisammen sind, werden Sie mich in dieser Sache schon zurechtweisen. Indessen glaube ich doch, daß die Empirie zuweilen gegen die Regel Recht hat, und daß dieses auch in diesem Gedicht manchmal der Fall war. So soll der Abschnitt, den Sie als ungewöhnlich tadeln, in mehreren der angeführten Verse eigentlich gar nicht gehört werden, weil dieses das Bild unterstützen hilft. In dem Vers z. B.: „Frei, mit weithin verbreitetem Teppich empfängt mich die Wiese," drückt das Silbenmaß selbst die Weite aus, auf der das Auge dahin gleitet und sich verliert. Den Hexameter: „Siehe, da wimmeln von fröhlichem Leben rc." soll man ohne Abschnitt lesen. Die wim­ melnde Bewegung verstattet keinen Stillstand. Schiller.

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Briefe.

8. Die Königin Luise von Preußen an ihre« Baler, den Herzog von MecklenburgStrelitz. Memel, 17. Juni 1807. Mit der innigsten Rührung und unter Thränen der dankbarsten Zärtlichkeit habe ich

Ihren Brief vom Monat April gelesen. Wie soll ich Ähnen danken, bester, zärtlichster Vater,

für die vielen Beweise Ihrer Liebe, Ihrer Huld, Ihrer unbeschreiblichen Batergüte! Welcher Trost ist dieses nicht für mich in meinen Leiden und welche Stärkung! Wen» man so geliebt wird, kann man nicht ganz unglücklich sein.

ES ist wieder ein neues ungeheures Ungemach über uns gekommen, und wir stehen auf dem Punkte, das Königreich zu verlassen.

Bedenken Sie, wie mir dabei ist! Doch, bei

Gott beschwöre ich Sie, verkennen Sie Ihre Tochter nicht! Kleinmuth mein Haupt beugt!

Glauben Sie ja nicht, daß

Zwei Hauptgründe habe ich, die mich über alles erheben.

Der erste ist der Gedanke: wir sind kein Spiel des blinden Zufalls, sondern wir stehen in

Gottes Hand, und die Vorsehung leitet unS; der zweite: wir gehen mit Ehren unter.

Der

König hat bewiesen, der Welt hat er eS bewiesen, daß er nicht Schande, sondern Ehre will.

Preußen wollte nicht freiwillig Sklavenketten tragen. Auch nicht einen Schritt hat der König anders gehen können, ohne seinem Charakter untreu und an seinem Volke Vcrräther zu werden.

Wie dieses stärkt, kann nur der fühlen, den wahres Ehrgefühl durchströmt.

Doch zur Sache. Durch die unglückliche Schlacht von Friedland kam Königsberg in französische Hände.

Wir sind vom Feinde gedrängt:

wenn die Gefahr nur etwas näher rückt, so bin ich in die

Nothwendigkeit versetzt, mit meinen Kindern Memel zu verlassen. wieder mit dem Kaiser vereinigen.

Der König wird sich

Ich gehe, sobald dringende Gefahr eintritt, nach Riga;

Gott wird mir helfen, den Augenblick zu bestehen, wo ich über die Grenzen des Reichs muß.

Da wird eS Kraft erfordern, aber ich richte meinen Blick gen Himmel, von wo alles Gute und Böse kommt, und mein fester Glaube ist: er schickt nicht mehr, als wir tragen können.

Noch einmal, bester Vater, wir gehen unter mit Ehren, geachtet von Nationen, und wir werden ewig Freunde haben, weil wir sie verdienen.

läßt sich nicht sagen.

Wie beruhigend dieser Gedanke ist,

Ich ertrage alles mit einer solchen Ruhe und Gelassenheit, die nur

Ruhe deS Gewissens und reine Zuversicht geben kann. Deswegen seien Sie überzeugt, bester Vater, daß wir nie ganz unglücklich sein können, und daß mancher, mit Kronen und Glück bedrückt, nicht so froh ist, wie wir eS sind.

Gott schenke jedem Guten den Frieden

in seiner Brust, und er wird noch immer Ursache zur Freude haben.

Noch eins zu Ihrem

Troste: daß nie etwas von unserer Seite geschehen wird, daS nicht mit der strengsten Ehre verträglich ist und mit dem Ganzen gehet. Denken Sie nicht an einzelne Erbärmlichkeiten. Auch Sie wird das trösten, daS weiß ich, so wie alle, die mir angehören.

Ich bin auf ewig Ihre treue, gehorsame. Sie innig liebende Tochter und — Gott Lob,

daß ich eS sagen kann, da Ihre Gnade mich dazu berechtigt — Ihre Freundin

_____________

Luise. Memel, 24.Juni 1807.

Noch immer sind meine Briefe hier, weil nicht nur Wind, sondern Stürme alles AuSlaufm der Schiffe unmöglich machten.

Nun schicke ich Ihnen einen sicheren Menschen und

fahre deshalb fort, Ihnen Nachricht von hier mitzutheilen.

Die Armee ist genöthigt gewesen, sich immer mehr und mehr zurückzuziehen, und eS

ist von russischer Seite ein Waffenstillstand auf vier Wochen abgeschloffen worden.

klärt sich der Himmel auf, wenn man trübes Wetter vermuthet. Niemand wünschte eS so, wie ich.

Oft

Es kann auch hier sein.

Doch Wünsche sind Wünsche und noch kein fester Boden.

Also alle» von dir dort oben, du Vater der Güte! Velitz *. Heinrich», Handr. d. deutsch. Literatur. 1. «ufl.

Mein Glaube soll nicht wanken, aber 48

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Anhang.

hoffen kann ich nicht mehr. Ich berufe mich demnach auf meinen Brief; er ist auS der Tiefe der Seele geschrieben. Sie kennen mich ganz, wenn Sie ihn gelesen haben, bester Bater. Auf dem Wege des Rechts leben, sterben und, wenn eS fein muß, Brot und Salz effen; nie werde ich ganz unglücklich fein, nur hoffen kann ich nicht mehr. Wer so von seinem Himmel heruntergestürzt ist, kann nicht mehr hoffen. Kommt das Gute, o kein Mensch kann eS dankbarer empfinden, als ich es empfinden werde, aber erwarten darf ich es nicht mehr. Kommt daS Unglück, so wird es mich auf Augenblicke in Verlegenheit setzen, aber beugen kann es mich nie, sobald es nicht verdient ist. Nur Unrecht unsrerseits würde mich zu Grabe bringen; da komme ich nicht hin, denn wir stehen hoch. Sehen Sie, bester Vater, so kann der Feind der Menschen nichts über mich. Der König ist seit dem 19. mit dem Kaiser vereint. Seit gestern sind sie in Taurog­ gen, nur ein paar Meilen von Tilsit, wo der französische Kaiser ist. Ich bin zu Ihren Füßen ganz die Ihrige. Luise.

9. Theodor Körner an seinen Vater. Wien, am 10. März 1813. Liebster Vater! Ich schreibe Dir diesmal in einer Angelegenheit, die, wie ich das feste Vertrauen zu Dir habe, Dich weder befremden, noch erschrecken wird. Neulich schon gab ich Dir einen Wink über mein Vorhaben, das jetzt zur Reife gediehen ist. Deutschland steht auf; der preußische Adler erweckt in allen treuen Herzen durch seine kühnen Flügelschläge die große Hoffnung einer deutschen, wenigstens norddeutschen Freiheit. Meine Kunst seufzt' nach ihrem Vaterlande, laß mich ihr würdiger Jünger sein! Ja, liebster Vater, ich will Soldat werden, will das hier gewonnene glückliche und sorgenfreie Leben mit Freuden hin­ werfen, um, sei'S auch mit meinem Blute, mir ein Vaterland zu erkämpfen. Nenn's nicht Übermuth, Leichtsinn, Wildheit! Vor zwei Jahren hätte ich es so nennen lassen; jetzt, da ich weiß, welche Seligkeit in diesem Leben reifen kann, jetzt, da alle Sterne meines Glücks in schöner Milde auf mich niederleuchten, jetzt ist eS bei Gott ein würdiges Gefühl, das mich treibt, jetzt ist es die mächtige Überzeugung, daß kein Opfer zu groß sei für das höchste menschliche Gut, für seines Volkes Freiheit. Vielleicht sagt Dein bestochenes väterliches Herz: Theodor ist zu größeren Zwecken da, er hätte auf einem anderen Felde Wichtigeres und Bedeutenderes leisten können, er ist der Menschheit noch ein großes Pfund zu berechnen schuldig. Aber, Vater, meine Meinung ist die: Zum Opfertode für die Freiheit und für die Ehre seiner Nation ist keiner zü gilt, wöhl aber sind viele zu schlecht dazu! Hat mir Gott wirklich etwas mehr als gewöhnlichen Geist eingehaucht, der unter Deiner Pflege denken lernte, wo ist der Augenblick, wo ich ihn mehr geltend machen kann? Eine große Zeit will große Herzen, und ich fühl' die Kraft in mir, eine Klippe sein zu können in dieser Völker­ brandung ; ich muß hinaus, nm dem Wogensturme die muthige Brust entgegenzudrücken. Soll ich in feiger Begeisterung meinen siegenden Brüdern meinen Jubel nachleiern? Soll ich Komödien schreiben auf dem Spotttheater, wenn ich den Muth und die Kraft mir zutraue, auf dem Theater des Ernstes mitzusprechen? Ich weiß, Du wirst manche Unruhe erleiden müssen, die Mutter wird weinen! Gott tröste sie! Ich kann's Euch nicht ersparen. Des Glückes Schoßkind rühmt' ich mich bis jetzt, es wird mich jetzo nicht verlassen. Daß ich mein Leben wage, das gilt nicht viel; daß aber dies Leben mit allen Blütenkränzen der Liebe, der Freundschaft, der Freude geschmückt ist, und daß ich es doch wage, daß ich die süße Empfindung hinwerfe, die mir in der Überzeugung lebte, Euch keine Unruhe, keine Angst zu bereiten, das ist ein Opfer, dem nur ein solcher Preis entgegengestellt werden darf. Sonn­ abends oder montags reise ich von hier ab, wahrscheinlich in freundlicher Gesellschaft. In Breslau, als dem Sammelplätze, treffe ich zu den freien Söhnen Preußens, die in schöner

Briefe.

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Begeisterung sich zu den Fahnen ihres Königs gesammelt haben. Ob zu Fuß oder zu Pferd, darüber bin ich noch nicht entschieden und kommt einzig auf die Summe Geldes an, die ich zusammenbringe. Wegen meiner hiesigen Anstellung weiß ich noch nicht- gewiß, vermuthlich giebt mir der Fürst Urlaub, wo nicht, eS giebt in der Kunst keine anciennitö, und komm' ich wieder nach Wien, so hab' ich doch das sichere Versprechen des Grafen Palfy. das in ökonomischer Hinsicht noch mehr Vortheile gewährt. Toni hat mir auch bei dieser Gelegen­ heit ihre große, edle Seele bewiesen. Sie weint wohl, aber der geendigte Feldzug wird ihre Thränen schon trocknen. Die Mutter soll mir ihren Schmerz vergeben; wer mich liebt, soll mich nicht verkennen, und Du wirst mich Deiner würdig finden. Dein Theodor.

10. Blücher an den Kaiser Alexander. Der Obrist v. Grollmann bringt mir die Nachricht, daß die Haupt - Armee eine rück­ gängige Bewegung machen wird y ich halte mich verpflichtet, Ew. Kaiser!. Majestät die un­ vermeidlichen nachtheiligen Folgen davon allerunterthänigst vorzustellen. 1. Die ganze französische Nation tritt unter die Waffen; der Theil, der sich für die gute Sache geäußert, ist unglücklich. 2. Unsere siegreiche Armee wird muthlos. 3. Wir kommen durch die rück­ gängige Bewegung in Gegenden, wo unsere Truppen durch Mangel leiden werden; die Einwohner aber werden durch den Verlust des Letzten, was sie noch haben, zur Verzweiflung gebracht. 4. Der Kaiser von Frankreich wird sich von der Bestürzung, in die er durch unser Vorrücken gerathen, erholen und seine Nation wieder für sich gewinnen. Ew. Kaiserlichen Majestät danke ich allerunterthänigst, daß Sie mir eine Offensive zu beginnen erlaubt haben. Ich darf mir das Höchste davon versprechen, wenn Sie gnädigst zu bestimmen geruhen, daß die Generale v. Winzingerode und v. Bülow meiner Anforderung genügen müssen. In dieser Verbindung werde ich auf Paris Vordringen) ich scheue so wenig den Kaiser Napoleon wie seine Marschälle, wenn sie mir entgegentreten. Erlauben Ew. Kaiser!. Majestät die Versicherung, daß ich mich glücklich schätzen werde, an der Spitze der mir anvertrauten Armee Ew. Kaiser!. Majestät Befehle und Wünsche zu erfüllen. Mery, den 22. Februar 1814.

Blücher.

Zprachproben. 1. Aus UlfilaS Bibelübersetzung. DaS Vater unser. Atta unsar thu im himinam. veihnai namo thein. qvimai thiudinassus theins. vairthai vilja theins sv e in himina jah ana airthai. hlaif unsarana thana sinteinan gif uns himma daga. Jah aflet uns thatei skulans sijaima svasve jah veis afletam thaim skulam unsaraim. jah ni briggais uns in fraistubnjai. ak lausei unsaf thammaubilin. unte theina ist thiudan gardi jah mahts jah vulthus in aivins. amen.

2. Das Lied von Hildebrand und Hadubrand. Ik gihdrta dhat seggen dhat sih whettun cenon muotin Hiltibraht enti Sadhubrant untar Aerjun tuern. sunusatarungds iro saro rihtun, yrarutun se ird ^üdhamun, (jurtun sih ird suert ana, Äelidds, ubar Aringu, dd sid td derd Ailtju ritun. Piltibraht gimabalta: her uuas Ädrdro man, /erahes frdtdro; her /ragdn gistuont fdhdm uuortum huer sln /ater uudri /ired in solche . . „eddo huelihhes cnmostes du eis. ibu du mi o?nan sagds,, ik mi dd ddrd uudt, cÄind in cÄunincriche t c/züd ist mi al irmindeot.u fiadubraht gimahalta, filltibrantes sunu, „dat sagdtun mi dserd liuti, altd anti frdtd, dea er hina uudrnn, dat ZTiltibrant haetti man fater:

lBgl. S. 150.) ih heittu ZZadubrant. forn her ostar giweit, floh her Otachres nid, hink miti 2%eotrihhe, enti sinerd degand filu. her furZajt in Zante Zuttila sitten prüt in 6üre, tarn unuuahsan, arbeolaosa: her raet ostar hina. sid Detrihhe darbä gistuontun /ateres mines. dat uuas sd /riuntlaos man her uuas Otachre ummet tiuri, degand dechisto, unti Peotrihhe darbd gistdntun . her uuas do solches at ente: imo uuas eo /ehta ti leop; cÄüd was her . c/idnnem mann um. ni uuanju ih iu lib habbd . „uuittu irmingot obana ab hevane dat du ndo (Zana halt dinc ni gileitds mit sus sippan man .

Sprachproben. uuant her dö ar arme uuuntand bougä, cÄeisuringü gitän, sö imo ss der cAuning gap, Hüneb truhtin: „dat ih dir it nu bi Auldi gibu.u .Hadubraht gimälta, Siltibrantes sunu, „mit grerü scal man greba infähan, ort widar orte. du bist dir, altdr Hün, ummet Späher: spenis mih . mit dinäm izuortun, uuili mih' dinü sperü uuerpan. pist alsö gialtät man, so du euuin inuuit förtos. da sagdtun mi seolidantä uizestar ubar uuentilsaso, dat man uuic furnam: töt ist Siltibrant, ZZeribrantes suno.u 27iltibraht gimahalta, Seribrantes suno, „uuela gisihu ih in dinem hrustim dat du Aabäs Ädme /iörron göten, dat du noh bi desemo riche reccheo ni uuurti . . . „uuelaga nu, uualtant got! uueuuurt skihit. ih uizallöta sumarö enti izuintrö sehstic,

3.

dar man mih öo scerita in folc sceotanterö, sö man mir at öurc aemgeru öanun ni gifasta: nu scal mih suäsat chind suertd hauuoan, öretön mit sind öilljü, eddo ih imo ti öanin uuerdan. doh mäht du nu aodlihho, ibu dir din dien taoc, in sus Ääremo man Ärusti giuuinnan, ranba birahanen, ibu du dar dnic reht habes . . „der si doh nu argösto ostarliutö, der dir nu uuiges uuarne, nu dih es sö uuel lustit. gddea gimeinün niusd de mötti, Äuerdar sih derö Aregilö Äiutü Äruomen muotti, erdo deserö Ärunnönö öederö uualtan.“ dö laettun se cerist asckim scritan, scarpen scürim, dat in dem sciltim stönt. dö sköptun tö samane stoimbortchludun, Äevuuun Aarmlicco Äuitte scilti, unti im irö Zintün Zuttilö uuurtun giuuigan ni ti uuambnum

Aus dem Nibelungenlied.

Kriemhilte unde Sifrit. (Dgl. S. 158.) Ez troumde Kriemhilte in lügenden der si pflac, züge manegen tac, wie si einen valken wilden daz si daz muoste sehen: den ir zwdn am erkrummen, nimmer leider sin geschehen, ir enkunde in dirre werlde ir muoter Voten, Den troum si dö sagete baz der guoten: sin künde in niht bescheiden däz ist ein edel man: „der valke den du ziuhest, du muost in schiere vloren hän in welle got behüeten, vil liebiu muoter min ? „Waz saget ir mir von manne,

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SprachproLen.

äne recken minne sus schoene wil ich hüben daz ich sol von manne „Nu verprich ez niht ze sere, " „solt du immer herzenliche daz geschiht von mann es minne. obe dir got noch gefüeget Do wuohs in Niderlanden (des vater hiez Sigemunt, in einer bürge riche, niden bi dem Rine: Ich sage iu von dem degne, sin lip vor allen schänden stark unde maare hey waz er grözer eren Sifrit was geheizen er versuchte vil der riche durch sines libes Sterke hey waz er sneller degne

wil ich immer sin, unz an minen töt, nimmer gwinnen keine not." sprach aber ir muoter do. zer werlde werden frö, du wirst ein schoene wip, eins rehte guoten riters lip." eins riehen küneges kint sin muoter Sigelint), witen wol bekant, diu was ze Santen genant, wie schoene der wart, was vil wol bewart. wart sit der küene man. ze diser werlde gewan! der selbe degen guot. durch ellenthaften muot. reit er in menegiu laut, ze den Burgonden vant!

wie Gunther gen Jslande nach Prünhilt fuor (Vgl. S. 159.) gesezzen über se: Ez was ein küniginne was deheiniu me. . . . . ir geliche vil michel was ir kraft, si was unmazen schoene, umbe minne den schäft, si schöz mit snellen degnen dar nach si witen spranc. Den stein warf si verre, der muose äne wanc swer ir minne gerte, der vrowen wol gehörn: driu spil an gewinnen er het daz houbet verlorn, gebrast im an eime, „ich wil an den se, Do sprach der voit von Rine: swie ez mir erge. hin zuo Prünhilde, wägen den lip : ich wil umb ir minne den wil ich Verliesen, sine werde min wip." edel Sifrit, Er sprach: „wil du mir helfen, tuo des ich dich bit. die minneclichen werben ? daz minnecliche wip, und wirt mir ze trnte wägen ere unde lip." ich wil durch dinen willen Des antwurte Sifrit Sigmund es suon: „gist du mir din swester, so wil ich ez tuon, die schoenen Kriemhilde, ein küniginne her: näch minen arbeiten mer." so gere ich niht lönes „Daz lobe ich," sprach Gunther, „Sifrit, an dine hant. unde kumet diu schoene Prünhilt in daz laut, so wil ich dir ze wibe mine swester geben : so mäht du mit ir immer vroelichen leben." Des swuoren si do eide, die reken vil her. des wart ir arbeite verre dester mer, brähten an den Rin. e daz si die frouwen des muosen die küenen sit in grözen noeten sin.

Sprachproben.

Sifrit muose stieren die der helt küene ab eime getwerge, sich garten zuo der verte Ir goltvarwen Schilde unde brähte in zuo zin ros hiez man in ziehen: da wart von schoenen frouwen Do stuonden in diu venster ir schif mit dem segele die stolzen hergesellen do sprach der künic Gunther Sifrit do balde von stade er schieben Gunther der küene dö huoben sich von lande Si fu orten riche spise, den besten den man künde ir ros stuonden ebene, ir schif gienc ouch ebene: An dem zwölften morgen, beten si die winde gegen Jsensteine daz was niemen mere Sehs und ahzec turne dri palas wite und einen von edelem marmelsteine dar inne selbe Prünhilt Diu burc was entslozzen, dd liefen in enkegene und enphiengen die geste ir ros hiez man behalden Do diu küneginne zuo dem gaste „si willekomen hör Sifrit waz meinet iwer reise ? „Er ist geheizen Gunther, erwurb er dine minne, durch dich mit im wserer niht min hörre, Si sprach: „ist er din herre wil er min geteiltiu behabe er die meisterschaft, gewinne aber ich, „Den stein sol er werfen den ger mit mir schiezen. ir muget hie wol Verliesen des sult ir iuch bedenken,“ Sifrit der snelle allen sinen willen

die kappen mit im dan, mit sorge gewan daz hiez Albrich. reken küene unde rieh, man truoc in üf den sant allez ir gewant: si wolden riten dan. michel weinen getan, diu minneclichen kint. ruorte ein höher wint. säzen an den Rin. „wer sol schifmeister sin?“ ein schalten gewan, vaste began. ein ruoder selbe nam. die snellen riter lobesam. dar zuo guoten win, vinden umben Rin. si beten guot gemach, lüzel leides in geschach. sö wir hoeren sagen, verre dan getragen in Prünhilde laut: wan Sifride bekant. si sähen drinne stän, sal wol getan grüene alsam ein gras, mit ir ingesinde was. vil wite üf getan, die Prünhilde man in ir frouwen laut, und ir Schilde von der hant. Sifriden sach, si zühteclichen sprach: her in ditze lant. daz het ich gerne bekant.u ein künec rieh unde her: son gert er niht mär. ich her gevarn hän: ich hetez nimmer getän.“ unde du sin man, spil alsö bestän, sö wird ich sin wip: ez get iu allen an den lip.“ und springen dar nach, lat iu sin niht ze gäch. die öre und ouch den lip: sprach daz minnecliche wip. zuo dem künege trat, er in reden bat

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Sprachproben.

gen der küniginne: „ich sol dich wol behüeten Do sprach der künic Gunther: nu teilt swaz ir gebietet, ich bestüend ez allez min houbet ich verliuse, Dö diu küniginne der spile bat si gäben, si hiez ir ze strite ein brünne von golde, Die wile was ouch Sifrit, end ez ieman wesse, da er sin tarnkappe dar in slouf er schiere : Er ilte hin widere: da diu küniginne da gie er tougenlichen, aller di da wären: Dö truoc man der frouwen einen vil scharfen ger, Stare und ungefüege, der ze sinen ecken Brünhilde Sterke man truoc ir zuo dem ringe gröz und ungefüege, in truogen küme zweite An ir vil wize arme si begunde vazzen den ger si höhe zucte: die eilenden geste Unde wssre im Sifrit so hete sie Gunther er gie dar tougenliche Gunther sine liste Er sprach: „gip mir von banden unde merke rehte nu habe du die gebserde: dö er in bekande, Dö schöz vil krefticlichen üf einen schilt niuwen, den truoc an siner hende daz fiur spranc von stäle, Des starken geres snide daz man daz fiwer lougen des schuzzes beide strüchten wan diu tarnkappe, Sifride dem küenen vil balde spranc er widere: den ger den si geschozzen den schöz dö hin widere

er sold an angest sin: vor ir mit den listen min." „küneginne her, und wasres dannoch mer, durch iwren schoenen lip. ir enwerdet min wip." sine rede vernam, als ir daz gezam. bringen ir gewant, und einen guoten Schildes rant. der waetliche man, zuo dem schiffe gegän, verborgen ligen vant. dö was er niemen bekant. dö sach er recken vil, teilte ir höhiu spil. daz in da niemen sach von listen daz geschach. swaere unde gröz dens zallen ziten schöz, michel unde breit, vil freislichen sneit. groezlichen schein. einen swseren stein, michel unde wel: der küenen beide unde snel. si die ermel want, den schilt an der hant, dö gie ez an den strit. vorhten Prünhilde nit. niht da ze helfe körnen, sinen lip benomen, und ruort im sine hant. harte sorclich ervant. den schilt lä mich tragen, waz du mich hoerest sagen, diu werc wil ich begän." ez was im liebe getan, diu herliche meit michel unde breit: daz Siglinde kint. sam ez wate der wint. al durch den schilt gebrach, üz den ringen sach. die kreftige man : si wLeren töt da bestän. von munde brast daz bluot. dö nam der helt guot im hete durch den rant: des starken Sifrides hant.

Sprachprobeu.

Daz fiwer stoup üz ringen, den ger schöz mit eilen sin mohte mit ir krefte ez en bete nimmer Brünhilt diu schcene „edel riter Gunther, si wände daz erz hete nein, si hete gevellet Dö gie si hin balde: den stein huop vil hdhe si swanc in krefticliche dö spranc si nach dem würfe, Der stein was gevallen den wurf brach mit Sprunge dar gie der snelle Sifrit, Gunther in wegete, Sifrit was küene den stein warf er verrer, von sinen schcenen listen daz er mit dem Sprunge Zuo ir ingesinde do si ze ende des ringes „balde körnet her näher, ir sult künic Gunther Do leiten die vil küenen si buten sich ze füezen Gunther dem riehen, si wänden er hete Er gruoztes minnecliche: dö nam in bi der hende si erloubte im daz er solde des freuten sich die degne Sifrit der snelle, sine tarnkappe dö gie er hin widere da er und ander degne „So wol mich dirre maere,u „daz iwer höhverten daz iemen lebet der iuwer nu sult ir, maget edele,

als ob ez tribe der wint. daz Sigmundes kint. des schuzes niht gestän. der künic Gunther getän. balde üf spranc: des schuzzes habe danc.M mit siner kraft getän : ein verre kreftiger man. zornic was ir muot: diu edel maget guot. verre von der hant: daz lüte erklang ir gewant. zwelf kläfter dan: diu maget wol getän: dä der stein gelac: der helt des wurfes pflac. kreftic unde lanc: dar zuo er witer spranc. het er kraft genuoc den künic Gunthare truoc. ein teil si lute sprach, den helt gesunden sach, mäge und mine man: alle werden undertän.“ diu wäfen von der hant, von Bürgenden laut vil manic küener man. mit siner kraft diu spil getän. ja was er lugende rieh, diu maget lobelich: haben dä gewalt. vil küene unde halt, wise er was genuoc, er ze behalten truoc. dä manic frouwe saz, alles leides vergaz. sprach Sifrit der degen, alsö ist gelegen, meister müge sin. uns hinnen volgen an den Rin

wie Sifrit verräten wart. (Vgl. S. 162.) Dö schikten si die reise mit den knehten dan ; ze sehenne ez was getän. Sifride und den sinen dö hiez er sich bereiten die von Niderlant: suchten stritlich gewant. Sifrides recken Dö sprach der starke Sifrit: „vater min, her Sigmunt, ir sult hie beliben. wir körnen in kurzer sinnt.

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762 git uns got gelücke, ir sult bi dem künige Diu Zeichen si ane bunden, do waren da genuoge dine wessen niht der maere, man mohte gröz gesinde Ir helme und ouch ir brünne sich bereite von dem lande do gie von Troneje Hagne er bat im geben urloup : „Wol mich,44 sprach Kriemhilt, der minen lieben vriunden alse min her Sifrit des wil ich hohes muotes,44 Lieber friunt, er Hagene, daz ich iu gerne diene des läz mich geniezen ern sol des niht enkelten, „Ir werdet wol versüenet Kriemhilt, liebiu vrouwe, wie ich iu müge dienen daz tuon ich gerne, frouwe : „Ich waere an alle sorge,44 „daz im ieman ngerne ob er niht wolde volgen so waere immer sicher „Vrowe,44 sprach do Hagne, daz man in müge versniden, mit wie getanen listen ich wil im ze huote Si sprach: „du bist min mäc, ich bevilhe dir üf triuwe daz du wol behüetest sie seit im kundiu maere, Si sprach : „min man ist küene, dö er den lintdrachen ja badet sich in dem bluote da von in sit in stürmen Id och bin ich in sorgen, und vil der gerschüzze daz ich da Verliese hei waz ich grözer sorge Ich melde ez üf genäde, daz du dine triuwe da man da mac verhouwen daz läze ich dich hoeren: Dö von des drachen wunden dö badete in dem bluote dö viel im zwischen herte da mac man in versniden :

Sprachproben. her wider an den Rin. hie vil vroelichen sin.44 also si wolden dan. Guntheres man, wä von ez was geschehen : dö bi Sifride sehen, si bunden üf diu marc : manic riter starc. da er Kriemhilde vant: si wolden rümen daz laut, „daz ich ie den man gewan so wol tar vor stän, tuot den friunden min. sprach diu küniginne, „sin, gedenket an daz, und noch nie wart gehaz. an minem lieben man. hab ich Prünhilt iht getan.44 her nach disen tagen, ja sult ir mir sagen an Sifride iwerm man. baz ichs nieman engan.64 sprach dö daz edel wip, in sturme sinen lip, siner übermuot, der degen küene unde guot.44 „und habet ir des wän ir sult mich wizzen lan, sol ichz andersten? immer riten unde gen.44 so bin ich der din. man den lieben min, mir den lieben man." diu vil bezzer waern verlän. dar zuo starc genuoc. an dem berge sluoc, der reke vil gemeit, dehein wäfen nie versneit. swenne er in strite stat von beide hande gat, den minen lieben man. dike umb Sifriden han ! vil lieber friunt, dir, behaltest ane mir den minen lieben man. dest üf genäde getan, vlöz daz heize bluot, sich der riter guot. ein linden blat vil breit, des hän ich sorge unde leit.44

Sprachproben. Do sprach von Troneje Hagene : naet ein cleinez Zeichen, wä ich in möge behüeten, si wände den helt vristen : Si sprach : „mit kleinen siden ein tougenlichez criuze. minen man behüeten, swenne er in den stürmen „Daz tuon ich," sprach dö Hagene, do wand ouch diu vrouwe, do was da mite verraten iirloup nam do Hagene: Des küneges ingesinde ich wasne nimmer recke so gröze meinra?te dö sich an sine triuwe Des anderen morgens reit der herre Sifrit er wand er solde rechen Hagene im reit so nähen. Als er gesach daz bilde, die Seiten andriu maere, mit vride solde beliben und si hete Liudger Wie ungerne Sifrit er enhete e gerochen wan in der reise erwanden er reit zuo dem künige : „Nu Ion iu got des willen, daz ir so willeclichen daz sol ich immer dienen, für alle mine vriunde Nu wir der hei verte so wil ich jagen riten hin ze dem Waskem walde, daz hete geraten Hagne, „Allen minen gesten ich welle fruo riten; daz sich die bereiten : hübschen mit den vrouwen, Dö sprach der starke Sifrit „swenne ir jagen wellet, so sult ir mir lihen und etelichen kracken : „Welt ir niht nemen einen?" „ich lihe iu, weit ir, viere, der walt und ouch die stige, die iuch niht vürewise Dö reit zuo sinem wibe schiere hete Hagene

„üf daz sin gewant dä bi ist mir bekant so wir in stürmen stän.“ ez was üf sinen töt getan, nee ich üf sin gewant dä sol, helt, din hant so ez an die herte gät, vor sinen vienden stät." „vil liebiu vrowe min. u ez sold im frume sin : der Kriemhilde man. dö gie er vroelichen dan. was allez wol gemuot. deheiner mer getuot so dä von im ergie, diu schoene künigin verlie. mit tüsent siner man vil froelichen dan. der sinen friunde leit, daz er gesellouwet diu cleit. dö scicte er tougen dan, zwene siner man : daz Guntheres laut, zuo dem künige gesant. dö hin wider reit, siner vriunde leit I vil küme Gunthers man. der wirt im danken began. vriunt, her Sifrit. tuot des ich iuch bit, als ich von rehte sol. getrouwe ich iu wol. ledec worden sin, bern unde swin als ich vil dike hän." der vil ungetriwe man. sol man daz nu sagen, die wellen mit mir jagen, die wellen hie bestän daz si liep mir getän." mit herlichen site : dä wil ich gerne mite, einen suochman so wil ich riten in den tan." sprach der künec zehant. den wol ist bekant swä diu tier gänt, wider heim riten länt." der riter vil gemeit. dem künige geseit

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Sprachproben.

764 wie er gewinnen wolde sus grdzer untriuwe

den tiwerlichen degen. solde nimmer man gepflogen.

wie Sifrit erslagen wart. (Vgl. S. 165.)

Gunther und Hagne, lodeten mit untriuwen mit ir scharpfen geren deren unde wisende : Si hiezen herbergen gen des wildes abeloufe da si da jagen solden, do was ouch körnen Sifrit: Von den jeitgesellen die warte an allen ende. Sifrit der vil starke: wisen nach dem wilde: „Wellen wir uns scheiden,“ „e daz wir beginnen da bi mugen bekennen wer die besten jägere Liute unde hunde so kere islicher der danne jage beste, der jäger biten Do sprach der herre Sifrit: wan einen drucken, daz er die verte erkenne wir körnen wol ze jeide,“ Do nam ein alter jägere er drahte den herren da si vil tiere funden, diu 'rjeiten die gesellen, Einen eher grözen als er begunde vliehen, des gejeides meister daz swin zorneclichen Do sluoc in mit dem swerte ez hete ein ander jegere dö ern hete ervellet, do wart sin rieh gejeide Sie hörten allenthalben von Huten und von bunden daz in da von antworte vier unde zweinzec ruore Dö muosen vil der tiere dö wänden sie stiegen in den pris des jeides: dö der starke Sifrit

die reken vil halt, ein pirsen in den walt, si wolden jagen swin waz künde küeners gesin ? für den grüenen walt die stolzen jägere halt, üf einen wert vil breit, daz wart dem künige geseit. wurden dö bestän dö sprach der küene man, „wer sol uns in den walt ir degne küene unde halt ?46 sprach dö Hagene, hie ze jagene? ich und die herren min an diser waltreise sin. sulen wir teilen gar: da er gerne var. der sol des haben danc.44 wart bi ein ander niht lanc. „ich hän der hunde rät, der so genozzen hät der tiere durch den tan. sprach der Kriemhilde man. einen spürhunt: in einer kurzer stunt swaz der von leger stuont, so noch guote jeger tuont. vant der spürhunt. dö kom an der stunt er bestuont in üf der slä. lief an den küenen degen sä. Kriemhilde man: so sanfte niht getän. man vie den spürhunt. allen Burgonden kunt. ludern unde döz. der schal was so gröz, der berc und ouch der tan. die jeger beten verlän. Verliesen da daz leben, daz man solde geben des künde niht geschehen, wart zer viwerstat gesehen.

Sprachproben.

Daz jeit was ergangen, die zer viwerstat wolden, vil maneger tiere hiute hei waz man ze kuchen Dd hiez der künic künden daz er enbizen wolde. zeiner sinnt geblasen: daz man den fürsten edele Dd sprach der hdrre Sifrit: sin ros truoc in ebene: si ersprancten mit ir schalle einen beren wilden. „Ich wil uns hergesellen ir sult den braken läzen. der sol mit uns hinnen ern fliehe danne sere, Der brake wart verletzen, dd wolde in erriten er kom in ein gevelle: daz starke tier dd wände Dd spranc von sime rosse er begunde nach loufen. ez enkund im niht entrinnen: an alle wunden Krazen noch gebizen er band ez zuo dem satele: er bräht ez an die viwerstat zeiner kurzwile, Als er gestuont von rosse, von fuoze und ouch von munde, vil lüte daz gehünde, daz tier ze walde wolde: Der bere von dem schalle hey waz er kuchenknehte vil kezzele wart gerüeret, hoi waz man guoter spise Dd Sprüngen von dem sedele der bere begunde zürnen: allez daz gehünde und waer ez wol verendet, Mit bogen und mit spiezen dar liefen dd die snellen, dd was so vil der hunde, von des liutes schalle Der ber begunde vliehen im künde niht gevolgen er erlief in mit dem swertehin wider zuo dem viwre Dd sprächen die daz sähen, die stolzen jeitgesellen

unde doch niht gar. die brähten mit in dar und wildes genuoc. daz ingesinde truoc! den Jägern wol gehörn dd wart lftte ein hörn dä mite wart bekant zen herbergen vant. „nu rümen wir den tan!“ si ilten mit im dan. ein tier gremelich, dd sprach der degen hinder sich kurzwile wem. ich sihe einen bern: zen herbergen varn. em kan sichs nimmer bewarn.“ der bere spranc von dan. Kriemhilde man. done kund ez niht wesen, vor den jägeren genesen, der stolze riter guot, daz tier was unbehuot, dd vie erz sä zehant, der helt ez schiere gebaut, kund ez niht den man, üf saz der snelle sän, durch sinen hohen muot, der degen küene unde guot. dd loste er im diu baut do erlitte sä zehant swaz es den bern sach. des heten die liute ungemach, durch die kuche geriet: von dem viwer schiet! zerfüeret manic brant: in dem aschen ligen vant! die härren und ir man. der künic hiez dd län daz an seilen lac. si heten vroelichen tac. (niht langer man daz lie) dä der bere gie. daz dä nieman schoz. daz gebirge allez erddz. vor den bunden dan: wan Kriemhilde man. ze tdde er in dd sluoc. man den beren truoc. er waer ein kreftic man. hiez man ze tische gän.

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766

Sprachprobeu.

üf einen schoenen anger hei waz man riterspise Do sprach der herre Sifrit: sid man uns von kuchen war umbe uns die schenken man pflege baz der jegere, Dö sprach der Niderlende: man sold mir siben soume haben her gefüeret. do sold man uns gesidelet Dö sprach von Tronje Hagne: ich weiz hie vil nähen (daz ir niht enzürnet) : der rät wart man ege in degne Dö si wolden dannen dö sprach von Troneje Hagne: daz niht gevolgen künde swenner welle gäben : Dö sprach von Niderlande „daz muget ir wol versuochen, ze wette zuo dem brunnen. man jehe dem gewinnes „Nu welle ouch wirz versuochen,“ dö sprach der starke Sifrit: für iuwer füeze dö er daz gehörte, Dö sprach der degen küene : allez min gewaate den ger zuo dem Schilde, den kocher zuo dem swerte Dö zugen si diu kleider in zwein wizen hemden sam zvei wildiu pantel doch sach man bi dem brunnen Den bris von allen dingen daz swert löst er schiere, den starken ger er lein de bi des brunnen fluzze Die Sifrides tilgende den schilt er leite nidere, swie harte so in durste, e der künec getrunke. Der brunne was küele, Gunther sich dö neigte als er hete getrunken, alsam het ouch gerne Dö engalt er siner zühte. daz truoc allez Hagne und spranc da hin widere er sach nach einem bilde

saz ir dä genuoc. den stolzen jegern dö truoc ! „wunder mich des hät, git so manegen rät, dar zuo niht bringen win. ich wil niht jeitgeselle sin. “ „ir lip der habe undanc. met und lütertranc dö des niht mohte sin, haben näher an den Rin.“ „ir edelen riter halt, einen brunnen kalt dä sul wir hi ne gän.“ ze grözen sorgen getän. zuo der linden breit, „mir ist des vil geseit dem Kriemhilde man, wold er uns daz sehen län !“• der küene Sifrit: weit ir mir volgen mit so daz ist getän, den man siht gewannen hän.“ sprach Hagne der degen. „so wil ich mich legen nider an daz gras.“ wie liep daz Gunthere was ’ „ich wil iu mere sagen, wil ich mit mir tragen, und min pirsgewant.“ schier er umbe gebaut, von dem libe dan: sach man si beide stän. si liefen durch den kle: den küenen Sifriden e. truoc er vor manegem man. den kocher leit er dan, an der linden ast: stuont der herliche gast, wären harte gröz. dä der brunne flöz: der heit doch niht entranc des seit er im vil b ces en danc. luter unde guot. nider zuo der vluot: dö rihte er sich von dan. der küene Sifrit getän. den bogen und daz swert, von im danwert, da ’r den gere vant. an des küenen gewant.

Sprachproben. Dd der herre Sifrit er schöz in durch daz criuze, daz bluot von dem herzen solher missewende Der herre tobelichen im ragete von den horten der fürste wände vinden so müeste wesen Hagne Dö der sdre wunde done hete er niht mere er zuct in von dem brunnen, done kund im niht entrinnen Swie wunt er was zem töde, daz üzer dem Schilde des edelen gesteines: sich hete gerne errochen Dö was geslrüchet Hagne von des slages krefte het er sin «wert enhende, sere zurnde der wunde : Erblichen was sin varwe: sines libes Sterke wand er des tödes Zeichen sit wart er beweinet Dö viel in die bluomen daz bluot von einer wunden dö begunder scheiden die üf in geraten Dö sprach der verchwunde: waz helfent miniu dienest, ich was iu ie getriuwe; ir habet an iwren friunden Die riter alle liefen ez was ir genuogen die iht triwe beten, daz hete euch wol verdienet Der künec von Burgonden dö sprach der verchwunde: daz der näch scaden weinet, der dienet michel scheiden: Dö sprach der grimme Hagne: ez hat nu allez ende an uns, wir vinden ir nu wenic wol mich daz ich des beides „Ir muget iucli lihte rüemen,“ „het ich an iu erkunnet ich hete wol behalten mich riwet niht so söre Nu müeze got erbarmen dem man itewizen

ob dem brunnen träne, daz von der wunden spranc vaste an Hagnen wat. ein helt nu nimmer begät. von dem brunnen spranc: ein gerstange lanc. bogen oder swert: nach sime dienste gewert. des swertes niht envant, wan des Schildes rant: dö lief er Hagnen an; des künic Guntheres man. so krefteclich er sluoc, draete genuoc der schilt vil gar zerbrast. der vil herliche gast, vor siner hant zetal. der wert vil lute erhal. so wser ez Hagnen töt. des tvanc in ehaftiu not. ern mohte niht gesten. muoste gar zergen, in lichter varwe truoc. von schcenen vrouwen genuoc. der Kriemhilde man: sach man vaste gan. (des twanc in gröziu not) beten ungetriwe den töt. „ja ir boesen zagen, sid ir mich habet erslagen ? des ich enkolten han. leider übele getan.“ da er erslagen lac. ein vröudelöser tac. von den wart er gekielt: umbe alle Hute der helt gemeit. klagte euch sinen töt. „daz ist ane not, der in da hat getan, ez wajre bezzer verlän.“ „jan weiz ich waz ir kielt, sorge unde leit: die türren uns bestan. hän ze rate getan.“ sprach her Sifrit. den mortlichen sit, vor iu minen lip. so vrou Kriemhilt inin wip. deich ie gewan den suon sol daz her nach tuon

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Sprachproben.

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daz sine mäge ieman möhte ichz verenden, Do sprach jämmerliche „weit ir, künic edele, in der werlde an lernen, üf iuwer genäde Lat si des geniezen durch aller fürsten lügende wan mir wartent lange ez enwart nie leider Die bluomen allenthalben do rang er mit dem töde : wan des tödes Zeichen sam muost ersterben ouch Do die herren sahen si leiten in üf einen schilt und wurden des ze rate, daz man ez verhaele Do sprächen ir genuoge: ir sult ez heln alle, da er jagen rite aleine, in slüegen schächamre, Dö sprach von Troneje Hagne: mir ist vil unmaere, diu so hat betrüebet ez ahtet mich vil ringe, Dö biten si der nahte von beiden künde nimmer ein tier daz sie da sluogen, ja muosten sin enkelten

mörtlich hänt erslagen. daz sold ich billichen klagen.64 der verchwunde man: triwen iht begän lät iu bevolhen sin die lieben triutinne min. daz si iwer swester si : wont ir mit triwen bi. min vater und mine man. an liebem vriunde getan.u von bluote wären naz. unlange tet er daz, ie ze sere sneit. der recke küene unde gemeit. daz der helt was töt, (der waz von golde röt), wie daz solde ergän daz ez Hagne bete getan, „uns ist übel geschehen, und sult geliche jehen, Kriemhilde man, dä er füere durch den tan." „ich bring in in daz laut, wirt ez ir bekant, den Brünhilde muot. swaz si nu weinen getuot.44 und fuoren über Rin. wirs gejaget sin. daz weinden edeliu wip. vil guoter wigande lip.

4. Aus Hartmanns von Aue „armem Heinrich (Vgl. S. 201.)

Er las diz selbe maere, wie ein herre waere ze Swäben gesezzen: an dem enwas vergezzen dekeiner der . tugent die ein ritter in siner jugent ze vollem lobe haben sol. man sprach dö niemen also wol in allen den landen, er hete ze sinen banden gebürt und dar zuo richeit; ouch was sin tugent vil breit, swie ganz sin habe waere, an gebürt unwandelbaere und wol den fürsten gelich, doch was er unnäch also rieh

der gebürt und des guotes so der eren und des muotes. sin name was gar erkennelich, und hiez der herre Heinrich, und was von Ouwe gehörn, sin herze hete versworn valsch und alle törperheit, und behielt ouch vaste den eit staete unz an sin ende, än alle missewende stuont sin ere und sin leben, im was der rehte wünsch gegeben ze werltlichen eren; die künde er wol gemeren mit aller bände reiner tugent. er was ein bluome der jugent,

Sprachproben.

dö schiet in sin bitter leit von Jöbes gedultikeit. wan ez leit Job der guote mit gedultigem muote do ez im ze lidene geschach durch der sele gemach den siechtagen und die smaeheit die er von der werlde leit: des lobet er got und fröute sich, dö tete der arme Heinrich leider niender also : wan er was trürec und unfrö. sin swebendez herze daz verswanc; sin swimmende fröude ertranc. sin höchvart muoste vallen ; sin honic wart ze gallen. ein swinde vinster dunreslac zebrach im sinen mitten tac ; ein trüebez wölken unde die bedaht im siner sunnen blic. er sente sich vil sere daz er so manige ere hin der im müeste läzen. verfluochet und verwäzen wart vil oste der tac dä sin gebürt ane lac. Ein wenic frÖuwet er sich doch von eime tröste dannoch: wan im wart dike geseit daz disiu selbe siecheit wsere vil mislich und etelichiu genislich. Der e diz geriute und der ez dannoch biüte, daz was ein frier human, der vil selten ie gewan dekein gröz ungemach ; daz andern gehören doch geschach, die wirs geherret wären, und si die niht verbären beidiu mit stiure und mit bete, swaz dirre gehöre gerne tete, des döhte sinen herren genuoc : dar zuo er in übertruoc daz er dekeine arbeit von frömdem gewalte leit, des was dekeiner sin gelich in dem lande also rieh, zuo deme zöch sich sin herre, der arme Heinrich.

der werlde fröude ein Spiegelglas, staeter triuwe ein adamas, ein ganziu kröne der zuht. er was der nöthaften fluht, ein schilt siner mäge, der milte ein gelichiu wäge : im enwart über noch gebrast. er truoc den arbeitsamen last der eren über rüke. er was des rät es brüke, und sanc vil wol von minnen. alsus künde er gewinnen der werlde lop unde pris. er was hüb es eh und dar zuo wis. Dö der herre Heinrich also geniete sich eren unde guotes und froeliches muotes und werltlicher wünne, und er was für alsfn könne gepriset unde geeret: sin höhmuot wart verkeret in ein leben gar geneiget.

an hern Heinriche wart wol sch in : der in dem höchsten werde lebete üf dirre erde, der ist der versmaehete vor got-e. er viel von sime geböte abe siner besten werdekeit in ein versmaehelichez leit: in ergreif diu miselsuht. dö man die swaeren gotes zuht gesach an sinem libe, man unde wibe wart er dö widerzseme. nü sehen t wie gar gen seine er e der werlde waere, und wart nü alse unmare, daz in niemen gerne an sach ; alse euch Jöbe geschach, dem edein und dem riehen, der ouch vil jgern erlich en dem miste wart ze teile mitten in sime heile. Und dö der arme Heinrich alrest verstuont sich daz er der werlde widerstuont, als ale sine geliehen tuont, Dielitz u. Heinrichs, Handb. d. deutsch. Literatur.

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2. Aufl.

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Sprachproben.

swaz er in het e gespart, wie wol daz nü gedienet wart, und wie schone er sin genöz! wan in vil lüzel des verdröz, swaz im ze liden geschach dur in. er hete die triuwe und ouch den sin daz er vil willeclichen leit den kumber und die arbeit diu im ze lidene geschach. er schuof ime rieh gemach. Got hete dem meier gegeben näch siner aht ein reinez leben: er hete ein wol arbeiten lip und ein wol werbendez wip; dar zuo het er schoeniu kint, diu gar des mannes fröude sint; unde häte, so man sagt, under den kinden eine magt, ein kint von ahte jären : daz künde wol gebaren so rehte güetlichen: diu wolte nie entwichen von ir herren einen fuoz; umbe sin hulde und sinen gruoz so diente si im alle wege mit ir güetlichen pflege, die andern baten den sin daz si ze rehter maze in wol gemiden künden: do flöch si zallen stunden zim und niender anders war. si was sin kurzewile gar. si häte gar ir gemüete mit reiner kindes güete an ir herren gewant, daz man si zallen ziten vant under ir herren fuoze. sus wonte diu suoze ir herren zallen ziten bi. dar zuo sd liebet er ouch si swä mite er ouch mühte; und daz kinden lohte zuo ir kintlichen spil, des gap der herre ir vil. mit dienste bräht ers üf die vart daz si im alsd heimlich wart, daz er si sin gemahel hiez. diu guote maget in liez beliben selten eine : er dühte si vil reine.

swie stark ir daz geriete diu kindische miete, iedoch geliebet irz aller meist von gotes gebe ein süezer geist. Ir dienst was so güetlich. do do der arme Heinrich drin jar dd, getwelte, unde im got gequelte mit grözem jamer den lip, nü saz der meier und sin wip unde'ir tohter, diu magt von der ich iu d han gesagt, bi im in ir unmüezekeit und begunden klagen ir herren leit, diu klage tet in michel not: wan si vorhten daz sin tot si sere solle lezen und vil gar entsezen eren unde guotes, und daz herters muotes würde ein ander herre. si gedahten also verre, unz dirre selbe büman alsus fragen began. Er sprach: „lieber herre min, müht ez mit iuwern hulden sin, ich fragete vil gerne : sö vil ze Salerne von arzenien meister ist, wie kumt daz ir dekeines list ze iuwern ungesunde niht geraten künde? herre, des wundert mich. “ do holte der arme Heinrich tiefen siufzen von herzen mit bitterlichem smerzen ; mit selber riuwe er do sprach, daz im der siufze dez wort zebrach. „Ich han disen schemelichen spot vil wol gedienet umbe got. wan dü sashe wol hie vor daz hob ofen stuont min tor nach werltlicher wünne, und daz niemen in sim künne sinen willen baz hete dan ich; und was daz doch unmügelich: wan ich enhete niht gar. du nam ich sin vil kleine war, der mir daz selbe wunschleben von sinen genäden hete gegeben.

Sprachproben.

dö do des höhen muotes den höhen portensere bedröz, die saelden porte er mir beslö^; da kum ich leider niemer in: daz verworhte mir min tumber sin. got hat durch rache an mich geleit ein sus gewante siecheit, die niernen mag erlassen, nu versmadient mich die boesen : die biderben ruochent min niht. swie bcese er ist, der mich gesiht, des basser muoz ich dannoch sin ; sin unwert tuot er mir sch in : er wirset diu äugen abe mir. nu schinet erste an dir din triuwe die du hast, daz du mich siechen bi dir last und von mir niht enthubest, swie du mich niht enschiuhest, swie ich niernen liep si dan dir, swie vil dins heiles ste an mir: du vertrüegest doch wol minen töt. nü wes unwert und wes not wart ie zer werlde merre? hie vor was ich din herre, und bin din dürftige nü. min lieber friunt, nü koufest dü

771

und min gern ah el und din wip an mir den ewigen lip daz dü mich siechen bi dir last, des dü mich gefräget hast, daz sage ich dir vil gerne, ich künde zuo Salerne keinen meister vinden der sich min underwinden getörste oder wolte. wan da mite ich solte miner sühte genesen, daz müest ein selch Sache wesen, die in der werlde nieman mit nihte gewinnen kan. mir wart niht anders da gesagt wan ich müeste hän eine magt diu vollen erbasre und ouch des willen wmre daz si den töt durch mich lite, und man si zuo dem herzen snite; und mir wmr niht anders guot wan von ir herzen daz bluot. nü ist genuoc unmügelich daz ir dekeiniu durch mich gerne lide den töt. des muoz ich schemeliche not tragen unz an min ende, daz mirz got schiere sende!“

5. Lieder Walthers von der Vogelweide. 1. (Vgl. S. 348.)

Ir sult sprechen willekomen: der iu maere bringet, daz bin ich. Allez daz ir habt vernomen, daz ist gar ein wint: nü fräget mich, ich wil aber miete : wirt min Ion iht guot, ich sage iu vil lihte daz iu sanfte tuot. seht waz man mir eren biete. Ich wil tiuschen frowen sagen solhiu msere, daz si desto baz a1 der werlte suln behagen: äne gröze miete tuon ich daz. waz wold ich ze löne ? si sint mir ze her; so bin ich gefüege und bite si nihtes mer, wan daz si mich grüezen schöne.

Ich hän lande vil gesehen, unde nam der besten gerne war: Übel müeze mir geschehen, künde ich ie min herze bringen dar, naz im wol gevallen wolde fremeder site. nü waz hülfe mich ob ich unrehte strite? tiuschiu zuht gät vor in allen. Von der Elbe unz an den Rin und her wider unz an Ungerlant so mugen wol die besten sin die ich in der werlte hän erkant. Kan ich rehte schouwen guot geläz unt lip, semmirgot,söswüereichwoldazhiediu wip bezer sint danne ander frouwen.

Sprachproben.

772 Tiusche man sint wol gezogen, rehte als engel sint diu wip getan, swer si schildct, derst betrogen: ich enkan sin anders niht verstän.

jugent und reine minne, swer die suochen wil, der solkomenin unserlant: daistwünne vil. lange müeze ich leben dar inne!

2. (Vgl. S. 370.) Durhsüezet und geblüemet sint die reinen frouwen: ez wart nie niht so wünnecliches an ze schon wen in lüften noch As erden noch in allen grüenen ouwen. liljen unde xösen bluomen, swa die liuhten in meien ton wen durh daz gras, und kleiner vögele sanc, daz ist gein solher wünnebernden fröide kraue, swa man siht schäme frowen. daz kan trüeben muot erfiuhten und löschet allez trören an der selben stunt, so lieblich lache in liebe ir süezer röter munt, und sträle Az spilnden ougen schieze in mannes herzen grünt.

3. (Bgl. S. 380.) we wer warne unfrö? Muget ir schowen waz dem meien Wunders ist beschert? sit diu vogellin also schöne singent in ir besten döne, seht an pfafen, seht an leien, tuon wir ouch also! wie daz allez vert. Giöz ist sin gewalt; Wol dir, meie, wie du scheidest allez ane haz! ine weiz obe er zouber künne: wie wol dü die bouine kleidest, swar er vert mit siner wünne, und die beide baz! dan ist niemen alt. Diu hat varwe rne; Uns wil schiere wol gelingen. „dA bist kurzer, ich bin langeru: wir suln sin gemeit, also stritens As dem anger, Tanzen lachen unde singen bluomen unde kle. äne dörperheit. 4. (Vgl. S. 431.) Her habest, ich mac wol genesen: ouch sult ir niht vergezen: wan ich wil iu gehorsam wesen, ir sprachen!: „swer dich segen, der si wir hörten iueh der kristenheit gebieten gesegent: swer dirfluoche, dersiverfluochet wes wir dem keiser sollen pflegen, mit fluoche volmezen.“ dö ir im g&bent gotes segen, durch got bedenkent iueh da bi daz wir in hiezen herre und vor im knieten. ob ir der pfafen öre iht geruochet.

Verzeichnis der Verfasser. (Tie den Namen hinzugefügten Zahlen bezeichnen die Seiten des Handbuchs.)

Apel 277. Archenholtz 579. Arndt, C. M., 358, 424. Arnim, Achim v-, 366.

Baer, K. E. v., 726. Bauernfeld 454. Baur 694. Becker, Nikol., 350. Bercht 401. Blücher, Fürst, 755. Bvdenstedt 454. Bürger 94, 97, 373. BurnS 381.

Chamisso 65, 67, 83, 132, 294, 295. Claudius 348, 374, 375, 385. Cramer 343. Curtius 521. 'Dach, Simon, 384. Dahlmann 587. Dante 191. Diez 127. Droysen 595. Duncker 519, 526. Dyherrn, v., 289, 302.

Eberhard 692, 693, 694. Ebert, K. E., 69, 284, 378. Eichendorff, v., 365, 368, 374, 377, 378. Eylert 582, 603.

Goethe 80, 99, 100, 101, 247, 269, 324, 326, 327, 328, 349, 363, 366, 367, 371, 372, 376, 377, 381, 384, 386, 420, 426, 435, 436, 437, 441, 449, 454, 507, 645, 748. Grün, Anastasius (Anton Alexander Graf von Auersperg) 233, 280, 281, 333, 407, 409. Grüneisen 363. Gruppe 297, 379, 430. Hackländer 653. Hagedorn 319. Hailbronner 649, 657. Hammer 379. Hartmann von Aue 201. Haug 437. HLusser 574. Hegel 683. Heine 69, 134, 135, 288, 369, 371, 621. Heine! 576, 577. Heinrichs 608. Herder 67, 73, 74, 79, 94, 216, 325, 335, 382, 679, 680. Herwegh 349, 448. Hesekiel 306. Hey 351. Hoffmeister 709. Hölderlin 394, 395, 408, 420. Hölty 383, 387, 422. Holtze 620. Homer 138, 144. Horaz 386. Horn 372. Humboldt, A. v., 658, 663, 719. Humboldt, W. v., 705,