Gruppe und Bildung [Reprint 2018 ed.] 9783110863857, 9783110045468


172 15 14MB

German Pages 236 [240] Year 1975

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1. Einleitung
2. Freiheit, Gemeinschaft und Kommunikation
3. Bildung als identitätsherstellende Kommunikation
4. Rolle, Kreativität und Gruppe
5. Die Gruppe im Lehr- und Lernprozeß
6. Gruppendynamik und Hochschuldidaktik
Literatur
Sachregister
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Gruppe und Bildung [Reprint 2018 ed.]
 9783110863857, 9783110045468

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de Gruyter Studienbuch Gruppe und Bildung

Gruppe und Bildung von

Kurt Buchinger, Peter E Heintel, Jakob Huber, Wolfgang Kottinger und Helmut Stockhammer

W G DE

Walter de Gruyter Berlin New York 1975

Dr. phil. Kurt Buchinger, Hochschulassistent und Lehrbeauftragter, Institut für Tiefenpsychologie und Psychotherapie an der Universität Wien Dr. phil. Peter E. Heintel, o. HS.-Prof. für Philosophie und Gruppendynamik an der Hochschule für Bildungswissenschaften in Klagenfurt Dr. phil. Jakob Huber, Hochschulassistent und Lehrbeauftragter für Wissenschaftstheorie, Sozialphilosophie und Gruppendynamik an der Hochschule für Bildungswissenschaften in Klagenfurt Dr. phil. Wolfgang Kottinger, Hochschulassistent und Lehrbeauftragter für Logik und Philosophie der Bildung an der Hochschule für Bildungswissenschaften in Klagenfurt Magister rer. soc. oec. Helmut Stockhammer, Hochschulassistent und Lehrbeauftragter für Wissenschaftstheorie, Sozialisationstheorie und Gruppendynamik an der Hochschule für Bildungswissenschaften in Klagenfurt

ISBN 3 11 04546 X © Copyright 1975 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer, Karl J. Trübner, Veit & Comp., Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ubersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Satz und Druck: Georg Wagner, Nördlingen Bindearbeiten: Dieter Mikolai, Berlin

Vorwort Dem an Gruppendynamik und Gruppenpädagogik und ihrem Zusammenhang interessierten Praktiker und Forscher bietet die Literatur derzeit ein noch recht einseitiges Bild. Obwohl auch hier, entsprechend der Bedeutung der Anwendung des Gruppenprinzips in den verschiedensten Bildungsinstitutionen, die Zahl der Veröffentlichungen ständig zunimmt, bleibt ihr Inhalt doch meist auf empirisch-praktische Erfahrungsberichte oder schwer zugängliche theoretische Einzeldarstellungen in Fachzeitschriften beschränkt. Was, mit wenigen Ausnahmen, fehlt, sind umfassende philosophische, wissenschaftstheoretische Darstellungen der den gruppendynamischen und gruppenpädagogischen Praktiken zugrundeliegenden Voraussetzungen und Modellen. Mit anderen Worten, es fehlt allenthalben an einer umfassenden Theorie, die den Zusammenhang zwischen Bildung und dem Gruppenprinzip herstellt. Diese ist aber dann notwendig, will man einerseits unserer Wissenschaftstradition und ihrer Forderung nach Rationalität und allgemeiner Verbindlichkeit gerecht werden und nicht bloß im Sinne von „trial and error" blind vor sich hin experimentieren, sie ist andererseits wichtig, will man begreifen, auf welchem gesellschaftlichgeschichtlichen Boden Bildung in Theorie und Praxis heute steht. Das vorliegende Studienbuch versucht dem oben erwähnten Mangel zu begegnen: Es geht um einen Bildungsbegriff, konstituiert durch die Gruppe und deren Bedeutung für Bildungs-, Lehr- und Lernprozesse. Zur Debatte stehen sowohl die wissenschaftstheoretischen, philosophischen Voraussetzungen als auch verschiedene Modelle gruppendynamischer und gruppenpädagogischer Praxis und deren institutionelles Anwendungsgebiet. Die Autoren hoffen, damit einen Beitrag zum weitgehend fehlenden Theorieverständnis dieser jungen pädagogischen Wissenschaft und Praxis geleistet zu haben. Das Buch richtet sich an alle Gruppendynamiker und Gruppenpädagogen, die das Interesse an Theorie noch nicht verloren haben. Es richtet sich weiter an alle Studenten und Fachwissenschaftler im Bereich Pädagogik und Psychologie, vor allem an jene, die auf dem Gebiet der Bildungstheorie und Gruppenforschung arbeiten; schließlich aber auch an Philosophen, die es nicht unter ihrer Würde halten, sich mit Gegenwartsproblemen theoretischer und praktischer Bildung auseinanderzusetzen. Der sogenannte wissenschaftliche „Laie" auf dem Gebiet kann sich einige Aufklärung über das Gruppenprinzip in der Bildung und über deren praktische Möglichkeit in Bildungsinstitutionen verschaffen, ihn werden vor allem die mehr institutionell und praktisch ausgerichteten Artikel interessieren. Forscher, Theoretiker und Praktiker sowie Studenten, die es mit dem Thema

„Gruppe" (sei es die Kleingruppe oder die durch Gruppen getragene Organisation) zu tun haben, werden das vorliegende Studienbuch als Lehrbuch und als Nachschlagwerk nutzen können. Hilfe bieten dabei theoretische Modelle und Interpretationsmuster, die versuchen, zwischen den verschiedensten Einzelphänomenen einen begrifflichen Zusammenhang herzustellen. Die Darstellung ist sowohl zum Selbststudium geeignet wie auch als Grundlage für Seminare und Vorlesungen, die sich mit bildungstheoretischen Fragen und Problemen der Gruppendynamik beschäftigen. Klagenfurt, im Dezember 1974

Peter Heintel

Inhalt 1. Einleitung

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2. Freiheit, Gemeinschaft und Kommunikation (Wolfgang Kottinger) . . 2.1 Allgemeines 2.1.1 Bedingungen und Voraussetzungen 2.1.2 Der Fortschritt in der menschlichen Gemeinschaft 2.1.3 Das Bewußtsein um den Fortschritt des Menschen 2.2 Die Sprache 2.2.1 Die Bestimmung des Bewußtseins in der Dialektik der Sprache . . . 2.2.2 Versuch eines Zuganges zum Kommunikationsbereich von der Sprache her 2.2.3 Sprachproblematik unter philosophisch kritischem Aspekt 2.2.4 Gemeinschaftsausdrücke und kritische Analyse 2.2.5 Methodische Eingrenzung 2.3 Die Sonderstellung des Menschen in der Natur 2.3.1 Das Selbstverständnis des Menschen in der Anthropologie 2.3.2 Die Methode der Bestimmung dieser Sonderstellung 2.3.3 Das Selbstverstehen bildet den Menschen 2.3.4 Jede Gemeinschaftsbildung hat eine Grundlage im Menschen . . . . 2.4 Grundgerüst einer kategorialen Freiheitslehre 2.4.1 Das Prinzip der Freiheit 2.4.2 Auf dem Weg in die Inhalte von Freiheit 2.4.3 Das Bewußtwerden der eigenen Freiheit 2.4.4 Die Selbstbestimmung von Freiheit 2.4.5 Bedeutung des Todes für die Bestimmung der Freiheit 2.5 Der Mensch in der Gemeinschaft 2.5.1 Klärung der zentralen Begriffe von Gemeinschaft 2.5.2 Der Aufstieg der Freiheit in der Gruppe 2.5.3 In der Spannung zwischen Leistungsdruck und Selbsterfahrung . . . 2.5.4 Persönliche Freiheit und Gruppenbildung 2.5.5 Kernproblem der Bildung von Gruppen 2.6 Die Kommunikationsproblematik 2.6.1 Das Kommunikationsproblem unter dem Aspekt der Bestimmung von Freiheit 2.6.2 Kommunikationsidentität ist die Grundlage jeden Selbstverständnisses 2.6.3 Das Prinzip der Kommunikation 2.6.4 Die Kommunikationsidentität 2.6.5 Die Bestimmung des Widerspruches der Kommunikation 2.6.6 Der Sinn der Begrenzung für die Bestimmung der Kommunikation . 2.6.7 Uberblick und methodische Explikation der Problemlage 2.7 Konsequenzen aus den dargelegten Voraussetzungen 2.7.1 Der universale Aspekt 2.7.2 Der partikulare Aspekt 2.7.3 Der reflektorische Aspekt

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3. Bildung als identitätsherstellende Kommunikation (Kurt Buchinger). 3.1 Der Zirkel der Bildung als Problem der Kommunikation 3.2 Kommunikationsverlust in der Bildung

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.

21 23 23 24 28 29 30 30 31 34 34 36 37 38 40 42 42 44 46 49 50 53 54 56 58 58 60 62 63 64 66 72 73

3.3 Bildungsphasen in der Genese der Kommunikation 3.3.1 Negation der Natürlichkeit (kommunikative Einseitigkeit anerkennender Kommunikation) 3.3.2 Die Identifikation 3.3.3 Vorspiele der Befreiung 3.3.4 Pubertät als Befreiung: Negation der Identifikation 3.4 Zusammenfassung der Kriterien des Bildungsprozesses als Kommunikation 3.5 Bildung und ihre Institutionen 3.6 Zusammenfassung

4. Rolle, Kreativität und Gruppe (Helmut Stockhammer) 4.1 Allgemeines 4.2 Begriff und Messung der Kreativität 4.3 Ein Rollenkonzept von Gruppe, Sozialisationsprozeß und Kreativität . . 4.3.1 Emanzipatorische soziale Kreativität - Aufhebung der Bedürfnisrepression 4.3.2 Interpretatorische soziale Kreativität - Die vernachlässigte Dimension der Ich-Spontaneität 4.3.3 Reflektorische Kreativität - Die vernachlässigte Dimension der Selbstreflexion (Rollendistanz) 4.3.4 Systemeigenschaften von sozialer Kreativität ermöglichenden Gruppen 4.3.5 Kreative Ich-Identität 4.4 Weiterführende Problemstellungen

5. Die Gruppe im Lehr- und Lernprozeß (Peter Heintel) 5.1 Vorbemerkung 5.2 Voraussetzungen 5.2.1 Wissenschaftsgeschichtliche Voraussetzungen 5.2.2 Grundsätzliche Folgerungen f ü r die Pädagogik und ihre Aufgabe in der Schule 5.2.3 Gesellschaftlich-geschichtliche Voraussetzungen 5.2.4 Das Verhältnis von Staat, Familie und Schule 5.3 Grundsätzliches — Die G r u p p e als O r t der Selbstwerdung des Individuums 5.4 Die Schule als O r t verschiedenster Gruppenbildungen 5.4.1 Die Schulklasse als Analogon zur Primärgruppe 5.4.2 Die informellen Gruppen in der Schule als Chance und Demonstrationsbeispiel 5.5 Konsequenzen und Forderungen 5.5.1 Die doppelte Außenorientiertheit der Schule und deren Konsequenzen im Innern 5.5.2 Die Rolle des Lehrers 5.5.3 Vorschläge

6. Gruppendynamik und Hochschuldidaktik (Jakob Huber) 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6

Staat und Gesellschaft Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu den Hochschulen Wissenschaft und Hochschule Reformtendenzen im gegenwärtigen Bildungssystem Gruppendynamik Hochschuldidaktik

Literaturverzeichnis Sachregister

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113 113 115 121 123 124 125 126 127 128

132 132 133 133 136 139 142 146 161 161 170 178 178 184 194

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1. Einleitung von Jakob

Huber

Nirgendwo ist ein einzelner auf Dauer ohne ihn umgebende Gruppierung zu denken, sei diese Gruppierung nun mit der Familie, sei sie in der Schule oder mit dem Beruf gegeben. Immer machen die Ansprüche, die solche Gruppierungen an einzelne richten, sowie die Erwartungen, die ein einzelner an solche Gruppierungen richtet, die soziale Realität aus, in der wir zu leben haben. Diese Ansprüche an den einzelnen und dessen eigene Erwartungen werden in den verschiedensten Weisen ausgedrückt: verbal, aber auch durch Riten und Gesetzmäßigkeiten, die meist unbewußt durch Gebrauch und Übung den Individuen selbstverständlich geworden oder gar tabuisiert worden sind. Die Gruppendynamik ist u. a. entwickelt worden, um diese Lebenswelt aus Ansprüchen und Erwartungen für den einzelnen anschaulich und handhabbar zu machen. In der gruppendynamischen Praxis werden „Gesprächssituationen" — so wie sie unsere soziale Lebenswelt ausmachen — aufgezeigt. Es wird versucht, die emotionalen und die rationalen Bestimmungen unseres Selbstverständnisses so weit wie möglich bewußt zu machen. Das gelingt nur, indem die kommunikative Entwicklung einer jeden Gruppe Schritt für Schritt sichtbar gemacht wird, zwar nicht als eine naturgesetzlich verlaufende, aber als eine in ihrer Spezifität anschauliche und beschreibbare. Auf die Entwicklung von Gruppen im emotionalen und im rationalen Bereich wird gerade in bewußt aufgabenorientierten Gruppen selten geachtet. Schulklassen werden beispielsweise durch Autorität auf eine Ordnung fixiert, stellvertretend für ganz bestimmte soziale, ökonomische und politische Abhängigkeitsformen, die die Struktur unserer Gesellschaft bestimmen und die dem Autonomieanspruch von Individuen praktisch nicht verfügbar sind. Arbeitet eine Gruppendynamik nun, ohne diesen institutionellen Voraussetzungen hinsichtlich ihres emanzipativen Anspruches gerecht zu werden, dann wird diese Arbeit nicht zur Emanzipation von Individuen und Gesellschaften führen, sondern dann wird sie anpassungsorientiert die Scheinbefriedigung resignierter individueller Bedürfnisstrukturen herbeiführen — in unveränderbaren Gesellschaftsordnungen, deren institutionelle Voraussetzungen nicht berücksichtigt wurden. Man kann alle bisherigen gruppendynamischen Bemühungen hinsichtlich einer möglichen Emanzipation als gescheitert ansehen, sofern sie nicht in

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1. Einleitung

der Lage sind und waren, die Partikularität ihres Tuns im Arbeitsprozeß real, d. h. politisch relevant, aufzuheben. Wenn Gruppendynamik also einem emanzipatorischen Anspruch gerecht werden will, dann hat sie sich als eine Bemühung um die Identität einzelner in unserer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft zu verstehen und die Identität, die zu bilden ist, den Gesetzmäßigkeiten eines arbeitsteilig organisierten Konstitutionsprozesses von in Geschichte aufgehobenem gesellschaftlichen Sinn entsprechen zu lassen. Gruppendynamik hat in den letzten 20 Jahren schlagwortartig an Bedeutung gewonnen. Das Interesse ist weniger wegen nachweislicher wissenschaftlicher Erfolge gewachsen, die sich publikatorisch niedergeschlagen hätten, sondern wegen einer akklamierten Praxis, die sich erfolgreich an Marktlücken zu orientieren wußte, welche aus einem verstärkten Bedürfnis nach Authentizität und Sensitivität resultieren, das sich mit unserer vermehrten Einsicht in mit der Leistungsideologie gegebene Entfremdungsprozesse und das Brüchigwerden unserer Konsumideologie bildete. Die Absicht der Gruppendynamik, ihr Selbstverständnis zurückzustellen und das öffentliche Interesse mit der Mystifizierung von Wunschvorstellungen zu manipulieren, gipfelte in dem lange Zeit unausgesprochen geltenden Apriori gruppendynamischer Theoriebildung, daß das, was sie sei, nicht zu verbalisieren, sondern nur durch Teilnahme in gruppendynamischen Selbsterfahrungslaboratorien zu erfahren sei. Seit nun aber die inzwischen laut gewordene Kritik in der Gruppendynamik nur noch ein sozialrestauratives Bemühen sieht, beginnt man sich auf Seiten der Gruppendynamik, ihrer wissenschaftlichen Grundlagen zu besinnen. Welche Entwicklung die Gruppendynamik inzwischen genommen hatte, nachdem die ursprünglich politischen Intentionen, die Kurt Lewin [ 1 2 4 ] angestrebt hatte, aufgegeben worden waren, das zeigt eindrucksvoll und übersichtlich die Kritik, die Christof Ohm [ 1 5 4 ] formulierte. Sie geht von einem Modell der Gruppendynamik ihrer wissenschaftlichen Grundlagen zu besinnen, pendynamiker entspricht und das auch in der Allgemeinheit weit verbreitet ist. Ohm nennt als die wesentlichen Funktionselemente gruppendynamischer Laboratorien: — die anfänglich gegebene Strukturlosigkeit gruppendynamischer Selbsterfahrungsgruppen, die sich ergibt, weil in der Gruppe keine gemeinsamen Erfahrungen und keine gemeinsamen Zukunftsperspektiven zugelassen sind; — die Planlosigkeit, d. h. daß keine im vorhinein festgelegten Ziele zu verwirklichen sind, nur solche, die sich die Gruppe spontan setzt; — die Führungslosigkeit, die das Verhalten des Trainers hervorruft; — die alleinige Geltung von Hier-und-Jetzt-Erlebnissen, die die gruppendynamische Selbsterfahrungsgruppe einer Spielsituation ähnlich macht;

1. Einleitung

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— der Vorrang des Emotionalen vor dem Kognitiven, eine Wertung, die in der Organisation des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses praktisch keine Entsprechung findet. Wenn nun eine so arrangierte Gruppendynamik noch das Mäntelchen der Progressivität umgehängt bekommt, indem sie mit den Maßnahmen einer Institutionsberatung verbunden ihre Folgenlosigkeit zu verlieren scheint, sieht Q h m in der Gruppendynamik „korrumpierende Scheinbefriedigung" [154, S. 116]. Ohm kritisiert, daß „ein sehr undifferenzierter Begriff von Institutionen zugrundeliegt, der das Demokratisierungspotential nicht in Beziehung zum wirtschaftlichen Zweck und zu den elementaren Ängsten am Arbeitsplatz zu setzen vermag. Ein weiterer Schwerpunkt war die in den Gruppen sich einstellende Ziel- und Planlosigkeit des Verhaltens. Sie wurde zunächst als unvermeidliches Resultat des gruppendynamischen Arrangements nachgewiesen, da die zum methodischen Prinzip erhobene Abtrennung der Dynamik emotionaler Interaktionen von den Handlungsinhalten zum Zweck ihrer reinen Darstellung in der Kultur des Laboratoriums die Ableitung inhaltlicher, für alle Teilnehmer auf der Basis vernünftigen Dialogs verbindlicher Arbeitsprogramme verbietet. Die Abtrennung ist konsequenter Vollzug einer Tendenz in der kapitalistischen Wirklichkeit: In dem Maße, in dem in den Sozialbeziehungen der Tauschwertstandpunkt herrschend wird, müssen affektive Regungen wie Mitleid, Freundlichkeit etc. unterdrückt bzw. instrumentell zum besseren Selbstverkauf eingesetzt werden". [154, S. 121] Fügt man zu dieser Kritik Ohms noch die Tatsache der Abhängigkeit der Gruppendynamik in ihrer gegenwärtigen Form von den Personen (gruppendynamischen Autoritäten), die sie betreiben, dann könnte der emanzipative Anspruch der Gruppendynamik, den sie verbal so stark betont, für immer fallen gelassen werden. Emanzipation würde nur noch als ein Authentizität und Sensitivität garantierendes Schlagwort verwendet, das Identität verspricht, indem die eine solche Emanzipation bedingenden sozialen Prozesse in politisch irrelevantes Handeln verbannt werden sollten. Nur in der „Als-ob-Welt" des Sandkastens würde Realität vorgespiegelt, würde eine Emanzipation geprobt, zu der es im Alltag nie kommen würde, dafür sorgte schon die „back-home" 1 benannte Wirklichkeit. Ohm kritisiert damit ein zugegebenerweise weit verbreitetes Selbstverständnis der Gruppendynamik, das aber dem Gruppendynamikverständnis der in die1 Als „back-home" wird die Situation der Rückkehr der Teilnehmer von gruppendynamischen Laboratorien bezeichnet. Die in dem Seminar angewendeten und gelernten Methoden des Hinterfragens und Infragestellens eigener und fremder Standpunkte passen nicht problemlos in den gesellschaftlichen Alltag. Den daraus resultierenden Schwierigkeiten versucht man, durch simultane Situationsspiele vorzubeugen.

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1. Einleitung

sem Band gesammelten Autoren nicht entspricht. Das Autoritätsmodell, das diesem Gruppendynamikverständnis zugrundeliegt, läßt Strukturlosigkeit, Planlosigkeit und Führungslosigkeit in der von Ohm kritisierten Weise nicht zu. So darf das nicht erwartete Verhalten des Gruppendynamikers nicht als die Negation von Struktur, Plan und Führung mißverstanden werden. Die Enttäuschung der Verhaltenserwartung problematisiert auch die Gültigkeit des Arguments, daß die Gruppenerfahrung auf das Hier- und Jetzt-Erlebnis beschränkt bliebe, wenn auch Autorität nur an gegebenen Autoritäten (in der gruppendynamischen Trainingsgruppe also nur am Trainer) und nicht exemplarisch für alle möglichen Varianten bewältigt werden kann. Ohms Argument des Vorrangs des Emotionalen in Trainingsgruppen vor dem Kognitiven, der in den gesellschaftlichen Arbeitsprozessen keine Entsprechung findet, wird anerkannt, weil es in gruppendynamischen Situationen unter anderem darum geht zu lernen, auf der Ebene der Emotionalität besser mit sich und anderen umzugehen, d. h. Sensibilität zu erzeugen, die einmal entwickelt, der einzige Grund sein mag, die Organisation der - Arbeitsprozsse einmal tatsächlich zu verändern. Das Gruppendynamikverständnis der hier gesammelten Autoren folgt der Absicht, die sozialpsychologischen Vermittlungsformen von ökonomischer, politischer und sozialer Abhängigkeit in alltäglichen Situationen zu untersuchen und sie analysiert in einer zunehmend machbaren und rational geplanten und gestalteten Welt für die Entwicklung einer gesamtgesellschaftlichen wie auch individuellen Identitätsbildung bereitzustellen. Denn nach Erich Wulff ist „Wissenschaft diejenige Form gesellschaftlicher Praxis, die darauf abzielt, die Aneignung der Natur durch den Menschen vorzubereiten, und zwar mittels der Erarbeitung von benennenden, gliedernden, beziehenden und begründenden Begriffen, die als Handlungsanweisungen für diese Aneignung dienen können" [205, S. 282]. Wenn nun aber der Gruppendynamik wissenschaftlicher Charakter zugesprochen werden soll, so muß uns ihr Wissenschaftscharakter interessieren. Wir versuchen ihn zu bestimmen, indem wir uns um die spezifische Form der Theoriebildung in der Gruppendynamik sowie um die Arbeitsformen, mit denen diese Theorie entwickelt und vermittelt wird, bemühen. Da die Gruppendynamik den Anspruch stellt, ein Lernen durch Erfahrung zu sein, will und kann sie sich nicht auf die Vermittlung schon von vornherein festgelegter Theorie beschränken, sondern muß versuchen, Individuen in entsprechend arrangierten Situationen agieren und dieses Agieren reflektieren zu lassen. Dabei soll dem einzelnen sein Verhältnis zu sich und zu anderen, seien diese personell oder auch institutionell gedacht, anschaulich, besprech- und handhabbar, sollen Entfremdungen greif- und aufhebbar gemacht werden.

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1. Einleitung

Aber hierzu genügt nicht das Engagement zufällig

zusammengekommener

Gruppen. Die Rollenanforderungen, die das Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft im wesentlichen bestimmen, sind nur durch eine wissenschaftlich gesicherte Analyse der Lebenswelt in ihrer Notwendigkeit erfahrbar zu machen oder in ihrer Verfremdung zu kritisieren. Es gilt, die realen Entfremdungsformen aufzuheben, die eine durch Wissenschaft, Technik und ein höchst differenziertes soziales und politisches System vermittelte Lebenswelt dem einzelnen aufzwingt. Die Emanzipation der Gesellschaft von diesen gewordenen Entfremdungen

hat über die Emanzipation der einzelnen zu laufen, die

wiederum eine solche Emanzipation nur als eine gesellschaftliche individuell durchzuhalten vermögen. Diese gegenseitige Angewiesenheit von Individuum und Gesellschaft wird nun in der Gruppendynamik zum Motiv einer Theoriebildung, in der „nicht vergangene und festgelegte Verhältnisse reproduziert, sondern diese als Voraussetzung für die Tauglichkeit zur Schaffung freiwillig erstellter sozialer Verbindlichkeit geprüft und entweder abgelehnt oder positiv eingesetzt" werden [85, S.7], Theorie ist insofern nicht als handlungsanleitendes

Modell zu verstehen,

sondern vielmehr als die Bestimmung und somit Bewältigung von Situationen, die daran Beteiligte hinsichtlich ihrer Bedürfnisse leisten. Weil die Menschen sich Identität durch Praxis, also durch bewußtes Handeln, zu bilden haben, kann so allein die Theorie ermittelt werden. Sie kann nur aus der Situation entwickelt werden und nur durch die Situation vermittelt werden. Die Theoriebildung, die von den betroffenen Individuen geleistet wird, ist an je gegebenen Situationen orientiert und gewinnt ihre Verbindlichkeit durch diese Situation. Diese Situation aber wird — das ist eine Aufgabe der Trainer — von den Arbeitsformen der Gruppendynamik wesentlich bestimmt, also dem Labdesign 2 und dem Interventionsstil. 3 In beiden Gestaltungsmöglichkeiten kommt praktisch zum Ausdruck, was theoretisch (auf Grund über die Situation hinausgehender Analysen und Erfahrungen) für richtig gehalten wird. Der Einsatz der Gruppendynamik, mit einem immer schon im vorhinein bestimmten Design und einer bestimmter Interventionstechnik, macht auch die Kritik Ohms, wenn er von Strukturlosigkeit usw. spricht, angreifbar. Viel relevanter für Kritik ist der Anspruch, Theorie immer von den sie Betreffenden formulieren zu lassen, weil die Informationsstruktur und die Organisation Als Labdesign bezeichnet man die Art, in der gruppendynamische Laboratorien organisiert werden. In ihm kann und soll auch die Zielsetzung des Seminares impliziert sein. 3 Als Interventionsstil bezeichnet man die verschiedenen Möglichkeiten des Trainers, seine Absichten in gruppendynamischen Situationen anzumelden und die Möglichkeiten, den Gruppenprozeß zu beeinflussen. 2

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1. Einleitung

fachlichen, politischen und sozialen Wissens in unserer Gesellschaft die Sinnkonstitution von Einzelexistenzen nur sozial- und geschichtsphilosophisch erkennen lassen. Und so kann die Gruppendynamik, wo sie nicht als politische Praxis 4 weitergeführt und betrieben wird, notwendig den von ihr gestellten Anspruch nicht einlösen, wenn die immer wieder als konstruierte Spielsituation relativierbare Gruppe nicht als soziale Praxis verstanden und begriffen wird. Die gruppendynamische Trainingsgruppe wird nun immer deutlicher als bloße Sensibilisierungsgruppe verstanden, die aber nicht mehr zur Sensibilisierung für eine im alltäglichen Leben nicht lebbare Humanität, sondern zur möglichen Veränderung sozial verhärteter Strukturen — etwa im Arbeitsprozeß oder in der schulischen Sozialisation — verwendet wird. Das Labdesign und die Interventionstechnik konkretisieren sich immer deutlicher auf eine bewußte soziale Praxis, die in Gruppen mit gemeinsamer Vergangenheit und Zukunft auch Folgen zeitigt, die über die Labsituation hinausweisen. Durch eine als Adressatenspezifizierung bezeichnete Differenzierung kann die Gruppendynamik heute an den unterschiedlichen (schichtenspezifischen) Sprachformen, an den für die Sozialisationsfunktion wichtigen Unterschieden in den diversen Arbeitsformen sowie an dem System sozialer Abhängigkeiten mit ihren die Identitätsbildung erschwerenden Momenten arbeiten. Die im vorliegenden Buch gesammelten Aufsätze beabsichtigen, Bildung als einen Theorie und Praxis vermittelnden dialektischen Prozeß zu zeigen, der sich in der „Kommunikation" von Gruppen abspielt. Insofern geht es jeweils darum, das Verhältnis der einzelnen zu den sie umgebenden Gruppen und Gruppierungen zu bestimmen, wie dieses in den verschiedensten Kulturbedingungen, also der Sprachstruktur, den Erziehungspraktiken und den sozioökonomischen Verhältnissen, bereits vorgegeben ist. Diese Variablen, die Sprachstruktur, die Erziehungspraktiken und die sozioökonomischen Verhältnisse, sind auch die Richtlinien, nach denen die Aufsätze gesammelt wurden. U m Bildung als identitätserstellende Kommunikation geht es Wolfgang Kottinger und Kurt Buchinger. Kottinger geht von einem philosophischen Verständnis der Sprache und der Sonderstellung der Menschen in der Natur aus und führt zu einem Freiheitsbegriff, den er in den verschiedenen Kommunikations- und Gruppenformen zu bewähren sucht. Buchinger zeichnet an der Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit die Bildung individueller Identität nach. Die Bildung zur Kreativität und zu deren spezifischem Verhältnis in den sie ermöglichenden und bestimmenden Gruppen untersucht Helmut StockhamPolitische Praxis ist hier nicht im formaldemokratischen Sinne zu verstehen, sondern muß analog der durch die Sensibilisierung in den gruppendynamischen Seminaren ermöglichten Handlungsfähigkeit im Sinne selbstbewußter Individualität gedacht werden. 4

1. Einleitung

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mer, der auch zu den sozioökonomischen Infragestellungen der Sozialwissenschaften überleitet, die in der Kritik der Erziehungs- und Sozialisationspraktiken der Schule und der Hochschule in den Aufsätzen von Peter Heintel und Jakob Huber deutlich werden. Peter Heintel versucht dabei aus der Kritik der gegenwärtigen Lehr- und Lernsituation in Schulen eine Pädagogik zu formulieren, in der die Wissensvermittlung in die Analyse und Bearbeitung je vorhandener sozialer Strukturen eingepaßt wird. Die Notwendigkeit einer solchen situationsadäquaten, d- h. in die Analyse gruppenspezifischer Prozesse eingepaßten Wissensvermittlung auch an Hochschulen zeigt schließlich Huber in der Erörterung gemeinsamer gesellschaftlicher Voraussetzungen der Gruppendynamik und der Hochschuldidaktik und in der Konkretisierung ihrer sozialpsychologischen Aufgaben.

2. Freiheit, Gemeinschaft und Kommunikation von Wolf gang

Kottinger

»Wir haben Fakten!« sagen sie. Aber Tatsachen sind nicht alles; mindestens die halbe Arbeit liegt darin, wie man mit den Tatsachen umzugehen versteht! Dostojewskij >Schuld und Sühne