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German Pages 175 [184] Year 1997
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil
Band 59
Bildung und Konfession Politik, Religion und literarische Identitätsbildung 1850-1918
Herausgegeben von Martin Huber und Gerhard Lauer
in Verbindung mit Konrad Feilchenfeldt, Wolfgang Proß, Walter Schmitz und Sibylle von Steinsdorff
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bildung und Konfession : Politik, Religion und literarische Identitätsbildung 1850-1918 / hrsg. von Martin Huber und Gerhard Lauer in Verbindung mit Konrad Feilchenfeldt... - Tübingen: Niemeyer, 1996 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 59) NE: Huber, Martin [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-35059-8
ISSN 0174-4410
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Einleitung
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ROGER PAULIN (Cambridge): »Shakespeare's allmähliches Bekanntwerden in Deutschland«. Aspekte der Institutionalisierung Shakespeares 18401875
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MICHAEL BÖHLER (Zürich): Nationalisierungsprozesse von Literatur im deutschsprachigen Raum. Verwerfungen und Brüche - vom Rande betrachtet
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JÖRG SCHÖNERT (Hamburg): Die bürgerlichen lugendem auf dem Prüfstand der Literatur. Zu Gottfried Kellers Der grüne Heinrich, Die Leute von Seldwyla und Martin Salander
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WERNER HAHL (München): Zur immanenten Theorie und Ästhetik des Erlebens in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich (erste Fassung 1854/55)
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LUIGI FORTE (Turin): Lob der Faulheit. Muße und Müßiggang im 19. Jahrhundert
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EDA SAGARRA (Dublin): Fürsorgliche Obrigkeit und Lebenswirklichkeit. Die katholischen Dienstbotenzeitschriften Deutschlands 1832-1918 . .
95
DIETER LANGEWIESCHE (Tübingen): Vom Gebildeten zum Bildungsbürger? Umrisse eines katholischen Bildungsbürgertums im wilhelminischen Deutschland
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HEINZ HURTEN (Eichstätt): Karl Muths Hochland in der Vorkriegszeit oder der Preis der Integration
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ANTHONY W. RILEY (Kingston/Ont.): Der Volksschriftsteller Joseph Wittig (1879-1949). Ausklang vom 19. oder Weckruf zum 20. Jahrhundert? .
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WERNER WELZIG (Wien): Text ohne Kontext oder Germanistik als verhüllendes Geschäft. Referat in zwei Vorbemerkungen, zwei Bemerkungen und zwei Anmerkungen
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Namenregister
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Wolfgang Frühwald zum 60. Geburtstag
Einleitung Im Jahr 1876 sei, so berichten die Zeitungen dieser Jahre, in der saarländischen Ortschaft Marpingen die Jungfrau Maria drei Kindern beim Waldbeerensammeln erschienen. Die Neuigkeit aus dem kleinen Bergarbeiter- und Bauernort verbreitet sich rasch im gerade entstandenen deutschen Nationalstaat. Man spricht von einem »deutschen Lourdes«. Der Klerus, zunächst skeptisch, begrüßt die Marienverehrung als wiedererwachte Religiosität. Marpingen wird zum Wallfahrtsort. Die Eisenbahnlinien ermöglichen neue, schnelle und zugleich kontrollierte wie in ihrem Umfang ungewöhnliche Pilgerfahrten. Die gesamte Diözese und der saarländische Ort profitieren von den rasch ansteigenden Pilgerströmen. Die Pilger, die nach Marpingen kommen, entstammen, wie der Historiker David Blackbourn nachgewiesen hat, fast alle den ungebildeten, katholischen Schichten.1 Das gebildete Deutschland dagegen mokiert sich über derartigen »Aberglauben«. Blackbourn berichtet von einem Gerichtsfall, in dem ein Mann zu drei Tagen Gewahrsam verurteilt wurde, weil er in einem Wirtshausstreit einen anderen als »Marpinger« beschimpft hatte. Die unerwartete konfessionelle Frömmigkeit zieht aber schnell weitere Kreise. Der preußische Staat fühlt sich herausgefordert. Er entsendet angesichts wachsender Pilgerströme Militär nach Marpingen, schickt Polizeibeamte und Spitzel. Marpingen wird überwacht. Ein Detektiv der Berliner Kriminalpolizei, der sich das Vertrauen der Bevölkerung von Marpingen erschleichen soll, schlägt vor, die drei Kinder in eine geschlossene Anstalt zu bringen. Drei Jahre später kommt es 1879 in Saarbrücken schließlich zum Prozeß. Die Anklage lautet auf Betrug. Die angeklagten Dorfbewohner tragen ihre Version der Ereignisse vor, die mit den Ausführungen der Gelehrten nicht zur Deckung zu bringen sind. Am Ende ist nicht einmal mehr deutlich, wer nun der Kläger war. Das Verfahren wurde ohne Urteilsspruch eingestellt. Die Kosten übernahm das Gericht. Die Geschichte der Marpinger Marienerscheinung zeigt auf geradezu exemplarische Weise die Konfliktlinie zwischen Bildung und Konfession im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Was hier gegeneinander antritt, sind die Symbole konfessioneller Frömmigkeit gegen die Symbole des Nationalstaates: Marienerscheinung, Wallfahrten, Rosenkränze, Kerzen und Blumen auf der einen Seite stehen Flagge, Nationalhymne und Denkmälern auf der anderen gegenüber. Aber so idealtypisch für die Logik des Kulturkampfs der Konflikt in seinem Verlauf mindestens damals zu sein schien, hier die preußisch-protestantische Obrigkeit, dort die katholischen, abergläubigen Dorfbewohner, so wenig überzeugt heute die schematische Gegenüberstellung von Bildung und Konfession. Fragen nach Bildung und Nationalisierung, Ausgrenzung und Reintegration konfessioneller, sozialer wie ethnischer Gruppen sind im Ausgang der achtziger Jahre unseres Jahrhunderts wieder verstärkt ins Zentrum des Forschungsinteresses 1
David Blackbourn: Marpingen. Apparitions of the Virgin Mary in Bismarckian Germany. Oxford 1993.
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Einleitung
verschiedener Disziplinen gerückt. Gegenüber sich aufdrängenden schlagwortartigen Komplexitätsreduktionen liegt es als eine Aufgabe der Geisteswissenschaften nahe, die historische Reflexion auf die Modernisierungsprozesse und die Genese ihrer Begrifflichkeiten im 19. Jahrhundert zu leisten. Auch Marpingen ist von der Industrialisierung, hier der Bergbauindustrie, erfaßt. Die Pilger kommen nicht mehr zu Fuß angereist, sondern mit der Eisenbahn. Der katholische Klerus akzeptiert wissenschaftliche Gutachten über die Marienerscheinung und versteht sich auf die politische Instrumentalisierung der spontanen Frömmigkeitsbewegung im Dienst des Kulturkampfes. Umgekehrt sind der preussische Nationalstaat und seine tragenden Schichten von einem Glauben an Bildung geprägt, der selbst wiederum Züge der Frömmigkeit trägt. Nicht umsonst spricht die Forschung zum Bildungsbürgertum inzwischen von »Bildungsreligiosität«.2 Zugleich wird Bildung in diesen Jahren um 1880 zum Besitz, einem eher ständischen Privileg, das der gesellschaftlichen Modernisierung zu widersprechen scheint. Und die enge Rückbindung der Bildung an die Aufklärung beginnt sich, wie Georg Bollenbeck gezeigt hat, zu lösen.3 Die politische Vision einer egalitären Staatsbürgergesellschaft verliert an Anziehungskraft; antiaufklärerisches und antidemokratisches Denken gewinnen dagegen an Einfluß. Die semantische Lage um 1880 bereitet autoritäre Lösungen vor. Dem antimodernen Denken wird eine neue Sprache verliehen, die keine Rückbindung mehr an humanitäre Traditionen kennt. Bildung und Religion erhalten so eine neue semantische Aufladung. Eine neue Gläubigkeit im Umfeld der Lebensreformbewegungen sind nur der sichtbarste Ausdruck der quasi religiösen Radikalisierung um die Jahrhundertwende. Jene komplexen Prozesse zwischen der deutschen Romantik und dem Ersten Weltkrieg im Dialog der Geschichts-, Literatur- und Sozialwissenschaft im Zuge einer Herausbildung der symbolischen Ordnung der Moderne in den Blick zu nehmen, war der thematische Rahmen eines Kolloquiums, das zu Ehren des 60. Geburtstages von Wolfgang Frühwald vom 20. bis 22. September 1995 in Augsburg stattfand. Schwerpunkte des Kolloquiums »Text und Kontext. Literatur in der Geschichte des 19. Jahrhunderts« waren dabei die Funktion der Literatur im Prozeß der Bildung und Nationalisierung (Bürgertum und Nationalstaat) sowie ihre Rolle für die Konfessionalisierung und Schichtenbildung (Katholizismus und Bildungsbürgertum). Vorliegender Band versammelt Beiträge dieser Tagung. Die erste Gruppe der Referate umreißt das Problemfeld der Konstruktion von Nation und bildungsbürgerlicher Identität über Sprache und ihre ästhetische Anthropologie. Roger Paulin beschreibt die zunehmende Kanonisierung und Institutionalisierung Shakespeares als paradigmatischen Fall von nationaler Identitätsbildung in Deutschland. Sein Beitrag verfolgt diesen Prozeß in dem bislang wenig Reinhart Koselleck (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1990, S. 16. Georg Bollenbeck: Die Abwendung des Bildungsbürgertums von der Aufklärung. Versuch einer Annäherung an die semantische Lage um 1800. In: Wolfgang Klein/Waltraud NaumannBeyer (Hg.): Nach der Aufklärung? Beiträge zum Diskurs der Kulturwissenschaften. Berlin 1995,8.151-162.
Einleitung
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bearbeiteten Zeitraum von 1840 bis 1875. An Quellentexten aus der Literaturgeschichtsschreibung und zeitgenössischen Diskussionen über Konzepte von Nationalliteratur und historischem Drama zeigt Paulin, wie das fremde Kulturgut Shakespeare im Zuge einer kulturellen »appropriation« in Deutschland zu eigener Nutzanwendung ergriffen und besetzt wird. Mit Fragen nationaler Identitätsbildung beschäftigt sich auch der Beitrag von Michael Böhler. Versteht man das Projekt einer Nationalliteratur im Sinne von Shmuel Noah Eisenstadt als »Symbolsystem kollektiver Identität«, sind »Verwerfungen und Brüche« dadurch vorgezeichnet, daß Identität nach innen nur durch Abgrenzung nach außen zu erzielen ist. Dieses Dilemma diskutiert Böhler an drei für den gesamten deutschen Sprachraum typischen Lösungsstrategien in den Argumentationsmustern zum Verhältnis von Nation und Literatur. Ausgehend von Texten Gottfried Kellers und Robert Waisers liest Böhler dann die Konstitution einer schweizerischen Nationalliteratur als Geschichte ihres Scheiterns. Einen vorläufigen Endpunkt bildet Adolf Muschgs Überführung der schweizerischen Nationalliteratur in den virtuellen Zustand des »als-ob«: schweizerische Nationalliteratur trage nur noch den Charakter einer regulativen Idee interkultureller Differenz-Anerkennung und hebe sich darin selbst auf. Während Böhler der Verbindung von personaler und nationaler Identität bei Keller nachgeht, verfolgt Jörg Schönert an Kellers Grünem Heinrich, Die Leute von Seldwyla und Martin Salander die literarische Verarbeitung von Erfahrungen hinsichtlich ihrer lebenspraktischen Bedeutung für die Einübung bürgerlicher lügendem. Angesichts der verlorengegangenen »>natürlichen< familiären Vermittlung« sozialer Verhaltensnormen kann auch die Literatur diese Funktion nicht mehr übernehmen. Kellers Texte problematisieren vielmehr die bürgerlichen Tugenden selbst hinsichtlich ihrer Tauglichkeit, dem Glückstrieb des Einzelnen unter den gesellschaftlichen Bedingungen genüge zu tun. Werner Hahl stellt in einer Neuakzentuierung der Keller-Forschung die Frage nach der Ästhetik des Erlebens in den Mittelpunkt seines Referats zum Grünen Heinrich. Hahl zeigt eine Erlebnistheorie, deren Kern darin besteht, daß Keller einen an Feuerbach gewonnenen anthropologischen Ritualbegriff entwirft, in dem das Ritual als ursprünglich kollektive Lebensweise der Völker begriffen wird, die den Einzelnen zum Grund seiner Existenz zurückführt. Erleben ist eine naturgegebene Fähigkeit des Menschen, die dann im ritualisierten Gebrauch zum Instrument für die gestalthafte Vergegenwärtigung von Lebensproblemen wird. Hahl führt vor, wie Keller die anthropologischen Voraussetzungen dieser Theorie im Grünen Heinrich etwa im Durchspielen von Adoleszenzproblemen poetisch erprobt. Der Beitrag von Luigi Forte entwickelt an Texten von Friedrich Schlegel, Büchner, Eichendorff u.a. Muße und Müßiggang als positive Kategorie und Ausgangspunkt einer neuen literarischen Anthropologie des 19. Jahrhunderts. Der Müßiggang dient dazu, die wachsende Entfremdung des Menschen aufzuweisen. In der Kontroverse dieser Vorstellung mit Forderungen der Arbeiterbewegung nach einem Recht auf Arbeit, wie sie Forte an der entgegengesetzten Bewertung der Muße durch Karl Marx und Paul Lafargue entwickelt, zeigt sich das 19. Jahrhundert in seinen Widersprüchen. Es gelingt nicht, den Fortschrittsglauben in
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Einleitung
Einklang mit dem wachsenden Bedürfnis des Menschen zu bringen, sich von den gesellschaftlichen Zwängen freizumachen. Die zweite Gruppe der Referate befaßt sich mit dem Problemfeld >Bildung und Konfessiom in sozialgeschichtlicher und literaturwissenschaftlicher Perspektive. Eda Saggaras Beitrag ist eine auf der Auswertung katholischer Dienstbotenzeitschriften fußende Studie über den Zusammenhang von Konfessionalisierung und moderner Identitätsbildung. Sie zeigt exemplarisch an der auflagenstarken Notburga, wie eine fürsorgliche, katholische Obrigkeit volksaufklärerische Gebrauchsliteratur für jüngere Dienstboten, besonders für Hausmägde, auf den Markt bringt mit dem Ziel, diesen >geringen< Menschen eine konfessionelle und soziale Identität gegen die >Gefahrdungen< der säkularen Mehrheitskultur zu sichern. Damit bedient sie sich gerade jenes Instruments, das jahrzehntelang Zielscheibe ihrer erbittertsten Kritik war, nämlich der Presse und gewinnt Anschluß an den entstehenden kapitalistischen Buchmarkt. Zugleich stärken die katholischen Zeitschriften das Bewußtsein der Dienstboten für ihre sozialen Rechte und politische Eigenständigkeit, obwohl sie ihrer Intention nach sozialstabilisierend wirken wollten. Was als Integration der katholischen Leserschaft unter die traditionellen Institutionen angesichts des entstehenden Zeitalters der Massenlektüre gedacht war, also der Stabilisierung hierarchischer und konfessioneller Traditionen dienen sollte, erweist sich als Modernisierung wider Willen. Dieter Langewiesche untersucht in seinem Aufsatz erstmals in der Forschungsgeschichte zum Bildungsbürgertum die Umrisse des katholischen Bildungsbürgertums im wilhelminischen Deutschland. Widerspricht es der auch von der Forschung behaupteten, ausschließlich protestantisch dominierten Bildungsreligosität überhaupt von einem katholischen Bildungsbürgertum zu sprechen, so kann Langewiesche an Hand der Akademischen Bonifatius-Vereine zeigen, wie Gebildete aus der katholischen Minderheitenkultur einer Verbürgerlichung des Katholizismus vorarbeiten. Indem sie eine Versöhnung von Kirche und Wissenschaft und einen Führungsanspruch innerhalb des Katholizismus anstreben, stellen sie sich mit der kirchlichen Autorität auf eine Stufe. Ihr Selbstbild wird der Sozialfigur des Bildungsbürgers nicht zuletzt auch dadurch angenähert, daß sie mit der protestantischen Mehrheitskultur die kulturelle Verunsicherung durch die Moderne teilen. Der traditionelle Widerspruch von übernationaler Reichsidee auf katholischer Seite und nationalem Patriotismus auf protestantischer Seite schwächt sich ab. Eine >Nationalisierung< auch des deutschen Katholizismus ist am Vorabend des Ersten Weltkriegs zu erkennen. Am Beispiel der Zeitschrift Hochland geht Heinz Hurten ebenfalls der Frage nach, inwieweit die Integration der katholischen Intelligenz in den wilhelminischen Staat die politischen und kulturellen Besonderheiten der Milieubindung aufgelöst hat. Ohne sich in Richtungsstreitigkeiten der Kirche oder parteipolitischen Programmen festzulegen, aber mit dem Anspruch, ein »Sammel- und Centralorgan« des intellektuellen Katholizismus sein zu wollen, hat sich Karl Muths Hochland den politischen Hauptströmungen der wilhelminischen Zeit und ihrer radikalisierten Semantik stärker angenähert als dies bisher in der Forschung gesehen wurde. Am Fall des katholischen Historikers Martin Spahn macht Hurten
Einleitung
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deutlich, wie sehr auch das Hochland zum Organ einer antisemitischen Modernitätskritik werden konnte und sich damit der politischen Mentalität der Mehrheitskultur angleicht, eine Entwicklung, die erst in der Weimarer Republik zurückgenommen wird. An der Lebensgeschichte des Theologen und Volksschriftstellers Joseph Wittig zeigt Anthony W. Riley, wie umkämpft das Feld moderner Identitätssetzung zwischen Bildung und Konfession dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts war. Als konfessionell im katholischen Milieu verwurzelter Schriftsteller, der zugleich den Kontakt zu den neureligiösen und lebensreformerischen Bewegungen um den Ersten Weltkrieg sucht, gelingt Wittig zwar persönlich eine Verknüpfung von weltoffener Bildung und konfessioneller Religiosität. Aber 1926 wird er exkommuniziert und vorzeitig als Kirchenhistoriker emeritiert. An dessen 1925 erschienen Buch Leben Jesu in Palästina, Schlesien und anderswo belegt Riley, wie Wittig die Tradition der Leben Jesu-Darstellungen des 19. Jahrhunderts mit romantischen Mustern der Autobiographie verbindet und auf diese Weise seine Selbstbiographie mit ausgewählten Episoden aus dem Leben Jesu verknüpft. Werner Welzig entwickelt an zwei Beispielen - Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften und Goethes Faust II - eine Kritik an der Kommentar-Praxis germanistischer Editionen. Die Kontextualisierung von kommentarbedürftigen Stellen mit betont bildungsbürgerlichem Wissen erzeugt, wie Welzig nachweist, ein scheingebildetes Verständnis von Textstellen, das den Zugang zum Text gerade verstellt. Anstelle eines solchen, letztlich als überzeitlich angenommenen, bildungsbürgerlichen Wissens betont Welzig die Notwendigkeit historisch präziser Textkommentierung. Für vielfache Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung danken wir herzlich Karl Eibl, Konrad Feilchenfeldt, Georg Jäger, Hartmut Reinhardt, Sibylle von Steinsdorff und Ruth Stubenvoll. Für die kompetente wie geduldige Einrichtung der Manuskripte danken wir Oliver Dürselen. Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft hat das Kolloquium und die Publikation der Beiträge großzügig und unkompliziert gefördert. Auch dafür sei hier noch einmal herzlich gedankt. München, im Herbst 1996
Martin Huber/Gerhard Lauer
Teilnehmer des Kolloquiums vom 20. bis 22,9.1995 in Augsburg
Michael Böhler (Zürich) Alfred Doppier (Innsbruck) Karl Eibl (München) Konrad Feilchenfeldt (München) Luigi Forte (Turin) Wolfgang Frühwald (Bonn) Werner Hahl (München) Wolfgang Harms (München) Mary Howard (Cork) Martin Huber (München) Heinz Hurten (Eichstätt) Georg Jäger (München) Bernhard König (Köln) Dieter Langewiesche (Tübingen) Gerhard Lauer (München) Roger Paulin (Cambridge) Wolfgang Proß (Bern) Hartmut Reinhardt (München) Anthony W. Riley (Kingston/Ont.) Eda Sagarra (Dublin) Susanna Schmidt (Bonn) Walter Schmitz (Dresden) Jörg Schönert (Hamburg) Sibylle von Steinsdorff (München) Werner Welzig (Wien)
ROGER PAULIN »Shakspeare's allmähliches Bekanntwerden in Deutschland« Aspekte der Institutionalisierung Shakespeares 1840-1875'
Der Titel meines Referats bezieht sich auf August Kobersteins 1858 erschienenen Aufsatz Shakspeare's allmähliches Bekanntwerden in Deutschland. Koberstein läßt die großen Gestalten dieses Prozesses Revue passieren und schließt mit den folgenden Worten: Shakspeare's Werke leben in unsem Tagen nicht bloß auf der englischen, sondern auf der deutschen Bühne in ihrer unverwelklichen Jugendfrische fort; denn sie sind seit der Zeit, da Herder jene Worte schrieb, auch ein Eigenthum unsers Volks geworden, das, so lange es dem bessern Theil seiner Natur treu bleibt, nie vergessen wird, was es alles in dem Besten seiner heimischen dramatischen Litteratur ihrem Einfluß zu danken hat.
Es war Kobersteins Anliegen, den historischen Prozeß von der ersten Aneignung des fremden Dichtergenies durch Lessing bis zur völligen Besitznahme durch Goethe und die romantische Generation aufzureißen. Solche Aufrisse sind im Spätbiedermeier und im Realismus keine Seltenheit, von Adolph Stahrs Shakspere in Deutschland in Prutz' Literaturhistorischem Taschenbuch 18433 oder Friedrich Theodor Vischer im selben Organ4 bis hin zu Hermann von Friesen in den Grün-
Dieses Referat versteht sich als kurzer Beitrag zu einer umfassenden Fragestellung und Untersuchung. Zum Thema Shakespearerezeption im 19. Jahrhundert s. bes. Werner Habicht: Shakespeare in Nineteenth-Century Germany: The Making of a Myth. In: Modris Eksteins/Hildegard Hammerstein (Hg.): Nineteenth-Century Germany. Tübingen: Narr 1983, S.141-157; W.H.: Shakespeare and the German Imagination. (International Shakespeare Association. Occasional Paper 5) Hertford: International Shakespeare Association 1994; W.H.: Topoi of the Shakespeare Cult in Germany. In: Poter Dävidhäzi/Judit Karafiäth (Hg.): Literature and its Cults. An Anthropological Approach. Budapest: Argumentum 1994, S.47-65. Eine Aufstellung der Literatur zum Thema bietet Hansjürgen Blinn: Der deutsche Shakespeare/The German Shakespeare. Eine annotierte Bibliographie zur Shakespeare-Rezeption des deutschsprachigen Kulturraums (Literatur, Theater, Film, Funk, Fernsehen, Musik und bildende Kunst). Berlin: Erich Schmidt 1993. August Koberstein: Shakspeare's allmähliches Bekanntwerden in Deutschland und Urtheile über ihn bis zum Jahr 1773. In: A.K.: Vermischte Aufsätze zur Litteraturgeschichte und Aesthetik. Leipzig: Barth 1858, S.165-221, hier S.221. Adolph Stahr: Shakspere in Deutschland. In: R.E. Prutz (Hg.): Literarhistorisches Taschenbuch 1(1843), S.5-88. Friedrich Theodor Vischer: Shakespeare in seinem Verhältnis zur deutschen Poesie insbesondere zur politischen (1844). In: F.T.V.: Kritische Gänge. Bd.2. Hg. von Robert Vischer. München: Meyer & Jessen o.J. [1922], S.50-91.
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derjahren.5 Sie sind ein Zeichen für die Historisierung und Systematisierung dessen, was bis zum Zeitalter der Klassik und der Romantik zum festen Besitz der Deutschen geworden war, ja was den Gegenstand einer noch lange anhaltenden Debatte darstellte. Tiecks Dramaturgische Blätter, Goethes Shakespeare und keine Ende und Grabbes Über die Shakspearo-Manie geben eine Vorstellung von der Polarisierung dieser Diskussion vor 1840. Goethe, das sollen wir auch nicht vergessen, vermochte bei seinem Unmut über die Romantik von Jena die Schlegelsche Shakespeare-Übersetzung nicht zu dem hervorragenden Beispiel von Weltliteratur zu erklären, was sie, analog zu Schiller und Carlyle, selbstverständlich ist. Es ging August Koberstein, Rektor der Pforta in Naurnburg und Nietzsches Lehrer, weniger darum, auf diese Kontroversen hinzuweisen, und er hatte es nicht nötig, die Selbstverständlichkeit seines Gegenstandes zu begründen. Als Verfasser des mehrfach aufgelegten Grundrisses der Geschichte der deutschen NationalLitteratur (4. Auflage 1847)6 war Koberstein eher um die historischen Fakten bemüht. Grundlegend war aber das Bewußtsein, das Franz Dingelstedt 1858 die »Nostrifizierung« Shakespeares nennt,7 d. h. seine Institutionalisierung, seine Einbürgerung, seine Aneignung in den deutschsprachigen Ländern, seine Erhebung zum deutschen Klassiker im deutschen Dichterkanon, zum poetischen Modell, zum nationalen Vorbild, zum »representative man« (Emerson 1850)." Einen solchen ideologischen Prozeß nennt die heutige englischsprachige Shakespeareforschung »appropriation« (Jonathan Bate, Michael Dobson),9 mit der Konnotation von dem Ergreifen fremden Besitzes zu eigener Nutzanwendung (Shakespeare im 18. Jahrhundert). Das schlagendste Beispiel solcher »appropriation« bleibt nach wie vor die wahrhaft einzigartige und alle Kulturmanifestationen - Bühnengeschichte, Philologie, die schöpferische Aufnahme Shakespeares durch Dichter und Denker - durchdringende Rezeptionsgeschichte Shakespeares in Deutschland. Ich halte es daher für umso legitimer, diese Metapher von Eigentum und Besitz auf die deutsche Situation in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu übertragen. Ich beschränke mich im folgenden auf die Zeit von etwa 1840 bis 1875 und auf die Rezeption Shakespeares in Kultur- bzw. Wissenschaftsgeschichte in diesem Zeitraum. Diese Periode ist überdies in der Shakespeareliteratur meistens oberlächlich behandelt worden, ja der Chefideologe der deutschen Bardolatrie, Friedich Gundolf, brach 1911 über das ganze nachromantische 19. Jahrhundert folgendermaßen den Stab:
Hermfann] Freiherr von Friesen: Shakspere-Studien. Bd.l. Altengland und Wilh. Shakspere. Wien: Braumüller 1874. August Koberstein: Grundriß der Geschichte der deutschen National-Litteratur. Vierte, durchgängig verbesserte und zum größten Theil völlig umgearbeitete Auflage. Leipzig: Vogel 1847. Franz Dingelstedt: Studien und Copien nach Shakespeare. Pesth: Hartleben 1858, S.5. Ralph Waldo Emerson: Shakspeare; Or the Poet. In: English Traits and Representative Men. London: Macmillan 1884, S.397-476. Übersetzt durch Herman Grimm: Ueber Göthe und Shakespeare. Hannover: Rümpler 1857. Jonathan Bate: Shakespearean Constitutions. Politics, Theatre, Criticism 1730-1830. Oxford: Clarendon 1989; Michael Dobson: The Making of the National Poet. Shakespeare, Adaption and Authorship, 1660-1769. Oxford: Clarendon 1992.
Aspekte der Institutionalisierung Shakespeares 1840—1875
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Man schämt sich für den deutschen Geist, wenn man nach Herders Shakespeare, nach Goethes »Shakespeare und kein Ende«, nach Schlegels Vorlesungen auch die Besten, etwa Vischer, oder gar Gervinus zur Hand nimmt. Welche Verflachung, welche Verengung nicht nur der Perspektive, sondern des Zeitgeistes!10
Gundolfs Antipathie läßt sich allerdings daraus herleiten, daß auch für Vischer oder Gervinus das Hauptaugenmerk »Shakespeare und der deutsche Geist« war, allerdings mit einem kritischen Blick auf die Geisteskultur und politische Entwicklung ihrer eigenen Zeit, eine Akzentuierung, die dem Georgianer fernlag. Daß in dieser Besinnung auf die eigene nationale Kulturentwicklung im Sinne Shakespeares die Namen Schiller und besonders Goethe nicht unangetastet blieben, macht Gundolfs Ablehnung selbstverständlich. Vor allem das Einspannen Shakespeares in Zeitbezüge, denen die Ideologien von 1848 oder gar 1871 zugrundelagen, ist aus Gundolfs Warte unmöglich. Professoren oder Privatgelehrte wie Vischer oder Ulrici, selbstverständlich der zu den Göttinger Sieben gehörende Georg Gottfried Gervinus, und erst recht die vielen shakespearebeflissenen Schulräte oder Oberlehrer bieten ein volles Spektrum ihres Zeitalters in einer Weise auf, wie es für die erste große Rezeptionsphase Shakespeares bis etwa 1820 nicht der Fall gewesen war. Nicht etwa, daß die romantische Shakespeare-Rezeption unpolitisch gewesen wäre - man denke an Adam Müllers Assoziation Shakespeares mit seinem christlich-restaurativen Staatsdenken11 oder an die Staats- und kulturbildende Funktion des historischen Dramas bei Schlegel -, nur stieß sich die romantische Ideologie sehr hart an den politischen Tatsachen nach 1815. Konnte im Jahre 1843 Georg Gottfried Gervinus feststellen, daß die Deutschen - im Gegensatz zu der glorreichen politischen Geschichte, die Shakespeare oder Cervantes als Grund und Folie diente - nur auf ihre eigene Bildungskultur angewiesen seien,12 so galt für die darauffolgende Generation solche Resignation als überwunden und kaum zeitgemäß. Die Träger der Hegelschen Doktrin oder anderer philosophischer »Hauptideen«, etwa Ulrici, Gervinus, Vischer, neben den Literarhistorikern Hettner oder Julian Schmidt, sind selbstverständlich bemüht, den aktuellen Zeitbezug dessen, der nach Vischer »nicht nur als Vater des Drama, sondern als Vater der modernen Poesie anzusehen«13 sei, in der deutschen Kultur und im deutschen Zeitgeschehen herzustellen. Ein Professor wie Karl Elze, von der Schiller-Feier 1859 noch in bester rhetori-
Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist. 4.Auflage. Berlin: Bondi 1920, S.355. S. Johannes von Schlebrügge: Adam Müllers Shakespeare. Ein Verbündeter im romantischen Kampf gegen Napoleon. In: Roger Bauer/Michael de Graat/Jürgen Wertheimer (Hg.): Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Romantik (Jahrbuch für Internationale Germanistik: Reihe A. Kongressberichte 22). Bern u.a.: Lang 1988, S.226-240. Georg Gottfried Gervinus: Neuere Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. 4. Theil. I: Von Gottsched's Zeiten bis zu Göthe's Jugend. Leipzig: Engelmann 1843, S.5f. Friedrich Theodor Vischer: Shakespeare-Vorträge. Bd. 1: Einleitung. Hamlet, Prinz von Dänemark. Zweite Auflage. (Vorträge von Friedrich Theodor Vischer. Für das deutsche Volk hg. von Robert Vischer. 2.Reihe). Berlin - Stuttgart: Cotta 1905, S.52.
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scher Übung,14 gibt 1864 den Grundton an,15 als Deutschland und Österreich die 300-Jahre-Feier von Shakespeares Geburt begehen, die Shakespeare als »Lehrer der Menschheit«,16 als »Dichter der Naturwahrheit« erheben, seine »höchsten Charaktergebilde«17 enthüllen, seine Bedeutung für Bildungsbürgertum, Protestanten sowie Katholiken heraussstellen. Elze, Ordinarius, Shakespeare-Biograph (und sogar Regiments-Dichter), typisiert vielleicht am besten den polternden, leicht aggressiven Ton, der nach 1871 in der Shakespeare-Literatur tonangebend wird. Die Shakespeare-Rezeption fungiert auch als Barometer für Fragen der Toleranz. Zwar sind namhafte Shakespeare-Forscher Juden - Cohn, Bernays, Möbius -; die Kaufmann von Fe«ei#g-Interpretationen einiger Schriftsteller des bürgerlichen Realismus zeigen indessen den wahren Stand bildungsbürgerlicher Toleranzhaltung an." Die Gründung im Jahre 1863, am Vorabend der Shakespeare-Säkular-Feier 1864, der Deutschen Shakspeare-Gesellschaft, unter fürstlichem Patronat und weitgehend unter professoralem oder gelehrtem Vorsitz - Ausnahmen sind Dichter-Übersetzer wie Bodenstedt oder Dingelstedt oder ein Fabrikant wie Oechelhäuser - markiert einen neuen Schritt in der Institutionalisierung Shakespeares in der Bismarckzeit. Im Grunde war er längst eine Institution. Unter der Ägide der Shakespeare-Gesellschaft gelangt nun die sog. Schlegel-Tiecksche Übersetzung zu vollen Ehren, indem diese klassisch-romantische Leistung zur Standardübersetzung wird, zum deutschen Klassiker und zum deutschen Kulturgut avanciert - was sie unbestreitbar auch ist, nur vielleicht nicht mit dem absoluten Vorrang über andere (ich denke z. B. an die vielen von mehreren Händen zusammengetragenen Shakespeare-Ausgaben, die die Zeit vor 1870 eher charakterisieren und das Ringen um einen deutschen Shakespeare als noch nicht abgeschlossenen Prozeß darstellen).19 Indem Hermann Ulrici20 die Schlegel-Tieck-Übersetzung in textreiner
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Karl Elze: Festrede an Schillers hundertjährigem Geburtstage im herzogl. Hoftheater zu Dessau gehalten. Dessau: Aue 1859. Karl Elze: Festrede zur dreihundertjährigen Geburtsfeier Shakespeare's im Concertsaale des Herzogl. Hoftheaters zu Dessau gehalten. Dessau: Aue 1864. Dort heißt es S.9: »Die Deutschen haben Shakespeare auf den Thron der Weltpoesie erhoben«. Vgl. Hermann Marggraff: William Shakspeare als Lehrer der Menschheit. Lichtstrahlen aus seinen Werken, nebst einer Einleitung. Leipzig: Brockhaus 1864. Heinrich Theodor Rötscher: Shakespeare in seinen höchsten Charactergebilden enthüllt und entwickelt und allen Bewunderern des Dichters gewidmet. Ein Buch zur Feier des dreihundertjährigen Geburtsjahrs Shakespeare's. Dresden: Meinhold 1864. Ein Beispiel aus dem Festjahr 1864: Nicht nur sei Shylock »Träger des Judenthums in seiner Versunkenheit«, sondern er versinnbildliche die große Tragödie des Judentums selbst, »das endlich alle seine Geistesgaben vielmehr zum Erwerb und Festhalten materieller, als ideeller Güter anwendet«. Heinrich Theodor Rötscher (Anm.17), S.52 und S.54. Vgl. Christa Jansohn: The Making of a National Poet: Shakespeare, Carl Joseph Meyer and the German Book-Market in the Nineteenth Century. In: Modern Language Review 90 (1995), S.545-555. Shakespeare's dramatische Werke nach der Uebersetzung von A.W. Schlegel und L. Tieck sorgfältig revidirt und theilweise neu bearbeitet, mit Einleitungen und Noten versehen, unter Redaction von H. Ulrici hg. durch die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft. Berlin: Reimer 1867-71.
Aspekte der Institutionalisierung Shakespeares 1840-1875
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Gestalt für die Shakespeare-Gesellschaft herstellt, können auch die philologischen Bemühungen deutscher Anglisten mühelos in kulturpolitische Bestreben integriert werden. Die Verehrung der Deutschen für Shakespeare beruht auf mehreren Voraussetzungen, die seit Lessing und Herder und erst recht seit der Romantik ihre Gültigkeit haben: die Identifikation des deutschen Formwillens mit dem Shakespeareschen Genius, die Erneuerung der deutschen Poesie durch eine vitale Transfusion von außen, also gerade das Gegenteil von dem, was der Rezeptionstheoretiker Harold Bloom »anxiety of influence« nennt.21 Die Wurzeln dieses innigen Verhältnisses gehen aber tiefer. Hatten schon Herder und die Romantiker Schlegel und Tieck auf das gemeinsame germanische Fundament deutscher und Shakespearescher (nicht unbedingt englischer) Poesie hingewiesen - »Shakspeare und seine bessern Zeitgenossen sind auch deutsch« heißt es 1817 bei Tieck - ,22 so gilt dieser Grundsatz umso mehr in dem von mir behandelten Zeitraum. 1874 kann Hermann Freiherr von Friesen die begeisterte Vorliebe der Deutschen für Shakespeare aus konservativer Warte folgendermaßen begründen: Sie beruht [...] auf dem Wiederklang urgermanischer Empfindungen und Anschauungsweisen in seinen Gesinnungen filr Vaterlandsliebe, ritterliche Eigenschaften und begeisterte Treue für den angestammten Herrn.
Bezog sich Tiecks Feststellung nur auf die Literatur, so ist der spätere Ton ein politischer, kulturpolitischer, nationaler. Nach dem deutschen Sieg 1871 ist die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft hier tonangebend. Ist die einstige Verachtung der deutschen Romantiker für die englische Shakespearekritik einem eher respektvollen Ton gewichen - Dyce, Knight, Halliwell u. a. sind die großen Quellenforscher, auf die sich auch die deutschen Shakespeare-Experten stützen -, so gilt das für die Franzosen und Shakespeare nicht. Auf seinen Aufsatz Hamlet in Frankreich zurückblickend, der in der ersten Nummer des Jahrbuchs der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft erschienen war, kann Karl Elze 1877 noch feststellen: Die Erfüllung dieser im J. 1865 ausgesprochenen Hoffnung ist durch die grossen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit in unabsehbare Feme gerückt worden. Klarer als je zuvor hat sich dadurch herausgestellt, dass eine tiefe, nie zu überbrückende Kluft nicht nur die französische Denk- und Gefühlsweise von der deutschen, sondern überhaupt den romanischen Volksgeist und Volkscharakter von dem germanischen trennt. Trotz aller mehr scheinbaren als wirklichen
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Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. New York: Oxford University Press 1973, bes. S.32. Siehe ebenfalls W. Jackson Bate: The Burden of the Past and the English Poets. London: Chatto & Windus 1971. Ludwig Tieck: Kritische Schriften. Zum erstenmale gesammelt und mit einer Vorrede herausgegeben. Leipzig: Brockhaus 1848-52. Bd.l, S.359. Hermann Freiherr von Friesen (Anm.5), S.302.
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Roger Paul in
Fortschritte verhält sich der französische Geist, um bei unserem Gegenstand zu bleiben, noch immer abweisend gegen Shakespeare.24 Das übrigens in einem Jahrhundert, das namhafte französische Beiträge zu Shakespeare hervorgebracht hatte - von Chateaubriand, Vigny, Cousin, Guizot, Berlioz, Victor Hugo und Taine. Selbstverständlich spielt Shakespeare in Frankreich eine andere Rolle als in Deutschland. Er wird zwar hier wie dort ästhetisiert, koexistiert indessen mit einer einheimischen Kultur, die kein französischer Dichter oder Denker preiszugeben im Sinne hat, nicht einmal Victor Hugo, dessen stellenweise an Halbunsinn grenzender William Shakespeare von 1864 - nach S. Schoenbaum das einzige Shakespeare-Buch dieser Epoche von einem Genie über ein anderes -2S sehr deutlich aus seiner Exilsituation hervorgeht und den radikal-subversiven Geist eines Voltaire oder Rousseau auf den Plan ruft.26 Diese Position in Deutschland mußte erst einmal errungen werden. In den vierziger Jahren fallen ganz anders tendierende Aussagen, die den Zeitbezug von Shakespeares Dichterleben und Werk in Sinne des Vormärz volkspädagogisch interpretieren. Den jungen Friedrich Theodor Vischer beschäftigt 1844 die Frage, ob eine politische Dichtung (besonders ein historisches Drama) aus einem Zustand der Nicht-Erfüllung, den deutschen Befreiungskriegen beispielsweise, denkbar sei, im Gegensatz zum Shakespeareschen Rückgriff auf Staat und Monarchie.27 Dieses Motiv greift das große Shakespeare-Werk von Gervinus 1849 auf, in dem Shakespeares Karriere zum Modell einer offenen Gesellschaft erhoben wird, durch die die politische Entfremdung überwunden wird. Für Gervinus, den Parlamentarier der Frankfurter Paulskirche, ist Shakespeare der Dichter einer subversiven Bühne, die nicht nur Kultur, Politik und Entdeckungsgeist seiner aufstrebenden Nation wiederspiegelt - so sahen Shakespeare übrigens auch Historiker wie Raumer oder Ranke -,28 sondern die »kühne Einmischung in das Treiben der großen Hauptstadt« zuläßt.29 Für den jungen Julian Schmidt im Revolutionsjahr 1848 ist Shakespeare - wie der Geistesheld Luther - der Dichter des Protestantismus, der Suche nach Wahrheit, der Aufklärung, des freien Willens, der Selbstbestimmung, der Tat.30 Für die deutsche politische Kultur wie für die Ästhetik und die Literaturgeschichte haben solche Ansichten Folgen, auf die ich noch zu sprechen komme. Ich versuche im folgenden aus der Masse der Shakespeare-Literatur zwischen 1840 und 1875 einige Schlüsse zu ziehen, und zwar in bezug auf nationale Identi24 25 26 27 28
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Karl Elze: Hamlet in Frankreich. In: K.E.: Abhandlungen zu Shakespeare. Halle: Waisenhaus 1877,8.53. Vgl. S. Schoenbaum: Shakespeare's Lives. New Edition. Oxford: Clarendon 1991, S.314. [Victor Hugo]: William Shakespeare. Paris: Lacroix, Verboeckhoven 1864, S.340-344. Friedrich Theodor Vischer (Anm.4), S.64. Vgl. Friedrich von Raumer: Geschichte Europas seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Bd.2. Leipzig: Brockhaus 1833, S.619. Leopold [von] Ranke: Englische Geschichte vornehmlich im sechszehnten [sie!] und siebzehnten Jahrhundert. Bd.l. Berlin: Duncker und Humblot 1859,8.588-606. Georg Gottfried Gervinus: Shakespeare. Leipzig: Engelmann 1849-50. Bd.l, 8.146. Julian Schmidt: Geschichte der Romantik in dem Zeitalter der Reformation und der Revolution. Studien zur Philosophie der Geschichte. Bd.l. Leipzig: Herbig 1848, 8.72-75.
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tat, Nationalliteratur, Literaturgeschichtsschreibung und historisches Drama. War Tiecks Buch über Shakespeare der erste Versuch in Deutschland, Shakespeares universelle Erscheinung zu erfassen, Torso geblieben (und außerdem unveröffentlicht), hatte sich sogar Schlegel auf Apercus zu den einzelnen Dramen beschränkt, so gehören diese romantischen Ansätze nun einer überwundenen Phase der Shakespeare-Rezeption an. Die Shakespeare-Bücher von Ulrici, Gervinus, Rötscher, Elze, Kreyßig, Friesen, aber auch die dramaturgischen und ästhetischen Studien etwa von Rötscher, Hettner, Ludwig und Freytag, und nicht zuletzt Literaturgeschichten wie die von Gervinus, Hettner oder Julian Schmidt beweisen es. Das romantische Universalgenie oder der »Erzpoet« Shakespeare wird in der spätbiedermeierlichen oder frührealistischen Literatur zum moralisch-sittlichen »representative man«, indem aus dem Leben und besonders aus dem Werk die Gesinnung des Dichters herausdestilliert und als Muster einer neuen Humanität, vorbehaltlos und frei von den Zwängen der jetzigen Zeit, hingestellt wird. Das ist noch weit entfernt von Friedrich Wilhelm Danzels Forderung, nicht nur die Totalerscheinung Shakespeares im historischen Zusammenhang zu situieren, sondern auch den »wechselseitig[en] Austausch zwischen den verschiedenen Nationalliteraturen« herauszustellen,31 den historischen Maßstab anzulegen, den Jacob Burckhardt den »ökumenischen« nennt.32 Nur wenige Literarhistoriker - wie Hettner oder Julian Schmidt - bemühen sich in der Tat um ein Epochenbild, in dem Shakespeare der Dichter oder die Rezeption seines Werkes gegen einen welthistorischen Hintergrund erscheinen. Eher wird Shakespeare Strukturen deutscher Mentalität (Theorie, Ästhetik, Fähigkeit zum abstrakten Denken) und der Philosophie angeglichen (»Grundidee«, »Totalität«, »Gesammtbild« usw.),33 die letzten Endes Hegel oder seinen Schülern verpflichtet sind, oder - was öfter zutrifft - er wird in Debatten hineingezogen, deren Gegenstand im Endeffekt die Redefinition von historischen Grundpositionen der Literaturbetrachtung sind (Shakespeare versus Schiller, um das markanteste Beispiel zu nennen). Beginnen wir mit Hamlet und Deutschland. Auf das Gedicht von Freiligrath aus dem Jahre 1844 gehe ich nicht näher ein. Weniger bekannt ist vielleicht Heinrich Theodor Rötschers langer Vergleich von Hamlet mit der deutschen Seele im zweiten Teil seiner Kunst der dramatischen Darstellung aus demselben Jahr 1844 (mit Widmung an Alexander von Humboldt), vermutlich eine Quelle für Freili31
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Theodor Wilhelm Danzel: Über die Behandlung der Geschichte der neueren deutschen Literatur. In: Zur Literatur und Philosophie der Goethezeit. Gesammelte Aufsätze zur Literaturwissenschaft. Hg. von Hans Mayer. (Sammlung Metzler 22) Stuttgart: Metzler 1962, S.292. Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Historische Fragmente aus dem Nachlaß. Hg. von Albert Oeri und Emil Dürr. (J.G.: Gesamtausgabe, Bd.7) Berlin und Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1929, S. 163. Z.B. Georg Gottfried Gervinus (Anm.29), S.30: »eine einzige Idee«. Friedrich Theodor Vischer (Anm. 13), S.72: »Wenn nur aus dem Ganzen jenes Urgesetz der Weltordnung hervorspringt!« Hermann Ulrici: Shakspeare's dramatische Kunst. Geschichte und Charakteristik des Shakspeareschen Dramas. 2. Auflage. Leipzig: Weigel 1847, S.vi: »von derselben Einen Grundidee getragen und durchdrungen«. Friedrich Theodor Rötscher: Abhandlungen zur Philosophie der Kunst. Berlin: Duncker und Humblot 1837, S.vii: »Einsicht in die Notwendigkeit des Organismus« .
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graths Parallele.34 Eine Stelle aus dieser über zwei Seiten langen Passage lautet folgendermaßen: Der Charakter Hamlets ist durch die Wahrheit seines Gehalts ein ewiger, der sich in der Welt und Weltgeschichte unablässig wiederholt. In ihm hat Shakespeare, wie ein Prophet, die Natur des deutschen Charakters in seiner tiefsten Tiefe ergriffen. Hamlets Stärke und Schwäche ist auch die Stärke und Schwäche des deutschen Volkes. Wie Hamlet, ragt es durch seine tief innerliche, reflektirende und ideale Natur unter allen Volksgeistem hervor. Dies Volk hat gründlicher, als irgend eines, die Natur des Geistes erforscht; es ist in den Abgrund des Selbstbewußtseins herabgestiegen und hat diese Tiefe ermessen, es hat sich in den Kampf der theoretischen Widersprüche gestürzt und sich zum Herrn über sie gemacht, es hat sich von der Macht der kirchlichen Autorität befreit und die religiöse Satzung zertrümmert, es hat sich durch die universelle Disposition seines Geistes die Schätze aller Völker zu eigen gemacht; es ist hochgesinnt, ein Feind alles Niedrigen in Wort und That; aber es hat nicht den Muth und die Kraft, seine reale Wirklichkeit dem Bilde gleich zu machen, das es von der Größe und Herrlichkeit der Geistesfreiheit in sich trägt. Es kann die Kluft nicht ausfüllen, welche sein Erkennen von der wirklichen Welt trennt;[...]35
Hier wird in einer Studie, die im Untertitel verspricht, »das Gesetz der Versinnlichung dramatischer Charaktere an einer Reihe dichterischer Gestalten wissenschaftlich« zu entwickeln, ein ideologisches, letzten Endes politisches Element interpoliert: die überragende Stellung der Deutschen in theoretischen Strukturen, dafür ihr Versagen in den pragmatischen. Solche direkten Parallelen sind jedoch selten, und Rötscher bewegt sich sonst durchaus in konventionellen Interpretationsmustern von Hamlets Charakter. Viel eher wird die politische Gesinnung des jeweiligen Shakespeare-Interpreten an der Einstellung etwa zu Julius Cäsar, Coriolan, Heinrich VIII. und überhaupt dem Zyklus der historischen Stücke ersichtlich - ich denke hier besonders an Gervinus und Vischer -,36 Dramen, die weniger ansprechende Aspekte Shakespeares demonstrieren, etwa seinen Aristokratismus und Monarchismus, seine Verachtung von Bürgertum und Pöbel. Solche Kritik gilt eigentlich nur den wenigen Sonnenflecken an diesem überragenden und universellen Genius. Wird aber Deutschland, seine geistig-literarische Kultur und deren Entwicklung an der Gesamterscheinung Shakespeare gemessen, so ergeben sich Parallelen, die noch problematischer ausfallen, als die über Hamlet. Lag der romantischen Vorstellung des Dichtergenies, des »Erzpoeten«, eine ökumenische Vielfalt von zeitlosen Erscheinungen zugrunde - Sophokles, Dante, Shakespeare, Calderon, Cervantes, letzten Endes auch Goethe -, so verengt sich um die Jahrhundertmitte das Blickfeld erheblich. Dante und Shakespeare gehen nun eher auseinander; Calderon wird - sehr zu seinen Ungunsten - als Shakespeares Anti34
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Eine weitere Quelle sind Albert Knapps »Deutsche Lieder« im Morgenblatt für die gebildeten Stände. Jg. 1842, Nr.l 14; S.Ferdinand Freiligrath: Werke in sechs Teilen. o.Teil. Hg. von Julius Schwering. Berlin u.a.: Bong o.J.[1909], S.141. Heinrich Theodor Rötscher: Die Kunst der dramatischen Darstellung Zweiter Theil, welcher das Gesetz der Versinnlichung dramatischer Charaktere an einer Reihe dichterischer Gestalten wissenschaftlich entwickelt. Berlin: Thome, S.106f. Vgl. Georg Gottfried Gervinus: Shakespeare. Bd.4, S.426f. (Anm. 29). Friedrich Theodor Vischer (Anm. 13), S.59 und S. 162.
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pode aufgefaßt;37 Goethe ist, nicht zuletzt des Ärgernisses Faust II wegen, als Erscheinung nicht unproblematisch. Das gilt umsomehr für Schiller, nun neben Goethe avanciert.38 Wer Shakespeare zum größten dramatischen Dichter aller Zeiten erklärt (Gervinus, Otto Ludwig, Vischer), läßt zwangsläufig Schlüsse zu über die Rangstellung Goethes und Schillers und überhaupt der deutschen Bemühungen auf diesem Gebiet, vergangene oder künftige. Shakespeare macht Goethes und Schillers Positionen umstritten. In seinem Namen kann der Literarhistoriker Weltenrichter spielen. Ich halte es für symptomatisch - ich will keine Kausalzusammenhänge herstellen -, daß die Zeit der intensivsten Beschäftigung mit Shakespeare - etwa 1850 bis 1875 - Unmut über dramatische Traditionen und Leistungen bekundet (Beispiel: Richard Wagners Oper und Drama, in dem er Shakespeare zwar die höchste Verehrung zubilligt, gleichzeitig aber das Bestreben offenbart, sich über das historische Volksdrama zum mythischen hinweg zu bewegen).39 Diese Zeit erlebt das letztendliche Scheitern des historischen Dramas: eine Kluft tut sich auf zwischen dem, was beispielsweise Hermann Hettner in seinem Das moderne Drama von 1852 fordert,40 also weg von Shakespeares chronikhaftem historischem Stil zum »echten« historischen Drama, und der Leistung deutscher Dramatiker.41 Hettner ist hier typisch für die eifrige Bemühung um die Technik des Dramas, wofür die Namen Freytag, Ludwig und Vischer nur die bekanntesten sind, wo wiederum Theorie und Praxis in offenkundiger, ja kläglicher Weise auseinanderdivergieren. Der große Außenseiter Gustav Rümelin, ein Dom im Auge deutscher Professoren und Ästhetiker, qualifiziert das Bestreben nach einem shakespearisierenden historischen Zyklus folgendermaßen ab: Denken wir uns ein Drama oder gleich eine Trilogie, einen ganzen Cyelus von Tragödien, in welchen etwa das Zeitalter der Ottonen oder der Hohenstaufen, der Reformation, der Religionskriege, Friedrichs des Großen behandelt wäre; der Verfasser habe die gründlichsten historischen Studien gemacht; er sei voll des wärmsten Gefühls für die Kraft und die Größe der deutschen Nation, von den politischen Ideen seines Zeitalters mächtig ergriffen, und doch besonnen und den Extremen feind; in seinen Dramen sei die Handlung übersichtlich und doch reich und wohlgefügt; sie sei voll Bewegung und energischer That; die Charaktere seien individuell und gut gehalten; die Diktion rein und fließend: es fehle nicht an schönen Sentenzen und effektvollen Stellen; in der Katastrophe erhebe sich aus dem Untergang der Individuen siegreich die Macht der »Idee«. Kurz, es sei allen Zeitforderungen genügt, es seien alle die Fehler vermieden, um deren willen in den Augen unserer Kunstkritiker jedes einzelne aus der Legion von historischen Dramen, mit denen unsere Literatur überschwemmt ist, doch wieder tadelnswerth und unbrauchbar sein soll; und dennoch ist es bei allen obigen Vorzügen ganz wohl denkbar, daß es uns die größte Mühe und Ueberwindung kostet, jenen Dramencyclus nur bis zu Ende anzuhören, daß ein Hauch von langer Weile uns gleich aus den ersten Akten anweht, daß es uns unmöglich erschiene, diese Stücke zum zweitenmal zu lesen oder aufführen zu sehen; ja daß 37
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Vgl. bes. Hermann Ulrici: Ueber Shakspeare's dramatische Kunst und sein Verhältniß zu Calderon und Göthe. Halle: Anton 1839, S.502-554. Julian Schmidt (Anm.30), S.244-303. Vgl. das Vorwort zu Georg Gottfried Gervinus (Anm. 29), S.x: »Selbst an unseren eigenen großen Dichtern, an unseren Göthe und Schiller, hat er uns zweifeln gemacht«. Vgl. Dieter Borchmeyer: Das Theater Richard Wagners. Idee-Dichtung-Wirkung. Stuttgart: Reclaml982, S.127ff. Hermann Hettner: Das moderne Drama. Aesthetische Untersuchungen. Braunschweig: Vieweg 1852,8.14-17.
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Roger Paulin wir schließlich vom Ganzen keine Erinnerung behalten, als einige Bereicherung unseres geschichtlichen Wissens, die wir vielleicht doch besser und selbst bequemer aus guten Geschichtsbüchern verschafft hätten. 41
Rümelins ungnädige Bemerkungen ergeben sich aus der von ihm vertretenen Ansicht, daß Shakespeares Stärke als historischer Dramatiker ohnehin nur in einzelnen Charakteren und Szenen bestehe, keineswegs aber in der Gesamtkonstruktion der Historien, im »Ganzen«. Rümelin versteht sich im übrigen als Anwalt der historischen Stücke Goethes und Schillers, deren Vorzüge durch etwa Gervinus, Vischer und Ludwig stark relativiert und geschmälert worden waren. Jedem Kenner des deutschen historischen Dramas im 19. Jahrhundert ist bewußt, daß etwa Büchner oder Grabbe nur begrenzt über Shakespeare beizukommen ist (besonders in der Behandlung der Nebenpersonen), geschweige denn Grillparzer oder Hebbel; er weiß auch, daß sich Raupachs »Hohenstaufen-Bandwürmer« (Hebbel)42 eher an das große Modell anlehnen. Die kompensatorische und ästhetisch angemessene (Hegel) Funktion des Dramas im Hinblick auf den mißglückten deutschen historischen Roman im Stil Scotts oder Manzonis ist ein weiterer relevanter Faktor in dieser Debatte. Konnte sich auf diese Weise Shakespeares Einfluß auf die damalige Literaturentwicklung eher hemmend als fördernd auswirken, so konnten deutsche Shakespearekenner mit einer gewissen Berechtigung, die keineswegs mit kernigen germanophilen Sprüchen identisch war, behaupten, in das Wesen, die Totalität des großen Briten besser eingedrungen zu sein, als alle anderen, seine Landsleute einbegriffen. Bezeichnenderweise wurden Gervinus (1863), Ulrici (1846) und Elze (1888) ins Englische übersetzt. Englische Leser, die sich ohnehin in ihrer stärksten Rezeptionsphase deutschen Kulturguts befanden,43 nahmen keinen Anstoß an den vielen Parallelen bei Gervinus u. a. zwischen Shakespeares Leben - ohnehin ein Hauptaugenmerk in dieser Zeit - und dem Leben deutscher Dichter und Denker, Lessing, Goethe oder Schiller.44 Das ist ohnehin kaum verwunderlich, da im Grunde genommen die äußere und innere Biographie des Dichters - mit Auswüchsen, die die Deutschen als unwissenschaftlich abtaten -4i im Mittelpunkt englischer Shakespeare-Studien im viktorianischen Zeitalter gestanden hatte. Sie nahmen weniger die zukunftsweisende Gegenströmung zur Kenntnis, jedenfalls in bezug auf Shakespeare: der große Philologe Nikolaus Delius richtete sich unge-
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Gustav Rümelin: Shakespearestudien. Zweite Auflage. Stuttgart: Cotta 1874. S.233f. Friedrich Hebbel: Vorwort zu Maria Magdalene. In: F.H.: Werke. Hg. von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher. München: Hanser 1963-67. Bd.l, S.325. 1864 schlägt Nicholas Wiseman, Kardinalerzbischof von Westminster allen Ernstes vor, man möge einen Künstler aus dem Lande Schillers und Schlegels auffordern, an einem britischen Shakespeare-Denkmal mitzuwirken! [Nicholas] Wiseman: William Shakespeare. London: Hurst and Blackert 1865, S.76f. Vgl. Georg Gottfried Gervinus (Anm.29), S.55: »so würde man sagen, daß er in ähnlicher, obwohl anderer Mischung wie Göthe jene glückliche Natur besaß, der Maaß und Fassung selbst im Momente der Leidenschaft, im Taumel Besinnung gegeben war«. Vgl. schon Johann Joachim Eschenburg: Ueber den vorgeblichen Fund Shakspearischer Handschriften. Leipzig: Sommer 1797.
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fahr nach David Friedrich Strauß' Vorstellungen von den »geschichtartigen Einkleidungen« der Religion, wenn er Shakespeares Leben schlicht zum Mythos erklärte.46 Für den Historiker der deutschen Literatur fallen Vergleiche mit Shakespeares Leben und Zeitalter im allgemeinen weniger günstig aus. Denn Shakespeares Theaterwirken - und er gilt vor allem als Dramatiker - ist auf Traditionen gegründet, die im elisabethanischen Zeitalter zu bisher unerhörter Blüte gelangt sind, gleichzeitig auf einem Höhepunkt politischer und kultureller Erscheinungen. Zu der Vergangenheit, politisch wie poetisch, hat Shakespeare ein ungebrochenes Verhältnis - die historischen Stücke beweisen es. In Deutschland ist die Entwicklung bekanntlich eine andere. Deutsche Literaturhistoriker und Shakespeareexperten, oft in Personalunion, machen aus dieser Not eine Tugend und konstruieren aus ihrem Shakespearebild reduktive Teleologien (Mythologien, wenn man will), die auf die deutsche Literaturentwicklung übertragen werden. Ein Beispiel: die Rezeption von Shakespeares Epen (z. T. auch seiner Sonette). Diese Jugendwerke sind für viele schon deshalb ein Stein des Anstoßes, weil sie sich bewußt manieriert, gekünstelt und höfisch gebärden, ja überhaupt eine verhängnisvolle Nähe zu der italienischen Renaissance und zu Marino bekunden.47 Sie werden als Produkte einer jugendlichen Rezeptionsphase angesehen - was sie selbstverständlich auch sind -, nach der Shakespeare sozusagen zu seinen germanischen Wurzeln zurückkehrt. Nehmen wir hinzu die ungünstigen Vergleiche zwischen Shakespeare und Calderon (Ulrici, Julian Schmidt, Rötscher),48 denen das Mißbehagen gegenüber aller Allegorik und fester Charaktertypisierung zugrundeliegt, so haben wir es hier mit der noch lange nachwirkenden Ablehnung des Barockstils zu tun, der die Romantiker als erste entgegenzutreten versuchten. Diese Ablehnung geht allerdings seit Johann Elias Schlegels Vergleich Shakspeares und Andreas Gryphs aus dem Jahre 1741 mit der Shakespearezeption einher, aber sie ist auch für diese antiromantische Phase der Literaturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert charakteristisch. Für die Literaturgeschichten von Koberstein bis Hettner bezeichnend ist die Erstellung von Evolutionsbildern von Verfall und Verjüngung, die die Aufnahme Shakespeares durch Lessing als erste Stufe der nationalen Wiedergeburt repräsentieren.49 Zwar 46
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Vgl. David Friedrich Strauß: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Tübingen: Osiander 1835f. Bd.l, S.75. Nicolaus Delius: Der Mythus von William Shakspere. Eine Kritik der Shakspere'schen Biographien. Bonn: König 1851. Georg Gottfried Gervinus (Anm.29), S.58-70. Friedrich Theodor Vischer (Anm. 13), S.37^tl. Vgl. wie oben Anm. 37. Ebenfalls Rötscher (Anm. 35), S. 156-165. Vgl. auch Rudolf Haym über die Einwirkung Calderons auf die Romantik. Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes. Berlin: Gaertner 1870, S.474f. und S.788f. Vgl. August Koberstein: Grundriß der Geschichte der deutschen National-Litteratur. Bd.2. 4. Auflage. Leipzig: Vogel 1856, S.844 (»Neubau unserer Litteratur«); Julian Schmidt: Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland von Leibniz bis auf Lessing's Tod 1681-1781. Bd.2: Von Klopstock bis auf Lessing's Tod 1750-1781. Leipzig: Grunow 1864, S.3 (»die Reformatoren von 1750«); Hermann Hettner: Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. 2. Buch: Das Zeitalter Friedrichs des Großen. Braunschweig: Vieweg 1864, S.486 (»Entwicklungskampf«).
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widerfahrt der Gottschedzeit eine gewisse Gerechtigkeit - man denke an Danzel -, dem Barockzeitalter, dessen positive Aufwertung man der Romantik verdankt, nicht. Umso bedeutender daher das »Ringen« um den neuen nationalen Stil - die vielen Kampfbilder, besonders bei Hettner, fallen hier auf-,50 wobei Shakespeare, dessen Affinität mit der deutschen Geisteskultur und Mentalität gerade von Lessing betont worden war, einer neuen, entscheidenden Literaturperiode zur vollen Entwicklung verhilft.
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Hermann Hettner: Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. 3. Buch. 1. Abt.: Die Sturm- und Drangperiode. Braunschweig: Vieweg 1879, S. l [Überschrift] »Der Kampf gegen die Schranken der Aufklärung«. S.487: »Lessing's Krieg und Sieg war die Eroberung unserer klassischen Dichtung«.
MICHAEL BÖHLER
Nationalisierungsprozesse von Literatur im deutschsprachigen Raum Verwerfungen und Brüche - vom Rande betrachtet
Vorbemerkungen Ihrer inneren Logik nach zielt die Idee einer >Nationalliteratur< auf integrative Einbindung des individuell, sozial und regional wie ideell Partikularen innerhalb der als zu einer nationalen Einheit gehörig gedachten Literatur ab und ist damit grundsätzlich auf Differenz Ü b e r w i n d u n g hin angelegt. So kann es auch kaum verwundern, daß sowohl der programmatische wie der wissenschaftliche Diskurs über >Nationalliterarur< im wesentlichen von derselben Logik einer vorherrschenden Integrationsperspektive - und das heißt eo ipso auch einer Binnenperspektive - bestimmt ist. Dabei sind zwei Bewegungsrichtungen zu unterscheiden: Zum einen die Indienstnahme von Literatur zur Konstruktion nationaler Identitäten, d. h. die Integration zum Nationalstaat d u r c h das Symbolsystem >LiteraturSpeck mit Bohnern - und sich mit letzteren reimend völlig unvermittelt und unerwartet das Stichwort >die Nationem auftaucht: Bin ich schriftstellerisch wach, so gehe ich achtlos am Leben vorbei, schlafe als Mensch, vernachlässige vielleicht den Mitbürger in mir, der mich sowohl am Zigarettenrauchen und Schriftstellern verhindern würde, falls ich ihm Gestalt gäbe. Gestern aß ich Speck mit Bohnen und dachte dabei an die Zukunft der Nationen, welches Denken mir nach kurzer Zeit deshalb mißfiel, weil es mir den Appetit beeinträchtigte.1
In mäandernden Gedankenläufen bewegt sich Waiser so fort, die Motive von Wachen / Schlafen und das Thema >Nation< umkreisend, denen sich unbestimmt und nebulös noch ein metonymisches Weiblichkeitsmotiv in den beiden Komposita >Seidenstrumpfaufsatz< und >Seidenstrumpfdistanz< anlagert, deren Zusammenhang mit den ändern Motiven wie auch deren Bezüge untereinander indessen alles andere als evident sind. Ich lese weiter und denke dabei auch an unsere gegenwärtige Versammlung: Mit dem Nationenproblem im Kopf herumlaufen, bedeutet das nicht, einer Unverhältnismäßigkeit zur Beute geworden zu sein? Millionen von Menschen so mir nichts dir nichts miteinbeziehen, das muß das Gehirn belasten! Indes ich dasitze und alle diese lebendigen Menschen zahlenmäßig, gleichsam kompagnieweise, in Betracht ziehe, hat vielleicht einer dieser sogenannten vielen insofern geistig geschlafen, als er hemmungslos draufloslebte. Vielleicht ist's möglich, daß Wachende von Schlafenden für schläfrig gehalten werden.2
Aus der Reflexion über das gerade Geschriebene taucht nun auch das Motiv des Minotauros als Allegorie für die Nation auf, ein referenzieller Kern und Bezugspunkt, der freilich selber nicht faßbar wird, sondern nur in vagen Meidungsempfindungen, Fluchtimpulsen und Distanzgefühlen des schreibenden Ich umspielt wird und sich schließlich in der Metapher vom Text als Labyrinth auflöst; ich lese 1
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Robert Waiser: Minotauros. In: Jochen Greven (Hg.): Robert Waiser. Das Gesamtwerk. Band XI. Verstreute Prosa IV (1926-1929). Zürich- Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1978, S.192194, hier S. 192. Ebd., S.192f.
Nationalisierungsprozesse von Literatur im deutschsprachigen Raum
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das kleine Prosastückli, das sich weder angemessen umschreiben noch zusammenfassen läßt, zuende: Im Gewirr, das vorliegende Sätze bilden, meine ich von fern den Minotauros zu hören, der mir weiter nichts als die zottige Schwierigkeit darzustellen scheint, aus dem Nationenproblem klug zu werden, das ich zugunsten des Nibelungenliedes fallenlasse, womit ich gleichsam ein mich belästigendes Etwas kaltstelle. Um des bißchen Glückes willen scheint es mir um Seidenstrumpfdistanz zu tun zu sein, die ich mit der Distanz zur Nation vergleichen möchte, welch letztere vielleicht mit einer Art von Minotauros Ähnlichkeit aufweist, den ich gewissermaßen meide. In mir bildete sich die Überzeugung aus, daß mich die Nation, die für mich etwas wie ein Wesen ist, das aussieht, als fordere es mancherlei von mir, am besten versteht, d.h. am ehesten billigt, wenn ich sie anscheinend unbeachtet lasse. Brauche ich dem Minotauros Verständnis entgegenzubringen? Weiß ich denn nicht, daß er hiedurch fuchsteufelswild wird? Er bildet sich ein, ich vermöge ohne ihn nicht zu sein; die Sache ist die, daß er Ergebenheit nicht verträgt, wie er z. B. Anhänglichkeit zu mißverstehen geneigt ist. Ich könnte die Nation auch als mysteriösen Langobarden betrachten, der mir um seiner, wie soll ich sagen, Unerforschtheit willen, zweifellos einigen Eindruck macht, was meiner Ansicht nach vollauf genügen dürfte. Alle diese irgendwie aufgerüttelten Nationen stehen ja wahrscheinlich vor den und den, dankoder undankbaren Aufgaben, was für sie außerordentlich gut ist. Ich meine, daß man vielleicht nicht allzu sehr sein soll, was man ist, lieber nicht zu stark von Tauglichkeit strotzen. Das auf einen sanftgewölbten Hügel gebettete Taugenichtsproblem ist vielleicht einiger Beachtung wert. Aus dem regelmäßig atmenden Inhalt des Nibelungenliedes ragen Recken empor, und ich kann dem Gedicht, dessen Entstehung eigentümlich ist, meine Achtung nicht versagen. Wenn ich, was mir hier aus Wissen und Unbewußheit entstanden ist, für ein Labyrinth halten kann, so tritt ja nun der Leser gleichsam theseushaft daraus hervor.3
Soweit Robert Waisers Aper9u zum Themenkomplex >NationSchreibenLesen< und >TextNation< auftaucht und wie es literarisch gestaltet wird. Bemerkenswert vor allem auch die Übereinstimmungen und Analogien zwischen ihnen, wobei ich nicht riskieren wollte, Waisers Minotauros als intertextuelle Kontrafaktur zu Kellers BrückenAllegorie und Kentauros-Figur zu behaupten, ausschließen will ich eine Verbindung freilich auch nicht. Ich möchte fünf Berührungspunkte festhalten: 1. Beide Texte thematisieren das Problemfeld >Nation< im Verfremdungszustand einer gebrochenen, getrübten Bewußtseinslage des Erzählsubjekts zwischen Wachen und Schlafen, Traum und Wirklichkeit mit fließenden Übergängen im Labyrinth »aus Wissen und Unbewußheit«, wie es Waiser nennt, woraus der Leser, wie wiederum Waiser sagt (und da darf ich erneut die hier Versammelten und den Jubilar insbesondere miteinschließen) »gleichsam theseushaft daraus hervor [tritt]«. 2. Beide Texte arbeiten mit Motiv-, Text- und Figurenmaterial aus der griechischen und germanischen Mythologie und Märchenwelt, das sich mit dem Traummaterial bei Keller bzw. dem somnambulen Bewußtseinszustand bei Waiser untrennbar und schwer durchschaubar gleichsam zu einem »MythenVerschnitt« bzw. einer Zitaten-Collage interferierender MythologieTraditionen vermischt. 3. Beide bearbeiten das Nationenthema durch ein Ineinanderspielen von Abstraktbegriff >Nation< und dessen Allegorisierung (bei Keller zudem in Verbindung mit der philosophischen Abstraktkategorie der >IdentitätNation< und seiner literarischen Gestaltung auf die beiden Metaebenen a) der hermeneutisch-
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exegetischen Entschlüsselung des allegorisch Verschlüsselten wie schließlich b) der Reflexion über textuelles Verfahren und Textform insgesamt. 5. Sachlich gemeinsam ist ihnen endlich, daß sie beide das Nationenproblem mit der Identitätsfrage verbinden, Keller explizit, Waiser andeutungsweise. - Ich komme darauf zurück. Was sich aufs Ganze gesehen aber mit Entschiedenheit von beiden Texten sagen läßt: Das ist nicht der Stoff, noch weniger die Art und Weise, wie und woraus >Nationalliteratur< entsteht und wie eine >Nationalisierung< von Literatur betrieben werden kann. Ganz im Gegenteil, viel eher könnte man von einer >AntiNationalliteratur-Literatur< sprechen, indem bei Robert Waiser wie bei Gottfried Keller der literarische Konstrukt der Idee >Nation< ineins mit dessen dissoziativer Zersetzung in Bildern wie Reflexionen zur Gestaltung gelangt, mithin eine Demontage des Mythos >Nation< d u r c h Literatur und i n den literarischen Bildern und Verfahren. Bei Keller insbesondere ist dieser Doppel-Prozeß sehr genau beobachtbar: Nicht nur baut er in der Traumsequenz mit ihrer Kulmination in der Brückenallegorie eine meines Erachtens brillante, bewundernswert komplexe Bildfigur über den Zusammenhang von Imagination, kollektiver Symbolik und Mythenbildung auf. Im Bild der Brücke mit ihrem doppelten Kreislauf, dem realen Verkehr auf der Brücke einerseits, dem »Austausch zwischen dem gemalten und wirklichen Leben« auf der Brücke und den Wandfresken andererseits, schafft er eine dichte und einprägsame Figur über die idealtypologische Wechseldynamik von Nation und Kunst. Wenn überhaupt irgendwo, dann haben wir hier vielleicht die gelungenste Vision einer integrativen Einheit von Kunst und Nation, im visuellen Medium figurativ zum Ausdruck gebracht: die Idee einer Nationalliteratur. - Aber eben: Nicht nur ist es lediglich die Traumvision eines heimwehkranken, schuld- und schuldengeplagten Schweizers in der deutschen Fremde, die ungleichen Gesprächspartner von Roß und Reiter, ihr z. T. sophistisch-komischer Dialog voller Paradoxien - ob z. B. die Brücke die Nation sei oder »die Leute, die darüber rennen« (S. 660) - all dies verleiht der Nationalkunst-Allegorie deutlich ironische, ja satirische Züge. Der gelehrte Gaul selbst klärt Heinrich entsprechend auf: »Übrigens erinnere dich, daß ich nur ein von dir geträumtes Pferd bin und also unser Gespräch eine subjektive Ausgeburt und Grübelei deines eigenen Gehirnes ist, die du Aberwitziger mit über den Rhein gebracht hast« (S. 660). Vollends unmißverständlich wird von Keller der Aspekt des Illusionären an der Vision von Nation, Kunst & Nationalkunst in den Überarbeitungen der zweiten Fassung des Grünen Heinrich von 1879/80 herausgearbeitet, wo es dann zum bereits erwähnten ikarus-ähnlichen Absturz von Roß und Reiter kommt, die als sog. »Landverderber« - ausgerechnet - von Wilhelm Teil abgeschossen werden. Und hier schiebt Keller auch den zitierten Erzählerkommentar vom »unheimlichen Allegorienwesen« und dem Gespinst von zusammengelesenen Mustern, »SchulWörtern« und »satirischen Beziehungen« ein. Nicht zuletzt in dieser zentralen Passage des Grünen Heinrich reflektiert sich so jener politische Desillusionierungsprozeß Kellers von den 50er zu den 80er Jahren, wie er dann vor allem im Martin Salander greifbar wird, nicht zuletzt auch in der literarisch inszenierten Demontage des
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Nexus von Nation und Kunst bzw. Literatur. Zeitlich berührt er sich mit der sarkastischen Bemerkung Kellers in einem Brief an Ida Freiligrath vom 20.12.1880 als Reaktion auf eine Rezension: Jener Aufsatz ist sehr wohlwollend geschrieben und hat nur den Fehler, [...] daß er meine Wenigkeit als eine spezifisch schweizerische Literatursache behandelt, während ich mich gegen die Auffassung, als ob es eine schweizerische Nationalliteratur gäbe, immer auflehne. Denn bei allem Patriotismus verstehe ich hierin keinen Spaß und bin der Meinung, wenn etwas herauskommen soll, so habe sich jeder an das große Sprachgebiet zu halten, dem er angehört. Die Engländer vollends werden durch eine solche Einteilung nur verleitet, ein schweizerisches Buch zu den Berner Oberländer Holzschnitzereien, Rigistöcken mit Gemshömern usw. zu zählen.5
Ist indessen in Kellers Traum-Vision im Grünen Heinrich die allegorische Bildfigur für die Identität der Nation in Gestalt der Prachtsbrücke immerhin noch ein glanzvoll gemaltes Gebilde von hoher Wirkungs- und Strahlkraft, so räumt Robert Waiser damit in seinem Minotauros radikal auf. Die Nation als gefräßiges Ungeheuer, dem die Jugendblüte zum Opfer vorgeworfen werden muß, und der Text des Nachdenkens über die Nation als Labyrinth: Das trägt wohl Anklänge an das freilich stärker konventionalisierte Bild vom Moloch >StaatMinotauros = Nation< mit der autoreferentiellen Ebene >Text = Labyrinth< wie auch in der Verbindung des Labyrinth-Minotauros-Diskurses mit dem Nationaldiskurs ist Waisers Text jedoch durchaus genuin. Jürgen Fohrmann spricht im Kapitel >Die Nation als Subjekt der Entelechie< seiner Habilitationsschrift Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich davon, daß im Nationalliteratur-Diskurs des 19. Jahrhunderts »die spezifische und unersetzbare Leistung der Kunst im Vordergrund [stehe]«, e i n e m Signifikat Ausdruck zu geben, »auf dessen Zum-Sprechen-Bringen alles ankommt«, und dieses Signifikat heiße >Nationexpressive< Leistung der Poesie sich also der Nation [verdankt] und zusammen mit anderen Medien auf das Leben der Nation Gottfried Keller: Gesammelte Briefe. In vier Bänden hg. von Carl Helbling. Bd.2. Bern 1951, S.357. Peter Utz: »Das Labyrinth ist die Heimat des Zögernden«. Robert Waisers Minotauros und der labyrinthische Diskurs seinerzeit. In: runa21,l (1994), S.l 13-130. Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart: Metzler 1988, S. 128.
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zurück [wirkt]« (S. 128), so ist bei Waiser dieser allseitige Verweisungs- und Wirkungszusammenhang mit der Labyrinth-Figur für den literarischen Text gründlich zerstört - das Labyrinth enthält zwar Wege, aber sie fuhren in die Irre, nicht zum einen Sinn des Texts; als »>expressive< Leistung der Poesie« im Sinne Fohrmanns bleiben daher auch einzig die angstvollen Distanz- und Meidungsbekundungen des Poeten Waiser vor diesem Monster-Signifikat Minotauros-Nation. Als fünften Punkt unter den Gemeinsamkeiten und Analogien zwischen Waisers und Kellers Allegorisierungen der Nation habe ich deren Verknüpfung mit der Identitätsfrage genannt. Bei Keller spielt sich diese Verknüpfung >Nation Identität nicht allein auf der Begriffsebene des Ausdrucks Identität der Nation< und der damit angestellten Wortspiele ab, vielmehr sind wir in der Traumvision im eigentlichen Sinn Augenzeugen der Konstruktion eines ganzen Symbolsystems kollektiver Identität im Zeichen der Nation, wie es Shmuel Noah Eisenstadt als spezifisches Phänomen in der Genese der Moderne bestimmt hat.8 Dieser Konstruktionsakt findet in der Brücke als sinnfälligem Bild für identitätsstiftende Differenzüberbrückung ihren Höhepunkt. Aber auch hier werden wir zu Zeugen der Demontage der aufgebauten Identitätskonstruktion >Nationnegativen< oder >positiven< Integration aufgeht, sondern wo er selbst widersprüchlich werden kann, weil die Zuschreibungen des Eigenen und Fremden zur Demarkierung der Identitäts-/Alteritätsgrenze problematisch sind. Die Politologin Mathilde Schulte-Haller hat in diesem Zusammenhang in einem Beitrag Über den Umgang mit dem Fremden: Ein schweizerisches Beispiel auf die »Paradoxie« hingewiesen, »die in der Geschichte der schweizerischen Identitätsfmdung überwunden werden mußte«. Die Paradoxie bestand in der Inkongruenz zwischen sprachlich-kultureller und politischer Grenzziehung. Gemeinsamkeiten mit den angrenzenden Staaten waren und sind aufgrund der Sprachverwandtschaften selbstverständlich, während in der Suche nach der inneren Gemeinsamkeit die Grenzen unterschiedlicher sprachlich-kultureller Zugehörigkeiten Überwunden werden mußten. Der Ausschluß mußte sich also über die gemeinsamen Sprachen, der Einschluß über Sprach- und Kulturgrenzen hinwegsetzen. Oder: die Schweiz mußte, um als Nation ent- und bestehen zu können, dort Fremd10
Aleida Assmann/Jan Assmann: Kultur und Konflikt- Aspekte einer Theorie des unkommunikativen Handelns. In: Jan Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Kultur und Konflikt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 11-48, hier S.27.
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heit erzeugen, wo in erster Linie kulturelle Übereinstimmung vorherrschend war, und die Gemeinsamkeit dort erringen, wo kulturelle Fremdheit dominierte."
Konkret: Dem Deutschschweizer mußte Deutschland fremd werden, mit dem er sich sprachlich, kulturell und vielleicht gar mentalitätsmäßig verbunden fühlte; zum Welschschweizer, dem er sprachlich-kulturell fernstand, mußte er ein Verbundenheitsgefühl entwickeln, und vice versa, ebenso für den Tessiner. Verfolgen wir die Geschichte der Nationalisierung von Literatur in der Schweiz bzw. die Bemühungen um die Schaffung einer Schweizer Nationalliteratur vom ausgehenden 18. ins 20. Jahrhundert, so läßt sich zeigen, daß deren Konstruktionsversuche in der Tat sehr stark unter dem Einfluß dieser gegenläufigen Verfahren der Fremdheitserzeugung von Eigenkulturellem und der Identitätsassertion von Fremdkulturellem geschahen. Dabei können wir beobachten, daß sich eine begrenzte Anzahl von bestimmten Argumentationsmustern als Lösungsstrategien zur Aufhebung der strukturellen Widersprüche herausbilden, die zugleich Strategien der nationalen Identitätsbildung waren. Stark verkürzt und schematisierend möchte ich hier drei Modelle unterscheiden: Das erste - ich nenne es >Komplementaritäts-Modell< - überführt die paradoxe Gegenläufigkeitsstruktur von interferierenden Alteritäts- und Identitätselementen in der kulturell-politischen Ordnung in die allgemeine anthropologische Symbolordnung einer bipolaren Ergänzungsstruktur, oft in Verbindung mit Geschlechterstereotypien. Das zweite, das >Totalitäts-ModellAmbiguitäts-Modellromandd< final, stigmate d'une spicificitö ä ses yeux fundamentale.«
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>Fecondant / Formel / Precis / Clair / Distributeur / M a s c u l i n < ; für die Waadt: >Fecond / Substantiel / Indecis / Trouble / Embrouille / F e m i n i m. Genf reflektiert dabei die Virilität, die dem (klassisch rationalen) Frankreich zugeschrieben wird, die Waadt, welche der deutschen Mentalität nähersteht, mehr das romantisch feminine Element Deutschlands.15
FEMININ
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SUISSE ROMANDE
SUISSE ALEMANIQUE
FRANCE
ALLEMAGNE
[classique]
[romantique]
Maggetti (Anm. 12), S.73: »Amiel esquisse une vision des gonies nationaux qui rapproche Geneve et Neuchätel et les oppose ä Vaud, jusqu'ä de"clarer que >[l]e nature! genevois est decidöment plus fran9ais, et le naturel vaudois plus allemand< [Amiel: Du mouvement litteraire dans la Suisse romane, et de son avenir. Geneve, Carey, 1849, p.34]. Ce point de vue est otoffo par d'autres antitheses, dont l'abondance est teile que la vraie nature de cette representation, qui n'est autre qu'un cas paroxystique d'artefact, nous saute aux yeux: Geneve (Neuchätel): Focondant / Formel / Precis / Clair / Distributeur / M a s c u l i n; Vaud: Focond / Substantiel /Inde"cis / Trouble / Embrouillo / F 6 m i n in. [...] L'Allemagne, patrie intellectuelle du philosophe, recueille eile tous les suffrages, et fonctionne comme l'exact antonyme de la France. Des antitheses en cascade aboutissent ä cette Opposition approximative entre une France >plutöt classique< et une Allemagne >plutot romantiquefomininemasculinecaractere plus viril< des Francais« (S.83f.).
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Diese Schematik steht natürlich im weiteren Zusammenhang der weitverbreiteten und beliebten organizistischen und geschlechtertypologischen Stereotypenbildungen und Symbolordnungen des 18. und 19. Jahrhunderts, und sie wird gerade deshalb auch bedeutungsvoll hinsichtlich der Frage, wie sich die Nationalisierungsprozesse in den Randzonenbereichen intensiver Kulturberührung und Kulturüberschneidung abspielen. Denn damit entsteht in diesen Bereichen im Zeichen der symbolischen Ordnung der Geschlechter eine Struktur der Zuordnungsregelung nationalkultureller Merkmalsbestimmungen, worin k a t e g o r i e l l e bzw. a n t a g o n i s t i s c h e Oppositionsverhältnisse von Fremdheit und Identität in Familiaritätsverhältnisse umgewandelt werden, d. h. in solche Verhältnisse, wo das Fremde und das Eigene über die r e l at i v e Distanz und Nähe der Geschlechter- und Verwandtschaftsbeziehungen in fließenden und doch zugleich polaren Übergängen i n n e r h a l b eines Integrationsraumes geregelt werden können. Solche Zuschreibungsregelungen bleiben z.T. noch bis in die Gegenwart lebendig, wobei freilich auch Umpolungen stattfinden können. Ein Beispiel dafür ist im deutschweizerisch-deutschen Bereich Friedrich Dürrenmatt mit seiner bekannten Typisierung von Dialekt und Hochdeutsch in der Oppositionsbildung von Muttersprache und Vatersprache: Zur Muttersprache tritt gleichsam eine >VaterspracheVatersprache< die Sprache seines Verstandes, seines Willens, seines Abenteuers. Er steht der Sprache, die er schreibt, gegenüber.16
Daß sich in solchen geschlechtertypologischen Zuordnungen von dialektaler Muttersprache und hochdeutscher Vatersprache auch hegemoniale Aspekte von Kulturdominanz und Abgrenzungsbedürfnissen sedimentieren können, dokumentiert Otto F. Walters Roman Wie wird Beton zu Gras von 1979, der von der gewaltlosen Revolte einer Jugend gegen die umweltzerstörende patriarchale Welt der Väter handelt.17 Hier wird der Gymnasiast Koni im Verlauf der Ereignisse beim Aufsatzschreiben, das sonst immer seine Stärke gewesen war, von einem eigentlichen »Schreibkrampf vor hochdeutschen Worten« (S. 58) gepackt, und so stehen denn inmitten von hochdeutschen Wörtern Ausdrücke wie »z'Morge« statt >FrühstückWaldlaufFünftausendRennschuhe< usw. (S. 52): Revolte gegen das geschlossene System der Vatersprache >Hochdeutsch< im Ausdrucksmedium von gleichsam guerillamäßigen Einsprengseln von schweizerdeutscher Mundart. Darin scheint sich jene Konstellation abzubilden, die Jacques Derrida als logozentrische Repression bezeichnet hat," hier als die gewaltsame Festbindung von Signifikant und Signifikat in der normativen Hochsprache manifest, gegen welche allfällige 1
17 18
Friedrich Dürrenmatt: Persönliches über Sprache (1967). In: F.D.: Werkausgabe in dreißig Bänden. Hg. in Zusammenarbeit mit dem Autor. Bd.26: Literatur und Kunst. Essays, Gedichte und Reden. Zürich: Diogenes Verlag 1980, S.120-124, hier S.122. Otto F. Walter: Wie wird Beton zu Gras. Fast eine Liebesgeschichte. Hamburg: Rowohlt 1979. Jacques Derrida: Of Grammatology. Johns Hopkins University Press: Baltimore 1974/1976, S.51.
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dialektale Einsprengsel oder Einfarbungen »Spuren« (traces) der unterdrückten Andersheit der Mundart bilden und echosprachliche Effekte hervorrufen. Eine vergleichbare Komplementaritäts-Topographie scheint es für Österreich zu geben. So braucht Walther Brecht 1931 in seinem Essay Österreichische Geistesform und österreichische Dichtung19 zwar nicht geradezu die Begriffe des Männlichen und Weiblichen, aber die Merkmalsattribuierungen entsprechen doch eindeutig den geschlechtertypologischen Zuordnungen: »Heutige reichsdeutsche und österreichische Kultur gehören zusammen: in natürlicher organischer Ergänzung! Nicht gerade wie Kopf und Herz, aber wie Geist und Natur, Vernunft und Sinne, Leib und blühende Farbe, kühne Neueroberung und feste Stiltradition, Licht und Wärme« (S. 626). Und über Österreich heißt es mit den typischen Zuschreibungsmerkmalen für Weibliches: »Ein Land des Gemütes, der Seele, voll Duldsamkeit [...]. Es ist das Land größerer Natumähe in allem Leben, im Geistigen und Seelischen [...]« (S. 626). Nicht von einem organisch-polaren Ergänzungsverhältnis spricht Hofmannsthal in Österreich im Spiegel seiner Dichtung im Kriegsjahr 1916, aber von einem »Dualismus«: Ich verwirre Ihnen die Einfalt der Gefühle und statuiere einen Dualismus dort, wo Sie in der Einheit der Sprache jede übrige Einheit mit dem großen deutschen Volke, wie es sich zum größten Teile im deutschen Nationalstaat verkörpert, verbürgt wissen wollen. [...] Dieser [sie!] Dualismus des Gefühles: unsere Zugehörigkeit zu Österreich, unsere kulturelle Zugehörigkeit zum deutschen Gesamtwesen müssen wir uns zu erhalten wissen in der furchtbaren und kritischen kulturellen und politischen Situation, in welcher wir uns befinden.20
Aber auch bei Hofmannsthal schwingen Vorstellungen aus der symbolischen Ordnung der Geschlechter mit, so etwa in Wir Österreicher und Deutschland von 1915: Beide zusammen [Beethoven und Prinz Eugen; M.B.] repräsentieren, unter sich geschieden wie der klare Tag von der tiefen heiligen Nacht, das Höchste, was Österreich von Europa empfangen und sich verlangend zu eigen machen konnte: aus dem Westen den Typus der Geistesklarheit, Tatfreudigkeit, unbedingter Männlichkeit; aus dem Norden die deutsche Seelentiefe. Beides steht über dem, was es aus seinen eigenen, wenngleich gehaltreichen Tiefen ans Licht zu stellen vermöchte.21
Eindeutiger dann wieder im berühmten Schema über Preuße und Österreicher mit den Stichwörtern »scheinbar männlich« für den Preußen, »scheinbar unmündig« für den Österreicher.22
19
21
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Walther Brecht: Österreichische Geistesform und österreichische Dichtung. Nach einem Vortrage. In: DVjs 9 (1931), S.607-627. Hugo von Hofmannsthal: Österreich im Spiegel seiner Dichtung. In: H.v.H.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. von Bernd Schoeller u.a. Reden und Aufsätze II: 1914-1924. Frankfurt/M.: S.Fischer Taschenbuch-Verlag 1979, S.13-25, hier S.21f. Hugo von Hofrnannsthal: Wir Österreicher und Deutschland. In: H.v.H. (Anm. 20), S.390-396, hier S.395f. Hugo von Hofrnannsthal: Preuße und Österreicher. In: H.v.H. (Anm. 20), S.459-461, hier S.460.
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Gerade Hofmannsthal ist freilich ein Beispiel für die komplizierten Verhältnisse in der Nationalisierungsfrage von Literatur. Hilde Spiel zitiert in einem Akademievortrag von 1980 mit dem hübschen Titel »der Österreicher küßt die zerschmetterte hand« - Über eine österreichische Nationalliteratur einen Brief Hofmannsthals an Walther Brecht von 1928: So wahr es ein Österreich, und österreichisches Wesen gibt und so wahr ich ein Österreicher zu sein mir bewußt bin, so wenig gibt oder hat es je etwas gegeben wie Österreichische Literaturund so unannehmbar erscheint es mir, für etwas anderes genommen zu werden als für einen deutschen Dichter in Österreich.23
Dies entspricht auch Hofmannsthals Argumentation im berühmten Münchner Schrifttums-Vortrag von 1927, wo er die Dualismus-These von 1916 de facto revoziert und ein Verfahren der aufsteigenden Synthesen zur »Bildung einer wahren Nation« proklamiert: Alle Zweiteilungen, in die der Geist das Leben polarisiert hatte, sind im Geiste zu überwinden und in geistige Einheit überzuführen; alles im äußeren Zerklüftete muß hineingerissen werden ins eigene Innere und dort in eines gedichtet werden, damit außen Einheit werde, denn nur dem in sich Ganzen wird die Welt zur Einheit. Hier bricht dieses einsame, auf sich gestellte Ich des titanisch Suchenden durch zur höchsten Gemeinschaft, indem es in sich einigt, was mit tausend Klüften ein seit Jahrhunderten nicht mehr zur Kultur gebundenes Volkstum spaltet. Hier werden die Einzelnen zu Verbundenen, diese verstreuten wertlosen Individuen zum Kem der Nation. Denn von Synthese aufsteigend zu Synthese [...] muß ein so angespanntes Trachten, woanders der Genius der Nation es nicht im Stiche läßt, zu diesem Höchsten gelangen: [...] zu der politischen Erfassung des Geistigen und der geistigen des Politischen, zur Bildung einer wahren Nation.24
Damit ist indessen das bipolare Komplementaritätsmodell bereits in Richtung auf die zweite Lösungsstrategie, das Totalitäts-Modell, überschritten.
2. Das
Totalitäts-Modell
«[...] ohne einen Hauch von geistigem Universalismus kann ein zukünftiges Österreich weder gewollt noch geglaubt werden«, so schreibt Hofmannsthal im bereits zitierten Aufsatz Österreich im Spiegel seiner Dichtung (S. 25). Damit rekurriert er auf ein Begründungsschema nationalliterarischer Vermittlungsstrategie, das die Fremdheits- und Identitätsgrenzen unter Rückgriff auf den multinationalen, multiethnischen und plurilingualen habsburgischen Vielvölkerstaat ins Eigene integriert, womit Österreich zur synekdochischen Repräsentations- bzw. Substitutionsfigur einer universellen Totalität wird und so auch zu bestimmten Zeiten, wie 23
24
Hilde Spiel: »der Österreicher küßt die zerschmetterte hand«- Über eine österreichische Nationalliteratur. In: Jahrbuch der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, I.Lieferung. Darmstadt 1980, S.34-^2. Hugo von Hofmannsthal: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. In: H.v.H. (Anm. 20) Reden und Aufsätze III: 1925-1929. Frankfurt/M.: S. Fischer Taschenbuch-Verlag 1979, S.2441,hierS.40f.
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beispielsweise im l. Weltkrieg, zum Statthalter der eigentlichen, der echten deutschen Kultur werden kann, welche Deutschland in seinem engen Nationalismus preisgegeben hat. In uns wie nirgends in der Welt tritt dem deutschen Volke das Produktive seiner großen Vergangenheit entgegen. Darum haben Schweden und die Schweizer ausgesprochen: Wenn wir neben Deutschland stehen in diesem Kriege und nach diesem Kriege, erst dann sieht die Welt wieder Deutschlands anderes Gesicht. [...] Darum ist das letzte Wort eines geistigen Austriazismus ein schwer auszusprechendes, scheues und um dieser Wesensart willen sehr deutsches. Die harte, grelle Selbstassertion, der überhebliche Versuch, dem ehrwürdigen deutschen Wesen klipp und klar Grenzen zu geben, in Wort zu fassen, was deutsch ist, [...] ist undeutsch.25
Ganz ähnlich wiederum Walther Brecht 1931: »Österreich ist noch heute ein Ausgangspunkt des deutschen Kulturuniversalismus [...]. Noch immer die ungeheure Assimilationskraft, ohne den Boden ans Deutsche zu verlieren«.26 Mit dieser Argumentationslinie bewegt sich der Österreich-Diskurs einerseits auf einer Konvergenzbahn zum deutschen Nationalliteratur-Diskurs im Zeichen der K u l t u r n a t i o n mit ihrem universalistischen Integrations- und Assimilationsanspruch als Kompensation für die fehlende nationale Einheit im Politischen. Andererseits ergeben sich Verbindungslinien zwischen dem österreichischen Diskurs im Zeichen des Habsburg-Mythos zum Nationalliteraturdiskurs im Zeichen des >Helvetismus< in der Schweiz, wo mit der Verfassung von 1848 der moderne nationale Verfassungsstaat ja soeben Wirklichkeit geworden war. Denn stand die helvetische Bewegung im 18. Jahrhundert noch primär im Dienste der nationalen Selbstvergewisserung, so transformiert sich der Helvetismus im 19. und dann erst recht im 20. Jahrhundert zunehmend auf das pars-pro-toto-Modell eines Miniatur-Europa, das in seinen eigenen, engen Grenzen die Kräftedynamik kultureller Pluralität und die Dialektik des Fremden und Eigenen erfolgreich vermittelt. Seinen Höhepunkt erreicht dieses Nationallliteratur-Modell im Konzept der Helvetia Mediatrix von Fritz Ernst von 1939, das er noch 1955 in einem Vortrag zur Frage Gibt es eine schweizerische Nationalliteratur vertrat, wo er neben der Germanistik und Romanistik eine »Helvetistik« forderte mit der Begründung: »Es will mir nicht in den Kopf, daß man in einem Zeitalter, wo alles von Europa spricht, am Schnittpunkt dreier Zivilisationen alles betrachten will, außer diesen Schnittpunkt, insofern er ein solcher ist«.27 Einen ändern Weg wies freilich schon 1875 Johann Caspar Bluntschli, der bedeutende Völker- und Staatsrechtler des 19. Jahrhunderts und wichtige Mitgestalter an der modernen schweizerischen Bundesverfassung, dessen Buch Das moderne Kriegsrecht von 1866 Grundlage der Haager Kriegsrecht-Abkommen von 1899 und 1907 bildete, in einem Aufsatz von 1875 über Die schweizerische Nationalität. Hier ist davon die Rede, daß »[...] das Schweizervolk und die schweizerischen Republiken [...] auch große eigentümliche Lebensaufgaben [haben], welche nicht 25 26 27
Hugo von Hofmannsthal (Anm.20), S.23. Walther Brecht (Anm. 19), S.627. Fritz Ernst: Gibt es eine schweizerische Nationalliteratur? In: Der Bogen 44 (1955), S.3-31, hier S. 19.
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bloß eine lokale, sondern eine europäische Bedeutung haben«.28 Deshalb gelte auch: »Wenn es eine schweizerische Nationalität gibt, so hat dieselbe in hohem Grade einen internationalen Charakter« (S. 18). Und: »Um deswillen muß die politische Nationalität der Schweizer in allen Kulturbeziehungen international bleiben. Je entschiedener die eigentliche Nationalität Kulturgemeinschaft bedeutet, um so bedeutsamer macht sich dieser internationale Charakter der schweizerischen Nationalität geltend« (S. 23). Ja, Bluntschli geht so weit, daß er die Entelechie dessen, was er die »internationale Schweizernationalität« nennt, in einer europäischen Identität aufgehen und damit jene sich in dieser auflösen läßt: Dadurch hat die Schweiz in ihrem Bereiche Ideen und Prinzipien geklärt und erwirklicht, welche für die ganze europäische Staatenwelt segensreich und fruchtbar, welche bestimmt sind, dereinst auch den Frieden Europas zu sichern. [...] Wenn dereinst das Ideal der Zukunft verwirklicht sein wird, dann mag die internationale Schweizemationalität in der größeren europäischen Gemeinschaft aufgelöst werden. Sie wird nicht vergeblich und nicht unrühmlich gelebt haben.29
Johann Caspar Bluntschli und Fritz Ernst markieren die Eckpunkte, auf die das kulturelle Totalitätsmodell hintendiert: Einerseits die Tendenz zu einem hypertrophen Ganzheitsanspruch, der sehr rasch in einen Provinzialismus in Krähwinkel umzuschlagen droht wie das Konzept einer verselbständigten Nationalwissenschaft der >Helvetistik< neben den ändern Nationalphilologien, oder aber kulturhegemonialen Kompensationsphantasien Ausdruck gibt - wie sie z. B. den innerdeutschen >Kulturnation-Diskurs< über weite Strecken bestimmen;30 andererseits die Tendenz zur Überwindung und Auflösung des Nationalen und damit auch der Idee einer Nationalliteratur schlechthin im Konzept einer transnationalen Gemeinschaft nationalsprachlicher Kulturen.
3. Das Ambiguitäts-Modell Wie wir eingangs an den Texten Waisers und Kellers beobachten konnten, gibt es eine Lösungsstrategie im Umgang mit dem Verhältnis von Literatur und Nation, bei der ganz entgegen der nationalliterarischen Anbindung aller Texte an und ihrer Ausrichtung auf das eine Signifikat >Nation< die Literatur nicht auf das »ZumSprechen-Bringen« dieses »Subjekts der Entelechie« im Sinne Fohrmanns (siehe S. 10) angelegt ist, sondern diametral im Gegensatz dazu der eine Signifikat 28
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Johann Caspar Bluntschli: Die schweizerische Nationalität. (Schriften für Schweizer Art und Kunst [ohne Nr.]) Zürich: Rascher & Cie 1915, S. 15. Ebd., S.24. Vgl. dazu etwa: Otto Dann: Begriffe und Typen des Nationalen in der frühen Neuzeit. In: Bernhard Giesen (Hg.): Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S.56-73. Renate Stauf: Zeitgeist und Nationalgeist. Literatur- und Kulturkritik zwischen nationaler Selbstbestimmung und europäischer Orientierung bei Heine, Borne und dem Jungen Deutschland. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 43 (1993), S.323-345.
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>Nation< in einer Bilderflucht traumhaft ineinander verfließender Allegoresenbildungen zum Signifikanten unter ändern Signifikanten »liquidiert« bzw. in die Differenzenfolge sich verwandelnder Signifikanten überführt wird wie bei Keller, oder in das Labyrinth des Textes gleichsam eingesponnen und so beinahe magisch durch den literarischen Text gebannt erscheint wie bei Waiser. Statt eines stabilisierten Systems der Literatur im Referenzbezug auf den einen Kanon der Nation gewinnen wir hier eine poetisch spielerische Dimension im Verhältnis von Literatur und Nation im Zeichen einer >Ästhetik der DifferenzÄsthetik der AmbiguitätNationalliteratur< auch wieder zu jener >Literatur der Nationem in einem aufklärerisch vor-nationalistischen Sinn, d.h. zu einer Literatur der Völker, und hebt sich da letztlich im Begriff der >Weltliteratur< auf. Das Verständnis des Verhältnisses von Literatur und Nation bei Muschg bewegt sich damit auch auf jene Vorstellung des Kulturverhaltens zu, wie es Aleida und Jan Assmann formuliert haben: Ziel wäre nicht eine konfliktlose Gesellschaft, sondern eine »Kultur des Konfliktes«, der Weg eines »Gegen31
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Vgl. dazu Michael Böhler: Schweizer Literatur im Kontext deutscher Kultur unter dem Gesichtspunkt einer »Ästhetik der Differenz«. In: TEXT & KONTEXT. Sonderreihe. Bd.30. Kopenhagen 1991,8.73-100. Christoph Bode: Ästhetik der Ambiguität. Zu Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 43) Tübingen: Max Niemeyer 1988. Adolf Muschg: Gibt es eine schweizerische Nationalliteratur? In: Jahrbuch der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. I.Lieferung. Darmstadt 1980, S.59-68, hier S.68.
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seitigkeitshandelns«. Dabei gehe es »um [...] die Verständigung im Sinne eines gegenseitigen Arrangements. Die Frage ist nicht primär die nach einer gemeinsamen Wahrheit, in der man sich trifft, nach Konsens der Urteile oder Fusion der Horizonte«; vielmehr werde eine »komplexe Versöhnung« angestrebt: »diese Versöhnung beläßt Raum für Gegensätze und Konflikte«.34
34
Aleida Assmann/Jan Assmann (Anm. 10), S.36f.
JÖRG SCHÖNERT
Die bürgerlichen Tugenden< auf dem Prüfstand der Literatur Zu Gottfried Kellers Der grüne Heinrich, Die Leute von Seldwyla und Martin Salander
Zum »Lob der Faulheit«, dem Luigi Forte in diesem Band die vergegenwärtigende Stimme des Literaturhistorikers geliehen hat, ließe sich ein kräftiger Gegengesang zum Preis der Arbeit im Wissen um Gottfried Kellers sozialethisches Engagement anstimmen.1 Doch gingen bei so viel Emphase die Zwischen- und Mißtöne verloren, die es wahrzunehmen gilt, wenn man in der Erzählprosa des Autors verfolgen will, wie er die Darstellung der verhaltenslenkenden Normen intoniert, die das Konstrukt der >Bürgerlichkeitschönen Literatur< in der sich funktional ausdifferenzierenden modernen Gesellschaft erwachsen im Laufe des 18. Jahrhunderts Forderungen, daß die Literatur die Ordnungsmuster für soziale Interaktionen, wie sie etwa von der Theologie, der Moralphilosophie oder der Ökonomie vorgegeben wurden, nicht nur aufnehmen und bestätigen, sondern auch prüfen und in Frage stellen solle. Dies wäre so zu vollziehen, daß die Schriftsteller als >Agenten< ihrer Leser gemeinsame Erfahrungen von Wirklichkeit als >Probleme< gestalten und im Fiktionsraum der Literatur erproben, ob sich mit den gesellschaftlich erwarteten Verhaltensweisen solche Probleme bewältigen lassen. Darüber hinaus wird von der >schönen Literatur< erwartet, daß sie nicht länger als >Magd< von Theologie, Moral- oder Geschichtsphilosophie Wirklichkeitserfahrungen mit dem Bedürfnis nach >Sinngebung< vermittele, sondern in Kritik und Akzeptanz solcher Sinnsetzungen ein selbständiges >Sinndeutungsgewerbe< pflege·2 Diese Vorstellungen sind in dem Zeitraum, in dem sich Gottfried Keller anschickt, als >freier Schriftstellen eine Position am literarischen Markt< zu erobern, bereits gefestigt. Als nicht minder festgefügt erscheint um 1850 der sog. Katalog der bürgerlichen Tugendem. Der Begriff gewinnt erste Konturen im zweiten Band von Johann Heinrich Gottlob von Justis Schrift Die Grundfeste zu der Macht und Glückseeligkeit der Staaten; oder ausführliche Vorstellung der gesamten
Vgl. das 5. Kapitel im 4. Band der zweiten Fassung des Grünen Heinrich mit der Überschrift »Die Geheimnisse der Arbeit« - >Arbeit< steht im Zentrum von Kellers sozialethischem Programm; im >richtigen Arbeitern werden die Interessen von Individuum und Gemeinschaft vermittelt. Vgl. Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt/M. - Leipzig: Insel 1995, S.36.
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Policey-Wissenschafl (176l).3 Die bürgerlichen Tilgendem erwachsen - so Paul Münch4 - aus den >virtutes oeconomicaeschöne Literatmx auf, daß sie Bedürfnissen gerecht werde, die sich - angesichts des gesellschaftsgeschichtlichen Prozesses - auf differenzierende Ausarbeitung der wirtutes oeconomicae< und die Erweiterung ihres Geltungsbereiches richten. Zu entwickeln sind - so Justi - die Pflichten, die sich für den Einzelnen gegenüber dem Staat, den Mitbürgern und sich selbst ergeben.5 Für das so beschriebene Problemfeld wird in der deutschsprachigen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit dem Bildungsroman ein Fiktionsmodell geschaffen,6 in dem sich entsprechende Vorgaben und Erfahrungen aufnehmen und sinnsetzende Konstruktionen entwerfen lassen. Franco Moretti hat 1987 in seiner Studie zur Rolle des Bildungsromans in der Europäischen Kultur diese Organisationsform des Erzählens als d i e symbolische Ordnung für die moderne Gesellschaft und ihr Bedürfnis nach Repräsentation und Selbstdeutung bezeichnet.7 Dem Protagonisten wird aufgegeben, sich selbst zu finden, >glückselig< zu sein, und zugleich die Kompetenz zum Sozialen auszubilden. Aber erst in Kellers Grünem Heinrich ist die >dritte Dimensiom der Pflichten, die Justi anlegt, sind die Pflichten gegenüber dem Staat mit Entschiedenheit als ein Problem aufgenommen, das es literarisch auszuarbeiten und gegebenenfalls auch zu lösen gilt.8 Über die autobiographische Substanz des Romans werden zudem Lebensgeschichte und Zeitgeschichte in Beziehung gesetzt; freilich sind dabei anders als in Kellers historischen Erzählungen keine Jahreszahlen genannt, auf markante geschichtliche Ereignisse wird nur indirekt verwiesen. Heinrich Lee ist in das politische Geschehen, das in den Geschichtsbüchern seinen Niederschlag findet, nicht einbezogen; er nimmt es nur punkruell aus einer marginalen Position wahr. Als Protagonist des Erzählens in der Tradition des Bildungsromans soll er zunächst als selbstbewußtes Individuum einen distinkten Ort in einer Gemeinschaft finden, die sich über die Verfahrensweisen der öffentlichen Erziehung, über kulturelle Unter-
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Vgl. Paul MUnch (Hg.): Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der »bürgerlichen Tugenden«, (dtv 2940) München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, S.157-167. Ebd., S.24f. Ebd., S.158. Vgl. Wilhelm Voßkamp: »Bildungsbücher«. Zur Entstehung und Funktion des deutschen Bildungsromans. In: Rainer Schowerling/Hartmut Steinecke (Hg.): Die Fürstliche Bibliothek Corvey. Ihre Bedeutung für eine neue Sicht der Literatur des frühen 19.Jahrhunderts. München: Fink 1992, S.134-146. Vgl. Franco Moretti: The Way of the World. The >Bildungsroman< in European Culture. London: Verso 1987, S.5; entscheidend für diese Funktion sei das bedeutungsvolle Ende des Romans. Vgl. in diesem Band den Beitrag von Michael Böhler zur Verbindung von Problemen der personalen und nationalen Identität als Thema in Kellers Erzahlprosa.
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nehmungen, Verkehrsformen der Ökonomie und die Teilnahme am politischen Geschehen als >Gesellschaft< formiert. Über Liebe und Verantwortung für das Wohlergehen des Anderen werden in Kellers Fiktionswelten die Beziehungen des Einzelnen zu seiner näheren sozialen Umwelt, über Arbeit und Wahrnehmung der politischen Rechte und Pflichten die Verbindungen mit der weiter zu fassenden Gemeinschaft geregelt. Wenn dabei - als charakteristische Konstellation der deutschsprachigen Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - die Familie zum entscheidenden Vermittlungsort wird zwischen den Ansprüchen des Einzelnen und den Erwartungen der Gesellschaft,9 so sind in der Tradition des Bildungsromans gegenüber Wilhelm Meisters Lehrjahren mit den dominierenden Mediatisierungen durch Geselligkeit und Freundschaft neue Akzente gesetzt. Sie entsprechen dem Gewicht, das Wilhelm Heinrich Riehl in seiner dreibändigen Naturgeschichte des Volkes (als Grundlage einer deutschen Social-Politik) (l 851 ff.) der Familie - so der Titel des 2. Bandes (1855) - zuschreibt. Doch gibt es keine Hinweise für eine eingehende Rezeption Riehls durch Keller. Umso mehr ist die Bedeutung Ludwig Feuerbachs belegt. Im Kapitel »Der Eudämonismus« in Feuerbachs Schriften zur Ethik (entstanden 1863-65, veröffentlicht 1866) greift Feuerbach Fragen auf, die in der Tradition von Justis Überlegungen zu den bürgerlichen Tugenden< stehen. Wie nämlich sei der »Glückseligkeitstrieb« des Einzelnen in Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere umzusetzen?10 Die Anerkennung der »Pflichten gegen Andere - meine Familie, meine Gemeinde, mein Volk, mein Vaterland - « ermögliche, auch den Pflichten gegen sich selbst zu folgen." Die Familie aber sei der Ort, wo der egoistische Trieb des Menschen, wo die Pflichten gegen sich selbst auf na t ür l i e h e Weise mit Pflichten gegen andere vermittelt werden können - im »Gefühl der Zusammengehörigkeit, Verträglichkeit, Gemeinschaftlichkeit, Beschränkung der unumschränkten Alleinherrschaft des eigenen Glückseligkeitstriebs«.12 In Feuerbachs Sicht werden die familiären Beziehungen zu einer Schule der Moral, in der die >Natur des Menschen< nicht verleugnet werden muß. Die Beschädigung oder Zerstörung der Familie sowie die daraus erwachsenden Folgen für die schwierige Sozialisation eines jungen Menschen bilden somit im Erzählwerk Kellers - wie überhaupt in der Erzählprosa des Realismus - vielfach den Ausgangspunkt für eine problematische (und damit erzählenswerte) Existenz des Protagonisten. Zum Problem wird, wie Lebenseinstellungen und Verhaltensnormen >zum Sozialem über die >natürliche< familiäre Vermittlung hinaus erfahren und eingeübt werden können. Wo die bürgerlichen Tugenden< nicht mehr gleichsam problemlos zu übernehmen sind, werden sie selbst zum Problem. So 9
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In Freundesbünden, Vereinen und Festgesellschaften wird die Familie zur Gemeinschaft erweitert (vgl. beispielsweise Das Fähnlein der sieben Aufrechten). Ludwig Feuerbach: Zur Ethik: Der Eudämonismus. In: L.F.: Sämtliche Werke. Hg. von Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl (2. Aufl. 1903-1911). Bd.10. Stuttgart - Bad Cannstatt: Frommann 1959, S.230-293, hier S.275. Ebd., S.270. Ebd.,S.271.
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wird im Fiktionsraum der Literatur geprüft, ob diese Erwartungen und Pflichten überhaupt dazu taugen, das Leben eines Einzelnen unter den obwaltenden gesellschaftlichen Bedingungen so zu ordnen und zu gestalten, daß auch dem >Glückseligkeitstrieb< Genugtuung erwächst. Und schließlich sind solche Fragen bei Keller mit Überlegungen verbunden, ob die vorgefundenen und aufgenommenen Programme, Modelle und Verfahren literarischer Verarbeitung und Deutung von Erfahrungen überhaupt relevante Aussagen über die lebenspraktische Bedeutung der bürgerlichen Tilgendem ermöglichen.13 Von diesen Prämissen ausgehend, wende ich mich nun den angegebenen Texten zu. Im Verweis auf den Beitrag von Werner Hahl fasse ich mich dabei kurz zum Grünen Heinrich, beziehe mich für Die Leute von Seldwyla insbesondere auf Pankraz, der Schmoller und Die drei gerechten Kammacher, um abschließend noch die Position des Martin Salander in Kellers Erzählwerk zu umreißen. Mit dieser Auswahl von Texten habe ich vor allem solche Konstellationen der Erzählprosa Kellers im Blick, die - mit wachsendem Zugewinn vom Grünen Heinrich über die beiden Seldwyler Erzählungen hin zum Martin Salander - auf die zeit- und gesellschaftsgeschichtliche Referenzialität der Fiktionswelten abstellen. Dabei soll nicht verkannt werden, daß auch die hier bestimmenden Konzepte des Fiktionalen mit unterschiedlicher Intensität durchsetzt werden von der >Literarisierung< der erzählten Welten, d. h. dem nachhaltigen Verweis von Literatur auf Literatur. Daß beide Bezugswege bis in die 80er Jahre angelegt sind, zeigt sich in zwei so verschiedenen Texten wie Martin Salander (1886) und Das Sinngedicht (im}." Im Grünen Heinrich gilt als wichtigster literarischer Bezug die Tradition des Bildungs- und Künstlerromans der Goethezeit. Doch ist die Erzählung bei Keller weniger auf das sinnsetzende gute Ende (bzw. in der ersten Fassung auf die Verweigerung der erwarteten Sinnsetzungen) orientiert; die einzelnen Stationen des Bildungs- bzw. Mißbildungsweges gewinnen eigenes Gewicht im Sinne einer experimentierenden Erkundung der Tauglichkeit literarischer Verarbeitungs- und Deutungsformen für zeitspezifische Erfahrungen. Für die Sinnsetzungen wird nicht mehr die Selbstfindung des Individuums als Fluchtpunkt bestimmt, sondern die Sorge um den Erhalt sozialer Interaktionen im Ordnungs- und Verantwortungszusammenhang der Familie. In der >Selbstordnung< des Einzelnen solle sich Vgl. Gepperts Ausführungen in Der realistische Weg: die Spezifika >des Realismus< sind nicht zu bestimmen durch Fragen nach Übereinstimmungen von>Gegenstand< und >AbbildLiterarität< der Wirklichkeitsbezüge. In: Vilmar H. Geppert: Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer 1994.- Zur >fiktionsimmanenten Reflexiom des literarischen Verfahrens kommt es in Ansätzen schon im Grünen Heinrich, ausgiebig dann in Martin Salander, Vgl. Klaus Jeziorkowski: Literarität und Historismus. Beobachtungen zu ihrer Erscheinungsform im 19. Jahrhundert am Beispiel Gottfried Kellers. Heidelberg: Winter 1979, S.9: Das Sinngedicht kann als Beispiel dafür gelten, wie vielfach im >Poetischen Realismus< weniger an Wirklichkeits- als an Literatur-Erfahrungen angeknüpft wird. Martin Salander steht - abgesehen von den intertextuellen Bezügen zur Erzählprosa seines Autors- dagegen für die verstärkte Realitätsreferenz.
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- vermittelt über Ordnungsformen der Familie15 - das Ordnungspotential des Volkslebens »widerspiegeln«.16 Wo der Einzelne sich solchen Ordnungsansprüchen nicht gewachsen zeigt, kann er die notwendige >Kompetenz für das Soziale< nicht erreichen - und schon gar nicht das Recht auf Mitgestaltung der politischen Verhältnisse.17 Die >Spiegelbildlichkeit< im Sinne des wechselseitigen Verweises zwischen individuellen und gemeinschaftlichen Ordnungen verstärkt zum einen die sozialethische Prägung von Sinnentwürfen in der Tradition des Bildungsromans, zum anderen leitet sich daraus das Problem ab, wie ein solches >Widerspiegeln< als literarisches Verfahren zu entwickeln sei. Zu diesem Zweck werden im Grünen Heinrich sowohl das lebensgeschichtlich-autobiographische Modell wie das Modell des Bildungsromans mehrfach modifiziert - und zugleich wird reflektiert, was sich überhaupt in einem so angelegten Zusammenhang an exemplarisch lebensgeschichtlichen und zeittypischen Erfahrungen erfassen läßt. In einer weiteren Einschränkung des Nachvollzugs vorgegebener literarischer Muster zur Sinnsetzung wird das Prinzip der Selbst-Ordnung, die Ausrichtung individueller Erfahrung und Gestaltung des Lebens an allgemein gültigen Vorgaben in Frage gestellt. Über den durchgehenden Antagonismus von - so Gerhard Kaiser - »Ordnungssphäre und Lebenssphäre«18 in Kellers literarischem Werk hinaus lassen sich für den Grünen Heinrich Konstellationen beschreiben, die in ihrer sprachlich-sinnlichen Erscheinung in mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Rekonstruktionen aus heutiger Sicht als Kritik der >Sozialdisziplinierung< verstanden werden können.19 Doch sei hier vom Ausgriff in die >Sozialtheorie< zugunsten des Bezugs auf eine bezeichnende Szene im Grünen Heinrich abgesehen. Ich zitiere den Text der ersten Fassung; in der zweiten Fassung steht er - mit einer geringfügigen Änderung - im 3. Kapitel von Band 3: »Auch Judith geht«. Heinrich Lees Eintritt in die Welt der Erwachsenen ist durch >Abschiede< bestimmt, durch den Verlust von Menschen, die ihm etwas bedeuteten. >Das KindsozialisiertVergebung der sozialen Sündern durch Judith: »ich habe mich gerührt und nicht mehr geschwiegen, auch nach Kräften dies oder jenes verrichtet«. In: Ebd., S.861. Gerhard Kaiser: Gottfried Keller - ein abgründiger Klassiker. In: Festschrift für Heinz Engels zum 65. Geburtstag. Hg. von Gerhard Äugst u.a. Göppingen: Kümmerle 1991,8.124-134, hier S.128. Vgl. zu der Kategorie, die Gerhard Oestreich entwickelt hat, den Band von Christoph Sachße/Florian Tennstedt (Hg.): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, (edition suhrkamp 1323) Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, insbesondere S.11-69; für die Anwendung auf Konstellationen in der >schönen Literatur< meine Skizze zu J.M.R. Lenz: Jörg Schönert: Literarische Exerzitien der Selbstdisziplinierung. »Das Tagebuch« im Kontext der Straßburger ProsaSchriften von J.M.R. Lenz. In: Inge Stephan/Hans-Gerd Winter (Hg.): »Unaufhörlich Lenz gelesen ...«. Studien zu Leben und Werk von J.M.R. Lenz. Stuttgart: Metzler 1994, S.309-324.
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wird zurückgeführt zum Normalzustand gesellschaftlicher Existenz. Ein Hauptweg dazu ist der Militärdienst. Und dem Rekruten, der sich auf dem Exerzierfeld in Marschtritt und Disziplin zu üben hat, begegnet Judith, die nach Amerika aufbricht. Auf den Wagen der Auswanderer entdeckt sie Heinrich: Ich erschrak heftig und das Herz schlug mir gewaltig, während ich mich nicht regen noch rühren durfte. Judith, welche im Vorüberfahren, wie mir schien, mit finsterem Blicke auf die Soldatenreihe sah, erschaute mich mitten in derselben und streckte sogleich die Hände nach mir aus. Aber im gleichen Augenblicke kommandierte unser Tyrann »Kehrt euch!« und führte uns wie ein Besessener im Geschwindschritte ganz an das entgegengesetzte Ende des weiten Platzes. Ich lief immer mit, die Arme vorschriftsmäßig längs des Leibes angeschlossen, »die kleinen Finger an der Hosennaht, die Daumen auswärts gekehrt«, ohne mir was ansehen zu lassen, obgleich ich heftig bewegt war; denn in diesem Augenblicke war es mir, als ob sich mir das Herz in der Brust drehen wollte.20
Diese Szene hat im Roman besonderes Gewicht - der Ich-Erzähler bezeichnet mit ihr den Abschluß des »ersten Teils meines Lebens«,21 er sieht also in der erfolgreichen Wechselwirkung von Fremd- und Selbstdisziplinierung den Eintritt in die Welt der Erwachsenen. Für den Leser der ersten Fassung des Grünen Heinrich stellt der Bericht zudem ein Element in den zahlreichen Korrespondenzen dar, die wichtige Strukturen des Romans ausbilden. Die zuzuordnende Szene ist die sog. Bade-Szene der Judith in der Heidenstube, die in der zweiten Fassung nicht mehr aufgenommen wird. Wenn im Verhindern der möglichen Kommunikation zwischen Heinrich und Judith auf dem Exerzierplatz die von außen gesetzten Disziplinierungen bestimmend sind, so ist die Unfähigkeit Heinrichs, in der Heidenstube auf Judith zuzugehen, vor allem geprägt von seiner Selbsthemmung vor dem Überschreiten der Grenze, die den Heranwachsenden von der - ihrer Sexualität bewußten - Frau trennt.22 In ihren Konsequenzen unterscheidet sich diese natürliche Hemmung nicht von den sozial erwarteten Selbstdisziplinierungen. Dieses Zusammenspiel von Fremd- und Selbstdisziplinierung hat Gerhard Oestreich als Charakteristikum für den Prozeß der sich modernisierenden Gesellschaften herausgearbeitet. Keller hat den Zusammenhang nicht in begrifflich-abstrakter Elaboration erfaßt, sondern >in Bildern< ausgedrückt. Vor allem für die Aktionen und Folgen der Selbstdisziplinierung hat er immer wieder Bilder von gehemmten, erstarrenden, gepanzerten und vereisenden Menschen geschaffen.23 Von dieser - negativ besetzten - Bildlichkeit lassen sich Bezüge zu Kontexten zeitgenössischen Wissens anlegen, die wiederum von Keller zu Feuerbach führen. In Feuerbachs Abhandlung »Wider den Dualismus von Leib und Seele« (1846 veröffentlicht) heißt es: »Leben heisst Leben, Empfinden Empfindungen äus-
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Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (Erste Fassung). In: G.K. Sämtliche Werke. Hg. von Thomas Böning u.a. Bd.2. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985, S.543. Ebd. Vgl. in diesem Band den Beitrag von Werner Hahl. Vgl. Gerhard Kaiser (Anm. 18), S. 130.
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sern«.24 Gesinnungen und Empfindungen sollen nach außen gewendet werden, »was Du nicht s i n n l i c h bist, das b i s t Du auch nicht«.25 Das Abstrahieren von den Sinnen, die »Entsagung, die Resignation, die >Selbstverleugnung< [...] macht den Menschen finster, verdriesslich, schmutzig, geil, feig, geizig, neidisch, tükkisch, boshaft«.26 Die Feuerbach-Erfahrungen erstellen für Keller den kognitiven Horizont zur Kritik an bedingungslos vollzogenen Disziplinierungen; sie gilt den Beschädigungen der Fähigkeit des Menschen >zum Lebern und zum >SichÄußernVolkshochzeit< scheitert kläglich.57 Angesichts der Verhältnisse (in Münsterburg sind sie wie allerorts) erscheint der Protagonist des Romans und des bürgerlichen Ethos als Phantast; er wird gleichsam in den Status eines Kindes >zurückgebildetDefekte< in der Organisation der Erzählung für ein >sinnsetzendes< Ende zu erklären. Vgl. zum >Widerruf< von früheren Positionen Kellers durch »Radikalisierung« Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben. Frankfurt/M.: Insel 1981,S.578f. - In der Diskussion zu meinem Vortrag hat Wolfgang Frühwald darauf hingewiesen, daß Keller nicht nur Positionen aus seinem Werk revidiert, sondern die Werte von Brüderlichkeit, Freiheit und Gottesglauben, die im Rütli-Schwur bekräftigt werden, in ihrer Funktion als Vorgaben zur Ordnung der Schweizerischen Nation in Frage stellt. Vgl. etwa die Schilderung der >ersten Nacht< der Eheleute nach der Rückkehr Salanders- Gottfried Keller: Martin Salander. In: G.K. (Anm. 52), S.423. Über das Heimkehrer-Motiv ergeben sich wichtige Vergleiche mit korrespondierenden und kontrastierenden Konstellationen im Werk Kellers - vgl. dazu Hans Wysling: Und immer wieder kehrt Odysseus heim. Das >Fabelhafte< bei Gottfried Keller. In: H.W. (Hg.): Gottfried Keller. Elf Essays zu seinem Werk. München: Fink 1990, S. 151-162. Myrrha wird von Wohlwend eingeführt wie die Puppe Olympia in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann - vgl. auch Dominik Müller (Anm. 52), S. 1137: Myrrha als Travestie der Schönen Helena (und des klassischen SchönheitsidealsFamilienroman< überlastet Keller den Martin Salander, zum >Zeitroman< fehlt die Vielzahl der Figuren und der ihnen verbundenen >Geschichtenpoetischen Realismus< gelten. Michael Böhler hat in seiner Studie zum Martin Salander auf das im Roman obwaltende Prinzip der Täuschung, des bloßen Scheins, der Phantasmagorien hingewiesen, von dem nicht nur die ökonomischen Handlungsweisen bestimmt sind, sondern auch die Erfahrungen von Kunst. Das Aufhellen und Leuchtenlassen der >grünen Steilem im Gestalten der Wirklichkeit durch die Dichtkunst gerät so in den Verdacht eines Illusionismus.59 Aus der ironischen, mitunter sarkastischen Distanz des Erzählers zu dem >Helden< seines Romans wird mit den Mitteln der >schönen Literatur< vorgeführt, wie schwierig es geworden ist, mit den tradierten literarischen Verfahren und aus dem Geist eines selbstgewissen »Bürgersinnes«60 sich den Erfahrungen einer >Metropole der Moderne< zu stellen. Im Verlauf des Erzählens verdeutlicht Keller die Unzulänglichkeit dieser Vorgaben und seinen Zorn darüber, daß ihn der Gang der »Kulturbewegungen«, der sich mit der Formel von der »Dialektik«61 nicht mehr erfassen läßt, in diese Schwierigkeiten gebracht hat. Der Unmut des Autors gibt noch die Wertschätzung dessen erkennen, was auf dem Prüfstand der >schönen Literatun im Sinne einer Verlustrechnung »des gebieterischen Fortschritts der Zeit«62 auszuweisen ist. So entwikkelt sich Kellers Erzählkunst im Martin Salander zu einer Prosa aus dem >Geiste des GrimmsPhantasmagorien der Modeme< oder Verklärungsrealismus? In: Hans-Jürgen Schrader (Hg.): Nation, Staat und Religion im deutschsprachigen poetischen Realismus. Frankfurt/M.: Lang 1997 (im Erscheinen). Vgl. die Verbindung von Alkoholgenuß und Illusionieren- Gottfried Keller: Martin Salander. In:G.K. (Anm.52), S.612. Ebd., S.561. Kellers Brief an Hermann Hettner vom 26.6.1854. In: G.K. Gesammelte Briefe. Hg. von Carl Helbing. Bd.l. Bern: Benteli 1950, S.400. Gottfried Keller: Martin Salander. In: G.K. (Anm.52), S.566.
WERNER HAHL
Zur immanenten Theorie und Ästhetik des Erlebens in Gottfried Kellers Der grüne Heinrich (erste Fassung 1854/55)
Die zeitgenössische Kritik konnte sich lange nicht entscheiden, welcher Romangattung, mithin welchem Verständnismodus der Grüne Heinrich zuzuordnen sei, bis man ihn, nun aber schon die zweite Fassung, als einen Bildungs- und Künstlerroman las.1 Diesem Modell aus der Goethezeit liegt die Idee zugrunde, äußere Wirklichkeitserfahrung, innere Persönlichkeitsbildung und Konstituierung von >Welt< seien Prozesse, die einander bedingen und kontinuierlich ineinander übergehen, bis sie schließlich verschmelzen in der persönlichen Weltaneignung des zum >Menschen< gereiften Individuums. Auf den Bildungsroman, eigentlich ein Erfahrungsmodell, kam man zurück, nachdem Wilhelm Dilthey an der Wende zum 20. Jahrhundert die Idee der Persönlichkeitsbildung wieder aufgegriffen und das >Erlebnis< als deren entscheidendes psychisches Moment beschrieben hatte.2 Erlebnis im Sinne Diltheys ist unmittelbar gegebene und persönlich bedeutsame >innere Erfahrunginneren Erfahrung< die Gesamtheit der Seelenkräfte, wird persönlich erlebt. Im Erlebnis behauptet sich das Selbst gegen die heterogene und diskontinuierliche Tatsachenzufuhr aus der Außenwelt. - Geniale Menschen haben nach Dilthey die nötige Erlebniskraft, um einerseits ihr seelisches System durch die Bewältigung außenweltlicher Anforderungen hoch zu entwickeln, andererseits einer Fremdbestimmung von außen mit einem persönlichen ganzheitlichen Weltentwurf zu begegnen. Kunstwerke, die aus genialem Erleben stammen, werden vom Publikum mit persönlichkeitsbildender und daher kulturtherapeutischer Wirkung nacherlebt und angeeignet.3 Vom lebensgeschichtlichen F a k t u m der positivistischen Biographik war dieser intentionale Erlebnis-Begriff ebenso klar unterschieden wie vom U r e r l e b n i s der aufkommenden Tiefenpsychologie: Während das Faktum die persönliche Entwicklung äußerlich determiniert, schränkt das Urerlebnis sie durch Fixierung kindlicher Erfahrungsmuster von innen her ein.
Wolfgang Rohe: Roman aus Diskursen. Gottfried Keller, Der grüne Heinrich (erste Fassung 1854/55). München 1993, S. 19-22 und S.228-230. Auf die Germanistik wirkte maßgebend Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing - Goethe - Novalis - Hölderlin. Leipzig 1905,21907. Wilhelm Dilthey: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894). In: W.D.: Gesammelte Schriften. Hg. von Karlfried Gründer. Bd.5. Stuttgart- Göttingen 81990, S. 189-240.
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Der optimistische Erlebnis-Begriff Diltheys war, wie gesagt, vom goethezeitlichen Denken inspiriert, das auch den klassisch-romantischen Bildungs- und Künstlerroman hervorgebracht hatte. Diese Gattung schien sowohl die künstlerbiographische als auch die kunstproduktive Bedeutung des Diltheyschen ErlebnisBegriffs zu bezeugen. Man las z. B. Heinrichs Goethe-Erlebnis so, als spiegele es unmittelbar die Geburt des Dichters Gottfried Keller aus dessen eigenem GoetheErlebnis.4 Es liegt auf der Hand, daß der spezielle Erlebnis-Begriff Diltheys bei weitem nicht das umfaßt, was Erlebnis überhaupt für den Menschen heißen kann, während sein großer kulturtherapeutischer Anspruch fragwürdig bleibt. Neuere Interpreten des Grünen Heinrich sind denn auch weit davon entfernt, sich nacherlebend in die Bildungsgeschichte des Helden oder seines Autors zu versenken. Sie lassen das Bildungsroman-Modell allenfalls als eine Kontrastfolie gelten, die die eigentliche Bedeutung des Werks hilfreich verdeutliche.5 Für Gerhard Kaiser und Gert Sautermeister steht hinter allem Erleben des grünen Heinrich eine sozialgeschichtlich bedingte ödipale Fixierung Kellers - Urerlebnis statt Bildungserlebnis, Wiederholungszwang statt Reifungsprozeß.6 Wolfgang Rohe deutet den Roman als Widerlegung des Selbstbildes Heinrichs (der sich als eine autonome Persönlichkeit entwirft) durch das perspektivisch aufgelöste Menschenbild moderner Wissensdiskurse.7 Gerhart von Graevenitz findet im Grünen Heinrich eine pantheistische Metaphysik, die den Tod des Einzelnen als Rückkehr in die Ewigkeit der Natur begreift und somit, statt des individuellen, das allgemeine Schicksal zum Stoff des Erlebens macht; demgemäß stellt sich das Erlebnis kaum als originelle Sinnkonstitution des Individuums dar, sondern meist als ritualisierende Verarbeitung mythischer Szenen.8 Ob die konsequent durchgeführte psychoanalytische oder die ebenso konsequente diskursanalytische Ausmusterung des persönlichkeitsbildenden Erlebens den Blick auf den Grünen Heinrich nicht aufs Neue verengt, wäre zu bedenken. (Ein Bedenken, das den großen Ertrag beider Methoden nicht mindern will und kann!) Dagegen scheint mir der Ansatz von Graevenitz geeignet, vom kollektiven Erlebnissubstrat der Natur- und Todesgebundenheit und vom kollektiven Bedürfnis nach Ritualisierung des Erlebens ausgehend die >bedingt persönlichem Erlebnisse des Helden zu deuten. Unstreitig sind ja die Erlebnisse des grünen Heinrich oft mit hoher sprachlicher Differenziertheit und Prägnanz gestaltet. Der folgende 4
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So z.B. Erwin Ackerknecht: Gottfried Keller. Geschichte seines Lebens. Konstanz41961, S.41f. Vgl. Wolfgang Rohe (Anm. 1), S.85-87. Wolfgang Rohe (Anm. l), S.231. Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben. Frankfurt/M. 1981, S.12-249: »Der grüne Heinrich oder der Ich-Schreiber«; Gert Sautermeister: Gottfried Keller, Der grüne Heinrich (1854/55; 2.Fassung 1879/80). Gesellschaftsroman, Seelendrama, Romankunst. In: Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen. Hg. von Horst Denkler. Stuttgart 1980, S.80-123. Siehe Anm. l. Gerhart von Graevenitz: Mythologie des Festes- Bilder des Todes. Bildformeln der Französischen Revolution und ihre literarische Umsetzung. (Gustave Flaubert und Gottfried Keller). In: Walter Haug/Rainer Warning (Hg.): Das Fest. München 1989, S.526-559.
Immanente Theorie und Ästhetik des Erlebens in Kellers »Der grüne Heinrich«
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Beitrag entspringt dem Gedanken, man sei es Keller schuldig, nach der originären Ästhetik des Erlebens im Grünen Heinrich zu fragen. Diltheys Version von >Erlebnis< kann dabei keine Rolle spielen, weder als theoretische Vorgabe noch als Grund, den Erlebnis-Begriff gänzlich zu meiden. Im übrigen geht es mir um einen Aspekt des Werks, nicht um einen neuen Generalschlüssel oder gar eine Gesamtinterpretation.
***
Die Untersuchung muß sich von der sehr entschiedenen, im Effekt fast exklusiv wirkenden Argumentation einiger der neueren Interpreten lösen, ohne sie >widerlegen< zu wollen. Nach Kaiser und Gert Sautermeister, die ähnlich argumentieren, wird Heinrichs/Kellers Welterfahrung durch ein Erlebnisklischee bestimmt, das er immer wieder verdrängen, in verkappter Gestalt aber ebenso oft durchmachen muß: Im Leben Kellers wie in der innerlich verwandten Geschichte seines Helden verrate sich, wie gesagt, ein ödipaler Konflikt, der hervortrete, sobald der Knabe nach dem frühen Tod des Vaters mit seiner Mutter und einem allzu hohen, daher ebenso geliebten wie unbewußt gehaßten Vaterbild alleingelassen sei; immer wieder sei der Dichter (und sein literarisches Abbild) innerlich dazu gezwungen, die Urszene zu wiederholen, d. h. alle für ihn bedeutsamen Männer als zugleich anziehende und abstoßende >VäterMütter< und, in der Liebe, als Rivalinnen der eigenen Mutter zu erleben. Die Folge für Keller alias Heinrich sei die Bindung an die Mutterwelt, namentlich die Hingabe an die Phantasie, der er sein Künstlertalent verdanke nebst der Unfähigkeit, die Wirklichkeit zu meistern. Heinrich scheitere auch an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die psychoanalytisch argumentierenden Interpreten sehen das bei Freud zeitlose ödipale Drama sozialgeschichtlich bedingt: Der frühe Tod des Vaters offenbare die Überforderung des Individuums in dem hochdifferenzierten, sektorisierten System der modernen bürgerlichen Gesellschaft, die sich persönlich-moralischer Gestaltung immer mehr versage; über den Einzelfall hinaus symbolisiere dieser Tod den Kompetenz- und Autoritätsverlust des Haus- und Familienvaters, der sich im 19. Jahrhundert vollzogen habe. Indem nun üblicherweise die Gestalt des überforderten Vaters postum in ein den Sohn überforderndes Vaterbild verzeichnet werde ein ideologisches Druckmittel, das den sozialen Kompetenzverlust des Mannes als persönliches Versagen des Sohnes brandmarkt - entstehe eine strukturelle ödipale Situation. Die beiden Interpreten, überzeugt von der Ursächlichkeit der sozialen Verhältnisse für die seelischen Leiden des Helden, entnehmen dem Grünen Heinrich eine vernichtende, in ihrer Schärfe dem Dichter jedoch unbewußte Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und Familie. Der psychoanalytischen Textinterpretation ist vorzuhalten, es gehe ihr eigent-
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lieh um die Psyche des Autors.9 Zur Sprache und zum literarischen Text zurückzuführen ist dagegen die Absicht Rohes, der die künstlerische Reflexion zeitgenössischer Wissensdiskurse im Grünen Heinrich behandelt. Rohe zeigt, wie die Diskurse über Natur, Recht, Ökonomie und Psychologie das Bild, das Heinrich von seiner personalen Ganzheit hegt, zersetzen; wie sie zugleich dem traditionellen, der Persönlichkeitsbildung gewidmeten ästhetischen Diskurs den Boden entziehen. So bezeuge die Laienaufführung des Teil,10 daß die ausführenden Bürger den klassischen Begriff des >autonomen< Kunstwerks als einer >idealen< Darstellung transzendentaler Freiheit nicht mehr verstehen, da sie der egoistischen Nutzung empirischer Freiheiten nachgehen." Mit den psychoanalytisch argumentierenden Interpreten stimmt Rohe in dem Befund überein, daß der Grüne Heinrich Persönlichkeitsbildung durch ästhetisches Erleben unter bürgerlichen Lebensverhältnissen als unmöglich oder vergeblich darstellt. Daß diese Enttäuschung im Leben Heinrichs zentrale Bedeutung hat, ist unbestreitbar. Doch in Bezug auf das Erleben wiederhole ich mein Bedenken: Der Sinn des persönlichen Erlebens erschöpft sich nicht im neuhumanistischen Gedanken der ganzheitlich-ästhetischen Persönlichkeitsbildung oder ihrer Rezeption durch Dilthey. - Und in Bezug auf die Gesellschaftskritik verwundert die Ausschließlichkeit, mit der man neuerdings die Kritik des Romans an der b ü r g e r l i c h e n G e s e l l s c h a f t hervorhebt. Zahlreiche Aussagen des Romans richten sich gegen die v o r b ü r g e r l i c h e n Verhältnisse der Restaurationszeit, gegen h i n t e r l a s s e n e Kulturschäden des Absolutismus und einer freiheitsfeindlichen religiösen Erziehung. Solche Äußerungen eines kritischen bürgerlichen Optimismus stammen klar aus dem geistigen Klima des Vormärz. Gewiß sind sie nicht leicht mit der nachmärzlich desillusionierten Stimmung zu vereinbaren, die den Grünen Heinrich in seinen tieferen Schichten prägt. Wenn es um die immanente Theorie und Ästhetik des Erlebens im Grünen Heinrich geht, sind die vormärzlichen Gedankenelemente des Romans nicht zu vernachlässigen. Die Kritik der Junghegelianer am Obrigkeitsstaat klingt immer wieder an.12 Doch was hat Kritik mit der entgegengesetzten Einstellung des Erlebens zu tun? Zunächst dies, daß die Junghegelianer die Einseitigkeit ihrer kritischen Sendung als den Fluch ihrer Zeit empfanden und sich nach dem Leben in
Sie geht von p s y c h i s c h e n Gesetzmäßigkeiten und Strukturen aus, um einen l i t e r a r i s c h e n T e x t psychoanalytisch zu rekonstruieren. Namentlich Kaiser privilegiert gewisse Assoziationen, die als psychisch gesetzmäßig gelten. Ja, er interpoliert Bezüge, die er nach seinem Verständnis aus einer Tiefenschicht >nur< an die Oberfläche bringt. Wo im Grünen Heinrich z.B. das Wort »Natur« steht, wird uns der Zusatz »Mutter Natur« selten geschenkt. Im 2. Buch, 8. Kapitel des Romans, im folgenden zit. II/8 nach Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Erste Fassung. In: G.K.: Sämtliche Werke. Hg. von Jonas Fränkel. Bd.16-19. Erlenbach-Zürich-München 1926, hier Bd.17. Wolfgang Rohe (Anm. 1), S.63. - Zu dem im wesentlichen gleichen Befund kommen G. Kaiser und Sautermeister, die allerdings nicht die Heterogenität der Diskurse anführen, sondern die zunehmende Unvereinbarkeit der politischen, ökonomischen und musischen Rolle des Bürgers. Sie wird z.T. personalperspektivisch und historisch relativiert, aber nicht mit solcher Konsequenz, daß sie nur als historisch gewordene Ideologie figuriert.
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glücklicher >Unmittelbarkeit< sehnten. Sie kämpften für politische Freiheit, die zunächst die geschichtliche Selbstverwirklichung der Nation, also eine politische Gründerzeit herbeiführen sollte. Das Ziel wurde von Wortführern wie Georg Gottfried Gervinus, Arnold Rüge, Friedrich Theodor Vischer und dem mit Keller befreundeten Hermann Hettner auch ä s t h e t i s c h formuliert: Sie hegten die Vision vom freien Bürger, dessen Wille, Wort, Tat und Gestalt wie in der idealen griechischen Polis zur >plastischen< Einheit von Wesen und Erscheinung verschmelzen.13 Der Gedanke der utopischen Konvergenz von Freiheit und Schönheit erinnert an Schiller. Doch für diesen war das Erlebnis der Kunstschönheit erzieherische Voraussetzung der politischen Freiheit, während die Junghegelianer glaubten, daß Kunst vor, d.h. o h n e Freiheit nur eine fragwürdige Schönheit hervorbringen könne. Die Kultur im Obrigkeitsstaat - Erziehung, Mode, Konversation, Kunst, Literatur, Philosophie und politisches Wesen - galt ihnen durchaus als krank und verstümmelt: Dem Wollen und Denken der Untertanen werde das Recht auf Verwirklichung bzw. das Recht auf Öffentlichkeit vorenthalten, der Gedanke sei auf sich selbst zurückgeworfen, zu gestaltloser Reflexion verkümmert, und wo man öffentlich spreche oder schreibe, müsse man das Wort verklausulieren. Die Kunstund Literaturkritik der Junghegelianer zog den Schluß, das Leben im Obrigkeitsstaat biete der Kunst keine würdigen Gegenstände; zuerst müsse man geschichtlich handeln< (getarnter Ausdruck für: das politische System ändern), dann könne man wieder dichten. Ich werde darauf zurückkommen, daß Teile der ersten Fassung des Grünen Heinrich, wie die Malereikapitel, von der ästhetischen Staats- und politischen Kunstkritik der Junghegelianer geprägt sind. Die wichtigste Anregung durch vormärzliches Denken kommt für den Verfasser des Grünen Heinrich von Ludwig Feuerbach. Dieser betrieb >Kritikfeuerbachschen< Gedankenschritt zu spekulieren, weil ich überzeugt bin, daß Gottfried Keller auf seine Art diesen Schritt getan hat. Er hat ein eigentümliches Interesse am Ritualleben und dem darin Gestalt findenden Erlebnisbedarf entwickelt. Nicht der kirchliche Ritus im kirchlichen Raum, wohl aber religiös bedeutsame und andere brauchtümliche Handlungen sowie Volksfeste, Spiele und mythische Szenen fesselten ihn. Durch sein anthropologisches Interesse am Ritualverhalten und Ritualerleben beide sind im idealtypischen Verständnis des Rituals nicht zu trennen - gewinnt Keller eine Perspektive auf das menschliche Erleben, die sich deutlich von der Diltheyschen unterscheidet. Dilthey analysierte das i n d i v i d u e l l e Erleben, vorzüglich das Erleben des Genies. Keller interessierte sich allgemein für kulturell erzeugte ästhetische Spiegelungen des Menschlichen und für ihre Rückwirkung auf den Betrachter. Dazu gehört an erster Stelle die veredelnde Wirkung humanistischer Kunstwerke, und so steht Keller in der Tradition der klassischen deutschen Ästhetik, von der auch Dilthey ausgeht. Ein besonderes Interesse widmete er jedoch der Selbstwahrnehmung des Menschen im Rahmen jener kollektiven, geregelten, gestalteten, keinem praktischen Zweck dienenden, oft feierlichen oder festlichen Handlungen, die man Rituale nennt. Wie gegenüber Kunstwerken faszinierte ihn hier die Paradoxie ästhetischer Selbstspiegelung: Man ist unmittelbar und ganz dabei und s i e h t sich dennoch in einer gestalteten, gleichsam choreographierten Handlung integriert. Dieses Ganze der rituellen Handlung grenzt sich gestalthaft von der Welt des Zufälligen und Gewöhnlichen ab und erfaßt >mein< unmittelbares Dabeisein als ein geordnetes und gesetzliches. Aber welches Gesetz erlebe >ich< im Ritual? Hier ist der Punkt, wo Keller von der imaginären Schiene k l a s s i s c h e Ä s t h e t i k - D i l t h e y s c h e r E r l e b n i s b e g r i f f abweicht. Wenn aller Ursprung der Kultur, feuerbachianisch gedacht, in der N a t u r des Menschen liegt, dann ist das Ritual ursprünglich die Erlebnisweise, durch die sich der Mensch der wahren Bedürfnisse seiner Natur vergewissert. Es ist die kollektive Erlebnisweise der Menschheit, der Völker. Und es ist die Erlebnisweise, die den Einzelnen aus der Exzentrizität zum Grund seiner Existenz zurückführt. Dabei kann das Kollektiv zwischen dem Einzelnen und der Natur vermitteln: das Volk trennte. Bejaht wird die Frage von Ernst Otto (Die Philosophie Feuerbachs in Gottfried Kellers Roman Der grüne Heinrich. In: Weimarer Beiträge 6 (1960), S.76-111), der den frühen Feuerbach nicht berücksichtigt; anders Graevenitz ([Anm.8], S.556f.). Siehe unten, S.59f.
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mit seinem Brauchtum, seinen Festen; die Mythen als kollektive Erinnerungen der Kulturmenschheit; die Religionsgemeinschaft. - Die letztere bewahrt jedoch, nach dem an Feuerbach geschulten Urteil Kellers, die natürlichen und ursprünglichen Erlebnismuster nur in Varianten auf, die der Natur des Menschen entfremdet sind. Auch das brauchtümliche Ritualverhalten des Volks, das ja >nur< ein geschichtliches Kollektiv ist, präsentiert die Bedürfhisse der menschlichen Natur nicht selten in entstellter Form. Um die voranstehende Hypothese durch Beispiele zu verdeutlichen, verweise ich zuerst auf einen >idealen< Fall von kollektiver Selbstfindung und Selbstbestätigung im Ritual: Im Fähnlein der sieben Aufrechten wird ein Volksfest geschildert, dessen Ritualästhetik die Teilnehmer erleben läßt (und dem Leser suggeriert), was ein Volk >natürlicherweise< ist: ein gegliedertes Ganzes, worin jeder eine vielfache aber ungespaltene Identität findet: in Bund und Kanton, in Verein und Familie, als Freund, Nachbar und Kamerad. Das Volk stellt sich als »Freundschaft in der Freiheit« dar. - Man kann allerdings einwenden, die Ritualästhetik des Fähnleins sei ein Erzeugnis der Kunstästhetik, die sich der fiktiven Festinszenierung bediene, um ihr traditionelles Verklärungsangebot umzusetzen. Ihm wird tatsächlich vollkommen entsprochen. Dennoch hat Keller mit dem Fähnlein bewußt dem vormärzlichen Glauben gehuldigt, gründende Taten des Volkes seien die substantielle Voraussetzung zunächst der volkstümlich-festlichen, sodann auch der künstlerischen Verklärung.15 Die Folgen einer unfreien, unnatürlichen Volksbildung für die Ritualisierung des Erlebens sehen wir in den Drei gerechten Kammachern. Züs Bünzlin - ein Todesengel mit grünen Nixenaugen, Herrin über eine Schublade nebst vielen Schachteln und Schächtelchen - pflegt die Erinnerungsstücke früherer Verehrer zwanghaft in diesen Behältnissen einzusargen. Den einzigen wirklichen Liebesbrief, den sie besitzt, bestattet sie eigens unter einem meergrünen, einem nixengrünen Gazeschleier. Auch ihre gegenwärtigen Verehrer werden mit altklugen Reden zugedeckt und mundtot gemacht. Das zwanghafte Verhalten der Jungfer Züs ist offenbar nur der Ausdruck einer Volkskultur, die alle großen Menschheitsthemen miniaturisiert und einkapselt: In Züs' Schublade finden sich Zeugnisse davon: eine Maria in einer Nuß, das Leiden Christi in einem Kirschkern, eine Sammlung von Lebensregeln in einem truhenartig beschlagenen Prachteinband und ähnliches. Züs selbst ist sozusagen ein Beinhaus der Volkserziehung: Was sie an Gemeinnützigem und Erbaulichem von sich gibt, ist tot, ohne Sinn und Zusammenhang. Fiktive Rituale im Grünen Heinrich wurden von Graevenitz behandelt. In dem Aufsatz Mythologie des Festes - Bilder des Todes erörtert er die Tradition festlich inszenierter Revolutionsmythen und, in einem besonderen Abschnitt, den Stellen-
Hierzu Werner Hahl: Realismus und Utopie in den [1850]er Jahren. Zu Gottfried Kellers Fähnlein der sieben Aufrechten. In: Literatur in der sozialen Bewegung. Aufsätze und Forschungsberichte zum 19. Jahrhundert. Friedrich Sengle zur Emeritierung. In Verbindung mit Günter Häntzschel und Georg Jäger hg. von Alberto Martino. Tübingen 1977, S.327-354.
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wert der nicht mehr revolutionär gemeinten Mythologie im Grünen Heinrich.^ Eine Sinnebene der mythologischen Figuration vermittle zwischen zwei weiteren Sinnebenen des Werks, der >realistisch< erzählten Oberfläche der Lebensgeschichte und dem von Keller vorausgesetzten metaphysischen Seinsgrund. Letzterer entspreche der e w i g e n N a t u r beim frühen Feuerbach,17 die dem Individuum das Leben gibt und nimmt, ihm daher als der allgemeine Tod hinter dem individuellen Tod erscheint. Auf der Ebene der mythologischen Figurationen ist Heinrichs Leben vielfach mit dem Tod verknüpft. Namentlich sein Malerleben ist, wie Graevenitz zeigt, als Leidensgeschichte und Martyrium inszeniert. Nicht einzelne mythische Rollen tragen den Sinn seiner Biographie; sie vereinen sich vielmehr zur bildlichen Repräsentanz des ambivalenten Seinsgrundes.18 Das »Todesgefälle«19 des Grünen Heinrich ist öfter bemerkt worden. Wenn es so ist, daß dieses Werk das Gefühl der Todesnähe in mythologischen Bildern faßt und rituell inszeniert, dann stellt sich die Frage nach der Hermeneutik des Rituals. Dieses ist nicht nur dargestellte Allegorie (die etwa sagen würde: Alles Leben ist dem Tod verfallen, Leben ist bloßer Schein). Reduktion auf das Allegorische, also auf den logisch faßbaren Bildsinn, nähme dem Ritual den Vollzugs-, Erlebnis- und Verarbeitungscharakter. Zu verarbeiten ist im Grünen Heinrich die schwer faßliche Ambivalenz des Todes, der für Keller wie für den frühen Feuerbach das wirkliche Ende des Individuums markiert, zugleich aber dessen liebende Hingabe an das ewige Leben der Gattung darstellt.20 Die christliche Religion macht es vor, wie durch Ritualisierung ambivalenter Todeserfahrung, Todesahnung und Todesbetrachtung eben diese Ambivalenz (im christlichen Verständnis: der Widerspruch zwischen der wirklichen Erfahrung des Todes und der Verheißung persönlicher Unsterblichkeit) offengehalten wird für die Bewältigung im Glauben.21 Auch im Grünen Heinrich wird die Ambivalenz des Todes (im feuerbachschen Verständnis: das Aufgehobensein des sterblichen Individuums im allgemeinen Leben der Natur) durch Ritualisierung offengehalten und die Wahrnehmung der paradoxen Lebensbotschaft des Todes eingeübt. - Ob man Kellers Todeskult tiefenpsychologisch aus seinem persönlichen Todestrieb herleiten soll, steht dabei nicht zur Entscheidung. Bewußt wollte Keller, wie auch der ihm ästhetisch nahestehende
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Bediente sich die revolutionäre Propaganda traditionell der mythologischen Inszenierung, um der verachteten Gegenwart das zukunftweisende Beispiel einer idealisierten Antike vorzuhalten, so schwindet im Grünen Heinrich die Hoffnung auf Erneuerung; es bleibt die Erinnerung an einen geschichtsphilosophischen Traum (Gerhart von Graevenitz [Anm.8], S.549-515). - Keller hat allerdings das geschichtsphilosophische Drei-Stufen-Modell gelegentlich wiederbelebt; siehe die zuvor gemachte Bemerkung zum Fähnlein der sieben Aufrechten, das Keller in einer dem Vormärz vergleichbaren revolutionsschwangeren Zeit schrieb. Gerhart von Graevenitz (Anm. 8), S.556f. Ebd., S.554-558. Gert Sautermeister (Anm. 6), S.92. Ludwig Feuerbach: Todesgedanken. (1830. Originaltitel: Gedanken eines Denkers über Tod und Unsterblichkeit.) In: L.F.: Sämtliche Werke. Neu herausgegeben von Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl. Bd.1-2. Unveränderte Auflage 1960. S.(l)-90. Ähnliches läßt sich über die rituelle Bewältigung der Ambivalenz der religiösen Furcht sagen. Siehe die Literaturangabe in Anm.39.
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Berthold Auerbach, die Kunst aufwerten, indem er das Tragische aufwertet.22 Der tragische Tod im Kunstwerk ist für Keller ein Stück zur pantheistischen Erbauung. Selbst der Tod eines völlig Gebrochenen, wie Heinrich in der ersten Fassung, kann im Licht von Feuerbachs Todesgedanken erbaulich gelesen werden,23 so wenig man das heute nachvollziehen mag. Übrigens wird man die Ritualisierung des Todes im Grünen Heinrich ebenso wie seinen sonstigen Erlebnisbedarf nicht monoton auf das Verhältnis des Seins zum metaphysischen Seinsgrund beziehen dürfen; entscheidende Modifikationen ergeben sich aus der historischen und der entwicklungspsychologischen Situation des Helden. So ist der Kult, den Heinrich mit der toten Geliebten, der keuschen »Narzisse«24 Anna treibt, Ausdruck eines jugendlichen Narzissismus, den m a n kritisieren kann, den er jedoch allererst erleben, erlebend objektivieren muß. Wenn er die Tote durchs eingesetzte Glasfensterchen im Sarg beschaut und ihr ewige Treue schwört, so ähnelt er Narziß, der seinem Spiegelbild in der Wasserquelle verfallen war; nur daß Narziß seine eigene Schönheit liebte, während Heinrich in Anna seiner eigenen jugendlichen Reinheit begegnet, die er durch den Treueschwur für Anna verewigen möchte. Die Neigung des Jugendlichen, sich gegen den eigenen Entwicklungsdrang zu sträuben und zu bewahren, ist an sich natürlich, wenn sie auch in Heinrich übermäßig stark und zusätzlicher psychoanalytischer Erklärung bedürftig sein mag. Man kann selbstverständlich nicht umhin, die Episode mit dem Kult um die tote Anna als ein Stück Romantikkritik lesen: Das Verhältnis des Novalis zur verstorbenen Sophie von Kühn wird klar nachgestellt, und die Pointe, daß es viel leichter sei, einer toten und idealen, als einer lebenden und realen Geliebten ge22
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Vgl. Berthold Auerbach: Schrift und Volk. Grundzüge einer volkstümlichen Literatur, angeschlossen an eine Charakteristik J.P. Hebel's. Leipzig 1846.- Auerbach forderte und pflegte die tragische Dorfgeschichte, Keller die tragische Novelle. Seine Bewunderung für Gotthelfs Elsi die seltsame Magd und sein unglücklicher Ehrgeiz, eine Tragödie zu schreiben, sind in diesem Zusammenhang verständlich. Dieser Schrift zufolge ist der Tod eine freie sittliche Tat des a 11 g e m e i n e n W i 11 e n s, der im Individuum wirkt und der, wenn ihm der individuelle Wille zu widersprechen oder das sittliche Bewußtsein zu fehlen scheint, durch E r k e n n t n i s als der wahre Wille des Menschen zu ent-decken ist. Der Tod stellt die Hingabe des Individuums an den Geist der Menschheit dar und ist »die letzte Bewährung der Liebe« (Ludwig Feuerbach [Anm.20], S. 18), - Mit dem gebotenen Vorbehalt gegen die Selbstinterpretation eines Autors sei erinnert an den Brief Kellers an Hermann Hettner vom 25.6.1855. Der Tod Heinrichs, vermutet Keller, werde auf viele nicht erbaulich wirken. »Das rührt daher, weil das letzte Kapitel nicht ausgeführt ist und die Moral eigentlich nur zwischen den Zeilen gelesen werden kann, was hoffentlich mit der Zeit geschehen wird [...]. Dies Schlußkapitel sollte ursprünglich etwa drei Kapitel stark werden und eine förmliche Elegie über den Tod bilden, indem hauptsächlich das aufgegebene Bewußtsein der persönlichen Unsterblichkeit dem Heinrich das Weiterleben und Gewissen schwer macht, da die Mutter dies einzige, einmalige und unersetzliche Leben für ihn verloren«. (Jürgen Jahn (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Gottfried Keller und Hermann Hettner. Berlin - Weimar 1964, S. 136f; vgl. auch den Brief vom 5.1.1854.) Daß Heinrich aus Verzweiflung sterben kann und nicht mit bequemen Tröstungen weiterlebt, sollte demnach wohl als erbaulich und moralisch empfunden werden. II/2:Bd.l7,S.41.
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recht zu werden, entgeht dem Leser nicht. Aber die kulturkritische Implikation der Episode hebt ihre erlebnismäßige Bedeutsamkeit im Rahmen von Heinrichs Jugendgeschichte nicht auf. Diese Doppelgleisigkeit ist ein Grundzug des Grünen Heinrich, wie ich im weiteren zeigen möchte. Am Schluß meiner Vorüberlegungen zur immanenten Theorie und Ästhetik des Erlebens im Grünen Heinrich resümiere ich die Gesichtspunkte, die als Ausgangspunkt für einige beispielhafte Textanalysen dienen können: 1. Die junghegelianische >Kritik< ist ein polemisches und polarisierendes Denken, das seinem Selbstverständnis nach auf eine bereits zersetzte Kultur reagiert. Die Junghegelianer geben die Hoffnung auf eine neue Unmittelbarkeit des Erlebens nicht auf, projizieren sie aber in die Zeit n a c h der Änderung des politischen Systems. Ihre Sendung bleibt die Kritik. - Beträchtliche Passagen des Grünen Heinrich setzen die junghegelianische Kulturkritik voraus und reproduzieren sie teilweise. 2. Feuerbach erkennt im Gegenstand seiner Kritik, nämlich der zur Herrschaft über den Menschen dienlichen Religion und Theologie, ein Zeugnis natürlicher, aber entfremdeter menschlicher Bedürfhisse - ein Zeugnis, das kritisch für die philosophische Anthropologie zurückgewonnen werden kann. 3. Keller überträgt das anthropologische Interesse, das Feuerbach dem religiösen Glauben und der theologischen Lehre entgegenbringt, auf das Ritualverhalten und Ritualerleben, was seiner ästhetischen Wahrnehmung und künstlerischen Begabung entspricht. Sein Gedanke scheint zu sein: Wenn aller Ursprung der Kultur in der Natur des Menschen liegt, dann ist das Ritual ursprünglich die kollektive Erlebnisweise, die den Menschen aus der Exzentrizität der Einzelexistenz zu den wahren Bedürfnissen seiner menschlichen und zum Seinsgrund der »ewigen« Natur zurückführt. Eine Hauptaufgabe zur rituellen Bewältigung ist die Einübung in die Erkenntnis des Todes als Ende des individuellen Lebens und als Hingabe an das Leben der Menschheit, der Natur. Eine weitere Aufgabe zur rituellen Bewältigung ist der innere Konflikt, den der Mensch besonders im Übergang von einem Lebensabschnitt in den anderen zu bestehen hat: der Konflikt zwischen persönlicher E n t w i c k l u n g und B e w a h r u n g der Persönlichkeit. Auf entsprechende Komplexe aus dem Grünen Heinrich gehe ich nun in zwangloser Auswahl ein.
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Das zweite Buch behandelt Heinrichs erstes Erleben der Liebe, der Natur und der Kunst. In allen diesen Bereichen ist sein Erleben zwiespältig. Die Ursache dafür ist nicht nur private Gefühlsverwirrung, ist auch nicht der Gegensatz zwischen der
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Prosa der Verhältnisse und den Ansprüchen des jugendlichen Herzens. Vielmehr tut sich in Heinrichs Erleben derselbe Riß auf, der das zeitgenössische System ästhetisch-symbolischer Formen spaltete: Unvermittelt empfindet Heinrich >klassisch< und >natürlich< oder aber >romantisch< und >spirituelldie Spaltung des ästhetisch-kulturellen Diskurses hat das Empfindungsleben des Helden angesteckt) oder als Diskursabhängigkeit im Vermittlungsbereich des Erzählers (>die Deutungsabsicht des Erzählers ist die »Ursache« dafür, daß Heinrichs Erlebnisse die ausgeprägte Zwiespältigkeit des ästhetischen Codes der Restaurationszeit zeigenromantischerKlassische< und das >Romantische< zu versöhnen, etwa um die humanistisch gebildete Elite des Bürgertums dem Staat der Restauration zu verbinden (Siehe Wolfgang Frühwald: Der König als Dichter. Zu Absicht und Wirkung der Gedichte Ludwigs des Ersten, Königs von Bayern. In: DVjs 50 [1976], S. 127-157) oder um die Ausdrucksmöglichkeiten der Dichtung zu erweitem (z.B. in Grillparzers Trilogie Das goldene Vlies). Solchen Versuchen ging jedoch die tiefgreifende Polarisierung des Kulturbewußtseins voraus. Sie tritt Heinrich zuerst »wie eine reizende Pomona« entgegen, später in einer nächtlichen Badeszene als nackte, marmorweiße Venus. (II/l: Bd.17, S.11; auch III/2: Bd.18, S.41^3; HI/3: Bd. 18,8.87-89.) 11/3: Bd.17, S.90. Einen Überblick der Vorstellungen, durch die Heinrich Anna zu einer Art Kirchenheiligen macht, bei Gert Sautermeister (Anm.6), S.96f. II/7: Bd.17, S.180-191.
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weils auftreten. Auf Judith trifft der Held einmal nachts in der Wildnis des Flußtals zwischen Felswänden, die im Volk die »Heidenstube« heißen; Judith badet konsequent im Sinn der antithetischen Kultursymbolik - nackt, heidnisch nackt, und ihr Leib leuchtet im Mondlicht wie weißer Marmor: ein »Marmorbild«, um mit einer Formulierung Eichendorffs die Assoziationskette des KlassischHeidnischen fortzusetzen und sie zugleich ins Licht christlich-abendländischer Versuchungsängste zu rücken. Judith als nächtliche Venus erinnert auch an Heinrich Heines Abhandlung über Griechenlands »Götter im Exil«, die nach der Dämonisierung der Natur in dem Glauben und in den Sagen des christlichen Volks zu nächtlichen Schreckteufeln geworden seien. Der grüne Heinrich flieht, als die schöne Nackte auf ihn zugeht. Er denkt zwar nicht an Götter und Teufel, aber der Leser versteht den kulturgeschichtlichen Hintergrund seiner Flucht. Gern begegnet ihm Judith als Pomona. »Ich habe schöne Äpfel«, sagt sie einmal heidnisch-naiv. Sie pflückt die Äpfel - nun doch eher eine versuchende Eva - in ihrem »Garten« von einem Baum, »dessen Äste und Blätter edler gebaut schienen als die der übrigen« und der tatsächlich ein Baum der Erkenntnis ist. Denn als sie nun einen nach dem anderen der glänzend frischen Äpfel anbiß, um ihn Heinrich weiterzureichen, wurde dessen Mund so süß erfrischt, daß ich mich zwingen mußte, Judith nicht zu küssen und die Süße von ihrem Munde noch dazu zu nehmen. Sie sah es, lachte und sprach: »Nun sage: bin ich dir lieb?« Sie blickte mich dabei fest an, und ich konnte, obgleich ich jetzt lebhaft und bestimmt an Anna dachte, nicht anders und sagte Ja!30
Heinrich gewinnt unter der Macht der Urszene eine sinnliche Erkenntnis, und es hilft dagegen kein Gedanke an Anna, die sich »lebhaft und bestimmt« vorzustellen sucht. Aber auch Anna hat ihre rituellen und mythischen Szenen, in denen s i e die Herrscherin ist: Das wilde Flußtal, wo man auch Schlangen und Raubvögeln begegnet, führt wie ein rituell vorgeschriebener Weg der Prüfung in die fromme Welt Annas hinüber: an einen kleinen See, der wie die p i c t u r a eines barocken Emblems den Himmel und den Segen der Felder sinnreich spiegelt. Dort liegt das reinlich weiße, sonntäglich feierliche Haus des Schulmeisters, eigentlich ein Tempel! Wie eine Tempeldienerin begrüßt Anna die Ankommenden mit ihrem Glockenstimmchen und mit feierlichen Anstandsbezeigungen. Die Malerei auf der Hausorgel stellt einen paradiesischen Tierfrieden ohne Schlange dar! Solche Schilderungen sind ein Echo auf die allegorischen Personenkonstellationen und die emblematischen Landschaften der Romantik wie auch auf das romantische Thema vom verlorenen und wiederzufindenden Paradies. Obwohl sich der Erzähler an manchen Stellen mit dem Eifer eines eingefleischten Hegelianers über die >faule< und >krankhafte< Romantik ausläßt,31 impliziert die >klassische< bzw. >romantische< Stilisierung von Heinrichs Jugenderlebnissen oftmals keine oder jedenfalls keine vordergründige Parteinahme im vormärzlichen 30 31
HI/2: Bd.18,8.43. Siehe unten Anm.37.
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Kulturkampf. Heinrich erlebt die fromme Atmosphäre im Hause Annas wie eine Glücksverheißung. Daß er seine Geliebte im Stil der Ikonen porträtiert, verrät allerdings seinen Hang zu einem romantisch-schwärmerischen Todeskult; und daß der Schulmeister das Porträt schätzt, zeugt von der unbewußten Naturverachtung dieses frommen Mannes. Doch im Wesen der ebenso frommen und keuschen Anna deutet nichts auf Unnatur oder Zwang gegen die eigene Person. Ja, wenn die richtige Stunde da ist, scheut Anna nicht die erotischen Spiele, mit denen ein sozusagen heidnisches Brauchtum die Geschlechterbeziehung der Jugendlichen regelt. Das Bohnenputzen,32 bei dem es Küsse zu gewinnen gibt, zeigt eine andere, aber ebenso authentische Anna wie die Hausandacht: Unter der lässigen Aufsicht der alten Katherine, einer sagen- und schwänkekundigen Haushälterin, verwandelt sich das stille Mädchen um Mitternacht in eine unbändige »Hexe«, die sich im Schutz des Spiel-Rituals einer glücklichen erotischen Ausgelassenheit erfreut. Darin liegt wohl eine Wertung des Autors, die besagt, daß die volkstümlichen Bräuche den Menschen von Seiten kennen, welche die Religion gerne unterdrückt. Immerhin gelingt hier, unter dem Dach des Schulmeisters, die erotische Annäherung, die in wilder Natur den unreifen Jüngling geängstigt hatte und die auch Anna zu diesem Zeitpunkt an keinem anderen Ort gewagt hätte. Man kann die Folgerung ziehen: Keuschheit und Sinnlichkeit, von den Ideologen gerne einander entgegengesetzt und zum Programm der einen oder anderen Partei erkoren, lassen sich vereinbaren, wenn der persönliche Impuls im ritualisierten Rollenspiel ausgelebt wird. Auf den Kulturkampf der Zeit bezogen hieße dies, daß die >klassische< und die >romantische< Erlebnisweise jenseits der Ideologien in der menschlichen Natur wurzeln und daß sie, der Dialektik der geschlechtlichen Reifung gemäß, in einem Spannungsverhältnis, nicht in einem Gegensatz zueinander stehen. Die zwiespältige Empfindungsweise hat, wie gesagt, ihren Sitz nicht allein in Heinrichs Liebesleben. Das Erlebnismuster der Doppelliebe wiederholt sich beispielsweise in der Faszination des jungen Künstlers durch zwei gegensätzliche malerische Sujets. Zuerst wählt er eine Buche, einen majestätischen Baumriesen, der wie ein alter Volkskönig" aus den Reihen der Seinen hervorzutreten und den Anfanger zum Kampf herauszufordern scheint. Dieser versagt vor dem mächtigen Baum ebenso wie vor der reifen Judith. Bescheiden wendet er sich einer jungen Esche zu: Das Bäumchen hatte einen schwanken Stamm von nur zwei Zoll Dicke und trug oben eine zierliche Laubkrone, deren regelmäßig gereihte Blätter zu zählen waren und sich, sowie der Stamm, einfach, deutlich und anmutig auf das klare Gold des Abendhimmels zeichneten. Weil das Licht hinter der Pflanze war, sah man nur den scharfen Umriß des Schattenbildes, es schien wie absichtlich zur Übung eines Schülers hingestellt.
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II/3:Bd.l7, S.77ff. Der Wald steht in der politischen Symbolik des Vormärz für das Volk und seine naturrechtliche Gleichheit. In diesem Sinn sagt noch Karl Hediger als demokratischer Festredner imFähnlein der sieben Aufrechten, sein Verein sei »hervorgetreten aus dem Waldesdickicht der Nation an die Sonne des Vaterlandstages«.
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Auch ohne den Hinweis des Erzählers ist klar: Heinrich malt hier »eines jener frommen nazarenischen Stengelbäumchen, welche auf den Bildern der alten Kirchenmaler und ihrer heutigen Epigonen den Horizont so anmutig und naiv durchschneiden«.34 Die nazarenische Esche ist für Heinrich die Anna unter den Bäumen.33 Man kann die Ähnlichkeit im künstlerischen und erotischen Verhalten Heinrichs gewiß aus seiner Persönlichkeit entweder entwicklungs- oder tiefenpsychologisch erklären.36 Warum aber greift der Erzähler auf den ästhetischen Code der 1840er Jahre (in denen die Romanhandlung der ersten Fassung gipfelt und endet) zurück, um mittels dieses stark i d e o l o g i s i e r t e n und nach dem JargonBedürfnis der streitenden Parteien p o l a r i s i e r t e n Codes die psychischen Möglichkeiten eines Jünglings zu konstruieren? Wie man sieht, treten im Grünen Heinrich die kulturkämpferisch aufgeladenen Symbolreihen in ideologischer Schlachtordnung an: Pomona, nackt, m a r m o r w e i ß vs. H i m m e l s b o t e , I k o n e , w e i ß e s R ö c k c h e n mit h i m m e l b l a u e m Band usw. Will der Autor private Orientierungslosigkeit vom öffentlichen Zwist herleiten? Ja, auch! Er ergreift mittels Erzählerrede bisweilen heftig Partei gegen die spiritualistische Romantik.37 Er ironisiert seinen Helden, der sich ihr lange Zeit ergibt. Andererseits scheint er die ganze Endzeitrhetorik des Vormärz eben dadurch, daß er sie in eine private Jugendgeschichte einführt, zu ironisieren. In der privaten Geschichte verbinden sich d i e f e i n d s e l i g - g e g e n s ä t z l i c h e n Symbole oft zu paarigen Zeichen für a m b i v a l e n t e Erfahrung. Wie wir oben sahen: Anna tritt am Sonntagmorgen wie eine Novizin auf, um Mitternacht wie eine Hexe, und ist doch dasselbe natürliche Mädchen. Heinrichs Verstrickung in den Spiritualismus ist aus der Sicht des Demokraten Keller gewiß eine fatale Verirrung, aber sein Andachtsdienst vor dem nazarenischen Bäumchen ist nicht unnatürlich. Keller unterscheidet meines Erachtens zwischen einer schulmäßigen ideologischen Romantik, die sich feindlich gegen die Werte der Natur und der Humanität wendet, und einer Romantik des Gemüts, die ein natürliches Bedürfnis besonders des jugendlichen 34 35 36
11/2: Bd. 17, S.32f. Beide nennt der Erzähler an getrennten Stellen »Himmelsboten«: zu Anna siehe Anm. 28, zum Bäumchen siehe Anm. 34. In der biographischen Skizze von 1876 erklärte Keller »die beiden Frauengestalten« für »gedichtete Bilder der Gegensätze, wie sie im erwachenden Leben des Menschen sich bestreiten«. Auf Pubertätsfragen deutet auch Heinrichs Eindruck, die nazarenische Esche sei »wie absichtlich zur Übung eines Schülers hingestellt«. Heinrichs Neigung zu dem nazarenischen Stengelbäumchen, die dem Leser als entwicklungspsychologisch verständlich vermittelt wird, erfahrt eine scharfe und pauschale Verurteilung, wo diese Motivwahl als Folge einer naturwidrigen Glaubensdoktrin besprochen wird, z.B.: »Weil Heinrich auf eine unberechtigte und willkürliche Weise an Gott glaubte, so malte er unter anderem auch allegorische Landschaften und geistreiche magere Bäume, denn wo der wundertätige Spiritualismus im Blute steckt, da muß er trotz Aufklärung und Protestation irgendwo heraustreten. Der Spiritualismus ist diejenige Arbeitsscheu, welche aus Mangel an Einsicht und Gleichgewicht der Erfahrungen und Überzeugungen hervorgeht und den Fleiß des wirklichen Lebens durch Wundertätigkeit ersetzen, aus Steinen Brot machen will [...]«. (III/4: Bd. 18, S. 136.)
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Menschen ist. Heinrichs Natur bedarf zu ihrer Entwicklung sowohl die klassischnatürliche als auch die romantisch-spirituelle Erlebnisweise. Es gelingt ihm zwar nicht, beide zu vereinen; ja, die Spaltung neutralisiert seine Kräfte. Dennoch ist der unreife, gespaltene Jüngling mehr Mensch - warum wäre er sonst der Held? als irgendein kulturkämpferischer Ideologe seiner Zeit, der grundsätzlich keine Ambivalenzerfahrungen wagt, da sie im Parteiprogramm nicht vorgesehen sind. Romantikkritik? oder Schilderung eines natürlichen Erlebnisses, das natürlich bleibt, wie tief es auch in die >romantische< Ambivalenz von Liebe und Tod einführt? Vielleicht eine feuerbachianische Umdeutung der besagten Ambivalenz? Vor diese Fragen stellt uns die sehr elaborierte Erzählung von dem gemeinsamen Ritt Heinrichs und Annas:38 Nach der Mitwirkung an einer Theateraufführung stecken die beiden noch in den Gewändern eines dramatischen Liebespaares und sitzen auf den Pferden, die ihr Part verlangte. Durch Manipulation hatte es Heinrich dahin gebracht, daß seine heimlich Geliebte nichtsahnend diese Rollenpartnerschaft mit ihm teilen mußte. Nachdem nun Anna den Streich durchschaut und verziehen hat, reiten beide kostümiert durch eine wilde Gegend, empfinden das sprachlose Glück der ersten Liebe und küssen sich zum ersten Mal; dabei müssen sie erfahren, wie ihr aufwallendes Glücksgefühl in eine tödlichen Traurigkeit umschlägt, zu der noch der unheimliche Ort beiträgt, an den sie der Ritt getragen hat. Die Ingredienzien einer Romantikkritik sind gegeben: Das Spiel mit der Magie fremden Kostüms entgleitet der Kontrolle und wird mit einer Todeserfahrung bestraft. Ich lese die Stelle anders: Zu den bedeutsamen Voraussetzungen des Ritts gehört noch dies: Es ist Fastnacht, es herrscht der ritualisierte Ausnahmezustand mit besonderen erotischen Lizenzen. Der Tag ist ein Föhntag im Februar; auch die Natur macht eine befristete Ausnahme von der Regel und nimmt ein Stück Frühling vorweg. Heinrich und Anna, die Protagonisten der folgenden Szenen, sind im Übergang von der kindlich gehemmten Frühpubertät in das reifere Jugendalter und für die Föhnstimmung empfänglich, d. h. zu einem nicht unbedenklichen erotischen Entwicklungssprung bereit. Die ungewöhnlichen Kleider und Pferde tun das ihre, aber es ist vor allem die junge Natur selbst, die vorandrängt. Bestimmte Zeiten im Jahreslauf, eine bestimmte Ausstattung mit Gewändern, Reittieren u.a. sind häufig Elemente des Rituals, das sich von der Welt des Gewöhnlichen und Zufälligen abgrenzt und durch geregelten, gestalthaften Vollzug sich hervorhebt. Bei dem geschilderten Vorgang haben wir es allerdings nicht mit einem förmlichen Ritual zu tun; es handelt sich um eines jener intensiven Glückserlebnisse, die wie ein vertrauter, selbstverständlicher und dabei feierlicher, in sich geschlossener Vorgang ablaufen (obwohl die Situation, die erste Liebe, ganz neu ist). Der Erlebende hat augenblicklich das Gefühl, er werde kein Detail je vergessen, weil seine innere Erwartung vollkommen erfüllt wird. Die Erlebnisdisposition des reifenden Menschen ist hier die gestaltende Kraft, die aus den objektiven Gegebenheiten einige in das Erlebnis einschmilzt, andere offenbar überhaupt nicht wahrnimmt (z.B. den Fähr38
II/8: Bd. 17,8.273-280.
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mann oder die Passagiere, die doch wahrscheinlich mit dem Paar den Fluß überquert haben). So schafft sich das Erlebnis seinen eigenen Bann. Als der Ritt durch düsteres und ominöses Gelände fuhrt, hält der Bann an: Keines der beiden denkt auch nur einen Moment daran, sie könnten einen anderen Weg wählen. Sie scheinen nach einem Programm, das keiner Begründung bedarf, durch Hohlwege und Schluchten h i n d u r c h zu müssen. Wenn nun das Ritual eine »Bestätigungshandlung«39 ist, die durch hohe Gestaltqualität40 im ästhetischen Empfinden innere Bestätigung erzeugt; wenn man Kunstwerke so erlebt, daß man sagt, sie >verbürgen< sich selbst durch die Form - so beschreibt Keller im Ritt ein Erlebnis, das sich in ähnlicher Weise selbst bestätigt und verbürgt. Die Anwendung der Ritualästhetik auf die literarische Beschreibung eines privaten Jugenderlebnisses ist anthropologisch begründet: Die Reitenden vollziehen eine Folge von Ü b e r g ä n g e n über Grenzen, die die frühe Jugend von der reiferen Jugend und vom Erwachsensein trennen. Solche Übergänge sind gefährliche Phasen, die in vorindustriellen Kulturen durch »Übergangsriten«41 begleitet und geschützt werden. Unsere Reitenden finden nun zwar keinen Schutz durch gesellschaftlich institutionalisierte Übergangsrituale; dafür bannen sie ihren Entwicklungsdrang in ein Erlebnis, das wenigstens durch seine ritualästhetische Gestalt gegen eine verfrühte Konfrontation mit der Wirklichkeit immunisiert wird. Sie schmelzen in Liebe, aber nicht wirklich, sondern wie in einem Spiegel; sie erleben den Tod tief, aber nicht wirklich. Wie sie im ritualisierten Erleben vor dem letzten Ernst der Wirklichkeit bewahrt bleiben, so auch vor deren Banalität. Die beiden empfinden den vollen tödlichen Ernst des Glücks statt den bedeutungslosen Kitzel einer raschen Eroberung. Der erste beherrschende Erlebnisinhalt ist das neue überwältigende Liebesglück; die gestalthafte Gewähr des Glücks ist für die Reitenden der geschlossene B e z i r k , der sie gegen alles Unwesentliche, Kontingente abschirmt. Das Paar bildet die räumliche Mitte einer Ebene, die in einer von Bergen umrandeten Gegend liegt: im südlichen Halbrund begrenzen die Alpen, im nördlichen der Schwarzwald und der Hegau den Horizont. Der Föhnblick verleiht den unberührbar fernen, unbeweglich stillen Gebirgszügen eine magische Präsenz. Wie ein Bannkreis schließen sie das Paar ein. Nebeneinander dahingaloppierend und dennoch immer in der Mitte des weiten Runds sprechen die beiden kein Wort; das Gefühl des Gleichtakts und des gemeinsamen Schwebens verbindet stärker als Worte. Die Außengrenze des Ich verfließt in der balsamischen Luft. Der Galopp wird zur Ek-
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Siehe Edmund R. Leach: Ritual. In: International Encyclopedia of the Social Sciences 13 (1968), S.520-526. - Zu Begriff und Struktur des Rituals und zu einer Möglichkeit ihrer literaturwissenschaftlichen Berücksichtigung siehe auch Werner Hahl: Jeremias Gotthelf, der »Dichter des Hauses«. Die christliche Familie als literarisches Modell der Gesellschaft. Stuttgart 1993, S.157ff.; zum Ritual als Bestätigungshandlung siehe ebd., S.179-181. Gestaltqualität gehört wohl zum voll ausgeprägten Ritual, obwohl es viele durch Gebrauch abgeschliffene Rituale ohne Gestaltqualität gibt. Arnold van Gennep: Übergangsriten. (Les rites de passage. 1909) Aus dem Franz, von Klaus Schomburg und Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt - New York: Campus, Paris: Edition de la Maison des Sciences de I'Homme 1986.
Immanente Theorie und Ästhetik des Erlebens in Kellers »Der grüne Heinrich«
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stase. In einer zeitlich und räumlich klar begrenzten Sphäre, die jedoch keine Sonderwelt, sondern der heilige Raum des Nicht-Kontingenten ist, erlebt das Paar die Zeit- und Grenzenlosigkeit des glücklichen Augenblicks. Aber nun verändert sich der Gestalttyp des Erlebens in den Weg, wo sich schreckliche Prüfungen und Gefahren künden. Wie ein unendlicher Kranz schien sich die weite Welt um uns zu drehen, bis sie sich verengte, als wir allmählig bergab jagten, dem Flusse zu. Aber es war uns nur, als ob wir im Traume in einen geträumten Traum träten, als wir auf einer Fähre über den Fluß fuhren, die durchsichtig grünen Wellen sich rauschend am Schiff brachen und unter uns wegzogen, während wir doch auf Pferden saßen und uns in einem schönen Halbbogen über die Strömung weg bewegten. Und wieder glaubten wir uns in einen ändern Traum versetzt, als wir, am ändern Ufer angekommen, langsam einen dunklen Hohlweg emporklommen, in welchem schmelzender Schnee lag. Hier war es kalt, feucht und schauerlich [...].42
Passiv wie Novizen, die sich einem Initiationsritual unterziehen müssen, legen die Jugendlichen den Weg zurück; aus der vorigen, nicht realen, sondern ästhetisch präfigurierten Glückserfahrung, die daher ein »Traum« genannt wird, treten sie in einen »geträumten Traum« d. h. in eine fremdere Aura, wo sie wie gelähmt auf ihren Pferden sitzen, während sie den Boden unter sich zu verlieren scheinen. Die heimatliche Gegend verfremdet sich zu einem Abenteuerpfad, den der Leser als den mythischen Todesweg erkennt: Seine Attribute sind das Enge, Dunkle und Schaurige, der Abstieg in die Unterwelt und die ominöse Überfahrt über den Fluß. Die beiden Jugendlichen empfinden sehr intensiv die Aura, ohne schon einen Bezug zu ihrem eigenen Dasein herstellen zu können. Sie erreichen wieder die Höhe und durchqueren einen hohen Tannenwald. Die Stille und das gebrochen einfallende Licht evozieren die auratische Vorstellung vom >WaldesdomSich-Findenwohlbekannten Bezirke Es ist die sagenumwobene Heidenstube. Das Tal ist hier eng, tief, dunkel und ganz still. Der steile Felsen gegenüber glänzt hell im Sonnenschein und spiegelt sich im reinen Wasser. Hoch im Sonnenlicht ziehen blitzende Raubvögel, große Weihen in heiliger Dreizahl, unaufhörlich ihre Kreise, während das Paar am dunklen Ufer steht. Das Bild evoziert die Vorstellung, die drei feierlichen Weihen schwebten an der Stelle der Taube des Heiligen Geistes, und der ganze Ort sei eine Taufkapelle der Natur, worin das Liebespaar rituell >in den Tod getauft< wird - nicht, um den Tod christlich überwinden, sondern um ihn als Los des Individuums nach und nach annehmen zu können. Was sie noch nicht begreifen, ist der feuerbachsche Gedanke, daß der Tod die »letzte Bewährung der Liebe«44 und zwar der allgemeinen menschlichen Liebe ist. Die Sage von der Heidenstube stützt diese Gedankengänge: Einst war hier eine heidnische Familie vor christlicher Zwangsbekehrung in eine Höhle hoch oben im Felsen geflohen, doch aus Entkräftung waren die Flüchtlinge nacheinander herabgestürzt und ertrunken. So sind sie der Taufe nicht entgangen, sie mußten >daran glaubem. Positiv betrachtet hatten sie durch die Treue zu sich selbst ihre individuelle Existenz vollendet und waren reif für die Hingabe an die Natur, reif auch, in die Sage, ins Bewußtsein der Menschheit einzugehen.45 Hier in der Taufkapelle der Natur ist es, wo das Paar sich zum erstenmal l e i d e n s c h a f t l i c h küßt. Auf diese Initiation folgt die zweite auf dem Fuß: denn, so erzählt Heinrich, bei dem fünften oder sechsten Kusse wurde sie [Anna] totenbleich und suchte sich loszumachen, indessen ich ebenfalls eine sonderbare Verwandlung fühlte. Die Küsse erloschen wie von selbst, es war mir, als ob ich einen urfremden, wesenlosen Gegenstand im Arme hielte, wir sahen uns fremd und erschreckt ins Gesicht [...]. Mich dünkte, ich müßte sie in eine grundlose Tiefe fallen lassen, wenn ich sie losließe, und töten, wenn ich sie femer gefangen hielt.46
Von eisiger Kälte und tiefer Melancholie überfallen setzen sich beide am Wasser nieder, Anna verhüllt weinend ihr Gesicht, als ob ein Todesfall zu beklagen sei, dann blicken sie düster »in das feuchte Element, von dessen Grund unser Spiegelbild, Haupt neben Haupt, zu uns herauf sah«.47 So sind auch sie im Spiegel des ritualisierten Erlebens ertränkt. Von welcher Macht? Der Autor überläßt Heinrich als Erzähler das Wort, und dieser gibt dem angstvollen Schluß eine freundliche Deutung:
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Feuerbach (Anm. 20), S. 18. Ebd., S.74: »Der Tod ist nichts anderes, als die Handlung, worin Du Dein Bewusstsein wieder Anderen zurückgiebst und einhändigst. [...] Zum Bewusstsein gehören [...] alle Menschen, inwiefern sie Ein ungetrenntes Ganzes ausmachen«. 11/8: Bd. 17,8.277. II/8:Bd.l7, S.278.
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Den wahren Grund der schreckhaften Begebenheiten ahnte ich nicht; denn ich hatte keine Ahnung davon, daß in jenem Alter das rote Blut weiser sei als der Geist und sich von selbst zurückdämme, wenn es in ungehörige Wellen geschlagen worden.
Keller hat der Weisheit des roten Blutes sogar die Gesamtregie über den Ritt der Liebenden übertragen. Die Schilderung bestätigt m. E. die Vermutung, daß Keller dem Menschen die natürliche, aber kulturförmige Fähigkeit zutraut, Entwicklungsschübe (und andere Übergänge des Lebens) gestalthaft zu erleben und ihre gefährliche Dynamik durch die Kraft eines naturhaften ästhetischen Willens zu bannen. Zweck des Banns ist es nicht, die Kräfte zu fesseln, sondern ihre Entfaltung zu kontrollieren, wie dies von Ritualen, vorzüglich von Initiations- und Übergangsritualen geleistet wird: nämlich mit kontrollierten Tabubrüchen, spielerischen und nach Spielregeln gewährten Wunscherfüllungen, inszenierten Vorwegnahmen künftigen Glücks und Schreckens, Mahnung an die Letzten Dinge.
***
Rigoroser wird die Kritik an Heinrichs spiritualistischen Neigungen, als er bereits Akademiestudent und mündig ist. Der Er-Erzähler des dritten und vierten Buches, und mit ihm der Autor, ist nicht unparteiisch. Die junghegelianische Kritik an der Restaurationskultur ist die einzige Staats- und Gesellschaftstheorie, die recht ausführlich und überzeugend zu Wort kommt. Bei der Niederschrift des Grünen Heinrich war sie zwar schon historisch geworden, aber für Keller nicht verächtlich, sowenig wie die Romantik des Herzens für ihn verächtlich war. Für die wichtigsten Personen des dritten und vierten Buches hat die junghegelianische Doktrin existenz-erhellende Bedeutung. Lys und Erikson haben sie sich angeeignet, während Heinrich zu seinem Schaden mit der spiritualistischen Ästhetik zurande zu kommen sucht. Freund Lys48 war anfangs »ein stolzer und spröder Jüngling«, der wie die gleichgearteten Nazarener49 »nach dem Ideale der alten herkömmlichen großen Historie strebte« und deshalb nach Italien zog.50 Die >alte< Historienmalerei war bekanntlich nicht historischen, sondern biblischen, mythischen und poetischen Themen gewidmet. Die Nazarener hatten sie in der römischen Villa Massimo
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Der im folgenden behandelte Abschnitt über Lys steht in HI/4: Bd. 18, S. 123-131. Klaus Gallwitz (Hg.): Die Nazarener in Rom. Ein deutscher Künstlerbund der Romantik. Katalog zur Ausstellung in der Galleria Nazionale d'Arte Modema, Rom, 22.1. bis 22.3.1981. Aus dem Italienischen übers, von Ingrid Sattel, Elfriede Storm und Marianne Ufer. München 1981; Herbert Schindler: Nazarener. Romantischer Geist und christliche Kunst im 19. Jahrhundert. Regensburg 1982; Keith Andrews: Die Nazarener von Joseph Führich bis Friedrich Overbeck. Übers, von Elisabeth Tacoli. Herrsching 1988. III/4: Bd. 18, S. 124.
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maßgeblich verwirklicht.51 Lys jedoch läßt diese Gattung fallen: Er entdeckt den Realismus der Renaissance-Malerei und sehnt sich danach, wirkliche, gegenwartsnahe Historic darzustellen - umso mehr, als er mit den Junghegelianern die schmerzliche Einsicht teilt, daß sein Zeitalter mangels geschichtlicher Größe gar nicht kunstwürdig sei. »Wir sind bloßes Übergangsgeschiebe«, klagt er. »Wir achten die alte Staats- und religiöse Geschichte nicht mehr und haben noch keine neue hinter uns, die zu malen wäre, das Gesicht Napoleons etwa ausgenommen«." Der Vorgabe freier politischer Taten entbehrend, bleibt Lys' Malerei »wie ein Tasten nach der Zukunft, ein Suchen nach dem ruhevollen Ausdruck des menschlichen Wesens, in dem Beseligtsein in seiner eigenen körperlichen Form«. Lys sieht sich auf den »Kultus der Persönlichkeit«,53 auf die Selbstbespiegelung zurückgeworfen. Er malt nur einzelne oder wenige Figuren in ruhiger Lage, die ihm allesamt ähneln. Eine davon ist ein schwermütiger Hamlet. Natürlich! Denn »Hamletschwermut« war die Lieblingsdiagnose, die sich die vormärzliche Generation selbst stellte:54 durch politische Unfreiheit des Handelns entwöhnt leide man an aufgestauter Bildung und Reflexion, was die politische und die künstlerische Tatkraft auch noch von innen her lahme.55 Lys malt ferner den König Salomo - einen »Mann von wunderbarer Schönheit, der sowohl das Hohelied gedichtet, als geschrieben haben mußte: es ist alles eitel unter der Sonne!« mit der Königin von Saba. Die beiden sind moderne >ZerrisseneReflektiertheitTravail attractif< ja insgesamt einen neuen Charakter annehmen sollte«.43 Es ist aber ziemlich einleuchtend, daß weder Julius noch Valerio sie gerne frequentiert hätten: lieber der Hof, lieber Hedonismus und Liebe in einer gesunden ökologischen Umgebung. Aber auch lieber die Freiheit des Taugenichts von Eichendorff, der auf der Türschwelle des Hauses seines Vaters keine Zweifel hat: »mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine«.44 Er könnte wie Valerio sagen: »ich bin noch Jungfrau der Arbeit« (1,1). Und doch gibt es einen Unterschied und keinen geringen. Auf seine Art ist der Taugenichts ein Dissident. Und wie der Friedenspreisträger György Konräd in seinem hervorragenden Roman von 1980, A Cinkos (Der Verlierer), geschrieben hat, ist der Dissident immer ein Reisender. Auch er ist gekünstelt und falsch wie Leonce und Valerio, wie Büchner und Eichendorff, die mehr in den Reisebildern umherschweiften als in italienischen Gegenden, und die die literarischen Gemeinplätze nachäfften. Aber gleichzeitig Freund einer Wahrheit, die jedem Philister unbequem ist, und die er am Beginn der Erzählung vorwegnimmt: »Nun, sagte ich, wenn ich ein Taugenichts bin, so ists gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück machen«.45 Das ist auch ein Märchenmotiv und vor allem die Grundlage für jede epische Enwicklung: die Reise. Sie ist ein Ideal, das dem des Gärtners, des Bauern (der den Taugenichts als Faulenzer anspricht), des Dieners und des Müllers entgegengesetzt ist. Sie veredelt eine Dynamik zwischen zwei konträren Momenten: Paradies und Arbeits-
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Hier zit. in: Gisela Dischner/Richard Faber (Hg.) (Anm.20), S. 139. Ebd., S. 136. Walter Fahnders: Recht auf Arbeit- Recht auf Faulheit. In: Wolfgang Asholt (Hg.): Arbeit und Müßiggang (Anm. 11), S.83. Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts. In: Werke. Hg. von Wolfdietrich Rasch. München: Hanser 1971, S.1061. Ebd., S. 1061.
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welt, »Draussen« und »Drinnen«, Italien und Philisterwelt.46 Der Taugenichts entspringt dem hortus conclusus des Kleinbürgers: er ist bereit zum Spiel, zum Risiko, zur Bewegung ins Weite und lehnt das »Angebundensein ans Dumpfe und Strenge«47 ab. Sein »Müßiggehen« ist eine fortgesetzte Tätigkeit: er singt, spielt Geige, verfolgt das geliebte Mädchen. Seine Wirklichkeit ist die Welt und sein Müßiggang die Geste des Dilettanten, der in die Kunst eingeführt wird, weitweg von den Zwangsmechanismen der Modernen, deren konkrete Metapher das Rad der Mühle am Anfang der Erzählung ist. Die Zeit im Taugenichts schlägt nicht mit der Regelmäßigkeit und Unerbitterlichkeit eines Uhrwerks: sie hat eher, wie in jeder anständigen Utopie, den Anschein einer Jetzt-Zeit, wie Walter Benjamin schrieb. Sie ist eine Rast in den verborgenen Falten eines mitreißenden Werdens, ein Halt in der unvermeidlichen Natur: »und sah zu« - erinnert er sich -, »wie über mir die Wolken nach meinem Dorfe zuflogen und die Gräser und Blumen sich hin und her bewegten ...«."' Es gibt eine Zeit des Gefühls im Taugenichts, die nicht Verlust oder Flucht vortäuscht, sondern die Rückkehr. Sie geht rückwärts, in die vorkapitalistische Utopie, in die gefühlvoll-bukolische Welt, um eine Heimat wiederzuerschaffen, die das moderne Zeitalter verunstaltet hat. Die Erzählung von Eichendorff folgt den Pfaden der Nostalgie: das heißt, dem Weg desjenigen, der vom Gefühl der Entbehrung zum Wunschdenken gelangt. Es ist ein nicht zugreifendes Bild, ein ständiges Unterwegs sein, eine Vorahnung der Heimat. »Ach, die Heimat hinter den Gipfeln, / Wie liegt sie von hier so weit«,49 seufzt der Taugenichts. Und doch ist er auf dem richtigen Weg: nur der Müßiggänger vermag zu erkennen, was denn die Heimat in einer nicht arbeitsteiligen und maschinellen Welt wäre, in der der Spannungszustand zwischen Menschen und Natur überwunden ist (so der Traum der Romantiker, von Schelling und Marx bis hin zu Nietzsche und der Frankfurter Schule). Er findet die Heimat in der Utopie, im Nirgendort, angezogen von der Unendlichkeitssehnsucht und der Transzendierung des Bestehenden.50 All das fügt sich für Eichendorff in ein bewußtes Spiel mit Fiktion und märchenhafter Erfindung ein, die so weit von der Wirklichkeit entfernt sind, wie inzwischen auch die geistige Heimat. Der Schriftsteller entwirft eine Welt, die eine Fata Morgana bleibt, aber wieder die totale Ablehnung aller Philisterei übernimmt. Diesen Gedanken hatte er schon zuvor in seiner dramatischen Satire Krieg den Philistern entwickelt und war dabei einem Brauch gefolgt, den Brentano, insbesondere mit seiner 1811 verfaßten Philisterabhandlung, gefördert hatte. Auch der große Johann Peter Hebel, der den unvergeßlichen Vagabunden Zundelfrieder geschaffen hat, den Feind jeder satten bürgerlichen Selbstzufriedeneit, leistet ihm darin Gesellschaft. Der Schelm von Hebel ist kein Meister des Müßiggangs, aber ein spaßiger Außenseiter, der seine Wurzeln in der Aufklärung hat. Auf seine Art ist er ein Wahrheitssucher und, wie der Wilhelm Lovell von Tieck, ein Bürgerschreck. Gleich dem Taugenichts und anderen Figuren dieser Epoche verläßt er 46 47 48
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Vgl. Burghard Dedner (Hg.) (Anm.36), S.407. Ebd., S.407. Joseph von Eichendorff (Anm.44), S.1065. Ebd., S. 1105. Gisela Dischner (Anm. 12), S.230.
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den heimischen Herd, um sich ins Unbekannte zu stürzen. »Er ist ein freier, unbürgerlicher Spitzbube, der aus Liebe zur Kunst und zur Schärfung des Verstandes stiehlt«.51 Sein Tun ist eine clowneske Geste: im Scherz versteckt sich die Parodie auf das Spießbürgertum - borniert, arrogant und unbeteiligt an irgendeiner Wirklichkeit außerhalb der eigenen Grenzen. Wenn also Zundelfrieder die »Fragwürdigkeit der bürgerlichen Scheinwerte« ans Licht zerrt, ist er letztlich verwandt mit jenem Gesindel der Müßiggänger, denen jede Fremdbestimmung unerträglich ist; ja, die die engstirnige deutsche Wirklichkeit auf die Unbestimmtheit der Welt hin aufgesperrt haben, und die den Formalismus im Namen einer Freiheit bekämpften, die es vermag, aus dem Leben, ungeahnte schöpferische Kräfte zu ziehen. In seinem Aufsatz über Eichendorff hat Lukäcs sogar von einem »Kampf um die Muße« gesprochen:52 dieser offenbart die Widersprüche in einer Gesellschaft, die auf den Fortschritt wie auf einen unbestreitbaren Mythos fixiert ist. Der Müßiggänger steht außerhalb davon und träumt von einer Heimat, die B loch (mit eindeutigem Bezug zu Schelling und Marx) in der »humanistischen Natur« entdeckte, nicht weit entfernt von jenem vegetativen Zustand, von dem Schelling geschrieben hatte. Die Tatsache, daß diese Heimat konkret im Taugenichts auftaucht, ist Teil des Happy-Ends und nicht das Sichbewahrheiten des Ideals. Die Erzählung unterstreicht eher eine Zukunftshoffnung, eine Richtung. Sie ist sicher nicht präskriptiv, ebensowenig wie der Müßiggang selbst, der »kein wirklich theoriefähiges Phänomen zu sein scheint«, wie die These der Arbeit von Gabriele Stumpp über die »müßigen Helden« im Bildungsroman lautet.53 Während der Taugenichts seine Heimat in einem märchenhaften Rahmen findet, erlebt der bürgerliche Held - immer in Kontakt mit den zentralen Kategorien der echten Welt (Arbeitsethik, Zeitökonomie, Moral) bzw. in der dialektischen Auseinandersetzung mit ihnen eine Zeit der großen Unsicherheit. Im Bildungsroman ist der Müßiggang Mittelpunkt der Identität und Konsistenz des bürgerlichen Subjekts. Der so genährte Konflikt zwischen sozialer Integration und Verstoß, wirkt sich, wie Stumpp richtig bemerkte, auch auf die poetologische Struktur dieser Werke aus - sei es der Wilhelm Meister von Goethe, der William Lovell von Tieck oder der Grüne Heinrich von Keller. Das Problem liegt somit klar: »Der Widerspruch zwischen dem Realitätsprinzip der bürgerlichen Lebensordnung und dem Lustprinzip des unbürgerlichen Müßiggangs, den der Protagonist auszutragen hat, setzt sich in der ästhetischen Spannung zwischen der poetischen Fiktion und dem Gattungspostulat des Romans nach Wirklichkeitsnähe bzw. -treue fort«.54 Von all dem ist die Welt des Taugenichts aber nur am Rande betroffen: er lebt eher in der Dimension des Scheins, in der er seine utopische Neigung reifen lassen kann. Die Glückseligkeit seines nutzlosen Helden, der - wie Thomas Mann schrieb -, »auch die Welt nutz-
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Lothar Wittmann: Johann Peter Hebels Spiegel der Welt. Frankfurt/M. u.a.: Diesterweg 1969, S.288. Georg Lukäcs: Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts. Bern: A. Francke 1951, S.59. Gabriele Stumpp (Anm. 2), S.3. Ebd., S.6.
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los zu sehen« wünscht,55 wird allerdings schwach getrübt von einem Heimwehgefühl, das zur Rückkehr führt. Dagegen endet das Abenteuer des Müßiggangs für Lovell und den Grünen Heinrich (zumindest in der ersten Fassung) tödlich: die Welt zeigt sich zu dieser Zeit bereits ganz im Gewand der bürgerlichen Leistungsfähigkeit und beugt jede nichtfunktionale Anwandlung seinem Mechanismus. Zeit und Geld sind die beiden Koordinaten, in denen Wilhelm in den Lehrjahren die Erfahrung des Müßiggangs erlebt. Am Anfang des achten Buches, als er Werner wiedersieht, der ihm soeben gesagt hat: »wenn du deine Zeit schlecht angewendet und, wie ich vermute, nichts gewonnen hast, so bist du doch indessen ein Persönchen geworden ...«, kann sich Wilhelm nicht umhin zu bekräftigen: »kaum findest du nach so langer Zeit deinen Freund wieder, so siehst du ihn schon als Ware, als einen Gegenstand deiner Spekulation an, mit dem sich etwas gewinnen läßt«.56 Im Unterschied zu Werner, für den der Künstler per se schon ein Müßiggänger ist, ist Wilhelm fasziniert von der Theatertruppe, deren erster Direktor er wird, und läßt sich bereitwillig in Momenten der Geselligkeit und der Muße mit Philine gehen. Die Anforderung, Menschlichkeit und Nützlichkeit bzw. Geschäftsleben einander anzugleichen, treibt ihn in eine Mittelstellung zwischen der Genußunfähigkeit Werners und dem Hedonismus der nichtbürgerlichen Figuren. Der lasterhafte Müßiggang von William Lovell ist ihm völlig fremd, genauso wie jede Form der Spießbürgerlichkeit, vor der ihn die Erfahrung mit dem Theater bewahrt hat. Goethe bereitet ihn vor bzw. formt ihn für eine freie, geistige Menschlichkeit. Seine Ausschweifungen beschränken sich denn auch auf die Theaterbegeisterung, in der er sich selbst auslebt; er gewährt einem Müßiggang Raum, der seinem Wesen nach eher ein Augenblick des Ausruhens im komplizierten Werden seiner bürgerlichen Bildung ist. Es gibt noch eine Unklarheit für Wilhelm, die Goethe im elften Buch von Dichtung und Wahrheit auswirft: »Ist denn das bürgerliche Leben so viel wert, oder verschlingen die Bedürfnisse des Tags den Menschen so ganz, daß er jede schöne Forderung von sich ablehnen soll?«57 Für William Lovell dagegen hätte so eine Frage keinen Sinn: er lebt exzessiv. Seine Klasse ist die Aristokratie, seine Moral der Skandal. Hierin liegt noch ein starker antibürgerlicher Zug: sein Leben, sagt man, sei ein taumelnder Tanz, unvereinbar mit jedem Rollenschema: »Ich bin wandelbar« - gesteht er - »wie Proteus oder ein Chamaeleon«. Sein Müßiggang verbindet sich mit dem Laster; seine fortgesetzte Grenzüberschreitung (als Buhl er, Bettler ...) hat den Hauch eines Vitalismus der zur Selbstzerstörung führt. Lovell ist ein enger Verwandter des Roquairol Jean Pauls und analog ist auch das Schema, in dem beide leben: Lovell, Gegenfigur zu Mortimer, der zu Gunsten der bürgerlichen Häuslichkeit auf ein unstetes Leben verzichtet, und der zügellose Roquairol, der im Roman Titan als Gegenspieler den positiven Helden Albano hat. Auch bei Tieck fehlt nicht die Idee der Bildung; aber sie verschärft auf romantische Weise die Selbstbehauptung des Helden, wie Stumpp unter-
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Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. In: T.M.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd.XII. Frankfurt/M.: Fischer 1960, S.378. Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: J.W.G.: (Anm. 17) Bd.VIL, S.499. Ebd., Bd.IX. [1967], S.463.
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streicht, indem sie die humanistische Konzeption einer Persönlichkeit in die Krise stürzt, die dabei ist, sich harmonisch zu entfalten. Auch wenn Keller seinen Grünen Heinrich als Faulpelz definiert hat, erscheint der Kontrast zwischen der Autonomie des Individuums und der Heteronomie seiner Lebenswelt eher unter dem Vorzeichen eines melancholischen Müßiggangs, als unter dem eines Verstoßes. Die Bildung scheint zu stocken, angesichts einer Welt des Immergleichen und einer bürgerlichen Lebensordnung, der der Müßiggang keinen Kratzer zufügen kann. Dieser lebt denn allenfalls außerhalb des Realitätsprinzips (wie zum Beispiel die Totenfeier für die Großmutter von Heinrich), in leicht irrealen Situationen. Aber auch Keller macht sich keine großen Illusionen über die Glückseligkeit der Arbeit und über eine immer verplantere Realität. Die Träume von Heinrich zeigen eine totale Desillusionierung und der Autor selbst gesteht in einem Brief von 1881 an Wilhelm Petersen: »Der eigentliche Müßiggang aber, bestehe er in Lektüre oder in irgend einer anderen eigensinnigen heterogenen Übung, trägt immer seine göttliche Berechtigung des Daseins >an sich< in sich«.58 Das muß auch Stifter gedacht haben, als er die Figur des Freiherrn von Risach im Nachsommer entwarf: seine Welt ist unberührt von der Zivilisation, die Traumwelt einer Rentiersgesellschaft. Risach bringt wieder jene Muße auf den Gipfel ihres Erfolges, mit der manche Autoren des 19. Jahrhunderts völlig gebrochen hatten, sei es aus Hang nach dem totalen Verstoß, sei es aus der Notwendigkeit heraus, sich in die Produktionsmechanismen zu integrieren. Er erlebt die Muße als Insel der freien Zeit im Meer der allgemeinen Verplanung, und dennoch verschmäht er in seinen Stunden, neben den Gegenständen der Kunst, nicht Angelegenheiten des Besitztums. Die Muße im Nachsommer ist in idealer Übereinstimmung mit der Arbeit und der Nützlichkeit; das Ziel ist, wie Risach erinnert: »mich bei meinen Handlungen von meinem Vergnügen und der Gelegenheit leiten zu lassen«.59 Es gibt in dem Roman, vielleicht mit Natalie als einziger Ausnahme, eine gewisse Lustfeindlichkeit, die auch die Heiterkeit und Sorglosigkeit der Muße trübt: sie muß zu sehr mit der bürgerlichen Wirklichkeit harmonieren, deren Eintönigkeit durch das Fehlen von Wechselfallen im Roman selbst durchscheint. Stifter rühmt in seinem otium das bürgerliche Arbeitsethos, dem Verrohung und Entfremdung fremd sind. Er sucht zwar den Weg der Vermittlung, aber er sondert sich von der modernen Welt ab: sein Blick ist rückwärtsgewand auf ein unverletztes Universum, auf vergangene Erinnerungen, auf eine Vollkommenheit und Reife, die danach streben »jenseits jeder Dissonanz und jeden Konflikts zu sein«.60 Aber im Grunde belegt der Bildungsroman allgemein das Gegenteil: mit der individuellen Form der Aneignung des Müßiggangs muß immer ein hoher Preis an die bürgerliche Gesellschaft gezahlt werden, von der man sich emanzipieren will. In einer solchen Dialektik enthüllt das Subjekt, während es damit beschäftigt ist, seine Persönlichkeit reifen zu lassen, die starken Gegensätze einer Modernität, die 58 59
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Hier zit. in: Gabriele Stumpp (Anm. 2), S. 188. Hier zit. in: Ebd., S.208. Riccardo Morello: Adalbert Stifter: alle soglie della modernitä. Udine 1992, S. 101.
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gespannt ist zwischen der individuellen Freiheit und der produktiven Notwendigkeit. Das Thema stößt direkt mit der Welt der Arbeit und der ganzen Arbeiterbewegung zusammen, die das Recht auf Arbeit fordert; und Marx präzisiert (etwa in Klassenkampfe in Frankreich, 1850), daß dieses Recht »prinzipiell ohne eine Veränderung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse nicht realisierbar« ist.61 Sein Schwiegersohn, der Arzt Paul Lafargue, wird bei seiner Rückkehr aus dem Exil, nach der Niederlage der Kommune, das Problem völlig umkehren, indem er behauptet, es gäbe Le droit ä la paresse (so der Titel seines Pamphlets von 1883). Der Text ist einzigartig; er wischt Jahre der Kämpfe und sozialistischen Forderungen aus und lehnt auch Leute wie Kautsky ab, die bereit sind, das Recht auf Faulheit als Kürzung der Arbeitszeit zu fordern. Lafargue sieht die Arbeit als Ursünde, als eine wahre Sucht, eine Zivilisationskrankheit an, die die Arbeiterklasse aller Länder befallen hat. Er erinnert an noble Gegenbeispiele: von den Griechen, die »in der Zeit ihrer höchsten Blüte nur Verachtung für die Arbeit«62 hatten, bis zum Christus der Bergpredigt. Er träumt von der Maschine als Erlöser der Menschheit und denkt an Paradiese des Müßiggangs als sinnliche Orte zwischen Banketten und Volksfesten: es ist die Tradition des Goldenen Zeitalters und der Endzeit, wie der Kirchenhistoriker Ernst Benz erinnerte. Wie Heine scheint auch Lafargue auszurufen: »Wir wollen hier auf Erden schon / Das Himmelreich errichten«. Der offizielle Marxismus, der sich der Irrealität einer solchen Zukunftsaussicht bewußt ist, hat es vorgezogen, Lafargue zu streichen und mit ihm die utopisch-romantische Komponente. Andere haben sich jedoch daran erinnert. Zum Beispiel Oscar Wilde, der in seinem Werk über den Sozialismus und den Geist des Menschen, behauptet: »Muße, nicht Arbeit, ist das Ziel des Menschen«.63 Am Ende des Jahrhunderts kündigt sich die Stimme Nietzsches an, der eine Lanze für Muße und Müßiggang bricht, wobei er gleichzeitig das Tempo der modernen Welt, seine Jagd nach Gewinn und seine Furcht vor dem »vita contemplativa (das heißt [...] Spazierengehen mit Gedanken und Freunden)« verteufelt.64 Das erinnert an den letzten Roman von Milan Kundera Die Langsamkeit, in dem man sich über die Flaneure von einst und über den süßen Müßiggang das fragt, was die Tschechen in einer wunderschönen Metapher zusammenfassen: »Sie schauen dem lieben Gott ins Fenster«. Das schlägt auch Ernst Bloch in Das Prinzip Hoffnung vor. Hier ist der Text von Lafargue noch nicht vollständig verschwunden: daran erinnern die Volksfeste (besonders in den katholischen Dörfern) als »Enklaven in der allgemeinen kapitalistischen Mechanei [...], das ist: Zwischenräume eines Lebensgefühls, dem die Zeit noch nicht das Geld ist und die Fidelitas noch kein übertünchtes Grab«.65 Das 61 62
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Walter Fahnders (Anm.43), S.87. Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit (Auszug). Hier zit. nach: Gisela Dischner (Anm. 12), S.203. Oscar Wilde: Der Sozialismus und die Seele des Menschen. Hier zit. in: Wolfgang Asholt (Hg.) (Anm. 11), S.200. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. In: F.N.: Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd.V,2. Berlin - New York: de Gruyter 1973, S.237. Ernst Bloch (Anm. 5), S.1067.
Muße und Müßiggang im 19. Jahrhundert
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19. Jahrhundert scheint seine Gegensätzlichkeiten überspringen zu wollen: das heißt als das Jahrhundert der großen Entwicklungen, der Neuorganisation der Arbeit, der Arbeitskämpfe. Und schließlich als Epoche des tiefen Unbehagens, in der der Traum von einer völligen Befreiung des Menschen von jedem produktiven Moment auftaucht. Die Kultur der Faulheit erinnert, auch in unserem Jahrhundert, angesichts des Profitzwangs, daran, daß der Mensch die Priorität genießt. Es ist kein Zufall, daß sich hierin christliche Motive und linke Utopien begegnen. Joseph Piper schlägt aus der Sicht der katholischen Sozialphilosophie das vor, was Bloch in der Folklore erkannt hat: »Eine Umstellung der Muße von der Ökonomie der Arbeit auf die des Festes«.66 Hier ist wieder der Spielbegriff, auf den Schiller hinwies, und den der englische Schriftsteller William Morris in seinem utopischen Roman von 1890, News from Nowhere (in der deutschen Fassung mit einem Vorwort von Wilhelm Liebknecht), entwickelt hat. In diesem Roman kehrt die Idee von einer harmonischen Gesellschaft zurück, in der endgültig die Schranken zwischen Arbeit und Vergnügung, Aktivität und Müßiggang fallen. Wer weiß, ob nicht die Maschine oder besser die Technologie in der Zukunft diesen Traum realisieren wird. Der Philosoph Cioran zeigte, als guter Skeptiker, eine große Verblüffung: »Es ist zu spät, als daß die Menschheit sich noch von der Illusion der Tat befreien könnte«.67 Aber warum sollte man nicht eher an die Hoffnung glauben, wie sie Adorno in Minima moralia zum Ausdruck brachte. »Vielleicht wird die wahre Gesellschaft« - so liest man - »der Entfaltung überdrüssig und läßt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen«.68 Sicherlich hat diese Zukunftsperspektive in nicht geringem Maße die deutsche und europäische Kultur genährt. Sein Traum drückt neue anthropologische Modelle aus, die nicht frei vom romantischen Antikapitalismus sind. Adorno selbst stellt in Aussicht: »Rien faire come une bete, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen [...] könnte an Stelle von Prozess, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihrem Ursprung zu münden«.69 Das könnte die Revolution sein - nicht frei von einer gewissen Langeweile -, die der Schüler von Bruno Fuchs prophezeite. Sie sei willkommen, wenn sie uns erlaubt, dem lieben Gott ins Fenster zu schauen. Ohne Langeweile, aber auch ohne ständig, wie Nietzsche sagte, »das Auge auf das Börsenblatt [zu wenden] - [...] wie Einer, der fortwährend Etwas >versäumen könnteLa Guerre Allemande et le Catholicisme.< Freiburg/Br. 1915 (erschien auch in französischer Übersetzung). L. Koch S.J.: Zum Jahrhundertgedächtnis des heiligen Bonifatius. In: ABCorr 31. Jg. (W.-S. 1916/17) V. Kriegsnummer, S. 15-25, hier S. 16. Vortrag von Prof. Dr. Gottfried Hoberg: Krieg, Religion, Seelenleben. Ebd., S. 13-22, hier S.22. Prof. Dr. Norbert Peters, Job. In: Ebd., 32. Jg. (S.-S. 1917) VI. Kriegsnummer, S.69-79, hier S.69. Bartmann (Anm. 89), S.22. P. Franziskus Stratmann O.P. (Studentenseelsorger in Berlin): Zur studentischen Neuorientierung. Predigt im ersten akademischen Gottesdienst des Wintersemesters 1917/18. In: ACorr 33. Jg. (S.-S. 1918) VII. Kriegsnummer, S.91-98, hier S.91. Prof. Dr. Sawicki (Pelplin): Der Gang Gottes über die Nationen. In: Ebd., 31. Jg. (S.-S. 1916) IV. Kriegsnummer, S. 1-12, hier S.5.
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Dieter Langewiesche Da gibt es der Schmerzen nur einen: Zu schwach zu sein um mitzuzieh'n107
An die Stelle der August-Euphorie, die aus diesem bei Kriegsbeginn verfaßten Gedicht Georg Tilikes sprach, traten jetzt der Trost des Isenheimer Altars Matthias Grünewalds,108 die Leidensgeschichte des Buches Hiob,109 die Erinnerung an »Nikolaus Cusanus der Gottsucher«110 oder an die »Christusinnigkeit der Annette von Droste Hülshoff«."1 Nicht mehr der Waffendienst wurde gepriesen, sondern man rief die katholischen Akademiker auf, eine Gedächtniskirche für die gefallenen Mitglieder zu errichten"2 und den »großen, himmelanragenden Geistesdom der katholischen Kirche in Deutschland weiter auszubauen«.113 Die »Wiedergewinnung der gebildeten Schichten unseres Volkes« für den Katholizismus - diese Kernaufgabe, die sich der Akademische Bonifatius-Verein von Beginn an gestellt hatte, sie wurde jetzt erneut zum »Königsproblem der Gegenwart« ausgerufen. Denn der Krieg habe »dieses Problem nicht lösen können und in der religiösen Verfassung der gebildeten Kreise keine wesentlichen Veränderungen gebracht«."4 6. Die Moderne als Bedrohung: zum Krisenbewußtsein katholischer und protestantischer Bildungsbürger Das Krisenbewußtsein der kirchentreuen katholischen Akademiker, die sich im Akademischen Bonifatius-Verein zusammenschlössen, überdauerte nicht nur den Krieg, es nahm eine neue Wendung. Zuvor hatte man darauf gezielt, »Klerus und Laienintelligenz einander wieder näher zu bringen«,115 die Wissenschaftsferne des Katholizismus und die Entchristlichung der modernen Wissenschaft zu überwinden. Man litt unter den Mißerfolgen, klagte über die »Krise des katholischen Lebens in unseren gebildeten Kreisen«,"6 doch niemand zweifelte an der Bestimmung der katholischen Studenten, nicht bloß »gewöhnliche Bausteine« für die Zukunft zu sein, sondern »Ecksteine, weil wir eine tonangebende, eine führende 107
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Ebd., (W.-S. 1916/17) V. Kriegsnummer, S.56. Georg Tilike, im März 1912 »den Heldentod fürs Vaterland gestorben« (S.55), galt im ABV als einer der begabtesten katholischen Lyriker; er hat häufig in der ABCorr veröffentlicht. Prof. Dr. Sauer: Mysterium crucis, ebd., 32. Jg. (S.-S. 1917) VI. Kriegsnummer, S.65-69; das Heft enthielt auch ein Farbfoto des Altars in Colmar. Prof. Dr. Norbert Peters, Job, ebd., S.69-79. Titel eines Artikels von Johannes Mumbauer, ebd., S. 107-114. Titel eines Artikels von Joseph Werle, ebd., S.122-128. Ebd. Innenseite. Über die Sammelergebnisse wurde in den folgenden Nummern berichtet. Bonifatius. Ein Schlußwort von Weihbischof Dr. Hähling von Lanzenauer, ebd., S.154f., hier S.155. F.X. Münch: Vom Königsproblem der Gegenwart. Ein Beitrag zu seiner Lösung, ebd., S.145153; die Formulierung »Königsproblem der Gegenwart« habe Bischof Faulhaber 1911 geprägt. Willibald Helfen (Anm. (Anm. 60), S. 1522. Max Metzger: Sind die Akad. Bonifatius-Vereine Bonifatiu rettungslos dem Untergang geweiht? In: ABCorr 24. Jg., Nr.4 v. 15.7.1909, S.185.
Vom Gebildeten zum Bildungsbürger?
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Stellung im Bau der Gesellschaft einnehmen werden«."7 Zuversicht durchzog vor dem Krieg trotz aller Gegenwartseinschwärzung die Arbeit des katholischen Akademikernachwuchses: »uns gehört die Zukunft«. Dieser Zukunftsglaube verlor sich im Ersten Weltkrieg, denn Oben und Unten in der Gesellschaft schienen sich zu verkehren. Die Menschen auf der Linken machen im Augenblick die Zeiten; die, denen die herkömmliche Meinung die Rolle der Geführten zuweist, die sind die Führer oder doch die Treiber; und die, die nach der herkömmlichen Meinung die Führer sind, die Gebildeten, die Akademiker, das sind die Geführten!118
Und in der Mitte, »die unserer Weltanschauung am nächsten steht - wer sind da die Führer?« Den Akademikern ist das »Heft aus der Hand genommen, und unsere Führer sind die Angehörigen der mehr von elementaren als von geistigen Kräften bewegten unteren Volksschicht!« Nichts gegen das Volk und diejenigen, die sich aus ihm emporgearbeitet haben, beteuerte der Berliner Studentenpfarrer im akademischen Gottesdienst zu Beginn des Wintersemesters 1917/18, aber ich sage, daß es ein unnatürliches, ungesundes Verhältnis ist, wenn die Akademiker, die vermöge ihrer Tradition und sorgfältigeren Geistesbildung berufen sind, und als Angehörige einer höheren Gesellschaftsschicht auch nach Gottes Willen berufen sind, zu führen, in ihrer Mehrheit abseits stehen und ihre Führerrolle, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr ausüben.
Er appellierte an die Tatbereitschaft der katholischen Studenten, und forderte sie auf, von der »Freideutschen Jugend« zu lernen. Sie verkünde viel Falsches, doch eins stecke in ihr: »Leben, Streben, Wille zur Tat, soziale Hilfsbereitschaft, Wille zur Mitarbeit am Aufbau der Zukunft, an der Erneuerung einer bankerotten Kultur, und auch ein Wille zum Opfer!« Der von »links kommenden Reformation oder Revolution« eine »Gegenreformation«, entgegenzustellen - das sei die Aufgabe der katholischen Studenten. Diese Zeitdiagnose des katholischen Studentenseelsorgers glich in vielem dem Krisenszenario, das auch protestantische Bildungsbürger entwarfen: Die heraufkommende Massendemokratie revoltiert gegen die »Generale des Bildungsbürgertums«,"9 die Professoren, und gegen die Gebildeten insgesamt. Jetzt zeigte sich, daß bildungsbürgerliche und katholische Kulturkritik mehr miteinander gemein hatten, als protestantischen und katholischen Gebildeten in ihrer wechselseitigen Wahrnehmung bewußt war. Inferioritätsgefühle gegenüber der modernen Kultur, Unverständnis und Ablehnung ihrer Produkte gab es nicht nur im Katholizismus, auch große Teile des Bildungsbürgertums klagten in den Vorkriegsjahrzehnten über den Verlust an überkommenen Kulturwerten im Strudel der avantgardisti117 118
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Willibald Helfen (Anm. 60), S.1523; das folg. Zitat ebd. Franziskus Stratmann (Anm. 105), S.92-94 (auch die folgenden Zitate; Hervorhebungen im Original). di< vorzügliche Studie von Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend S. dazu die eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/M. - Leipzig21994, S.274.
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sehen Kulturrevolution in Permanenz.120 Die kulturelle Verunsicherung dieser Bildungsbürger protestantischer Prägung war nicht geringer als auf seiten vieler katholischen Gebildeten. Man begründete unterschiedlich, empfand aber ähnlich: die Moderne als Bedrohung. Diese bildungsbürgerliche Gemeinsamkeit von Protestanten und Katholiken ist noch unerforscht.121
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Vgl. Dieter Langewiesche: Bildungsbürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert. In: Jürgen Kocka (Anm. 1), S.95-113, hier S.lOSff. vor allem; eine grundlegende Analyse der Kulturkrise um 1900 bietet Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne. Weinheim 1991. Sie tritt noch stärker hervor, wenn katholische Gebildete untersucht werden, die sich- im Unterschied zu den Mitgliedern des ABV - dem humanistischen Bildungsideal verpflichtet fühlten. Vorzüglich zu dieser unerforschten Gruppe katholischer Bildungsbürger Reinhard Ilg: Katholische Bildungsbürger und die bedrohte Nation: das katholische Gymnasium Ehingen (Donau) im Kaiserreich und während des Ersten Weltkriegs. In: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Dieter Langewiesche/Hans-Peter Ullmann (Hg.): Erster Weltkrieg - Erfahrungen und Deutungen. Essen 1996. Die von Ilg untersuchten Lehrer dieses Gymnasiums und des Konviktes waren alle Priester und Philologen. Ihre Vorstellung von deutscher Nation ordnete sich der protestantischen Mehrheitsmeinung ein, stand also im Widerspruch zu den Positionen des ABV, dem sie nicht angehörten. In ihrer Modernitätskritik (nicht in deren Begründung) trafen sie sich jedoch.
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Karl Muths Hochland in der Vorkriegszeit - oder der Preis der Integration
Seine Beteiligung an einem literatunvissenschaftlichen Kolloquium und näherhin seine Äußerungen über das von ihm ergriffene Thema hat der politische Historiker zu rechtfertigen: es kann nicht seine Aufgabe sein, Funktion und Bedeutung der Zeitschrift Hochland in der Geschichte einer sich als katholisch verstehenden Schönen Literatur zu erörtern oder zu prüfen, ob der dort programmatisch erhobene Anspruch eingelöst wurde, Heimatkunst auf der Basis »gesunden, deutschen und christlichen Volkstums«, aber in idealistischer »Höhenstimmung« zu bieten, wie es das Motto »Hochland, hohen Geistes Land - Sinn, dem Höchsten zugewandt« verhieß.1 Noch weniger kann der profane Historiker beurteilen, ob der theologische Ort von Karl Muth wirklich im Dunstkreis des Schemens »Modernismus« zu suchen ist, wie es die vatikanische Kurie unter Pius X. meinte,2 weshalb sich noch ein Menschenalter später der Münchner Erzbischof Faulhaber nicht in der Lage sah, für den längst wegen seines Beitrags zur »Wiederbegegnung von Kirche und Kultur in Deutschland« hoch gefeierten Muth zum siebzigsten Geburtstag eine päpstliche Auszeichnung zu beantragen.3 Was der an politischer Macht und gesellschaftlichen Strukturen interessierte Historiker zu einem literaturwissenschaftlichen Kolloquium beizutragen vermag, liegt vielmehr in der Exploration der politischen und sozialen Bedingungen, deren Erfüllung den einzigartigen Erfolg dieser Revue ermöglichte, die, wie Carl Christian Bry zum sechzigsten Geburtstag ihres Herausgebers in der »Frankfurter Zeitung« schrieb, vorrangig an dem gelungenen Unternehmen beteiligt war, »die gesamte Geisteswelt des Katholizismus wieder ans Licht der Sonne« zu bringen, - eine Leistung, die Bry nicht nur den Katholiken, sondern der ganzen Nation als Gewinn zurechnen wollte.4 Unsere Fragestellung steht somit unter dem Anspruch, Hochland l, l (1903/04), S.2-4. Den besten Überblick über Leben und literarische Absichten von Muth bietet jetzt Winfried Becker: Muth. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. von Traugott Bautz. Bd.6. Herzberg: Traugott Bautz 1993, Sp.396-402 mit zahlreichen Literaturangaben. Jolän Gitschner: Die geistige Haltung der Monatsschrift »Hochland« in den politischen und sozialen Fragen ihrer Zeit 1903-1933. Phil. Diss. München 1952, masch., ist leider völlig unzureichend. Ernst Hanisch: Der katholische Literaturstreit. In: Erika Weinzierl (Hg.): Der Modernismus. Beiträge zu seiner Erforschung. Graz - Wien - Köln: Styria 1974, S.125-160, hier S. 130f. Ludwig Volk (Bearb.): Akten Kardinal Michael von Faulhabers 1917-1945. Bd.2. (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, A 26). Mainz: Grünewald 1978, S.263f. Frankfurter Zeitung vom 1. Februar 1927, abgedruckt in: Karl Muth, dem Herausgeber des Hochland zu seinem sechzigsten Geburtstag. München: Kösel & Pustet o.J. S.42-46, hier S.43.
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Heinz Hurten
Voraussetzungen und begünstigende Umstände für die Reintegration des durch die Gründung des Bismarckreiches politisch und sozial ausgegrenzten deutschen Katholizismus zutage treten zu lassen. Sie läßt literarische Qualität und kulturelle Bedeutung des Hochland außer acht, wird aber darin nicht illegitim, weil Muths Zeitschrift mehr sein wollte als nur ein Instrument, um das Ziel des »Veremundus« zu erreichen, »die katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit« anzusiedeln. Hochland sollte nach dem Programm, mit dem es antrat, das kulturelle Leben seiner Zeit »in all den zu seiner Erkenntnis wesentlichen, für seinen Fortschritt wirksamen Äußerungen und Ausstrahlungen« erfassen und widerspiegeln.5 Die Spannweite der darin behandelten Gegenstände reichte darum, wie jedes Inhaltsverzeichnis der Halbjahresbände überzeugend dartat, von der Sparte »Romane, Novellen, Gedichte« bis zur Themengruppe »Volkswirtschaft, Rechtspflege, Militärwissenschaft und Technik«. Daß Muths Interesse vorrangig der Schönen Literatur, insbesondere dem Roman, galt, hängt mit seinem persönlichen Werdegang zusammen wie mit seiner Einschätzung des Romans als wirksamster Form von Literatur;6 dies hindert jedoch nicht, sein Hochland in der ganzen Breite der darin zu Wort kommenden Anschauungen als Ausdruck seiner Absichten zu nehmen.7 Es war bald schon umstritten, Brennpunkt des »Literaturstreits«, eines Frontabschnitts in der integralistischen Offensive gegen die Formen, in denen der deutsche Katholizismus sich in der wilhelminischen Umwelt zu behaupten suchte. Hochland wurde darin zum Organ und Symbol einer Richtung, so wie Kraliks Gral zu dem der gegnerischen. Wenn auch im Gründungsjahr des Hochland 1903 diese Frontstellung noch nicht in allen Einzelheiten ihres späteren Verlaufs erkennbar war, so besetzte Muth mit seiner Revue von allem Anfang an einen Ort, der innerhalb des damaligen deutschen Katholizismus nicht ohne Kampf gehalten werden konnte, und dies gilt nicht allein von der im Sinne des »Veremundus« mit voller Absicht verfochtenen Ablehnung der in katholischen Kreisen weit verbreiteten Kritik der Literatur nach ausschließlich moralischen und religiösen Kategorien. Diese ist vielmehr als Teil eines breiter angelegten und bereits früher vor dem Hintergrund ständiger Verschärfung der konfessionellen Gegensätze in Gang gekommenen Streites zu sehen, für den die Rede des Vorsitzenden der GörresGesellschaft Georg von Hertling im Jahre 1896 »Über die Ursachen des Zurückbleibens der deutschen Katholiken auf dem Gebiete der Wissenschaft«8 und die an manchen Universitäten von den Studenten erhobene Forderung, die katholischen
Hochland l, l (1903/04), S.2. Friedrich Fuchs: Die deutschen Katholiken und die deutsche Kultur im 19. Jahrhundert. In: Wiederbegegnung von Kirche und Kultur in Deutschland. Eine Gabe für Karl Muth. München: Kösel & Pustet 1927, S.9-58, insbes. S.45. Clemens Bauer: Carl Muths und des Hochland Weg aus dem Kaiserreich in die Weimarer Republik. In: Hochland 59 (1966/67), S.234-247, insbes. S.234. Georg von Hertling: Reden, Ansprachen und Vorträge, mit einigen Erinnerungen an ihn gesammelt von Adolf Dyroff. Köln: Bachern 1929, S.5-18.
Karl Muths »Hochland« in der Vorkriegszeit
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Korporationen um der akademischen Freiheit willen zu verbieten,9 markante Eckpunkte setzten. In seinem Editorial fur die erste Nummer des Hochland hatte Muth die Ortsbestimmung der neuen Zeitschrift im Rahmen dieser gesamtgesellschaftlichen Diskussion nicht eigentlich dargelegt, sondern ein »Sammel- und Centralorgan« angekündigt, eben nicht das Sprachrohr einer literarischen Richtung oder innerkirchlichen Aktionsgemeinschaft.10 Die in der wissenschaftlichen Literatur immer noch anzutreffende Kennzeichnung als »reformkatholisch« geht darum fehl. Muth und die Seinen haben sie stets für sich abgelehnt" und es einem ziemlich obskuren, heute fast vergessenen Blatt, der Renaissance des Münchner Geistlichen Josef Müller, überlassen, sich mit dem Untertitel »Organ der Reformkatholiken« zu zieren. Hochland hat darum auch anders als manche, die sich einer solchen Gruppe zurechneten, nicht die Einsamkeit der Auserwählten, sondern den Kontakt mit den großen Organisationsformen des zeitgenössischen Katholizismus gepflegt. Die alljährlichen Tagungen der Görres-Gesellschaft wurden aufmerksam und mit dem Interesse des Beteiligten gewürdigt, nicht anders die üblichen Generalversammlungen der deutschen Katholiken. Die programmatisch verkündete Distanz zur Tagespolitik verhinderte eine entsprechende Würdigung der Zentrumspartei, nicht aber die Mitarbeit seines bereits erwähnten langjährigen Vorsitzenden, des Freiherrn und späteren Grafen, bayerischen Ministerpräsidenten und Reichskanzlers Georg von Hertling. Auch für eine gelegentliche Darstellung der Christlichen Gewerkschaften und ihrer Probleme war sich Hochland nicht zu gut. Besondere Aufmerksamkeit fand die Gründung und Praxis des Katholischen Deutschen Frauenbunds. Die Absicht, ein »Sammel- und Centralorgan« des intellektuellen Katholizismus in Deutschland zu werden, dürfte es auch erklären, daß die heftigen Kämpfe um den Charakter der Zentrumspartei, der Christlichen Gewerkschaften und der Peter Stit/: Der akademische Kulturkampf um die Daeinsberechtigung der katholischen Studentenkorporationen in Deutschland und Österreich von 1903 bis 1908. Ein Beitrag zur Geschichte des CV. München: Gesellschaft für CV-Geschichte 1960. Vgl. dazu auch Georg von Hertling: Akademische Freiheit. In: Hochland 3, l (1905/06), S.67-73. Zu den konfessionellen Gegensätzen der Zeit vgl. Christoph Weber: Der »Fall Spahn« (1901). Ein Beitrag zur Wissenschaftsund Kulturdiskussion im ausgehenden 19. Jahrhundert. Rom: Herder 1980, sowie Margaret Lavinia Anderson: Windthorsts Erben: Konfessionalität und Interkonfessionalismus im politischen Katholizismus 1890-1918. In: Winfried Becker/Rudolf Morsey (Hg.): Christliche Demokratie in Europa. Grundlagen und Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert. Köln- Wien: Böhlau 1988, S.69-90, hier S.85-87. Ein zeitgenössischer Reflex in Hochland l, 2 (1904), S.482-488. Hochland l, l (1903/04), S.2. Ähnlich erklärte ebd. 3, l (1905/06), S.504 eine wahrscheinlich von Muth stammenden Glosse, daß Hochland »keiner Sonderpartei, keiner Sonderrichtung innerhalb des Katholizismus angehört, sondern seinen besonderen Stolz darein setzt, katholisch zu sein schlechtweg und ohne alle weiteren Beinamen. Christianus mihi nomen, catholicus cognomen!« In Hochland 5, l (1907/08), S. 120 wurde Klage darüber geführt, daß die von Muth angeregte literarische Bewegung »direkt wahrheitswidrig als >reformkatholisch< stigmatisiert« worden sei. In seinem Rückblick auf die ersten zwanzig Jahrgänge berichtete Muth, daß seine Revue alsbald nach Erscheinen von der »später reformkatholischen« Zeitschrift »Zwanzigstes Jahrhundert« angegriffen worden sei. Hochland 20 (1922/23), S.5.
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katholischen Literatur, die den deutschen Katholizismus im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg in zwei einander heftig befehdende Lager spalteten, im Hochland nur geringen Widerhall fanden. Der heutige Leser muß die entsprechenden Jahrgänge sorgsam durchmustern, um ihre Spuren zu entdecken. Dies verwischt allerdings nicht die Konturen von Hochland, sie erweisen sich lediglich differenzierter als die grobschlächtigen Unterscheidungen zwischen Integralen und Reformern, Berliner und Kölner Richtung. Es entsprach nicht allein der ursprünglichen Konzeption Muths, sondern kam auch in den ersten Jahrgängen offen zum Ausdruck, daß es den Katholiken nur dann gelingen könne, sich in der wilhelminischen Gesellschaft zu behaupten, wenn sie sich »auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens« engagierten. Eine Konzentration der Zentrumspartei auf kirchenpolitische Zielsetzungen, so führte Julius Bachern im zweiten Jahrgang aus, hätte sie zur Vertreterin klerikaler Sonderinteressen gemacht, die kaum je Bundesgenossen hätte finden können, während ihre weitergehende Zielsetzung es ihr erlaubt habe, zu einem Faktor des Politischen zu werden.12 »Nur mit Anspannung aller Kräfte, nur unter Aneignung aller modernen Kulturgüter können wir Katholiken in der modernen Welt erfolgreich unsere Stellung behaupten!«, schrieb im Jahr darauf ein regelmäßiger Mitarbeiter der Revue.13 Den instrumentalen Charakter der Auseinandersetzung mit der modernen Kultur zu betonen - und nicht deren Eigenwert -, legte sich aus taktischen Gründen nahe. Denn es fehlte im deutschen Katholizismus nicht an Stimmen bis in den Episkopat hinauf, welche die »beklagenswerte Überspannung und Überschätzung der Cultur und ihres Wertes« offen tadelten.14 Wer sich gleichwohl als Katholik zur Pflege der geistigen Kultur um ihrer selbst willen bekannte, stellte sich Gegnern aus verschiedenen Lagern: Hatte er den einen zu erweisen, daß seine religiöse Bindung ihn nicht hinderte, zu intersubjektiv gültigen Erkenntnissen zu gelangen, so den anderen, daß dies ohne Abschwächung katholischer Substanz möglich war. Schon die ersten Nummern von Hochland bieten dafür sprechende Exempel. Auf eine kritische Bemerkung von Ernst Bernheim über das historische Programm der Görres-Gesellschaft in einer Neuauflage von dessen bekanntem Lehrbuch der historischen Methode antwortete der junge Privatdozent Aloys Meister mit einer längeren Darlegung über die Möglichkeit von Objektivität in der Geschichtswissenschaft;15 im Jahr darauf brachte Hochland unter dem Titel »Die historische Wahrheit und die katholischen Interessen« eine Glosse über den Streit des Würzburger katholischen Kirchenhistorikers Sebastian Merkle mit seinen innerkatholischen Widersachern, die ihm vorwarfen, sich mit seiner Verteidigung Luthers gegen bestimmte Vorwürfe unkirchlich verhalten zu haben. Der Autor schloß seinen Bericht mit dem Wunsch nach einem »goldenen Zeitalter«, in dem »allgemein empfunden« werde, »daß die wahren katholischen Interessen mit der rückhaltlosen Anerkennung der konstatier12 13 14
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Hochland 2, l (1904/05), S.241. Hochland 3, l (1905/06), S.244. Vgl. hier/u Christoph Weber (Anm. 9), S.54-56. Das aus den Historisch-politischen Blättern 130 (1902), S.377f. entnommene Zitat ebd., S.55. Aloys Meister: Bemerkungen zum historischen Programm der Görres-Gesellschaft. In: Hochland l, 2 (1904), S.216-221.
Karl Muths »Hochland« in der Vorkriegszeit
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ten historischen Wahrheit identisch sind!«16 Eine im eigentlichen Sinne theologische Grundlage für diese Position wurde im Hochland, das solches auch wohl außerhalb seiner Kompetenz sah, nicht erörtert. Sie dürfte in der Überzeugung von der »relativen Eigenständigkeit der Kultursachbereiche« gelegen haben,17 eine Anschauung, die erst in der Zwischenkriegszeit diese schlagwortartige Fassung erhalten hat und mit dieser in eine programmatische Rede des Berliner Nuntius Pacelli, ja sogar in einen berühmten Text des Zweiten Vatikanischen Konzils einging, aber einer kirchlichen Tradition entspricht, die das Erste Vaticanum ausdrücklich bestätigt und der gesellschaftlichen Praxis der katholischen Bewegung in Deutschland immer schon unreflektiert zugrunde gelegen hatte. Die Gründung des Zentrums als interkonfessionelle Partei wäre unmöglich gewesen, hätte man anders gedacht. Es war die Theorie der Integralen, daß »alles aus dem Katholischen« geschaffen und geordnet werden müsse, wenn der Katholik in dieser Welt recht handeln wolle, welche diese alte Norm katholischen Handelns ausdrücklich in Frage stellte und die Meinungsverschiedenheiten darüber zu innerkirchlichen Parteiungen werden ließ. Erst die Integralen mit ihren fragwürdigen Ansichten und die pastorale Engherzigkeit besorgter Zionswächter machten also Hochland in einer historisch kontingenten Situation zum Symbol für eine bestimmte Haltung des Christen zur Welt. Was die Position Hochlands im Literaturstreit zum Streitpunkt werden ließ, war also nichts ihm allein Eigentümliches, sondern lediglich die scharf konturierte Ausformung eines katholischen Traditionselements. Das Profil dieser Zeitschrift bedarf darum schärfer eindringender Nachfrage, um die Stichhaltigkeit der im Titel angedeuteten These zu prüfen, daß die weite Anerkennung, die dieser Revue und ihrem Herausgeber im Laufe der Jahre zuteil wurde, auf einer bis dahin nicht realisierten Voraussetzung beruhte, deren Erfüllung erst die Ausgrenzung dieser Zeitschrift und damit prototypisch der Katholiken in ihrer Gesamtheit zu überwinden gestattete. Wäre Hochland tatsächlich »Sammel- und Centralorgan« gewesen, was auch der Literaturstreit nicht hätte verhindern müssen, weil die mit sektenhaftem Eifer angreifenden Integralen weder die Mehrheit der Katholiken noch die Tradition auf ihrer Seite hatten, müßte die ihm zuwachsende Reputation, die in der Verleihung des Professorentitels an Muth im Jahre 1914 sichtbaren Ausdruck fand, als eine gleichsam bedingungslose Integration der Katholiken in die Gesellschaft des späten Kaiserreichs gedeutet werden. Trotz seiner Breite war das Spektrum des Hochland, das der Leser in jeder Nummer bewundernd zur Kenntnis nehmen konnte, durch eine unverkennbare Rechtsverschiebung gekennzeichnet, die dieses Organ dem politischen mainstream der wilhelminischen Zeit näher rückte als die Masse des politischen Katholizismus, der doch zur gleichen Zeit mit Eifer daran war, sich das von Bismarck geschaffene zweite Deutsche Reich zur Heimat zu machen.18 16 17
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Hochland 2, l (1904/05), S.488-492. Franz X. Landmesser: Die Eigengesetzlichkeit der Kultursachbereiche. Ein Beitrag zum Problem Religion und Kultur. München: Oratoriums-Verlag (Kösel & Pustet) 1926. Rudolf Morsey: Die deutschen Katholiken und der Nationalstaat zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg. In: Historisches Jahrbuch 90 (1970), S.31-64.
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So wird man kaum erwarten dürfen, in einem katholischen Organ jener Jahre Hans-Ulrichs Wehlers »Krisenherde des Kaiserreichs«19 vorausgeahnt zu finden. Von gouvernementaler Willfahrigkeit blieb der politische Katholizismus freilich auch damals weit entfernt, und zwei seiner großen politischen Kontroversen mit der Reichsregierung fanden auch im Hochland Widerhall. Die Überschrift einer Glosse aus dem Jahre 1906, »Kolonialpolitik ohne >Humanität und Christentum