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German Pages 41 [44] Year 1984
Klaus Stern
Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit
Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin Heft 91
W G DE
1984
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit Von Klaus Stern
Festvortrag gehalten aus Anlaß der Feier des 125jährigen Bestehens der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 12. Mai 1984
w DE
G 1984
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Dr. jur. Klaus
Stern
Professor an der Universität Köln Direktor des Instituts für öffentliches Recht und Verwaltungslehre
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Stern, Klaus: Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit: [Festvortrag, gehalten aus Anlaß d. Feier d. 125jährigen Bestehens d. Jurist. Ges. zu Berlin am 12. Mai 1984]/Klaus Stern. - Berlin; New York: de Gruyter, 1984. (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin; H. 91) ISBN 3-11-010306-0 N E : Juristische Gesellschaft (Berlin, West): Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e. V. zu Berlin
Copyright 1984 by Walter de Gruyter & C o . 1000 Berlin 30 Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Satz und D r u c k : Saladruck, Berlin 36 Bindearbeiten: Verlagsbuchbinderei Dieter Mikolai, Berlin 10
Gliederung I. II.
Prolog Grundideen des Verfassungsstaates 1. Der Verfassungsstaat und die Idee der Verfassung a) Die Entwicklung zum Verfassungsstaat b) Die Idee der Verfassung aa) Antike Lehren bb) Theorien und Verfassungsdokumente des Mittelalters a) Marsilius von Padua, Nikolaus von Cues und Christian Wolff ß) Agreement of the people und instrument of government der Cromwell-Zeit cc) Theorie und Durchsetzung der verfassunggebenden Gewalt a ) Emer de Vattel und Abbé Sieyès ß) Die kolonialen Charters des 17. Jahrhunderts y) Konstitutionalisierte Volkssouveränität in Amerika im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts 2. Die Menschen- und Grundrechte a) Aufnahme von grundlegenden Rechten des Menschen in die amerikanischen Verfassungen als Grundlagen des Staates b) Die Maxime: Kein Schutz der Grundrechte ohne Verfassung, keine Verfassung ohne Grundrechte c) Drei Entwicklungsperioden in der Grundrechtsgeschichte Die geistesgeschichtliche und wissenschaftliche Grundlegung im 17. Jahrhundert d) Grundrechtskonstitutionalismus in den Vereinigten Staaten von Amerika und Grundrechtsabstraktionen in Frankreich aa) Die englischen birthrights als "ordinary law of the land" bb) Die Transformation in Rechte eines jeden Menschen durch Berufung auf das Naturrecht cc) Der verfassungsrevolutionäre Schritt: Die Festlegung natürlicher Rechte als verfassungskräftige Rechte e) Die Grundrechtsverfassung als Ausdruck der Reife des Verfassungsstaates 3. Die Sicherung des Verfassungsrechts a) Richterliche Garantie der Verfassung als Verfassungslogik b) Ausgangspunkt dieser Fundamentalfrage des Verfassungsstaates
aa) Alexander Hamilton: nature and reason of the thing bb) Edward Coke's Sentenz im Fall Dr. Bonham c) James Otis und die Idee der Nichtigerklärung verfassungswidriger Gesetze durch die Gerichte in den Vereinigten Staaten von Amerika aa) Judicial Review durch die Gerichte der Einzelstaaten vor Gründung des amerikanischen Bundesstaates bb) Die richtungweisende Bedeutung der Entscheidung des Supreme Court von 1803 d) Konzentration der Verfassungswidrigkeitserklärung der Gesetze bei den Verfassungsgerichten durch das Grundgesetz Epilog
I. Prolog 125 Jahre Juristische Gesellschaft zu Berlin ist ein stolzer Anlaß f ü r ein Jubiläum. D e r ehrenvollen Einladung, dieser Gesellschaft und ihrer hochansehnlichen Festversammlung Redner zu sein, bin ich gern gefolgt, verbindet mich doch mit Berlin eine fünfjährige Zugehörigkeit zu seiner Freien Universität, jener Stätte, die in schwerer Bedrängnis mit großzügiger amerikanischer Unterstützung als H o h e Schule freiheitlichen Forschens und Lehrens gegründet wurde. Es mag eine Regie des Zufalls sein, daß ich hier und heute noch an einem anderen Jubiläumstage spreche: Vor 35 Jahren wurde am 12. Mai durch ein in N e w York geschlossenes A b k o m m e n die Blockade Berlins beendet 1 . Auch in diesem Falle war es vor allem amerikanische Festigkeit, die Berlin und seiner in den Fährnissen der Weltgeschichte erprobten Bevölkerung Freiheit und Lebensfähigkeit sicherte. G r u n d genug, in meinem heutigen Vortrag Verbindungslinien aus dem ideengeschichtlichen Fundus staatsgestaltender Prinzipien zwischen Europa und Amerika aufzusuchen! Wenn es wahr ist, daß Deutsche zur Entstehung des amerikanischen Bundesstaates wichtige Beiträge geleistet haben, so ist es ebenso wahr, daß das amerikanische Volk seine Schuld nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Europa und besonders dem besiegten Deutschland zurückzahlte: zunächst durch den Marschall-Plan und durch die Unterstützung bei der Reorganisation der deutschen Staatlichkeit, später vor allem durch die Sicherheitsgarantien des nordatlantischen Bündnisvertrages. Das Besondere dieses ebenfalls vor 35 Jahren geschlossenen Vertrages ist, daß er neben dem Verteidigungszweck auch fundamentale geistig-politische, kulturelle, rechtliche und moralische Ziele, Traditionen und Ideale der Bündnispartner in sich aufnahm. Der Schutz des großen „gemeinsamen Erbes" der europäisch-amerikanischen Völker, der vielhundertjährigen Grundlagen und Werte ihrer Zivilisation, die das Wort von der Schicksalsgemeinschaft erlauben, sind das Lebensgesetz dieser Allianz 2 . 1 Vgl. Vier-Mächte-Kommunique vom 4.5.1949, UN Treaty Series, Vol. 138, S. 123. 2 Vgl. die Präambel des Nordatlantikvertrages vom 4.4.1949 (BGBl. 1955 II, S. 289). Der genaue Text lautet: „Die Parteien dieses Vertrags . . . sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten." Bei der Unterzeichnung des Vertrages 1949 sagte der amerikanische Außenminister Dean Acheson: "The reality which is sat down here is not created here. The reality is the unity of belief, of spirit, of interest
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Einen bedeutsamen Teil dieses gemeinsamen Erbes der politischen Gedankenwelt des Okzidents bildet der moderne Verfassungsstaat, die Verkörperung des imperium legitimum et limitatum. In der Kürze einer Feierstunde ist es selbstverständlich nur möglich, grundlegende Ideen dieses konstitutionellen Erbteils darzulegen.
II. Grundideen des Verfassungsstaates 1. Der Verfassungsstaat und die Idee der Verfassung a) Der aus den europäischen Religionskriegen hervorgegangene absolute Staat des 16. und 17. Jahrhunderts erfuhr in der Folgezeit eine gewaltige innere Umwälzung. In einem langwierigen politischen, sozialen und rechtlichen Entwicklungsprozeß wurde er Verfassungsstaat, ein Staat, dessen Gestalt und Funktionen sowie dessen grundlegende Abgrenzung zu den Individuen durch eine nach bestimmten Prinzipien zielbewußt ausgerichtete rechtliche Grundordnung bestimmt wurden5. Dieser Verfassungsstaat wurde in den letzten 200 Jahren zum festen Besitz vieler Staaten und zu einem selbstverständlichen Bestand unseres politischen Denkens. Mit gutem Grunde sind wir bestrebt, ihn zu einem Baustein einer soliden Organisation der Gemeinschaft der Völker zu machen, auch wenn wir wissen, daß die Welt um uns viele Prinzipien dieses freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates bekämpft. Weil wir überzeugt sind, daß die Idee des konstitutionellen Staates die für das Leben der Menschen in einer Gemeinschaft beste Form des Staates ist, müssen wir uns beständig Rechenschaft über ihre wesentlichen Inhalte geben4. of the community of nations represented here. It is a product of many centuries." Dieser Ausgangspunkt zeigt, daß der Nordatlantikvertrag nicht einer der üblichen Bündnisverträge ist, sondern ein qualitativ neuartiger Pakt, der neben den Verteidigungs- und Sicherheitszielen auch die geistig-politischen, rechtlichen und moralischen Ideale der Partner in sich aufnahm. 3 Aus früherer Zeit Lord Bolingbroke: "By constitution we mean, whenever we speak with propriety and exactness, that assemblage of laws, institutions and customs, derived from certain fixed principles of reason, directed to certain fixed objects of public good, that compose the general system, according to which the community hath agreed to be governed" (A Dissertation upon Parties in: The works of Lord Bolingbroke, 1841, Bd. II, S. 88). Die Virginia-Constitution von 1776 formuliert trefflich: " N o free government or the blessing of liberty can be preserved to any people but by . . . frequent recurrence to fundamental principles." Ähnlich die Verfassung von Pennsylvania aus demselben Jahr. 4 In den Diskussionen des Herrenchiemseer Verfassungskonvents im Sommer 1948 hatte ein Mitglied bemerkt: Was Jefferson und Hamilton bei der Verfassunggebung in den Vereinigten Staaten gewagt haben, ist „für uns heute bestenfalls literarisch interessant, politisch aber nicht lebensträchtig" (vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Bd. 2, 1981, S.73). Es irrte!
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F ü r alte Völker, wie die europäischen Nationen, ist eine Verfassung nach dem Zeugnis Hegels
„die Arbeit von Jahrhunderten, die Idee und
das Bewußtsein des Vernünftigen, inwieweit es in einem Volk entwickelt ist" 5 . In der N e u e n Welt konnten die Schöpfer des Verfassungsstaates nicht auf der Geschichtlichkeit ihres Volkes aufbauen; sie mußten auf Ideen, Erkenntnisse und Errungenschaften zurückgreifen, die in der Alten Welt gewachsen waren. A b e r wohl gerade jene Verbindung von staatsbildendem élan vital auf jungfräulichem Boden mit gemessener europäischer politischer Tradition hat dem Gedanken des Verfassungsstaates die K r a f t verliehen, die große Zukunftsperspektive zu werden. D e r Verfassungsstaat sollte, wie James
Madison
in den die amerikanische
Verfassunggebung begleitenden Federalist Papers, jenem durchaus auch staatstheoretisch angelegten Werk 6 , schrieb, „the greatest of all reflections on human nature" werden 7 . Sicher ist jedenfalls, daß seit der Entstehung des amerikanischen Verfassungsstaates die geschriebene, an bestimmten Prinzipien orientierte Rechtsverfassung zur „unwiderstehlichen (Immanuel
Kant)
Idee"
wurde. D i e Staatsgewalt sollte an N o r m e n gebunden
sein, ihre Legitimität eine verfassungsrechtliche sein. D ü r f e n wir die Geburtsstunde des auf dieser Prämisse beruhenden Verfassungsstaates in A m e r i k a sehen, so stand die Wiege seiner geistigen Vordenker zumeist in E u r o p a . Männer fast aller N a t i o n e n des Kontinents haben an seiner Herausbildung mitgewirkt. V o n der griechischen Antike bis zur Gegenwart erweist sich die Historie des Verfassungsstaates als eine Geschichte der Verrechtlichung der - u m nicht mißverstanden zu werden - unentbehrlichen Macht des Staates, die für den Menschen ein freiheitliches, aber rechtlich geordnetes und staatsbürgerlich gesichertes Leben in der Gemeinschaft gewährleisten will. A n die Stelle des imperium absolutum sollte das imperium limitatum treten. b) Zentraler A u s g a n g s p u n k t für die Entstehung des Verfassungsstaates ist die Idee der Verfassung
als höchstrangiger N o r m e n o r d n u n g , die in der
Regel in einer besonderen Verfassungsurkunde niedergelegt ist 8 . aa) E s ist vielfacher Scharfsinn aufgewandt worden, den modernen Verfassungsbegriff bereits in den Schriften des Aristoteles
aufzudecken. So
5 Grundlinien der Philosophie des Rechts, Zusatz zu §274, 2. Aufl. 1921, hrsg. von G. Lasson, S. 358. ' Vgl. C. von Oppen-Rundstedt, Die Interpretation der amerikanischen Verfassung im Federalist, 1970. 7 Hamilton-Madison-Jay, The Federalist Papers, hrsg. von Clinton Rossiter, 1961, Nr. 51, S. 322. 8 Näher zur Verfassung K.Stern, Staatsrecht Bd.I, 2.Aufl. 1984, §3 m. w. Nachw.; zuletzt E.-W. Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, Festschrift Gmür, 1983, S. 7 ff.
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gewiß für Aristoteles in Anknüpfung an Piaton die Verfassung als juristisches Orgänisationsprinzip der Ordnung eines Verbandes einen Unterschied zu den „normalen" Gesetzen ausmachte, so war für ihn Verfassung in erster Linie die Kennzeichnung der Staatsform. Staatsformen gab es aber viele. Die Einmaligkeit des Typus Verfassungsstaat war ihm nicht bewußt. Auch den römischen Juristen ging es, wie namentlich Ciceros „De República" ausweist, primär um Verfassungsformen und die beste materielle Verfassung. Aber der Eigenart dieses Rechtsinstituts als Konstituierungsfaktor eines spezifischen Staatstyps wurden sie nicht inne'. bb) Anklänge lassen sich weit stärker in den publizistischen Theorien des Mittelalters finden. Die Idee der Volkssouveränität, eingebettet in die germanische Genossenschaftsidee, und des Rechtsstaates, nach der auch der Staat auf einem Rechtsgrund zu basieren hatte und das Recht der weltlichen (wie der geistlichen) Macht Schranken setzte, war nie verloren gegangen10. Aber diese Bindung durch ein ius naturale oder ius divinum (später auch ius gentium) mußte doch in der Folgezeit dem Staatsabsolutismus, der Omnipotenz der Herrschergewalt, weichen. Die souveräne Staatsgewalt nahm schlechthin unbegrenzte Hoheit in Anspruch. a) Gleichwohl dürfen zwei große Modernisten des Mittelalters als geistige Vorausdenker mit ihren Lehren nicht unerwähnt bleiben: Marsilius von Padua und Nikolaus von Cues. Für den „Defensor Pacis" existierte bereits eine „lex", die die Verfahrensweise der Herrschergewalt dauernd regelte". Deutlicher wird der Cusaner, der den Papst durch die cánones, den Kaiser durch die leges imperiales gebunden erklärte12. Noch waren diese leges aber primär Verträge oder Naturrecht, jedenfalls aber nicht von einer besonderen Instanz geschaffenes Recht. Allerdings einmal erahnt, wurde die Vorstellung eines Fundamentalrechts mit höherer Geltungskraft ein zukunftweisender Gedanke. Christian Wollf schließlich kennzeichnet in seinem Jus Naturae methodo scientifica petraetatum'3 die leges fundamentales als der gesetzgebenden Gewalt entzogene Satzungen, welche „ad modum habendi et tenendi imperium pertinent", also den Herrscher bei der Ausübung der Staatsgewalt binden. Indessen hatten die Fundamentalgesetze, wie schon ' In dieser Richtung auch Ch.H. Mcllwain, Constitutionalism: Ancient and Modern, 1947, passim, und ders., in: Constitutionalism and the Changing World, Collected Papers, 1939, S.246f. 10 Vgl. O.v.Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 1881, Bd. III, S. 569 ff. 11
O. v. Gierke, a. a. O., S. 557 Fn. 99.
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O.v. Gierke, a . a . O . , S.615 Fn.267. Bd. VII § 8 1 5 (1742-1756).
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die Verwendung des Plurals zeigt, noch nicht den Charakter einer von einem Kristallisationspunkt des Staates aus getroffenen einheitlichen Willensentscheidung über das Grundgeriist des Gemeinwesens. Sie waren vielmehr ein „Gewebe von ständischen Rechtsverbürgungen, Thronfolgeregelungen, Organisationsnormen und Religionsfreiheiten..., das seine Entstehung eher historischen Zufälligkeiten als planmäßiger Aufzeichnung verdankte, in dem aber vor allem eine systematische O r d n u n g der zu regelnden Materien nicht zu erkennen war"". Das galt nicht nur für die leges fundamentales des Alten Deutschen Reiches, sondern auch f ü r bedeutsame immer wieder als erste Verfassungsdokumente anderer Staaten gefeierte Rechtsverbürgungen, wie die Charta von León aus dem Jahre 1188, die Magna Charta von 1215, die Kulmer Handfeste von 1233, die Joyeuse Entree der Niederlande von 1356. ß) Eine gewisse Ausnahme bildeten nur das „agreement of thepeople" und das „Instrument of government" der Cromwell-Zeit in England 15 . T r o t z ihrer nur kurzzeitigen Lebensdauer schimmert in ihnen mehr als 100 Jahre vor den amerikanischen Verfassungskämpfen der Glanz des modernen Verfassungsbegriffs durch. Eine solche Konstitution sollte das Ideal eines Staates verwirklichen, in dem Gesetze, nicht Menschen herrschen, wie James Harrington im Anschluß an antike Stimmen formulierte". Das damalige Staatsdenken hatte die Bedeutung dieses Gedankens nicht sogleich erkannt. Zwar verwendet Gregor von Tours in seiner 1578 erschienenen Schrift „De República" bereits den Begriff „Constitutio" für die leges fundamentales. Er, wie später Locke, Pufendorf u. a. bleiben aber am naturrechtlich oder vertragsweise bindenden Staatsgrundgesetz haften. cc) N o c h waren die verfassunggebende Verfassungsschöpfer nicht „entdeckt". 14
Gewalt
und ihr Träger als
Chr. Link, Herrschaftsordnung und Bürgerliche Freiheit, 1979, S. 180. John Lilbume sprach wiederholt von den „fundamental laws" und ihrer Höchstrangigkeit gegenüber „statutes": "And all laws made . . . contrary to any part of this Agreement are hereby made null and void" (abgedruckt bei R. Foster, Commentaries on the Constitution of the United States, 1895, Vol. I, S. 53). Und von O. Cromwell wird der Satz überliefert: "In every Government there must be somewhat Fundamental, somewhat like a Magna Charta, which should be standing, be unalterable" (Carlyle, Letters and Speeches of Oliver Cromwell, Part VIII, Rede vom 12.9.1654). Über die Entstehung der beiden Verfassungsdokumente Ch. Borgeaud, The Rise of modern democracy in Old and New England, 1894, S.45ff.; W.Rothschild, Der Gedanke der geschriebenen Verfassung in der englischen Revolution, 1903. " Oceana and other works, 1700, S.37, 45, 240. Harrington bezieht sich auf Aristoteles, Livius und Machiavelli. 15
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a ) Für mich entscheidend vollzog diesen Schritt - in manchem bei Montesquieu
anknüpfend - in der Theorie vor allem der Genfer Emer de
Vattel, der in seinem weit verbreiteten „Droit des Gens ou Principes de la Loi Naturelle" aus dem Jahre 1758 im berühmten Kapitel III des ersten Buches Begriff und Wesen der Verfassung im modernen Sinne herausarbeitete, ihr die anderen Staatsgewalten unterordnete und die „Nation" als Schöpfer der Konstitution bezeichnete: „Ii e s t . . . manifeste que la Nation est en plein droit de fermer elle-même sa Constitution.. Die Idee der modernen Verfassung und ihre Entstehung aus einem besonderen pouvoir constituant war theoretisch erfaßt, aber noch nicht durchschlagskräftig verwirklicht. Die Durchsetzung erfolgte noch vor des Abbé Sieyès Proklamation in der französischen Nationalversammlung in der Neuen Welt1». ß) Bisweilen ist man geneigt, bereits den ersten kolonialen Charters des 17. Jahrhunderts, etwa in Connecticut, New Jersey, Rhode-Island, Pennsylvania, Maryland, Massachusetts und Delaware den Durchbruch zuzubilligen". Dies ist m. E. nur bedingt zutreffend. Forscht man genauer nach, so erweist sich der Verfassungscharakter nur äußerlich als richtig: Es gab den Typus eines förmlichen Grundgesetzes, über das teilweise auch das Volk entschied, aber es blieb die Höherrangigkeit des englischen Rechts erhalten, was praktisch die Anerkennung der englischen Parla-
§31, S.61. In dem sonst großartigen Werk von E. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, 1909, wird Vattel übersehen. Daher ist die Feststellung Zweigs: „Das ,pouvoir constituant', von dessen Entdeckung sich Sieyes eine wissenschaftliche Epoche versprach, hat den Namen von Montesquieu, die Form- und Abgrenzung gegenüber der ordentlichen Gesetzgebung und repräsentativen Ausgestaltung von den Amerikanern, den Inhalt aber von Rousseau empfangen" (S. 137) nicht ganz zutreffend. Rousseaus „Contrat social" erschien ohnehin erst 1761. Zutreffend ist die Beurteilung von Ch. G. Haines, The American doctrine of judicial supremacy, 2d ed., rev. and enl., 1959, S. 41, 43. Er knüpft an die englische Entwicklung und an E. de Vattel an und schreibt: "The distinction between fundamental and ordinary laws was clearly drawn and American legal authorities soon began to make practical applications of the distinction" (Hervorhebung von mir) . . . "It is interesting to observe how the advocates of the American doctrine of judicial review made frequent use of the argument of Vattel that the constitution limited the legislative authority, but neglected to note that to Vattel the constitution was in the nature of political laws, whose preservation was not entrusted to any department of government but rested primarily with the people." Vattel galt als eine „fundamentale Autorität" (A. C. McLaughlin, The power to declare a law unconstitutional, in: The Courts, the Constitution and Parties, 1912, S.93 Fn. 1 mit Nachw.; B. Coxe, Judicial Power and Unconstitutional Legislation, 1893, S. 119). 17 1!
19 Vgl. Ch. Borgeaud, a.a.O. (Fn.15), S.117ff.; C.H. Mcllwain, Constitutionalism and the Changing World, S.241.
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mentssouveränität bedeutete 20 . Die definitive und für die Gegenwart maßgebliche Durchsetzung der Verfassungsidee erfolgte in diesen Neuenglandstaaten erst nach
1776".
y) Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wurde die uneingeschränkte verfassunggebende Gewalt für das Volk der Kolonisten selbst beansprucht, gleichzeitig dessen grundlegende Rechte nicht mehr als Rechte des englischen Bürgers, sondern als Menschen- und Bürgerrechte verstanden und der Verfassung besonderer Rang mit judizieller Sanktion zuerkannt. Zu diesem Zeitpunkt erst wurde dieses substantielle Ideengut der modernen Verfassung verwirklicht. Wollten die Kolonien unabhängige Staaten werden, war es gleichsam historische Folgerichtigkeit 22 , daß diese drei großen, teilweise auf alte Traditionen zurückblickenden Ideale in Amerika Wirklichkeit wurden. Die meisten Verfassungen der Einzelstaaten und die Unionsverfassung von 1787 führten das Volk „redend" als den Schöpfer der Verfassung ein, der der Staatsgewalt Aufgaben und Grenzen zumißt. „The express authority of the people alone could give due vality to the Constitution" kommentiert James Madison in den Federalist Papers 23 . Der Staat wird als gewaltengeteilte 24 Demokratie konstituiert, und die Konstitution wird als
20 Die Formel lautete: „not contrary" oder „not repugnant" to the laws of England. 21 Vgl. Ch. G. Haines, a.a.O. (Fn. 18), S.66; B.F. Wright, The Early History of Written Constitutions in America, in: Essays in History and Political Theory in Honor of Charles Howard Mcllwain, 1936; A. C. McLaughlin, The Foundations of American Constitutionalism, 1932; A.C. Coolidge, Theoretical and foreign elements in the firmation of the American Constitution, Diss. Freiburg i.Br., 1892; K. Carstens, Grundgedanken der amerikanischen Verfassung und ihre Verwirklichung, 1954; W.P. Adams, Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit, 1973. 22 Den für die amerikanische verfassungsrechtliche Unabhängigkeit so wichtigen Reden der Jahre 1761 bis 1765 von James Otis (vgl. unten 72) wurde vom späteren Präsidenten J. Adams vor der eigentlichen Unabhängigkeitserklärung das Prädikat zuerkannt: "Then and there, the child Independence was born" (vgl. W. Tudor, The Life of James Otis of Massachusetts, 1823, S. 61). 23 Nr. 43 sub 9, S.279. 24 Auch die Dreiteilung der Gewalten gehört zu den großen Essentialia, die den Verfassungsstaat geformt haben, zumal sie heute zu einem wichtigen Unterscheidungskriterium des freiheitlichen demokratischen Staates vom totalitären und diktatoriellen Staat geworden ist. Niemand hat dies besser zum Ausdruck gebracht als der unvergeßliche Max Imboden, der an dieser Stelle vor 25 Jahren der jüngeren Berliner Juristengesellschaft einen eindrucksvollen Vortrag gewidmet und das Fazit gezogen hat: „In seiner Lehre von der Gewaltenteilung hat Montesquieu eine Formel geprägt, die wie vielleicht kein anderes Dogma zur Hoffnung für den freiheitsuchenden modernen Menschen wurde" (Montesquieu und die Lehre von der Gewaltenteilung, 1959, zugleich auch in: Staat und Recht, 1971, S. 56). Wenn
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Rechtsetzungsakt von höherer Qualität und Kraft verstanden, weil er unmittelbar vom Volk seinen realen Ursprung nimmt. Verfassungsschöpfung ist Ausübung der Volkssouveränität 25 und, weil sie aus dieser Quelle stammt, ist sie von höherem Rang26. Government by constitution löst government by will ab. Das Ganze ist jedoch nicht Volkssouveränität pur, sondern Volkssouveränität
konstitutionalisiert,
d. h. limitiert vor
allem durch die Grundrechte.
2. Die Menschen- und
Grundrechte
a) Die Staatsverfassungen bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts waren Verfassungen, die aus dem Blickwinkel des Machtinhabers
gedacht
waren. Daran ändert es auch nichts, wenn „wohlerworbene Rechte", ständische Privilegien oder sonstige Rechtsverbürgungen in den leges fundamentales oder in den Freiheitsbriefen enthalten waren. Die darin niedergelegten Rechte waren keine höchstrangigen subjektiven Rechte, sondern meist nur auf Einzelfälle zugeschnittene paktierte Verbürgungen, über die die Staatsgewalt sich letztendlich doch hinwegsetzen konnte. Die „wahre" und vollkommene Verfassung ist aber erst dann vorhanden, wenn in ihr die grundsätzliche Stellung des einzelnen im Staate, im besonderen die grundlegenden subjektiven Rechte des Menschen gegen
ich hier nicht näher darauf eingehe, so deshalb, weil sich die staatsfunktionelle Aufgliederung nach Legislative, Exekutive und Judikative stärker als ein kompetenzverteilendes Organisationsprinzip der pouvoirs constitues entwickelt hat, das heute in den Staatsverfassungen der westlichen Welt eine differenzierte Ausformung - bei Wahrung ihrer unverzichtbaren Grundgedanken - gefunden hat. Ihr Hemmungs-, Balancierungs- und Kontrollsystem als solches ist allerdings für den Verfassungsstaat der Gegenwart unverzichtbar (vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.I, 2. Aufl. 1984, §20 IV 3, S. 792ff., Bd. II, 1980, §36, S. 513 ff. m.w.Nachw.). 25 Vgl. K. Stern, Staatsrecht Bd. I, 2. Aufl., § 5. Natürlich hatte man sowohl in römischer Zeit das imperium des princeps als auch im Mittelalter das kaiserliche imperium bisweilen auf das Volk zurückgeführt (vgl. H.Rehm, Geschichte der Staatsrechtswissenschaft, 1896, S. 165ff.; O.V.Gierke, a.a.O. ). Aber diese Volkssouveränität war nur Argument in der politischen Auseinandersetzung, nicht Verfassungsrealität.' 26 Vgl. Edward S. Corwin, The „Higher Law" background of American constitutional law, 42 Harv Law Rev (1928/29), S. 149ff., 365ff. (152): "The attribution of supremacy to the Constitution on the ground solely of its rootage in popular will represents, however, a comparatively late outgrowth of American constitutional theory. Earlier the supremacy accorded to constitutions was ascribed less to their putative source than to their supposed content, to their embodiment of essential and unchanging justice." Dieser gründliche und ausführliche Beitrag untersucht die Frage des Ursprungs der Idee des höheren Ranges der Verfassung von der Antike bis zum Jahre 1928.
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die Staatsgewalt enthalten sind. Die aus der Souveränität des Volkes konstituierte Staatlichkeit mußte freiheitlich und rechtsstaatlich durchwirkt werden. In der modernen Verfassung mußten die Generalpostulate des Menschen und Bürgers verwirklicht sein. Auch dieser Schritt zur A u f n a h m e von Rechten des Menschen, die auf seiner Personalität und W ü r d e beruhen, in das positivierte Recht erfolgte erstmals in den amerikanischen Verfassungen11. Entscheidend wurde dabei nicht einmal so sehr die Kodifizierung der Grundrechte - das geschah in gewissem Umfange schon in der englischen Bill of Rights - als vielmehr, daß die Prinzipien der Staatsorganisation und die der individuellen Freiheitsrechte innerlich miteinander verknüpft und wechselseitig aufeinander gestützt wurden. Verfassung und Grundrechte wurden gleichermaßen zu normativen Limitierungen der Staatsgewalt. Beider Synthese erst verleiht der Verfassung wirklich gr«»^gesetzliche Dignität, weil sie als Grundlagen des Staates verstanden werden. b) Vielfach wird die Idee vom pouvoir constituant des Volkes und die Festlegung von Menschen- und Bürgerrechten als „zwei Ausstrahlungen derselben geistigen Atmosphäre" eingeschätzt 28 . Indessen dürfte es wohl richtiger sein, die Grundrechte aus mehreren Sphären religiösen, philosophischen, anthropologischen, ethischen und politischen Ideengutes zu erklären: Christentum, Naturrecht, Humanismus, Aufklärung, Individualismus und eben auch der liberale und demokratische Konstitutionalismus spielten eine entscheidende Rolle. Stand die Grundrechtsentwicklung in ihren Anfängen im Verhältnis zur Gemeinschaft, z u m Staat, in einer eher antagonistischen Beziehung, als Teil des „hin- und herflutenden Prozesses the man versus the State", wie Richard Thoma sagte 2 ', so wandelte sich diese Beziehung mit der Institutionalisierung und Positivierung der Grundrechte in den Staatsverfassungen sichtbar. Grundrechte sind zu Fundamentalaussagen der Ver-
27 Die Unionsverfassung von 1787 erhielt ihre Grundrechte erst in den ersten 9 Amendments, ratifiziert zwischen 1789 und 1791. In der Constitutional Convention hielten einflußreiche Vertreter eine Bill of Rights von Anfang an für notwendig; sie kam dann auch sehr bald (vgl. L.H. Tribe, American Constitutional Law, 1978, S. 3). Die Mehrheit hielt es zunächst für ausreichend, daß sie in den Verfassungen der Staaten enthalten waren, die die Union bildeten. Die historische Parallele zur Entstehung der Reichsverfassung 1871 ist augenfällig. Es war ein Fehler, gegenüber Woodrow Wilsons Rüge, die Verfassung des Kaiserreichs enthalte keine Grundrechte, nicht mit diesem Hinweis zu reagieren. 28 E.Zweig, a . a . O . (Fn.18), S.2. 29 Grundrechte und Polizeigewalt, in: Verwaltungsrechtliche Abhandlungen, Festgabe zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des preußischen Oberverwaltungsgerichts, 1925, S. 187 Fn.4.
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fassungsstaatlichkeit geworden. Obwohl ihrer Herkunft nach „antérieurs et supérieurs aux lois positives", sind sie notwendiger Bestandteil der Staatsverfassungen geworden. Ohne sie hat der Staat keine Verfassung, wie Art. 16 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26.8.1789 formulierte. Die Rechte wurde im Sinne der Einleitung der berühmten Virginia Bill of Rights „basis and foundation of government". Diesen erstaunlichen Wandel von der Vor- und Uberstaatlichkeit zur verfassungsgesetzlichen Positivierung nach der Maxime: kein Schutz der Grundrechte ohne Verfassung, keine Verfassung ohne Grundrechte gilt es näher zu betrachten. c) Sehe ich die historischen und ideengeschichtlichen Entwicklungslinien der Grundrechte richtig, so lassen sich drei Hauptperioden unterscheiden: eine etwa bis 1600 dauernde Vorgeschichte, eine bis zum Beschluß der Déclaration of Rights auf dem Continental Congress in Philadelphia 1774 dauernde Zwischengeschichte und eine mit den Rechteerklärungen in den Neuenglandstaaten Amerikas30 anhebende Hauptgeschichte. Bis zum 17. Jahrhundert können wir lediglich Vorformen von Grundrechten in der Form objektivrechtlicher Beschränkungen königlicher Macht, Privilegien, ständische Rechte und allenfalls einzelne Freiheiten entdecken. Individualfreiheit als Prinzip kannten auch die berühmten Freiheitsbriefe und Charten nicht. Die zwischengeschichtliche Periode des 17. Jahrhunderts ist vor allem durch die geistig-religiöse, naturrechtliche und philosophische Grundlegung der Freiheit und der natürlichen Rechte des Menschen gekennzeichnet. Aus ihr ragen die bedeutenden Gewährleistungen der fundamental rights und liberties der englischen Stände und teils auch aller englischen Bürger hervor: 1628 Petition of Rights, 1679 Habeas-Corpus-Act und 1689 Bill of Rights31. Die sie begleitenden Untersuchungen, Traktate, Kampfschriften und theoretischen Erörterungen legten geistesgeschichtliche und wissenschaftliche Grundlagen für die Schaffung von Grundrechten. Es genügt, die Namen von Hobhes, Milton, Coke und Locke zu nennen. Bedeutsam in dieser Periode waren nicht zuletzt die naturrechtlichen Erkenntnisse von niederländischer, deutscher und französischer Seite durch Hugo Grotius, Samuel Pufendorf, Christian Wolff und die französischen Monarchomachen.
30 Texte abgedruckt bei R. Pound, The development of constitutional Guarantees of liberty, 1957, S.186ff. 31 Texte in deutscher Übersetzung bei W, Hubatsch, Die englischen Freiheitsrechte, 1962.
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Die während dieser Epoche geleistete gedankliche Vorarbeit ist für die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts anstehenden Verfassungskämpfe von entscheidender Bedeutung geworden. Sie legte die Fundamente f ü r die in der Hauptperiode nach 1776 einsetzende Verbindung eines G r u n d rechtskatalogs mit der fundamentalen Organisationsordnung des Staates in einer geschriebenen Verfassungsurkunde, die höheren Rang besitzt als das Gesetz und alle Staatsgewalt bindet. d) Bekanntlich ist in der Verfassungsgeschichte ein lebhafter Streit zwischen Georg Jellinek und Emile Boutmy über die Frage geführt worden, wem der Lorbeer gebührt, das große Ursprungsdokument zu sein, von dessen Existenz an die Grundrechte als Verfassungsbestandteil ihren Siegeszug um die Welt angetreten haben: die Virginia Bill of Rights vom 12.6.1776 oder die Déclaration des droits de l'homme et du citoyen vom 26.8.1789". Ein solcher Prioritätenstreit findet in der Rückschau nicht mehr das Gewicht, das ihm die Zeitgenossen beigemessen haben. Mag auch f ü r Europa die französische Déclaration die kräftigeren Impulse gegeben haben, vom historischen Ablauf her und vor allem mit Blick auf die juristische Relevanz sind die amerikanischen Verfassungsakte ungleich entscheidender geworden. Sie brachten das hervor, was ich Grundrechtskonstitutionalismus nennen möchte. Ihm und nicht den französischen Grundrechtsabstraktionen gehörte die Zukunft. Den Franzosen ging es primär darum, politische Maximen von abstrakter Reinheit zu schaffen, die wegen ihrer absoluten Wahrheit vom Verfassungsgeber erst konkretisiert werden sollten. Die Mehrzahl der Deputierten der Nationalversammlung wollte keinen „juristischen" Grundrechtskatalog formulieren. Dieser ergäbe sich von selbst, wenn man die philoso- • phisch-naturrechtliche Theorie der Rechte erkannt hätte. Rechtsnormen, die von Gerichten angewandt oder Grundlagen von Ansprüchen werden könnten, wolle man nicht schaffen 33 . 32 Vgl. G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und E. Boutmy, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Georg Jellinek, in: R.Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964, S. 1 ff., 113 ff. bzw. 78 ff. 33 Vgl. E. Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte, Bd. II, 1972, S. 399 f.; J. Sandweg, Rationales Naturrecht als revolutionäre Praxis, Untersuchungen zur „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" von 1789,1972. Neuerdings weist darauf zu Recht wieder A. Bleckmann, Gesetzesvorbehalt für Nachrüstung?, DVB1. 1984, 6 (7) hin. Der französische Conseil Constitutionnel ist dazu übergegangen, höhere Rechtsqualität anzunehmen (vgl. etwa EuGRZ 1982, 16 ff., 115 ff. Vgl. M. Fromont, Le contröle de la constitutionalite des lois en Allemagne et en France, in: Das Europa der zweiten Generation, Gedächtnisschrift Chr. Sasse, Bd. II, 1981, S. 795 ff.
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Ganz anders dachten die amerikanischen Verfassungsväter: An die Stelle von Abstraktionen, Theorien oder Philosophien von Grundrechten, an die Stelle von natural rights oder birthrights of the Englishmen sollten verfassungsmäßige Rechte jedermanns treten, die ohne Mühe verstanden, interpretiert und angewendet, vor allem der Staatsgewalt als positiv geltende Rechtssätze entgegengehalten werden konnten. Teils wurden diese Rechte in die Staatsverfassungen selbst aufgenommen, teils in besonderen bill of rights mit den Verfassungen verbunden34. Besonders berühmt wurde die soeben erwähnte Rechteerklärung von Virginia; am besten durchgebildet dürfte jedoch die Verfassung von Massachusetts sein. Sie enthielt im ersten Teil eine Declaration of Rights, im zweiten Teil einen Frame of Government. Bei ihrer Einführung meinte man: "We conceive that a Constitution in its proper idea intends a system of principles established to secure the subject in the possession and enjoyment of their rights and priviledges, against any encroachments of the governing part35." Fragt man, wieso gerade das junge Staatsvolk der Amerikaner zu dieser großartigen Tat in der Geschichte des modernen Verfassungsstaates einen so wesentlichen Beitrag geleistet hat, so scheint mir folgendes wesentlich. aa) Ursprünglich fühlten sich die Kolonisten als treue englische Bürger und beriefen sich auf ihre englischen birthrights aus den fundamental laws. Im Jahre 1687 erschien das erste amerikanische Rechtsbuch mit dem bezeichnenden Titel „The Excellent Priviledge of Liberty and Property, being the Birthright of the Free-born Subjects of England"36. Vor allem die in William Blackstones „Commentaries on the Laws of England" anerkannten „principal absolute rights", das Recht auf Sicherheit und Freiheit der Person sowie das Recht auf Eigentum spielten eine große Rolle. Freilich waren diese Rechte - wir erinnern uns37 - kein höherrangi-
34 Die erste Verfassung dieses Stils wurde in New Hamshire am 5.1.1776 errichtet; die weiteren Neuenglandstaaten folgten bald darauf. Die Verfassungen sind abgedruckt bei J. B. Thayer, Cases on Constitutional Law, Bd. 1, 1894, S. 381 ff. 35 Zitiert bei G. Stourzh, Grundrechte zwischen Common Law und Verfassung, in: G.Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, 1981, S. 74. Uber frühere Constitutional Charters vgl. F. N. Thorpe (Hrsg.), The Federal and State Constitutions, Colonial Charters and Other Organic Laws, 7 Bde., 1909. 36 Vgl. R. Pound, a.a.O. (Fn.30), S.62. Es enthielt die Magna Charta mit Kommentar, die Bestätigung der Charters unter Edward I., weitere Fundamental Laws, Liberties and Customs, das „Pattern" des Königs für William Penn und dessen Freiheitscharta für die Einwohner von Pennsylvania. 37 Vgl. oben II 1 b cc.
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ges Recht, sondern „ordinary law of the land", über das das Parlament kraft seiner Souveränität verfügen konnte. bb) Alle englischen Rechte galten jedoch nur solange, als man England treu blieb und nicht gegen seine Gesetze verstieß. In dem Augenblick, in dem man einen eigenen Staat errichten wollte, verloren diese Rechte ihre Basis. Wenn die Krone sie durch Verhaftungen, Handelsbeschränkungen oder Steuererhebungen gebrochen haben sollte, halfen sie ohnehin nicht. Wollte man einen von England unabhängigen Staat errichten, dem diese Rechte entgegengesetzt werden konnten, so mußte man aus den englischen Rechten Rechte eines jeden Menschen entwickeln, die höheren Rang als Gesetzesrecht hatten. Eine alte europäische Idee war dieser Transformation behilflich: Das Naturrecht als jede Staatsgewalt bindendes höchstrangiges Recht und die daraus abgeleiteten „natürlichen" Rechte eines jeden Menschen, einschließlich des Widerstandsrechts gegen illegitim ausgeübte Regierungsmacht. Die Rezeption des europäischen Naturrechtsgedankens in Amerika war angesichts seines Terrainverlustes in Europa erstaunlich, aber gleichwohl gut erklärbar: Die amerikanischen Juristen kannten Althusius38, Grotius", Locke*0, Pufendorf", Wolff1 - um nur die wichtigsten Namen zu nennen. Später zitierten sie aus Otto v. Gierkes großartig errichtetem Gebäude des mittelalterlichen Rechts. Sie vermochten natur-, Vernunft- und korporationsrechtliche Ideen ihrem Volk verständlich zu machen, weil die Siedler diesen Anschauungen sehr viel aufgeschlossener gegenübertreten konnten als die in viele Bindungen eingewobenen Europäer. Auch konnten sich auf das Naturrecht alle Konfessionen einigen. Amerikanische Gerichte pflegten zudem ohnehin wegen fehlender Gesetzesgrundlage sich häufig auf Natur- und Vernunftrecht zu berufen. Schließlich vermochte man aus
38 Zu ihm vgl. O. v. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 5. Aufl. 1958. " Vgl. zu ihm anläßlich seines 400. Geburtstages R. Zimmermann / D. L. Carey-Miller, Generis humani iuris consultus: Hugo Grotius (1583-1645), Jura 1984, Iff.; Chr. Link, Hugo Grotius als Staatsdenker, 1983. 40 Sein grundlegendes politisches Werk „Two Treaties of Government" lag mir in der Ausgabe London 1690 in der Beinecke Rare Book and Manuscript Library der University of Yale vor. 41 Seine „De jure naturae et gentium libri octo" lagen mir in der Ausgabe von 1672 in der Beinecke Rare Book and Manuscript Library der University of Yale vor. Zu Pufendorf zuletzt A. Randelzhofer, Die Pflichtenlehre bei Samuel Pufendorf, 1983. 42 Chr. Link, Die Staatstheorie Christian Wolffs, in: W.Schneiders (Hrsg.), Christian Wolff 1679-1754. Interpretationen zu einer Philosophie und deren Wirkung, 1983, S. 171 ff.; M.Thomann, Christian Wolff, in: M. Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, 1977, S. 248 ff.
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ihm überzeugungskräftig die These abzuleiten, daß die verletzten Rechte uralte, aus der Natur des Menschen abgeleitete Rechte jedes Individuums seien, über die sich keine Staatsmacht hinwegsetzen dürfe, sei es die englische Krone oder die neu zu gründende amerikanische Staatsmacht43. Mit dem Appell an das Naturrecht konnte man den Menschenrechten zugleich eine geistige Kraft verleihen, die über die amerikanische Umwelt hinauszuwirken befähigt war, um auf diese Weise Bundesgenossen zu gewinnen. cc) Die alte europäische Uberlieferung allein genügte nicht, um den Grundrechtskonstitutionalismus gleichsam manifest zu machen. Es bedurfte eines zweiten, des eigentlich verfassungsrevolutionären Schritts'*: Die vor- und überstaatlichen Rechte des Menschen mußten unbezweifelbar und unzweideutig festgelegt werden. Sie mußten Rechte des Einzelnen werden, die für die gesamte Staatsgewalt, weil höherrangig und verfassungskräftig, rechtlich bindend wurden. Die naturrechtlichen Menschenrechte mußten zu wahrhaftigen Grund-Rechten werden, auf denen das Staatsgebäude aufgebaut war. In diesem Sinne ging es darum, diesen Rechten die Qualität zu verleihen, „to be the foundation of the Government", wie bereits eine freilich nur 10 Jahre Gültigkeit besitzende „Great Charter of fundamentells" von West New Jersey von 1677 formulierte. Die Grund-Rechte mußten als höchstrangige Rechte ihre Quelle in der verfassunggebenden Gewalt finden und selbst Rechte der Verfassung werden. Wenn die Verfassung Gesetz auch für den Gesetzgeber sein sollte, mußten alle wichtigen Rechte Bestandteile der Verfassungsurkunde werden, damit sie der höchstrangigen Normenqualität teilhaftig wurden. Die ehedem bloß natürlichen Rechte mußten zu verfassungskräftigen Rechten, verfassungsrechtlich konstituierten und positivierten Rechten geformt werden, über die die verfassungskonstituierte Staatsgewalt nicht verfügen konnte. Neben der grundlegenden staatlichen Organisation enthielt die Verfassung die Verkündigung, Gewährleistung und Sicherung der Rechte des Individuums und Bürgers in seiner fundamentalen personalen, sozialen und politischen Existenz gegenüber der Staatsgewalt. Die Grundrechtsnormen verbürgten auf diese Weise fundamentale materielle Prinzi43 Bedeutsam wurden auch hier die Reden des in seiner Wirkung unten 3 c näher dargestellten/. Otis (vgl. W. Tudor, a . a . O . [Fn.22], S . 6 2 f f . ) . Uber den besonderen Charakter der amerikanischen Revolution vgl. E. Angermann, Der deutsche Frühkonstitutionalismus und das amerikanische Vorbild, Hist. Zschr. 219 (1974), S. 1 ff. B. Bailyn, The ideological Origins of the American Revolution, 1967, S. 19 ff. Sie war keine Revolution im üblichen Sinne, sondern eine Verfassungsrevolution, die besser als Evolution bezeichnet würde (vgl. unten 3 c).
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pien des Verfassungsstaates; sie gewährleisteten besonders bedrohte und darum besonders sicherungsbedürftige grundlegende, meist individuelle subjektivrechtliche Rechts-, insbesondere Freiheitspositionen des Menschen und Bürgers, und bildeten als Verfassungsrechtsnormen zugleich materiale objektivrechtliche normativ-wertbezogene Leitgrundsätze des Gemeinwesens44. Durch die Inkorporierung von Grundrechten in das Verfassungsrecht wandelte sich der wertneutrale
Konstitutionalismus
zum Grundrechtskonstitutionalismus, der den Staat auf eine (neue) materiale Legitimationsgrundlage stellte. Seither galt für alle Verfassungen als Leitidee 45 : Sie haben Grundrechte zu enthalten; sie sollten das „Herz jeder Verfassung" sein, wie es später Chief Justice Earl Warren ausdrückte46,
44 Diese geschichtliche Entwicklung gibt einen wichtigen Fingerzeig für Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation. Zum Streitstand vgl. zuletzt etwa R.A. Rhinow, Grundrechtstheorie, Grundrechtspolitik und Freiheitspolitik, in: Recht als Prozeß und Gefüge, Festschrift für H. Huber, 1981, S. 427ff.; G. Müller, Privateigentum heute, Schweizer Juristenverein, Heft 1, 1981, S. 22 ff. jew. mit w. Nachw.; W. Schmidt, Grundrechtstheorie im Wandel der Verfassungsgeschichte, Jura 1983, 169ff.; P.Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs.2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 342 ff.;/. P. Müller, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982. 45 Ihr konnten sich die europäischen Verfassungen fürderhin nicht entziehen, mag es auch nationale Sonderentwicklungen sowohl im mitteleuropäischen Raum Deutschlands, Österreichs und der Schweiz als auch in Frankreich und den von ihm beeinflußten Staaten gegeben haben. In der Substanz sind die Verschiedenheiten im freien Teil Europas - sieht man von der Sondersituation Großbritanniens ab freilich nur noch marginal. Die europäischen Verfassungen neuesten Datums sind voll ausgebildete Grundrechtsverfassungen (vgl. Chr. Starck, Europas Grundrechte im neuesten Gewand, in: Recht als Prozeß und Gefüge, Festschrift für H. Huber, 1981, S. 467 ff.). „Europa als Grundrechtsgemeinschaft" (E.Benda, Europa als Grundrechtsgemeinschaft, in: Politik als gelebte Verfassung, Festschrift für Friedrich Schäfer, 1980, S. 12ff.; ferner J. Schwarze / R. Bieber , Eine Verfassung für Europa, 1984) in Wiedergeburt des alten ius publicum europaeum läßt im Bereich der Grundrechte Verfassungshomogenität erkennen (vgl. P. C. MayerTasch, Die Verfassungen Europas, 2. Aufl. 1975, S. 1 ff.). Darauf hinzuwirken ist auch Aufgabe der Europäischen Gemeinschaften (vgl. K. Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl. 1984, §15 II 9f. mit Fn. 126; ]. Schwarze, Das Verhältnis von deutschem Verfassungsrecht und europäischem Gemeinschaftsrecht auf dem Gebiete des Grundrechtsschutzes im Spiegel der jüngsten Rechtsprechung, EuGRZ 1983, 117ff.; Chr. Starck, Ein Grundrechtskatalog für die Europäischen Gemeinschaften, EuGRZ 1981, 545 ff.; A. Bleckmann, Die Grundrechte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, EuGRZ 1981, 257 ff.). - Zur Universalität der Menschen- und Grundrechte etwa zuletzt K. W. Thompson, The Moral Imperatives of Human Rights, 1980; A. S. Rosenbaum, The Philosophy of Human Rights - International Perspectives, 1981. 46 Vgl. H. M. Christman (ed.), The Public Papers of Chief Justice Earl Warren, 1959, S. 7.
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oder in der Sprache des Bundesverfassungsgerichts „unaufgebbares, zur Verfassungsstruktur . . . gehörendes Essentiale" sein47. Naturrecht, Theologie, Philosophie und Theorie wurden von juristischer Geltung abgelöst. Die Menschenrechte als metapositive Kategorie wurden zu Grundrechten als positivrechtlichen Instituten transformiert'". e) Mit der Etablierung der Grundrechtsverfassung als höchstrangiger Rechtsnorm im Staate ist der Staat wahrhaftig Verfassungsstaat geworden, nämlich ein Staat, der nur nach Maßgabe und in den Grenzen der Verfassung Staatsgewalt ausüben darf und dabei die grundlegenden Rechte des Individuums wahren muß. Nicht die Verfaßtheit des Staates als solche ist die epochale Tat, sondern der spezifische Charakter der Verfassung und ihr materialer Gehalt als rechtlicher Grundordnung, die die staatliche Gesamtgestalt bestimmt. Im Verfassungsstaat ist die Staatlichkeit zu einer Reife gebracht, die sich weit über die Staatsformen der Vergangenheit erhebt. Man mag zweifeln, ob es jemals ein staatlich-gesellschaftliches System von absoluter, universaler und überzeitlicher Gültigkeit gibt. Aber der grundrechtsbestimmte demokratische Verfassungsstaat hat in seiner zweihundertjährigen Entwicklungsgeschichte so viele positive Errungenschaften hervorgebracht, daß er für das Zusammenleben der Menschen in einer Gemeinschaft nach historischer Erfahrung und rationaler Vorstellung ein gültiger Ordnungsplan zur Sicherung eines tradierten Bestandes allgemein konsensfähiger Prinzipien und Werthaltungen geworden ist. Darum ist es auch gerechtfertigt, daß das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland seine konstitutiven Bestandteile für unantastbar erklärt hat (Art. 79 Abs. 3 GG). Die im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts entstandene normative Verfassung „ist der Ausdruck eines Staatsethos, das den einzelnen nicht nur in seinem staatsfreien Dasein, sondern auch in seiner politischen Existenz als Mitverantwortlichen und Mitentscheidenden ernst nimmt und ihn nicht als bloßes Objekt der Politik betrachtet. Sie ist aber andererseits auch der Ausdruck dafür, daß auch die Staatsautorität menschlich gesehen wird, d. h. als Amt, zu dem der Einzelne nur als Treuhänder der Gesamtheit berufen ist und das ihm nicht als dominium
E 37, 271 (280). Vgl. M. Kriele, Zur Geschichte der Grund- und Menschenrechte, in: Öffentliches Recht und Politik, Festschrift für H . U . Scupin, 1973, S. 187ff.; Chr. Link, Naturrechtliche Grundlagen des Grundrechtsdenkens in der deutschen Staatsrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Das Naturrechtsdenken heute und morgen, Gedächtnisschrift, für R. Marcic, 1983, S.79. 47 48
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zukommt, wozu die unkontrollierte, durch keine Normen gehemmte Macht kraft einer fatalen Eigengesetzlichkeit schließlich führt"49.
3. Die Sicherung des Verfassungsrechts a) Die Verfassung kann freilich nur dann das „fundamental law" des Verfassungsstaates sein, wenn Äußerungen der Staatsgewalt, die mit der Verfassung im Widerspruch stehen, keine Geltung erlangen. Mit dem Vorrang der Verfassung ist zwangsläufig die Frage nach der Sicherung und Sanktion der Verfassungsrechtssätze gestellt. Um die Herrschaft der Verfassung durchzusetzen, bedarf es eines „Hüters der Verfassung"50. Wo finden wir ihn, ohne in den tödlichen Kreislauf zu verfallen, der schon die Antike bewegte: Quis custodiet ipsos custodes? Folgen wir vielen neueren europäischen und amerikanischen Staatsrechtlern, so ist die richterliche Garantie des Vorrangs der Verfassung „logiqtte de la Constitution"51. „Eine Verfassung, der zufolge auch verfassungswidrige Akte und insbesondere verfassungswidrige Gesetze gültig bleiben müssen, weil sie aus dem Grund ihrer Verfassungswidrigkeit nicht aufgehoben werden können, . . . nicht viel mehr als einen unverbindlichen Wunsch", urteilt in unanfechtbarer Rechtslogik Hans Kelsen*1, mit ihm kaum anders der Franzose Maurice Hauriou53 und der Italiener Giorgio del Vecchio54. Unserem heutigen Verfassungsverständnis ist der Gedanke der gerichtlich ausgesprochenen Verfassungswidrigkeit selbstverständlich55. Doch wo liegt sein Ursprung, wo ist er erstmals durchgesetzt? War er doch in Deutschland über lange Zeit keineswegs
4' W.Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, S. 49 f. 50 Die Suche nach dem Wächter der Verfassung ist uralt, sie bewegte bereits die Antike (vgl. C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 2. Aufl. 1969, S. 1 ff.). Auch in den Vereinigten Staaten war sie ein entscheidender Faktor zur Begründung des Judicial Review auch über Gesetze (vgl. Ch. G. Haines, a. a.O. , S.221 ff.; W.K. Geck, Judicial review of statutes: A comparative survey of present institutions and practices, Cornell Law Quarterly 1966, S. 250 ff.). 51 W. Kägi, a. a. O., S. 182 f. m. w. Nachw. 52 Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, W D S t R L Heft 5 (1929), S. 78. 53 Précis de Droit Constitutionnel, 2. Aufl. 1929, S.267. 54 Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1951, S.430. 55 Rechtsvergleichend M. Cappelletti / Th. Ritterspach, Die gerichtliche Kontrolle der Gesetze in rechtsvergleichender Betrachtung, JöR Bd. 20 (1971), S. 65 ff. m. w. Nachw.
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einleuchtend, da zunächst ein Vorrang der Verfassung vor dem Gesetz überhaupt nicht anerkannt wurde56. b) Einer der großen amerikanischen Verfassungsrechtler, Charles Howard Mcllwain, meinte: "Judicial review, instead of bein'g an American invention, is really as old as constitutionalism itself, and without it constitutionalism could never have been maintained57." Indes: Der eigentliche Konstitutionalismus beginnt erst, wie gezeigt, in den Vereinigten Staaten von Amerika. Der europäische monarchische oder parlamentarische Konstitutionalismus dachte anders: Für ihn war primär der Monarch, das republikanische Staatsoberhaupt oder das Parlament für lange Zeit Garant der Verfassung, auch wenn bisweilen in der Theorie der „légitimité juridique" Vorrang vor der „souveraineté politique" gewährt wurde5". Unstreitig steht hier eine Fundamentalfrage des Verfassungsstaates zur Diskussion, die in Deutschland (und Europa) das konstitutionelle Staatsrecht und das Weimarer Verfassungsrecht tief bewegte: Sind die Gerichte Wächter der Verfassung5'? Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hat Robert von Mohl der Frage der rechtlichen Bedeutung verfassungswidriger Gesetze und der Zuständigkeit der Gerichte zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eine auf hohem wissenschaftlichen Erkenntnisstand stehende - auch rechtsvergleichende Untersuchung gewidmet60. Darin bemerkte er: „Bis vor Kurzem sprachen
56 Vgl. zuletzt die Darstellung von R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat B d . 2 0 (1981), S.485ff. (491 ff.); F.-]. Peine, Normenkontrolle und konstitutionelles System, Der Staat Bd. 22 (1983), S. 521 ff. (536 ff.) jew. m . w . N a c h w . 57 In: Constitutionalism and the Changing World, Collected Papers, 1939, S. 278. 58 Vgl. etwa R. Hoke, Verfassungsgerichtsbarkeit in den deutschen Ländern in der Tradition der deutschen Staatsgerichtsbarkeit, in: Landesverfassungsgerichtsbarkeit, B d . I , 1984, S.70ff. 59 Vgl. für das 19.Jh. H.A. Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, 2.Theil, 2. Aufl 1854, S.241 ff. mit Stimmen pro et contra Fn. 1 1 - 1 3 ; W.Roleder, Ist der Richter nach Deutschem Staatsrecht berechtigt, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen?, Diss. Königsberg, 1910 m . w . N a c h w . ; E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1783, B d . 3 , 1978, S. 1055 m . w . N a c h w . ; jüngst R. Wahl/ F. Rottmann, Die Bedeutung der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik - ein Vergleich zum 19. Jahrhundert und zu Weimar, in: W . Conze / M . R . Lepsius, Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, 1983, S.349ff.; für Weimar E.V.Hippel, HdbDStR II, S.546ff. m. Nachw. pro et contra Fn. 32 f. 60 Die Abhandlung ist erstmals in der Kritischen Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes, Bd. X X I V (1852), erschienen. Umgearbeitet und erweitert ist sie publiziert in: Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. 1,
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sich fast nur die amerikanischen Staatsrechtslehrer in der Sache aus . . . Erst allmählich ist auch in Europa, namentlich in Belgien und Deutschland, die Bedeutung der Frage näher getreten.. .61" aa) In der berühmten Nummer 78 der Federalist Papers hat Hamilton
1788
wesentliche
Gründe
zusammengefaßt,
Alexander
warum
die
Gerichte Hüter der Verfassung sein sollen und befugt sind, auch Gesetze, die der Verfassung widersprechen, für nichtig zu erklären. Dies ist für ihn ein Stück „nature and reason of the thing"a. Hamilton gibt keine Quellen an, außer den „celebrated" Montesquieudiesen
aber nur, um darzutun,
daß die richterliche Gewalt die schwächste sei, der man getrost die Wahrung der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger anvertrauen könne. Dennoch gibt sich Hamilton
nicht als Entdecker der vor allem aus dem
Vorrang der Verfassung abgeleiteten Konsequenz aus. Wiederholt äußert er sich in dem Sinne, nur einleuchtende Argumente und Doktrinen
1860, S. 66 ff. 1824 hatte R.v.Mobl „Das Bundes-Staatsrecht der Vereinigten Staaten von Amerika" publiziert. Eine geplante verwaltungsrechtliche Fortsetzung ist nicht mehr erschienen. " A. a. O., S. 69. Bei v. Mohl finden sich keine Ausführungen zur Frage des Prüfungsrechts bei den Gerichten des Alten Reiches, Reichskammergericht und Reichshofrat. Diese Fragestellung hat bislang wenig Aufmerksamkeit gefunden. Die Dissertation von B. Wulffen, Richterliches Prüfungsrecht im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation des 18. Jahrhunderts, Frankfurt 1968, geht ihr sorgsam nach. Ähnlich wie beim Supreme Court (vgl. im Text) war von einem Recht der Gerichte zur Überprüfung von Normen des Reiches (anders bei Landesrechtsnormen) nicht die Rede; man sprach von einem „Gegeneinanderhalten" der Rechtssätze (J.J. Moser, Von der Teutschen Justizverfassung - Neues Teutsches Staatsrecht VIII, 1774, S. 1165). Auch dieses „Gegeneinanderhalten" beschränkte sich im wesentlichen auf ein (formelles) Prüfen ordnungsmäßigen Zustandekommens einschließlich des Zustimmungserfordernisses der Stände. Eine materielle Prüfung fand nur zur Abwehr der Kabinettsjustiz statt. Diese Ansätze zur Entwicklung einer richterlichen Normenkontrolle gingen im 19. Jahrhundert verloren. Noch 1922, auf der ersten Konferenz der deutschen Staatsrechtslehrer, konnte R. Thoma in seinem Vortrag über „das richterliche Prüfungsrecht" sagen: „Nichtüberprüfung ist das uns historisch Gegebene, ist deutsche, ja europäische Tradition und durchaus causa favorabilis" (AöR Bd. 43 [1922], S. 267 ff. ). a A. a. O. (Fn. 7), S. 468. 63 Die Ideen der Uberprüfung der Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit wird in den Vereinigten Staaten von Amerika gelegentlich mit der Staatstheorie Montesquieus erklärt, des durch die Verfassung vielfach begrenzten Staates, freilich nur kombiniert mit der neuartigen Zutat einer gestärkten Rechtsprechung (vgl. E. S. Corwin, The Supreme Court and constitutional Acts of Congress , 4 Mich. Law Rev. 626 f.) Uber Montesquieus Bedeutung und die seines „De l'Esprit des Lois" s. auch J.B. Thayer, Cases on Constitutional Law, 1894, Bd. 1, S.2 Fn. 1.
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anderer vorzutragen. Und in der Tat haben wir unsere Aufmerksamkeit weiter zurückzulenken. bb) Im Jahre 1610 urteilte der englische Richter Sir Edward Coke64 in einer an sich eher nebensächlichen Angelegenheit, der causa des Dr. Bonham, daß das Common Law Gesetze kontrolliere und, wenn diese im Verhältnis zu jenen widersprüchlich seien, müßten sie als „void", ungültig, nichtig, beurteilt werden. Coke berief sich in seinem Urteil auf „our books", ohne freilich seine Quellen zu nennen'5. Es dürften wenigen vorangegangenen Gerichtsurteilen abgesehen
von
jene mittelalter-
lichen Schriften gemeint sein, nach denen Herrscherakte, die die naturrechtlichen Schranken nicht beachteten, nichtig und unverbindlich seien und niemanden bänden67. Ausschlaggebende Gründe für die Ungültigkeit waren der Verstoß gegen „common right und reason", Widersprüchlichkeit oder Unmöglichkeit der Durchführung des Gesetzes, nicht aber Verfassungswidrigkeit. Common law galt als Verkörperung von Recht und Vernunft schlechthin, aber nicht als Verfassung. Cokes berühmte Sentenz vermochte sich indessen in England nicht durchzusetzen 68 , obschon mit ihr 100 Jahre später im Kampf um das Septenatsgesetz nochmals argumentiert wurde 6 '. Vielleicht mochte die Ursache darin zu erblicken sein, daß Coke die Perücke des Richters mit 64 Über Coke vgl. Catherine Dinker-Bowen, The Lion and the Throne. The Life and Times of Sir Edward Coke, 1552-1634, London 1957; J. Beauté, Un grand juriste anglais: Sir Edward Coke, 1552-1634. Ses idées politiques et constitutionnelles, 1975. 65 Der Satz lautet genau: "And it appears in our books, that in many cases, the common law will control acts of parliament, and sometimes adjudge them to be utterly void: for when an act of parliament is against common right and reason, or repugnant, or impossible to be performed, the common law will control it and adjudge such act to be void" (8 Coke Rep 118 a ). Eine gute Kommentierung von Cokes Dictum findet sich bei Ch. H. Mcllwain, High Court of Parliament and its Supremacy, 1910; Th. F. T. Plucknett, Bonham's Case and Judicial Review, 40 Harv Law Rev., 30ff. ; E.S. Corwin, a.a.O. (Fn.26), S.368ff.; S.E. Thome, 54 The Law Quarterly Rev. 543 ff. (1938). 66 Nachw. bei Th. C. Grey, Origins of the unwritten Constitution: Fundamental Law in American Revolutionary Thought, 30 Stanf Law Rev. 843 at 854 (1977-78) und J. B. Thayer, a. a. O. (Fn. 63), S. 12 ff. 67 Nachw. bei O.V.Gierke, a.a.O. (Fn.10), S.611 Fn.257, S.624 Fn.290; H. Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970, S. 387ff., bes. Fn. 619, 655. 6! Maßgeblich wurde die Sentenz von Chief Justice Holt, in: City of London v. Wood, 12 Mrd. 687: "An Act of Parliament can do no wrong though it may do several things that look pretty odd." Diese Doktrin gipfelt in De holmes Aphorismus: "Parliament can do anything except make a man a woman or a woman a man" (vgl. Quaritsch, a.a.O., S.441 Fn.176). 69 Vgl. G. Stourzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit: Zum Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jh., 1974, S. 13 f.
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der des Parlamentariers vertauschte -
ein bei uns eher umgekehrter
Rollenwechsel - und an seiner Idee keinen großen Gefallen mehr fand. (Als Oppositionspolitiker wurde er allerdings dem nach absoluter Monarchie strebenden König sehr viel gefährlicher.) In der Sache war entscheidend: Das englische Recht akzeptiert die Rangabstufung von Verfassungs- und Gesetzesrecht nicht. Das Parlament hat die höchste Macht. „Sovereignty and legislature are convertible terms", formuliert Blackstone
William
in seinen berühmten Commentaries on the Laws of England70.
70 Ausgabe von 1803 mit den Kommentierungen von St. G. Tucker, S. 46. Blackstone räumt allerdings ein, daß unausführbare, absurde oder offenkundig vernunftwidrige Gesetze nichtig sind (S.91), fährt jedoch sogleich fort: "But if the parliament will positively unact a thing to be done which is unreasonable, I know of no power in the ordinary forms of the constitution, that is rested with authority to control it" (ebda). Unmittelbar folgend schränkt er jedoch sofort wieder ein: . . . "where the main object of a statute is unreasonable, the judges are at liberty to reject it; for that were to set the judicial power above that of the legislative...". Der amerikanische Professor und Richter des General Court von Virginia St. G. Tucker bemerkt in seinem Kommentar ebda: Es scheint, daß alle britischen Juristen darin übereinstimmen, daß die Autorität des Parlaments absolut und unkontrollierbar ist; "insomuch that it may alter or change the Constitution itself. But, in America, the Constitutions, . . . being the acts of the people, and not of the Government, and the power of Government being by those Constitutions, respectively, distributed into three district, and co-ordinate, branches; ...all which are equally bound by Duty to their Constituents, the people; and by Oath, also, to support the Constitution." Daraus folgert er dann das Recht der Gerichte, verfassungswidrige Gesetze nicht anzuwenden, wobei er sich zur Bedeutung der Verfassung auf Vattel bezieht (s. auch ebda Appendix Note A). - J. W. Gough, Fundamental Law in English Constitutional History, 1961, S. 2: "In Great Britain today it is a commonplace, on which all lawyers (and politicians) are agreed, that parliament is a sovereign legislature, and that there is therefore no such thing as fundamental law in this sense in the modern British constitution"; A. V. Dicey, Introduction to the study of the law of the Constitution, 8. Aufl. 1923, S. XVIIIff., 37ff.: "Thi principle of Parliamentary sovereignty means . . . that Parliament . . . has, under the English constitution, the right to make or unmake any law whatever; and, further, that no person or body is recognised by the law of England as having a right to override or set aside the legislation of Parliament" (ebda S. XVIII f. und S. 37 f. in der Definition von 1885). Allerdings ist sich Dicey in der letzten Auflage seiner Definition nicht mehr so ganz sicher; es ist für ihn jedoch nur eine Frage des Glaubens, daß keine verfassungswidrigen Akte vom Parlament beschlossen werden, ohne jedoch daran zu zweifeln, daß die Sovereignty of Parliament nicht mehr die „fundamental doctrine of English constitutionalists" sei (S. C. und S. 59 ff.). Verfassungsrecht ist für Dicey denn auch zu trennen in „Rules which are true laws - law of the constitution" und „rules which are not laws - conventions of the constitution" (a.a.O., S.23). Ob Parlamentssouveränität wirklich rechtlich uneingeschränkt bestand, wird neuerdings für nicht unzweifelhaft gehalten (vgl. die neueste Darstellung in der Kölner Diss, von Th. Langheid, Souveränität und Verfassungsstaat - Die Sovereignty of Parliament, 1984). Über neuere Entwicklungen, durch Richterrecht zu einer Kontrolle zu gelangen, vgl.
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c) Indessen, einmal in der Welt, feierte Cokes Urteil auf amerikanischem Boden eine großartige Wiederauferstehung. „It was the resistence to English authority which culminated in the American Revolution, that rendered the conception of a fundamental law and of individual natural rights popular and encouraged judges to regard it as their peculiar duty to guard and defend the superior laws. The doctrine that there were superior laws to which all legislation must conform was eloquently defended by James Otis" stellt die Untersuchung von Charles Grove Haines über Entstehung, Grundlagen und Entwicklung der amerikanischen Lehre von der Überprüfung der Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit fest71. Otis, Bostoner Rechtsanwalt, verteidigte Kaufleute gegen die Zollbehörden 150 Jahre später unter anderem mit der Berufung auf das Urteil im Fall Dr. Bonham und mit dem Argument „Acts against the Constitution" seien nichtig72. Der Begriff „unconstitutional" wurde wenig später von ihm und weiteren amerikanischen Juristen vor allem 1765 gegen das „Stempelgebührengesetz" gebraucht. Er war plötzlich en vogue in den NeuenglandStaaten und war ein wichtiges Instrument im Ringen um die amerikanische Unabhängigkeit. Diese wurde zwar mit Waffen erkämpft, aber mehr noch entpuppte sich der Kampf als eine Verfassungsrevolution, genauer: als eine Evolution von Bedeutung und Rang der Verfassung im Leben eines Volkes. Rechts argumente jedenfalls hatten in der Auseinandersetzung große Bedeutung, und die Theorie vom richterlichen Prüfungsrecht
W.v. Simson, Das Common Law als Verfassungsrecht, Der Staat Bd. 16 (1977), S. 75 ff. (84 ff.); über verfassungspolitische Erwägungen für eine „written constitution", einen „Bill of Rights Act" und einen „constitutional court" unter dem Eindruck europäischer Entwicklungen s. L.Scarman, Fundamental Rights: The British Scene, 78 Columbia Law Rev. 1575 ff. at 1585 f. (1978). 71 A . a . O . (Fn. 18). Das Werk erschien 1914 in 1.Auflage, 1932 in 2.Auflage. Zitiert hier nach der Neuausgabe von 1959; ebenso erkennen A. C. McLaughlin, a. a. O . (Fn. 18), S. 79 ff., und B. Bailyn, The ideological Origins of the American Revolution, 1967, S. 176 ff., Otis eine herausgehobene Rolle zu. 72 Die Worte Otis sind uns durch John Adams, den 2. Präsidenten der USA, überliefert: "An act against the Constitution is void: an Act against natural Equity is void: and if an Act of Parliament should be made, in the very words of the petition, it would be void. The Excutive Courts must pass such Acts into disuse. 8 Rep. 118, from Viner." Adams fügt hinzu: "Then and there the child Independence was born" (Adams, Life and Work, 1850, Bd. 10, S. 248; vgl. auch W. Tudor, a . a . O . , S.72, 81). E.S. Corwin ergänzt zutreffend: "Today he must have added that then and there American constitutional law was born, for Otis contention goes far beyond Coke's: an ordinary court may traverse the specifically enacted will of Parliament, and its condemnations is final" ( a . a . O . , S.398). S. auch R. Pound, a . a . O . (Fn.30), S.79. - Otis machte auch anknüpfend an Burke die Formel „taxation without representations is tyranny" populär (vgl. Tudor, a. a. O . , S. 76, 90).
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wurde im Volke
außerordentlich
populär.
Trotz
gewisser früherer
Ansätze war sie alles in allem Produkt des ausgehenden 18. Jahrhunderts und erst in den Vereinigten Staaten durchgesetzt", ohne daß die europäischen Ingredienzen geleugnet wurden". James
Otis, Student des Harvard College, war ein gebildeter Mann,
der, wie seine Schrift „The Rights of the British Colonies asserted and proved" auswies, Grotius, Locke, Pufendorf,
Montesquieu,
Vattel genau
kannte 75 . Den Angestellten seiner Anwaltskanzlei soll er sogar eingehämmert haben, daß ein Rechtsgelehrter niemals ohne einen Band des Naturrechts sowie der Moralphilosophie auf seinem Schreibtisch sein sollte. Nicht überraschend hielt er daher den Grundsatz der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze für ein Gesetz der Natur und der Völker sowie der göttlichen Vernunft 76 . Vereinzelt hatten Kolonialgerichte Otis' Gedanken aufgegriffen und das Stempelgebührengesetz als verfassungswidrig nicht angewandt 77 , aber durchgesetzt war das Prinzip nicht, noch nicht. Es bedurfte erst der
75 Vgl. E. S. Corvin, Marbury v. Madison and the doctrine of judicial review, 12 Mich Law Rev. 538 ff. (1913-1914). 74 Eine historische Würdigung der Entstehung in den USA hält folgende Grundsätze für maßgeblich: "First and foremost, the separation of powers of government and the independence of the judiciary, which led courts to believe that they were not bound in their interpretation of the constitution by the decisions of a collateral branch of the government; second, the prevalent and deeply cherished conviction that governments must be checked and limited in order that individual liberty might be protected and property preserved; third, that there was a fundamental law in all free states and that freedom and God-given right depended on the maintenance and preservation of that law, an idea of the supremest significance to the men of those days; fourth, the firm belief in the existence of natural rights superior to all governmental authority, and in the principles of natural justice constituting legal limitations upon governmental activity, a notion that was widely spread and devoutly believed in by the young lawyers and statesmen of the Revolutionary days who were to become the judges of the courts and the lawyers that made the arguments; fifth, the belief that, as a principle of English law, the courts would consider that an act of Parliament contrary to natural justice or reason was void and pass it into disuse, a belief which was especially confirmed by the reference to Coke" (so A.C. McLaughlin, a.a.O. , S. 105f.; übereinstimmend Ch.G. Haines, a.a.O. , S.204ff.; E.S. Corwin, a.a.O. , S.571f. (1913-1914). 75 Uber deren Verbreitung in den Vereinigten Staaten vgl. Th. C. Grey, a. a. O. (Fn.66), S.859ff.; W.Tudor, a.a.O. (Fn.22). 76 Vgl. Adams, a. a. O., S. 275; G. Hägermann, Die Erklärungen der Menschenund Bürgerrechte in den amerikanischen Staatsverfassungen, 1910, S. 47, 54; W.Tudor, a.a.O. (Fn.22). 77 Stourzh, a.a.O. (Fn.69), S.17; R.Pound, a.a.O. (Fn.30), S.80f.; Ch.G. Haines, a. a. O. (Fn. 18), S. 612 f.
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Positivierung der Verfassungen, der Erkenntnis im Vorrang der Verfassung und der verfassunggebenden Gewalt des Volkes sowie der Verankerung der Grundrechte als verfassungsmäßiger Rechte des Bürgers in den Verfassungen der Gründerstaaten der USA. Die Durchsetzung des Prinzips vollzog sich seit etwa 1774 bis 1803. "It was in this period that the American doctrine of judicial review of legislation was formally announced and accepted as a feature of the public law of the states and of the nation. The gradual emergence of the principles that constitution are fundamental laws with a peculiar sanctity, that legislatures are limited and receive the commission for their authority from the constitution, and that courts are to be considered the special guardians of the superior written laws may be observed in the evolution of political ideas which accompanied the separation from the British Empire and the establishment of an independent America7'." aa) Gemeinhin wird der Beginn der Uberprüfung der Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit und ihre Nichtigerklärung im Falle eines Widerspruchs zur Verfassung mit der berühmten einstimmigen Entscheidung des Supreme Court vom Februar 1803, begründet durch Chief Justice John Marshall, angesetzt7'. Diese Entscheidung ist in Wahrheit jedoch der Schlußpunkt einer Entwicklung, die fast 30 Jahre früher begann und sich gegen den erwähnten etablierten englischen Rechtsstandpunkt durchsetzen mußte. Marshall gab dem judicial review allerdings den Charakter eines grundlegenden Prinzips des künftigen amerikanischen Verfassungsrechts. Bereits die Gerichte der Staaten!0, die später den Bundesstaat bildeten, hatten Gesetze der Legislative der Einzelstaaten auf ihre Vereinbarkeit mit 78 Ch.G. Haines, a.a.O. (Fn. 18), S.66. W.Tudor beendet seine Biographie über J.Otis mit den Worten: "The future historian of the United States, in considering the foundations of American independence, will find that one of the cornerstones must be inscribed with the name of James Otis" (a. a. O. , S. 494). 79 Vgl. 1 Cranch 137ff. . 80 Ich lasse die englische Rechtsprechung der Privy Councils außer Acht, weil sie als staatliche Rechtsprechung über Provinzialakte der Kolonien wirkte (Nachweise bei Ch.G. Haines, a.a.O. , S.44ff. und J.B. Thayer, American Doctrine of Constitutional Law, 7 Harv Law Rev. 129 at 131 . Ganz vereinzelt erklärten auch Kolonialgerichte Kolonialgesetze für ungültig, so in Massachusetts im Falle Giddings v. Brown (vgl. P. S. Reinsch, English Common Law in the Early American Revolution, Bd. 1, S. 376 f. ). Für diese und andere erste Fundstellen über die Nichtigerklärung von Gesetzen vor der Unabhängigkeit dürfte das Urteil E.S. Corwins zutreffend sein: "This does not prove however, I think, that there actually was anything like judicial review in the American colonies; the reference is almost certainly to Coke's dictum" (The Establishment of Judicial Review, 9 Mich Law Rev. 102 at 105 ).
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den Staatsverfassungen überprüft. Von den obersten Gerichten Virginias, New Jerseys, New Yorks, Connecticuts, Rhode Islands, North-Carolinas und Massachusetts werden mehrere solcher Fälle überliefert", und die amerikanische verfassungsrechtliche Literatur schließt nicht aus, daß noch weitere Vorläufer gefunden werden82. Es bedarf keiner detaillierten Untersuchung darüber, ob die Entscheidungen in allen Fällen überzeugende Gründe lieferten; maßgeblich war, daß die Richter die Gesetze des Parlaments nicht mehr ungeprüft hinnahmen. Diese Tendenz setzte sich nach Inkrafttreten der Unionsverfassung von 1787 und des Judiciary Act von 1789 fort. Ihr schlössen sich die Gerichte weiterer Staaten mit wechselnder Begründung an83. bb) Obschon also die Staatsgerichte das richterliche Prüfungsrecht ausübten und auch der Supreme Court vor 1803 mehrfach betonte, daß Gesetze im Widerspruch zur Verfassung absolut ungültig sind („absolutely void")84, die letztlich ausschlaggebenden und die richtungweisenden Argumente wurden 1803 von John Marshall formuliert. Sie sind noch heute maßgeblich und beruhen im Kern auf zwei schlichten, aber trefflichen Einsichten: Weil die Verfassung das höchstrangige, auf dem Willen des Volkes beruhende Gesetz ist und alle abgeleitete Staatsgewalt begrenzt, muß im Konfliktfalle der niederrangige Rechtssatz zurücktreten. Er ist juristisch ungültig, kein Recht, und darf daher von den Gerichten als den maßgebli-
81 Ausführliche Darstellung derselben bei Wm. M. Meigs, The Relation of the Justiciary to the Constitution, 19 Am Law Rev. 175 ff. (1885); Ch. B. Elliott, The legislatures and the courts, 5 Pol. Science Quarterly 224 ff. (1890); B. Coxe, Judicial Power and Unconstitutional Legislation, 1893, S.220ff.; J.B. Thayer, Cases on Constitutional Law, 1894, S. 55 ff.; ders., The Origin and Scope of the American Doctrine of Constitutional Law, 19 Harv Law Rev. 129 ff. (1893); E.S. Corwin, The Establishment of Judicial Review, 9 Mich Law Rev. 102 und 283 (1910-1911); A.C. McLaughlin, a.a.O. (Fn.18), S.3ff.; Ch.G. Haines, a.a.O. (Fn.18), S. 88 ff. 82 Vgl. Ch. G. Haines, a. a. O. (Fn. 18), S. 88. " Vgl. Ch. G. Haines, a. a. O. (Fn. 18), S. 148 ff. 84 Vgl. besonders Chandler v. The Secretary of War, and United States v. Todd, 13 Howard 52ff. (1794); Vanhorne's Lesse v. Dorrance, 2 Dallas 304 (1795). Meist handelt es sich jedoch in den kritischen Fällen nicht um Bundesgesetze. Weitere Fälle bei Ch. G. Haines, a. a. O. (Fn. 18), S. 171 ff. und Ch. Warren, Earliest Cases of Judicial Review of State Legislation by Federal Courts, 32 Yale Law Journal 23 ff. (1922). Absolut ungültig bedeutete: "An unconstitutional act is not a law; it confers no rights; it imposes no duties; it affords no protection; it creates no office; it is, in legal contemptation, as inoperative as though it had never been passed" (U.S. Supreme Court, in: Norton v. Stelby County, 118 US 425 at 442