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German Pages 270 Year 2017
Jelena Adeli Grüne Verflechtungen
Kultur und soziale Praxis
Jelena Adeli (Dr. phil.), geb. 1981, berät Kommunen bei Veränderungsprozessen und Beteiligung im öffentlichen Raum. Die Ethnologin promovierte an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology in der Nachwuchsforschergruppe »KlimaWelten«, die in Kooperation mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen entstand.
Jelena Adeli
Grüne Verflechtungen Naturschutz und Politiken der Zugehörigkeit in Kap Verde
Die Dissertation entstand an der Universität Bielefeld in der Fakultät für Soziologie.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Abkürzungsverzeichnis | 7 1. Einleitung | 9 2. Methodologie | 37
2.1 Multi-sited Ethnography in Kap Verde | 39 2.2 Methoden der Datenerhebung | 47 2.3 Reflexion der Forscherrolle | 52 2.4 Methoden der Datenanalyse und textliche Repräsentation | 57 2.5 Zusammenfassung | 59 3. Kapverdische Umwelten | 61
3.1 Historische Ortsbestimmungen der kapverdischen Inseln | 64 3.2 Touristische Entwicklungszonen und Naturschutzgebiete | 81 3.3 Schildkrötenschutz, -konsum- und Ökotourismus | 87 3.4 Sand, Sandabbau und Küstenschutz | 92 3.5 Zusammenfassung | 97 4. Grenzverschiebungen | 101
4.1 In Bofareira | 104 4.2 Vor dem Hotel Calistan | 113 4.3 In Minão | 122 4.4 Widerstand als Re-Territorialisierung | 131 4.5 Zusammenfassung | 132
5. Nachts am Strand | 139
5.1 Schildkrötenfang | 143 5.2 Schildkrötenschutz: Patrouillen und Exkursionen | 151 5.3 Biosoziale Konfigurationen | 168 5.4 Zusammenfassung | 170 6. Vor den Augen aller | 173
6.1 Netzwerke im Sand | 176 6.2 Politiken der Beschuldigung: Die soziale Konstruktion des Sandabbaus | 186 6.3 Das Einfordern sozialer Anerkennung | 195 6.4 Zusammenfassung | 198 7. Naturschutz und Politiken der Zugehörigkeit | 201
7.1 Kolonialisierungen des Alltags | 202 7.2 Grüne Illegalitäten | 214 7.3 Naturschutz und Bürgerschaftlichkeit | 219 7.4 Zusammenfassung | 224 8. Ausblick: Naturschutz als Projekt globaler Fürsorge? | 227 9. Glossar | 231 Literatur | 235 Abbildungen | 267
Abkürzungsverzeichnis
AdM AP
Associação do Minão; Verband von Minão Áreas Protegidas; kurz für: Consolidação do Sistema de ÁreasProtegidas em Cabo Verde; Konsolidierung des Systems geschützter Gebiete in Kap Verde BIP Bruttoinlandsprodukt DGA Direcção Geral do Ambiente; Generaldirektion Umwelt ECREEE ECOWAS Centre for Renewable Energy and Efficiency; ECOWAS Zentrum für Erneuerbare Energien ECOWAS Economic Community of West African States; Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ENG Escola de Négocio e Governação; School of Business and Governance GDMP Direcção Geral da Marinha e Portos; Generaldirektion für See- und Hafenangelegenheiten GEF Global Environmental Facility; Globale Umweltfazilität HDI Human Development Index; Index für menschliche Entwicklung INDP Instituto Nacional do Desenvolvimento das Pescas; Nationales Forschungsinstitut für Fischereientwicklung INE Instituto Nacional de Estatística; Nationales Amt für Statistik INIDA Instituto Nacional da Investigação do Desenvolvimento da Agricultura; Nationales Institut für die landwirtschaftliche Forschung und Entwicklung INMG Instituto Nacional do Geofísica e Meteorologia; Nationales Institut für Geophysik und Meteorologie IO Internationale Organisation IOM Internationale Organisation für Migration ITCZ Inter-Tropical Convergence Zone; Intertropische Konvergenzzone
IUCN
International Union for the Conservation of Nature; Weltnaturschutzunion LCBV Liga dos Condutores da Boa Vista; Bund der Taxifahrer auf Boa Vista LDC Least Developed Countries; am wenigsten entwickelte Länder MAHOT Ministerio do Ambiente, Habitação e Ordenamento do Território; Ministerium für Umwelt, Wohnung und Infrastruktur MIC Middle Income Countries; Länder mit mittlerem Einkommen MpD Movimento para a Democracia; Bewegung für Demokratie NRO Nichtregierungsorganisation PAIGC Partido Africano da Independência do Cabo Verde e Guiné-Bissau; Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit Kap Verdes und GuineaBissaus PAICV Partido Africano da Independência de Cabo Verde; Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit Kap Verdes RTC Radio e Televisão de Cabo Verde SDTIBM Sociedade des Desenvolvimento Turístico das Ilhas de Boa Vista e Maio; Gesellschaft für die touristische Entwicklung der Inseln Boa Vista und Maio SIDS Small Island Developing State; Kleine Inselentwicklungsländer UN United Nations; Vereinte Nationen UNDP United Nations Development Program; Umweltprogram der Vereinten Nationen UNEP United Nations Environment Program; Umweltprogramm der Vereinten Nationen UNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization; Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur UNICV Universidade de Cabo Verde; Universität Kap Verde WWF World Wide Fund for Nature ZDTI Zonas de Desenvolvimento Turístico Integral; Zonen für die Integrierte Entwicklung des Tourismus ZEE Zona Económica Exclusiva; exklusive Wirtschaftszone ZRTP Zonas Reserva e Protecção Turística; reservierte Tourismus- und Schutzzonen ZTE Zonas Turísticas Especias; Spezielle Tourismuszone
1. Einleitung
Am 31. August 2015 traf ein Hurrikan mit bis zu 135 km/h den Archipel Kap Verde. 1 Fred zog in unterschiedlicher Intensität über die zehn Inseln hinweg, schwächte sich nach einem Tag zu einem tropischen Sturm ab und war bis zu seinem Eintreffen in den USA und der Karibik nur noch ein Tiefdruckgebiet. Es kam zu heftigen Winden, Erdrutschen und Wellengängen. Bäume wurden entwurzelt, Straßen wurden durch die Wassermassen unpassierbar, und der nationale Flugverkehr fiel aus. Mehrere Küstenbereiche des Archipels wurden überschwemmt, und die unterhalb des Meeresspiegels liegenden Gebiete, standen noch Tage nach dem Eintreffen des Hurrikans unter Wasser. Besonders stark betroffen war die Insel Boa Vista.2 Dort überraschten die bis zu elf Meter hohen Wellen und die starke Strömung zwei Fischer, die am frühen Morgen ihre Rückfahrt auf die Insel Santiago starteten. Nachdem ihr Boot gekentert war konnten sie sich an einen Strand von Boa Vista retten und kehrten erst einige Tage später in die Hauptstadt Praia zurück. Fred war ein neues Ereignis in Kap Verde: seit den Wetteraufzeichnungen war er der erste Hurrikan, der direkt auf den Archipel traf. In der Mitte des atlantischen Ozeans gelegen, sind die kapverdischen Inseln bisher der Entstehungsort von Hurrikanen, der Kap-Verde-Typ-Hurrikane,3 die gewöhnlich Richtung Wes-
1
Vgl. National Hurricane Center (NHC). http://www.nhc.noaa.gov/; vom 23.11.2015.
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Die Namen aller Inseln und größeren Orte wurden übernnommen.
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Die Kap-Verde-Typ-Hurrikane zählen zu den heftigsten und längsten atlantischen Hurrikanen und entstehen in der Passatwindzone in den Monaten August und September. Durch die Feuchtigkeit und die Hitze des tropischen Atlantiks gewinnen die Luftmassen an Intensität und entwickeln sich auf ihrem Weg zum nächstgelegenen Festland von tropischen Stürmen zu Hurrikanen. Vgl. dazu: http://www.aoml.noaa. gov/hrd/tcfaq/A2.html; vom 21.10.2015.
10 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN ten, nach Nordamerika und Kanada, zu den karibischen Staaten, nach Zentralamerika oder Mexiko wandern. Dass der Hurrikan diesmal in Kap Verde verheerende Zerstörungen auslöste, deuteten viele Menschen auf dem Archipel als eine Folge des Klimawandels, und die gesellschaftliche Diskussion darüber, Klimaschutz und Naturschutz zu forcieren, lebte wieder auf. Doch es gab auch andere Reaktionen auf das Wetterereignis, in denen die Menschen nicht institutionelle und politische Verantwortlichkeiten thematisierten, sondern die Folgen des Hurrikans mit dem, was in ihrem Lebensalltag wichtig war, verbanden. Diese unterschiedlichen Reaktionen spiegelten die Perspektiven und Beziehungen wider, die Menschen in Kap Verde zu ihrer Umwelt haben. Von dieser Vielzahl an Mensch-Umwelt-Beziehungen handelt die vorliegende Arbeit. In Kap Verde wurden Fred und seinen Folgen in unterschiedliche Lebenszusammenhänge gesetzt: auf Facebook posteten einige meiner kapverdischen Freundinnen4 Bilder und Videos von überschwemmten Straßen und zerstörten Häusern, und dankten Gott dafür, dass keine Menschen ums Leben gekommen waren. Ein Bekannter aus Praia teilte einen Bericht des amerikanischen Fernsehsenders CNN über den seltenen Hurrikan in Kap Verde und betitelte den Beitrag mit »Der Klimawandel in Kap Verde«. Eine Freundin, die auf Boa Vista lebt, kommentierte ein Bild, auf dem überschwemmte Plätze und Hotels auf der Insel zu sehen waren: sie sei froh, dass diesmal nicht wie im Jahr 2012 nach den heftigen Regenfällen die Brücke der Hauptverkehrsstraße zusammengebrochen war und die gesamte Infrastruktur der Insel erneut lahmlegte. In einem SkypeGespräch mit einer Kapverdierin, die bei einer Nichtregierungsorganisation (NRO) für den Schildkrötenschutz auf Boa Vista arbeitet, erfuhr ich, wie das Team der NRO von seinem Camp am Strand evakuiert wurde, und dass der Sturm einen Großteil der Schildkrötennester am Strand zerstört habe. In den Online-Ausgaben der kapverdischen Zeitungen las ich darüber, dass die Regierung nicht genügend Maßnahmen ergriffen hätte, um die Bevölkerung ausreichend vorzuwarnen. In einem anderen Artikel der Zeitung reflektierte der Autor darüber, ob Fred ein positives oder negatives Vorzeichen für die kapverdische Landwirtschaft in diesem Jahr sei. Denn durch die Regenmassen waren nun die Staudämme im Inneren Santiagos mit Wasser gefüllt, was insbesondere die kapverdischen Bäuerinnen dazu veranlasste, der bevorstehenden Ernte mit Hoffnung entgegenzusehen. Der Autor bezeichnete die Zerstörungen durch den Hurrikan im Vergleich zu den positiven Folgen der Regenfälle nur als gering, denn »maior
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Mit Nennung der weiblichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die männliche Form mitgemeint.
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rikeza di nos tera e txuba na txon« 5 (das Beste, was unserem Land passieren kann, ist, dass es regnet). Die Perspektiven auf das Ereignis im August/September deuten auf verschiedene Erklärungsmuster von Wetterphänomenen und Umweltveränderungen hin und beinhalten ein breites Spektrum von Erfahrungen (Milton 2002), die Menschen mit der Umwelt machen. In Kap Verde manifestieren sich diese Erfahrungen unter anderem in menschlichen Beziehungen zum Naturschutz, die im Mittelpunkt meiner Arbeit stehen. Dabei lege ich den Untersuchungsfokus auf die verschiedenen Anbindungen, die Menschen zu ihrer Umwelt haben. Der Begriff ›Umwelt‹ umfasst die materielle und immaterielle Welt, Orte, das Zuhause, Vergangenes und in der Zukunft Liegendes, sowie die Geschehnisse der Gegenwart. Dies sind genau jene Kontexte, in denen sich Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse entfalten und sich Erfahrungen und Handlungen von Menschen entwickeln (Ingold 2000; Milton 2002). An dieser Stelle ist eine Unterscheidung von Naturschutzdiskursen und Naturschutzpraktiken notwendig: Praktiken sind eine »typisierte Form des Sich-Verhaltens« (Reckwitz 2010: 189) und beinhalten eine implizite Wissensordnung, die in Körpern oder Artefakten materiell verankert ist. Naturschutzdiskurse sind zwar auch Praktiken, da sie als sprachlich oder visuell vermittelte Narrationen, Sachverhalte oder Zusammenhänge darstellen und implizite Wissensordnungen ermöglichen. Hierbei handelt es sich jedoch um diskursive Praktiken oder Praktiken der Repräsentation, bei denen weniger die materielle Trägerschaft, sondern die Form, Art und Weise des Dargestellten analytisch relevant sind (ebd.: 191f.). Die Erfahrungen, die Menschen mit Naturschutz machen, hängen davon ab, inwieweit sie darin involviert sind, und welche spezifischen Anbindungen sie mit ihrer Umwelt haben. Unter ›involviert sein‹ verstehe ich die praktischen Lebenszusammenhänge, in denen Menschen sich durch ihre Sprache, Erfahrungen und Handlungen befinden. Über diese Daseinsformen sind Menschen kontinuierlich in die Geschehnisse der Welt eingebunden und an der Gestaltung ihres Lebensalltags beteiligt. Involviertheit bezeichnet damit ein stetes »active engagement« (Ingold 2000: 76) des Menschen mit der Umwelt oder das »in-der-Weltsein«. 6 Im Zuge dieser Involviertheit nehmen Menschen auch ihre Rechte,
5
Http://asemana.sapo.cv/spip.php?article113012&var_recherche=fred&ak=1; vom 23. 11.2015.
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Ingold bezieht sich in seinen früheren Werken unter anderem auf Martin Heidegger (Ingold 2000: 168), der aufgrund seiner Kritik am Cartesischen Dualismus zwischen Mensch und Natur für dessen Arbeit an Bedeutung gewinnt. Heidegger bezeichnet die Involviertheit des Menschen als »in-der-Welt-sein« (Heidegger 1967: 62 zitiert in
12 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN Pflichten und Ansprüche in Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskursen als berührt, bedroht, bestärkt oder verändert wahr. Wenn Berührung, Bedrohung, Bestärkung und Veränderung von Anbindungen auftreten, beeinflusst dies, inwieweit Menschen sich in ihrem Zuhause ›zugehörig fühlen‹. Diese Zugehörigkeiten stehen im Mittelpunkt meiner Arbeit. Zugehörigkeiten entstehen abhängig von der gemeinschaftlichen Gestaltung des materiellen Zuhauses und davon, wie Menschen sich dabei emotional und sozial verorten. Für die Schaffung von Zugehörigkeiten ist darüber hinaus wichtig, wie Menschen ihre emotionalen und sozialen Verortungen wahrnehmen, bewerten und gestalten. Auch Naturschutzdiskurse und Naturschutzpraktiken sind Teil dieser gemeinschaftlichen Gestaltung des materiellen Zuhauses. Die zentrale Frage meiner Arbeit lautet daher: Inwieweit sind Menschen in Diskurse und Praktiken des Naturschutzes in Kap Verde involviert? Wie wirkt sich diese Involviertheit darauf aus, wie sie ihre Zugehörigkeiten wahrnehmen und gestalten? Dabei argumentiere ich, dass die Involviertheit verschiedener Akteure in Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskursen vor Ort zu physischen und diskursiven Grenzziehungen beiträgt, durch die sich bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten vertiefen. Bei dem Begriff Grenzziehungen orientiere ich mich an Lamont und Molnár (2002), die der Frage nachgehen, welche Rolle symbolische Ressourcen dabei spielen, wenn Menschen institutionalisierte soziale Unterschiede kreieren, verfestigen oder herausfordern (ebd.: 168). Sie unterscheiden zwischen symbolischen Grenzziehungen, die Menschen und Praktiken voneinander abgrenzen, und sozialen Grenzziehungen, die sich soweit verfestigt haben, dass sie mit ungleichen Zugängen zu materiellen und nicht materiellen Ressourcen verbunden sind (ebd.: 168f.). Diskursive Grenzziehungen entstehen in und sind Teil von (politischen) Kommunikationen, in der aus unterschiedlichen Positionen agierende Akteure objektive Wissensbestände mit kommunikativen Praktiken vermitteln. So konstruieren sie eine soziale Wirklichkeit (Berger und Luckmann 2012 [1980]) und schaffen gesellschaftliche Gegebenheiten (KnorrCetina 1989: 87). Diesen Ansatz aufgreifend zeige ich in meiner Arbeit, wie Grenzziehungen – sowohl materielle als auch diskursive – zu verschiedenen Formen des Ausschlusses führen und Machtbeziehungen widerspiegeln. Somit haben Grenzziehungen zur Folge, dass Menschen sich in verschiedenen Bereichen ihres Lebensalltags marginalisiert, ausgeschlossen und nicht mehr zugehörig fühlen. Um mit diesen Erfahrungen und mit den Konsequenzen des Naturschutzes umzugehen, entwickeln sie unterschiedliche Strategien. Ich zeige, wie Menschen im Zuge ihrer Involviertheit mit dem Naturschutz Rentsch 2003 [1985]: 106), das eine situative Eingebundenheit in den und Beschäftigung mit dem praktischen Lebensvollzug beschreibt.
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verschiedene Zugehörigkeiten artikulieren, um sich in ihrem Zuhause zu verorten. Und weiterhin zeige ich, wie Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse zu einem Ventil werden, um gesamtgesellschaftliche Ungleichheiten zu thematisieren und herauszufordern. Viele der gegenwärtigen Arbeiten zu Naturschutz folgen dem Trend, Naturschutz als ›neoliberalisiert‹ und als neue Form globaler, wirtschaftlicher und politischer ›Entwicklung‹ zu deuten.7 Diese Ansätze gehen meines Erachtens nicht weit genug, da sie die Involviertheit von Menschen mit dem Naturschutz nicht ausreichend untersuchen. Mit meiner Forschung gehe ich einen Schritt weiter und analysiere die Beziehungen von Menschen mit dem Naturschutz als Praktiken ›von unten‹: ich demonstriere, wie Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse lokale Zugehörigkeiten beeinflussen und verändern. Konkret gehe ich darauf ein, wie in lokalen menschlichen Beziehungen ein Spannungsfeld entsteht, in dem Zugehörigkeiten nicht mehr als Selbstverständlichkeiten wirken, sondern artikuliert werden und ins Zentrum politischer Auseinandersetzungen rücken. Meine Arbeit vertieft die ethnologische Analyse zu Auswirkungen von Naturschutz und zeigt, wie Menschen in Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskursen Zugehörigkeiten produzieren können. Damit arbeite ich den Zusammenhang zwischen Naturschutz und Politiken der Zugehörigkeit aus und erfasse die verschiedenen Nuancen dieser Verflechtungen. In Bezug auf die Akteurskonstellationen war ich mit einer Diskrepanz aus dem Feld konfrontiert, die einer näheren Erläuterung bedarf: meine Gesprächspartnerinnen konstruierten ›Naturschützerinnen‹ (als externe Akteure) und die ›lokale Bevölkerung‹ als zwei Akteursgruppen, die sie einander gegenüberstellten. Mit dieser Gegenüberstellung geht eine Zuschreibung von globalen und lokalen Wissensbeständen einher, die wiederum zu einer Dichotomisierung der Naturschützerinnen und der lokalen Bevölkerung führt (vgl. Nygren 1999; Milton 1996). Bei der Trennung dieser beiden Akteursgruppen handelt es sich um eine Rhetorik, mit der meine Gesprächspartnerinnen Menschen und deren Praktiken kategorisieren und voneinander abgrenzen. Doch meine Untersuchung zeigt, dass beide Akteursgruppen in komplexen Beziehungen zueinanderstehen, ihre Praktiken an sich überschneidenden Wissensbeständen und Logiken orientieren, und dass die kontrastierten Positionen im Feld miteinander verflochten sind. Insofern sind diese ›Gruppen‹ nicht trennscharf voneinander abzugrenzen, weil sie sich personell überschneiden. Wenn Akteure im Feld zwischen (externen) Naturschützerinnen einerseits und lokaler Bevölkerung andererseits unterscheiden, handelt es sich eher um eine diskursive Abgrenzung als um real existierende unterschiedliche ›Gruppen‹. ›Naturschützerinnen‹ oder ›Naturschutzver7
Die Forschungsansätze zu ›neoliberalem Naturschutz‹ führe ich weiter unten aus.
14 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN treterinnen‹ sind kapverdische und nichtkapverdische Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen und Mitarbeiterinnen der Regierung, von NROs, von nationalen und internationalen Institutionen, die Mensch- Umwelt-Beziehungen diskursiv und praktisch nach einem hegemonialen Deutungsmuster und nach moralischen Imperativen gestalten. Die methodologische Herausforderung meiner Arbeit liegt darin, diese dichotomische Unterscheidung von Akteuren im Feld nicht zu ignorieren, sondern ernst zu nehmen, und sie gleichzeitig nicht zu reproduzieren. Daher betrachte ich diese Dichotomie als Phänomen des Feldes, die immer wieder aufbricht. Ebenso lösen sich die Grenzziehungen zwischen Naturschützerinnen und der lokalen Bevölkerung, sowie die Praktiken und Diskurse eher auf oder verändern sich, als dass sie sich vertiefen. Anhand dieser Verflechtung arbeite ich die Schattierungen und Facetten von Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskursen heraus und zeige damit, dass Naturschutz kein Konstrukt ist, das auf einen Ort und eine Gesellschaft aufgesetzt wird, sondern dass es Menschen vor Ort sind, die die Beziehungen zur Umwelt gestalten. Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis meiner zweijährigen Feldforschung auf den zwei kapverdischen Inseln Santiago und Boa Vista (2010 bis 2012). Die Analyse beinhaltet sowohl die Erfahrungen und Praktiken von Fischern, Taxifahrern und Verkäuferinnen, als auch die von nationalen und internationalen Vertreterinnen des Naturschutzes. Der Datenkorpus setzt sich somit aus der Beobachtung verschiedener Mensch-Umwelt-Beziehungen und aus ethnographischen Gesprächen mit unterschiedlichen Akteuren zusammen, die ich nach der grounded-theory-Methodologie (siehe Kapitel 2) analysiert habe. Dieses erste Kapitel dient als Leseanleitung meiner Forschungsarbeit. Ich beginne mit der Entwicklung meines Forschungsinteresses und erläutere die Fragestellungen, mit denen ich das Thema bearbeite. Im Anschluss gehe ich auf die relevanten Forschungslinien der Umweltethnologie und der politischen Ökologie zu Naturschutz ein und erläutere darauf aufbauend, wie ich Mensch-UmweltBeziehungen anhand des Konzeptes von Zugehörigkeit untersuche. Ein Überblick zu den Studien zu Naturschutz und Zugehörigkeit in Kap Verde ordnet meine Arbeit in den regionalen Forschungskontext ein. Die Einleitung endet mit der Übersicht der Kapitel. Entwicklung des Forschungsinteresses und Fragestellungen Der Hurrikan Fred, der im August/September 2015 die Inseln traf, steht im Trend einer Zunahme extremer Wetterverhältnisse, wie ich sie zu Beginn meiner Feldforschung im Mai 2010 beobachten konnte: Unwetter wurden stärker, Regenphasen verschoben sich, der Meeresspiegel stieg an, und die sonst gemäßig-
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ten Temperaturen, die selten über 30 oder unter 18 Grad Celsius lagen, fielen und stiegen auf neue Höchst- und Tiefpunkte. Bereits im Jahr 2009 waren die Regenfälle so heftig, dass auf einigen Inseln Brücken einstürzten und die Hauptverkehrsstraßen unpassierbar wurden. Der Regen löste Erdrutsche aus, überschwemmte Häuser und zerstörte die lang erwartete Ernte auf den Feldern. Im selben Jahr trat auch zum ersten Mal das Dengue-Fieber auf, welches das Ausmaß der klimatischen Veränderungen demonstrierte und die Inselbewohnerinnen vor neue Herausforderungen stellte.8 Wie Hurrikan Fred sind auch heftige Regenfälle ein neues Phänomen in Kap Verde, wo die Menschen sonst Monate lang auf txuba,9 den Regen, warten, der die vulkanischen Inseln von der oft monatelangen Trockenheit erlöst und für eine kurze Zeit ergrünen lässt. Parallel zu diesen Klimaveränderungen findet eine schnelle und ressourcenintensive wirtschaftliche ›Entwicklung‹ auf den Inseln statt. Im Zuge des Ausbaus der touristischen Infrastruktur und der damit verbundenen Konjunktur auf dem Wohnungsmarkt werden Land, Sand, Wasser und Energie zu wertvollen ›Ressourcen‹. Für Bauunternehmen und Investoren aus dem privaten Sektor ist Kap Verde zu einem attraktiven wirtschaftlichen Standort und einem noch zu erschließenden Arbeitsmarkt geworden, der auch viele Menschen aus Europa, den USA, China und westafrikanischen Ländern anzieht. Während die klimatischen Bedingungen auf Kap Verde – viel Sonne und wenig Regen – zuvor als lebensfeindlich wahrgenommen wurden und die Bewohner des Archipels ab dem 17. Jahrhundert dazu veranlasste, in die USA, auf das afrikanische Festland und nach Europa zu emigrieren, sind sie nun vor allem eine bedeutende ökologische Ressource, die den Aufbau des Tourismus ermöglicht. 10 Klimaveränderungen und die touristische Entwicklung sind relevante Rahmenbedingungen, unter denen sich Menschen auf Kap Verde mit Zugehörigkeiten auseinandersetzen und Zugehörigkeiten gestalten. Dabei ist die umweltbezogene Auseinandersetzung mit Zugehörigkeiten historisch geprägt: die zum Teil traumatischen Emigrationserfahrungen der kapverdischen Gesellschaft trugen nachhaltig zu einem kollektiven Verständnis über Mensch-Umwelt-Beziehungen bei und prägten die gegenwärtigen Vorstellungen, die Menschen in Kap Verde mit Emigration verbinden. Viele Kapverdierinnen führen Umweltveränderungen 8
Siehe dazu Rodrigues, Monteiro und Torres (2013).
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Langworthy und Finan weisen auf die beinahe mystische Konnotation des kreolischen Wortes txuba (Regen) hin (Langworthy und Finan 1997: 51). Für die Ortographie und Übersetzung der kreolischen Begriffe verwende ich das Wörterbuch des Kreols von Santiago von Jürgen Lang (2002).
10 Mit der sich über die Zeit wandelnden Konstruktion von Kap Verde als Ort beschäftige ich mich ausführlicher in Kapitel 3.
16 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN auf spirituelle Einflüsse zurück und sind der Ansicht, dass weniger die Menschen, sondern die naturéza (Natur) oder deus (Gott) das Wetter und das Klima auf den Inseln beeinflussen. Diese Verbindung manifestiert sich besonders in der gesellschaftlichen Haltung gegenüber Regen: er wurde mir als Zeichen dafür erklärt, dass Gott Kap Verde nicht vergessen hat. Neben diesen spirituellen Deutungsmustern, die ich zu Beginn meiner Forschung antraf, etablierten sich in den nationalen Umweltpolitiken zunehmend globale Diskurse zum Klimawandel. Für diese Diskurse ist zentral, dass menschliches Verhalten sowohl die Ursache von Umweltveränderungen ist, als auch Teil einer möglichen Lösung sein kann. Diese Annahme verfolgend versucht die kapverdische Regierung, die Umweltprobleme des Landes mit einer ambitionierten Energieumstellung auf erneuerbare Energien,11sowie mit vermehrten Initiativen zum Küsten- und Meeresschutz, Tierschutz und Ökotourismus anzugehen. Dazu entwickelten sich verschiedene Partnerschaften und Allianzen zwischen der kapverdischen Regierung, den Vereinten Nationen (UN) und anderen nationalen, internationalen und regionalen Akteuren, die diese Naturschutzinitiativen und Naturschutzmaßnahmen gemeinsam vorantrieben und umsetzten. Angesichts des Kontrasts zwischen den spirituellen Deutungsmustern und der Einflussmacht des Menschen auf seine Umwelt, interessierte mich anfangs, welche Beziehung Kapverdierinnen zur biophysischen Welt haben und wie sie neue Deutungsmuster in ihr kulturelles Selbstverständnis integrieren. Obwohl viele meiner Gesprächspartnerinnen begrüßten, dass sich die kapverdische Politik und Gesellschaft ›endlich‹ auch mit Umweltfragen beschäftigen, vervollständigte sich im Laufe meiner Forschung der Eindruck, dass Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse in Verbindung mit einer Reihe sozialer und ökonomischer Konflikte stehen.12 Im Zentrum dieser Konflikte standen eingeschränkte 11 Die kapverdische Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2015 50 % des Energiehaushalts aus den erneuerbaren Energien Wind und Sonne zu gewinnen. Seit 2012 hat das ECOWAS Centre for Renewable Energy and Efficiency (ECREEE; ECOWAS Zentrum für Erneuerbare Energien) seinen Hauptsitz in Kap Verde und koordiniert eine erneuerbare Energiepolitik für die 15 Staaten der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS; Economic Community of West African States). 12 Die Kritik, dass ›Umwelt‹ in Kap Verde keine Rolle spiele, brachten sowohl Mitarbeiterinnen lokaler und internationaler NROs, aber auch Studierende, Fischer oder Verkäuferinnen. Meine Gesprächspartnerinnen kritisierten vor allem die geringe Berichterstattung zu Umweltthemen in den kapverdischen Medien. Aus diesem Grund veranstalteten Mitarbeiterinnen der UN im Dezember 2010 einen Workshop für Journalistinnen des Landes, um sie für umweltbezogene Themen wie Klimawandel zu ›sensibilisieren‹.
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oder veränderte Zugänge zu Orten durch Naturschutzgebiete und die Umdeutung der biophysischen Umwelt in Naturschutzobjekte. Viele Kapverdierinnen verspürten durch diese Einschränkungen, Veränderungen und Umdeutungen den Verlust oder die Verminderung von finanziellem Einkommen, Verfügungsgewalt, ihrer Rechte, ihres sozialen Status und ihrer Anerkennung und begannen, diese in unterschiedlicher Weise einzufordern. Welche materiellen, sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bezüge bei der Gestaltung von Zugehörigkeiten bedeutsam sind und wie Menschen mit konfligierenden Bezügen zur Umwelt, zur Gemeinschaft und zur globalen Umweltschutzbewegung umgehen, rückte somit ins Zentrum meines Forschungsinteresses. Zum einen haben praktische Bezüge, Erfahrungen und Wissen zu Umwelt Einfluss auf die Art und Weise, wie Menschen die Welt, in der sie leben, deuten und konstituieren. Zum anderen sind Naturschutzdiskurse Kommunikationen über die Umwelt (Ranger 1997; Fairhead und Leach 1996; Milton 2005 [1993]) und prägen, was Menschen unter Umwelt verstehen. Diese Kommunikationen beeinflussen die praktischen Bezüge, die Menschen zu ihrer Umwelt haben (Milton 2002). Demnach sind Praktiken, Erfahrungen und Diskurse die drei Untersuchungsstränge meiner Arbeit, die ich jedoch nicht getrennt voneinander betrachte, sondern die ich vielmehr in ihrer Verwobenheit und in ihrer gegenseitigen Bezugnahme berücksichtige. Um mein Thema im Kontext dieser Untersuchungsstränge zu bearbeiten, stelle ich folgende Fragen: • •
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•
Wie nehmen Menschen ihre Umwelt wahr, und welche spezifischen Mensch- Umwelt-Beziehungen und Praktiken gibt es auf Kap Verde? Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse sind Teil ökotouristischer Praktiken und Diskurse. Wie wirkt sich diese Verbindung darauf aus, wie Naturschützerinnen Umwelt eine Bedeutung zuschreiben und sie gestalten? Welche Legitimationen, Verantwortungen, Rechte und Pflichten leiten sich aus Naturschutzdiskursen ab? Inwieweit ziehen Menschen dabei diskursive und materielle Grenzen und wie bewerten sie darauf aufbauend lokale Praktiken? Wie erfahren Menschen diese diskursiven und materiellen Grenzziehungen, und wie gehen sie damit um? Welche Rolle spielen dabei Anbindungen an die materielle und immaterielle Umwelt und inwiefern fließen diese Anbindungen in Bedeutungszuschreibungen, Praktiken und Strategien der lokalen Bevölkerung ein? In welchem Verhältnis stehen Politiken der Zugehörigkeit und Naturschutz und wie lässt sich dieses Verhältnis theoretisieren?
18 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN Die soziale Konstruktion der Differenz von ›Natur‹ und ›Umwelt‹ »For the world can only be ›nature‹ for a being that does not belong there, yet only through belonging can the world be constituted, in relation to a being, as its Environment.« (Ingold 1996: 117)
Die Analyse von Mensch-Umwelt-Beziehungen in Praktiken, Erfahrungen und Diskursen erfordert zunächst eine Definition und Differenzierung der zentralen Begriffe ›Natur‹ und ›Umwelt‹. In der Forschungsliteratur der Umweltethnologie werden diese Begriffe oft synonym verwendet und nicht ausreichend differenziert, wenn es darum geht, die biophysische Umgebung des Menschen zu beschreiben (Luke 1995). Ich ziehe den Begriff ›Umwelt‹ dem der ›Natur‹ vor, da ›Umwelt‹ die menschliche Interaktion mit der materiellen Welt als verwoben erfasst, und die Dichotomie zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹ vermeidet. Der Begriff ›Natur‹ taucht in der vorliegenden Arbeit lediglich als Kategorie auf, die in Kap Verde selbst verwendet wird. Die folgende Ausführung über die Differenzierung von ›Natur‹ und ›Umwelt‹ trifft auch auf die Unterscheidung der portugiesischen Begriffe natureza (Natur) und meio ambiente (Umwelt) zu. Für die Verwendung von ›Umwelt‹ statt ›Natur‹ spricht auch die etymologische Herleitung der Begriffe Umwelt, meio ambiente oder environment. Sowohl im deutschen, als auch im portugiesischen Sprachgebrauch setzen sich Umwelt beziehungsweise meio ambiente aus zwei Wörtern zusammen: um und Welt im Deutschen, und – die aus dem Lateinischen kommenden Wörter ambo (um herum) und ire (gehen) im Portugiesischen. Umwelt beziehungsweise ambiente bezieht sich daher auf alles, was herum geht und etwas umgibt (Coimbra 2001 in Ribeiro und Cavassan 2012). Das französische Verb environner bedeutet umhüllen und umgeben und environment als Substantiv ist das Produkt dieser Aktivitäten (Luke 1995). Die Bedeutung von meio in meio ambiente erklärt sich mit Blick auf die französische Sprache: meio lehnt sich an das französische milieu an und bezeichnet das, ›wo man lebt‹. Demzufolge korrespondiert meio als das Umgebende, wo man lebt, mit den französischen milieu und environment oder auch mit dem deutschen Wort Welt. Für den Ethnologen Tim Ingold impliziert ›Natur‹ eine Dichotomie zwischen einer inneren und äußeren Welt, die auf einer Unterscheidung zwischen »mind and matter« oder »meaning and substance« (Ingold 1993: 154) basiert. Die durch den Begriff ›Natur‹ hervorgebrachte Dichotomie ist eine konzeptuelle Trennung von ›Natur‹ auf der einen und ›Kultur‹ auf der anderen Seite (Descola und Pálsson 1996; Dove und Carpenter 2008: 2). Der Begriff ›Natur‹ ist stark durch
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europäische philosophische Ideen geprägt13 und bezeichnet eine vom Menschen unberührte »Essenz« (Ellen 1996: 9; Kopnina und Shoreman-Quimet 2011: 17), wie den Fluss, die Luft oder das Meer. Menschliche Einflüsse auf die materielle Umwelt werden damit externalisiert und ›Natur‹ erhält die Konnotation von etwas Ursprünglichem und Unverfälschtem, das seine eigene Berechtigung besitzt (Kopnina und Shoreman-Quimet 2011). Diese Externalisierung ist gleichzeitig die Basis für die zentralen Grundannahmen des Naturschutzes, in der ›Natur‹ in ihrer reinen Form nur bestehen kann, wenn sie vom Menschen unberührt bleibt (Milton 1996: 122). Ingolds Differenzierung zwischen ›Natur‹ und ›Umwelt‹ beeinflusste eine Reihe ethnologischer Arbeiten, die sich darum bemühen, das Verhältnis zwischen Menschen und ihrer biophysischen Umwelt differenzierter zu erfassen. Nach Ingold beschreibt ›Umwelt‹ das, was etwas umgibt, und nur in Relation zu dem existiert, was umgeben wird (Ingold 1992: 40). Ingold sieht Umwelt als relational, als historisch kontextualisiert und als prozesshaft (Ingold 2000: 20). Als relationaler Begriff verweist Umwelt auf die Beziehung zwischen dem Selbst und der Außenwelt, wobei die Außenwelt sowohl biophysische Räume als auch Menschen beinhaltet. Die relative Beziehung zwischen Menschen und ihrer Umwelt verdeutlicht, wie multidimensional der Umweltbegriff ist und wie er sich im Laufe verschiedener politischer und wirtschaftlicher Kontexte wandeln kann (siehe Kapitel 3). Insofern subsumiert Umwelt eine Reihe von Begrifflichkeiten wie ›Natur‹, ›Ressourcen‹, ›Landschaft‹ oder ›Umgebung‹,14 die die Be13 In diesem Zusammenhang wird das Werk des Philosophen Ralph Waldo Emerson (1836) genannt (vgl. Fennel 2007; Kopnina und Shoreman-Quimet 2011). In Nature beschreibt Emerson ›Natur‹ und die Menschheit als zwei voneinander getrennte Einheiten, die sich unter dem Transzendentalismus vereinen können (Emerson 1836 zitiert in Kopnina und Shoreman-Quimet 2011: 17). 14 Für West, Igoe und Brockington (2006) enthält der Begriff ›Umwelt‹ ebenso eine Dichotomie, weshalb sie den Begriff ›Umgebung‹ bevorzugen. Sie beziehen sich dabei auf Carrier, der unter Umgebung »the world around us that we, as human beings, have material, intellectual and symbolic access to and that we work to alter and make sense of through our daily actions« (Carrier 2004: 1 zitiert in ebd.: 252) versteht. Ihrer Ansicht nach hebt ›Umgebung‹ die Dichotomie zwischen der sozialen Konstruktion von ›Natur‹ und der ›materiellen Natur der Umwelt‹ auf. Umgebung bedeutet, dass eine materielle Welt existiert, mit der Menschen interagieren. Menschen reproduzieren und verändern dabei diese Welt, die jedoch nur eine Bedeutung hat, wenn wir sie mit Symbolen und Sprache verstehen (ebd.). Für meine Arbeit ist der Begriff ›Umgebung‹ zu unspezifisch, da das deutsche ›Umwelt‹ im Gegensatz zu ›Umgebung‹ eher die biophysische Welt erfasst.
20 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN ziehungen zwischen der materiellen Welt und spezifischen Bedeutungszuschreibungen darstellen. Der Begriff ›Umwelt‹ kann zwar ebenso wie ›Natur‹ als anthropozentrisch kritisiert werden, wenn er den Menschen und dessen Handeln in den Mittelpunkt stellt. Doch ich verstehe den Begriff wie Ingold (2000) und Kopnina und Shoreman-Quimet (2011) als eine Reflexion menschlicher Einflüsse und sozialer, politischer und wirtschaftlicher Situationen und Bedingungen. Diese relationale Perspektive auf Umwelt knüpft auch an die rezente ontologische Wende in der Ethnologie an (vgl. Kohn 2015), in der die Autorinnen die Dichotomie zwischen Natur und Kultur und Menschen und nicht-menschlichen Daseinsformen aufbrechen (vgl. Descola 2009, und 2013 [2005]; Ingold 2000 und 2011; Viveiros de Castro 2004 und 2014; Latour 2013 und 2014). 15 Sie schlagen vor, die menschenzentrierte Perspektive auf die Lebenswelt, die zu einer Objektivierung von ›Natur‹ führt, durch neue ontologische Weltbilder zu verstehen und damit den Bruch zwischen der Welt und der menschlichen Vorstellung über sie zu »heilen« (Ingold 2013: 749). Der Forschungsbereich der Ethnologie, der sich mit Umwelt im weitesten Sinn beschäftigt, ist die Umweltethnologie, die Ingold als »an understanding, that proceeds from a notion of the mutualism of person and environment« (Ingold 1992: 40) beschreibt. 16 Dieser Teilbereich befasst sich mit MenschUmwelt-Beziehungen, der Umwelt oder »environmentalism« 17 und reicht von der Wahrnehmung von lokalem Umweltwissen über Umweltkonflikte und umweltbezogene Praktiken bis zur Rhetorik und Kommunikation in Umweltdiskursen.
15 Die ontologischen Ansätze sind zwar heterogen, reagieren aber Povinelli zufolge alle auf eine globale ökologische Krise (Povinelli 2015 zitiert in Kohn 2015: 4). Zur Kritik an den Ansätzen der ontologischen Wende in der Ethnologie siehe Kohn (2015). 16 Die environmental anthropology oder anthropology of the environment (Orr, Lansing und Dove 2015) wird oft mit der ecological anthropology (Kottak 1999) gleichgesetzt. Letztere umfasst weitere Forschungsbereiche wie die primate ecology, paleoecology, die Kulturökologie, Ethnoökologie, historische Ökologie, politische Ökologie, spirituelle Ökologie, human behavioural und evolutionary ecology (siehe dazu Dove und Carpenter 2008; Kopnina und Shoreman-Quimet 2013). 17 Im Deutschen existiert keine eindeutige Übersetzung für environmentalism. Zwar wird der Begriff oft mit Umweltschutz übersetzt, doch dieser beinhaltet nicht die Verantwortungen, die Machtpositionen und die Bedeutungszuschreibungen, sondern eher die praktische Seite der Umsetzung. Milton (2005 [1993]) beschreibt environmentalism als Diskurs, als soziale Bewegungen oder als social commitment, wovon Naturschutz ein Teil ist.
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Ethnologinnen beschäftigen sich seit Beginn des Faches damit, wie Menschen ihre Umwelt auf eine beabsichtigte oder unbeabsichtigte Weise formen, und wie die biophysische Umwelt das soziale, ökonomische und politische Leben prägt (Geertz 1973; Ingold 1992, 1993 und 1996; Croll und Parkin 1992; Descola und Pálsson 1996; Kopnina und Shoreman-Quimet 2011). Im Mittelpunkt standen zunächst Mensch-Umwelt-Beziehungen in lokalen politischen, wirtschaftlichen und moralischen Kontexten. Diese Forschungen gingen der Frage nach, wie Menschen – darunter meist indigene Gesellschaften – eine nachhaltige Lebensweise praktizieren (Dove und Carpenter 2008). Da die Untersuchungen zu diesem Zeitpunkt auf Gesellschaften als geschlossene Einheiten begrenzt waren, gerieten sie alsbald in die Kritik, den Einfluss internationaler, globaler und transnationaler Diskurse zu vernachlässigen. Diese Kritik entwickelte sich im Zuge der zunehmenden Politisierung von Umwelt. Ihr Anfangspunkt liegt in den Debatten über die Ressourcenextraktion westlicher Unternehmen in den Ländern der ›Dritten Welt‹18 in den 1960er und 1970er Jahren und unter dem Einfluss von Umweltbewegungen und internationalen NROs (Kopnina und Shoreman-Quimet 2011). Seitdem begannen Vertreterinnen mehrerer Disziplinen, Gesellschaften und ihre Beziehungen zur Umwelt im Kontext größerer gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Prozesse zu erfassen. Hieraus entwickelten sich die Forschungsansätze der politischen Ökologie, die die Analyse politischer Strategien in den Mittelpunkt stellen (Bryant und Bailey 1997). Vertreterinnen der Umweltethnologie teilten mit ihnen die Annahme, Umwelt als politisiert zu begreifen (ebd.) und unter der gegenseitigen Beeinflussung mit anderen Disziplinen traten sie mit der politischen Ökologie in einen Dialog.19 Im derzeitigen Forschungskorpus der politischen Ökologie vereinen sich theoretische und empirische Beiträge aus der Soziologie, der Geographie, den Entwicklungsstudien, der Ökonomie, der Tourismusforschung und der Politikwissenschaft.20 18 Ähnlich wie ›Entwicklungsland‹ entstand der Begriff ›Dritte Welt‹ oder ›Dritte-WeltLand‹ aus einer eurozentrischen Perspektive, in der der soziale, kulturelle, politische und wirtschaftliche Status eines Landes nach dem der Industrieländern gemessen wird. 19 Der Analysefokus auf die politischen Strategien wurde mehrfach kritisiert. Vayda und Walters (1999) kritisieren, dass die Vertreterinnen der politischen Ökologie auf die Vernachlässigung der politischen Dimension von Mensch-Umwelt-Beziehungen mit einer Überbetonung des Politischen reagieren. 20 Zu den Verflechtungen der Umweltethnologie und der Politischen Ökologie siehe Bryant und Bailey (1997), Milton (2005 [1993]) und Kopnina und Shoreman-Quimet (2013).
22 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN Die Kritik an den Ressourcenextraktionen führte auch zu einem international zunehmenden Bewusstsein des Verlusts von biologischer Diversität, sowie zu einem weltweiten Anstieg der Zahl von Naturschutzgebieten (Orlove und Brush 1996). Biodiversitätsschutz und Naturschutz wurden daraufhin zu wissenschaftlichen und politischen Themen (Kottak 1999) und rückten auch in den Fokus der Umweltethnologie (Orlove und Brush 1996; West 2006). Da sich die Naturschutzgebiete oder protected areas21 oftmals auf Wohngebiete und Praktiken der indigenen Gesellschaften erstreckten, setzten sich die Ethnologinnen zunächst für die Rechte indigener Gesellschaften ein (Orlove und Brush 1996). Später standen auch die lokalen Wahrnehmungen von ›Natur‹ oder ›Biodiversität‹ sowie der Dialog zwischen den Naturschutzakteuren und den betroffenen Bevölkerungen im Mittelpunkt der Untersuchungen (Vgl. Ellen 1996; Brosius 1997; Bodley 2002; West 2005; Trusty 2011). Sowohl in der Praxis als auch in den Forschungen zu Naturschutz zeichneten sich zu diesem Zeitpunkt zwei Tendenzen ab: die Gesellschaften wurden einerseits als ›Opfer‹ und ›Vertriebene‹ von Naturschutzpraktiken porträtiert, da ihre ›traditionelle‹ Lebensweise nicht mit den Zielen der Naturschutzmaß-nahmen vereinbar war. Andererseits engagierten sich die Ethnologinnen mit ihren Forschungen dafür, die Ressourcennutzung der lokalen Bevölkerungen und deren Lebensweisen besser in die Naturschutzmaßnahmen zu integrieren. Beide Ansätze waren gleichermaßen problematisch, da die Autorinnen die Bevölkerung als »noble ecological savage« (Redford 1991; Hames 2007) darstellten und sich zu sehr zurückhielten, den oft negativen Einfluss von ›traditionellen‹ Praktiken auf die Umwelt zu kritisieren (Kopnina und Shoreman-Quimet 2011). Dies ist darauf zurückzuführen, dass sie der ohnehin schon marginalisierten Bevölkerung nicht zusätzlich schaden wollten. Dagegen vereinheitlichten die Autorinnen die Naturschutzakteure und deren Praktiken und reproduzierten die Natur-KulturDichotomie, indem sie menschliches Handeln und Natur als voneinander getrennte Kategorien behandelten. 21 Die Ursprünge der protected areas liegen in Waldreservaten, die Königsfamilien in Europa und Asien für sich beanspruchten, sowie in kolonialen Politiken in Afrika und Asien (Peluso 1992; Adams und Hulme 2001). Waldreservate dienten als Holzressourcen und Jagdgebiete für koloniale Autoritäten. Ab 1978 führten die Mitglieder der International Union for the Conservation of Nature (IUCN; Weltnaturschutzunion) den Terminus protected areas ein. Der Begriff umfasst räumliche Schutzeinheiten, die zuvor als Nationalparks oder Naturreservate bezeichnet wurden, und erlangte im Jahr 1985 einen kodierten internationalen Klassifikationsstandard durch die IUCN (Orlove und Brush 1996: 331).
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Dieses beschriebene Dilemma und die Dichotomie zwischen Kultur und Natur lösten sich im Zuge der poststrukturalen Ansätze zunehmend auf. Ethnologinnen untersuchten Umwelt nun sowohl als materielle Realität, als auch als Produkt von Diskursen. Unter der Schwerpunktsetzung auf Diskurse und Ideologien reflektierten sie die sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Aspekte von Umweltproblemen (Kopnina und Shoreman-Quimet 2011). Die Interaktionen zwischen lokalen Gemeinschaften und NROs (Conklin und Graham 1995; Tsing 2008 [1999]; Kottak 1999), sowie westlichen Aktivistinnen und nicht-westlichen Regierungen (Brosius 1997; Tsing 2005) analysierten sie unter der Perspektive von Bedeutungszuschreibungen. Damit wurden nun auch die Institutionen des Naturschutzes zu einem Untersuchungsgegenstand der Umweltethnologie (Dove und Carpenter 2008). Da Debatten um Ressourcenextraktionen besonders im Kontext von Entwicklungsländern stattfanden, untersuchten viele Ethnologinnen, wie nationale Regierungen den Naturschutz in die Politiken der kolonialen und postkolonialen Entwicklung integrierten (Dove und Carpenter 2008). Dabei stellten sie fest, dass Naturschutz Teil des ›nachhaltigen Entwicklungsdiskurses‹ und mit politischen Entwicklungsagenden verflochten ist. Dieser Befund stellte die weit verbreitete Annahme in Frage, dass Naturschutz und Entwicklung unüberbrückbare Gegensätze seien und miteinander in Konkurrenz stünden (Agrawal 2005). Vielmehr gilt Naturschutz seither als neue Form von ›Entwicklung‹ (Escobar 1995; Doane 2012; Grandia 2012). Die Ziele, Konzeptualisierung, Finanzierung und Planung von Naturschutzprojekten und Entwicklungsprojekten ähneln sich in mehrfacher Hinsicht. In Naturschutzprojekten werden – wie auch schon bei Entwicklungsprojekten – eher die Interessen der Geberinnen als die der Bevölkerung berücksichtigt (Shiva 2006 [1989]). Die etablierten internationalen Institutionen des Naturschutzes wie der World Wide Fund for Nature (WWF) oder das United Nations Environment Program (UNEP; Umweltprogramm der Vereinten Nationen) implementieren ihre Projekte nach ebenso ethnozentrischen Paradigmen wie zuvor die Geberinstitutionen in der Entwicklungspraxis (Escobar 1995; Doane 2012; Rival 2012). Zudem setzt sich hier der Trend einer »politischen Technologie« (Merry 2011) fort, bei der NROs, Entwicklungsagenturen und internationale Institutionen ethnozentrische »Indikatoren« (ebd.: 83) entwickeln, die die Produktion von Wissen und die politischen Debatten durchdringen und zu hegemonialen22 Deutungsmus22 Mit dem Begriff »Hegemonie« beziehe ich mich auf Gramsci (1971). Wie Crehan begreife ich Hegemonie weniger als ein feststehendes Konzept von Macht, das die Dominanz einer herrschenden auf eine subalterne Klasse beschreibt. Hegemonie stellt eher eine Herangehensweise dar, um zu untersuchen, »how power is lived in a
24 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN tern werden. Somit reflektiert der Naturschutz einen dominanten Diskurs, indem ›Probleme‹ und ›Lösungen‹ in ähnlicher Weise geschaffen und definiert werden wie in Entwicklungsdiskursen (Escobar 1995). Diese eurozentrischen Vorstellungen manifestieren sich in Naturschutz- und Entwicklungsprojekten sowohl auf praktischer als auch auf diskursiver Ebene. Aus Naturschutzdiskursen wie auch aus Entwicklungsdiskursen leiten sich hegemoniale Ansprüche ab, die die Beziehungen von Menschen zur ihrer Umwelt definieren und bewerten (Fairhead und Leach 1996; Brosius 1997; Tsing 2005; Rival 2012). Die hegemoniale Position von Naturschutzdiskursen entwickelt sich durch die Etablierung eines institutionellen und administrativen Apparates, mit dem einst ›Entwicklung‹ und nun ›Umwelt‹ gestaltet wird (Brosius 1997; Gupta 2006 [1998]). Vor allem in Entwicklungsländern definieren solche hegemonialen Diskurse »lokale Realitäten« (Dove und Carpenter 2008: 48) und setzen bestehende Bedeutungen und Praktiken unter Druck (Escobar 1995). Diese Positionen werde ich im Laufe meiner Arbeit kritisch beleuchten. Hierfür ist die Auseinandersetzung mit zwei gegenwärtigen Positionen der politischen Ökologie notwendig. In Zusammenhang mit obigen Annahmen entwickelte sich der Ansatz, Umwelt als neue Form von governmentality zu begreifen. Er baut auf den Arbeiten von Escobar (1995) und Ferguson (1990) auf, die Foucaults Ansätze von governmentality anwenden, um die Machtbeziehungen in Entwicklungsdiskursen in Afrika und Umweltbewegungen in Lateinamerika zu untersuchen. Für den Politikwissenschaftler Timothy Luke (1995) manifestiert sich governmentality in den komplexen Interaktionen zwischen der Bevölkerung, der materiellen Welt und der Schaffung, Produktion und Verteilung von Reichtum, und damit auch in Umweltpraktiken und Umweltdiskursen. Durch diese versuchen transnationale Umweltorganisationen, Umweltpolitiken und Umweltprojekte in einer disziplinierenden Weise zu kontrollieren und zu dominieren. Für das Zusammenspiel bestimmter Akteure sowie für deren »disziplinierende Artikulationen« (ebd.: 57) unter der Verwendung von hegemonialem Ökowissen und Macht führt Luke (ebd.) erstmals den Begriff der environmentality als Form der Regierungsführung ein. Luke entwickelte diesen Begriff innerhalb seiner Kritik des politischen Diskurses um Nachhaltigkeit, in der er feststellte, dass »most environmentalist movements now operate as a basic manifestation of governmentality« (Luke 1999: 121). Der Begriff environmentality wurde fortan für die Analyse von Machtbeziehungen in Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskursen verwendet und ausgebaut. Agrawal (2005) ging stärker als Luke darauf ein, welchen given context and how certain regimes of power – remembering that no regime is uncontested – are produced and reproduced in the day-to-day lives of individuals« (Crehan 2002: 200).
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Einfluss Umweltdiskurse auf die Wahrnehmung und Praktiken des Einzelnen haben. Nach Agrawal bezieht sich environmentality auf »knowledges, politics, institutions and subjectivities that come to be linked together with the emergence of the environment as a domain that requires regulation and protection« (Agrawal 2005: 226). Die Analyse von Naturschutz als environmentality fand teilweise Einzug in einen breiteren Forschungskorpus zu ›neoliberalem Naturschutz‹ (Vayda und Walters 1999; Sullivan 2006; Igoe und Brockington 2007; Fletcher 2010; Castree 2003; Castree und Henderson 2014). Diese auf marxistischen Ansätzen aufbauenden Arbeiten erachten Naturschutz als neoliberales Phänomen, das zu ökonomischen, politischen und sozialen Ungleichheiten führt (Brockington, Duffy und Igoe 2008; Büscher et al. 2012; Arsel und Büscher 2012). Die Neoliberalisierung von Natur erschließt sich für die Autorinnen in einer materiellen und diskursiven Akkumulation von ›Natur‹ (Scales 2015), durch diverse Rhetoriken und Prozesse der Enteignung und Aneignung unter einer »grünen Agenda« (Fairhead, Leach und Scoones 2012: 237). Vertreterinnen dieser gegenwärtigen Ansätze erachten die neoliberalen Logiken als ein gemeinsames Dach, unter dem sich die verschiedenen Akteure zu einem Regime vereinen. Dieses Dach ermöglicht nicht nur den Ausbau von Investmentpolitiken (Fairhead und Leach 2012) und den Übergriff nichtstaatlicher Akteure auf lokale Ressourcen. ›Natur‹ wird auch als politisch und wirtschaftlich re-reguliert (Vaccaro et al. 2013) verstanden, was wiederum zu neuen Formen der Ressourcenkontrolle führt. Unter solchen neoliberalen Umweltagenden leidet vor allem die lokale Bevölkerung, der aufgrund neuer Definitionen von Zugangsrechten zu ›natürlichen Ressourcen‹ der Zugang zur materiellen Umwelt verwehrt wird (vgl. Grandia 2012; Benjaminsen und Bryceson 2012), und deren Strategien des Lebensunterhalts durch die Bewertung der Naturschützerinnen an Legitimität verlieren (vgl. Ojeda 2012). Die genannten Ansätze der environmentality und des neoliberalen Naturschutzes dekonstruieren die romantische und idealisierte Vorstellung von Naturschutz und schärfen den Blick für die Machtbeziehungen in Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskursen. Dies sind wichtige Anknüpfungspunkte für meine Arbeit. Allerdings halte ich die Analyse von Naturschutz allein unter der Perspektive von environmentality oder Neoliberalisierung für nicht ausreichend und deshalb problematisch. Die Analyse von Naturschutz als neoliberales Konstrukt oder als neue Form der Regierungsführung versperrt den Blick auf die lokalen Verhältnisse und Dynamiken, in denen er praktiziert wird, und erfasst die Reaktionen und Widerstände der lokalen Bevölkerung nur unzureichend und meist eindimensional. Naturschutz ist kein losgelöstes Konstrukt, sondern wird von
26 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN Menschen praktiziert und ist in soziale, politische und historische Strukturen eingebettet. Neoliberalismus ist aber ein »Label ohne Mitgliedschaft, da niemand sich selbst als neoliberal bezeichnen möchte« (Anderson 2011: 59) und stellt genauso wie environmentality eine abstrakte Entität dar. 23 Anstatt die Auswirkungen des Naturschutzes für die lokale Bevölkerung als Ausschluss und Enteignung unter neoliberalen Vorzeichen zu deuten, vertiefe ich die Analyse: Zum einen untersuche ich, in welchen Zusammenhängen Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse zu Exklusion führen. Je nachdem wie Naturschutzprojekte implementiert werden und welche sozialen, politischen und wirtschaftlichen Machtkonstellationen vorliegen, können Umweltpolitiken auch die Lebensumstände der lokalen Bevölkerung verbessern (vgl. Vivanco 2001; Gardner 2012a). Zum anderen unterscheide ich zwischen verschiedenen Formen der Exklusion. Menschen können wegen ihrer Denkweisen und Praktiken unterschiedlich marginalisiert, degradiert und ausgeschlossen werden. Diese Erfahrungen der Exklusion schlagen sich in den wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Lebensbereichen des Einzelnen nieder und führen dazu, dass Menschen ihre als natürlich wahrgenommenen Rechte bedroht sehen und sich in ihrem eigenen Zuhause nicht mehr zugehörig fühlen. Menschen erfahren diese Exklusionen in unterschiedlicher Weise und entwickeln unterschiedliche Strategien, um mit diesen Erfahrungen umzugehen. Um diese Facetten der Exklusion zu untersuchen, werde ich daher Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse besonders dahingehend analysieren, inwieweit sie die Anbindungen, die Menschen zu ihrer Umwelt haben, beeinflussen. Um diesen analytischen Zugang näher zu erörtern, gehe ich im folgenden Teil auf das Verhältnis von Umwelt und Zugehörigkeiten ein. Politiken der Zugehörigkeit Zugehörigkeit ist eine »emotionale Anbindung« (Yuval-Davis 2011a: 4), die entsteht, wenn Menschen Werte, Beziehungen und Praktiken teilen (Anthias 2006). Zugehörigkeit bedeutet »sich zu Hause [zu] fühlen« (Yuval-Davis 2011a: 4) und obwohl das »Zuhause« vielfache Bedeutungen haben kann, ist es stets mit einem Gefühl der Sicherheit (Ignatieff 2001) und mit einer möglichen Gestaltungsfähigkeit (Hage 1997 und 2002) verbunden. Das Zuhause ist ein Objekt der Sehnsucht nach etwas Vergangenem, wenn es verloren wurde, und nach einer Verortung im Hier und Jetzt, die zudem eine wichtige Zukunftsdimension enthält. Bei der Verwendung des Begriffs der Zugehörigkeit beziehe ich mich in
23 Zur Kritik am Neoliberalismus als Erklärungsmuster siehe auch Geschiere (2013).
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erster Linie auf die Definition von Pfaff-Czarnecka (2012). Pfaff-Czarnecka definiert Zugehörigkeit als »emotionsgeladene soziale Verortung, die durch das Wechselspiel (1) der Wahrnehmung und der Performanz der Gemeinsamkeit, (2) der sozialen Beziehungen der Gegenseitigkeit und (3) der materiellen und immateriellen Anbindungen oder auch Anhaftungen entsteht.« (Pfaff-Czarnecka 2012: 12)
Die drei Dimensionen Gemeinsamkeit, Gegenseitigkeit und Anbindungen treten zusammen und in verschiedenen Konstellationen und Gewichtungen auf. Sie überschneiden sich und beziehen sich aufeinander. Zugehörigkeiten sind an spezifische Orte, Territorien, Geographien (Anthias 2002) und Objekte gebunden und beschreiben das »Wechselspiel zwischen praktischem Wissen, den sozialen Routinen und der Einschreibung der natürlichen und durch Objekte gegebenen Umgebung in den individuellen und sozialen Körper« (Pfaff-Czarnecka 2012: 37f.). Weil Zugehörigkeiten auch in Orte eingeschrieben sind, sind sie ebenfalls mit der Umwelt und den Bedeutungen, die Menschen ihr geben, verflochten. Globale und ortsgebundene Vorstellungen über Mensch-Umwelt-Beziehungen treffen in Diskursen und Praktiken des Naturschutzes aufeinander und stehen in einer wechselseitigen und relationalen Beziehung. Das Konzept der ›Zugehörigkeit‹ erfasst diese relationale Dimension in mehreren Hinsichten: zum einen beschreibt Zugehörigkeit das relationale Verhältnis des Einzelnen gegenüber Kollektiven,24 das sich je nach Situation unterschiedlich gestaltet. Zum anderen sind soziale Verortungen multidimensional, da Menschen sich zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten zu verschiedenen Gemeinschaften und Werten positionieren. Mit Zugehörigkeit lässt sich demnach die Wechselseitigkeit und die gegenseitige Bezugnahme globaler und lokaler Deutungsmuster (Yuval-Davis
24 In der relationalen Dimension von Zugehörigkeit liegt auch der zentrale Unterschied zum Begriff der Identität. Identität ist ein kategorialer Begriff (Pfaff-Czarnecka 2012: 24) und als Narrativ, mit dem Menschen sich selbst und anderen erzählen, wer sie sind (Yuval-Davis 2011b: 14), eine analytische Dimension von Zugehörigkeit. Zugehörigkeit kann dagegen »Kategorisierungen mit sozialer Relationalität« (Pfaff-Czarnecka 2012: 24) in einen Zusammenhang stellen. Zugehörigkeit knüpft zwar an das Identitätskonzept an, doch hat im Gegenteil zu Identität den Vorteil »den gegenwärtigen Komplexitäten, Dynamiken und Feinheiten der menschlichen Beziehungen, ihrem situativen und prozesshaften Charakter, ihren Ambivalenzen und Paradoxien auf die Spur zu kommen.« (ebd.: 10f.)
28 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN 2010) und deren Einfluss auf menschliche Handlungen in den vorliegenden Mensch-Umwelt-Beziehungen ausarbeiten. Des Weiteren unterscheide ich zwischen Zugehörigkeit und Politiken der Zugehörigkeit (Yuval-Davis 2011b; Pfaff-Czarnecka 2012). Zugehörigkeiten ergeben sich aus der »Geburt und Herkunft« und der »frühkindliche[n] Erfahrung« (Pfaff-Czarnecka 2012: 37) und tendieren dazu, als Selbstverständlichkeiten erlebt zu werden und sich ›natürlich‹ anzufühlen. Zugehörigkeitskontexte stellen einen Bestandteil des täglichen Lebens und alltäglicher Zusammenhänge dar, in die man hineingeboren ist, und in denen »lokales Wissen« (ebd.: 39) zu einer nicht expliziten und doch notwendigen Ressource wird. Sobald diese selbstverständlichen Anbindungen als bedroht wahrgenommen werden, artikulieren und politisieren Menschen ihre Zugehörigkeiten. Hierbei entstehen Politiken der Zugehörigkeit, mit denen Menschen ihre lokalen Anbindungen einfordern, sie anderen jedoch absprechen. Dabei setzen sie sich auch über ethische und politische Werte, sowie über symbolische Bedeutungen auseinander (Yuval-Davis 2011b). In diesen Auseinandersetzungen fungieren politisierte Zugehörigkeiten als »normative values lens, which filters the meaning of both to individuals and collectives, differentially situated along intersectional glocal social location« (ebd.: 203). Somit legt die Analyse von Politiken der Zugehörigkeit auch Machtverhältnisse in sozialen Kontexten offen. Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse bedrohen oder verändern die als natürlich wahrgenommenen Anbindungen oder das Zuhause durch räumliche Grenzziehungen und durch eingeschränkte Zugänge zu physischen Räumen, durch Moralisierungen und über hegemoniale Deutungsansprüche. Mit diesen räumlichen und diskursiven Grenzziehungen werden Werte, Symboliken und Ansprüche der Gegenwart bedroht, die Vergangenheit in Frage gestellt und in die Vorstellung von Zukunft eingegriffen. Das Verhältnis von Zugehörigkeit und Naturschutz ist bisher nur ansatzweise ausgearbeitet worden. Zugehörigkeit und Politiken der Zugehörigkeit stehen meist im Zentrum der Forschungen zu Identitätskonstruktionen (Yuval-Davis 2010) und ethnischen Grenzziehungen (Migdal 2004; Yuval-Davis 2006, 2011b; Pfaff-Czarnecka 2012). Ein breiter Forschungskorpus beschäftigt sich mit der Verbindung von Identität, Zugehörigkeit und Zuhause (Ahmed 1999; Morley 2001) im Kontext von territorialer Mobilität, transnationalen Beziehungen (Fortier 1999; Anthias 2006) und Migrationserfahrungen (Ahmed 1999; Anthias 2006). Andere Arbeiten untersuchen Politiken der Exklusion und Inklusion mit dem Schwerpunkt auf Autochthonie (Geschiere 2009) und Mobilität (Lentz 2013).
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Verschiedene Autorinnen widmen sich explizit den Beziehungen von Menschen zu Orten, zur Natur und zur Umwelt. Basso (1996) zeigt wie der »sense of place« mit einem Gefühl von Zugehörigkeit verbunden ist, das Menschen auf Basis einer geteilten Vergangenheit und einer lokalisierten Version des Selbst zusammenhält. Lovell (1998) untersucht die Beziehung zwischen Lokalität und Zugehörigkeit. Sie geht auf den Prozess ein, unter dem die Verbindung von Territorium und Zugehörigkeit ein Gefühl von Identität und Gemeinschaft entstehen lässt. Lien (2007) erörtert, inwieweit die materiellen und diskursiven Veränderungen von Umwelt einen konstituierenden Faktor darstellen, um Zugehörigkeit zu konstruieren. Flinders (2002), bell hooks (2009) und Salmón (2002) arbeiten die reziproken Beziehungen zwischen Menschen und ihrer Umwelt aus. Die Autorinnen gehen dabei darauf ein, welches emotionale und spirituelle Verhältnis Menschen zu ihrem Land, zu Tieren und zu materiellen Objekten pflegen und wie diese die Vorstellungen von Zugehörigkeiten prägen. Smadja (2011) und MacGill (2014) zeigen, dass Menschen über ihre autochthonen Bezüge zur Natur Zugehörigkeiten konstruieren, um ihre Ansprüche auf Gebiete einzufordern, die im Zuge von Naturschutz oder Tourismus transformiert wurden. Auch Campbell (2011) widmet sich der Verbindung zwischen Zugehörigkeit und einem durch Umweltbewegungen transformierten Territorium und untersucht dabei, wie Zugehörigkeiten über Umweltdiskurse hergestellt werden. Anknüpfend an diese Studien arbeite ich in meiner Forschung die Anbindungen heraus, die Menschen zu ihrer materiellen und immateriellen Umwelt haben, und analysiere, welche Rolle ihre Erfahrungen für den Umgang mit Naturschutz spielen. Darüber hinaus untersuche ich, wie der Naturschutz selbst als politisches Projekt von Zugehörigkeit betrachtet werden kann, mit dem Menschen sich identifizieren. Als analytisches Instrument symbolischer Machtordnungen, eignet sich die Untersuchung von Politiken der Zugehörigkeit in Bezug auf Wertevorstellungen. Im Naturschutz drehen sich diese Werte vor allem darum, wie sich Menschen gegenüber der ›Natur‹ verhalten sollen. Diese moralischen Vorstellungen formulieren nicht nur einen Imperativ für das menschliche Verhalten, sondern werden zu einem Maßstab, um das Verhältnis einer Gesellschaft zu ihrer Umwelt zu bewerten. Die moralische Dimension, die den Naturschutzdiskursen zugrunde liegt, bezieht sich einerseits auf eine positive Bewertung von ›Natur‹ oder ›natürlichen‹ Dingen, und basiert andererseits auf der Integration von wissenschaftlichem Wissen mit moralischen Prinzipien. ›Natur‹ und ›natürliche‹ Prozesse sind im Gegensatz zu menschlichen Handlungen positiv konnotiert und immer von höherem Wert (Milton 1996: 124). Doch Mensch-Umwelt-Beziehungen sind auch moralische Beziehungen (Milton (2005) [1993] und 1996; Bryant 2000)
30 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN von Menschen untereinander, zwischen Menschen und Tieren (Ingold 1987; 2000), oder Menschen und dem Land (Bollig 2009). Über Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse treffen verschiedene Moralisierungen von MenschUmwelt-Beziehungen in politischen Auseinandersetzungen aufeinander. Sie bilden daher einen weiteren Untersuchungsfokus meiner Arbeit, den ich im kommenden Abschnitt erläutere. Naturschutz und Moralisierung Das Zeitalter des Anthropozän, die Epoche, in der der Einfluss menschlichen Handelns zum bedeutendsten Faktor für die Gestaltung der Erde wird, wirft in den Debatten über Umweltveränderungen, Klimawandel und Naturschutz Fragen nach Verantwortlichkeiten und Moral auf (Behringer 2007: 278ff.). In Naturschutzdiskursen und Naturschutzpraktiken werden diese Verantwortlichkeiten und Moralvorstellungen thematisiert, da Mensch-Umwelt-Beziehungen auch immer eine ethische Auseinandersetzung mit sich bringen. Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse entwickeln sich oft zu moralischen Agenden, da Naturschützerinnen ›Natur‹ einen intrinsischen und ethischen Wert zuschreiben und da die Art und Weise, wie Menschen mit der Umwelt umgehen, implizite Kategorien von gut oder schlecht, nachhaltig oder destruktiv mit sich trägt. Umweltbezogene Diskurse und Praktiken sind nicht ›neutral‹, sondern beinhalten Projektionen über den ökologischen ›Zustand‹ der Welt, die sich über globales wissenschaftliches Wissen zu Umweltthemen als hegemonial etabliert haben (Demeritt 1998; Ingold 2008; Jasanoff 2010). Somit geraten in Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskursen vergangene, gegenwärtige und zukünftige MenschUmwelt-Beziehungen auf den moralischen Prüfstand (Neumann 1998; Bryant 2000; Fairhead und Leach 2012), was dazu führt, dass Naturschutz sich oftmals als »moralischer Kreuzzug« (Luke 1995: 59) entwickelt. Studien, die Mensch-Umwelt-Beziehungen als ›moralische Begegnungen‹ ausgearbeitet haben, untersuchen, wie Akteure des Naturschutzes moralische Narrative kreieren und einsetzen (Croll und Parkin 1992; Descola 1996; Ingold 1996; Orlove und Brush 1996; West 2006). Ein prominenter Untersuchungsgegenstand dieser Forschungen ist ›Biodiversität‹ als kultureller Wert, den Naturschützerinnen konzeptualisieren und den Gesellschaften ›verinnerlichen‹ sollen. Die Autorinnen dieser Studien zeigen, wie die Idee von ›Biodiversität‹ moralische Prinzipien verkörpert und einen moralischen Imperativ generiert (Takacs 1996; Oksanen 1997; Escobar 1998). Moralisierungen im Naturschutz gehen über spezifische Umweltthemen hinaus und betreffen eine Reihe anderer sozialer und politischer Aspekte wie Ar-
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mut, Bildung, Gesundheit oder die wirtschaftliche Entwicklung und die Gestaltung von (Öko-) Tourismus. Naturschützer ›moralisieren‹ diese Lebensbereiche durch formelle und informelle Instrumente wie Medien, Bildungsformate oder Lobbying in einer oft unbeabsichtigten Weise (Milton 2005 [1993]; Escobar 2008). Insofern berühren Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse auch Lebensbereiche, die nicht unmittelbar mit der biophysischen Umwelt in Verbindung stehen, und erstrecken sich auf soziale Beziehungen und Erfahrungen von Menschen in ihrem Alltag. Der moralische Imperativ des Naturschutzes entfaltet sich besonders stark unter dem Paradigma der ›nachhaltigen Entwicklung‹, da umweltbezogene Verhaltensweisen und Praktiken dahingehend bewertet werden, ob und inwieweit sie zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Bevölkerung beitragen (Doane 2012). Besonders die Praktiken des Ökotourismus moralisieren MenschUmwelt-Beziehungen, da sie als Maßstab dafür gelten, wie ›zivilisiert‹ eine Gesellschaft ist (Theodosspolous 2003; Peace 2005 [1993]; Kalland 2009). Hier offenbart sich eine evolutionistische Perspektive, die unterscheidet, ob Gesellschaften es sich ›leisten‹ können, Tiere zu schützen, oder ob sie aufgrund mangelnder Ressourcen ›noch‹ dazu gezwungen sind, sie zu töten. Wie sich diese Moralisierungen auf die Gesellschaften auswirken, hängt von den Machtkonstellationen und den Netzwerken vor Ort ab und erfordert eine empirische Analyse. Nancy Peluso (1992) zeigt, wie im militarisierten Naturschutz in Indonesien, Naturschützer zu Helden konstruiert werden und über welche kulturelle Legitimationsgrundlage ihre militärischen Aktionen verfügen. Eine Reihe von ethnographischen Arbeiten untersucht, wie der ›traditionelle‹ Ressourcengebrauch der lokalen Bevölkerungen als rückständig bezeichnet und für den Misserfolg von Naturschutzprojekten verantwortlich gemacht wird, sofern er nicht im Einklang mit den Zielen der Naturschutzprojekte steht (Neumann 1998; Vivanco 2001; Berglund und Anderson 2003; Chatty 2003; Ellis 2003). Einige Autorinnen gehen darauf ein, wie Moralisierungen zu sozialer Marginalisierung (Nygren 2003) und zu ethnischer Diskriminierung (Ellis 2003) werden, und wie diese Erfahrungen in verschiedene Formen des Widerstandes einfließen (Sullivan 2003). Obwohl sich die Autorinnen damit beschäftigen, wie sich Menschen solchen moralischen Beurteilungen widersetzen, gehen sie meist nicht darauf ein, wie Menschen diese Moralisierungen erfahren, und wie und welche Rolle diese Erfahrungen in den Begegnungen mit Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskursen spielen (Bryant 2000). Auch fehlen Analysen dazu, wie Menschen im Zuge ihrer Involviertheit mit dem Naturschutz ihre eigenen und kollektiven Beziehungen zur Umwelt moralisieren. In meiner Arbeit arbeite ich daher die verschiedenen moralischen Nuancen von Naturschutz als menschliche Erfahrungen
32 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN heraus (Yang et al. 2007), die den sozialen Status, Anrechte, Pflichten und Teilhabe eines Menschen in seinem Zuhause beeinflussen. Umwelt, Naturschutz und Politiken der Zugehörigkeit in Kap Verde Ethnologische Studien über den Zusammenhang von Naturschutz und Zugehörigkeit in Kap Verde liegen nicht vor und wurden bisher auch nur in Bezug auf wenige Regionen wie Tasmanien (Lien 2007), Australien (MacGill 2014) und Nepal (Smadja 2011) ausgearbeitet. Studien, die sich mit den Auswirkungen von Naturschutzgebieten, Ökotourismus und Umweltpolitiken in Kap Verde beschäftigen, beschränken ihre Analyse auf Entwicklungspolitiken und politischen Institutionen. Gonçalves (2013) untersucht, wie Umweltdiskurse und Umweltpolitiken in Kap Verde auf institutioneller Ebene verankert sind. Sie erachtet den Vorrang, den die kapverdische Regierung den Umweltdiskursen einräumt, als symptomatisch für alle postkolonialen Staaten Afrikas, die unter dem Druck stehen, die institutionellen Modelle des ›globalen Nordens‹ zu übernehmen. Carneiro (2011b) interessiert, inwieweit Ozeanpolitiken Strategien der Armutsreduktion beeinflussen, und untersucht dabei die Entstehung und Auswirkungen von touristischen Entwicklungszonen und Naturschutzgebieten. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Naturschutz in Kap Verde kaum zur sozioökonomischen Entwicklung und zur Reduktion von Armut beiträgt. Das dominante Tourismusparadigma in Kap Verde, unter dem sich der Massentourismus ausbreitete, lässt Carneiros Ansicht nach wenig Raum für eine echte Integration von Naturschutzinitiativen in touristische Aktivitäten. Ein jüngst zunehmendes Forschungsinteresse unter kapverdischen Wissenschaftlern ist die soziale und wirtschaftliche Vereinbarkeit von Tourismus und Naturschutz. Es handelt sich jedoch in erster Linie um Politikempfehlungen, um die sozioökonomischen Bedingungen der Bevölkerung durch verstärkte administrative und partizipative Dimensionen im Naturschutz und im (Öko-) Tourismus zu verbessern (Vgl. Lima 2008; Monteiro 2010; Tavares 2012; Da Rosa 2013). Diese Studien liefern zwar einen Überblick über die aktuellen politischen Prozesse zu Naturschutz und Tourismus, verbleiben jedoch auf der institutionellen Ebene und gehen nicht darauf ein, wie Menschen mit den Auswirkungen des Naturschutzes umgehen. Um zu erörtern, wie Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse die Wahrnehmung des Zuhauses beeinflussen, greife ich auf Arbeiten zurück, die sich im weitesten Sinne mit Mensch-Umwelt-Beziehungen und Zugehörigkeiten der kapverdischen Gesellschaft beschäftigen. Dazu zählen zunächst historische
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Arbeiten, die zeigen, wie der Mangel an ›natürlichen Ressourcen‹, wie geringe Niederschläge und anhaltende Dürreperioden, die kulturelle, wirtschaftliche und politische Entwicklung der kapverdischen Gesellschaft beeinflussten (vgl. Amaral 1964; Bigman 1993; Duncan 1972; Patterson 1988; Brooks 1993; Lobban 1995; Lindskog und Delaite 1996). Aus diesen Arbeiten lassen sich einerseits spezifische Beziehungen zwischen Menschen und Land, Menschen und Meer oder Menschen und Tieren erschließen. Andererseits gehen sie auf eine Politisierung der Umwelt ein, indem sie herausstellen, wie das koloniale ›Ressourcenmanagement‹ der Portugiesinnen zur frühen Desertifikation der Inseln beitrug. Mit dem Ressourcenmanagement der kapverdischen Gesellschaft auf der Ebene einzelner Haushalte beschäftigen sich der Agrarökonom Mark Langworthy und der Ethnologe Timothy Finan (Langworthy und Finan 1997). Sie untersuchen die Zusammenhänge zwischen den sozialen und politischen Strategien und den ökologischen Gegebenheiten des Archipels. In ihrer Ethnographie zeigen sie, wie die ökonomischen Strategien und die Subsistenzwirtschaft von kapverdischen Landwirten im Zentrum einer »politischen Ökologie« (ebd.: 13) stehen und sich gegenseitig ausbalancieren. Langworthy und Finan bezeichnen Kap Verde als »microcosm of the political ecology of the Sahel – a laboratory where complex coping strategies are conditioned by a skein of sociopolitical institutions and played out in a delicate and vulnerable environment« (Langworthy und Finan 1997: 2). Der Einfluss der ökologischen Faktoren spielt darüber hinaus in den Forschungen zu Mobilität und Identitätskonstruktionen eine Rolle. Dieser umfassende Forschungskorpus behandelt die kapverdische transnationale Mobilität (Carreira 1982; Meintel 1984 und 2002; Åkesson und Carling 2009) in Hinblick auf eine Reihe von Themen wie politische Ökonomie (Grassi 2003 und 2005b; Carling 2004; Åkesson 2004 und 2009; Åkesson und Carling 2009; Horta 2008; Batalha und Carling 2008; Fikes 2009 und 2010; Pardue 2013), Identitätskonstruktionen (Meintel 1984; Grassi 2003; Góis 2005 und 2010; Fikes 2006; Challinor 2011; Pardue 2012 und 2013), Geschlechterbeziehungen (Massart 2000 und 2013; Grassi 2007; Challinor 2015) Kreolisierung (Rodrigues 2003; Vale de Almeida 2007; Trajano Filho 2009, Pardue 2013) und die Konfiguration sozialer Netzwerke (Góis 2005; Åkesson und Carling 2009; Drotbohm 2011a). Die Autorinnen dieser Studien bauen ihre Analysen zum kapverdischen Selbstverständnis auf dem Konzept von Emigration auf, das unter anderem als Resultat lebensfeindlicher Umstände und ökologischer Misswirtschaft gedeutet wird. Hier tritt der Zusammenhang von menschlichen Bezügen, Erfahrungen mit der Umwelt und der Konstruktion von Identität und Zugehörigkeit in Erscheinung, wodurch diese Arbeiten für meine Untersuchung relevant werden. In der vorliegenden Arbeit stehen die Erfahrungen, Praktiken und Vorstellungen der Insel-
34 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN bewohnerinnen im Vordergrund, die das kapverdische Selbstverständnis und die Vorstellung des Zuhauses mitgestalten und die mit den Praktiken und Imaginationen in den diasporischen Gemeinschaften zusammenhängen. Insofern ist die transnationale Perspektive, die die Autorinnen der Studien einnehmen, für die Untersuchung von Zugehörigkeiten wichtig. Aus diesen Arbeiten wird deutlich, dass sich das Gefühl von Zugehörigkeit in den verschiedenen Mobilitätsvarianten und damit verbundenen sozialen Beziehungen der kapverdischen Gesellschaft verfestigt (Challinor 2012a; Lobo 2014). Besonders bedeutsam sind die Arbeiten von Heike Drotbohm, die Zugehörigkeit in Bezug auf die verschiedenen Mobilitätsvarianten und reziproken Beziehungen mit dem Schwerpunkt auf transnationale kapverdische Familien ausarbeitet. Drotbohm zeigt, wie sich die Erwartungen und Pflichten sowie die Aushandlung von Zugehörigkeit im Kontext der Rückkehr kapverdischer Emigrantinnen nach Kap Verde (Drotbohm 2009, 2011a und b) und insbesondere im Zuge des rezenten Phänomens der Deportation, der erzwungenen Rückführung von Ausländerinnen, gestalten (Drotbohm 2012 und 2015). Sie geht darauf ein, wie sich in der Aushandlung von Bürgerschaftlichkeit (2011b) formale Kategorien und »moralische Ökonomien sozialer Zugehörigkeit« (ebd.: 3) gegenüberstehen. Die gegenseitige Beeinflussung formaler und sozialer Anforderungen betrifft auch die Regulierung von Mobilität in transnationalen Familien und berührt Fragen nach gesellschaftlicher Teilhabe und Mitgliedschaft (Drotbohm 2014). In den Kontexten dieser Mobilitätsvarianten und Verrechtlichungen sozialer Beziehungen entwickelt sich eine Umkehr von Erwartungen, Normen und Hierarchien, die Kapverdierinnen auf den Inseln gegenüber ihren Familienmitgliedern im Ausland haben, wenn Migrantinnen zur Rückkehr gezwungen werden (Drotbohm 2015; Drotbohm und Hasselberg 2015). Diese Arbeiten sind wichtige Anknüpfungspunkte, um zu erörtern, wie Kapverdierinnen ihre soziale Zugehörigkeit in sozialen Beziehungen kontinuierlich aushandeln und dabei eine transnationale Solidarität gestalten, die an Erwartungen und Pflichten zwischen den Inselbewohnerinnen und den Kapverdierinnen in der Diaspora gebunden ist. Aufbau der Arbeit Kapitel 2 beinhaltet die methodische Herangehensweise der Arbeit. Konkret erläutere ich, wie ich mit dem Verfahren der multi-sited ethnography den methodologischen Herausforderungen begegne, globale Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse auf Santiago und Boa Vista und deren transnationalen Dimensionen zu untersuchen. Ich lege dar, wie mit der konzeptuellen und räumlichen Erweiterung des Feldes die Verbindungen und Verflechtungen globaler und lo-
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kaler Logiken erfasst werden können und welche Methoden ich eingesetzt habe, um meine Fragestellung zu beantworten. Um meinen Forschungsprozess transparent zu gestalten, beschreibe ich, wie ich in das Feld eingestiegen bin und wie ich meine Gesprächspartnerinnen ausgewählt habe. In diesem Kapitel reflektiere ich zudem meine eigene Rolle im Feld und wie diese meine Forschung beeinflusst hat. Kapitel 3 kontextualisiert die Arbeit in zweierlei Hinsicht: zunächst führe ich die Region Kap Verde ein, indem ich einen Überblick über die kapverdische Gesellschaft gebe und untersuche, wie Kap Verde im Laufe der Zeit unterschiedlich konstruiert und wahrgenommen wurde. Dabei betrachte ich, wie der Faktor geographische Entlegenheit (remoteness) und die Ressourcenknappheit des Archipels dazu beitrugen, Kap Verde als Teil der globalen ›Peripherie‹ und zugleich als wachsende Tourismusdestination zu konstruieren. Die zweite Kontextualisierung ist ein weiterer Zuschnitt des Settings. Sie bezieht sich auf die Rahmenbedingungen der drei Fallstudien der Arbeit – Landtransformationen, Schildkrötenkonsum und Sandabbau. Hier führe ich aus, unter welchen ökologischen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen Naturschutzparks und touristische Entwicklungszonen, der Schildkrötenfang und der Schildkrötenschutz, sowie der Abbau von Sand als Baumaterial und Küstenschutz entstanden sind und praktiziert werden. Kapitel 4 ist die erste Fallstudie, in der ich diskutiere, welche Rolle die materielle Anbindung an ›Land‹ für das Selbstverständnis der Kapverdierinnen spielt. Anhand verschiedener lokaler Reaktionen und Strategien zeige ich, wie Menschen mit den Folgen der Transformationen von Land in touristische Entwicklungszonen und Naturschutzzonen auf der Insel Boa Vista umgehen. Obwohl Naturschutzgebiete die Gegengewichte zu den touristischen Entwicklungszonen darstellen sollen, weisen beide Landtransformationen ähnliche Logiken auf. Hierbei wird deutlich, dass Naturschutzprojekte und Tourismusprojekte räumliche und diskursive Grenzziehungen darstellen, unter denen Menschen sich in finanzieller, sozialer und politischer Hinsicht ausgeschlossen fühlen. Der Fall verdeutlicht, wie diese Exklusionen zu einer Re-Territorialisierung führen und zeigt, wie wichtig physische Lokalität in grenzüberschreitenden Projekten wird. In der zweiten Fallstudie, Kapitel 5, untersuche ich am Beispiel des Schildkrötenschutzes, wie Naturschützerinnen eine emotionale Verbindung zwischen Menschen und Tieren herstellen und gleichzeitig versuchen, diese Beziehung über moralische Appelle zu objektivieren. Diesen ambivalenten Aspekt des Naturschutzes kontrastiere ich mit den verschiedenen Erfahrungen, Praktiken und Perspektiven, die Menschen auf Santiago und Boa Vista mit und auf Schildkröten haben. Zwischen Menschen und Schildkröten bestehen und entwickeln sich
36 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN verschiedene Identifikations- und Abgrenzungsdynamiken, die auf verschiedene Zugehörigkeiten hinweisen. Diese Unterschiede sind der Grund dafür, dass Menschen Schildkröten als Objekt des Naturschutzes, als touristische Attraktion, als finanzielle Einkommensquelle oder als kulturelle Delikatesse betrachten. In diesem Fall beschreibe ich, wie Praktiken, Wissen und Erfahrungen mit Schildkröten ›biosoziale Konfigurationen‹ verkörpern, die an Situationen, Wissen und Orte gebunden sind. In Kapitel 6, der dritten Fallstudie, zeige ich, wie die moralischen Dimensionen von Naturschutzrhetoriken dazu führen, Frauen, die Sand abbauen, zu stigmatisieren, indem Naturschützerinnen zwischen einer negativen und einer vertretbaren Form des Sandabbaus unterscheiden. Ich untersuche Stigmatisierung als moralische Erfahrung, die sich in Machtkontexten entfaltet und die die Frauen unterschiedlich für sich verhandeln. Einige von ihnen thematisieren ihren sozialen Status, appellieren an die Verantwortung der kapverdischen Regierung, und versuchten somit, die Stigmatisierung aufzubrechen. Andere verbleiben in den Grenzen der Stigmatisierungserfahrung. Der Fall verdeutlicht den hegemonialen Charakter der Naturschutzdiskurse in Kap Verde, wie eng diese mit dem Paradigma der ›nachhaltigen Entwicklung‹ verbunden sind und wie in diesem Zusammenhang eine professionelle Form des Sandabbaus als vertretbar legitimiert wird. In Kapitel 7 arbeite ich den Zusammenhang zwischen Naturschutz und Zugehörigkeiten aus. Indem ich die Ergebnisse der vorherigen Kapitel zusammenziehe, zeige ich, wie Naturschutz zu verschiedenen Formen der Exklusion und Marginalisierung der lokalen Bevölkerung beiträgt, und wie sich daraus Praktiken, Allianzen und Widerstände entwickelten. Dadurch, dass Menschen ihre unterschiedlichen Anbindungen artikulieren, kristallisieren sich Forderungen nach Teilhabe, Anrecht und Pflichten heraus. Auf Grundlage dieser Ergebnisse vervollständigt sich das Bild, dass Naturschutz in Kap Verde mit der Infragestellung sowie der Einforderung und Mobilisierung von zivil-bürgerlichen Rechten verknüpft ist. Naturschutz wird somit zu einem Ventil, um gesellschaftliche Ungleichheiten zu thematisieren. Kapitel 8 gibt einen Ausblick auf weiterführende Forschungen über Naturschutz als politisches Projekt von Zugehörigkeit und als globales Projekt der Fürsorge, die sich aus meiner Analyse entwickelt haben.
2. Methodologie
Zu Beginn meiner Feldforschung war ich mit einer Irritation konfrontiert, die das methodische Vorgehen meiner Arbeit beeinflusste: als Mitglied der Nachwuchsforscherinnengruppe KlimaWelten1 wollte ich untersuchen, ob sich Klimawandeldiskurse im Lebensalltag der kapverdischen Bevölkerung als hegemoniale Deutungsmuster für Umweltveränderungen etabliert hatten. Unserem Projekt lag die Prämisse zugrunde, dass globaler Klimawandel nur im Alltag über lokale kulturelle Kodierungen erfahrbar sei. Wir nahmen im Vorfeld unserer Feldaufenthalte an, dass uns das, was wir unter ›Klimawandel‹ verstanden, vermutlich nicht in dieser Form begegnen würde. Und dennoch waren wir davon überzeugt, früher oder später auf mit ›Klimawandel‹ zusammenhängende Deutungsmuster zu stoßen, da alle Menschen in den ausgewählten Forschungsregionen spürbar von Umweltveränderungen betroffen waren. Deshalb entschieden wir uns auch dazu, nicht direkt nach ›Klimawandel‹ zu fragen, um zu vermeiden, dass unsere Gesprächspartnerinnen ein globalen Narratives reproduzieren. Doch als ich meine Feldforschung in Kap Verde begann, stellte ich irritiert fest, dass ›Klimawandel‹ und Umweltveränderungen keine Themen in Alltagsgesprächen kein Thema waren, sondern auf einen kleinen politischen, wirtschaft-
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KlimaWelten ist ein interdisziplinäres Forschungsprojekt der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS) und des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen (KWI) (2009 bis 2012). Das Projekt war als eine globale Medienethnographie über multiple kulturelle Wahrnehmungen und Deutungsmuster des globalen Klimawandels angelegt. Fünf Forscherinnen der Politikwissenschaften, Kulturwissenschaften, Ethnologie und Soziologie verbrachten zwei Jahre auf Ameland, in der Hudson Bay, in Kap Verde, in San Francisco und in Tokio, vernetzten sich währenddessen über elektronische Plattformen und stellten die Ergebnisse in einen Dialog. (http://www.uni- bielefeld.de/bghs/Public_Science/Klimawelten/index.html; vom 01. 12.2015).
38 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN lichen und akademischen Zirkel beschränkt blieben. Die Taxifahrer, Fischer, empregadas 2 oder rabidantes 3 – die Gesprächspartnerinnen für deren Bedeutungszuschreibungen ich mich vornehmlich interessierte, da sie keine ›Expertinnen‹ waren – sprachen nicht über den globalen ›Klimawandel‹. Auch in den abendlichen Nachrichtenprogrammen des kapverdischen Radio- und Fernsehsenders Radio e Televisão de Cabo Verde (RTC) tauchten Beiträge zu Umweltveränderungen oder zu internationalen Klimakonferenzen zu Beginn meiner Forschung nur selten auf. Dagegen wurde tagelang über das Konzert des amerikanischen Rappers Akon in Praia im Fernsehen und in den Online- und Printausgaben der kapverdischen Zeitungen berichtet. Wann es endlich regnen wird, wie heiß (kenti) oder kühl (frésku) es ist, waren zwar Bestandteile alltäglicher Gespräche, doch mit dem globalen ›Klimawandel‹ wurden sie nicht in Verbindung gebracht. »Cabo Verde sta sempre na crise« (Kap Verde befindet sich immer in einer Krise) sagte mir einer der ersten Kapverdier, mit dem ich in Praia in einem Café ins Gespräch kam. Seiner Ansicht nach hätten weder die ›Finanzkrise‹ im Jahr 2007 noch die ›Klimakrise‹ im Jahr 2009 einen merklichen Einfluss auf die ohnehin schwierigen Lebensumstände auf Kap Verde. Diese Tatsache stellte mich vor ein methodisches Problem: Wie lässt sich etwas untersuchen, was auf den ersten Blick nicht ›da‹ oder gar relevant ist, vor allem, wenn die Forscherin nicht direkt danach fragen möchte, um Reproduktionen hegemonialer Narrative zu vermeiden? In der ethnologischen Forschungspraxis sind solche ›Probleme‹ beziehungsweise Irritationen im Feld keine Hindernisse, sondern Herausforderungen und wegweisende Momente, die zur Reflexion zwingen und zu neuen Feldern und Fragestellungen führen (vgl. Scholz 2005; Kruse 2008; Greschke 2009; Steinke 2009). Der Umgang mit Irritationen in der Feldforschung erfordert eine reflexive Vorgehensweise, die De Neve als »reflections on processual interconnections, that is, connections between the process of fieldwork and the process of interpreting and gaining insight« (de Neve 2006: 68) beschreibt. Reflexivität wurde für mich die methodologische Antwort auf diese Irritation und ein methodologisches Schlüsselkonzept meiner Forschung. Ein reflexives Vorgehen bezieht sich auf die relativen Positionalitäten der Forscherin und ihrer Gesprächspartnerin2
Empregada ist eine Angestellte eines Haushaltes, kann aber auch die Bezeichnung für Mitarbeiterinnen in einem Geschäft oder in der Gastronomie sein.
3
Rabidantes sind (Zwischen-)Händlerinnen – meist Frauen –, die in den Straßenmärkten von Kap Verde mit Obst, Gemüse, Fisch, Kleidung und Waren des alltäglichen Gebrauchs handeln. Das kreolische Wort rabidar bedeutet »Güter in größerer Menge einkaufen, um sie wieder zu verkaufen; sich anschicken etwas zu tun« (Lang 2002: 620) oder »etwas durchbringen oder zurechtkommen« (Grassi 2003: 24).
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nen, auf deren Beziehungen untereinander (Crapanzano 1986), sowie auf die textliche Repräsentation (Clifford 1983; Macbeth 2001). Reflexivität als methodisches Instrument sensibilisiert der Forscher/die Forscherin für die ›Relevanzen‹ des Feldes und hilft dabei, das Feld zu rekonstruieren und das methodische Vorgehen an den Forschungsgegenstand anzupassen. Ebenso ermöglicht ein reflexives Vorgehen, die gewonnenen Daten in ihren Beziehungen zueinander zu betrachten, um die Bedingungen des Erkenntnisgewinns einzuordnen, und um einen transparenten und intersubjektiven Text zu produzieren.
2.1 M ULTI - SITED E THNOGRAPHY
IN
K AP V ERDE
Die konzeptuelle und räumliche Erweiterung des Feldes Wenn Irritationen im Feld auftauchen, bedarf es einer flexiblen Ethnographie. Die multi-sited ethnography (Marcus 1995) ist eine geeignete Technik, um Irritationen sowie Vieldeutigkeiten und Widersprüchen im Feld adäquat zu begegnen. Für die ethnologische Feldforschung, die sich lange an dem von Bronislaw Malinowski (1922) postulierten Archetyp der kleinen, geographisch eingegrenzten Einheit orientiert hat (Gatt 2009: 108), beinhaltet die multi-sited ethnography eine konzeptuelle Erweiterung des Feldes, da sie sich von der geographischen Einheit als Untersuchungsradius löst. Einige Autorinnen äußern jedoch die Befürchtung, dass die multi-sited ethnography letztlich ein Plädoyer dafür bleibt, dass die Forscherin ihre Untersuchung mit ihrer physischen Anwesenheit an geographischen Orten verbindet (Hage 2005; Feldman 2011; Falzon 2009). Diese Annahme geht möglicherweise darauf zurück, dass die Kritikerinnen der multi-sited ethnography den Begriff site nur als physischen Ort verstehen. Gemeint sind jedoch auch Perspektiven oder Situationen, die der Untersuchungsgegenstand, die Gesprächspartnerinnen und die Forscherin in einer reflexiven Weise konstituieren und konstruieren (Falzon 2009). Die Insel als eine lokal begrenzte Einheit und als traditionelle Untersuchungseinheit für eine Ethnologie des Naturschutzes zu konzeptualisieren ist verlockend (Moran 2011), doch in Kap Verde unmöglich. Der räumlich multidimensionale Charakter meiner Felder existierte von vornherein und bot mir an, mich auf unterschiedliche Orte, Themen und Geschichten einzulassen. Für meine Arbeit bedeutet multi-sited ethnography zum einen, dass ich meinem Untersuchungsgegenstand an verschiedenen geographischen Orten gefolgt bin. Dabei spielen weniger die Anzahl oder die räumliche Entfernung zwischen den geographischen sites eine Rolle, sondern multi-sited ethnography macht nur Sinn,
40 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN wenn die Felder unterschiedliche Perspektiven auf den Forschungsgegenstand bieten und damit auch »spatialized (cultural) difference(s)« (Falzon 2009: 13) darstellen. Mein 22-monatiger Feldaufenthalt fand an den zwei geographischen Orten Santiago und Boa Vista statt. Doch ich folgte meinen Forschungspartnerinnen, den Veranstaltungen zum Naturschutz, dem Schildkrötenfang, sowie Geschichten über Landverkauf auch auf andere Inseln, nach Boston oder in den Senegal. Die Unterschiede zwischen Santiago und Boa Vista lagen nicht nur in der Größenordnung der Inseln, in der Bevölkerungsanzahl oder in deren zahlreichen historischen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Besonderheiten. Die Variation war eine Folge davon, wie Menschen diese Lokalitäten als räumliche und kulturelle Differenzen konstruieren (Gupta und Ferguson 1997b). Einige meiner Gesprächspartnerinnen sahen in der Hauptstadt Praia einen wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Dreh- und Angelpunkt, andere bezeichneten die Stadt als chaotisch, die unter der erhöhten räumlichen Mobilität von Kapverdierinnen, Senegalesinnen und Guinea-Bissauanerinnen zu einer Transitstation wurde. Viele stellten Santiago im Gegensatz zu den anderen Inseln als besonders ›authentisch‹ dar, wobei sie ›Authentizität‹ an dem badíu4, einer Variante des kapverdischen Kreols, und der dunkleren Hautfarbe der Bewohnerinnen, die die afrikanischen Wurzeln der kapverdischen Gesellschaft betonen (Batalha 2004), festmachten. Boa Vista hingegen galt nicht mehr als ›echtes‹ Kap Verde, sondern als Insel der stranjerus5 (Ausländerinnen), auf der sich die Infrastruktur, die Versorgung mit Wasser und Strom, der Arbeitsmarkt sowie die Lebenshaltungskosten im Zuge der touristischen Entwicklungen veränderten. Nach Aussagen meiner Gesprächspartnerinnen entsprechen diese Veränderungen einem höheren Lebensstandard, der nichts mit dem ›wirklichen‹ Leben in Kap Verde gemeinsam habe. Anhand des Kontrasts von Santiago und Boa Vista wird deutlich, wie geographische Orte in einem sich ändernden Dialog zueinanderstehen, den meine Gesprächspartnerinnen mit ihren Wahrnehmungen, Bedeutungszuschreibungen und Praktiken geprägt haben. Die verschiedenen Eindrücke der geographisch verschiedenen sites halfen mir dabei, das Leben auf den heterogenen Inseln bes4
Zur Unterteilung des kapverdischen Kreols in badíu und sanpadjudu siehe Kapitel 3.
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Meine Gesprächspartnerinnen unterschieden zwischen den stranjerus aus Europa und den USA einerseits und denen aus China und Westafrika andererseits und versahen diese Kategorien in Folge mit positiveren und negativeren Konnotationen. Für diese Unterteilung spielten oftmals die sozioökonomischen Stellungen der NichtKapverdierinnen eine Rolle. Es gab jedoch auch Situationen, in denen alle NichtKapverdierinnen als stranjerus bezeichnet wurden.
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ser zu verstehen. So konnte ich die gewonnenen Perspektiven auf die kapverdische Gesellschaft verdichten, das heißt »die Vielfalt komplexer, oft übereinander gelagerte[r] und ineinander verwobene[r] Vorstellungsstrukturen« (Geertz 1987: 15) erfassen und mich der Perspektive meiner Gesprächspartnerinnen nähern. Diese Verdichtung konnte ich besonders deutlich während und nach meinem einmonatigen Besuch in Brockton, im Osten der USA, herausarbeiten, wo ein Großteil der kapverdischen Gemeinschaften lebt. In Praia lernte ich ein älteres kapverdisches Ehepaar kennen, das die Häfte des Jahres in Brockton verbrachte. Nachdem ich sie in den USA besucht hatte, verstand ich viel besser, wie präsent die Inseln im Alltag der Kapverdierinnen in Boston sind, und wie wiederum das Geschehen in den USA den Alltag der Inselbewohnerinnen durchdringt. Auch meine Reise in das senegalesische Touba mit senegalesischen Händlern, die auf Boa Vista touristische Waren verkauften, verhalf mir dazu, ihre Perspektive auf ihren Lebensalltag in Kap Verde besser einordnen. Zum anderen heißt multi-sitedness für mich, verschiedene Perspektiven auf und Interpretationen des Untersuchungsgegenstandes zu berücksichtigen. Ich verstehe Mensch-Umwelt-Beziehungen als kulturelle Ausprägungen, die sich nicht nur in der materiellen Umwelt eines geographischen Ortes manifestieren (Gupta und Ferguson 1997b) und territorial fixiert sind (Marcus 2009: 184). Es geht auch darum, wie Menschen ihre Beziehung zur Umwelt imaginieren, deuten und erfahren. Anbindungen zur materiellen Umwelt und zum Naturschutz können auch als nicht physisch verortbare gelebte Erfahrungen existieren und sich in Geschichten, Biographien, Symbolen oder Konflikten manifestieren. Menschen, Tiere, Themen, aber auch Beziehungen und Agenden konstituieren und konstruieren verschiedene »sites« (Marcus 1995), denen die Ethnographin bei der multisited ethnography nachgehen soll. Mein Feldaufenthalt von 22 Monaten bot mir die Möglichkeit, mich einerseits vom Feld leiten zu lassen und andererseits neue Fragestellungen zu entwickeln und ihnen mit ausreichender Zeit zu folgen. In Anlehnung an Tsing (2005) war mein Vorgehen explorativ, strategisch und zufällig: Zufällig in dem Sinne, dass ich mich auf mein Feld eingelassen habe und ihm gefolgt bin, und strategisch in dem Sinne, dass ich Fragen an das Feld gerichtet und Kontakte gesucht habe, die für meine Fragen interessant waren. Somit war auch meine Fragestellung stets in Bewegung und entwickelte sich auf dem Weg durch das Feld weiter. Das Feld ging über einen Ort hinaus und bezog verschiedene Imaginationen, Beziehungen, Bewegungen Situationen, Dinge oder Personen mit ein. Die räumliche und konzeptuelle Erweiterung meines Feldes stellte damit eine perspektivische Anreicherung meines Untersuchungsgegenstandes dar, bei der es aber nicht darum ging, das ›Bild‹ über die kapverdische Gesellschaft zu vervollständigen,
42 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN sondern die Komplexität der Beziehungen, die die Menschen in Kap Verde zueinander und zu ihrer Umwelt haben zu verdichten. Eine solche multiple Sichtweise auf den Untersuchungsgegenstand berücksichtigt, dass lokale Realitäten durch verschiedene Beziehungen und Handlungen entstehen (Marcus 2009: 184) und integriert in vielerlei Hinsicht Widersprüche und Mehrdeutigkeiten (Fortun 2009; Gatt 2009), was zu einer schattierten und komplexen Ethnographie führt. Des Weiteren ist die multi-sited ethnography für meine Forschung geeignet, um die Verflechtung von ›globalen Ideen‹ und ›lokalen Kontexten‹ zu untersuchen. Naturschutz ist ein Phänomen mit diskursiven »abstract claims« (Tsing 2005: 5), das Menschen an einem partikularen Ort umsetzen. Die Verflechtungen globaler und lokaler Prozesse, die Robertson (1995) als ›Glokalisierung‹ beschrieb, liegen in den einzelnen Beziehungen und Verbindungen innerhalb und zwischen den Feldern. Da die multi-sited ethnography diesen Beziehungen und Verbindungen nachgeht, hilft sie der Forscherin dabei, die Trennung in Mikround Makroebene zu durchbrechen und die global-lokale Dichotomie des Forschungsgegenstandes zu überwinden. Indem sie die verschiedenen »sites« zueinander in Beziehung setzt (Marcus 1995: 19), erlangt sie nicht nur eine detaillierte Ethnographie, sondern kann auch analysieren, inwieweit das ›Globale‹ lokal wirksam wird (Ingold 2008). Feldeinstieg in der Hauptstadt Praia In meiner ersten Forschungsphase in Praia von Mai 2010 bis Mai 2011 versuchte ich, so viele verschiedene Perspektiven wie möglich zu erfassen, um eine dichte Beschreibung (Geertz 1987) von Mensch-Umwelt-Beziehungen und deren Deutungen zu erhalten. Von Mai bis Juli 2010 wohnte ich im Stadtteil Di Nós. Ich teilte mir mit Alidoro und seinem Bruder Dandini ein Zimmer in einer Wohnung, in der drei weitere Mietparteien wohnten. Alidoro hatte ich während meines Studiums zwischen 2001 und 2008 in Portugal kennengelernt, und seine Familie im Jahr 2009 in Praia. In Di Nós machte ich erste Bekanntschaft mit dem Ladenbesitzer in unserem Wohnblock, Rui, einem deportierten Kapverdier aus Brockton, und der rabidante Arlinda, bei der ich Obst und Gemüse kaufte. Nach zwei Monaten bezog ich eine Wohnung im ca. 10 Fußminuten entfernten Stadtteil Achada Santo Antonio, den die Bewohnerinnen Praias als tchada bezeichnen, wo ich ebenso mit verschiedenen Personen aus meiner Nachbarschaft in Kontakt trat. Nach kurzer Zeit hatte ich mir ein Netzwerk von Gesprächspartnerinnen aufgebaut, das sich nicht nur auf Praia, sondern auch auf andere Inseln, in die USA und nach Europa erstreckte. Dass sich mein Netzwerk schon zu Beginn meiner Forschung auf unterschiedliche, weit voneinander entfernte Orte verteil-
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te, spiegelt die Alltäglichkeit mobiler und transnationaler Beziehungen im Leben der Menschen auf Kap Verde wider. Praia war für mich zwar eine erste Untersuchungseinheit, aber gleichzeitig auch eine Station, von der aus ich meine Bewegungen im Feld planen konnte. Gerade die Unübersichtlichkeit und der transitähnliche Zustand Praias, den besonders die kürzlich auf die Inseln zurückgekehrten Kapverdierinnen als »nicht benutzerfreundlich« bezeichneten, waren für meinen Einstieg ins Feld ein zentrales Moment. Ich war oftmals gezwungen, mich im Zuge nicht planbarer Treffen oder nicht auffindbarer Adressen, auf zufällige Begegnungen einzulassen, die mir jedoch eine Fülle an neuen Untersuchungszugängen eröffneten: Zwei Wochen nach meiner Ankunft in der Hauptstadt hatte ich bei einer meiner Recherchen in einem Internetcafé von einem internationalen Symposium über Klimawandel an der Universidade de Cabo Verde (UNICV; Universität Kap Verde) gelesen, das am Tag darauf stattfinden sollte. Ich war froh, diesen Event zeitnah entdeckt zu haben, und fuhr am Tag darauf zur Universität nach Palmareijo, einem der neueren Stadtteile Praias. In dem Saal, in dem das Symposium stattfinden sollte, waren bereits die Schilder mit dem Titel der Veranstaltung und den Namen der Referentinnen auf den Sprecherpulten aufgestellt. Außer mir waren jedoch keine Zuhörerinnen gekommen. Toni, ein Kapverdier aus Brockton, der das Symposium veranstaltete, sagte mir, dass es wohl ein Missverständnis in der Planung der Veranstaltung gegeben hätte. Nach ca. 15 Minuten, während derer Toni telefonierte und mit den vier amerikanischen und spanischen Kollegen darüber beratschlagte, was nun zu tun sei, informierte er mich darüber, dass sie das Symposium in die Escola de Négocio e Governação (ENG; School of Business and Governance) der UNICV verlegen würden. Er bot mir an, mit ihm und den anderen Referentinnen in einem iási6 zurück nach tchada zu fahren, wo das Gebäude lag. So öffnete sich mir auf der Fahrt von Palmareijo nach tchada die Tür zu einem Zirkel kapverdischer Wissenschaftlerinnen und Politikberaterinnen, die Umweltpolitiken bewusst auf die politische Agenda setzten. Toni, der im selben Jahr wie ich nach Kap Verde gekommen war, um die ENG aufzubauen, wurde zu einem meiner wichtigsten Forschungspartner und zu einem Freund. Mit seiner Unterstützung erhielt ich unproblematisch und schnell ein Gastwissenschaftler-Visum und konnte etliche Kontakte zu den Mitarbeiterinnen des UNEP, des United Nations Development Program (UNDP; Umweltprogram der Vereinten Nationen) und zu anderen Wissenschaftlerinnen herstellen.
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Iási (kr.) oder hiace lehnt an das Hiace-Model von Toyota an und ist der emische Begriff für private Transportwagen des interurbanen Verkehrs. Zur ethnographischen Untersuchung des hiace-Systems in Praia siehe Malet (2011).
44 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN Pluralität der Gesprächspartnerinnen und Begegnungen Eine dichte Beschreibung von Mensch-Umwelt-Beziehungen vereint eine Vielfalt von Stimmen, Perspektiven und Meinungen. Aus diesem Grund erschien es mir zunächst sinnvoll, mit kontrastierenden Gesprächspartnerinnen zu arbeiten. Daher reichte die Spannbreite meiner Gesprächspartnerinnen von guárdas (Wachpersonal), die für die Sicherheit von Wohnblöcken oder Restaurants zuständig waren, empregadas, die bei meinen Nachbarinnen oder in meiner Umgebung für andere Personen arbeiteten, und rabidantes bis zu Taxifahrern, Gastronomiearbeiterinnen, Fischern, Bauern und Fremdenführerinnen. Ich ging davon aus, dass Fischer und rabidantes hinsichtlich ihrer ›Nähe‹ und ›Abhängigkeit‹ zur und von der Umwelt andere Rationalitäten und Logiken aufwiesen als ›Expertinnen‹, zu denen ich Mitarbeiterinnen der UN oder von NROs zähle, und die sich auf einer anderen beruflichen Ebene mit Umweltthemen beschäftigten. Mein Alltag bestand zunächst darin, den Bezug zur Umwelt in Personen, Geschichten und Themen zu finden und weiter zu verfolgen. In Praia fuhr ich mit dem Fischer Helder und seinen Kollegen während ihres täglichen Fischfangs hinaus und begleitete sie, wenn sie Fische oder Schildkröten verkauften. Ich begleitete Helder zu familiären Festen wie cinza, dem Aschermittwoch, oder verbrachte mit ihm die sieben Tage, in denen Fischer ihre Arbeit niederlegen, wenn einer ihrer Kollegen gestorben ist. Über Helder und seine Schwester lernte ich auch Personen, die Sand abbauen kennen, wodurch sich neben dem Schildkrötenfang ein weiteres Forschungsfeld eröffnete. Mehrmals in der Woche besuchte ich die guárdas, die Kohleverkäuferin Ester, oder Mamadu und Idrissa, die Schuhe oder Taschen reparierten. Während ich mich mit ihnen an deren Arbeitsstellen am Straßenrand in tchada unterhielt oder zusammensaß, kam ich wiederum mit anderen Personen in Kontakt. Zusätzlich pflegte ich enge Kontakte mit kapverdischen Wissenschaftlerinnen und tauschte mich mit Vertreterinnen von NROs, den UN, nationaler und internationaler Institutionen und Organisationen, sowie mit Regierungsmitarbeiterinnen und Journalistinnen aus. Während ich Fischern, empregadas oder Taxifahrern in informellen Situationen am Strand, bei ihnen zu Hause oder in Bars begegnete, nutzte ich formelle Anlässe wie Seminare und Veranstaltungen zur Kontaktaufnahme mit ›Expertinnen‹7.Wegen des formellen Rahmens dieser Treffen, mit schriftlicher Anfrage 7
Dazu zählten auch Walter von der Direcção Geral do Ambiente (DGA; Generaldirektion Umwelt), Pericles von der Sociedade des Desenvolvimento Turístico das Ilhas de Boa Vista e Maio (SDTIBM; Gesellschaft für die touristische Entwicklung der Inseln Boa Vista und Maio), Luiza, Mara und Mutaro vom Projekt Consolidação do Sistema de Áreas Protegidas em Cabo Verde (Konsolidierung des Systems geschütz-
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und genauer Terminabsprache, waren oft nur bestimmte Interaktionen zwischen mir als Ethnographin und meinen Gesprächspartnerinnen möglich. Im Gegensatz zu informellen Gesprächen gingen die Gesprächsinhalte oftmals nicht über die zuvor festgelegten Themen hinaus und meine Gesprächspartnerinnen positionierten sich in ihren festlegten Rollen als Expertinnen, sodass mir deren Perspektiven und Deutungen auf andere Lebensbereiche verschlossen blieben. Die Formalität zeigt sich auch an den Orten, an denen ich die Expertinnen traf. Verabredungen und Gespräche, wie zum Beispiel mit Avelino, dem Leiter des UNDP in Praia, fanden meist nur zu Beginn in seinem Büro statt. Im Verlauf meiner Feldforschung löste sich dieser formelle Rahmen jedoch auf, und die Begegnungen gestalteten sich zunehmend informeller. Erschließung von Themen und Forschungsfeldern Der Bezug zur Umwelt liegt auch jenseits offensichtlicher umweltbeogener Bereiche wie Fischen oder Landwirtschaft. Aus diesem Grund behielt ich weiterhin einen offenen Blick für andere Themen wie Immigration, Tourismus oder Deportation. Dabei stellt ich fest, dass für meine Gesprächspartnerinnen die Generierung von finanziellem Einkommen, soziale Exklusion und die neuen Bedeutungszuschreibungen von ›Natur‹ sehr viel relevanter waren als der ›Klimawandel‹. Meine ursprüngliche Forschungsfrage rückte zunehmend in den Hintergrund. Im Lauf der Zeit stellte sich heraus, dass Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse eine weitaus größere Rolle im Lebensalltag meiner Gesprächspartnerinnen spielten und in einem Spannungsfeld mit wirtschaftlichen Entwicklungen wie dem Tourismus standen. Naturschutzpolitiken und damit zusammenhängende Themen wurden immer öfter in Workshops, Seminaren, Konferenzen oder Ausstellungen vorgebracht, zu denen ich über meine Netzwerke nun einen guten Zugang hatte. Solche formellen Veranstaltungen fungieren als Formate, in denen globales Wissen zu Umwelt und Umweltveränderungen verbreitet werden soll. Vor allem für das Thema Naturschutz ist es wichtig, das globale »wissenschaftliche Wissen« (Tsing 2005: 12) im lokalen Kontext zu verbreiten. In Ausstellungen über nachhaltige Architektur, Filmvorführungen des UNDP oder Seminaren zu ter Gebiete in Kap Verde), Renata und Sandra aus dem Instituto Nacional do Desenvolvimento das Pescas (INDP; Nationales Forschungsinstitut für Fischereientwicklung), Macario vom Instituto Nacional da Investigação do Desenvolvimento da Agricultura (INIDA; Nationales Institut für die landwirtschaftliche Forschung und Entwicklung) und Marina vom Instituto Nacional do Geofísica e Meteorologia (INMG; Nationales Institut für Geophysik und Meteorologie).
46 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN Schildkrötenschutz erschlossen sich mir daher nicht nur die Interaktionen zwischen unterschiedlichen Akteuren und deren Bedeutungszuschreibungen. Sie spiegeln auch wider, wie und in welchen Machtkonstellationen lokale und globale Aspekte von Mensch-Umwelt-Beziehungen in ein Verhältnis gesetzt werden. Weiterentwicklung der Forschungsschwerpunkte auf Boa Vista Nach dieser explorativen Phase begann ich, meinen Untersuchungsfokus allmählich auf Landverkauf, Schildkrötenfang und -konsum und Sandabbau einzugrenzen. Nachdem ich ein Jahr auf Santiago verbracht und die anderen Inseln kennengelernt hatte, entschloss ich mich, für die zweite Forschungsphase nach Boa Vista zu ziehen, da sich hier Naturschutz und Tourismus dezidiert als vermeintliche Gegensätze manifestieren. Viel intensiver als auf Santiago verfolgte ich auf Boa Vista das (öko-)touristische Feld, das den Rahmenbedingung dafür bildetet, wie Menschen mit der Umwelt involviert waren. Neben den erwähnten Gesprächspartnerinnen und Forschungsfeldern schloss ich zusätzlich Reiseleiterinnen, Hoteldirektoren und Hoteldirektorinnen oder Zimmermädchen in den Kreis meiner Gesprächspartnerinnen ein, besuchte Hotelresorts und nahm an Schildkröten- und Walexkursionen teil. Auf Boa Vista und Santiago arbeitete ich zudem auf kurze Zeit als Freiwillige für die beiden Schildkrötenschutz-NROs Verde und Azul, um die Interaktionen zwischen NRO-Mitarbeiterinnen, der Bevölkerung und Touristinnen zu untersuchen. Nach den ersten Eindrücken im Feld und den darin liegenden Relevanzen richtete ich meine Fragestellung nun vielmehr auf das Verhältnis von Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskursen im Kontext touristischer Entwicklungen und deren Auswirkungen auf die Bevölkerung. Im Laufe meiner Feldforschung stellte ich zudem fest, dass viele meiner Gesprächspartnerinnen auf diskursiver Ebene zwischen der lokalen Bevölkerung und Expertinnen unterschieden. Diese Trennung löste sich jedoch immer wieder auf oder wurde an andere Referenzpunkte wie stranjerus, Kapverdierinnen, badíus, sanpadjudus8, africanos (Afrikanerinnen), Politikerinnen oder turistas (Touristinnen) geknüpft. In dieser Auflösung von im Feld auftretenden Kategorien lag ein weiteres reflexives Moment, um meine Forschungsfragen neu zu denken und die Fragen nach Verflechtungen und Zugehörigkeiten stärker zu berücksichtigen. Um eine Geschichte meiner Forschung in Kap Verde zu erzählen, habe ich meine Ergebnisse in drei Fallstudien zu Landtransformationen (Kapitel 4), Schildkrötenschutz 8
Badíus und sanpadjudus entsprechen zwei sozialen Kategorien der kapverdischen Gesellschaft, die mit einer geographischen Zweiteilung des Archipels und zwei Varianten des Kreols korrespondieren (siehe dazu ausführlich Kapitel 3).
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(Kapitel 5) und Sandabbau (Kapitel 6) aufbereitet. Da diese Themenfelder auch innerhalb der kapverdischen Gesellschaft umkämpft und umstritten sind, war es mir wichtig, konsequent mehrere Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand darzustellen. Die Fälle sollen nicht als abgeschlossene Einheiten verstanden werden (Creswell 2007), sondern als Produkte der Forschung, in denen multiple Perspektiven, Daten, Interpretationen und Methoden in einem Dialog stehen. Zwar beschreiben die drei Fallstudien Praktiken, Erfahrungen und Diskurse in Mensch-Umwelt-Beziehungen an partikularen Orten, doch sie sind nicht auf ein lokales Gebiet begrenzt. Die lokale Eingrenzung sowie die Konstruktion der Fälle bilden vielmehr einen Zuschnitt über die global-lokalen Verflechtungen der Untersuchungsgegenstände.
2.2 M ETHODEN DER D ATENERHEBUNG Um der Komplexität meines Untersuchungsgegenstandes gerecht zu werden, verwendete ich verschiedene Methoden der Datenerhebung. Ein ethnographisches Vorgehen bietet ein umfangreiches Repertoire von Erhebungsmethoden, um die Vielzahl von Perspektiven auf die Involviertheit von Menschen mit dem Naturschutz zu analysieren. Im Folgenden werde ich die verwendeten Methoden kurz skizzieren und erläutern, wie ich sie für meine Forschung eingesetzt habe. Teilnehmende Beobachtung als Balanceakt zwischen Nähe und Distanz Die wichtigste Erhebungsmethode meiner Arbeit bildete die teilnehmende Beobachtung. Bei dieser Methode, die auch als »hanging out« (Reddy 2009: 97) bezeichnet wird, taucht die Forscherin in eine Gesellschaft ein und interagiert mit dem Feld, um Informationen zu gewinnen. Durch das zielgerichtete »Hinsehen« (Kohl 2000: 111) kam ich den emischen Sichtweisen der Forschungspartnerinnen näher und erlernte die Praktiken des Feldes. Ein Vorteil der teilnehmenden Beobachtung gegenüber anderen Methoden ist die Möglichkeit, verkörpertes und implizites Wissen (Berger und Luckmann 2012 [1980]) mit sprachlichen Aussagen zu kontrastieren. Wenn Fischer mit Schildkröten interagierten, offenbarte sich oftmals eine fürsorgliche Beziehung zu den Tieren, wohingegen sie in einer viel pragmatischeren und raueren Weise über das Fangen oder die Zubereitung der Tiere sprachen. Die teilnehmende Beobachtung war für mich ein Ausweg aus dem Dilemma, dass Wissen nicht direkt zugänglich und über Sprache abrufbar ist. Einerseits konnte ich bestimmte Handlungsabläufe oder Situationen wie
48 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN zum Beispiel Personen, die Sand abbauen, intensiv beobachten. Andererseits eröffnete sich die Möglichkeit, auch unvorhergesehene Ereignisse zu erfassen. Während meiner Aufenthalte in den Camps der Schildkrötenschutz-NROs konnte ich nicht nur beobachten, mit welchen Praktiken die NRO-Mitarbeiterinnen den Schildkrötenschutz als ein Expertenfeld konstruieren, sondern auch, wie sie in der Interaktion mit Touristinnen ihre moralischen Ansprüche geltend machen. Diese Beobachtungen hielt ich entweder in den jeweiligen Momenten als Gedächtnisprotokolle in meinen Feldtagebüchern fest, oder ich fixierte sie zu einem späteren Zeitpunkt. Zwar verdichtet die gleichzeitige Beobachtung und Interaktion mit dem Feld die gewonnenen Daten, doch gleichzeitiges Beobachten und Interagieren ist auch eine doppelte ›Belastung‹ der Ethnographin. Ich war damit beschäftigt, in die vor mir liegenden Situationen einzutauchen und mich gleichzeitig befremden zu lassen. Das Paradox der »estranged intimacy« (Challinor 2012b), bei der die Forscherin in das Geschehen involviert ist und gleichzeitig in die Beobachterrolle verfällt, änderte sich jedoch auch im Lauf der Forschung, da sich mein Verhältnis zum Feld und zu meinen Beobachtungen änderte. Mit der Zeit lernte ich, Schwerpunkte während der teilnehmenden Beobachtungen zu setzen und entwickelte ein Gespür dafür, wann es besser war, sich auf die Situation mit meinen Forschungspartnerinnen zu konzentrieren und einzutauchen, oder sich von deren Praktiken und Aussagen befremden zu lassen. Auch wenn die teilnehmende Beobachtung die wichtigste Methode meiner Forschung darstellte und sich besonders dafür eignete, Zugang zu nicht sprachlichem Wissen zu erhalten, blieben andere Bereiche des Feldes mit diesem Erhebungsverfahren ›unentdeckt‹. Die Realitäten und Relevanzen des Feldes lassen sich nicht vollständig durch Beobachtung erschließen, da einige Wissensbestände und Praktiken nur durch Kontextwissen verständlich werden. Aus diesem Grund war es notwendig, weitere Perspektiven und Interpretationen auf den Untersuchungsgegenstand mit anderen Erhebungsmethoden zu erfassen. Ethnographische Gespräche Ethnographische Gespräche (Spradley 1979; Silverman 2001) liefern kontextübergreifende Erläuterungen, die sich auf Vergangenes und Gegenwärtiges beziehen und spüren damit weitere Relevanzen des Feldes auf. Sie eigneten sich auch dazu, bereits verfolgte Themen fokussierter zu beobachten oder anderen Spuren verstärkt zu folgen. Meine Arbeit basiert daher ebenso auf den Inhalten zahlreicher ethnographischer Gespräche, die ich gleichzeitig oder nachträglich als Notizen (Lofland 1979) in meinem Feldtagebuch notierte oder mit meinem
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Audiogerät aufzeichnete. Die meisten Gespräche führte ich auf Portugiesisch oder Kreol, einige auch auf Englisch und auf Deutsch, wie mit den beiden Agrarwissenschaftlerinnen Macario und Suzanna, die in Dresden studiert hatten. Mit Expertinnen führte ich informelle Gespräche und nur selten semistrukturierte Interviews. Oft überraschte mich die Flexibilität meiner Gesprächspartnerinnen, den formellen Rahmen und das zuvor vereinbarte Zeitfenster aufzulösen und das Gespräch im Café oder im Kreis der Familie abzuhalten und ihm mehr Zeit einzuräumen. Dies bot an, die zuvor als semi-strukturierte Interviews gerahmten Gespräche informeller zu gestalten. In den ethnographischen Gesprächen erschlossen sich Perspektiven auf vergangene Ereignisse und reicherten meine Untersuchungsthemen um historische und prozesshafte Dimensionen an. Mit diesem Gesprächsformat konnte ich die verschiedenen Schichten von Zugehörigkeit zu erarbeiten, da sich Zugehörigkeiten durch »biographische Tiefe« (Pfaff-Czarnecka 2012: 37) reproduzieren. Darüber hinaus tragen Menschen in Gesprächen immer Reproduktionen und Positionalitäten (Harré und van Langehoven 1999) des Eigenen und des Anderen hinein, die für die Analyse herangezogen werden können. So deutete bereits die Sprachauswahl meiner Gesprächspartnerinnen auf eine Selbstpositionierung hin, und darauf, wie sie die Beziehung zu mir wahrnahmen. Obwohl ich mich bemühte, die Gespräche auf Kreol zu führen, wechselten einige meiner Gesprächspartnerinnen oft in das Portugiesische oder in das Englische, auch wenn sie über einen weit geringeren Wortschatz in diesen Sprachen verfügten. An der Sprachwahl erkannte ich, wie sich meine Gesprächspartnerinnen mir gegenüber präsentieren wollten – als merkanus (Amerikanerinnen) mit Bezug zu den diasporischen Gemeinschaften in den USA, oder als kábuverdianus (Kapverdierinnen), badíus oder sanpadjudus. Der Einsatz der Videokamera als Erhebungsinstrument Eine Besonderheit meiner Forschung war der Einsatz der Videokamera, mit der ich viele der geführten Gespräche, Veranstaltungen und andere Situationen festgehalten habe.9 Nicht nur Sprache, sondern auch Gestik, Mimik und Körperhaltung helfen der Forscherin dabei, Situationen besser zu verstehen. Während schriftliche Aufzeichnungen vor allem Sprache dokumentieren, kann die videoethnographische Datenerhebung die nicht- sprachlichen Aussagen und damit im9
Im KlimaWelten Projekt sollte die Videokamera primär Beobachtungen einfangen, um praktisches Wissen sichtbar zu machen. Darüber hinaus unterstützten unsere Videoaufzeichnungen die gemeinsame Analyse in der Forscherinnengruppe und sollten ebenfalls in den Dokumentarfilm des KlimaWelten Projekts einfließen.
50 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN plizite Positionierungen gegenüber Themen und sozialen Situationen bildlich festhalten. Ebenso wie meine Person oder das Audiogerät wurde die Kamera zu einem »Teil des Feldes« (Dicks, Soyinka und Coffey 2006: 78), mit dem die Gesprächspartnerinnen interagierten. Für meine Forschung stellte sich der Einsatz der Kamera als ambivalent heraus: ein Vorteil, den die Kamera als Erhebungsinstrument anbot, war die Möglichkeit, meine Gesprächspartnerinnen in den Forschungsprozess direkt einzubeziehen, indem ich sie selbst filmen ließ. Dadurch konnte ich beobachten, wie sich ein und derselbe Forschungsgegenstand reflexiv zum Erhebungsinstrument verhält. Ebenso war die gemeinsame Sichtung des Materials mit den Gesprächspartnerinnen und der Forschergruppe eine wichtige kommunikative Ressource, um den Forschungsprozess zu reflektieren und eigene Interpretationen zu überprüfen (Pink 2007). Aufschlussreich war auch, wie meine Gesprächspartnerinnen beim Einschalten der Kamera ihre Positionalitäten veränderten, wie zum Beispiel eine NRO-Mitarbeiterin, die sich nochmal umzog, um ein T-Shirt mit dem NRO-Logo zu präsentieren. Doch die Präsenz der Kamera evozierte auch eine Störung in der Interaktion, die ich nicht immer als Datengewinn interpretieren würde. Die Kamera verleitete meine Forschungspartnerinnen, mich als Touristin oder als Journalistin wahrzunehmen, was zwar den Zugang zu bestimmten Feldern eröffnete, aber zu anderen auch versperrte. Zudem war es schwierig, qualitativ gute Bild- und Tonaufnahmen ohne zu laute Windgeräusche und Sandkörner in der Linse zu produzieren. Ich war oft mit der Einsetzbarkeit des Gerätes beschäftigt, was ich als Störung für meine eigene Arbeitsweise empfand. Diese äußeren Einflüsse erschwerten teils die Interaktion mit meinen Gesprächspartnerinnen. Auch der hohe finanzielle Wert des Gerätes führte dazu, dass ich mich in einigen sozialen Milieus weniger frei bewegen konnte. Beispielsweise musste ich in Di Nós ein von mir lang ersehntes Gespräch mit einem Fischer abbrechen, da sich eine Gruppe von jungen Männern näherte, die es auf die Kamera abgesehen hatte. Auch Personen, die Sand abbauten und mich zum ersten Mal mit der (ausgeschalteten) Kamera in der Hand sahen, lehnten zunächst ein Gespräch ab. Sobald ich das Gerät verstaut hatte, traten sie mit mir in Kontakt und waren gesprächsbereits. Besonders die Verwendung der Kamera zeigte, wie das Feld der Forscherin Grenzen setzen kann und wie die Erhebungsmethode das Feld konstruiert und den Forschungsprozess beeinflusst. Mit der Zeit lernte ich, die Datenerhebungsinstrumente, Protokolle und den Einsatz der Videokamera situationsangemessen einzusetzen und besser zu integrieren.
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Datenkorpus Der Datenkorpus dieser Arbeit setzt sich neben meinen Feldtagebucheinträgen, Protokollen, Audio- und Videoaufzeichnungen auch aus Fotographien, Dokumenten von verschiedenen Organisationen und Institutionen, Internetauftritten, Facebook-Einträgen, Kommentaren zu Zeitungsartikeln und Medienbeiträgen der lokalen Fernsehsender zusammen. Letztere gewannen in meiner Forschung besonders an Bedeutung, da sich die Berichterstattung der lokalen kapverdischen Zeitungen und Fernsehsender in vielerlei Hinsicht als Referenzpunkt für meine Gesprächspartnerinnen und mich herausstellte: Zum einen informierte ich mich über die kapverdischen Radio- und Fernsehsender, sowie über die wöchentlichen Printausgaben der Zeitungen A Semana und Expresso das Ilhas über das Tagesgeschehen. Zum anderen verwiesen viele meine Gesprächspartnerinnen in unseren Unterhaltungen auf Nachrichtenbeiträge des staatlichen Fernsehens. Die meisten Haushalte, Bars, die Wartebereiche in den Flughäfen, die Filialen der Telekom, in denen man seine Rechnungen bezahlt oder sein Handyguthaben auflädt, oder die Poststellen verfügen über einen Fernseher, der ganztätig in Betrieb ist.10 Medienberichte sowie das Sprechen über sie lieferten Gesprächsimpulse und verhalfen mir dazu, den Gegenstand sowie die Perspektiven meiner Gesprächspartnerinnen besser zu verstehen. Die Kritik Avelinos und anderer Gesprächspartnerinnen, dass die kapverdischen Medien zu wenig über Umweltthemen berichteten, deutet darauf hin, dass sie Medien einen hohen Stellenwert und eine Verantwortung zusprachen, um Menschen für umweltbezogene Themen wie den Sandabbau oder den Schildkrötenschutz zu sensibilisieren. Mit Medien ist ein gesellschaftlicher Modus gefunden, durch den ›Kultur‹ transportiert wird, und der deshalb für das Verstehen von sozialen Welten von wesentlicher Bedeutung ist (Dracklé 2005). Appadurai (1996) weist auf den auf Bildern basierenden und narrativen Charakter von Medienlandschaften hin, der Charaktere, Geschichten oder Phänomene prägt, und so das eigene Leben und das der Anderen vorstellbar macht. Für meine Arbeit waren die Medienbeiträge in ihrer Relation zu anderen Datentypen wie Beobachtungen und Gesprächen oder Kommentaren interessant. Da Medien eine Projektionsfläche für Diskurse und Narrative darstellen, ist die Analyse von Medienbeiträgen gleichzeitig eine Analyse von Bedeutungszuschreibungen und Machtpositionen. Der analytische Mehrwert von Medienbei10 Der Zugang zu und der Gebrauch von Medien in Kap Verde hängt von sozialen und ökonomischen Bedingungen ab (Achinger 1998). Zu Beginn meiner Forschung verfügten nur sehr wenige Personen über einen regelmäßigen Internetzugang, wohingegen die Mehrheit der Menschen einen Fernseher besaß.
52 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN trägen war besonders für das Untersuchungsfeld des Sandabbaus von Bedeutung, da hier Regierungsvertreterinnen und Naturschützerinnen den Sandabbau vordergründig als ein Problem der armen Bevölkerung darstellten und so die Beteiligung der kapverdischen Regierung an dem Geschäft mit dem Sand in den Hintergrund rückten. Der Mehrwert unterschiedlicher Datentypen Während Beobachtungsprotokolle, Tagebucheinträge oder Audioaufzeichnungen bereits komplex sind und auf verschiedenen Ebenen analysiert werden können, enthalten visuelle Materialien immer eine Kombination von (bewegtem) Bild und Sprache, die ihrerseits wieder in Ebenen aufgegliedert werden können. Unterschiedliche Daten beinhalten unterschiedliche Semiotiken und produzieren unterschiedliche Bedeutungen und Erkenntnisse (Dicks, Soyinka und Coffey 2006). Videos oder Beobachtungsprotokolle zu denselben sozialen Ereignissen oder Phänomenen liefern jeweils eigene Erkenntnisse und Bedeutungen. Für mich liegt der Mehrwert verschiedener Datentypen darin, dass sie Interpretationsausschnitte erweitern und die Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit sozialer Situationen verdeutlichen und ergänzen (Axinn und Pearce 2006). Die gesellschaftliche Debatte um Sandabbau ist von solchen Widersprüchen durchzogen. In diesem Fall wird deutlich, welche unterschiedlichen Darstellungen des Sandabbaus in den Medien und in Gesprächen mit verschiedenen Personen existieren. Solch ein Datenmix liefert Erkenntnisse darüber, wer welche Aspekte des Sandabbaus vordergründig platziert, und welche Aspekte eher im Hintergrund bleiben, und was diese Auswahl aussagt. Die Verwendung unterschiedlicher Datentypen dient daher nicht dazu, möglichst vollständige, sondern möglichst vielseitige Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand zu generieren, mit dem sich Paradoxa und Brüche erklären lassen.
2.3 R EFLEXION DER F ORSCHERROLLE Feldforschung in Kap Verde bedeutet auch, soziale, geschlechtliche und ökonomische Ungleichheiten dieser Gesellschaft (Massart 2000; Carter und Aulette 2009a; Challinor 2012b) zu berücksichtigen. Als postkolonialer räumlicher und sozialer Kontext, der von Machtbeziehungen durchzogen ist (Gupta und Ferguson 1997a: 35) sind diese Ungleichheiten in Kap Verde eng verknüpft mit Kolonialisierungserfahrungen und mit der Bedrohung und den Verheißungen des Tourismus. Die Interaktionen zwischen der Ethnographin und ihren Gesprächs-
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partnerinnen sind ebenfalls in diesen Machtbeziehungen eingebettet. Als Teil des Feldes ist die Forscherin eine Projektionsfläche für die Identifikation und Abgrenzung der Gesprächspartnerinnen (Hockey 2002; Forsey 2010). Die Ethnographin definiert aufgrund ihrer Forscherposition den Untersuchungsgegenstand und die Perspektive auf die Gesprächspartnerinnen, was in postkolonialen Kontexten wie in Kap Verde auch immer eine Reproduktion von Machtbeziehungen als Resultat des kolonialen Erbes der Ethnologie beinhaltet (Asad 1973). Die Machtposition der Forscherin verschränkt sich wiederum mit bestehenden Machtverhältnissen des Feldes, die in Kap Verde vor allem mit den sozioökonomischen Unterschieden zwischen Inselbewohnerinnen und aus dem Ausland zurückgekehrten Kapverdierinnen zusammenhängen und sich am Grad formaler Bildung und Mobilität orientieren (Batalha 2004; Challinor 2008b; Drotbohm 2011a). In einem Spannungsfeld von verschiedenen Wertvorstellungen befand ich mich auch, da ich untersuchte, wie Menschen ›illegalen‹ Praktiken nachgingen oder über sie sprachen. Diese Herausforderungen möchte ich anhand meiner verschiedenen Mitgliedschaften im Feld diskutieren. Mitgliedschaft im Feld ist ein essentieller Bestandteil der Ethnographie und wird oft als Schlüssel für den Zugang zu praktischem Wissen und zu einer emischen Perspektive verstanden (Ten Have 2004). Der Weg vom Novizen zum kompetenten Mitglied (Lofland 1979) des Feldes offenbart soziokulturelle Praktiken und Regeln aus einer emischen Perspektive, legt implizite Strukturen offen und sagt etwas darüber aus, wie die soziale Ordnung rekonstruiert wird (Goffman 1964). Die Analyse des Mitglied-Werdens ist aber auch eine Reflexion darüber, wie die Forschungspartnerinnen die Forscherin wahrnehmen und welche Annahmen sie mit ihr verbinden. Rollenangebote und Rollenübernahmen
Mitgliedschaften entwickelten sich über meinen sozialen Status als Forscherin, als Frau, als Akademikerin und bránka (Weiße), als Touristin und Freundin, und gestalteten sich entlang sozialer und ökonomischer Unterschiede zwischen mir und meinen Gesprächspartnerinnen. Während ich mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen interagierte, wurden mir ganz unterschiedliche Rollen zugewiesen, deren Verschränkungen es zu bewältigen galt. Welche Rolle meine Gesprächspartnerinnen mir zuschrieben, hing unter anderem davon ab, ob und inwieweit meine Präsenz ihnen eine Projektionsfläche für die Artikulation eigener Bedürfnisse bot. Für Fischer oder rabidantes war ich oftmals eine Studentin oder Freundin aus Deutschland, die sich für ihren Lebensalltag interessierte. Zu ihnen baute ich ein partnerschaftliches Verhältnis auf. Diese vertraulichen und
54 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN freundschaftlichen Beziehungen zu Helder, dem Fischer, (Kapitel 5), Dani, dem Taxifahrer (Kapitel 4), oder Arlinda, der rabidante (Kapitel 6), waren jedoch nicht frei von Irritationen. Ich geriet immer wieder in Situationen, in denen mir die Grenzen dieser partnerschaftlichen Verhältnisse in der Feldforschung bewusstwurden. Als stranjera zählte ich zu einer Kategorie, die meine Gesprächspartnerinnen (im Gegensatz zu den Expertinnen) mit einer sozioökonomisch höhergestellten Position verbanden. Diese Erfahrung machte ich zum Beispiel mit Arlinda. Nachdem ich sie mehrmals zu Hause besucht hatte, fragte sie mich, ob ich bei ihr einziehen wolle. Auch Fragen, wann ich sie nach Deutschland einlade, und ob ich ihr Geld schicken würde, damit sie das Haus fertig bauen kann, in dem ich dann wohnen könne, häuften sich, je länger wir uns kannten. Obwohl ich vor der Feldforschung über solche Situationen reflektiert hatte, irritierte mich Arlindas Frage nach finanzieller Unterstützung zunächst, da ich annahm, dass ich sie als Freundin gewonnen hatte. Um mit diesen Irritationen umzugehen, versuchte ich nicht, solche Fragen zu ignorieren, sondern zu erfahren, welche Vorstellung von Freundschaft ihren Nachfragen zugrunde lag, und diese Zuschreibung ernst zu nehmen und zu verstehen. Dagegen nahmen mich ›Expertinnen‹ vornehmlich als Akademikerin und Forscherin wahr, was mir den schnellen Zugang zu relevanten Netzwerken und Informationen sicherte. Doch auch in solchen Beziehungen wurde ich Teil der Abgrenzungsdynamik meiner Gesprächspartnerinnen. Solche Dynamiken äußerten sich beispielsweise in meinen Begegnungen mit Toni, mit dem ich meist Englisch sprach, und mit dem ich über seine und meine Erfahrungen mit der Anfertigung einer Doktorarbeit diskutierte. Auch indem wir uns über alltägliche Schwierigkeiten. zum Beispiel bei der Informationsgewinnung oder über geplatzte Verabredungen in unserem Alltag austauschten, wurde ich Teil seiner eigenen Abgrenzung als merkanu gegenüber den Insulanerinnen. Gerade, da ich mit zahlreichen Personen in Kap Verde ins Gespräch kam und in ihren Lebensalltag involviert war, fand ich mich in oft sehr unterschiedlichen sozialen Milieus wieder. Meine Kontakte zu den ›Expertinnen‹, zu Schildkrötenfängern oder zu Personen, die Sand abbauten, löste hin und wieder Irritationen bei anderen Gesprächspartnerinnen aus. Besonders auf Boa Vista war meine Involviertheit mit den beiden NROs und mit denjenigen, die Schildkröten fingen und aßen, problematisch, da ich dort in die Konfliktlinien zwischen den beiden NROs, zwischen den NROs und Teilen der Bevölkerung oder zwischen den NROs und der câmara11 (Gemeindeverwaltung) geriet. Irritationen meiner Ge-
11 Câmara ist die Abkürzung von câmara municipal und steht für die Gemeindeverwaltungen auf den Inseln.
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sprächspartnerinnen begegnete ich dadurch, dass ich mein Engagement in den verschiedenen Kontexten gegenüber allen Beteiligten transparent hielt. Zugänge und Interaktionen mit dem Feld sind nicht von vornherein gegeben, sondern müssen hergestellt werden. Das Feld und die Bereitschaft der Forschungspartnerinnen zu Gesprächen beeinflussten, bis zu welchem Grad ich Zugang zu bestimmten Personen, Wissensbeständen oder Situationen erhielt. Doch der Zugang zu meinen Feldern hing nicht nur von meiner Beziehung zu den Gesprächspartnerinnen ab, sondern auch von den inneren Dynamiken dieser Felder. Die Öffnung und Schließung von Forschungsfeldern war besonders auffällig, wenn ich ›illegale‹ Praktiken wie Sandabbau oder Schildkrötenfang untersuchte. Beide Felder waren mir teils verschlossen und teils offen zugänglich. Ich konnte beispielsweise nicht mit den Transportfahrern, die Sand kauften und verkauften, in Kontakt treten, und ebenso blieben mir Bereiche wie der Schildkrötenkonsum verschlossen. Andererseits konnte ich unter Zustimmung meiner Gesprächspartnerinnen den Fang und Verkauf von Schildkröten oder den Abbau von Sand beobachten. Da die Legalität und Illegalität von Schildkrötenfang oder Sandabbau nicht nur formal festgelegt, sondern auch sozial konstruiert werden (siehe Kapitel 7), gestalteten meine Gesprächspartnerinnen selbst diese Felder als mehr oder weniger zugänglich. Hier verschränkten sich legale Strukturen und soziale Konstruktionen, die dazu führten, dass mir Felder trotz enger Beziehungen verschlossen blieben, und andere, zu denen ich weniger intensive Kontakte hatte, zugänglich waren. Die Reflexion darüber, dass die ›Illegalität‹ oder ›Legalität‹ dieser Praktiken keine Zustände sind, sondern soziale Prozesse darstellen (Heyman 2013), half mir darüber hinaus dabei, mit forschungsethischen Fragen umzugehen. Wenn ich am Schildkrötenfang mit Fischern, an Schildkrötenexkursionen, die Taxifahrer durchführten, oder am Sandabbau mit Frauen teilnehmend anwesend war, ließ ich mich weniger von meinen Haltungen gegenüber diesen Praktiken leiten. Eher stellte ich die moralischen Positionen meiner Gesprächspartnerinnen in den Vordergrund meines Forschungsprozesses, ohne diese zu werten. Vorteile eines langen Feldaufenthaltes und der multi-sitedness Meine Mitgliedschaften im Feld waren auch von den zeitlichen Dimensionen meiner Forschung beeinflusst. Mein langer Feldaufenthalt trug dazu bei, dass meine Gesprächspartnerinnen meine Anwesenheit zunehmend akzeptierten und mich in ›intimere‹ Situationen, wie zur Taufe eines Kindes einluden. Je öfter ich meinen Gesprächspartnerinnen auch außerhalb unserer Verabredungen im Alltag begegnete, sei es in der Kirche, bei der Post oder in den lojas chinês, desto mehr verlor ich den Status einer stranjera oder einer Touristin, deren Rollen oftmals
56 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN denen der Ethnographin ähneln (Crang 2011). Auch meine Entscheidung, Feierlichkeiten wie Ostern, Weihnachten und Neujahr in Kap Verde zu verbringen, legten mir meine Gesprächspartnerinnen als etwas Positives und als eine Bestätigung meines Forschungsinteresses aus. Ebenso empfand ich die Wiedersehen nach meinem sechswöchigen Aufenthalt in Bielefeld als intensiver und unvermittelter, als ob meine Rückkehr den Eindruck der Ernsthaftigkeit meiner Forschung vermittelte. Dieser Wahrnehmung liegt nicht zuletzt die Tatsache zugrunde, dass viele stranjerus die Inseln für eine kurze Zeit (als Touristinnen oder als Arbeiterinnen) besuchen, und ihr ›Versprechen‹ wieder zurückzukehren nicht einhalten. Auch brachte der Wechsel meines Wohnortes von Santiago nach Boa Vista neue Rollenangebote mit sich, bei dem auch meine Kreol-Kenntnisse relevant wurden. Auf beiden Inseln markierte das Kreol im Gegensatz zu Portugiesisch das Symbol der kapverdischen Identität (Carter und Aulette 2009b; Challinor 2012b), als Widerstand gegen die Kolonialherrschaft einerseits, aber auch als Unterschied zwischen sozialen Klassen und als Sprache der ärmeren Bevölkerung andererseits (Batalha 2004). Die Beherrschung der lokalen Sprachen war nicht nur für mich ein Instrument, um Machtverhältnisse abzuschwächen, lokales Wissen zu präsentieren und Zugehörigkeiten zu markieren. Die unterschiedlichen Varianten des Kreols, Portugiesisch oder Englisch spielten ebenfalls für Abgrenzungsdynamiken, zwischen badíus und sanpadjudus oder Kapverdierinnen und stranjerus und Touristinnen eine Rolle. Die Tatsache, dass ich in Praia gelebt hatte und dort mein Kreol gelernt hatte, legten mir meine Gesprächspartnerinnen auf Boa Vista als Kompetenz und als Wissen über das ›richtige‹ Leben in Kap Verde aus. Auf Boa Vista, wo sanpadjudu gesprochen wird, erlangte ich so einen schnellen Zugang zu Personen von Santiago. Viel stärker als in Praia war ich auf Boa Vista Teil verschiedener sich überschneidender Zugehörigkeitskontexte, die sanpadjudus, badíus, kábuverdianus, Touristinnen, Expats, NROMitarbeiterinnen oder italianos (Italienerinnen) konstruierten. Die Reflexion meiner Rollen im Feld verwendete ich nicht nur, um mit den bestehenden Machtverhältnissen und Abgrenzungsdynamiken zwischen der Ethnographin und den Forschungspartnerinnen umzugehen, sondern auch als eine weitere Datenquelle. Die reflexive Selbstbeobachtung und Dokumentation der teilnehmenden Mitgliedschaften half mir, Schlüsselsituationen und die Aushandlung von Feldzugang und sozialer Positionierung einzuordnen. Diese Reflexion über meine Mitgliedschaften im Feld und der Wechsel zwischen verschiedenen Rollen führte dazu, mich nicht mit meinen Gesprächspartnerinnen zu überidentifizieren und das going native (Girtler 2001) zu vermeiden. Auch der Analyseworkshop im Rahmen der Nachwuchsforschergruppe KlimaWelten und die ge-
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meinsame Arbeit an einer Gruppen-Ethnographie wirkten dem going native und dem Sympathisieren mit einer bestimmten Perspektive entgegen. »How (not) to take sides« »The time has come for ethnographies to be more complicated – they need not stick to one side or one cause.« (Kopnina und Shoreman-Quimet 2011: 20)
Ethnologische Untersuchungen zu Naturschutz waren lange davon geleitet, sich für die unterprivilegierte ›lokale Bevölkerung‹ einzusetzen (Orlove und Brush 1996; Redford 1991; Kopnina 2012) und deren ›traditionelle Lebensweise‹ gegenüber westlichen Eingriffen durch Naturschützerinnen zu verteidigen (Kopnina und Shoreman-Quimet 2011). Nach Auffassung einiger Autorinnen tappen diejenigen, die ›traditionelle Lebensweise‹ einerseits und ›westlichen Naturschutz‹ andererseits kontrastieren, in die Falle, zwei eurozentrische Annahmen gegenüberzustellen (vgl. Kopnina 2012). Die geäußerte Kritik verkommt so zu einer Ironie. Es ist nicht mein Anliegen, mich in dieser Arbeit für die Interessen marginalisierter Gruppen einzusetzen, die Praktiken der lokalen Bevölkerung den Naturschutzstrategien gegenüberzustellen oder den Erfolg von Naturschutzprogrammen zu messen. Ebenso liegt es mir fern, Naturschutzvertreterinnen und deren Praktiken als negativ darzustellen und zu bewerten. Die Herausforderung war für mich, lokalen Praktiken wie Sandabbau und Schildkrötenkonsum nicht mit einem kulturrelativistischen Verständnis zu begegnen, und mich ihnen gleichzeitig auf eine Weise zu nähern, die meine Gesprächspartnerinnen nicht als Umweltzerstörerinnen darstellt.
2.4 M ETHODEN DER D ATENANALYSE TEXTLICHE R EPRÄSENTATION
UND
Grounded theory nach Anselm Strauss Für die Analyse meiner Daten habe ich mich für die »grounded theory» nach Anselm Strauss (1987) entschieden, da dieses Analyseverfahren sich besonders gut eignet, um Semantiken, Positionen und Deutungsangebote herauszuarbeiten und unterschiedliches Datenmaterial zueinander in Beziehung zu setzen. Ein zentraler Bestandteil der grounded theory ist die parallele Erhebung und Auswertung von empirischem Material (theoretical sampling), sodass erste Analyseschritte die weitere Auswahl von interessanten Gesprächspartnerinnen und zu
58 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN beobachtenden Situationen leiten. Wie im Abschnitt 2.1 beschrieben habe ich meinen Forschungsgegenstand und meine Forschungsfrage immer wieder anhand erster Erkenntnisse aus dem Feld neu zugeschnitten und angeglichen. Als ich Mai 2012 nach Bielefeld zurückkehrte, analysierte ich mein Datenmaterial in kleinteiligereren Schritten. Die grounded theory-Methodologie produziert kontextgebundene Generalisierungen (Mjøset 2005: 6), mit der lokale Perspektiven auf soziale Phänomene in ihren Makrozusammenhängen interpretiert werden können. Die grounded theory-Methodologie ist nicht nur gegenstandsbezogen, wie der Terminus grounded annehmen lässt, sondern geht davon aus, dass die Konzepte im Material »gefangen« sind (Hildebrand 2004: 178). Die Aufgabe der Forscherin ist es demnach, die Konzepte und Strukturen im Material zu entdecken (ebd.: 186), um dann »sozialwissenschaftliche Theorien auf rekonstruktionslogischer Grundlage» (ebd.: 186) zu entwickeln. Datenaufbereitung und analytisches Vorgehen Ich begann, mein Datenmaterial, das aus mehreren Feldtagebüchern, zahlreichen Audio- und Videoaufnahmen, Fotos und Dokumenten bestand, zu sortieren und auszuwerten. Nach einer ersten Transkriptionsphase zirkulierte ich gemäß den Verfahrensprinzipen der grounded theory-Methodologie zwischen der Datenanalyse und der Rückbindung erster Erkenntnisse an theoretische Konzepte. Dabei beobachtete ich beispielsweise immer wieder, wie sich meine Gesprächspartnerinnen verbal und performativ als Kapverdierinnen, als Boavistenserinnen, als Taxifahrer oder als Schildkrötenkonsumentinnen gegenüber stranjerus, Politikerinnen oder Naturschützerinnen positionieren, woraufhin ich auf die Literatur zu Zugehörigkeit zurückgriff, um diese relationalen Positionierungen auszuarbeiten. Zudem achtete ich auf Semantiken von zentralen Begriffen wie crime (Verbrechen), tradição (Tradition), desenvolvimento (Entwicklung) oder conservação (Naturschutz), sowie auf deren inhaltliche Füllungen, in denen sich unterschiedliche Perspektiven verdichten. Ich kodierte Teile meines transkribierten Materials, modifizierte die Kodes nach mehreren Analyserunden, verband sie miteinander oder kontrastierte sie, woraus wieder neue Kodes und Kategorien entstanden. Parallel dazu begann ich, Memos zu einzelnen Kodes und Kategorien zu schreiben, die ich als Grundlage für die ersten Textfragmente verwendete. Um einen Überblick über den Datenkorpus zu behalten, verwendete ich anfangs die Analysesoftware Nvivo. Über die hermeneutische Zirkulation (Wernet 2000) von Datenerhebung, Datenaufbereitung, Datenanalyse und Rückbindung an geeignete Konzepte und Theorieansätze gelang es mir, die Involviertheit von Menschen mit dem Naturschutz methodisch zu erschließen und auszuarbeiten. Je tie-
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fer und je länger ich mit der Analyse der Daten beschäftigt war, Textfragmente schrieb und sie mit anderen Textfragmenten abglich und die relevanten theoretischen Konzepte einarbeitete und reflektierte, desto mehr formierten sich die inhaltlichen und theoretischen Schwerpunkte meiner Arbeit. So wie der Leserin die Arbeit jetzt vorliegt, ist sie das Ergebnis eines reflexiven Prozesses von Feldforschung, Analyse- und Interpretationsverfahren. Da in meine Arbeit subjektive Interpretationen eingeflossen sind, war es mir besonders wichtig, meinen Forschungsprozess transparent und intersubjektiv nachvollziehbar darzustellen. Bei der textlichen Repräsentation der Akteure und deren Perspektiven und Handlungen, habe ich auf eine ausbalancierte Darstellung Wert gelegt, die Dichotomien vermeidet. Diese Komplexität zu Papier zu bringen erforderte zwei Schreibpraxen: von Generalisierungen Abstand zu nehmen und es zu vermeiden, Machtverhältnisse zwischen Forscherin und Gesprächspartnerinnen (Asad 1993) zu reproduzieren. Aus diesem Grund sind die ›Stimmen‹ aus dem Feld in den Text eingeflossen, die ich in den Erfahrungshorizont der Leserinnen übersetze. Diese Überlegungen betreffen im Kern Fragen der Repräsentation und der ethnographischen Autorität. Die von Clifford und Marcus angestoßene Debatte um die »Writing Culture« (Clifford und Marcus 1986) machte deutlich, dass Monographien mit der Frage nach der »inneren Rhetorik und damit zugleich nach der Glaubwürdigkeit ethnographischer Texte« (Kohl 1993: 408) konfrontiert sind. Die ethnographische Darstellung ist eine »Übersetzungsleistung« (Asad 1993) und impliziert einen Vergleich zwischen der eigenen und der fremden Kultur (Kohl 1993: 418). Um das Fremde weniger fremd wirken zu lassen, und dabei die Dichotomien von ›wir‹ und ›sie‹ und ›global‹ und ›lokal‹ zu überwinden, habe ich versucht, ein komplexeres Bild zu zeichnen, das Inkonsistenzen und Brüche miteinschließt. Ebenso war es mir wichtig, zwischen beobachteten Interaktionen und den Rhetoriken der Gesprächspartnerinnen zu unterscheiden. Die Balance einer Außenansicht und einer Innenschau, sowie der Wechsel von Nähe und Distanz meiner Person zum Untersuchungsfeld, sollen diese Arbeit kennzeichnen, ohne dass ich auf meine eigenen Erfahrungen eingehe.
2.5 Z USAMMENFASSUNG Für meine Arbeit habe ich mich für die Methode der multi-sited ethnography entschieden und deshalb verschiedene Felder an unterschiedlichen geographischen Orten untersucht, an denen Menschen verschiedene Erfahrungen machen. Damit zusammenhängend berücksichtige ich in meiner Untersuchung mehrere
60 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN Perspektiven. Dabei macht die räumliche und konzeptuelle Erweiterung des Feldes nur Sinn, wenn diese multi-sitedness den Erkenntnisgewinn anreichert. Um unterschiedliche Aspekte meines Forschungsgegenstandes zu erfassen, habe ich auf die teilnehmende Beobachtung, ethnographische Gespräche und die Videoethnographie zurückgegriffen. Somit konnte ich verschiedene Datentypen produzieren, die sich ergänzen und den Untersuchungsgegenstand analytisch komplexer machen. Über die Reflexionen meiner verschiedenen Rollen im Feld, gelang es mir Machtverhältnisse des Feldes abzuschwächen und gleichzeitig meine Mitgliedschaften gegenüber allen meinen Gesprächspartnerinnen transparent zu machen. Die grounded theory eignete sich dafür, veschiedene Datentypen miteinander in Beziehung zu setzen und auszuwerten. Um die Gesprächspartnerinnen zu Wort kommen zu lassen und deren Interpretation den Leserinnen zugänglich zu machen, habe ich diese in den Erfahrungshorizont der Leserinnen übersetzt.
3. Kapverdische Umwelten
Cabo Verde, grünes Kap, suggeriert einen Ort mit dichter Vegetation und ausreichenden Wasservorkommen. Doch die zehn vulkanischen Inseln, die im atlantischen Ozean südlich der kanarischen Inseln und 450 km vor der Westküste Senegals liegen, sind überwiegend trocken und karg. Regen fällt nur unregelmäßig oder bleibt einige Jahre ganz aus. Eine verbreitete Annahme über die Namensherkunft ist, dass die Seefahrer die einst unbewohnten Inseln in einem grünen Zustand vorfanden, deren Vegetation im Laufe der Zeit zurückging.1 »Kap Verde« ist jedoch kein Hinweis auf damaligen grünen Bewuchs. Portugiesische Seefahrer erreichten den Senegal etwa zwanzig Jahre vor der offiziellen ›Entdeckung‹ der Inseln (um 1460), von wo aus sie den Archipel sichteten. Bei der Namensgebung bezogen sie sich auf den Standort ihrer eigenen Position, die senegalesische Halbinsel Cap Vert, die auf demselben Breitengrad wie die Inseln liegt (Lobban 1995: 4). Seit jeher nahmen Außenstehende eine Ortsbestimmung der kapverdischen Inseln vor und ließen dabei ihre Interessen in diese Ortsbestimmung einfließen. Kap Verde wurde in den Phasen der europäischen Expansion, der Kolonialisierung unter der portugiesischen Herrschaft, im Zuge der DeKolonialisierung und nach der politischen Unabhängigkeit 1974 unterschiedlich konstruiert. Hieraus entwickelte sich ein »sense of location« (ebd.), der bis heute das Selbstverständnis der kapverdischen Gesellschaft beeinflusst. Diese Ortsbestimmung von außen ist das Thema dieses Kapitels und dient zur Einführung in die Region Kap Verde. Insbesondere gehe ich darauf ein, welche Rolle dabei die geographische Position sowie die ökologischen Gegebenhei-
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Ein solcher Kontrast zwischen dem Ortsnamen und der materiellen Umwelt liegt auch bei der Insel Grönland, grünes Land, vor. Zwar war zur Zeit der Besiedelung 985 v. Chr. auf der Insel sogar Getreidebau möglich, doch die Bezeichnung Grönland kann auch eine strategische Benennung der Wikinger gewesen sein, um die Inseln für weitere Siedlerinnen attraktiv zu machen (Behringer 2007: 133f.).
62 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN ten des Archipels für diese Ortsbestimmungen spielten. Die Ethnologin Marianne Lien diskutiert die Ortsbestimmung von außen am Beispiel von Umweltschutzprojekten in Tasmanien (Lien 2007). Sie zeigt, dass sich die geographische Entlegenheit (remoteness) der Insel, die die Imagination über Tasmanien bereits während der Kolonialzeit geprägt hat, in den Repräsentationen der Insel historisch und räumlich fortsetzte.2 Lien definiert remoteness als »perception of space in which places are ranked hierarchically according to their relative importance or spatial proximity to geopolitical centres« (Lien 2007: 105). Remoteness ist nicht an die geographische Position eines Ortes gebunden, sondern geht über sie hinaus und reflektiert die Beziehung zwischen dem »Zentrum« und der »Peripherie« (Bachmann-Medick 2006: 297). Remoteness wird so zu einem Bestandteil eurozentrischer Narrative und Vorstellungen über andere Gesellschaften. Menschen versehen nicht nur ihre biophysische Umwelt mit unterschiedlichen Labels wie »Archipel«, »Siedlung« oder »Küste« (Frake 2008: 438), sondern machen sie durch Benennungen auch zu Orten (ebd.: 439). Die Gestaltung von und die Bedeutungszuschreibungen zu Orten entstehen dabei in Relation zu anderen Orten und geographischen beziehungsweise raumbezogenen Vorstellungen und Zugehörigkeiten. In Anlehnung an Lefebvre (1990) verstehe ich Raum als einen relationalen Begriff. Raum ist zum einen durch die soziale Praxis sozial konstituiert, und zum anderen können sozialen Beziehungen nur im Raum hergestellt werden. Für die Unterscheidung von Raum und Ort beziehe ich mich auf (Frake 2008), demzufolge Orte sich aus Räumen entwickeln, indem sie benannt werden. Besonders die ethnologischen Forschungen zu ›Landschaft‹ gehen auf die Verbindung zwischen der biophysischen Umwelt, Identität und Erinnerung ein (vgl. Ingold 1993; Bollig 2009; Rössler 2009). Orte beinhalten kulturelle Symboliken (vgl. Frömming 2009; Sarmento 2009) und verweisen auf die soziale Verfasstheit und auf die Identitätskonstruktionen einer Gesellschaft (vgl. Weichhart 1990; Feld und Basso 1996; Lien 2007). Orte stehen miteinander in Beziehung und sind Produkte historischer und gegenwärtiger sozialer, politischer und wirtschaftlicher Prozesse (Ingold 1993: 155). In ihnen manifestieren sich kollektive Assoziationen und Erinnerungen an die biophysischen Veränderungen der Umwelt, an denen Menschen materiell und diskursiv beteiligt sind (Ingold 1996; Bollig 2009). Orte sind daher keine neutralen Entitäten, sondern stellen Projektionsflächen früherer und gegenwärtiger politischer und wirtschaftlicher Strukturen dar und geben Aufschluss über vorherrschende Machtkonstellationen (Esco2
In Liens Analyse spielt neben remoteness auch Mobilität eine Rolle für die Konstruktion von Tasmanien (Lien 2007).
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bar 1999; Bollig 2009). Dies gilt in besonderer Weise für postkoloniale Umwelten. Das vorherrschende Bild dieser Orte ist bis heute stark davon geprägt, wie Menschen aus den damaligen geopolitischen Zentren ihre eigene Gesellschaft wahrnahmen und Eigenes auf die Kolonien projizierten (Gupta und Ferguson 1997a). Inseln waren besonders stark von den relativen Bedeutungszuschreibungen betroffen. »Being geographically defined and circular, an island is easier to hold, to own, to manage or to manipulate, to embrace and to caress« (Baldacchino 2005: 247). Inseln suggerieren eine physisch abgeschlossene Einheit und führen zu einer »totalisierenden« Vorstellung von Raum (Williams 2012: 215). Sie waren die ersten Territorien, die von den Europäerinnen kolonialisiert wurden (Baldacchino und Royle 2010) und verkörperten im Zuge der im 15. Jahrhunderts beginnenden Suche nach »Eden« das Paradies (Grove 1995: 5).3 Der Topos des Paradieses lebt auch in heutigen touristischen Vorstellungen und Klischees von Sand, Meer, Sonne und Palmen wieder auf (Gössling 2002; Carrigan 2010; Hall und Tucker 2014). Als imaginiertes Paradies verkörpern Inseln darüber hinaus homogene Einheiten. Kulturelle, historische und ökologische Unterschiede innerhalb eines Archipels und von Insel zu Insel verschwinden beziehungsweise verringern sich oftmals unter dem Eindruck von Merkmalen wie räumlicher Begrenztheit, Isoliertheit und Insularität (vgl. Sheller 2003). Dieselben totalisierenden Merkmale lassen Inseln auch als Hotspot der biologischen Vielfalt oder ausgeglichene Ökosysteme erscheinen (Stratford et al. 2011). Unter der relativen Perspektive der Ortsbestimmung zeige ich, wie sich die Konstruktion ›Kap Verdes‹ im Lauf der Geschichte gewandelt hat und gebe infolgedessen einen Überblick über die Entwicklung der kapverdischen Gesellschaft. Dabei konzentriere ich mich dabei auf die Inseln Santiago und Boa Vista, die die geographischen Kontexte der Arbeit darstellen. Im ersten Teil des Kapitels gehe ich auf die verschiedenen Bedeutungszuschreibungen Kap Verdes seit seiner ›Entdeckung‹ bis zur Gegenwart ein und arbeite heraus, inwieweit die geographischen und ökologischen Merkmale der Inseln zur Konstruktion Kap Verdes und zur Entwicklung der kapverdischen Gesellschaft beitrugen. Im zweiten Teil des Kapitels konkretisiere ich den Kontext der Arbeit: ich führe aus, wie sich die Bedeutungszuschreibungen von ›Land‹, ›Schildkröten‹ und ›Sand‹ im Kontext von Naturschutz und Tourismus gewandelt haben. Damit skizziere ich die Rahmenbedingungen für die nachfolgenden Fallstudien (Kapitel 4, 5 und 6).
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Für Grove (1995) liegt in dieser Zeit der Ursprung des environmentalism.
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3.1 H ISTORISCHE O RTSBESTIMMUNGEN DER KAPVERDISCHEN I NSELN Die Inseln der Glückseligen Die relative Entlegenheit des Archipels veranlasste griechische und römische Schriftsteller dazu, Kap Verde zu jenen unbekannten Inselgruppen im »Westlichen Ozean« (Grove 1995: 21) zu zählen, wo sie das Elysium (Inseln der Seligen) vermuteten. Sie bezeichneten diese Inselgruppe als Hesperiden (Inseln der Glückseligen), 4 die einen mythologischen Ort am äußersten ›Rande der Welt‹ verkörperten. Diese Vorstellung eines idyllischen und mythischen fernen Ortes ging mit der fortschreitenden Degradation5 des griechischen Festlandes und später Roms einher (Grove 1995). Die frühe Bezeichnung der Inseln als Hesperiden schlug sich möglicherweise in der heute gängigeren Bezeichnung Makaronesien6, die vom Glück begünstigten Inseln oder Inseln der Glückseligen (pt.: ilhas fortunatas) nieder, unter denen die Römerinnen die Kanaren, Madeira, die Azoren und Kap Verde fassten (Crosby 1986 zitiert in Lindskog und Delaite 1996: 274). Unter den ersten möglichen Besuchern Kap Verdes können phönizische Seefahrer um 400 oder 500 v. Chr., Mauren um 1100 n. Chr. und Lebou, Wolof und Serer aus dem Senegal gewesen sein (Lobban 1995: 16). Seinen gegenwärtigen Namen Kap Verde erhielt der Archipel noch vor der offiziellen europäischen ›Entdeckung‹ um 1460 und bezieht sich auf seine geographische Position gegenüber der senegalesischen Halbinsel Cap Vert. Das Jahr 1460 gilt als Richtwert, da unklar ist, wer zuerst auf die Inseln traf. Es waren entweder die Genuesen Antonio da Noli im Juli 1455 oder Antonio Usodomare, oder der Venezianer Cadamosto im Mai 1456 (Lobban 1995: 16). Die Portugiesen Diogo Afonso und Diogo Gomes erreichten um 1455 zunächst die Inseln Santiago, Fogo und Maio. Boa Vista, die drittgrößte Insel, wurde von da Noli und Gomes im Jahr 1460 entdeckt. Santiago war mit 991 km² die größte Insel
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Plinius der Ältere berichtete in den Naturalis historia (77 n. Chr. entstanden) von den Hesperiden, dem Wohnsitz der vier oder sieben Hesperiden-Nymphen, die in einem von Drachen bewachten Garten lagen und goldene Äpfel aßen (Davidson 1989: 3).
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Degradation bezeichnet hier den Prozess der Verschlechterung von Böden. Degradation kann natürliche Ursachen haben, aber auch durch falsche Bewirtschaftung des Bodens hervorgerufen werden. Landwirtschaftliche genutzte Flächen können durch
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Degradation unkultivierbar und damit unbrauchbar werden. Aus dem Griechischen makarios gesegnet, glücklich; nesos Insel.
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und verfügte im Gegensatz zu den anderen über die meisten fruchtbaren Täler. Zudem bot die an der Flussmündung gelegene Stadt Ribeira Grande, die heutige Cidade Velha7, einen guten Anlegepunkt, weshalb Santiago kurze Zeit nach der ›Entdeckung‹ zur Hauptinsel des Archipels erklärt wurde. Die Besiedelung des Archipels beginnt mit der Ernennung Antonio da Nolis (1460) und Diogo Afonsos (1462) zu den Kapitänen von Santiago. Ab diesem Zeitpunkt entstanden die feudalen gesellschaftlichen Strukturen in Kap Verde (Lobban 1995: 16), die mit politischen und wirtschaftlichen Privilegien, mit der Vergabe von Adelstiteln sowie mit der Vergabe von Land nach dem portugiesischen System der Landübertragung einhergingen (siehe weiter unten). Obwohl sich die Inseln schon immer in einem wüstenähnlichen Zustand befanden (Spaak 1990 zitiert in Lindskog und Delaite 1996: 275) und von Wasserknappheit und geringen Waldbeständen geprägt waren, zeichneten Seefahrer, Siedlerinnen und Reisende auch nach ihrem Eintreffen ein ›grünes‹ Bild der Inseln, mit viel Waldbestand und ausreichenden Süßwasservorkommen (Crone 1937 zitiert in Lindskog und Delaite 1996: 275). Diese Darstellungen eines grünen und fruchtbaren Kap Verde gehen möglicherweise darauf zurück, dass die Inseln für zukünftige Besiedelung attraktiv erscheinen sollten (Lindskog und Delaite 1996: 275). Für diese ökologisch positiven Konstruktionen Kap Verdes sind vornehmlich zwei Gründe ausschlaggebend: Im 15. Jahrhundert entwickelte sich unter der portugiesischen Kolonialherrschaft der transatlantische Sklavenhandel. Zum einen kam Kap Verde dabei die Funktion einer zentralen Drehscheibe zwischen Westafrika, Europa, Brasilien und Amerika zu. Während der Archipel den Sklavenhändlerinnen als »secure platform« (Batalha 2004: 23) dazu diente, ihre Aktivitäten an der afrikanischen Küste zu kontrollieren, war er für tausende Sklavinnen aus Westafrika8 die Transitstation, bevor sie nach Nordamerika, in die Karibik oder nach Brasilien gebracht wurden. Zum anderen stellte Kap Verde wie Mauritius oder die Azoren Lebensmittel und Öl für die damaligen Seefahrer bereit. Duncan zufolge »übertrieben« Seefahrerinnen und Kartographinnen (Duncan 1972: 2f.) vor allem während des 16. und 17. Jahrhunderts absichtlich bei der Größendarstellung der Inseln, da sie als Anhaltspunkt und Orientierungshilfe bei Ozeanüberquerungen dienten.9Insofern war Darstellung Kap Ver7
Cidade Velha ist die erste von Europäerinnen gegründete Stadt in den Tropen und seit
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Es waren insbesondere Wolof, Serer und Mandika aus Senegambia und Beafadas
2009 UNESCO- Weltkulturerbe. und Brames aus Guinea-Bissau, die nach Kap Verde gebracht wurden (Lobban 1995:25). 9
Auch als die brasilianischen Sklavenhändler im 18. Jahrhundert an Kap Verde interessiert waren, lag Kap Verde ›nur‹ 2400 km von Nordost-Brasilien entfernt (Lobban
66 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN des als Anlaufstelle und Auftankstation politisch motiviert und bildete eher die Interessen der damaligen Kolonialmächte ab, als dass sie materielle Realitäten wiedergab (Lobban 1995: 5). Kurz nach der ›Entdeckung‹ des Archipels errichteten die portugiesischen Kolonialherren ein komplexes Sklavensystem (ebd.: 24)10 zunächst auf Santiago und Fogo und später auf den anderen Inseln. Wie in anderen Kolonien versuchten die Autoritäten in Portugal auch in Kap Verde verschiedene Ordnungsprinzipien (zum Beispiel Landvergabe und Verwaltung) ihrer eigenen Gesellschaft einzuführen (Batalha 2004: 19). Doch aus den portugiesischen, und später anderen europäischen Siedlerinnen, und den afrikanischen Sklavinnen entstand bald eine rurale kreolische Gesellschaft,11 deren Charakteristikum oder »gemeinsamer Denominator« (Eriksen 1998 zitiert in Batalha 2004: 20) um 1700 die crioulidade12 (Kreolität) war. Als Kolonie war Kap Verde für die Portugiesinnen aufgrund des Sklavenhandels wirtschaftlich attraktiv (Batalha 2004: 24). Damit zusammenhängend entstanden auch andere Zweige der kapverdischen Wirtschaft wie der Schiffsbau, die Rumproduktion und die Landwirtschaft (Carreira 1982; Lobban 1995). Die Portugiesinnen versuchten mit dem Sklavenhandel nicht nur die kapverdischen Inseln zu besiedeln, sondern wie auf den Azoren und Madeira eine Plantagenwirtschaft zu errichten. Das instabile Klima, die spärlichen Wasservorkommen und die Topographie der Inseln erschwerten jedoch den Aufbau einer funktionierenden Viehzucht und Landwirtschaft. Lediglich einige neu importierte Mais- und Bohnensorten (Carreira 1977: 28 zitiert in Batalha 2004: 25) gediehen. Aus der gemeinsamen Zubereitung von Mais und Bohnen entstand das cachupa, das traditionelle Gericht Kap Verdes (Langworthy und Finan 1997: 81). Auch Bananen, Papayas, Caju, Mangos, Kokosnüsse, Tomaten, Kartoffeln, Melonen und Kürbisse kamen mit wenig Wasser aus (Lobban 1995: 125). Die Kul1995: 4f). Hierbei handelt es sich um eine eurozentrische Positionierung, um Orte aufgrund ihrer politischen Bedeutung kleiner, größer, näher oder entfernter zu kartographieren. 10 Obwohl der Sklavenhandel schon zuvor existierte, erreichte er in dieser Zeit ein exzeptionelles Ausmaß (Lobban 1995: 24). 11 Die Besiedelungspolitik der Portugiesinnen ging so weit ›weiße Frauen‹ nach Kap Verde zu schicken, da die Verwaltung in Portugal befürchtete, dass die kontinuierliche Verheiratung von Portugiesen und afrikanischen Sklavinnen zu einer zu großen Anzahl von ›Mulatten‹ führen würde (Batalha 2004: 20). 12 Beim Begriff Kreolität beziehe ich mich auf Vale de Almeida (2007), der in Kreolität ein Synonym für »kapverdisch« (ebd.: 31) und den »definer of national cultural specifity« (ebd.: 34) sieht.
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tivation dieser Pflanzen trug dazu bei, dass sich die Menschen trotz der schwierigen Bedingungen zu Beginn der Besiedelung durch eigene Landwirtschaft selbst versorgen. In regenarmen Jahren brach die Versorgung jedoch immer wieder zusammen. Sotaventos und Barlaventos, Badíus und Sanpadjudus Kap Verde liegt an den Außenrändern der intertropischen Konvergenzzone (ITCZ), in der sich die kalten regenreichen Winde des Südatlantiks mit den warmen heißen Winden der Sahara mischen. Mit der geographischen Lage über oder unter dem nordöstlichen Wind, gehen eine Reihe ökologischer und kultureller Assoziationen über die Inselgruppen einher. Die kapverdischen Inseln werden in die fünf barlaventos (Deutsch: über dem Wind) São Vicente, Sal, Boa Vista, São Nicolão und Santo Antão und die in vier sotaventos (Deutsch: unter dem Wind) Fogo, Brava, Santiago und Maio unterteilt. Die sotaventos sind in der Regel gebirgig und von den regenreicheren Winden begünstigt, während die barlaventos die Gruppe der trockenen und weniger gebirgigen Inseln bilden (Langworthy und Finan 1997; Brooks 2006).13 Die geographisch-klimatische Differenzierung in sotaventos und barlaventos korrespondiert auch mit den zwei sozialen Kategorien badíu und sanpadjudu und bildet sich in den kapverdischen Kreolsprachen der zwei Inselgruppen ab (Batalha 2004: 82). Badíu (Bezeichnung für die Bewohnerinnen der Insel Santiago) leitet sich vom portugiesischen vadio (wandernd) ab. Die portugiesischen Kolonialherren bezeichneten die ins Innere Santiagos geflohenen Sklaven als vadios (Meintel 1984: 66) und assozierte sie mit negativen Eigenschaften. Diese Konnotation hat sich in der heutigen Verwendung des Begriffs fortgesetzt und so ist badíu mit den negativen Aspekten des Kapverdisch-Seins, wie Gewalt und Rücksichtslosigkeit verbunden (Batalha 2004:74). Im Gegensatz dazu sind sanpadjudus (Bewohnerinnen der anderen Inseln, insbesondere von São Vicente) mit Freundlichkeit, Offenheit und Zivilisiertheit assoziiert. Ebenfalls aus dem portugiesischen saõ para ajuda (sie helfen) oder sem pahla (ohne Stroh) abgeleitet, entstand dieser Begriff im Zusammenhang mit der Landwirtschaft. Die sanpadjudus wurden von anderen und bis dahin landwirtschaftlich wenig erschlossenen Inseln für Ernte nach Fogo und Santiago geholt. Auch wenn die Trennung in badíus und sanpadjudus ihren Ursprung in einer geographischen und regiona13 Während die flachen Inseln teils jahrelang ohne Regen auskommen müssen, fallen auf den gebirgigeren Inseln (der höchste Punkt liegt bei 2,831m auf Fogo) jährlich ausreichende Regenmengen. Das Wasser bleibt jedoch meist in den Höhenlagen und versickert durch das vulkanische Gestein.
68 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN len Trennung des Archipels hat, handelt es sich um eine ethnische Differenzierung, über die Kapverdierinnen auf beiden Inselgruppen »Identitätskonstruktionen« (Batalha 2004: 82) vornehmen. Diese Zweiteilung hängt ursprünglich mit einer politischen und wirtschaftlichen Rivalität zwischen den Inseln Santiago und São Vicente zusammen: Santiago galt als das landwirtschaftliche Zentrum des Archipels und São Vicente als ›Träger‹ der kapverdischen Kultur wie der Lyrik oder des Theaters (Batalha 2004). Der kapverdische Schriftsteller und Gründer der Claridade-Bewegung14 Manuel Mendes Lopes sieht hierin eine Zweiteilung der kapverdischen Kultur, in der die badíus als eher afrikanisch und die sanpadjudus als eher europäisch gelten (Mendes Lopes 1936: 9 zitiert in Batalha 2004: 79). Die Tatsache, dass die sanpadju meist hellhäutiger sind und das portugiesische Ideal eher verkörpern, als die dunkelhäutigen badíu, fügt der Kategorisierung zudem eine rassistische Dimension hinzu (Batalha 2004: 118). Die Korrespondenz der dunkelhäutigen badíu und der eher hellhäutigen sanpadju mit einer rassistischen Dimension kritisierten mehrere Ethnologinnen als vorschnelle und fehlerhafte Einordnung (Meintel 1984; Batalha 2004; Challinor 2011). Sanpadju und badíu stellen zwar soziale und kulturelle Zugehörigkeitsmerkmale dar, deren Ausprägung jedoch von lokalen Kontexten abhängt. Die kapverdische Gesellschaft, die 518.468 (INE 2015a: 8) Inselbewohnerinnen und eine doppelt so hohe Anzahl von Kapverdierinnen in den USA, Portugal, Italien und Holland umfasst, schreibt den Kategorien badíu und sanpadju unterschiedliche Bedeutungen zu.15 In den diasporischen Gemeinschaften können diese Kategorien in den Hintergrund treten oder sich gar auflösen und unter der Zugehörigkeit ›Kapverdierin‹ subsumiert werden (Batalha 2004: 116).16 Auch meine Beobachtung auf den Inseln Santiago und Boa Vista bestätigen die von den Autorinnen vorgebrachte Kritik. So wurden auf Boa Vista die badíus mit positiven Aspekten wie der Fähigkeit, hart zu arbeiten, und die sanpadjudus mit Langsamkeit und geringer Motivation in Verbindung gebracht. In Abgrenzung zu den turistas 14 Claridade (Helligkeit) bezeichnet eine Bewegung und ein Literaturmagazin, die kapverdische Intellektuelle und Schriftstellerinnen (darunter Baltasar Lopes, Jorge Barbosa und Manuel Lopes) im Jahr 1936 gründeten. In der Claridade-Bewegung manifestierten sich politischen Forderungen nach Selbstbestimmung (Lobban 1995: 42) und nach der Anerkennung der kreolischen »Identität« (Batalha 2004: 27). 15 Resende-Santos zufolge ist die genaue Größe der kapverdischen Diaspora unbekannt. Statistiken der Weltbank, der Internationalen Organisation für Migration (IOM) oder der UN in den letzten Jahren variieren von 152.411 bis 515.180. Üblicherweise wird die Anzahl der Kapverdierinnen, die im Ausland leben, als doppelt so hoch wie die der Inselbevölkerung geschätzt (Resende-Santos: 2015: 7). 16 Für ein Gegenbeispiel siehe Challinor (2011).
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(Touristinnen) oder den stranjerus positionierten sich sowohl die badíus und als auch die sanpadjus als kábuverdianu. Die Flexibilität der zwei Kategorien findet sich auch in der sozialen Stratifizierung der kapverdischen Gesellschaft wieder. Die soziale Stratifizierung erschließt sich nicht aus einer ethnischen Differenzierung, denn jeder in Kap Verde hat einen »black drop« (ebd.: 20) in seiner Abstammungslinie und die Grenzen zwischen ›Weißen‹, ›Mulatten‹ und ›Schwarzen‹ sind bereits früh verflossen. Vielmehr überlappen sich die Zweiteilung in badíus und sanpadjudus und die mit ihnen verbundenen Assoziationen mit der Stratifizierung der Gesellschaft, die sich entlang der ökonomischen Einbettung und des Merkmals ›Klasse‹ herausbildete (ebd.: 58). Hier verbanden sich lokale Vorstellungen ethnischer Differenzierung mit kolonialer Rassenideologie (ebd.: 70), woraus eine Korrespondenz zwischen sozialen Klassen und Hautfarbe entstand. Besonders die meist hellhäutige Oberschicht der Kapverdierinnen sieht in der sozialen Differenzierung einen Bezug zu Klassen, wobei die Unterschicht die ethnische Differenzierung für soziale Unterschiede verantwortlich macht (ebd.). Diese komplexe soziale Stratifizierung variiert auf den Inseln und ist insbesondere mit der Landvergabe unter den Portugiesinnen während der frühen und späteren Kolonialphasen verflochten (Carreira 1982; Lobban 1995; Batalha 2004). Nicht nur die etymologische Herkunft von badíu und sanpadjudu, sondern auch die soziale Stratifizierung der Gesellschaft in ›Weiße‹, pardos und mestiços17 und ›Sklavinnen‹ (Carreira 1982) zeigt, wie bis heute bestehende Kategorien mit den ökologischen Bedingungen der Inseln und dem Ressourcenmanagement der Portugiesinnen und der Sklaverei zusammenhängen. Seit der ›Entdeckung‹ Kap Verdes 1460 übertrugen die Portugiesinnen Landtitel an reiche Familien oder Bäuerinnen, um weitere Besiedelungen und landwirtschaftliche Kultivierungen anzustoßen. Als die frühen königlichen Handelsunternehmen geschlossen wurden, erfolgte die Landverteilung auf Basis der institutionalisierten capela- (Kapelle) und morgadio- (Großgrundbesitzer) Systeme (Carreira 1982: 5). Das religiös geprägte capela- und das morgadio-System sind zwei Varianten des portugiesischen vínculo-Systems.18 Die Landverteilung nach dem capela verlief ursprünglich entlang religiöser Verpflichtungen für einen Schutzheiligen, denen die Besitzerinnen nachkommen mussten (ebd.). Das capela-System transformierte sich jedoch nach kurzer Zeit in das morgadio, so dass Familien, die Land nach dem capela erhielten, alsbald von dem Einkommen der 17 Pardos (portugiesisch: grau, dunkelgrau) bezeichnet wie mestiços Personen mit ethnisch vermischter Herkunft. 18 Vínculo beschreibt ein über Erbschaft übertragenes Eigentum, das unauflösbar an eine Familie gebunden ist und das weder teilbar noch veräußerlich ist (Carreira 1982: 5).
70 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN auf dem Land angebauten Lebensmittel und anderer Güter profitierten (ebd.). Im morgadio- System wurde Land patrilinear nach dem Primogenitur (Erstgeborenenprinzip) vererbt. Es existierte kein testamentarisches Recht und die Güter des Landes bestimmten das Eigentum einer adligen Familie. Ansonsten wurde die Landvergabe unter der Bedingung des portugiesischen Rechts sesmaria (Brachland) organisiert, das die Landbesitzer verpflichtete, innerhalb von fünf Jahren das Land zu gebrauchen. Trat diese ›Nutzung‹ nicht ein, übertrugen die eingesetzten Autoritäten das Land an jemand anderen (ebd.: 20). Aus diesem System, das Land nach administrativen und zeitweilig nach religiösen Kriterien an Europäerinnen verteilte, etablierte sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts das System der morgadios (Großgrundbesitzer). Die morgadios überließen das tägliche Geschäft auf den Plantagen den feitores (Personen, die die königlichen kommerziellen Interessen vertraten) und entwickelten sich zu einer »Klasse abwesender Landbesitzer« (ebd.: 27). Die Landvergabe variierte zwischen den Inseln Santiago und Fogo einerseits und den barlaventos andererseits und richtete sich nach deren ökologischen Gegebenheiten und ihrer wirtschaftlichen und politischen Bedeutung. Auf Santiago wurde während der Kolonialzeit Land ausschließlich an Europäerinnen vergeben, da ›Schwarze‹ zu dieser Zeit noch nicht über das Recht auf Landbesitz verfügten. Auf den barlaventos konnten die pardos bereits von der Landvergabe profitieren (ebd.: 20). Boa Vista war zu arm und landwirtschaftlich zu unbedeutend und damit für die Kolonialherren uninteressant. Somit konnten hier die mulatos Land leichter erwerben als auf den anderen Inseln. Mit der Zeit stellte sich dieses landwirtschaftliche System als ökonomisch ineffizient heraus und wandelte sich dementsprechend. Im Zuge des Niedergangs des Sklavenhandels (Langworthy und Finan 1997: 57) verringerte sich auch die Verfügbarkeit von billigen Arbeitskräften.19 Viele Landbesitzerinnen gerieten in eine finanzielle Krise und verkauften ihr Land zu niedrigen Preis an reichere Familien oder verpachteten es an landlose Familien, ehemalige Sklavinnen und kriolus (Langworthy und Finan 1997: 58).20 Die parceiro (Naturalpacht) und die rendeiro (Farmpächterinnen) ersetzten die Plantagenwirtschaft (Trajano Filho 2009: 527; Lobban 1995: 41; Batalha 2004:26). Zudem machten wiederkehren19 Die Sklavenarbeit wurde durch contratados (Vertragsarbeiterinnen), brigadas de estradas (Straßenarbeiterinnen) und frentes de trabalho (ungelernte Arbeitskräfte) ersetzt (Batalha 2004:26). 20 kriolus (kr.) war zu diesem Zeitpunkt die Bezeichnung für die Personen, die von europäischer und afrikanischer Herkunft waren. Sie bildeten die Mittelklasse zwischen den Weißen und den Sklavinnen. Heute wird der Begriff für Kapverdierinnen verwendet.
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den Dürren das Land unkultivierbar und unproduktiv, woraufhin vor allem die Menschen, die nur Pächterinnen waren, das Land verließen und unbearbeitet hinterließen (Williams 1998: 39). Diese Entwicklungen führten einerseits zu einer Akkumulation von Land durch die kapverdische Oberschicht, die zudem durch die Unteilbarkeit und Unveräußerlichkeit des morgadio-Systems begünstigt wurde. Andererseits wurde Land an eine Vielzahl an Pächterinnen übergeben. Hieraus entwickelten sich komplexe Besitzverhältnisse unter den Pächterinnen und zwischen den Pächterinnen und den Landbesitzerinnen, die bis in die Gegenwart reichen. Das morgadio-System wurde im Jahr 1864 abgeschafft (Brooks 2006: 108), doch hinterließ ungelöste Konflikte über Besitzverhältnisse, die die kapverdische Regierung auch mit den Landreformen nach der Unabhängigkeit nicht gelöst hat (Trajano Filho 2009: 527). Die klimatischen Verhältnisse trugen zusammen mit dem Ressourcenmanagement der Kolonialherren dazu bei, dass auf den sotaventos die Landwirtschaft und auf den barlaventos Viehhaltung und Fischfang ausgeprägt waren. Auf Santiago wurden die Fischvorkommen lange Zeit nicht ausgeschöpft, und obwohl viele Haushalte davon lebten, zählte Fischfang nie zu den vorherrschenden wirtschaftlichen Aktivitäten (Silva 1991: 225 zitiert in Batalha 2004: 26). Dafür waren mehrere Gründe ausschlaggebend: Da es Sklavinnen nicht erlaubt war Boote zu benutzen, um eine Flucht zu vermeiden, fischten sie lediglich entlang der Küsten und ließen die weiter draußen liegenden Fischbestände unberührt. Die Portugiesinnen vermieden es wiederum, in den gefährlichen Strömungen zu fischen und waren eher mit dem Unterhalt der Plantagen beschäftigt. Zudem fehlten außer Salzen oder Trocknen weitere Möglichkeiten, den Fisch zu konservieren (Brooks 2006: 107). Die wirtschaftlichen Aktivitäten auf Boa Vista basierten hingegen überwiegend auf dem Handel mit Fisch, Meeresschildkröten und Ziegen. Ziegen passten sich von allen Tieren (Hühner, Schweine, Kühe, Pferde und Esel), die die damaligen Siedlerinnen einführten, am besten an die trockenen Inseln an (Langworthy und Finan 1997: 57). Valentim Fernandes berichtet, dass es zu Beginn des 16. Jahrhunderts mehr Ziegen als Menschen auf den Inseln gab (da Costa 1939 zitiert in Lindskog und Delaite 1996: 280). Auf Boa Vista war Ziegenhaltung so stark verbreitet, dass die Boavistenser heute noch als kabrer (Ziegenhalter) bezeichnet werden. Dort standen Ziegen für finanziellen Reichtum und zählten neben den Meeresschildkröten sehr lange zu den einzigen Fleischlieferanten auf den Inseln. 21 Für viele Kapverdierinnen symbolisiert die Anpassungsfähigkeit
21 Fleisch und Häute von Tieren des gesamten Archipels waren ein wichtiges Handelsgut in den Wirtschaftsbeziehungen mit anderen Ländern in Europa und Afrika und insbe-
72 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN der Ziege an die trockenen Inseln gleichzeitig die Anpassungsfähigkeit des Menschen an eine lebensfeindliche Umgebung, da er gelernt habe, wie man sich von Steinen ernähre (Davidson 1989: 5). Verlassener und vergessener Archipel Ernteausfälle, chronische Nahrungsmittelknappheit und Hungersnöte charakterisierten ab dem 16. Jahrhundert das Leben auf den Inseln und machten die Besiedelungspolitik der Portugiesinnen zu einer Herausforderung. Nach den Dürreperioden versuchten sie die Bevölkerungsrate wieder auszugleichen, indem sie vermehrt Sklavinnen ›importierten‹. Doch die zyklischen Dürreperioden und die wiederkehrenden Hungersnöte verhinderten einen kontinuierlichen Bevölkerungszuwachs (Patterson 1988).22 Als sich der Sklavenhandel gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf das benachbarte Guinea zu konzentrieren begann und seine internationale Bedeutung weiter sank, verlor Kap Verde seinen größten Wirtschaftszweig der letzten 300 Jahre. Andere ökonomische Aktivitäten wie der Handel mit Salz und Orcein23, die Landwirtschaft, die Textilverarbeitung, die Vieh- oder Pferdezucht konnten den Niedergang des vormals starken Wirtschaftszweiges Sklavenhandel nicht kompensieren (Batalha 2004: 24). Dieser ökonomische Einschnitt veranlasste die ›Weißen‹ dazu, die Inseln zu verlassen, was zur Folge hatte, dass Kap Verdes Attraktivität für weitere Besiedelung und als Handelspartner sank (Carreira 1982: 13ff.). Die fortschreitende Landdegradation der Inseln verhinderte weitere Investitionen und die Folgen der bisherigen Ressourcenpolitik wurden nun sichtbar: Nachdem für die Herstellung von Schiffen, Möbeln, Hausbau und für Feuerholz große Teile der Waldbestände abgeholzt worden waren, hatte sich die Vegetation verringert und die Erosionsrate der Böden erhöht (Amaral 1964; Lindskog und Delaite 1996). In ähnlicher Weise wirkten sich die extensive Landwirtschaft und Viehhaltung, insbesondere die Haltung von Ziegen aus.24 Die kapverdischen Inseln wurden zu einem Nebenschauplatz der portugiesischen Kolonialpolitik, als sich die Portugiesinnen im Laufe des 19. Jahrhunderts sondere mit dem Kolonialland Portugal (Brooks 1993; Lobban 1995: 127; Pereira 1892 und 1956 zitiert in Lindskog und Delaite 1996: 280). 22 Die ersten Hungersnöte sind für die Jahre 1580 bis 1583 (Patterson 1988: 303) dokumentiert, die letzten erst für die Jahre 1947 bis 1948 (ebd.: 291). 23 Orcein ist ein pflanzlicher Farbstoff, der aus Flechten gewonnen wird und eine rötlichviolette Farbe ergibt. 24 Darwin verweist auf die rücksichtslose Zerstörung der Vegetation auf den Inseln (Darwin 1860 zitiert in Lindskog und Delaite 1996: 276).
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zunehmend auf ihre ressourcenreicheren Kolonien Mosambik und Angola konzentrierten. Die Portugiesinnen trieben die wirtschaftliche Entwicklung nicht weiter voran und gingen auch nicht gegen die Bodendegradation vor. Kap Verdes Entlegenheit und Isoliertheit trugen dazu bei, dass sich weder die Kolonialherren, noch andere dafür interessierten, was mit den Inseln geschah. Die portugiesische Propaganda, die die afrikanischen Kolonien als »glückliches lusotropisches Eden« (Amilcar Cabral 1968 zitiert in Davidson 1981: 1) porträtierte, führte dazu, dass die Aktivitäten der sich entwickelnden nationalen Bewegungen in Kap Verde (siehe weiter unten), Guinea-Bissau oder Mosambik nicht nach außen drangen (Davidson 1989). Von den portugiesischen Kolonien war Kap Verde am stärksten von dieser »Mauer des Schweigens« (Amilcar Cabral 1968 zitiert in Davidson 1981: 1) betroffen. Unter den sich drastisch verschlechternden Lebensbedingungen auf den Inseln kam es bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu andauernden Emigrationswellen (Patterson 1988: 298), die neben der Sklaverei zu einem weiteren Topos der kapverdischen Gesellschaftsgeschichte werden sollten. Obwohl in Kap Verde schon immer eine kontinuierliche Mobilität innerhalb des Archipels und zwischen den Inseln und dem afrikanischen, amerikanischen und europäischen Kontinent herrschte (Carreira 1982; Meintel 1984), gilt das späte 18. Jahrhundert als Ursprung der kapverdischen Mobilitätsstrategie (Drotbohm 2009: 315). Die Menschen migrierten nicht nur wegen des Hungers und den damit verbundenen traumatischen Erlebnissen. Sie flohen auch vor der Rekrutierung für das Militär in Guinea (Carreira 1984: 193f. zitiert in Batalha 2004: 36), wo die portugiesische Administration ab dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend gegen die antikoloniale Opposition vorging (Lobban 1995: 43). Aufgrund der kontinuierlichen Emigrationswellen galt Kap Verde lange Zeit als klassisches Emigrationsland, das die Bewohnerinnen wegen seiner lebensfeindlichen Umwelt verließen. Ziel der Emigration waren zunächst die USA, deren Walfangboote seit 1770 den Archipel regelmäßig aufsuchten und auf denen Kapverdier als Seemänner anheuerten (Schürmann 2013).25 Anschließend folgten mehrere Migrationsströme, die Carreira (1982) in drei Phasen unterteilt: von 1900 bis 1920 in die USA, von 1927 bis 1945 in die USA, den Senegal, Guinea, Brasilien und Argentinien und von 1946 bis 1973 nach Europa (ebd.: 59f.). Diese Emigrationswellen fielen mit den Folgen der Dürreperioden in den Jahren 1903 bis 1904, 1920 bis 1921, 1941 bis 1943 und 1947 bis 1948 zusammen (Patterson 1988). Zusätzlich gingen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zu 25 Die Auswanderungen auf den Walfangbooten trug zu einer kreolischen Terminierung des Begriffs Migration bei, die häufig auch als nbárka ([sich] einschiffen, auswandern) bezeichnet wird.
74 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN 80.000 Kapverdierinnen im Zuge der unfreiwilligen Massenmigration auf die unterhalb Kap Verdes gelegenen Inseln São Tomé und Príncipe. Auch im »Süden« (Lobban 1995: 63), wie es unter den Kapverdierinnen hieß, hatte die portugiesische Kolonialverwaltung eine Plantagenwirtschaft errichtet (Lobban 1995; Brooks 2006: 134), wofür sie Arbeitskräfte rekrutierte. Nachdem die portugiesische Administration die Sklaverei offiziell im Jahr 1869 abschaffte, führte sie das System der Vertragsarbeit ein und setzte die Verfügbarkeit von Arbeitskräften fort. Somit gingen nun statt der Sklavinnen, vor allem die contratados, die Vertragsarbeiterinnen nach São Tomé und Príncipe (Lobban 1995: 63). Mit dieser erzwungenen Emigration sah die Regierung in Kap Verde auch die Möglichkeit, die Folgen der Hungersnöte auf den Rest der Bevölkerung zu reduzieren (Batalha 2004: 39). Als Folge der beschriebenen Migrationsmuster bildeten sich verschiedene charakteristische Merkmale der kapverdischen Gesellschaft heraus. Dazu zählt die historisch gewachsene Stellung von Frauen als Versorgerinnen der Familien, da im Zuge der Emigrationswellen überwiegend Männer emigrierten.26 Frauen kümmerten sich ebenso um die Landwirtschaft, wobei das Land wegen des morgadio-Systems im Besitz der männlichen Familienmitglieder blieb. Eine weitere bedeutende Folge der Emigration ist auch der Einfluss der Remittances, der Geldrücküberweisungen von im Ausland lebenden Kapverdierinnen. Die Remittances der Emigrantinnen halfen der insularen Wirtschaft, ökonomische Einbrüche wie die Weltwirtschaftskrise 1930 oder die Dürren in den 1960er und 1970er Jahren, die den Export von landwirtschaftlichen Produkten, Salz, Fisch und Meerestieren beeinträchtigten, teilweise abzufedern (Carreira 1982: 35; Langworthy und Finan 1997: 60). Eine transnationale Gesellschaft Die Beziehungen zwischen den kapverdischen Gemeinschaften im Ausland und den Inselbewohnerinnen beeinflussen die wirtschaftlichen und politischen Prozesse und definieren das Selbstverständnis der kapverdischen Gesellschaft als transnationale und de-territorialisierte Gesellschaft (Åkesson 2004; Batalha 2004; Góis 2005 und 2010; Drotbohm 2011a und b). Dieses Selbstverständnis entwickelte sich im Zuge der beschriebenen und anhaltenden Mobilitätsmuster (Góis 2010) und aktualisiert sich durch die Vorstellung und Praktiken der Kapverdierinnen auf den Inseln und in der Diaspora. Wie sehr sich diese Vorstellungen und Praktiken mit den jeweiligen geographischen und zeitlichen Bezugs26 In den letzten Jahren stieg die Emigration von Frauen an (Grassi 2007). Seit dem Jahr 2010 sind 59 % der emigrierten Kapverdierinnen Frauen (INE 2015b: 35).
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punkten gegenseitig beeinflussen, zeigt sich vor allem an der Auffassung der kapverdischen Welt als konzeptuellem Raum, der die geographischen Orte, an denen sich die kapverdische Diaspora (téra longe) befindet und die kapverdischen Inseln (nha téra) beinhaltet: »The geographical archipelago of Cape Verde extended into the migratory archipelago, extending its origin far beyond the Sahel islands« (Góis 2010: 258). Das kapverdische Selbstverständnis resultiert nicht nur aus der Emigration von Kap Verde in andere Teile der Welt, sondern beschreibt eine komplexe Verflechtungsgeschichte, die auch verschiedene Formen der Rückkehr integriert. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts kehrten Kapverdierinnen aus den USA nach Brava zurück (Batalha 2004: 36), kauften mit ihren Ersparnissen Häuser oder Land und investierten in den Einzelhandel. Und schon zu dieser Zeit entstanden Beziehungen emotionaler Verbundenheit und moralischer Verpflichtungen zwischen den Emigrantinnen und den Menschen auf den Inseln (Carling 2002: 6). Die Vorstellungen über die Beziehungen zwischen denjenigen, die emigriert sind und denjenigen, die zurückblieben, handeln Kapverdierinnen in den verschiedenen Formen der Rückkehr wie Pension, Urlaub oder Deportation, der unfreiwilligen Rückkehrmigration, aus (Carling 2002; Drotbohm 2011b und 2012). Die Bedeutung und Gestaltung dieser Beziehungen und die Aushandlungen von Zugehörigkeiten ändern sich jedoch in den letzten Jahren besonders hinsichtlich des Phänomens der unfreiwilligen Rückkehr (Drotbohm 2011b). Deportierte Kapverdierinnen, die in ihrem Herkunftsland Kap Verde »immobil« (Drotbohm 2015: 667) werden, sind auf die finanzielle und materielle Hilfe ihrer Familienmitglieder in der Diaspora angewiesen.27 Infolgedessen werden etablierte Normen und Hierarchien hinterfragt, was wiederum zu einem Überdenken des kapverdischen Selbstverständnisses als eine transnationale Gesellschaft führt. Inseln der Good Governance und Small Island Developing States Die Konstruktion Kap Verdes als Emigrationsland verstetigte sich im Zuge der De- Kolonialisierung und des Entwicklungsdiskurses zu Beginn der 1950er Jahre. Die ›Ressourcenarmut‹ und die geographische Abgeschiedenheit des Archipels erschwerten den Aufbau einer Industrie und machten Kap Verde wie andere ›Dritte-Welt-Länder‹ zum Empfänger finanzieller und technischer Unterstützungen. Doch im Jahr 2006 stieg Kap Verde von den Least Developed Countries
27 Zur Rückkehr siehe vor allem Carling (2002) und Drotbohm (2012 und 2015).
76 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN (LDC; Am wenigsten entwickelte Länder) zu den Middle Income Countries28 (MIC; Länder mit mittlerem Einkommen) auf und zählte neben Simbabwe zu einem der ›erfolgreichsten‹ afrikanischen ›Entwicklungsländer‹ in Sub-SaharaAfrika (Resende-Santos 2015: 11). Ausschlaggebend für diesen Aufstieg war die kontinuierliche politische Stabilität, die die kapverdischen Regierungen als Good Governance, als »alternative politische Ressource« zur ökologischen Ressourcenarmut, ausbaute (Baker 2009). Den Ruf als politisch stabiles Land und Good Governance trug sich Kap Verde wegen der verschiedenen politischen Umbrüche in den vergangenen Jahrzehnten ein, die gleichzeitig eine Kehrtwende in der kapverdischen Außenpolitik ab den 1970er Jahren bedeuteten. Hintergrund dieser Kehrtwende war die Unabhängigkeit Kap Verdes von Portugal, die eine sich in den Jahren zuvor entwickelte breite Bewegung einfordert. Im Jahr 1956 gründete der Kapverdier Amilcar Cabral, der in Guinea-Bissau aufwuchs, die Partido Africano da Independência do Cabo Verde e Guiné-Bissau (PAIGC), die sich für die Unabhängigkeit von Kap Verde und Guinea-Bissau einsetzte und ihre Arbeit bewusst in den Kontext anderer Unabhängigkeitsbewegungen auf dem afrikanischen Kontinent stellte. Um politische Unabhängigkeit auf den Inseln zu erreichen, verbanden kapverdische und guinea-bissauische Unabhängigkeitskämpferinnen ihre politischen Agenden miteinander, um beide Länder aus der portugiesischen Kolonialherrschaft zu führen (Davidson 1989: 72). Bei der Parlamentswahl in Kap Verde Ende Juni im Jahr 1975, gewann die PAIGC 85 Prozent aller Stimmen und ein paar Tage später, am 5. Juli 1975 rief Amilcar Cabral die Unabhängigkeit Kap Verdes aus. Nach einem Coup gegen Cabrals Halbbruder in Guinea-Bissau im November des Jahre 1980 transformierten die kapverdische Politikerinnen die PAIGC in die Partido Africano da Independência de Cabo Verde (PAICV) (Davidson 1989: 140).29 Bis Mitte der 1980er Jahre war sie die einzig verfassungsrechtliche Partei des Staates. Für die Außenpolitik des Inselstaates bedeutete dieser politische Umbruch eine Diversifizierung der politischen und wirtschaftlichen Verbündeten. Zwar war die PAICV vom sozialistischen Regime Portugals geprägt und unterhielt lange Zeit Verbindungen zu Kuba und der UdSSR. Doch ab der Mitte der 1980er Jahre versuchte die dritte Administration der PAICV den Inselstaat für die internationale Gemeinschaft und die globale Wirtschaft sichtbarer zu machen (Andrade 2002: 269). Mit einer stetigen politischen Liberalisierung, die Mitte der 1980er begann, ebnete die PAICV den Weg für den Übergang zur Demokratie 28 Es handelt sich um eine Einteilung nach den Entwicklungskriterien des Human Development Index (HDI; Index für menschliche Entwicklung) der UN. 29 Zum Befreiungskampf Kap Verdes siehe vor allem Davidson (1981 und 1989).
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im Jahr 1991. Die Öffnung der kapverdischen Politik fiel auch mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der sukzessiven Schwächung ehemaliger Verbündeter und Partner zusammen. Im Januar 1991 gewann die kurz zuvor gegründete demokratische Partei Movimento para a Democracia (MpD) 62 Prozent der Stimmen und übernahm die Regierung. 30 Der Regierungswechsel im Jahr 1991 markierte den Beginn der wirtschaftlichen Liberalisierung, unter der vor allem der Wohnungsbau und der Transportsektor Investitionen aus dem Ausland und auch von kapverdischen Emigrantinnen anzogen. Wie zuvor der Machtwechsel zur Unabhängigkeit, verlief der Übergang zur Demokratie in Kap Verde im Gegensatz zu den meisten afrikanischen Ländern unblutig und ohne physische Kämpfe auf kapverdischem Boden (Baker 2006). Die kontinuierliche stabile Politik schaffte unter den internationalen Geldgeberinnen Vertrauen und eine Ausgangsbasis für die kommenden Jahre (Resende-Santos 2015: 11). Mit dem Aufkommen globaler Umweltdiskurse wurden die ökologischen Bedingungen und die geographische Position des Archipels einmal mehr umgedeutet. Im Zuge der internationalen Nachhaltigkeitsdebatte der 1970er und 1980er Jahre und unter dem Paradigmenwechsel zu gerechteren Handelsbedingungen und ökologisch nachhaltigeren Wirtschaftsweisen rückten zunehmend ökologisch ›instabile‹ Länder in den Mittelpunkt internationaler politischer Programme und finanzieller Unterstützung. In diesem Kontext entwickelte sich das Konzept der Small Island Developing State (SIDS; Kleine Inselentwicklungsländer), einer von den UN ins Leben gerufene Gruppe von 52 Staaten und Territorien, zu denen auch Kap Verde zählt. Das Konzept SIDS entstand in den 1970er Jahren und wurde erstmals auf der UN- Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro im Jahr 1992 begrifflich terminiert.31 SIDS ist ein staatenzentriertes Konzept, das die ökonomischen, geopolitischen und ökologischen ›Vulnerabilitäten‹ aus der Sicht der Industrieländer definiert und ihnen unterschiedliche Bedeutung beimisst. Während in den 1970er und 1980er Jahren ökonomische und geopolitische Vulnerabilitäten im Mittelpunkt standen, lag der Schwerpunkt der SIDS ab 1990 auf den ökologischen ›Vulnerabilitäten‹. Kleine Inselstaaten waren im Gegensatz zu Ländern auf den 30 Das Jahr 1991 gilt auch als das Jahr der Institutionalisierung des Mehrparteiensystems in Kap Verde (Andrade 2002; Baker 2009). Seitdem wechseln sich die PAICV und die MpD ab. 31 Die zwei Hauptdokumente, aus denen die SIDS als ›Gruppe‹ hervorgehen, sind das Barbados Programme of Action und die Mauritius-Strategie 2005. Mehrere Autorinnen kritisieren das Konzept der SIDS, da mit ihm unterschiedliche ökonomische und soziale Strukturen der Inseln homogenisiert werden (Campling 2006: 248; Kelman und West 2009).
78 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN Kontinenten stärker von Hurrikanen, Überschwemmungen und dem Anstieg des Meeresspiegels betroffen. Mit dem Anstieg des Diskurses um globalen Klimawandel seit dem Jahr 2007, hat sich der ›Vulnerabilitätsfaktor‹ der SIDS nochmals erhöht.32 Gegenwärtig gelten die SIDS im Gegensatz zu anderen ›Entwicklungsländern‹ als besonders vulnerabel, da sie zu den Ländern zählen, die aufgrund ihrer geographischen Lage und ihrer ökologischen Bedingungen am meisten von den Folgen des Klimawandels betroffen sind. Hierbei spielen nicht nur die ökologischen Vulnerabilitäten, sondern auch die geringen wirtschaftlichen und technischen Kapazitäten eine Rolle, da sie maßgeblich mitbestimmen, inwieweit Länder sich anpassen an die Umweltveränderung können. Eine ›nachhaltige Entwicklung‹ wird unter den globalen Umweltveränderungen für SIDS somit zu einer besonderen Herausforderung. Die Bedeutung der ökologischen Vulnerabilität Kap Verdes wurde zunehmend in den Entwicklungsagenden berücksichtigt und beeinflusste die kapverdische Gesetzgebung. Die Anzahl der Gesetze, die die Portugiesinnen bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts für den Umgang mit ›natürlichen Ressourcen‹ in Kap Verde erlassen hatten, haben sich seit 1980 erhöht (Andrade 2002: 268). Im dritten nationalen Entwicklungsplan von 1993 wurde die Rolle von ›Umwelt‹ gestärkt und spätestens seit dem Jahr 2000 wird Kap Verde in den Medien, auf Seminaren und Konferenzen in seiner »doppelten Vulnerabilität« – als SIDS und als »arid country in the Sahel region« – beschrieben (MAHOT 2012: 9). Touristisch unerschlossenes ›Paradies‹ Die ökologische Fragilität und die Insularität Kap Verdes, sowie die geringe Exportstärke und die Abhängigkeit von Importen führten dazu, dass sich der Tourismus als dominanter Wirtschaftszweig und als motor económico (wirtschaftlicher Motor) etablierte. Sowohl die Tourismusindustrie als auch SIDS sind äußerst sensibel gegenüber internationalen politischen Krisen und wirtschaftlichen Konjunkturschwankungen. Dennoch ist der Tourismus oft die einzige Wirt32 Das Umdenken über »ökonomische Vulnerabilitäten« begünstigten die politische, ökonomische und moralische Schwächung der Industrieländer, insbesondere durch den als illegitim wahrgenommen Vietnamkrieg und das gemeinsame Auftreten der ›Entwicklungsländer‹ in der globalen Wirtschaftsarena (Campling 2006: 239). Unter den Ereignissen der internationalen Machtpolitik der 1980er Jahre richteten die Staaten, die als SIDS galten, ihre Agenden und Forderungen auf ihre geopolitische Vulnerabilität, da diese von den Machtinteressen der Industrieländer ausgenutzt werden konnten. Zu den ausschlaggebenden Faktoren der »geopolitischen Vulnerabilität« (Campling 2006: 240) zählte unter anderem die geographische Nähe zu Ölreservaten.
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schaftsstrategie für SIDS, obwohl er deren Empfindlichkeit gegenüber Krisen verstärkt (Teelucksingh, Nunes und Perrings 2013: 382). Die Konstruktion Kap Verdes als Tourismusdestination knüpft an die Abgeschiedenheit und die touristische Unberührt- und Unerschlossenheit des Archipels an. Meer, Sonne, Sandstrände und Land als »immobile Ressourcen« (Gössling 2002: 540) sind die Pfeiler, auf denen die touristische Vermarktung in Kap Verde fußt. Als Insel ist Kap Verde der Inbegriff der touristischen Imagination des ›letzten Paradieses‹, das wie zuvor gegen Ende des Mittelalters, auch heute aufgesucht wird. Obwohl die Vermarktungsstrategien in der Tourismusindustrie darauf basieren, ihre Destinationen hinsichtlich ihrer kulturellen und ›natürlichen‹ Einzigartigkeit zu ›verkaufen‹, hat sich auch für Kap Verde die semantische Figur der »trope« (Carrigan 2010: 155) als homogenisierendes Klischee durchgesetzt. Zwar versuchen einige – darunter vor allem kapverdische und alternative – Reiseagenturen, auf die Unterschiede zwischen der Kultur und Geschichte der einzelnen Inseln einzugehen. Als touristisches Produkt überwiegt Kap Verde jedoch als ein »generic, global and empty signifier of the tropical island« (Sheller 2003: 36). Seit dem Jahr 2000 zählt Kap Verde zu den am schnellsten wachsenden Tourismusdestinationen weltweit (Roeet al. 2004: 28; Resende-Santos 2015: 3). Im Jahr 2014 besuchten 539.621 Touristinnen aus dem Ausland (INE 2015b: 6) die Inseln, wobei Sal, Boa Vista, Santiago und Fogo die meisten Besucherinnen verzeichnen. Bis zum Jahr 2025 wird die Besucherzahl auf 701.000 pro Jahr prognostiziert (World Travel und Tourism Council 2015: 5). Der Tourismus ist für 95 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen verantwortlich und verzeichnete in den letzten Jahren ein Wachstum von 18 bis 25 Prozent (Baker 2009: 143). Die Einkünfte aus dem Tourismus machten im Jahr 2014 49,9 Prozent des nationalen BIP aus (World Travel und Tourism Council 2015: 1). Die Hauptinvestorinnen stammen überwiegend aus Europa, darunter Italien und Spanien, Portugal, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und jüngst auch aus Irland, Belgien sowie zunehmend aus dem Libanon, den Vereinigten Arabischen Emiraten und China (Sarmento 2009: 535). Die Investitionen konzentrieren sich jedoch auf einige wenige Inseln und die Dominanz ausländischer Investorinnen führt dazu, dass dieser Industriezweig nur einem Teil der kapverdischen Wirtschaft zugutekommt. Die Inseln Sal und Boa Vista empfangen die meisten Besucherinnen und verdienen am besten am Verkauf von immer teurer werdenden touristischen Visa und am all inclusiveTourismus (siehe weiter unten). Die Versuche innerhalb der Tourismusindustrie, diese asymmetrische Verteilung auszugleichen und nicht nur ›Sonne und Strand‹ -Pakete nach Sal und Boa Vista zu verkaufen, sondern individuellere aber auch
80 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN teurere Angebote auf den anderen Inseln anzubieten, konnten sich kaum durchsetzen. Angesichts der ambitionierten Tourismuspolitik der derzeitigen Regierung, die eine Besucherzahl von 1.000.000 Menschen jährlich anvisiert, kritisieren viele Kapverdierinnen, dass diese Form des Tourismus die fragile Infrastruktur und die Versorgungsprobleme des Archipels in Bezug auf Wasser und Energie überfordert. Darüber hinaus trägt der Tourismus nicht direkt zu einer Verbesserung der Lebenssituation für die lokale Bevölkerung bei (vgl. Sarmento 2009; Simão 2013; Lima 2013). Trotz dieser Kritik und der bereits sichtbaren Probleme, die sich durch den Tourismus entwickelt haben, gilt er als Hoffnungsträger, um die Abhängigkeit von externen Hilfsleistungen und Remittances in naher Zukunft zu reduzieren und eigenen Wohlstand zu generieren.33 Der Tourismus als ›wirtschaftlicher Motor‹, der Arbeitsplätze schafft, bleibt jedoch bisher Teil einer politischen und wirtschaftlichen Rhetorik und entspricht noch nicht seinem tatsächlichen Anteil an der Wirtschaftsleistung. Der Tourismus ist der größte und dynamischste Sektor und markiert zusammen mit den externen Hilfeleistungen, ausländischen Direktinvestitionen und den Remittances den wichtigsten Kapitalfluss. Doch aufgrund seiner Abhängigkeit von externen Investitionen ist der Tourismus kaum mit der kapverdischen Wirtschaft verflochten (Resende-Santos 2015: 4) und ›kreiert‹ deshalb nicht ausreichend Arbeitsplätze oder ›stimuliert‹ andere Sektoren. Der Anteil des Dienstleistungssektors (tertiärer Sektor) am BIP repräsentiert derzeit 74 Prozent, von denen der Tourismus für 15,2 Prozent (World Travel und Tourism Council 2015: 1) direkt verantwortlich ist. Der direkte Beitrag des Tourismus am Arbeitsmarkt betrug im Jahr 2014 13,6 Prozent (World Travel und Tourism Council 2015:1). Im Gegensatz dazu tragen die Industrie (sekundärer Sektor) zu 19 Prozent und die Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei (primärer Sektor) zu 7 Prozent des BIP bei, in dem ein Drittel der Bevölkerung beschäftigt ist (Nshimyumuremyi und Marone 2014: 4). Für einen Anteil des BIP sind immer noch die Remittances verantwortlich, und zu den stärksten Wirtschaftszweigen zählen der Handel, das Transportgewerbe sowie Kommunikationsdienstleistungen. Ebenso wachsen der Finanzsektor und der Immobilienmarkt in den letzten Jahren an. Dort finden vor allem junge gut ausgebildete Kapverdierinnen, die aus dem Ausland zurückkehren, eine Beschäftigung, wenn sie nicht in den ebenfalls größer werdenden öffentlichen Dienst eintreten (Batalha 2004: 31).
33 Der derzeitige Anteil der Remittances am BIP liegt bei 9 % und ist im Gegensatz zu den Jahren davor stark zurückgegangen (Resende-Santos 2015: 8), wobei von einem zusätzlichen hohen Anteil inoffizieller Remittances auszugehen ist.
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Gegenwärtig gewinnt Kap Verde aufgrund seines touristischen Potenzials, das die kapverdische Regierung, Reiseagenturen und internationale Institutionen offensiv nach außen präsentieren, an Bedeutung. Touristische Entwicklungen basieren vornehmlich auf der Transformation von Raum (Escobar 2003), bei der der Aneignung von Küstenzonen besondere Bedeutung zukommt. Die extensive Nutzung des Strandes, der Bau von Hotels sowie die An- und Abreise und der Aufenthalt vieler Menschen stellen jedoch eine Belastung für das ökologische Gleichgewicht und für die Ästhetik der Landschaft dar. Touristische Projekte greifen damit die einzig verfügbaren »Ressourcen« (Teelucksingh, Nunes und Perrings 2013: 383) an, auf denen sie aufbauen. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, rufen Regierung und Tourismusunternehmen oft parallel zur touristischen Entwicklung verschiedene Naturschutzprojekte ins Leben. Auch in Kap Verde trug die Entwicklung des Tourismus dazu bei, dass Naturschutzmaßnahmen – insbesondere aber nicht ausschließlich auf den touristischen Inseln Sal und Boa Vista – zugenommen haben. Im Spannungsfeld von Naturschutz und Tourismus erlangt ›Umwelt‹ somit unterschiedliche und auch gegensätzliche Bedeutungen. Diese verschiedenen Zuschreibungen arbeite ich im Folgenden anhand der drei Beispiele Land, Schildkröten und Sand heraus. Hierbei handelt es sich vorerst um eine kontextuelle Beschreibung, die die Analyse in den nachfolgenden Kapiteln 4, 5 und 6 einbettet.
3.2 T OURISTISCHE E NTWICKLUNGSZONEN UND N ATURSCHUTZGEBIETE Die kapverdische Regierung erließ im Jahr 1993 das Gesetz 2/1993, mit dem sie Gebiete in Zonas Turísticas Especias (ZTE; Spezielle Tourismuszonen) umgestalten kann. Es existieren zwei Kategorien von ZTE, die Zonas Reserva e Protecção Turística (ZRTP; reservierte Tourismus- und Schutzzonen) und die Zonas de Desenvolvimento Turístico Integral (ZDTIs; Zonen für die Integrierte Entwicklung des Tourismus). Die ZDTIs gelten als touristische Entwicklungszonen »ohne Einschränkung« und können vom Staat ausgewiesen werden. In diesen Zonen können der Staat selbst oder andere Akteure tourismusbezogene Projekte entwickeln. Im Gegensatz dazu sind die ZRPT Gebiete von »hohem ökologischem und landschaftlichem Wert« (Gesetz 2/1993: 14), die entweder unverändert beibehalten werden oder die später in ZDTIs transformiert werden sollen (Serra 2014: 9). Zudem erließ die Regierung im Jahr 2003 das Gesetz 3/2003 zur Etablierung von áreas protegidas (Naturschutzgebiete), unter die Feuchtgebiete (zonas humidas) oder komplexe Ökosysteme (zonas ecossistema complexa) fal-
82 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN len (siehe weiter unten). Mit der Entwicklung von ZDTIs und den Naturschutzgebieten hat Land auf Boa Vista neue Bedeutungen erhalten (Kapitel 4). Die Naturschutzzonen gelten dabei als Gegengewicht zu den ZDTIs, um die negativen Auswirkungen auf die Umwelt einzudämmen. Kapitalistische Oasen Bei den ZDTIs handelt es sich um öffentliches und privates Land mit touristischen ›Potenzialen‹, womit vor allem die Nähe zum Meer und die Ästhetik der Landschaft gemeint sind. Als Folge der Landvergabe unter der Kolonialherrschaft herrscht bis heute Unklarheit darüber, wem ein Stück Land gehört, was es dem Staat erleichtert, sich Land anzueignen. Sobald die Regierung Gebiete als ZDTIs ausweist, gehen sie zunächst in den Besitz des Staates über. Das Gesetz 2/1993 regelte dafür auch Enteignungen von Land in Privatbesitz und die dazugehörigen finanziellen Kompensationen. In einigen Fällen können die Eigentümer des Landes innerhalb eines festgelegten Zeitraumes selbst in ein touristisches Projekt investieren. Derzeit existieren 25 ZDTIs auf den Inseln Boa Vista (3), Maio (3), Sal (4), Santiago (8) und São Vicente (7) (Marcelino und Gonzalez 2015: 105). Auf Sal, Santiago und São Vicente werden die ZDTIs nach ihrer Ausweisung direkt entweder durch staatliche Projekte oder durch private Investoren transformiert. Auf Boa Vista ist die SDTIBM, eine Planungs- und Kontrollinstanz zwischen dem Staat und den umsetzenden Akteuren, für die anschließende Ausgestaltung der ZDTIs zuständig. Die SDTIMB ist eine öffentliche Kapitalgesellschaft, deren Anteile sich zu 51 Prozent auf die kapverdische Regierung, zu 35 Prozent auf die Regierung von Boa Vista und zu 14 Prozent auf die Regierung der Insel Maio verteilen. Die SDTIBM kauft das Gebiet, das der Staat zuvor als ZDTI ausgewiesen hat, zu einem festgesetzten Preis und vermittelt es an Investorinnen. Des Weiteren kontrolliert die SDTIBM genehmigte Bauvorhaben in den ZDTIs und sorgt für den Ausbau der umliegenden Infrastruktur, wie des Straßennetzes und der Stromversorgung. Ihrem Profil zufolge liegt die Hauptaufgabe der SDTIBM in einer nachhaltigen Förderung des Tourismus (promoção do turismo), bei der auch die ›lokale Bevölkerung‹ miteinbezogen werden. soll Deshalb setzt sich die SDTIBM beispielsweise für die Verbesserung der Wohnsituation von Beschäftigten im Bausektor und der Hotellerie ein. Fast 4.000 Menschen aus Santiago, Fogo, GuineaBissau, Senegal und Nigeria lebten zur Zeit meiner Feldforschung in den barákas (Barracken), dem als ›Slum‹ bezeichneten Viertel Boa Vistas. Die barákas gelten als Folge der ›unkontrollierten‹ touristischen Entwicklung auf Boa Vista und werden in den Medien immer wieder als Beispiel für die negativen Auswir-
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kungen des Tourismus angeführt. Die SDTIBM versuchte daher, die Ausbreitung dieses Viertels einzudämmen und die dort lebenden Menschen allmählich in neu gebaute Wohnungen umzusiedeln. Solche Umsiedlungsaktionen sind eine indirekte Folge von großen Entwicklungsprojekten (Escobar 2003), die die SDTIBM sowohl mit der Verbesserung sozialer Standards als auch mit der Aufrechterhaltung einer touristischen Ästhetik rechtfertigt. Wie andere Gebiete auf Boa Vista haben auch die barákas in den letzten Jahren eine Wandlung durchgemacht. Meine Gesprächspartnerinnen auf Boa Vista bezeichneten das Viertel als die »heimliche Hauptstadt« der Insel, wo man alles finden und bekommen könne, was man wolle und eine Zeit lang verbrachten sie ihre Freitag- und Samstagabende in einer der dort errichteten Bars. Zudem wurden die barákas zu einem Teil der touristischen Attraktionen, die Reiseagenturen ihren Gästen anboten. Während meiner Feldforschung nannte die Regierung von Boa Vista das Viertel wegen der großen Zahl sozialer und religiöser Projekte in bairro da Boa Esperança (Viertel der Guten Hoffnung) um. Sowohl für die Mitarbeiterinnen der SDTIBM, als auch für verschiedene meiner Gesprächspartnerinnen war die Gründung der SDTIBM eine Reaktion auf den caso mau, das ›schlechte Beispiel‹ der Nachbarinsel Sal, wo die touristische Entwicklung ›falsch‹ und ›unkontrolliert‹ abgelaufen sei. Auf Sal hatte sich der Tourismus bereits zu Beginn der 1990er Jahre ausgebreitet, ohne dass die Dienstleistungsbetriebe der Insel auf den Ansturm vorbereitet gewesen wären. Ebenso wenig hatten die Regierungen von Sal den mit der touristischen Entwicklung verbundenen höheren Energie- und Wasserbedarf oder die sozialen und ökonomischen Folgen für die Bevölkerung ausreichend berücksichtigt. Nachdem kapverdische Politikerinnen die »Fehler von Sal«34 eingestanden hatten, gründeten sie die SDTIBM, die als Planungs- und Kontrollinstanz fungieren und die Beteiligung der lokalen Bevölkerung sicherstellen soll. Die Unterteilung von Land in die beschriebenen Zonen hat sich zur dominanten Darstellungsform entwickelt, mithilfe derer Mitarbeiterinnen der SDTIBM und lokaler Verwaltungsstellen die Insel Boa Vista beschreiben. Abbildung 9 zeigt ein Beispiel dafür. Pericles, ein Mitarbeiter der SDTIBM, veranschaulichte mir bei einem Gespräch in seinem Büro die Insel Boa Vista anhand mehrerer DIN-A3-Tafeln, auf denen die Insel farblich in verschiedene Zonen eingeteilt ist. Auf diesen Tafeln waren auch jene Zonen eingezeichnet, wie die gemischten Zonen (zonas mistas), in denen touristische Entwicklungen stattfinden konnten und die Naturschutzzonen (áreas protegidas), zu denen Feuchtgebiete (zonas humidas) oder komplexe Ökosysteme (zonas ecossistema complexa) zählen und in denen das Bauen untersagt ist. Eine der Tafeln zeigt auch den Standort des 34 Zitat eines Mitarbeiters der SDTIBM.
84 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN Hotels Calistan. Die öffentliche Diskussion um den Bau dieses Hotels steht exemplarisch für Auseinandersetzungen über die Einteilung in Zonen für touristische Entwicklung und Naturschutzzonen. Der Fall zeigt, dass die Grenzen zwischen den Zonen keineswegs eindeutig, sondern vielmehr umkämpft und umstritten sind. Zum Zeitpunkt meines Gesprächs mit Pericles befand sich das Hotel noch im Bau. Das Hotel Calistan war das flächenmäßig bisher größte Hotel Kap Verdes und sollte ab Mai 2011 Platz für 3.000 Touristen bieten. Das Hotel lag in der durch die rote Linie eingezeichneten ZDTI Santa Mónica West, die an die Naturschutzzone Minão angrenzt. In weiteren Gesprächen stellte sich heraus, dass über die Lage des Hotel Calistans – in einer ZDTI oder in der angrenzenden Naturschutzzone – keine Einigkeit herrschte. Während für die Vertreterinnen des Hotelbaus die ZDTI und die Naturschutzzonen klar voneinander getrennt sind, konstatieren Naturschützerinnen, dass das Hotel Calistan in der Naturschutzzone liege. Die SDTIBM, die Betreiberinnen der Reiseagenturen sowie das Hotelmanagement begegnen dieser Kontroverse damit, dass das Abkommen zum Bau dieses Hotels vor der Gründung der SDTIMB stattgefunden habe. Sie hätten lediglich die Vereinbarung zwischen der kapverdischen Regierung und der spanischen Tourismusgruppe, die das Hotel in Betrieb nehmen will, respektiert. Eine andere Haltung dagegen vertritt Pedro, der Leiter des UNDP in Kap Verde, mit dem ich ein Gespräch in Praia führte. Seiner Ansicht nach wurde das Hotel »illegalerweise« in einer Naturschutzzone errichtet. Obwohl solche Bauprojekte bereits auf der Insel Sal zu Konflikten geführt haben, habe die kapverdische Regierung nicht wesentlich dazu beigetragen, den Schutz der Naturschutzzonen zu gewährleisten. Wie viele andere kritisierte Pedro dabei auch die Politik der DGA, die bei der Genehmigung des Hotelbaus »ein Auge zugedrückt« habe. Er nimmt an, dass die Grenze der ZDTI nachträglich um ein paar Meter verschoben worden sei, so dass das Hotel Calistan in der ZDTI und nicht mehr in der Naturschutzzone liegt. Die Lage des Hotels ist der zentrale Punkt einer lang anhaltenden Kontroverse über die räumlichen Grenzen zwischen den ZDTIs und den Naturschutzzonen auf Boa Vista und einer jener Fälle, in denen beide Zonen miteinander kollidieren. Hotspots kapverdischer Biodiversität Das Hotel Calistan steht an einem der langen weißen Strände Boa Vistas, in einem der unbewohnten Gebiete, die auch wegen ihrer ökologischen Vielfalt als Naturschutzzone deklariert wurden. Im Jahr 2003 hat die kapverdische Regierung mit dem Gesetz 3/2003 47 Gebiete des Archipels zu Naturschutzzonen er-
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klärt. Bis Ende 2014 sollen 17 weitere Zonen hinzukommen.35 Die bisherigen 47 Zonen sind im Projekt Consolidação do Sistema de Áreas Protegidas em Cabo Verde (Konsolidierung des Systems geschützter Gebiete in Kap Verde), abgekürzt Áreas Protegidas, verankert. Die Global Environmental Facility (GEF; Globale Umweltfazilität)36 stellt für den Zeitraum von 2010 bis 2014 ein Budget von 4.183.000 US-Dollar für das Projekt bereit und ist mit den UNDP einer der Partner der kapverdischen Regierung. Für die Umsetzung des Projekts auf nationaler Ebene sind die DGA und das Ministerio do Ambiente, Habitação e Ordenamento do Território (MAHOT; Ministerium für Umwelt, Wohnung und Infrastruktur) zuständig.37 Die DGA und das MAHOT können sich bei der Einrichtung der Naturschutzzonen auf zwei verschiedene Regelwerke, denen Kap Verde im Jahr 2005 beigetreten ist, berufen: Zum einen dienen internationale Konventionen und Deklarationen als Referenzpunkte. Dazu zählen die Biodiversitätskonvention von Rio de Janeiro 1992 und die Ramsar- Konvention von 1971 zum Schutz von Feuchtgebieten. Beide Konventionen verpflichten ihre Beitrittsstaaten dazu, »geeignete Maßnahmen« für den Erhalt von Biodiversität zu ergreifen und stellen Kriterien für die Ausgestaltung von Naturschutzzonen bereit. Zum anderen sind die Naturschutzzonen Teil nationaler Politiken und über das Gesetz 3/2003 rechtlich verankert. Dieses Gesetz definiert verschiedene Typen von Naturschutzgebieten und bildet die Grundlage für ein nationales Netz der geschützten Gebiete (Rede Nacional da Áreas protegidas), in das auch in Zukunft ausgewiesene Zonen integriert werden können. Darüber hinaus enthält es Verbote zur Entnahme von Ressourcen in den geschützten Zonen (Art. 13, 3a), Richtlinien zur Errichtung von Gebäuden in Naturschutzparks (Art. 13, 3e), sowie Gestaltungsvorgaben für bewohnte Häuser in den Naturschutzzonen. 38 35 Die Naturschutzzonen machen 632,09 km² der gesamten Oberfläche (4.033 km²) Kap Verdes aus, zu denen Land- und Küstengebiete (zonas terrestriais) sowie Meeresflächen (zonas marinhas) zählen (http://www.areasprotegidas.gov.cv/index.php/en/areasprotegidas/legislacao; vom 28.10.2015. 36 Die GEF ist eine eigene Institution zur Finanzierung von Umweltschutzprojekten in ›Entwicklungsländern‹. Sie wurde 1991 gegründet und fungiert derzeit als finanzieller Mechanismus für die Biodiversitäts-Konvention und die Klimarahmenkonvention. 37 Die institutionelle Kooperation auf lokaler Ebene schließt weitere Ministerien, nationale und internationale Institutionen ein (siehe Tavares 2012: 132). 38 Das Gesetz 3/2003 definiert in Art 3. Abs. 2 sechs Kategorien von Naturschutzzonen: Naturreservate (15), Naturparks (10), Naturmonumente (6), geschützte Landschaften (10), Nationalparks und Orte von besonderem wissenschaftlichem Interesse (Sítio de Interesse Científico). Von den 47 geschützten Zonen Kap Verdes liegen 14
86 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN Nach den Leitlinien für die áreas protegidas verfolgt die Einrichtung der Naturschutzzonen mehrere Ziele: sie dienen der Aufrechterhaltung sensibler ökologischer Prozesse und sollen die verschiedenen Habitats und die Reproduktion der darin vorkommenden Flora und Fauna sicherstellen. Gleichzeitig soll die visuelle Qualität der Landschaft bewahrt werden, worunter vor allem die Erhaltung unversehrter natürlicher Flächen ohne menschliche Eingriffe verstanden wird. Ein weiteres Ziel besteht darin, die sozioökonomische Entwicklung der lokalen Bevölkerung zu unterstützen und ihre traditionellen Aktivitäten zu erhalten.39 Die Naturschutzzonen erfüllen zwei verschiedene Funktionen: auf der einen Seite vermitteln sie eine bestimmte Wahrnehmung von ›Natur‹ als schützenswert. Auf der anderen Seite sollen sie zur sozioökonomischen Entwicklung der Gesellschaft beitragen. ›Natur‹ wird neu bewertet und wird Teil der grünen Agenda der kapverdischen Regierung. Ein Ziel dieser Agenda ist es, Umweltthemen – neben den Naturschutzzonen geht es dabei auch um Klimawandel, Ökotourismus und erneuerbare Energien – in bestehenden Entwicklungsprogrammen, der Berichterstattung der Medien und in schulischen Lehrplänen jeweils mitzudenken. An diesem »Mainstreaming«, wie meine Gesprächspartnerinnen es nennen, beteiligt sich nicht nur die Regierung, sondern auch die DGA, die UN und lokale und internationale NROs. auf Boa Vista. Zu den Naturreservaten zählen die drei kleinen vor Boa Vista vorgelagerten Inseln (Ilhéu de Baluarte, Ilhéu Curral Velho, Ilhéu dos Pássaros), die aufgrund der endemischen Vogelarten einen Schutzstatus erhielten; sowie das Gebiet von Boa Esperança, das sich sowohl auf das Landesinnere als auch auf Teile des Meeres erstreckt; die Morro de Areia, die sich im Südwesten der Insel befindet, die ebenfalls im Süden gelegene Ponta do Sol und das Schildkrötenreservat Reserva Natural de Tartaruga. Zu den vier Naturmonumenten zählen der Berg Monte Estância, der mit 387 m der höchste Punkt Boa Vistas ist, der Roche de Estância und der Monte Santo Antonio. Die drei Berge verfügen über eine endemische Flora und Fauna und sind von einem geologischen und geomorphologischen Wert. Das vierte Monument ist die vor Sal Rei vorgelagerte Insel (Ilhéu de Sal Rei), die ebenfalls aufgrund der dort vorkommenden Flora und Fauna und wegen ihrer historisch-kulturellen Bedeutung als altes Fort des Grafen von Bragança als schützenswert deklariert wurde. Der Naturpark in Boa Vista, der Parque Natural do Norte, schließt zwei der vorgelagerten Inseln und die drei im Norden gelegenen Dörfer João Galego, Fundo das Figueiras und Cabeça do Tarafes ein (http://www.areasprotegidas. gov.cv/index.php/en/areas- protegidas/rede-nacional-de-areas-protegidas; vom 28.10. 2015). 39 Die Definition der Naturparks geht nicht weiter darauf ein, was unter den traditionellen Aktivitäten der Bevölkerung verstanden wird.
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Auf Boa Vista hat das zuständige Team der Áreas Protegidas 2011 die Arbeit aufgenommen. Mutaro, der zuvor für den Naturschutzpark auf einer anderen kapverdischen Insel verantwortlich war, leitet das aus fünf Personen bestehende Team. In einem Gespräch im Mai 2011, formuliert er mir gegenüber ein klares Ziel für die Naturschutzzonen: Für ihn ist der Aufbau des Naturschutzparks das wichtigste Projekt in den kommenden vier Jahren. Dabei müsse vor allem die Bevölkerung im Norden der Insel miteinbezogen werden, da sie seiner Ansicht nach noch nicht über die »richtige Mentalität« verfüge und sich keine Gedanken über die Umwelt mache. Des Weiteren müsse definiert werden, wer über die »Autorität« in den Gebieten verfügt, da die Strände Boa Vistas weder der Privatgrund der Hotels, noch Hoheitsgebiete der NROs seien. Weder die NROs, die nur an ihre eigenen Interessen dächten, noch die Hotels könnten Ansprüche auf die Gebiete und Strände von Boa Vista formulieren. Deren Haltung stifte lediglich Verwirrung unter den Leuten, die nun nicht genau wüssten, wer das »Sagen« habe. Deshalb müssten auch die Unstimmigkeiten darüber, was in den Naturschutzzonen möglich sei und was nicht, abschließend geklärt werden: es seien nicht die NROs oder die Hotels, sondern der Staat und die Áreas Protegidas, die über diese Gebiete bestimmten.
3.3 S CHILDKRÖTENSCHUTZ , - KONSUM - UND Ö KOTOURISMUS Der Bau von Hotels an den Stränden trägt neben anderen Faktoren zu einer fortschreitenden Küstenerosion bei und Degradation der Strände bei. Diese Prozesse beeinträchtigen die Lebensgrundlage der unechten grünen Meeresschildkröten Caretta Caretta, die Kap Verde nach dem Oman und Florida als drittgrößten Nistplatz aufsuchen (Marco et al. 2011: 2). Der Archipel beherbergt zwischen 9 und 15 Prozent der weltweiten Nistpopulation und zwischen 13 und 22 Prozent der Population des gesamten Atlantiks. Seit 2008 steht die Caretta Caretta auf der Roten Liste der IUCN und zählt damit zu einer der weltweit bedrohten Arten. Da die Schildkröten ihre Eier im Sand, einige Meter vom Ufer entfernt und meist immer an denselben Stränden ablegen, sind intakte Küsten der Schlüssel für die Reproduktion der Tiere (siehe Kapitel 5). An degradierten Stränden fin-
88 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN den die Tiere oft keinen geeigneten Platz für die Eiablage und die Eier können sich nicht unter optimalen Bedingungen entwickeln. 40 Auf allen kapverdischen Inseln setzten sich internationale NROs, die UN sowie das kapverdische Umweltministerium dafür ein, den Bestand der Schildkröten in Kap Verde zu schützen. Boa Vista verfügt von allen kapverdischen Inseln noch die mit Abstand höchste Anzahl an Schildkröten, während die Populationen auf den anderen Inseln bereits zurückgegangen sind. Die Insel gilt deshalb als »Hotspot der Reproduktion« (Marco et al. 2012: 356f.), wo Naturschützerinnen und Meeresbiologinnen den Erfolg der dortigen Naturschutzprojekte als besonders wichtig einstufen. Für den Rückgang des Schildkrötenvorkommens in Kap Verde machen die Naturschützerinnen die globale Erwärmung und die Küstendegradation, den Fang und Konsum durch die lokale Bevölkerung und die Auswirkungen des Ghost Fishings41 verantwortlich (Marco et al. 2011). Zugleich ist die Schildkröte Teil eines Narratives, mit dem die Tourismusbranche Kap Verde als Urlaubsziel und Schildkrötenexkursionen als ökotouristische Attraktion vermarktet. Die zwei vergleichsweise neuen Bedeutungszuschreibungen der Schildkröte als Naturschutzobjekt und als ökotouristische Attraktion stehen zusätzlich der lokalen spezifischen Bedeutung der Schildkröte als Verkaufs- und Konsumgut und ihrer historisch verankerten Symbolik gegenüber. Von diesen traditionellen Praktiken des Verkaufs und Konsums grenzen sich Schildkrötenschützerinnen und Tourismusanbieterinnen von Schildkröten ab und verurteilen diese. Oft ignorieren sie dabei die Rolle von Europäerinnen, die sich auch am Schildkrötenkonsum und -handel beteiligt. Viele Kapverdierinnen verankern den Schildkrötenkonsum und -handel historisch und legitimieren ihren spezifischen Umgang mit den als natürliches Erbe der kapverdischen Gesellschaft. Diese historischen Mensch-Schildkröten-Beziehungen in Kap Verde beschreibe ich im Folgenden, bevor ich auf die neuere Entwicklung des Schildkrötenschutzes eingehe.42
40 Die Temperatur des Sandes hat einen Einfluss auf das Geschlecht. Je höher die Temperatur während der Inkubationszeit, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Tiere weiblich sind (Marco et al. 2011). 41 Ghost Fishing bezeichnet Fischfangnetze, die verloren oder weggeworfen wurden, im Meer treiben und ohne menschlichen Einfluss zur Falle für Meerestiere werden (Matsuoka, Nakashima, und Nagasawa 2005). 42 Für eine ausführliche Dokumentation historischer Schriften zu Meeresschildkröten in Kap Verde siehe Loureiro und Torrão (2008).
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Schildkröten als Handels- und Konsumgu t Der Fang von Schildkröten, der Konsum ihrer Eier und ihres Fleisches, sowie der Handel mit ihnen haben eine kulturelle und ökonomische Bedeutung und gehen bis in das 14. Jahrhundert zurück. Der venezianische Seefahrer Cadamosto, der im Auftrag der Portugiesinnen nach Senegal und Gambia segelte schreibt in seinem Bericht: »we found a large number of sea turtles, whose carapaces were bigger than military leather shields, and we killed many and cooked...; finally, we salted a lot of them, that we carried into the ship to eat later.« (Cadamosto 1507 zitiert in Loureiro 2008: 1)
Auch der Schriftsteller Valentin Fernandez beschreibt im 14. Jahrhundert, wie das hohe Vorkommen von Schildkröten in den Monaten von Juni bis August die Nahrungsmittelknappheit auf den Inseln reduzierte und so den Menschen half, sich von Krankheiten zu erholen. Ähnliche Aufzeichnungen stammen aus dem Tagebuch des Ingenieurs Duplessis, der im 17. Jahrhundert Teil einer französischen Schiffscrew war und über das Schildkrötenvorkommen um Praia schrieb. Ebenso berichtete Amedee-Francois Frezier im Jahr 1712, wie die Bewohnerinnen der Insel Santo Antão jedes Jahr zahlreiche Schildkröten fingen, um sie zu essen oder zu verkaufen (Brooks 2006: 117 f.). Auch von der Insel Sal berichtete Kapitän Roberts um 1722, wie die Franzosen die Schildkrötenpanzer nach Frankreich exportierten, während sie das Fleisch trockneten und salzten, um es auf die West-Indies zu verkaufen. Ebenfalls auf Sal fingen die Bewohner der Insel São Nicolau Schildkröten, um den Hunger auf ihrer Insel einzudämmen. Als die São Nicolenser zehn Wochen auf ihr Boot warteten, das in der Zwischenzeit von Sal nach Boa Vista gefahren war, um dort Salz abzubauen, boten sie Roberts an, die Hälfte ihrer Schildkröten und Amber43 für eine Rückfahrt nach São Nicolau zu tauschen (Brooks 2006). Diese Quellen gebe Hinweise darauf, dass Schildkröten im frühen Handelsnetzwerk zwischen den Inseln und dem Festland Ware und Zahlungsmittel waren. Darüber hinaus zeigen die Berichte der europäischen Seefahrerinnen, wie sich Fang, Konsum und Verkauf nicht nur auf die Bewohnerinnen der Inseln beschränkten, sondern auch mit den Praktiken der europäischen Kolonisatorinnen und Seefahrerinnen verflochten waren (Brooks 2006). Diese kulturellökonomischen Aspekte des Fangs, des Verkaufs und des Konsums haben sich in den Mensch-Schildkröten-Beziehungen in Kap Verde über mehrere Jahrhunderte 43 Amber oder Ambra ist eine Substanz aus dem Verdauungstrakt von Pottwalen und wurde damals für die Herstellung von Parfüms verwendet.
90 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN fortgesetzt. Die ökonomischen Interessen, das Handwerk des Fangens und des Zubereitens und die Nachfrage nach Schildkrötenfleisch sind miteinander verwoben und so sind Fischer, rabidantes und Konsumentinnen aufeinander angewiesen. Heute fangen meist Fischer Schildkröten an Land oder im Meer und bessern damit ihr monatliches Einkommen auf.44 Die dafür beste Zeit liegt zwischen Juni und September, wenn die Tiere nachts an Land kommen, um ihre Eier abzulegen. Die Mensch-Schildkröten-Beziehungen wirken auch auf gesellschaftliche Konzeptualisierungen von Raum und Zeit ein (Theodossopoulos 2005). Beispielsweise war die nächtliche Eiablage für viele meiner Gesprächspartnerinnen ein Hinweis auf die eintreffende Regenzeit. 45 Des Weiteren beeinflussen Mensch-Schildkröten-Beziehungen die Konstruktion von Geschlechterrollen und Geschlechterbeziehungen. Es sind ausschließlich Männer, die Schildkröten fangen und einige meiner Gesprächspartnerinnen beschrieben die apanha da tartaruga (Schildkrötenfang) als ein Initiationsritual für den Übergang vom Jungen- in das Erwachsenenalter. Auch die Zuschreibung einer aphrodisierenden Wirkung des Schildkrötenkonsums trägt zu einer geschlechtsspezifischen Konstruktion des Schildkrötenfangs bei. 46 Besonders der Verzehr des männlichen Geschlechtsteils der Schildkröte wirke sich demnach positiv auf die männliche Potenz aus. Einer meiner Gesprächspartner, der Schildkröten fängt und verkauft, sagte, dass vor allem die vielen kapverdischen Emigrantinnen während ihrer Heimatbesuche viel Geld für die Geschlechtsteile der Schildkröten bezahlten. Des Öfteren hörte ich Erzählungen, in denen sich solche geschlechtsspezifischen Konstruktionen verdichten, wie zum Beispiel die Geschichte eines Mannes, der einen Schildkrötenpenis (biróti da tartaruga) zusammen mit grógu (Zuckerrohrschnaps) eingenommen hatte. Die Wirkung sei so stark gewesen, dass der Mann anschließend drei Tage mit erigiertem Geschlechtsteil und starken Schmerzen im Krankenhaus verbracht haben soll. Während der Fang und die aphrodisierende Wirkung des Konsums der männlichen Domäne zugeschrieben werden, bereiten meistens Frauen die Schildkröten für den Verzehr zu. Die Fischer verkaufen die 44 Beim Fang von Schildkröten sind auch religiöse Aspekte ausschlaggebend. Für einen den Adventisten zugehörigen Fischer in Boa Vista waren der Fang und Konsum von Tieren, die keine Schuppen haben tabu. Die Haut eines Schweins, eines Aals oder einer Schildkröte sei der des Menschen zu ähnlich, weshalb diese Tiere weder getötet noch gegessen werden sollten. 45 Diese Verbindung der Eiablage und der Regenzeit bezeichnet auch ein ›folkloristisches‹ Element der kapverdischen Gesellschaft (Parsons 1921: 101). 46 Vorstellungen über die aphrosdisierende Wirkung existieren auch in anderen Regionen wie Dubai, Costa Rica, Haiti oder Kenia.
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Tiere an die rabidantes weiter, die über mehrere Stunden das Fleisch und die Eier der Schildkröten kochen. Die Zubereitung von Schildkröten wurde mir als Fertigkeit beschrieben, die erlernt werden muss. Auch müsse man den intensiven Geruch ertragen können, der beim Kochen der Schildkröten anfällt und noch Tage danach im Haus und an den Händen bleibe. Ein junger Kapverdier aus Boa Vista sagte mir, dass er es »riechen« könne, ob jemand Schildkröten zubereitet oder gegessen habe. Schildkröten gehören zu den Spezialitäten der kapverdischen Küche (Lobban 1995: 81) und werden als Delikatesse mit Hummer oder perceba (Entenmuschel) gleichgesetzt (Almeida 1996). Doch während die einen von der »besten Fleischsorte« sprechen, halten andere das Fleisch für ungenießbar. Innerhalb der kapverdischen Gesellschaft ist der Schildkrötenkonsum eine unterschiedlich bewertete Praktik und auch zur aphrodisierenden Wirkung des Schildkrötenfleisches existieren verschiedene Auffassungen. Macario, ein Forstwissenschaftler von Santo Antão, der bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr Schildkröteneier im Haus seiner Freundinnen gegessen hatte, da seine Mutter den Geruch nicht ertragen konnte, erzählte mir: »Es gibt immer noch Leute die das [Schildkrötenfleisch] essen, obwohl es verboten ist. Einige denken, das ist ah ein Aphrodisiakum ((lacht)). Einige denken das. Ich weiß es nicht, einige denken, das ist so. Deswegen gibt es vielleicht immer ein paar. Aber diese Schildkrötenesser oder Genießer ((lacht)), dieser Kreis wird immer kleiner. Es gibt immer weniger Leute, die das essen. Speziell, weil die Leute sich immer mehr bewusstwerden. Ok, ich weiß nicht, was das für welche sind, die meinen, sie können nicht leben, ohne die zu essen ((lacht)). Ich weiß es nicht. Es gibt einige, die denken, oh ich muss das immer wieder essen, ich kann ohne nicht leben.« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit Macario, INIDA; in Praia]
Die ambivalente Position, die Macario gegenüber dem Konsum von Schildkrötenfleisch vertritt, teilten viele meiner Gesprächspartnerinnen. Zum einen sprechen sie dem heutigen Konsum die Legitimation ab, da er nicht mehr zum Überleben beiträgt, und halten die aphrodisierende Wirkung für einen vorgeschobenen Grund, um am Konsum festzuhalten. Es handele es sich eher um eine persönliche Vorliebe, weshalb die Konsumentinnen als »Genießer« bezeichnet werden. Zum anderen äußern viele Verständnis dafür, dass sich der Schildkrötenkonsum nicht so einfach aus dem Alltag der Menschen entfernen lasse. Dieses Verständnis hängt unter anderem damit zusammen, dass viele die Praktiken, mit denen der Schildkrötenschutz in Kap Verde durchgesetzt wird, und mit denen gegen Fänger und Konsumentinnen vorgegangen wird, kritisieren.
92 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN Das Verbot und der Schildkrötenschutz Das Verbot des Schildkrötenkonsums erfolgte schrittweise und orientierte sich an den Bestimmungen der UN-Biodiversitätskonvention von 1992. Bereits im Jahr 1987 schränkte das Gesetz 97/1987 den Fang während der Nistsaison ein und ab dem Jahr 2000 (Gesetz 7/2002) galten Fangbeschränkungen das ganze Jahr über. Diese Gesetze beschränkten lediglich den Fang und den Verkauf von Schildkröten auf bestimmte Zeiten. Erst im Jahr 2005 wurden durch das Gesetz 53/2005 der Besitz, der Fang, der Konsum sowie die Verwendung von Schildkröten und deren Eiern vollständig untersagt (Marco et al. 2011: 7). Nach Loureiro und Torrão hatten die Portugiesinnen, Spanierinnen und andere Europäerinnen in ihren Rollen als Naturschützerinnen in NROs und als Wissenschaftlerinnen in nationalen Forschungseinrichtungen Einfluss auf diese Gesetzesänderungen (Loureiro und Torrão: 44). Sie sind auch diejenigen, die den Schildkrötenschutz besonders auf Boa Vista vorantreiben und dominieren. Vor allem mit wissenschaftlichem Know-How, aber auch mit Hilfe von technischen und finanziellen Mitteln versuchen ausländische NROs ihre Stellung im Schildkrötenschutz zu sichern. Sie organisieren mit internationalem Geld finanzierte Projekte, arbeiten mit Tourismusagenturen, die Schildkrötenexpeditionen anbieten zusammen oder benutzen die GPS-Tracking-Methode, bei der sie GPS-Tags an die Panzer der Schildkröten befestigen und deren Bewegungen langfristig verfolgen. Die Vertreterinnen der Schutzprojekte und der Schildkrötenexkursionen reglementieren so den Umgang mit Schildkröten, um den Erhalt der Tiere sicherzustellen. Darüber hinaus zielen sie darauf ab, die Bevölkerung von Boa Vista zu einem anderen Umgang mit Schildkröten zu bewegen und ihnen über die touristische Vermarktung eine alternative Einkommensquelle anzubieten.
3.4 S AND , S ANDABBAU
UND
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Das ›neue‹ Gold und seine Erosion Der Schutz von Schildkröten, die für ihre Reproduktion ›intakte‹ Strände benötigen, warf bei meinen Gesprächspartnerinnen immer auch die Frage nach dem Zustand der kapverdischen Küstenbereiche auf. Wie in anderen westafrikanischen Ländern, konzentrieren sich in Kap Verde die Urbanisierung und touristi-
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sche Entwicklung vornehmlich in den Küstenbereichen.47 Im Jahr 2010 lebten in Kap Verde 303.637 Menschen in den größten Städten der Inseln (INE 2010: 10). Im Jahr 2020 werden es nach Schätzung des Instituto Nacional de Estatística (INE; Nationales Amt für Statistik) 422.144 Menschen sein (ebd.). Die damit im Zusammenhang stehende Bautätigkeit führt zu einem massiven Abbau von Sand. Der Sandabbau von den Küsten, aus dem Meer und im Landesinneren als Baumaterial beschleunigt die Küstenerosion und ist inzwischen zu einem der dringendsten ökologischen Probleme Kap Verdes geworden. Bereits vor dem Bauboom und dem Ausbau der Infrastruktur zählte Sand zu den wichtigsten Materialen im Hausbau.48 Bis in die 1960er Jahre wurden die meisten Häuser aus Steinen, Lehm und Sand gebaut, wobei die Wände und Dächer mit Agaven oder Zuckerrohrblättern abgedichtet wurden (Amaral 1964: 253f; MAAP 2004b: 24). Nur diejenigen, die es sich finanziell leisten konten und offizielle Gebäude bestanden aus importierten Ziegeln, die ebenfalls mit Mörtel, einer Mischung aus Sand und Kalk, zusammengehalten wurden. Diese oft als ›traditionell‹ bezeichnete Bauweise veränderte sich ab den 1960er Jahren. Dies hatte mehrere Gründe: zum einen gingen im Zuge von Umweltveränderungen die Regenfälle zurück, weshalb Blätter und Stroh als Dichtungsmaterial immer seltener verwendet wurden. Zum anderen stiegen die Einfuhrzölle auf Ziegel und Holz zu Beginn der 1970er Jahre. Zudem liberalisierte die kapverdische Regierung die Importbestimmungen für Zement. Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse wurden Häuser und Gebäude ab den 1990er Jahren vermehrt unter der Verwendung neuerer Bautechnologien gebaut. Die größte Neuerung dabei war, dass die Wände und die Decken anstatt aus Steinen, Holz und Stroh nun aus Zementblöcken und Beton – einer Mischung mit Sand – bestanden (Aráujo 2006: 51). Diese Bautechnik etablierte sich relativ schnell, da sie stabiler war und da der lokale Sand im Gegensatz zu den importierten Baumaterialen (für die Baufirmen) ein billiger und einfach abzubauender Rohstoff war. Da für die Herstellung von Beton große Mengen an Sand und Schotter nötig sind,49 stieg der Verbrauch von Sand extrem an: während im Jahr 1985 22.7816 Tonnen Sand abgebaut wurden, waren es im Jahr 2013 bereits 920.670 Tonnen. Für das Jahr 2020 47 Eine ähnliche Entwicklung findet in Ghana, Gambia, Guinea-Bissau und Marokko statt (Mensah 1997). 48 Eine ähnliche Verwendung von Sand existiert beispielsweise auf der pazifischen Insel Wallis (Worliczek, Allenbach und Mückler 2010). 49 Stahlbeton setzt sich aus Portlandzement und einem Gemisch aus Schotter und Sand (inertes) zusammen. Das Mischverhältnis für eine Tonne Portlandzement besteht im Durchschnitt aus fast doppelt so viel Sand (3,1 m³) wie Schotter (1,64 m³) (MAAP 2003: VII).
94 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN prognostiziert das INE bereits einen Verbrauch von 1.685.780 Tonnen pro Jahr.50 Sand wird weltweit die Bedeutung eines »neuen Goldes«51 zugeschrieben. In Kap Verde verursacht die apanha da areia (Sandabbau)52 einen zunehmenden Rückgang von Stränden und schwächt die Funktion der Küstenzone als eine natürliche Barriere zwischen Meer und Land. Auf Santiago hat der Sandabbau insbesondere an den Küstenzonen seine Spuren hinterlassen. Studien, die die ›Resilienz‹ Santiagos in Hinblick auf den Sandabbau und auf die natürlichen Prozesse der Bodenerosion untersuchen, kamen zu dem Ergebnis, dass die Praktik zu einer verminderten natürlichen Anpassungsfähigkeit und zu einer Schädigung der Küstensysteme führt. Die Schwächung der Küstensysteme wird in den Studien auch auf die veränderten Meeresströmungen und Temperaturschwankungen als Folgen der Erderwärmung zurückgeführt (Ministry of Environment and Agriculture 2006 und 2007). Sowohl die Folgen der Erosion durch den Sandabbau als auch ›natürliche‹ Prozesse zerstören die physikalische Oberflächenbeschaffenheit der Böden, so dass die Strände durch die extremen Regenfälle und Überflutungen der letzten Jahre weiter degradieren. Mit der Erosion setzten zudem eine fortschreitende Versalzung der Böden (Vorlaufer 1996) und der Grundwasservorkommen ein. Da über 60 Prozent der Bevölkerung Kap Verdes in den Küstenzonen leben, beeinträchtigen die Folgen des Sandabbaus auch die Wohn- und Arbeitsbereiche der Menschen. Immer öfter werden unmittelbar an den Küsten gelegene Wohnsiedlungen überflutet. In der Gemeinde Ribeira da Barca auf Santiago sind die Auswirkungen der Küstenerosionen durch den Sandabbau so massiv, dass die kommunale Verwaltung der Gemeinde die kapverdische Regierung um die Errichtung einer Schutzmauer gebeten hat. Die Folgen des Sandabbaus beeinträchtigen auch den Arbeitsalltag von Fischern. Viele von ihnen haben Schwierigkeiten, mit ihren Booten an den Stränden anzulegen, die durch den Rückgang des Sandes zu steinig geworden sind. Viele Boote werden beim Aufsetzen durch die Steine beschädigt und oftmals können sich die Fischer mit ihrem durchschnittli-
50 Bis zum Jahr 2010 wurden 1.047.553 Tonnen unter Einbezug auftretender Schwankungen prognostiziert. Die Menge an verbrauchtem Sand lag im Jahr 1985 bei 173.960 und im Jahr 1995 bei 552.224 Tonnen (MAAP 2004b: 36). 51 Siehe zum Beispiel http://www.srf.ch/wissen/sand-das-neue-gold; vom 02.12.2015. 52 Apanhar bedeutet hier etwas aufsammeln oder aufheben, im Gegensatz zu apanha da tartaruga (Schildkröten fangen). Der Sandabbau wird auch als extracção (Abbau) da areia oder dos inertes (Gestein, Kies) bezeichnet, wobei die extracção dos inertes eher den Abbau von Kies und Schotter meint.
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chen monatlichen Einkommen von 15.000 bis 20.000 Escudos53 keine Reparaturen leisten. Diese Folgen der degradierten Strände führen auch dazu, dass sich die Fischer auf einige wenige Anlegeplätze konzentrieren und nun stärker miteinander in Konkurrenz stehen. Der Wechsel der Arbeitsorte bringt oft auch neue Arbeitskonstellationen mit sich, da die Fischer nun mit anderen rabidantes arbeiten, dort ihren Fisch kaufen und weiterverkaufen. Nicht zuletzt beeinträchtigen die erodierten Küsten auch die Ästhetik der Strände, die die Vermarktung als Touristenziel und auch die lokalen Assoziationen und die Erinnerung an Orte betreffen. Verbot und Profit Die kapverdische Regierung reagierte auf die Folgen des Sandabbaus mit weiterer gesetzlicher Regulierung. Konnte bis in die frühen 1990er Jahre noch überall Sand abgebaut werden, wurde der Sandabbau ab dem Ende der 1990er Jahre auf einige Orte beschränkt und an Bedingungen geknüpft: mit dem Gesetz 67/1997 verbot die Regierung zunächst die Extraktion und Entnahme von Sand aus den Dünen, an den Stränden und aus Gewässern und Flussläufen im Landesinneren. Aufgrund des ansteigenden Verbrauchs von Sand und der Schwierigkeit, den Sandabbau zu kontrollieren, wurde der Erlass ein paar Jahre später verändert. Der Gesetzeserlass 2/2002 ist das jüngste Gesetz zum Sandabbau. Es beinhaltet das vollständige Verbot des Sandabbaus und deklariert die Praktik für illegal. Unter den zwanzig Artikeln des Gesetzes 2/2002 befinden sich jedoch Sonderregelungen, die den Sandabbau unter bestimmten Bedingungen zulassen. Darunter fallen Bestimmungen zur Vergabe von Extraktionslizenzen, eine Definition antragsberechtigter Unternehmen, das erlaubte Sandextraktionsvolumen, sowie Fristen und Steuern im Fall einer Lizenzierung. Zwar vergibt die Direcção Geral da Marinha e Portos (GDMP; Generaldirektion für See- und Hafenangelegenheiten) die Lizenzen nach diesen Sonderregelungen, doch oft weisen lokale Verwaltungen gegen Geldzahlung Orte als Sandabbaugebiet aus. Häufig fehlen auch die unabhängigen Studien zu Umwelteinflüssen des Sandabbaus, die für eine Lizensierung obligatorisch sind. Viele meiner Gesprächspartnerinnen betrachten diese Vergabe von Sandabbauflächen daher als Korruption, in der die lokalen Verwaltungen einerseits und Baufirmen und Investorinnen andererseits involviert sind. Gerade diese Sonderregelungen sind ein Grund dafür, dass zahlreiche Unternehmen und Einzelpersonen trotz des gesetzlichen Verbotes weiterhin Sand ab53 Der kapverdische Escudo ist mit einem fixen Umtauschverhältnis an den Euro gekoppelt. 110,265 Escudos entsprechen einem Euro.
96 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN bauen. Zudem ist der Preis für Sand immens angestiegen54 und Sandabbau hat sich zu einem profitablen Geschäft entwickelt, an dem Bauunternehmen, Transportfahrer und lokale Regierungen verdienen (MAAP 2004b: 125). Sandabbau ist darüber hinaus schwer zu kontrollieren. Viele Personen, die Sand abbauen, arbeiten nachts, um Kontrollen der Behörden und der Polizei zu vermeiden. Zudem ist der Handel mit Sand in den Händen inter-insularer Netzwerke, die für die Behörden schwer zu durchschauen sind. Naturschützerinnen und Mitarbeiterinnen aus dem Umweltministerium machen deshalb institutionelle Probleme wie mangelnde Kontrollmechanismen, die fehlende Überwachung durch die Polizei, sowie die mangelnde Sanktionierung dafür verantwortlich, dass der Sandabbau trotz des Verbotes weiter stattfindet. All diese Faktoren erschweren nach Aussagen meiner Gesprächspartnerinnen die Eindämmung des Sandabbaus, der nach ihrer Ansicht »erschreckende« Ausmaße angenommen habe. Mit der Zunahme des Sandabbaus und der fortschreitenden Zerstörung der Küsten rückte Sand in den Mittelpunkt von Naturschutzprogrammen. Zusammen mit kapverdischen und ausländischen NROs hat das Umweltministerium Maßnahmen und Projekte für den Erhalt der Küstenzonen und gegen den Sandabbau eingeführt. Der folgende Ausschnitt aus einem Vortrag, den eine Mitarbeiterin der DGA auf einer Veranstaltung des INDP in Mindelo zum Thema Küstenschutz hielt, zeigt, wie Sandabbau im Rahmen von Naturschutzprojekten verhandelt wird: »Ich glaube, vor zwei Jahren oder letztes Jahr wurde ein Plan ausgearbeitet, der die Wiederherstellung der degradierten Strände von Kap Verde und eine vernünftige Exploration der Ressourcen vorsieht. Das ist auch das Ziel: eine vernünftige Exploration der Ressourcen zu ermöglichen, die in Einklang mit den Prinzipien der nachhaltigen Entwicklung steht. Das Ganze ist auf zehn Jahre angelegt, um nicht nur die Nachhaltigkeit der Küstenökosysteme zu gewährleisten, sondern auch, um für eine größere wirtschaftliche Dynamik zu sorgen. Wir wissen, dass der Tourismus der Motor der Entwicklung Kap Verdes ist. Wenn wir keine Strände mehr haben, dann werden wir auch unseren Tourismus nicht mehr haben.« [Videotranskript, Vortrag DGA-Referentin auf einem Seminar über Schildkrötenschutz in Mindelo].
Was die Referentin als »vernünftige Exploration« von Sand bezeichnet, stellt sich als ein Versuch heraus, den Schutz der Umwelt mit der ›notwendigen‹ wirtschaftlichen Entwicklung zu kombinieren. Indem die Referentin auf die nachhal54 60 % des nationalen Verbrauchs von inertes ist in Santiago verzeichnet, alleine 62 % in Praia, bei einem durchschnittlichen Konsum von einer Tonne pro Einwohnerin (Mendes Lopes 2010: 39).
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tige Entwicklung Bezug nimmt, wird Sand gleichermaßen zu einer Ressource für eine »größere wirtschaftliche Dynamik« und zu einem Schutzobjekt. Hier offenbart sich ein Dilemma: die Rhetoriken der Nachhaltigen Entwicklung und der Naturschutzmaßnahmen moralisieren und richten sich an die ›Verursacherinnen‹ des Sandabbaus. Zu den Verursachenden zählen nicht die Bauunternehmen, die Transportfahrer oder die lokalen Regierungen, die den Sandabbau lizenzieren. Es sind die Frauen und Familien, die ihren Lebensunterhalt mit Sandabbau verdienen, die zu den Schuldigen werden.
3.5 Z USAMMENFASSUNG In diesem Kapitel habe ich dargelegt, wie die geographische Position und die biophysische Umwelt Kap Verdes während unterschiedlicher historischer Phasen mehrmals umgedeutet wurden. Ich habe bei den antiken Imaginationen über die Inseln begonnen und bin bis auf gegenwärtige Ortsbestimmungen von außen eingegangen. In den verschiedenen Bedeutungszuschreibungen spiegelten sich jeweils die Interessen der geopolitischen Zentren wider. Gegenwärtig befindet sich Umwelt in Kap Verde in einem Spannungsfeld von Tourismus und Naturschutz, das durch die Beziehungen zwischen den erläuterten Aneignungsformen von Land, Schildkröten und Sand entsteht. Dieses Spannungsfeld bildet die Rahmenbedingung für die kommenden Fallstudien, auf deren Gemeinsamkeiten ich an dieser Stelle eingehen werde. Land, Schildkröten und Sand sind Objekte des Naturschutzes und materielle und ästhetische Ressourcen des Tourismus. Als solche schreiben ihnen Akteure des Naturschutzes und des Tourismus in ähnlicher Weise diskursiv und materiell eine Bedeutung als natürliche Ressourcen zu. Naturschutzpraktiken und Tourismus bauen auf der Aneignung von ›Natur‹ auf und vermarkten diese nach den Logiken der nachhaltigen Entwicklung (Urry 1995: 3). Somit kommt es zu einer Kommodifizierung von ›Natur‹ (Fairhead, Leach und Scoones 2012), das heißt, dass ein Gegenstand – im Marxschen Sinne – zu einer Ware (commodity) wird. Für die Ware ist charakteristisch, dass nicht mehr nur die Eigenschaft eines Gutes, ein ›nützliches Ding‹ zu sein, zählt, sondern dass diesem Gut nun ein Tauschwert zukommt. Über diesen Tauschwert verfügen nur Dinge, die verkauft und ausdrücklich mit Blick auf ihren Verkauf hergestellt werden. Der Tauschwert drückt aus, welche Menge eines anderen Gutes andere bereit sind, im Austausch für die Ware zu geben. Gleichzeitig sind Land, Schildkröten und Sand mit lokalen, althergebrachten Praktiken und ökonomischen Bedürfnissen verbunden, die ebenfalls auf Bedeutungsbeschreibungen beruhen. Hieraus entsteht ein Span-
98 | GRÜNE V ERFLECHTUNGEN nungsfeld, das in ein Beziehungsgeflecht zwischen Naturschützerinnen, Tourismusunternehmerinnen, der kapverdischen Regierung, internationalen und nationalen Organisationen und Institutionen und der lokalen Bevölkerung eingebettet ist. Die Akteure sind somit über ihre Praktiken und Bedeutungszuschreibungen miteinander und mit der Umwelt involviert. Dieses Beziehungsgeflecht arbeite ich in den kommenden Fallstudien aus und lege den Fokus darauf, inwieweit die lokale Bevölkerung in Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskursen involviert ist und wie sie diese erfährt. In Kapitel 4 untersuche ich, inwiefern die räumlichen Transformationen eine Veränderung für die lokale Bevölkerung darstellen und wie Naturschutzzonen und ZDTIs die Nutzungsrechte von Stränden und Zugängen zum Meer betreffen. Wie gehen die Personen mit den Landenteignungen um? Inwieweit ähneln die räumlichen Eingriffe mithilfe von ZDTIs und Naturschutzzonen den Ressourcenpolitiken des kolonialen Kap Verdes und anderer Länder in Afrika oder Südamerika (Bollig 2009), wo sich mit der Etablierung von Salzreservaten, Waldreserven oder Plantagen die Nutzungsbedingungen von Land veränderten? In Kapitel 5 arbeite ich die verschiedenen Mensch-Schildkröten-Beziehungen aus und untersuche, wie Menschen in Kap Verde mit Schildkröten interagieren und welche Werte, Praktiken und Deutungsmuster sie gegeneinander ins Feld führen. Als bedrohte Art, als touristische Attraktion und als kulturelles Erbe hat sich die Schildkröte zu einer Projektionsfläche für umkämpfte Symboliken entwickelt. Gleichzeitig geht es um Autorität und ökonomische Interessen. Hieraus ergeben sich Fragen danach, wie Schildkrötenexkursionen zu einem Projekt der ›nachhaltigen Entwicklung‹ werden, und wie die lokale Bevölkerung Mensch-Schildkröten-Beziehungen bewertet. In Kapitel 6 untersuche ich die Rhetoriken des Naturschutzes und gehe darauf ein, wie Naturschützerinnen die Agenden von Naturschutzpolitiken und wirtschaftlicher Entwicklung verhandeln. Ich frage nach der Verbindung zwischen den Personen, die Sand abbauen, der kapverdischen Regierung, Naturschützerinnen und Bauunternehmerinnen und wie sich die Naturschutzpolitiken auf diejenigen auswirken, die Sandabbau betreiben, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und die gleichzeitig zu Objekten des Naturschutzes werden. Da ich die verschiedenen Umgangsformen mit der Umwelt aus der Sicht der Naturschützerinnen und aus der Sicht der lokalen Bevölkerung untersuche, interessiert mich vor allem, inwieweit die beteiligten Akteure materielle und diskursive Grenzziehungen (Lamont und Molnár 2002: 168) vornehmen. Diese Grenzziehungen beschränken sich nicht darauf, Grenzen zwischen touristischen Entwicklungszonen und Naturschutzgebieten physisch abzustecken, oder Schildkröten und Sand physisch zu monopolisieren. Materielle und diskursive Grenzzie-
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hungen spiegeln auch die Machtbeziehungen zwischen den beteiligten Akteuren wider. Eine übergreifende Fragestellung der drei Fallstudien ist daher, inwiefern Naturschutzdiskurse und Naturschutzpraktiken materielle und diskursive Exklusionen darstellen und wie diese Grenzziehungen die Wahrnehmung und Artikulation von Zugehörigkeiten beeinflussen.
4. Grenzverschiebungen
»Als Kind habe ich hier die Ziegen meines Großvaters geholt. Ich kenne die ganze Zone dort, da gab es nur Steine, Steine, Steine. Sicher, wenn ich dort heute vorbeikomme, ist das [Hotel Calistan] vielleicht besser als Steine. Weil Steine können wir nicht essen. Aber wenn ich an der Tür [des Hotel Calistan] ankomme, muss man den Direktor rufen, dann muss man ihn anrufen, um einzutreten.« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit Germano in einem Café in Sal Rei, Boa Vista]
Germano erinnert sich an seine Kindheit in Minão, einer alten Siedlung im Norden der Insel Boa Vista, wo er aufgewachsen ist. Heute hat sich dieses Gebiet für ihn verändert. In Minão steht das Hotel Calistan, das größte Hotel Kap Verdes. Zwar verbindet Germano mit der touristischen Entwicklung eine Verbesserung des Lebens auf Boa Vista, aber mit dem Bau des Hotels hat sich auch seine Anbindung zu diesem Gebiet verändert. Über die ›richtige‹ Lage des Hotels herrscht auf Boa Vista Uneinigkeit. Germano und viele Naturschützer-innen auf Boa Vista sind der Ansicht, dass das Hotel Calistan sich in der Naturschutzzone Minão befindet, in der eigentlich keine Bauten für touristische Zwecke errichtet werden dürften. Im Gegensatz dazu ist für die Mitarbeiterinnen der SDTIBM1 der Bau des Hotels in diesem Gebiet legitim, da es sich bei Minão aus ihrer Sicht nicht um eine Naturschutzzone, sondern um eine touristische Entwicklungszone (ZDTI) handelt. Ob die Lage des Hotel Calistans legitim ist und ob es sich bei Minão um eine ZDTI oder eine Naturschutzzone handelt, ist Teil einer Kontroverse über die Vereinbarkeit und die Überlappung von ZDTIs und Naturschutzgebieten.2 Doch die Kontroverse betrifft nicht nur die geographische Lage des Hotels oder die
1
Sociedade de Desenvolvimento Turístico das Ilhas de Boa Vista e Maio (SDTIBM),
2
Siehe Kapitel 3.
siehe Kapitel 3.
102 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN richtige Klassifizierung des Gebietes. Es geht vielmehr auch um Symboliken, Anbindungen und Rechte, die Menschen gegenüber diesen Gebieten hatten, bevor sie zu Naturschutzzonen und ZDTIs erklärt wurden. Minão ist dabei nur eines von vielen Beispielen, bei dem die Bewohnerinnen von Boa Vista ihre Anbindung an das Land und die materielle Umwelt als verändert oder als bedroht wahrnehmen. Erinnerungen an die Kindheit an diesen Orten, wie die von Germano, sind nicht bloß neutrale Erzählungen über einen Ort, sondern formulieren Bezüge, Ansprüche und Rechte gegenüber der materiellen Umwelt. Wenn Menschen ihre lokalen Anbindungen zur materiellen und immateriellen Umwelt als bedroht wahrnehmen, versuchen sie, Einfluss auf physische Transformationen zu nehmen und diskursive Deutungshoheit über sie zu bewahren (Girke und Knoll 2013: 9f). Menschen machen solche Bezüge in unterschiedlicher Weise geltend: sie äußern ihre Ansprüche in Erzählungen oder nutzen räumliche Blockaden als Form von Widerstand. Diese Strategien, mit denen Menschen einen Anspruch auf ihre Anbindungen zur materiellen Umwelt erheben, stehen im Mittelpunkt dieses Kapitels. Auf Boa Vista wird die materielle Umwelt und insbesondere Land, durch die ZDTIs und die Naturschutzzonen transformiert. Insgesamt 14 Naturschutzzonen und drei ZDTIs hat die kapverdische Regierung zusammen mit den UN und der SDTIBM ausgewiesen. In diesen Gebieten wird Land als ›Natur‹ geschützt und als touristische Ressource kommodifiziert. Mit diesen Transformationen gehen zwei wesentliche Änderungen einher: Erstens verändert die Umgestaltung von Land in ZDTIs und Naturschutzzonen die materielle Gestaltung der Umwelt, wie zum Beispiel durch Hotelbauten an Stränden oder durch Schilder, die Naturschutzgebiete markieren. Diese Veränderung von Orten betrifft soziale Beziehungen und Praktiken, die in Orte eingebettet sind. Orte sind keine geographisch fixierten Einheiten (Gupta und Ferguson 1997b) oder leere Container, die erst mit sozialen Praktiken ›gefüllt‹ werden. Vielmehr sind es multiple Erfahrungen und multiple soziale Beziehungen zwischen Menschen und der biophysischen Umwelt, die Orte definieren. Und erst durch soziale Praktiken, durch Wissen und Technologie, sowie durch Sprache und Bilder werden Räume symbolisch produziert, erfahren und verstanden (Lefebvre 1991: 38f.).3
3
Gössling (2002) zeigt, wie Raumtransformationen durch Massentourismus dazu führen, dass Menschen ihre lokalen Anbindungen verlieren und wie sich die Wahrnehmung von Ortsbezügen verändern kann. Ebenso können sich soziale Praktiken und die Wahrnehmung der Beziehung zur eigenen Umwelt durch Naturschutzparks verändern (Vivanco 2001; West, Igoe und Brockington 2006).
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Zweitens stellt die Transformation von Gebieten für touristische und ökologische Zwecke einen weltweit zu beobachtenden Trend der Aneignung dar, gegen den sich Menschen widersetzen. Unter Aneignung verstehen Fairhead, Leach und Scoones »the transfer of ownership, use rights and control over resources that were once publicy or privately owned – or not even the subject of ownership – from the poor (or everyone including the poor) into the hands of the powerful« (Fairhead, Leach und Scoones 2012: 238). Diese Definition von Aneignung von Land impliziert eine einseitige Richtung des Aneignungsprozesses von den Schwachen zu den Mächtigen. Doch die ökologischen und touristischen Transformationen von Raum verändern nicht nur die physische Umwelt, sowie soziale Beziehungen und Praktiken. Vielmehr entwickeln sich auch Praktiken, mit denen Menschen ihre Ansprüche auf die materielle Umwelt einfordern und damit in den Aneignungsprozess eingreifen und ihn umkehren. Ich argumentiere, dass Menschen durch diskursive und materielle Praktiken ihre Umwelt rekonfigurieren. Auf Boa Vista wurde Land zu einem materiellen und diskursiven Bezugspunkt, wenn die Bewohnerinnen sich den räumlichen Transformationen widersetzen. Als umkämpfter Faktor wird Land zugleich zu einer Projektionsfläche für Anbindungen, Ansprüche und Rechte. Hierbei findet eine Re-Territorialisierung statt, die für die kapverdische Gesellschaft als transnationale Gesellschaft eine Umkehr bedeutet, das kapverdische Selbstverständnis zu konstruieren. Wenn die Menschen sich in ihren Kämpfen um die Wiederaneignung von Land auf Orte beziehen, re-territorialisieren sie damit auch das kapverdische Selbstverständnis. Auf die Konstruktion Kap Verdes als de-territorialisierte, transnationale Nation reagieren die Menschen, indem sie in ihren sozialen Kämpfen um Land lokale Anbindungen an und Bedeutungen von Orten in den Vordergrund stellen. Da Orte nicht neutral, sondern Produkte von Machtkämpfen sind, können die Menschen Re-Territorialisierung als Waffe in diesem Kampf nutzen, um lokale Machtkonstellationen zu re-konfigurieren (Rössler 2009: 318). In diesem Kapitel frage ich danach, inwiefern Menschen auf Boa Vista ihre Anbindungen zu Land als bedroht wahrnehmen und welche Bedeutung Menschen der materiellen Umwelt bei der Einforderung ihrer Ansprüche einräumen. Hierfür bedarf es einer analytischen Perspektive auf Orte, die die materiellen und nicht-materiellen Dimensionen der Umwelt, sowie verschiedene Vorstellungen über sie einschließt. Margret Rodman plädiert für eine analytische Betrachtung von Orten, die politische Konstellationen miteinbezieht, sowie kulturell gebunden und historisch spezifisch ist. Sie schließt die Analyse verschiedener lokaler und ggf. auch gegensätzlicher sozialer Konstruktionen von Orten mit ein: »We need to consider how different actors construct, context and ground experiences
104 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN in place« (Rodman 1992: 652). Für Rodman sind es nicht nur die sprachlich artikulierten Bedeutungen, sondern auch die nicht-kommodifizierten Dimensionen, die Orten innewohnen und die für deren Analyse wichtig sind. Diese nichtkommodifizierten Dimensionen bezeichnet Rodman als use values, zu denen Gefühle des Sich-Zuhause-Fühlens und des Wohlbefindens zählen, wie »quiet enjoyment or feeling at home« (ebd.: 647). Use values beziehen sich damit auf emotionale Verortungen und Anbindungen, die Menschen zu ihrer Umwelt haben, und die ein Gefühl von Zugehörigkeit (Pfaff-Czarnecka 2012) ausdrücken. Oftmals existieren verschiedene Ansprüche auf die materielle Umwelt nebeneinander und stehen miteinander in Konflikt oder basieren auf verschiedenen Argumentationen. Anbindungen an die materielle Umwelt können deshalb nur in Abgrenzung gegenüber anderen Anbindungen und Ansprüchen eingefordert werden. Für die Analyse bedeutet das, dass sie in ihren Relationen zueinander untersucht werden müssen. Aus diesem Grund arbeite ich auch heraus, wie verschiedene Akteure Naturschutzzonen und ZDTIs konstruieren. Drei Auseinandersetzungen um Land veranschaulichen das Argument dieses Kapitels. Der erste Teil des Kapitels beschreibt anhand einer geplanten Informationsveranstaltung über ein Naturschutzgebiet, wie die Bewohnerinnen eines Dorfes in Boa Vista die Autorität der Naturschützerinnen in Frage stellen. Indem sie physische Präsenz zeigen und sich gleichzeitig weigern, an der Veranstaltung teilzunehmen, machen sie ihren Anspruch geltend, über die zukünftige räumliche Gestaltung ihres Dorfes mitzuentscheiden. Im zweiten Teil zeige ich, wie Taxifahrer mithilfe von Blockaden räumliche Grenzverschiebungen durchsetzen und auf diese Weise versuchen, den Zugang zu möglichen Kundinnen durchzusetzen, der durch die Einrichtung der ZDTIs eingeschränkt wurde. Im dritten Teil des Kapitels steht die diskursive Strategie im Mittelpunkt, mit der ein Bewohner von Boa Vista gegen verschiedene Formen der Aneignung einer ehemaligen Siedlung ankämpft. Im vierten Teil des Kapitels zeige ich, dass diese Praktiken der lokalen Bevölkerung auf eine Re-Territorialisierung der bisher als transnational konstruierten Gesellschaft Kap Verde hindeuten und auf diese Weise das kapverdische Selbstverständnis neu definieren.
4.1 I N B OFAREIRA Eine schlecht besuchte Veranstaltung Bofareira, ein kleines Dorf im Westen der Insel Boa Vista liegt, an der Grenze des zukünftig entstehenden Naturreservats Boa Esperança. Das Team der Áreas
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Protegidas (AP)4, das für die Umsetzung der Naturschutzgebiete auf Boa Vista zuständig ist, hatte den ca. 150 Bewohnerinnen von Bofareira im März 2012 eine Informationsveranstaltung angekündigt, bei der es um die Auswirkungen des Naturreservats für die Bevölkerung gehen sollte. Um zu zeigen, wie Naturschutzakteure Gebiete als Naturschutzzone diskursiv konstruieren, gebe ich im Folgenden zunächst Ausschnitte aus dem Vortrag wieder.5 Das Treffen findet in einem der kleinen Schulklassenräume in Bofareira statt. Die 14 bis 20 anwesenden Zuhörerinnen aus Bofareira (nicht alle sind gleichzeitig anwesend) sitzen auf nebeneinander aufgestellten Stühlen und an den seitlich zusammengerückten Tischen, den Blick nach vorne zur Tür gerichtet. Vorne stehen Luiza und Mara, zwei Mitarbeiterinnen der AP auf Boa Vista und Mutaro, der Leiter der AP, sitzt in einer der hinteren Stuhlreihen. Mara ist Biologin, kommt ursprünglich aus Guinea-Bissau und lebt seit ein paar Jahren auf Boa Vista. Luiza hat Soziologie in Praia studiert und stammt aus einem der Dörfer auf Boa Vista. Auf dem Tisch neben ihnen ist ein Laptop mit ihrer PowerPointPräsentation aufgebaut. Luiza begrüßt die Anwesenden: »Vielen Dank für Ihr Kommen, jetzt ja zum zweiten Mal. Ich glaube, dass das Treffen beim letzten Mal nicht sehr gut kommuniziert worden ist. Ich weiß nicht, ob Sie schon von dem Projekt Áreas Protegidas gehört haben?« [Videotranskript, Vortrag Luiza in Bofareira]
Luiza gibt den Anwesenden zunächst einen Überblick über das Projekt: die Regierung Kap Verdes, das UNDP, die DGA und der GEF finanzieren das Projekt Áreas Protegidas, das auf Boa Vista im November 2011 begonnen hat. Mittlerweile gibt es Daten und eine Studie, auf deren Basis sie [die Mitarbeiterinnen] die »sozioökonomische Situation« der Personen, die »mehr oder weniger« in den Naturschutzzonen leben, einschätzen können. Bofareira liegt zwar nicht in der Naturschutzzone, aber in einer Pufferzone (zona de amortecimento) zwischen dem bestehenden Naturpark Norte und dem Naturreservat Boa Esperança. Da auch die an der Grenze lebende Bevölkerung von dem Projekt »betroffen« ist, sollen sie über die Auswirkungen der neuen Gebiete informiert werden. Luiza geht zu dem »theoretischen Teil« über und startet die PowerPoint-Präsentation. Nacheinander erscheinen Landkarten und Bilder von Pflanzen und Tieren auf 4
Áreas Protegidas (AP) ist die in Kap Verde verwendete Abkürzung für das Gesamtprojekt Consolidação do Sistema de Áreas Protegidas em Cabo Verde (Konsolidierung des Systems der Naturschutzgebiete in Kap Verde). Die AP setzen sich aus Mitarbeiterinnen der UN, der DGA und des MAHOT zusammen.
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Hierbei handelt es sich um eine Paraphrasierung eines Videotranskripts.
106 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Boa Vista an der Wand des Klassenzimmers. Während sie die Bilder an die Wand projiziert stellt sie die Frage: »Was ist eine Naturschutzzone (área protegida)? Normalerweise ist das ein Raum (espaço) an Land oder im Meer, der über eine gute Sache, über etwas Wertvolles verfügt, das wir zu schützen versuchen.« [Videotranskript, Vortrag Luiza in Bofareira]
Zu den schützenswerten Elementen auf Boa Vista zählt Luiza »Fauna«, »Flora« und weitere »Ressourcen«, sowie »Formen kulturellen Lebens«. Es folgt eine Folie, die das Gesetz 3/2003 zur Verankerung der 47 bestehenden Naturschutzzonen abbildet. Luiza liest einen Teil des Gesetzestextes vor und informiert die Zuhörerinnen, dass allein 14 der 47 Naturschutzzonen von Kap Verde in Boa Vista liegen, von denen sechs bereits »in Arbeit« seien. Anschließend führt die Referentin aus, dass Naturschutzzonen im Rahmen der »globalen Übereinkunft zur Biodiversität« der UN entstanden sind. Auf Boa Vista hätten daraufhin internationale Beraterinnen die Situation der Insel »eingeschätzt« und einen Managementplan für die Umsetzung der Naturschutzzonen entwickelt. Das globale Ziel des Projekts setze sich demnach aus drei »globalen Säulen« zusammen: Biodiversitätsschutz (conservação da biodiversidade), da die Biodiversität auf Boa Vista besonders hoch sei; die Situation der Bevölkerung im Rahmen des Projekts zu verbessern, indem gute Bedingungen für die Entwicklung von »Aktivitäten mit Bezug zur Umwelt« geschaffen werden; sowie die Entwicklung eines nachhaltigen Managements der Naturschutzzonen. Während der ersten Minuten sitzen die meisten der Zuhörerinnen mit verschränkten Armen und einem Gesichtsausdruck, der Zurückhaltung und Vorsicht signalisiert, auf ihren Stühlen und folgen dem Vortrag von Luiza (Abb. 12). Nachdem Luiza die globale Bedeutung der Naturschutzzonen auf Boa Vista erläutert hat, geht sie auf die Umsetzung des Projekts auf ›lokaler Ebene‹ (nível local) ein. Sie übergibt das Wort an ihre Kollegin Mara, die nun die sechs verschiedenen Kategorien von Naturschutzzonen erläutert. Mara betont dabei mehrmals die Bedeutung der endemischen Ressourcen (recursos endémicos), die es nur hier oder besonders zahlreich auf Boa Vista gebe, wie zum Beispiel die Meeresschildkröte Caretta Caretta. Luiza setzt den Vortrag fort und zeigt anhand einer weiteren Karte, wo die Naturschutzzonen in Boa Vista liegen und welches genau die Pufferzone ist, in der sich Bofareira befindet. Die Zuhörerinnen richten sich auf und beugen sich nach vorne, um die Karte genauer zu betrachten. Sie zeigt die räumliche Abgrenzung der Naturschutzzonen in und um Bofareira und veranschaulicht jetzt auch visuell, inwieweit die physischen Grenzziehungen sich auch auf die Wohnbereiche der Einwohnerinnen von Bofareira erstrecken.
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Luiza erläutert anhand der drei im Norden gelegenen Dörfer Fundo das Figueiras, João Galego und Cabeço do Tarafes, die alle im Naturschutzpark Norte liegen, wie sich die Naturschutzzonen auf Wohngebiete auswirken. Zunächst spricht sie über die Einwohnerzahl in den drei Orten und über deren Wirtschaftszweige Landwirtschaft, Tourismus und Fischerei. Es gebe jedoch »schwerwiegende Probleme« in dieser Zone, die sie nacheinander als »schlechte Aktivitäten« benennt: die Sandextraktion und die Entnahme von Gestein (wobei sie nicht anspricht, wer dabei involviert ist), das Müllproblem und die fehlende Kanalisation, sowie die illegale Fischerei. In João Galego gebe es zudem »immer noch« ein Problem mit dem Schildkrötenfang und andere »soziale Probleme« wie Arbeitslosigkeit, mangelnde Sicherheit und schlechte Trinkwasserqualität. Auch als Luiza über die Ergebnisse der erhobenen sozioökonomischen Daten zur Bevölkerung auf Boa Vista berichtet, die in oder an der Grenze der áreas protegidas lebt, folgen die Zuhörerinnen aufmerksam dem Vortrag der Referentin. Für Luiza ist das Wissen über diese »Probleme« die Grundlage, auf der nun Aktivitäten entwickelt werden können, die zur Unterstützung und zum Erfolg des Projekts beitragen. Da der Erfolg des Projektes von der Bevölkerung abhänge, seien Maßnahmen gegen die »schlechten Aktivitäten« besonders wichtig. Zudem, führt Luiza aus, gebe es auch »lokales Potenzial« in den Naturschutzzonen: lokale handwerkliche Traditionen und Fertigkeiten, die unter legalen Bedingungen auszuschöpfenden Fischressourcen und unsere »Kultur«, die zum Beispiel für einen Naturtourismus ein wichtiger Bestandteil sei.6 Die diskursive Konstruktion von Naturschutzgebieten Anhand der Beobachtungen bei der Informationsveranstaltung lässt sich herausarbeiten, wie die Naturschützerinnen Naturschutzgebiete diskursiv erschaffen. Mit der diskursiven Konstruktion von Naturschutzgebieten konfigurieren sie auch die soziale Beziehung von Menschen zu ihrer Umwelt neu. Drei Argumentationsmuster sind dabei besonders auffällig und traten auch in anderern Veranstaltungen zum Naturschutz auf: 1. Die Trennung von Natur und menschlicher Sphäre, 2. eine Lokal-Global-Rhetorik und 3. die Bewertung des Verhaltens der Bevölkerung. Das erste Argumentationsmuster zeigt sich bereits zu Beginn des Vortrags: Mit der rhetorischen Frage, was eine Naturschutzzone sei, markiert die Referentin ›Natur‹ und Naturschutzgebiet als etwas, was nicht in der menschlichen Sphäre liegt. In einem diskursiven Prozess trennt sie ›Mensch‹ und ›Natur‹ und erklärt Natur zu etwas Externem und Naturschutz zu einem Feld, das Menschen 6
Einige Minuten später endete die Präsentation.
108 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN gestalten können (Luke 1995). Das Feld wird darüberhinaus zu einem professionalisierten Expertenfeld, in dem ein detailliertes Wissen zu Biodiversität und zu ›endemische Ressourcen‹ als »Ökowissen« (Luke 1995: 57) die notwenidge Grundlage darstellt, um ›Natur‹ zu erklären und zu gestalten. ›Natur‹ ist somit durch Wissen und technisiertes und ›nachhaltiges Management‹ plan- und gestaltbar. Die Aufzählung der beteiligten Akteure DGA, UNDP und GEF sowie die Erwähnung von internationalen Beraterinnen und deren Managementplänen machen die Naturschutzzonen zu einem global legitimierten Expertenprojekt. Wenn machtvolle Expertinnen sich auf ›Ökowissen‹ beziehen, wirkt das auf Nicht-Expertinnen disziplinierend und ermächtigt die Expertinnen, über die Gestaltung von Umwelt zu entscheiden. Diesen Mechanismus der Disziplinierung hat Luke (1995) Phänomen als environmentality7 beschrieben und steht im Trend einer Professionalisierung von Naturschutz. Hierbei handelt sich nicht um ein neues Phänomen, sondern beschreibt eine häufig auftretende Praktik von Naturschutzakteuren, um Projekte zu legitimieren und durchzusetzen (Brosius 1997; Nygren 2003). Das zweite Argumentationsmuster der Naturschützerinnen ist eine LokalGlobal- Rhetorik, mit der sie lokale Orte zum Teil einer globalen Umwelt werden lassen. Indem sie den Schutz der Biodiversität einfordern, beanspruchen sie natürliche Ressourcen, die zuvor anderen oder niemandem gehörten. Dies geschieht durch den Bezug auf die besondere Stellung der Insel innerhalb des nationalen Naturschutzprojekts, sowie auf die endemischen Ressourcen, die die Referentinnen unter dem Begriff der Biodiversität in Bofareira zusammenfassen. ›Biodiversität‹ hat sich als einflussreiches »symbolisches Eigentum« von Naturschutzinstitutionen etabliert (Doane 2012: 20) und verändert die Sichtweise, wie Menschen ihre Umwelt wahrnehmen, bewerten und mit ihr umgehen (Takacs 1996: 338). Das Konzept von Biodiversität, wie es durch Naturschützerinnen verwendet wird, ist global angelegt (Takacs 1996; Escobar 2006 [1998]). Biodiversität ist zwar an lokalen Orten verortbar und beobachtbar, bezeichnet aber eine Vielfalt an mehreren Orten. Erst zusammen machen die verschiedenen Orte ›Biodiversität‹ aus. Der Verlust von Biodiversität an einem Ort hat demzufolge Konsequenzen für die globale Biodiversität. Das dritte Argumentationsmuster, mit dem die Referentinnen die Naturschutzzonen konstruieren, betrifft die Beziehung der Bevölkerung zur ihrer Umwelt. Indem sie die sozialen Praktiken der Bevölkerungen als »Potenzial« oder als »schlechte Aktivitäten« benennen, bewerten und verändern sie die Beziehung von Menschen zu ihrer Umwelt. Die Referentinnen beziehen die Bevölkerung und ihre Praktiken in das Naturschutzprojekt ein, indem sie ihnen indi7
Siehe Einleitung.
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rekt zwei mögliche Rollen, als Hüterinnen und oder als Zerstörerinnen von ›Natur‹ anbieten. Diese zwei Rollen korrespondieren mit zwei wiederkehrenden Bildern in Naturschutzdiskursen. Zum einen existiert ein Bild des »edlen Wilden« (Redford 1991), der in Einklang mit der ›Natur‹ lebt und deshalb einen ausgewogenen (nachhaltigen) Umgang mit Tieren und Pflanzen entwickeln konnte. Milton zufolge hängen Naturschützerinnen besonders an diesem Bild, da es die Ausgangsbasis für deren fundamentale Kritik an der Industrialisierung schafft (Milton 1996: 31). Zum anderen hat sich gegenüber dem Bild des ›edlen Wilden‹ das Bild eines Zerstörers von ›Natur‹ entwickelt, das Naturschützerinnen vor allem dann anwenden, wenn lokale Praktiken nicht mit den westlichen Naturschutzvorstellungen korrespondieren (vgl. Ellis 2003; Halder 2003; Nygren 2003). Hüterinnen und Zerstörerinnen von Natur und die damit verbundenen Praktiken sind relational konstruierte Rollen. Beide hängen davon ab, wie Praktiken mit Bezug auf Naturschutz bewertet werden. Beide Rollen entwickelten sich in westlichen Denktraditionen der Romantik und stehen in Verbindung zu Mensch-Umwelt-Verhältnissen in der industrialisierten Gesellschaft (Milton 1996). Eine zentrale Annahme dieser Denkrichtung ist, dass nicht-industrialisierte Gesellschaften eine ursprüngliche ökologische Weisheit besitzen. Es handelt sich dabei nicht um eine reale Beschreibung des Verhaltens lokaler Bevölkerungen in nicht-industrialisierten Gesellschaften, sondern um eine Projektion der Kultur-Natur-Dichotomie auf andere Gesellschaften. Diese Rollenzuschreibungen haben sich zu Maßstäben des richtigen menschlichen Verhaltens entwickelt (West, Igoe und Brockington 2006: 256), und damit zur moralisierenden Bewertung von Mensch-Umwelt-Beziehungen. Mit den beschriebenen drei Argumentationsmustern konstruieren die Naturschützerinnen ein abstraktes Bild von Bofareira und Boa Vista als BiodiversitätsHotspot und übertragen dieses simplifizierte Bild von ›Natur‹ auf das Leben der Bevölkerung und auf deren Praktiken. Naturschutzgebiete werden so zu einer Sichtweise, um die Welt zu verstehen (West, Igoe und Brockington 2006). Diese Sichtweise ist zudem eine diskursive Form der Aneignung, bei der ›Natur‹ bereits vor ihrer physischen Veränderung umgestaltet wird (Luke 1995). Inwieweit stellt diese Sichtweise die Beziehungen, die Menschen zu ihrer Umwelt haben, in Frage, und wie reagieren Menschen darauf? Aussitzen Dem Vortrag in dem Klassenzimmer in Bofareira gingen zwei angekündigte Treffen voraus, die nicht stattgefunden haben, da die Bewohnerinnen Bofareiras
110 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN sie verhinderten.8 Ein paar Tage vor der oben beschriebenen Präsentation hatten die AP-Mitarbeiterinnen ein erstes Treffen angekündigt und waren mit ihrem Wagen von Sal Rei nach Bofareira gefahren. Kurz vor dem angekündigten Beginn der Präsentation um 17 Uhr treffe ich Mutaro und die zwei Mitarbeiterinnen auf dem praça (Dorfplatz) von Bofareira. Mutaro sitzt auf der niedrigen Mauer, die den praça umgibt. Er sagt, er warte darauf, dass sich die Leute in dem Klassenraum einfänden. Dort hat Mara bereits ihren Laptop aufgebaut und die Stuhlreihen hergerichtet. Eine halbe Stunde nach angekündigtem Veranstaltungsbeginn hat sich noch niemand aus Bofareira in dem Klassenraum eingefunden. Jedoch sind die Bewohnerinnen des Dorfes anwesend: auf dem praça sitzen mehrere Personen auf der Mauer und auf den kleinen Bänken gegenüber von Mutaro, Luiza und Mara, die etwas entfernt nebeneinanderstehen. Ein paar Leute spazieren auf und ab, unterhalten sich gelegentlich miteinander. Zwei alugers,9 die vermutlich aus Sal Rei kommen, halten auf dem praça an. Weitere Bewohnerinnen von Bofareira steigen aus und gehen in Richtung ihrer Häuser. Einige von ihnen verweilen zunächst am praça, grüßen die dort sitzenden Personen und unterhalten sich. Die Mitarbeiterinnen der AP werden zunehmend unruhiger und versuchen, die anwesenden Personen dazu zu bringen, an dem Treffen teilzunehmen. Mutaro und Luiza machen die am praça umherstehenden, sitzenden und vorbeilaufenden Bewohnerinnen wiederholt darauf aufmerksam, dass jetzt das angekündigte Treffen stattfindet. Auf die Aufforderungen, sich in den Klassenraum zu begeben, erwidern einige der Bewohnerinnen, dass sie nichts von dem Treffen gewusst hätten. Andere sagen Luiza – teilweise im Vorbeigehen –, sie hätten keine Zeit. Wieder Andere schweigen, schütteln den Kopf oder lächeln und gehen an den Mitarbeiterinnen vorbei. Die Mehrheit bleibt jedoch in unmittelbarer Nähe der Mitarbeiterinnen und Mutaro, um den praça herumsitzend und stehend, hin und her spazierend, sich unterhaltend oder schweigend. Keiner von ihnen lässt sich auf ein längeres Gespräch mit den Mitarbeiterinnen ein und keiner begibt sich in den Klassenraum. Fast eine Stunde lang beobachte ich dieses Zusammentreffen der Bewohnerinnen von Bofareira und der AP am praça. Nach einer Stunde beschließen Mutaro, Luiza und Mara, nach Sal Rei zurückzufahren. Bevor sie in ihren Wagen steigen, sagt Mara mir, dass das Treffen bereits am Vortag hätte stattfinden sol8
Luiza geht zu Beginn der beschriebenen Präsentation auf diese erfolglosen Treffen ein, als sie sagt, das Treffen beim letzten Mal sei nicht sehr gut kommuniziert worden.
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Alugers (aluger, Miete) sind private Sammeltaxis, meistens Pick-up-Fahrzeuge, mit denen der Großteil des Transports (Personen, Material) auf Boa Vista durchgeführt wird.
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len. Da aber niemand erschienen sei, hätten sie die Leute über das heutige Treffen nochmals in Kenntnis gesetzt. Aber auch heute seien die Personen anscheinend nicht genügend »informiert« gewesen. Während sie spricht, setzt sie das Wort mit ihren Händen in Anführungszeichen. Ihrer Ansicht nach wollten die Personen nicht zu dem Treffen kommen. Auseinandersetzung um Raum Die Beobachtung am praça beschreibt eine nonverbale Praktik, mit der die Menschen ihre Anbindung zu Orten artikulieren. Bereits zweimal hat die Bevölkerung die angekündigte Präsentation verhindert, indem sie nicht an der Veranstaltung teilnahm, obwohl sie anwesend war. Bei der Weigerung, an den Treffen teilzunehmen, handelt es sich nicht um »Passivität« und »Desinteresse« gegenüber dem Naturschutz – wie es die AP-Mitarbeiterinnen interpretieren –, sondern um eine lokale Form des Widerstands, die auch für andere Regionen dokumentiert ist (vgl. Nygren 2003). Die Bewohnerinnen von Bofareira wählten jedoch keine offizielle öffentliche und organisierte Form des politischen Widerstandes, sondern eine Strategie bei der »all political action takes forms that are designed to obscure their intentions or to take cover behind an apparent meaning« (Scott 1990: 199). Doch wieso waren sie anwesend und haben Präsenz gezeigt? Sie hätten auch ganz wegbleiben oder mit den Mitarbeiterinnen der AP über das Projekt diskutieren können. Weshalb haben sie diese nonverbale Form des Widerstandes gewählt? Gerade die Tatsache, dass die Bewohnerinnen gleichzeitig anwesend waren und nicht an dem Treffen teilnahmen, verdeutlicht eine Auseinandersetzung um Raum und eine Anfechtung lokaler Machtkonstellationen. Indem die Bewohnerinnen ihre Praktik auf den materiellen Raum, in diesem Fall den praça in Bofareira ausrichteten, gestalteten sie die Interaktionen mit den Mitarbeiterinnen der AP und re-konfigurierten dabei die Machtkonstellationen der Positionen. Ihre physische Präsenz verkörpert einen Anspruch auf ihren Ort Bofareira, ihr Zuhause, das sie gegenüber den Praktiken der Mitarbeiterinnen der AP verteidigen. Damit setzt die Bevölkerung den Mitarbeiterinnen der AP eine Autorität entgegen und geht gegen die diskursive Aneignung von Land vor. Die Bewohnerinnen hatten sich nicht untereinander abgesprochen, nicht an der Präsentation teilzunehmen, wie ich in nachfolgenden Gesprächen mit ihnen erfuhr. Das Aussitzen entwickelte sich eher im Zuge der Situation: da jeder sehen konnte, dass Nachbarinnen oder Familienmitglieder am Aussitzen am praça teilnahmen, bestärkten und vergewisserten sich die Menschen gegenseitig, an der Aktion teilzunehmen. Anstatt den Widerstand zu organisieren und zu formalisie-
112 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN ren, entwickelte sich die Strategie also situativ, zu einer Zeit an einem Ort innerhalb der Gemeinschaft, indem die Personen zwar individuell, aber dennoch gemeinsam agierten. Diese Form des Widerstandes bot einen »cover« und eine »structure« (ebd.: 200) und machte es für Außenstehende schwer, eine politische Agenda oder eine Führungsperson zu identifizieren. Der Widerstand am praça in Bofareira muss zudem auch in Hinblick auf die anderen Erfahrungen betrachtet werden, die Menschen mit Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskursen machen. Dafür ist es hilfreich, Widerstand selbst als eine menschliche Erfahrung (Gupta und Ferguson 1997b: 19) zu begreifen, über die Menschen ihr Selbstverständnis konstruieren. Viele Bewohnerinnen von Boa Vista sind bereits seit mehreren Jahren von Naturschutzprojekten betroffen und haben in diesem Zuge Transformationen von Gebieten und Regulierungen ihrer Praktiken erfahren. Die Bewohnerinnen aus Bofareira waren oftmals der Meinung, dass der Staat, die NROs und die AP nur ihre eigenen Interessen verfolgten und die einzigen seien, die von den Veränderungen profitierten. Diese Erfahrung machten sie bei verschiedenen Seminaren und Präsentationen, die sie als »show« bezeichneten, da sie ihre Interessen dort nicht berücksichtigt fanden. Ich habe bei mehreren solchen Seminaren auf Boa Vista miterlebt, dass die meisten meiner Gesprächspartnerinnen den Naturschutz als eine Politik der NROs, der IOs und des Staates sahen, um Land anzueignen und den Zugang zu Land einzuschränken. Zudem ist die Struktur solcher Seminare oftmals auf einen Konsens angelegt, so dass kritische und konträre Positionen in den Endberichten der Veranstalterinnen keinen Platz finden. In einem Seminar auf Boa Vista musste ein Bewohner den Raum verlassen, da er die Autoritätsansprüche der AP auf den Inseln kritisierte, woraufhin er keine Seminare mehr besuchte. Durch solche Vorfälle hat sich auch eine Abneigung gegenüber der Art und Weise, wie in solchen Seminaren gearbeitet wird, und gegenüber den dort geltenden Regeln herausgebildet10 und führt ebenso dazu, dass Menschen sich weigern, an den Präsentationen teilzunehmen. Wegen solcher Vorerfahrungen antizipierten die Bewohnerinnen mit der Ankündigung des angrenzenden Naturparkes bereits im Vorfeld eine Veränderung in ihrem Zuhause. Allein in der Anwesenheit der AP sahen sie eine Bedrohung ihres Zuhauses und ihrer Lebensweise. Praktiken wie das Aussitzen am praça zeigen, wie Menschen sich gegen die Aneignung ihrer materiellen Umwelt und gegen eine Re-Konfiguration ihrer sozialen Beziehungen widersetzen. Dabei handeln sie aktiv und re-konfigurieren durch ihre sozialen Praktiken gemeinsam 10 Challinor (2008a) zeigt in ihrer Studie über die Entwicklungsprogramme in Kap Verde in den 1990er Jahren, wie sich einzelne Teilnehmerinnen weigern, sich solchen Seminarregeln zu unterwerfen.
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ihren Bezug zur materiellen Umwelt. Im Zuge der sozialen Praktiken wird der praça zu einem Raum sozialer Konstitutiertheit (Lefebvre 1991), indem sich der Aneignungsprozess der Bewohnerinnen von Bofareira mit der Repräsentation des Dorfes als Teil des Naturschutzprojektes vermischt.
4.2 V OR DEM H OTEL C ALISTAN Eine weniger versteckte Form der Auseinandersetzung um Raum findet zwischen Taxifahrern, Hotelbetreiberinnen und der lokalen Verwaltung von Boa Vista statt. Sie betrifft den Transport von Touristinnen im Kontext von ZDTIs und Naturschutzzonen. Seit den Anfängen des Tourismus auf Boa Vista im Jahr 2003 profitierten fast ausschließlich die dort lebenden Taxifahrer vom Transport der Touristinnen. Auf der Insel existiert kein öffentliches Transportsystem11 und die damals ansässigen Reiseagenturen erledigten nur einen kleinen Teil der Transporte. Somit fuhren die Taxifahrer den Großteil der Touristinnen nach deren Ankunft am Flughafen von Sal Rei in die Hotels oder in die Pensionen und holten sie von dort auch wieder ab. Für eine einfache Fahrt vom Flughafen in das am weitesten entfernten Hotel verdient ein Taxifahrer bis zu 40 Euro.12 Die Taxifahrer waren auch diejenigen, die den Touristinnen Erkundungstouren über die Insel anboten und verdienten dabei zwischen 80 und 100 Euro pro Tour. Viele der touristischen ›Sehenswürdigkeiten‹ wie das alte Schiffswrack Cabo Santa Maria, befinden sich an Orten, die nur auf sehr holprigen Wegen und durch Sanddünen zu erreichen sind. Touristinnen, die sich selbst Wagen ausleihen, um die Insel zu besichtigen, bleiben oft im Sand stecken oder beschädigen die Reifen auf den steinigen Wegen und kommen dann nicht weiter. Ortskundige Fahrer mit eigenen Fahrzeugen sind daher gefragte Dienstleister, um die Insel touristisch zu erkunden. Mit diesen Aktivitäten verdienen die Taxifahrer auf Boa Vista zwischen 200 und 400 Euro pro Monat, je nachdem wie viele Touristinnen vor
11 Taxis und alugers haben auf Boa Vista die gleiche Funktion des Personentransports. Die Bevölkerung auf Boa Vista fährt mit alugers, als Taxis werden nur die Fahrzeuge, die Touristinnen transportieren, bezeichnet. In Santiago werden alugers eher für den Materialtransport verwendet und Taxis sind keine Pick-ups, sondern kleinere Personenfahrzeuge. 12 In diesem Kapitel übernehme ich die Terminierung meiner Gesprächspartnerinnen, für die der Euro die primäre Währung darstellte. Diese sprachliche Auswahl deutet auch darauf hin, wie stark der Tourimus im Lebensalltag von Boa Vista verankert ist.
114 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Ort sind, im Gegensatz zu dem üblichen monatlichen Durchschnittsgehalt von 180 Euro auf Fogo oder Santiago. Doch die touristische Nachfrage nach Taxifahrern und damit auch deren Verdienstmöglichkeiten, haben sich seit dem Jahr 2007 verringert, wofür hauptsächlich zwei Gründe verantwortlich sind. Immer mehr Taxifahrer zogen nach Boa Vista, beziehungsweise nahmenimmer mehr Menschen auf Boa Vista die Tätigkeit als Taxifahrer auf. Die zunehmende Zahl von Touristinnen seit dem Jahr 2003 und die damit zusammenhängenden Verdienstmöglichkeiten machten Boa Vista – wie ein paar Jahre zuvor die Insel Sal – für Kapverdierinnen von anderen Inseln attraktiv, die auf ihren Heimatinseln keine oder schlechte Arbeitsmöglichkeiten hatten. Von den insgesamt 150 Taxifahrern auf Boa Vista sind nur wenige von der Insel. Die Mehrheit kommt von Santiago, Santo Antaõ oder São Vicente. Alle Taxifahrer, mit denen ich im Laufe meiner Zeit auf Boa Vista sprach, erzählten mir, dass sie hier in den letzten Jahren »sehr gut« verdient hätten. Ihr Einkommen auf Boa Vista war im Durchschnitt dreimal so hoch als auf ihren Heimatinseln und so schickten viele einen Teil ihres Verdienstes an ihre zurückgebliebenen Familienmitglieder. Einige meiner Gesprächspartner haben bereits als Taxifahrer gearbeitet, bevor sie nach Boa Vista gezogen sind, andere fingen erst auf Boa Vista damit an. Alle Taxifahrer waren männlich, und die meisten von ihnen zwischen 18 und 35 Jahre alt. In Praia oder auf Santo Antaõ hatten sie im Baugewerbe gearbeitet oder waren Gelegenheitsarbeiten nachgegangen. Unter ihnen waren jedoch auch ausgebildete Feuerwehrmänner oder ältere Männer, die vorher Fischer gewesen waren oder in der Landwirtschaft gearbeitet hatten. Um auf Boa Vista Taxi zu fahren, mussten die Männer finanziell investieren. Auf Boa Vista sind die Lebenshaltungskosten fast doppelt so hoch wie auf den anderen Inseln. Viele der Taxifahrer leben in den barákas, um die Kosten für ihre Wohnung so gering wie möglich zu halten. Die meisten von ihnen wollen wieder auf ihre Inseln zurück, weshalb sie nicht viel in ihre Unterkünfte investieren. Wenn die Taxifahrer bereits ein eigenes Taxi besitzen – meistens einen Pick-up –bringen sie es mit einem der Güterschiffe nach Boa Vista. Der Kauf eines eigenen Wagens ist oft nur durch die Finanzierung über einen Kredit möglich, den die Taxifahrer viele Jahre abbezahlen. Daher fahren die meisten mit Wagen, die ihnen andere zur Verfügung stellen. In diesem Fall müssen sie einen Teil ihres Verdienstes an die Besitzerinnen des Fahrzeugs abgeben. Häufig teilen sich die Taxifahrer zu zweit oder zu dritt einen Wagen. Das erhöhte Angebot an Taxifahrern führte zu einer verschärften Konkurrenz. Zeitweise unterboten sie sich gegenseitig mit niedrigeren Fahrpreisen, was sie jedoch bald aufgaben, da sie mit den geringen Einnahmen die ansteigenden
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Dieselpreise nicht bezahlen konnten. Die Konkurrenz unter den Taxifahrern und die Verschlechterung der Verdienstmöglichkeiten wurden des Weiteren dadurch verstärkt, dass ausländische Reiseagenturen begannen, selbst Transportmöglichkeiten für Touristinnen bereitzustellen. Mit der Eröffnung zweier Hotelresorts in den Jahren 2007 und 2011 übernahmen Reiseagenturen und die Resorts selbst den Großteil des touristischen Transports. Die Fahrer sind meist Boavistenser, die auch als Reiseleiter für die Reiseagenturen tätig sind. Die Reiseagenturen bieten den Transport als Teil der all inclusive-Pakete oder als Service des Hotels an. Die meisten Touristinnen benutzen somit deren Reisebusse, Jeeps oder kleinere Busse für die Fahrten vom Flughafen zu den Hotels und zurück, sowie für Ausflüge nach Sal Rei oder über die Insel. Von den ca. 200 Menschen, die mit einer Maschine aus Deutschland, Italien oder Frankreich anreisen, fahren zwei Drittel mit den großen Bussen der Reiseagenturen oder der Hotels in die jeweiligen Resorts. Für die 20 bis 30 Taxifahrer, die bei der Ankunft der Maschinen am Flughafen stehen und auf die Touristinnen warten, bleibt nur eine Handvoll potenzieller Kundinnen, die sie sich aufteilen müssen. Auch die Inseltouren machen die Touristinnen zunehmend mit den Reiseagenturen oder leihen sich selbst Wagen dafür aus. Nachdem die großen Resorts in den ZDTIs gebaut wurden, hat die zuständige Planungsinstanz SDTIBM auch den Ausbau asphaltierter Straßen umgesetzt und touristisch wichtige Punkte mit einem Straßennetz verbunden. So können die Touristinnen die Insel eigenständig erkunden und die Reiseagenturen aus Europa sind nicht mehr auf ortskundige Fahrer angewiesen. Abschottungen Die Veränderung des touristischen Transports hängt auch mit der räumlichen Abgrenzung der Hotelresorts in den ZDTIs zusammen und schränkt die Arbeitsmöglichkeiten der Taxifahrer ein. Die vier großen Hotelresorts, die die Mehrzahl der Touristinnen auf Boa Vista beherbergen, liegen in den drei existierenden ZDTIs Santa Mónica West, Chave und Morro de Areia. Diese drei Zonen befinden sich an den zuvor ›unberührten‹ Küstenstreifen und sind zum Teil bis zu 40 Minuten vom Flughafen und von der Hauptstadt Sal Rei entfernt. Obwohl die ZDTIs nicht durch Zäune oder Mauern markiert sind, ergibt sich durch die Infrastruktur der darin liegenden Hotels eine räumliche Abschottung. Schranken versperren die Zufahrten zu den Resorts und Wachpersonal überprüft, wer das
116 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Hotel betritt.13 Nicht zum Hotel zugehörige Personen dürfen das Gelände nicht betreten, es sei denn, sie verfügen über ›Beziehungen‹ zu den Hotelmanagerinnen oder zu den Hoteldirektorinnen. Auch für Taxifahrer ist die Zufahrt in die Hotelanlagen versperrt. Sie kommen weder durch die Schranke, noch bis vor die ein paar Meter dahinterliegenden Eingangstüren der Hotels. Als die Hotels eröffneten und die Anzahl der Touristinnen merklich anstieg, begannen die Taxifahrer, ihre Wagen vor den Zufahrten der Hotels zu parken. Doch dort sie hatten keine Möglichkeit, Kundinnen aufzunehmen. Unmittelbar vor den Hotels gibt es keine ›Laufkundschaft‹, da die ZDTIs weit von den Städten und Dörfern entfernt liegen und die Touristinnen nicht zu Fuß ihre Hotels verlassen oder in sie zurückkehren (außer am Strand entlang). Die ZDTIs liegen in zuvor unbewohnten Gebieten, und so existieren entlang der Straßen von den Hotels zur Stadt oder zum Flughaften keine Restaurants oder Geschäfte. Wenn die Touristinnen die Resorts verlassen oder in sie zurückkehren, sitzen sie bereits in den Fahrzeugen der Reiseagenturen oder des Hotels. Die Taxifahrer, die vor den Zufahrten neben ihren Wagen stehen oder in ihnen sitzen, rufen den Touristinnen »Taxi, Taxi« zu, um auf sich und ihre Dienstleistungen aufmerksam zu machen. Der damalige Direktor des Hotel Calistan sagte mir, dass es für die Touristinnen »störend« gewesen sei, von den Taxifahrern bei jeder Ein- und Ausfahrt ihre Dienstleistung »aufgedrängt« zu bekommen. So verboten die Direktionen aller großen Hotels den Taxifahrern nach und nach das Parken vor den Hotelzufahrten und weiteten die Abschottungen auf den Raum vor den Zufahrten aus. Mit dieser Abgrenzung entsteht sich eine »enclave industry« (Britton 1996: 159), in der die großen Reisagenturen in Zusammenarbeit mit den Resortbetreiberinnen und der lokalen Regierung von Boa Vista die Bewegungen der Touristinnen und die räumliche Organisation touristischer Dienstleistungen reglementieren. Für lokale Dienstleisterinnen bestehen so kaum Möglichkeiten, sich am Geschäft mit dem Tourismus zu beteiligen und davon zu profitieren. Lähmungen Die räumlichen Beschränkungen führten in den letzten Jahren zu einem Konflikt zwischen den Taxifahrern und den Hoteldirektionen, der sich in erster Linie räumlich manifestiert. Dani aus der Stadt Pedra Badejo auf der Insel Santiago arbeitet seit 2002 als Taxifahrer auf Boa Vista. Er ist 30 Jahre alt und besitzt sei13 Die dort untergebrachten Touristinnen sind an den all inclusive-Armbändern zu erkennen. Auch die Hotelmitarbeiterinnen werden von den hoteleigenen Bussen in das Resort gebracht.
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nen eigenen, immer glänzenden roten Pick-up, den er noch ein paar Jahre abbezahlen muss. Auf einer unserer Fahrten von Sal Rei zum Hotel Calistan erzählte Dani, dass er Mitglied einer associação (Verband) auf Boa Vista sei, die einige Taxifahrer gegründet haben, nachdem sich deren Arbeitssituation zunehmend verschlechtert hatte: »Wir haben einen Verband gegründet, weil wir Taxifahrer hier in Boa Vista ein Problem mit der Arbeit haben. Es gibt hier viele Gäste, viele Touristen. Aber wir, wir können nicht arbeiten, weil alle Hotels ihre Fahrzeuge drinnen haben. Das war im Hotel Granada so, aber dort haben wir gestreikt, und dann haben sie sie [Fahrzeuge] rausgenommen. Aber im Auramar und Solimar sind die Taxen drinnen. Da wollen wir streiken […] Den Verband gibt es schon seit einem Jahr, aber erst seit diesem Jahr ist er stärker. Davor hatte er keinen Zweck, niemand hat etwas gemacht. Aber jetzt schon, weil die Arbeit sich von Tag zu Tag verschlechtert, verstehst du?« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit Dani während einer Taxifahrt auf Boa Vista]
Bei der associacão von der Dani spricht und deren offiziellen Namen er das ganze Gespräch über nicht erwähnt, handelt es sich um die Liga dos Condutores da Boa Vista (LCBV; Bund der Taxifahrer auf Boa Vista). Die LCBV wurde im Jahr 2011 gegründet und hat zunehmend an Bedeutung gewonnen, da sich die Transportbetriebe der Hotels immer mehr auf die Arbeitsbedingungen der Taxifahrer auswirken. Zum Zeitpunkt meiner Feldforschung hatte die LCBV 55 Mitglieder. Mit dem Verband haben die Taxifahrer eine Handlungsform gefunden, um gemeinsam ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Dani beschreibt die Gemeinschaft der Taxifahrer als Akteure, die bereits angefangen haben, ihre Situation zu lösen und die auch in Zukunft für ihre Belange eintreten werden. Im Verlauf des Gesprächs konkretisiert er, wie er den Konflikt mit den Hotelbetreiberinnen wahrnimmt: »Im Hotel Granada ist die Sache schon gelöst. Das Hotel Granada hatte früher zwei Taxis drinnen. Wir standen mit unseren Taxis Tag und Nacht vor dem Tor, um zu arbeiten. Aber sie sind mit ihren anderen Autos durchs Tor rein und wieder raus, und wir, wir standen da, wie stillgelegt (parádu).« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit Dani während einer Taxifahrt auf Boa Vista]
Dani zeichnet hier zweites, diesmal jedoch passives Bild der Taxifahrer: sie stehen »Tag und Nacht vor dem Tor«, sehen zu, wie andere Autos »durchs Tor rein und raus« fahren und warten darauf, arbeiten zu können. Besonders mit dem Begriff parádu (ohne sich fortzubewegen, stehend, arbeitslos) verdeutlicht er, in
118 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN welchem Ausmaß er die räumliche Einschränkung erfährt. Parádu bedeutet nicht nur einen physischen Stillstand, sondern weist auch darauf hin, dass die Möglichkeit zum Handeln unterbrochen oder stillgelegt wurde. Parádu weist in diesem Zusammenhang auch auf einen sozialen Ausschluss hin, den andere verursacht haben. Mit parádu beschreibt Dani ein Gefühl der Lähmung, das sich durch die räumliche Exklusion durch das Parkverbot vor den Hotels und durch eine soziale Exklusion, in Form der Nicht-Beachtung seiner Arbeitskraft und seiner Person, entwickelt. Diese soziale Exklusion hängt mit anderen Erfahrungen zusammen, die die Taxifahrer im Zuge der touristischen Entwicklung auf Boa Vista machen. Dazu zählen Situationen, in denen die Touristinnen am Flughafen oder in der Hauptstadt Sal Rei auf die Taxifahrer treffen und ihre Dienstleistungen ablehnen. Die Taxifahrer fühlen sich darüber hinaus von den Mitarbeiterinnen der Reiseagenturen und der Hotelbetreiberinnen zu Unrecht diffamiert. Sie erzählen, dass Reiseleiterinnen und andere Personen in den Hotels Angst (médu) vor der lokalen Bevölkerung und insbesondere gegenüber den Taxifahrern schürten, so dass die Touristinnen sich nicht mehr trauten, allein mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten. Auch andere Personen auf der Insel ärgerten sich immer wieder über die Diffamierung der lokalen Bevölkerung in den Hotels auf Boa Vista. Solche Diffamierungen gehen unter anderem von den Reiseleiterinnen aus, wie ich bei meinen Aufenthalten in den Hotels feststellte. Bei der Ankunft der Touristinnen findet ein Willkommenstreffen in den Hotels statt, bei dem die Reiseleiterinnen ihre Gäste über Land und Leute informieren und ihnen Hinweise geben, worauf sie während ihres Aufenthaltes achten sollen. Dabei empfehlen die Reiseleiterinnen den Touristinnen, aus »Sicherheitsgründen« den Transportbetrieb des Hotels zu nutzen. Sie erläutern auch, wie viel eine Fahrt vom Hotel in die Stadt kostet, und weisen darauf hin, dass die Taxifahrer oft mehr Geld verlangten, und dass sie nicht mehr bezahlen sollen, falls sie doch einmal mit dem Taxi fahren. Sie raten den Touristinnen auch, nicht alleine am Strand spazieren zu gehen und nicht alleine in die barákas zu fahren, um Überfälle zu vermeiden. Solche ›Informationen‹ sind Teil eines Bildes von Boa Vista und Kap Verde, das die Reiseleiterinnen den neu angekommenen Touristinnen vermitteln. Dazu gehören Beschreibungen wie die folgende: »Hier auf Boa Vista sind die Leute eher cappucinofarben, während sie auf Santiago ganz dunkel sind«. Oder der Hinweis, dass man hier auf Boa Vista noch authentische Orte sehen könne, wo die »Zeit stehen geblieben« sei und wo sich »kaum etwas entwickelt« habe. So produzieren sie Stereotype über einen Ort und dessen Menschen, die in den Herkunftsgesellschaften der Touristinnen zirkulieren (Wang 1999: 355). Diese Stereotypisierung ist Teil
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der touristischen Logik, in der fremde Kulturen in Abgrenzung zur eigenen Kultur auf einfache Aspekte reduziert, soziale Zusammenhänge vereinfacht und Personen eindimensional dargestellt werden. Viele der Reiseleiterinnen arbeiten seit mehreren Jahren halbjährlich auf Boa Vista und kennen die Insel und die dort lebende Bevölkerung. Außerhalb ihres Berufsalltags haben sie eine wesentlich differenziertere Sichtweise, doch in ihrer Kommunikation mit den Touristinnen in den Hotels oder auf Exkursionen greifen sie auf solche Stereotypisierungen zurück. Solche simplifizierenden Darstellungen der lokalen Bevölkerung tragen zusammen mit den räumlichen Einschränkungen dazu bei, dass die Taxifahrer sich nicht nur räumlich und finanziell, sondern auch sozial marginalisiert fühlen. Blockade Gegen diese Formen der Exklusion gingen die Taxifahrer mit einem Streik vor. Im Folgenden beschreibt Dani, wie die Taxifahrer den Hotelfahrzeugen den Weg versperrten: »Wir Taxifahrer, wir tun uns zusammen, wir blockieren die Straße vor dem ganzen Hotel. Alle Taxifahrer blockieren das Hotel. Wir kommen dort an und sperren die Straße mit dem Auto, bis es keinen Ausweg mehr gibt […] Ich stelle mein Auto quer und ein anderer stellt sein Auto quer an meines und so weiter. Dann kann kein Auto mehr vorbeifahren. So funktioniert der Streik (greve).« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit Dani während einer Taxifahrt auf Boa Vista)]
Was Dani als Streik (greve) bezeichnet, ist eine räumliche Blockade. Dani verwendet den Begriff Streik nicht im Sinne einer Niederlegung von Arbeit, von der der Betrieb abhängt. Er beschreibt eine Blockade, die zwar wie beim Streik darauf abzielt, einen Betriebsstillstand zu erreichen und Druck auf die Hotelresorts auszuüben, doch die Blockade richtet sich gegen die Mobilität der hoteleigenen Fahrzeuge. Dabei handelt es sich um einen performativen Akt, als eine geteilte Erfahrung und kollektive Handlung (Butler 1988: 525), mit dem die Taxifahrer sich gemeinsam gegenüber den Hotelbetreiberinnen positionieren und so ihre Ansprüche geltend machen. Dieser performative Akt richtet sich in zweifacher Hinsicht auf eine Immobilisierung und auf eine Beschränkung von materiellem Raum. Indem die Taxifahrer den Zugang, beziehungsweise die Straße mit ihren Autos blockierten, machten sie die Durchfahrt der Hotelfahrzeuge unmöglich. Die Blockade ist eine Form des Widerstandes, die sich gegen die Aneignung von Land durch die ZDTIs und gegen die räumlichen Exklusionen durch den Tourismus richtet. Hieran wird deutlich, dass die ZDTIs keine reinen materiellen Grenzen darstellen, sondern dass touristische Räume soziale Ausgrenzungen
120 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN sind, in denen sich lokale Formen des Widerstandes entwickeln (Ness 2005). Die Blockade zielte jedoch nicht nur auf eine Störung des Hotelbetriebs ab, sondern erwies sich auch als erfolgreiches Instrument, um das Transportmonopol der Hotels aufzubrechen und materiellen Raum zurückzugewinnen: »Wir sollten die Blockade auf der Straße aufheben, aber dafür sollte sie [Direktorin des Hotels] die Taxis aus dem Hotel holen. Dann haben sie vier Taxifahrer gerufen, um mit den Fahrern von drinnen zu sprechen. Ich war einer von denen, die mit ihnen geredet haben, ja. Wir haben mit ihnen geredet, nicht wahr, und als wir gesagt haben, was wir wollen, wurde klar, dass die Fahrzeuge, die im Hotel sind, im Auftrag des Hotels arbeiten. Deswegen können wir nicht die Gäste von drinnen haben. Aber ich wusste das davor nicht. Und als es klar wurde, haben wir gesagt ok, wie heben die Blockade auf, wenn sie die [zwei] Taxis aus dem Hotel nehmen. Und danach haben sie [Hoteldirektion und die câmara von Boa Vista] mit uns die Vereinbarung [über die Parkerlaubnis] getroffen. Und wir haben unsere Taxis aus dem Weg entfernt. Und jetzt sind wir hier [vor den Hotels].« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit Dani während einer Taxifahrt auf Boa Vista]
Die Taxifahrer konnten wieder vor den Zufahrten des Hotels parken und gewannen so ein Stück materiellen Raum zurück. Über den Parkplatz14 hatten sie mit der Hoteldirektion und der câmara noch vor den Blockaden verhandelt. Als die Hoteldirektion der Forderung der Taxifahrer nachgegeben und die Zusammenarbeit mit den zwei hoteleigenen Taxis beendet hatte, trafen sie zusammen mit der câmara die Vereinbarung, dass die Taxifahrer vor den Hotels parken dürfen. Gleichzeitig erreichten die Taxifahrer damit ihre Integration in den Transportbetrieb der Hotels und Reiseagenturen. Wie sich im späteren Gesprächsverlauf herausstellte, werden die Taxifahrer von der Rezeption der Hotels nun angerufen und können zur Eingangstür fahren, wenn die Touristinnen die Hotels verlassen wollen, und bringen die Touristinnen auch wieder dahin zurück. Auf den Ausschluss, den die Taxifahrer in erster Linie physisch erfuhren, reagierten sie mit physischen Mitteln. Sie verschoben die räumliche Grenzziehung durch die Hotels in den ZDTIs und gewannen den Raum vor den Hotels zurück. Gleichzeitig war der materielle Raum vor den Hotels ein Ort der sozialen Verortung, mit dem sie sich ihrer Beteiligung an der touristischen Entwicklung und innerhalb der Gesellschaft versicherten. Somit veränderten sie mit diesen Grenzverschiebungen auch die sozialen Beziehungen und Machtkonstellationen. Dies
14 Die LCBV hat kurz nach meiner Feldforschung zwei Parkplätze in Sal Rei erhalten. Sie planten vier weitere Taxihaltestellen vor weiteren Hotels, die »modern, im europäischen Stil« sein sollten.
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wird vor allem an der Organisation ihrer Blockade deutlich, zu der sie die Polizei von Boa Vista hinzuzogen: »Sobald die câmara uns die Lizenz gibt, holen wir uns die Polizei. Dann gehst du los und streikst. Streik ist nicht einfach […] Man kann nicht einfach die Straße blockieren, das ist heftig.« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit Dani in seiner Wohnung in Sal Rei, Boa Vista]
Die Taxifahrer griffen auf bestehende Ressourcen zurück, indem sie Unterstützung von der lokalen Verwaltung und der Polizei einholten. Hierbei handelt es sich nicht nur um eine Formalität für einen ordnungsgemäßen Streik, sondern die Taxifahrer sahen in der Unterstützung durch die câmara und die Polizei auch eine Chance, ihre Erfolgsaussichten bei den Verhandlungen mit den Hoteldirektionen zu erhöhen. Damit erhöhten sie ihr »eigenes Prestige« (Appadurai 2013: 173) und übten öffentlichen Druck auf die Hotelleitungen aus. Die Blockade der Taxifahrer in Boa Vista erinnert an Formen der Politiken der Anerkennung (Taylor 1992) und an eine Selbstorganisation von unten‹, mit der Menschen eine Gouvernementalität (Appadurai 2013: 166) entwickeln und dabei die bestehenden Machtstrukturen für ihre Zwecke verwenden. Auf diese Weise brachten sich die Taxifahrer mit ihrer Blockade auch in die Prozesse der lokalen Politik ein. Der von den Hotels »geschürten Angst« wollten die Taxifahrer darüber hinaus entgegenwirken, indem sie die verschiedenen Sprachen und das »touristische Vokabular« lernten. Über die LCBV sollte ein geregeltes und einheitliches Preissystem dem negativen Bild der Taxifahrer entgegenwirken. Eine einheitliche Uniform mit Namensschild, Foto und Identifikationsnummer sollte zu mehr Vertrauen beitragen. Außerdem sollte ein Call-Center in Sal Rei die Arbeit besser organisieren. Mit ihren räumlichen Blockaden deklarierten die Taxifahrer öffentlich ihren Widerstand gegen räumliche Exklusionen und lokale Politiken des Tourismus. Die Taxifahrer verwendeten für ihren Widerstand eine Strategie, die auf die materielle Umwelt gerichtet war. Zwischen der dynamischen Veränderung auf der Insel und dem Stillstand und der Immobilisierung, die die Taxifahrer erfuhren, wurde Raum zu einem materiellen Bezugspunkt, über den sie sich in der materiellen Welt verorten und soziale Anerkennung erreichen konnten.
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4.3 I N M INÃO Ein dritter Kampf gegen die räumliche Aneignung durch die ZDTIs und die Naturschutzzonen entwickelt sich im Kontext des bevorstehenden Verkaufs der ehemaligen Siedlung von Minão und durch deren Neubewertung als Kulturerbe. Minão hat viele Bedeutungen auf Boa Vista und hier treffen verschiedene Konstruktionen von Erfahrungen mit und Zuschreibungen gegenüber Orten (Rodman 1992) aufeinander. Der Name Minão steht für eine ehemalige Siedlung, die Bewohnerinnen gegen Ende der 1960er Jahre wegen der damaligen langen Dürreperiode verließen. Als verlassene Siedlung ist Minão gegenwärtig Ziel touristischer Exkursionen. Seit der Eröffnung der großen Hotelresorts besuchen täglich mehrere Gruppen von Touristinnen Minão, um die »Relikte der boavistensischen Vergangenheit« kennenzulernen. Zudem wurde Minão im Jahr 2003 zum Naturschutzgebiet erklärt, besonders um das Nistgebiet von Wasservögeln und Meeresschildkröten zu schützen. Somit wurde Minão auch zu einem Arbeitsfeld der AP, der lokal ansässigen NROs, die sich für den Schildkrötenschutz einsetzen und anderer Naturschützerinnen. Im Zuge des bevorstehenden Verkaufs der einst bewohnten Häuser in Minão an private Investorinnen verändert sich die Bedeutung des Gebiets nochmals. Vor allem für diejenigen, die in Minão aufgewachsen sind, verändert sich damit ihre Beziehung zu diesem Gebiet. Der bevorstehende Verkauf von Minão stellt die Anbindungen, die Menschen zu diesem Ort haben, in Frage und führt dazu, dass Menschen sich in mehrfacher Hinsicht entortet fühlen. Entortung bezeichnet den Verlust der Selbstverständlichkeit der gewohnten Umgebung durch Fremde und fremde Bräuche (Pfaff-Czarnecka 2012: 43), sowie den Verlust von sozialer Mitgliedschaft, die sich aus einem Wechselspiel zwischen sozialen Praktiken und der materiellen Welt ergibt. Unter Entortung fallen Ortsverluste durch materielle Enteignungen oder veränderte Rechtsnormen, aber auch Erinnerungen und Loyalitäten, die in Gefahr sind, sich aufzulösen. Um gegen diese Entortungen anzugehen, werten Menschen das, was sie als bedroht ansehen neu auf. Minão hat bereits durch die touristische Vermarktung den Status eines kulturellen Erbes erhalten. »Kulturerbe« kann dabei sowohl die materielle Welt, wie Kunst, Gedenkstätten oder die biophysische Umwelt, als auch immaterielle Phänomene wie Wissen, Dialekte oder Ethnizität umfassen (Schnepel 2013: 24). Der bevorstehende Verkauf von Minão führt auch dazu, dass die Bewohnerinnen die Bedeutung der ehemaligen Siedlung neu bewerten.
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Kampf in Minão Die verschiedenen Formen der Entortung und die Neubewertung des Kulturerbes, verdeutliche ich anhand eines Gespräches mit Germano, einem 85jährigen Mann von Boa Vista. Er hat den Großteil seiner Kindheit, Jugend und seines Erwachsenenalters in Frankreich verbracht und ist vor ein paar Jahren nach Boa Vista zurückgekehrt. Germano ist einer der Erben der Häuser in Minão, mit dem ich in Sal Rei, wo er jetzt wohnt, über die Veränderungen in Boa Vista sprach: »Ich führe momentan einen Kampf in Minão – wo ich geboren bin –, um den Verkauf dieser Ruinen unserer Vorfahren, die arme, aber würdige Herren und Damen waren, nicht zuzulassen. […] Dieses Haus gehört mir, das ist das Haus von meinem Vater…das war das Haus von meinem Vater. Ich habe es o castelo do meu pai [das Schloss meines Vaters] genannt. Das ist ein Haus der Liebe. Kein Schloss im wörtlichen Sinne, sondern einfach ein Haus der Liebe. Als ich 2006 aus der Emigration aus Frankreich zurückkam, war es eine Ruine. Trotz all der Schwierigkeiten, auf die man hier auf Boa Vista trifft, habe ich dieses Haus wiederhergestellt. Ich habe versucht, die Erben von Minão zu animieren, …weil alle diese Ruinen haben Besitzer, Erben. Trotz der Schwierigkeiten, kann man etwas erreichen. Nur mit Liebe kann man nichts schaffen, aber wenn wir uns zusammentun, wenn wir uns helfen, können wir vielleicht etwas erreichen.« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit Germano in einem Café in Sal Rei, Boa Vista]
Minão ist Germanos Geburtsort und der Ort, an dem er aufgewachsen ist. Das Haus seines Vaters ist ein Teil seines familiären Erbes. Der Ort und das Haus verkörpern damit individuelle erfahrungsbezogene und materielle Dimensionen der Anbindung, die durch seine biographische Herkunft entstehen. Für Germano stellen Minão und das Haus eine gewohnte Umgebung und eine Selbstverständlichkeit dar, die er nun durch den Verkauf als bedroht empfindet und gegen deren materielle und diskursive Transformation er kämpft. Dieser Kampf in Minão führt auch dazu, dass er dem Ort und dem Haus eine neue Bedeutung zuschreibt. Nach seiner Rückkehr nach Kap Verde hat er das Haus bereits selbst materiell und diskursiv verändert. Er hat das Haus nicht nur materiell »wiederhergestellt«, sondern es als »castelo do meu pai« (Schloss meines Vaters) benannt. Mit der Bezeichnung des Hauses als castelo (Schloss), verleiht er dem Haus eine Bedeutung, die über ein einfaches Haus hinausgeht. Das Haus und Minão wurden so zu einem Gegenstand der Erinnerung. Die emotionale Verbindung, die Germano zu seiner materiellen Umwelt hat, bezieht sich dabei auf die Erinnerung an seinen Vater und an seine eigene Vergangenheit. Zudem stellt Germano eine Verbindung zwischen der Siedlung und den Vorfahren,
124 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN die er als »arme, aber würdige Herren und Damen« bezeichnet, her. Damit formuliert er eine kollektive Anbindung gegenüber der kapverdischen Gesellschaft und ihrem kollektiven Erbe. Die Beziehung zwischen Germano, Minão und dem Haus seines Vaters verdeutlicht, wie sich zwischen Objekten und Menschen (Latour 2005) sowie Menschen und Orten (Lovell 1998: 1) verschiedene Formen der Anbindungen entwickeln. Diese individuellen und kollektiven Anbindungen verkörpern auch Loyalitäten und Verpflichtungen, die durch diese Beziehung zwischen Menschen und der materiellen Welt entstehen (ebd.: 1). Germanos Loyalität und Verpflichtung gegenüber Minão äußert sich darin, dass er um den Ort und die Ruinen kämpft – trotz der bestehenden »Schwierigkeiten«. Er fordert diese Loyalität und Verpflichtung zudem von den anderen Besitzerinnen der Ruinen ein. Germano will nicht nur sein eigenes Erbe verteidigen, sondern er nimmt auch die anderen Erbinnen in die Pflicht, den Besitz und die Erinnerung an die Vorfahren zu respektieren und zu erhalten. Die Ruinen und Minão werden somit zu einem Ort der Erinnerung und zu einem Ort der »kollektiven Pflege« (PfaffCzarnecka 2012: 37) und der gegenseitigen Verpflichtung. Das Bindungsverhältnis zwischen Menschen und der materiellen Welt richtet sich demnach nicht nur auf vergangene und gegenwärtige Erfahrungen, sondern auch auf zukünftige Vorstellungen. Die Erinnerung an Minão und das Haus des Vaters ist darüber hinaus ein Bezugspunkt, anhand dessen Germano seine eigene Biographie darstellt. Lovell (1998) betont, dass Erinnerungen (bei der Wahrnehmung von Zugehörigkeit) zu einem Ort das Gefühl der Entortung ausgleichen. Eine besondere Form dieser Erinnerung ist die Nostalgie. Nostalgische Perspektiven geben nicht die lokale ›Realität‹ wieder, sondern sind Referenzpunkte, um das Zuhause zu idealisieren und neu zu definieren (Gupta und Ferguson 1997a: 41 f.). Diese nostalgische Perspektive entwickelt sich im Lauf des Gesprächs, als Germano über das vergangene Leben in Minão spricht: »Früher, als es Regen gab, hat man von seinem Land gelebt. In Kap Verde haben wir ein Problem mit dem Regen…aber früher haben die Leute von der Landwirtschaft gelebt und sie haben gearbeitet, angebaut und das Land von einem Jahr zum nächsten genutzt. Die Regenzyklen haben es zugelassen, so zu leben, und ohne, dass etwas gefehlt hat«. [Audiotranskript, informelles Gespräch mit Germano in einem Café in Sal Rei, Boa Vista]
Germano beschreibt Minão als einen Ort, in dem es den Menschen an nichts »gefehlt« habe, und wo eine funktionierende Landwirtschaft und regelmäßig wiederkehrende Regenzyklen das Leben zu dieser Zeit prägten. Dieses intakte
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Mensch-Umwelt- Verhältnis, änderte sich ihm zufolge, als der Regen nachließ und die Menschen ihr Land nicht mehr bebauen konnten. Germano idealisiert nicht nur die Mensch-Umwelt-Verhältnisse der Vergangenheit, sondern auch das Leben in Minão. In solchen idealisierten Erinnerungsmomenten blenden Menschen negative Aspekte und Brüche jener Vergangenheiten aus und korrigieren sie durch nostalgische Perspektiven. Germano geht beispielsweise nicht darauf ein, dass auch die überproportionale Ziegenhaltung auf Boa Vista zur Degradierung der Böden in Minão geführt hat und dazu beitrug, dass Teile der Bevölkerung ihre Siedlungen verließen. Ebenso war Minão von Hungersnöten, schwierigen Lebensbedingungen und den Kolonialpolitiken der Portugiesinnen geprägt. Die Idealisierung Minãos hilft Germano dabei, gegen eine ruinierte Vergangenheit des Zuhauses anzukämpfen und sie anders zu vergegenwärtigen (Andrews-Swann 2013: 250). Vor allem Mitglieder einer Diaspora teilen Erinnerungen, Sehnsüchte und Nostalgie, die sich auf ein reales oder imaginiertes Zuhause beziehen (Clifford 1994: 304). Viele Kapverdierinnen in den diasporischen Gemeinschaften imaginieren Kap Verde als »utopia of green fields, continuous singing and dancing and happy children« (Teorey 2013: 15). Welche Diskrepanz zwischen den Vorstellungen über die Inseln und den insularen Realitäten herrscht, kann besonders bei den Kapverdierinnen beobachtet werden, die zum ersten Mal oder nach vielen Jahren die Inseln besuchen. Germanos Darstellung von Minão ist ein Beispiel für eine solche nostalgische Verklärung der Heimat aus der Perspektive eines Emigranten und auch ein Korrektiv für einen Teil seiner Emigrationserfahrung. Germano betonte im Laufe des Gesprächs immer wieder, wie er im Alter von dreizehn Jahren vor den kolonialen Truppen fliehen musste und erst viele Jahre später nach Kap Verde zurückkehrte, wo er die Ruinen von Minão vorfand. Wie Menschen ihre Erinnerungen präsentieren und welchen Platz sie ihnen dabei einräumen (Brinkman 2009), ist zudem von spezifischen Diskursen über Land abhängig. Dem einst intakten Mensch-Umwelt-Verhältnis setzt Germano eine gebrochene Bindung zwischen Menschen und ihrem Land gegenüber, für die er jedoch nicht die Umweltveränderungen, sondern die gegenwärtige Nutzung von Land verantwortlich macht: »Heute gibt es keinen Regen und die Umstände lassen es manchmal nicht zu, wie zum Beispiel in Minão, zu leben, weil es da nichts zu leben gibt. Sie [die Leute] verkaufen ja schon heute das Land. Das Land von Minão, von dem man sagt, dass es geschützt ist. Und da bauen sie zum Beispiel einen Golfplatz hin, Golf für die Touristen. Golf, das ist für uns Boa Vistenser ((lacht)), das wird nichts für uns sein, für uns hat das keinen Wert.« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit Germano in einem Café in Sal Rei, Boa Vista]
126 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Obwohl Germano erwähnt, dass die »Umstände« es nicht zuließen, in Minão zu leben, sind es die touristischen Nutzwerte von Minão als Golfplatz, die zu einem Bruch zwischen den Menschen und ihrem Land führen. Diese negative Darstellung der Gegenwart ist ein weiterer Aspekt der Nostalgie. Ebenso ist die Tatsache, dass die Menschen ihr Land verkaufen, eine Folge der touristischen Entwicklung. Der Mangel an alternativen Landnutzungen und die touristischen Entwicklungen, die auf der Aneignung von Land basieren, geben dazu Anstoß. Germano beschreibt hier eine weitere Variante der Entortung, die mit der Umdeutung von Land für touristische Aktivitäten, sowie mit touristischen Praktiken zusammenhängt. Ein Golfplatz und Golf spielen, habe für die Menschen von Boa Vista keine Bedeutung. Die Etablierung neuer Nutzwerte und Praktiken von außen stellt somit das Gefühl des Zuhause-Seins in Frage. Dieses Gefühl der Entortung geht nicht nur mit der touristischen Entwicklung einher, sondern auch mit dem Naturschutzstatus des Gebietes, dem Germano eine untergeordnete Bedeutung zuschreibt. Zwar erachtet er das Gebiet Minão als schützenswert, doch der formale Schutzstatus des Landes wird von den Politiken der touristischen Entwicklung übergangen. Germano kritisiert hier einerseits, dass Naturschutzzonen der Entwicklung der touristischen Zonen untergeordnet sind. Der Bau des Hotel Calistans in einer Naturschutzzone ist ein Fall, an dem sich die Dominanz touristischer Politiken auf Boa Vista verdeutlicht. Viele Naturschützerinnen auf Boa Vista meinen in diesem Zusammenhang, dass die Naturschutzmaßnahmen auf Boa Vista zu spät gekommen seien und kaum etwas gegen die touristische Entwicklung ausrichten könnten. Andererseits zeigt Germanos Bezeichnung des »angeblichen« Schutzstatus von Minão, dass er die räumliche Klassifizierung als eine Formalität betrachtet. Diese Haltung hängt mit der Wahrnehmung zusammen, dass die Naturschützerinnen auf Boa Vista sich nur um das »Geld« und nicht um die Menschen kümmerten. In einem anderen Gespräch mit Germano bezeichnet er die Mitarbeiterinnen der AP als »Leute von der Regierung« und als »Technokraten aus Praia« und vermischt dabei AP und Regierung zu einem Akteur. Er nimmt den Naturschutz als vom Staat geleitetes Vorhaben wahr, die von einer Auseinandersetzung zwischen der Regierung, den NROs und internationalen Organisationen handelt und nicht die Bevölkerung betrifft. »Estamos fora do assunto – Wir sind außen vor« Diese Diskussionen über Land als touristische Entwicklungszone oder als Naturschutzgebiet sind der Kontext, der Germanos nostalgische Perspektiven auf die Vergangenheit und Gegenwart Minãos prägt. Aber nicht nur veränderte Gestaltungspolitiken von Raum führen zu dem Gefühl der Entortung. Auch physische
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Zugangsbeschränkungen, wie sie Germano anhand des Betretens des Hotels beschreibt, stellen das Gefühl in Frage, über sein eigenes Zuhause verfügen zu können: »Das Problem ist, dass wir manchmal von der Thematik ausgeschlossen sind. Sie können sogar Sachen privatisieren, die uns Kapverdiern gehören. Wenn ich zum Hotel Calistan gehe – obwohl ich viele Leute kenne, ich bin eine bekannte Person hier in Kap Verde – aber, wenn ich an die Tür des Hotel Calistan komme und eintreten will, fühle ich mich komplett wie ein Fremder. Wenn ich an der Tür [des Hotel Calistan] ankomme, muss man den Direktor rufen, dann muss man ihn anrufen, um einzutreten. Ich weiß, dass man nicht einfach so eintreten kann…Die Dinge sind ein bisschen kompliziert. Aber wenn sie [Wachpersonal] sagen, ‹Das hier ist privat, Sie können nicht durchgehen‹, das geht nicht. […] Ich verstehe das, ich habe in Europa gelebt. Das ist eine Sache der Sicherheit, etc., etc., etc. Ich verstehe die Art und Weise, wie sie das hier machen. Auch wenn man nur [durch das Hotel] durchgehen will, um zum Beispiel zum Strand zu gehen, dann heißt es ›nein, nein, das hier ist privat. Sie haben kein Recht hier durchzugehen‹. Ich verstehe dieses Spiel.« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit Germano vor seinem Haus in Sal Rei, Boa Vista]
An diesem Gesprächsausschnitt sind vor allem drei Aspekte wichtig, um die räumlichen und sozialen Entortungen weiter herauszuarbeiten: Germano spricht davon, sich als »Fremder« zu fühlen, wenn er durch das Hotel zum Strand gehen möchte. Hierbei handelt es sich um einen Verlust sozialer Mitgliedschaft, der durch die Privatisierung von Land und die Zugangsbeschränkung zum Strand durch das Resort entsteht. Germano fühlt sich in seinem Zuhause, das zu einem touristischen Ort geworden ist, nicht mehr zugehörig. Besonders paradox daran ist, dass die Rolle sich als Fremde zu fühlen, eigentlich den Touristinnen vorbehalten ist. Eine solche Wahrnehmung von Entfremdung auf Boa Vista habe ich sehr häufig angetroffen. Einige Gesprächspartnerinnen gingen teilweise so weit, Boa Vista nicht mehr als Teil Kap Verdes zu bezeichnen, da die touristische Prägung der Inseln nichts mehr mit der kapverdischen Realität zu tun habe. In einigen Printmedien wurde die Entfremdung als Diskriminierung thematisiert, als ein Hotel auf der Insel Sal einer kapverdischen Familie den Zutritt verweigert hatte. Auf Boa Vista verbrachten drei meiner Bekannten aus Praia ein paar Tage im Hotel Calistan. Sie berichteten mir danach, wie »fremd« sie sich in dem Hotel gefühlt hätten und welchen subtilen Diskriminierungen sie sich ausgesetzt fühlten: die Hotelführung habe sie nicht als vollwertige Gäste behandelt, da sie Kapverdierinnen waren. Sie sagten, die Touristinnen hätten sich gewundert, warum
128 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN die drei jungen Frauen nicht in Personalkleidung, sondern »ganz normal« angezogen seien. Eine weitere Entortung entsteht durch die räumliche Abschottung des Hotels. In diesem Zusammenhang spricht Germano die Sicherheitspolitik der Hotels an, die er als vorgeschobenen Grund für die Verwehrung des Zugangs erachtet. Germano beschreibt diese Sicherheitspolitik zunächst harmlos als »Art und Weise«, die er aus Europa kenne und die etwas mit der Sicherheit des Hotels zu tun habe. Als er die Praktiken der Hotelbetreiberinnen jedoch als »Spiel« benennt, wird deutlich, dass er die Zutrittsregeln des Hotels als Willkür wahrnimmt. Diese Willkür entwickelt sich über die diskursive und materielle Privatisierung des Raums und als vermeintlich neutrale Grenzziehung gegenüber der lokalen Bevölkerung. Hierbei handelt es sich um eine Politik der »secutarization« (Ferradas 2004), eine Sicherung eines Raumes vor denjenigen, die eine Bedrohung darstellen könnten. Und schließlich findet eine soziale Entortung statt, die aus einer Enteignung der Fähigkeit entsteht, das Zuhause zu gestalten und eine eigenständige Lebensform und Beziehung zur Umwelt aufrechtzuerhalten und weiterzugeben (Ciuffolini und Vega 2013): Menschen auf Boa Vista sind von den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen (estamos fora do assunto, wir sind außen vor) und kapverdisches Eigentum wird privatisiert. Diese Punkte formuliert Germano als Kritik gegen die Landenteignung, die er im Verlauf des Gesprächs noch weiter konkretisiert: »I: Aber wer genau will die Häuser in Minão kaufen? Germano: Das weiß ich nicht. Niemand weiß das. Nur die Regierung und die Investoren, die diese Dinge betreuen, wissen das. […] Uns fehlt Geld. Das Volk entdeckt diese Sachen erst, wenn sie bereits geschehen sind. Das ist, was mit dem Flughafen in Rabil passiert ist. Natürlich kann Boa Vista nichts gegen einen modernen Flughafen sagen – ich bin damit einverstanden. Aber das wurde auf eine nicht sehr klare Art und Weise gemacht. Dieses Land hat Eigentümer!« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit Germano in Sal Rei, Boa Vista]
Germanos Ansicht nach wird die Bevölkerung von Boa Vista nicht in die Gestaltung einbezogen, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt. Zudem habe die Landenteignung auf eine »nicht sehr klare Art und Weise« stattgefunden. Germano formuliert hier eine Kritik an der Landenteignung im Zuge des Flughafenbaus. Auch andere meiner Gesprächspartnerinnen, die selbst Landenteignung erfahren hatten, berichteten mir, dass sie mit der Landenteignung nicht »zufrieden« gewesen seien.
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Doch kann Landenteignung auf eine »klare Art und Weise« stattfinden und ist es möglich mit Landenteignung »zufrieden« zu sein? Hier liegt ein Widerspruch vor, für den ich zwei Gründe als ausschlaggebend erachte: der erste Grund für die Kritik an der Landenteigung erschließt sich aus der Widersprüchlichkeit der Enteignungskategorie (Thran 2009). Enteignungen umfassen eine Reihe von Hoheitsakten, »die privates Eigentum unabhängig von der Zustimmung des Eigentümers in Staatseigentum überführen« (ebd.: 96). Enteignungen schädigen damit immer die Eigentümerinnen, denen durch den Staat ein privates Eigentumsrecht abgesprochen wird. Der Kompensationsgedanke der Enteignung setzt diese Schädigung der Eigentürmerinnen zudem voraus. Der Widerspruch liegt nun darin, dass der Prozess der Enteignung formal legal ist und dass der Staat, als legalisiertes Subjekt der Landnahme, den Eigentümerinnen ein legales Eigentumsrecht abspricht (Thran 2009). Darüber hinaus bedeuten die touristische Entwicklung und die Naturschutzzonen für viele meiner Gesprächspartnerinnen die Möglichkeit auf eine Verbesserung ihrer Lebensumstände. Für manche von ihnen haben sich bereits Bereiche ihres Lebens, wie zum Beispiel ein regelmäßiges Einkommen durch eine Anstellung in einem Hotel, verbessert. Aus diesem Grund erachten sie die Veränderungen in Boa Vista, die für die touristische Entwicklung nötig sind und die den Schutz der Umwelt einbeziehen, als legitim. Diese positiv wahrgenommenen Einflüsse führen oft zu einer ambivalenten Haltung gegenüber den touristischen und auf den Naturschutz bezogenen Entwicklungen. Die Ethnisierung des Politischen Die verschiedenen Entortungen, die Germano erfährt, führen dazu, dass er Minão als Kulturerbe neu bewertet. Diese Neubewertung schlägt sich auch in der Associação do Minão (AdM; Veband von Minão) nieder, die Germano im Jahr 2008 gegründet hat und mit der er auf den Verkauf der Ruinen Einfluss nehmen will: »Die Investoren sind bereit zu kaufen. Aber sie verfolgen ein Ziel, das nicht in unserem Sinne ist …Wir lassen sie kaufen. Dafür haben wir jetzt einen Verband. Wir können die Regierung nicht an ihren Vorhaben hindern, aber wir wollen, dass diese Dinge mit uns gemacht werden. Diese Ruinen von Kap Verde, äh von Minão, können wiedererrichtet werden, aber die Besitzer müssen an dieser Entwicklung beteiligt werden. Dieser Verband ist nicht nur für die Besitzer, sondern für alle Kapverdier. Wir sind alle Kapverdier. Sie soll dabei helfen, eine Sache normal und einfach zu gestalten und nicht immer diejenigen auszubeuten, die schon ausgebeutet sind. Wenn wir zum Beispiel Minão verkaufen, dann
130 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN sind es nicht wir, die Minão verkaufen, sondern die Regierung wird die Ruinen von Minão verkaufen. […] Ich möchte den Erben von Minão ein Beispiel geben, dass wir, wenn wir uns zusammenschließen, diese Häuschen wiederaufrichten können. Wir werden den Touristen nicht verbieten dort zu sein, aber wir wollen mit beteiligt sein.« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit Germano in Sal Rei, Boa Vista]
Germano erhebt Anspruch auf ein Mitbestimmungsrecht, das die Kapverdierinnen neben den Akteuren der Tourismusindustrie, der Regierung und der AP in die Verhandlungen über die Ruinen von Minão miteinbezieht. Germano sieht in erster Linie die Kapverdierinnen, und nicht die Touristinnen oder die Investorinnen, in der Position, darüber zu bestimmen, was mit Minão passiert. Er stellt jedoch nicht die politische Einflussnahme der anderen Akteure ganz in Frage, was er mit seiner Aussage er »lasse« die Investorinnen kaufen und er »könne die Regierung nicht an ihrem Vorhaben hindern«, zeigt. Ihm geht es darum, die diskursive Deutungshoheit über das Kulturerbe Minão nicht zu verlieren. Der Verband von Minão dient somit als Instrument, um die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Regierung und ausländischen Investorinnen auf der einen Seite und der Bevölkerung auf der anderen Seite neu zu gestalten und die Position der seit jeher »ausgebeuteten« Kapverdierinnen zu stärken. Damit will Germano zu einem Teil der politischen Autorität werden und die Möglichkeit schaffen, selbst Raum zu definieren und zu produzieren (Rössler 2009). Im gesamten Gesprächsverlauf wird deutlich, dass Germano die Entortung und die daraus entstehende Neubewertung von Minão mit einer Unterscheidung verschiedener Akteure und mit deren Praktiken und Vorstellungen über die materielle Gestaltung der Umwelt verknüpft. Germano artikuliert die sozialen Konflikte als Gegenüberstellung der Praktiken und Vorstellungen von Erben, Kapverdierinnen, Boavistenserinnen, Touristinnen, Investorinnen, der Regierung und Naturschützerinnen. Während die materiellen und diskursiven Transformationen von Raum zu verschiedenen Entortungen führen, setzt Germano hier selbst Prozesse der Inklusion und Exklusion in Gang. Indem er die Boavistenserinnen, die Kapverdierinnen und die stranjerus gegeneinander kontrastiert, ethnisiert er Praktiken und Diskurse, die im Kontext von Naturschutz und Tourismus stattfinden. Hierbei handelt es sich um eine ›Ethnisierung‹ des Politischen, wobei mit Ethnisierung der Sammelbegriff für »intern heterogene Praktiken der sozialen Konstruktion kollektiver Identitäten, auf dessen Grundlage […] die anhaltende Bedeutung kultureller Orientierung für individuelles und kollektives Handeln untersucht werden kann« gemeint ist (PROKLA-Redaktion 2000: 333). Ethnisierung des Politischen beschreibt die ethnische Legitimierung politischer Ansprüche in politischen Diskursen (Büschges und Pfaff-Czarnecka 2007: 8), wobei
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das Politische alltägliche Praktiken des Tourismus und des Naturschutzes, sowohl von der Bevölkerung, als auch von Mitarbeiterinnen der Regierung, der NROs und internationalen Organisationen umfasst. Solche Ethnisierungen existieren in Naturschutzdiskursen und in Tourismusdiskursen, beispielsweise in der touristischen Raumgestaltung als Kulturangebot (Wöhler 2011: 121), oder indem Naturschützerinnen die lokale Kultur zum Potenzial oder zur Bedrohung von Naturschutzprojekten machen. Germano artikuliert die Konflikte um Minão als kulturelle Differenz, die er über die Zugehörigkeiten der Kapverdierinnen, der ausländischen Akteure, der kapverdischen Regierung und der supranationalen Institutionen des Naturschutzes konstruiert. Die Neubewertung von Minão als Kulturerbe geschieht damit auch über eine Ethnisierung des Politischen und über eine Re-Konfiguration lokaler Machtkonstellationen.
4.4 W IDERSTAND
ALS
R E -T ERRITORIALISIERUNG
Welche Bedeutung hat der Bezug auf materiellen Raum in den drei unterschiedlichen Strategien auf Boa Vista? Das Aussitzen in Bofareira, die Blockade vor dem Hotel und der Kampf um Minão sind Formen des Widerstandes, die sich gegen die Bedrohung von lokalen Anbindungen richten. Lokale Ortsbezüge, Naturschutzzonen und touristische Entwicklungszonen sind nicht bloß das »Setting« für soziale Aktionen (Rodman 1992), da diese keine neutralen Orte sind. Menschen konstruieren ihre lokalen Anbindungen und damit auch die Orte individuell. Gleichzeitig handelt es sich auch um eine soziale Konstruktion von Orten, da sie dabei wirtschaftliche, soziale und ökologische Phänomene aus ihrer Umgebung berücksichtigen und ihnen Bedeutungen zuschreiben. Bei allen drei in diesem Kapitel beschriebenen Auseinandersetzungen – dem Boykott der Informationsveranstaltung in Bofareira, der Blockade der Taxifahrer und beim Kampf in Minão – spielt deshalb die materielle und diskursive Konstruktion von und die Auseinandersetzung um Räume eine große Rolle. Ihre Logik richtet sich darauf, Deutungshoheit über Räume zu behalten oder zurückzugewinnen. Indem die lokale Bevölkerung Räume diskursiv und physisch für sich beansprucht, versucht sie die Deutungshoheit über das eigene Zuhause zu behalten. Sie gewinnen sie diese Räume nicht nur zurück, sondern re-konfiguieren sie gleichzeitig. Diese Re-Konfiguration von Orten ist eine Reaktion auf destabilisierende Effekte der Globalisierung und auf die Konstruktion Kap Verdes als transnationale, de-territorialisierte Gesellschaft. Mit der Bezugnahme auf und dem Kampf um lokale Orte setzt sich die lokale Bevölkerung mit der Distanzierung von Zeit und
132 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Raum in der Globalisierung (Giddens 1990) auseinander. Auf transnationaler werdende Kommunikations- und Mobilitätsformen reagiert sie mit einer ReTerritorialisierung und versucht, diese Prozesse umzukehren. Sie entwickelt neue Vorstellungen über das eigene Zuhause, stellt räumliche Exklusionen in Frage und versucht, Land zurückzugewinnen oder neu zu beanspruchen (Morley 2001: 426). In den drei beschriebenen Beispielen zielten die Menschen von Boa Vista darauf ab, ihre Positionen zu konsolidieren, zu bekräftigen und gemeinsam mit anderen ein Gefühl der Verortung zu festigen. Um das Zuhause selbst gestalten zu können, bezogen sie sich dabei in erster Linie auf die materielle Umwelt. Diese Re-Territorialisierung in Boa Vista verdeutlicht einen zu beobachtenden Trend in der kapverdischen Gesellschaft, ihr Selbstverständnis neu zu verhandeln und zu bekräftigen. Zwar produziert und verhandelt die kapverdische Gesellschaft als de-territorialisierte transnationale Nation (Góis 2010) gerade in der »Auflösung« und »Erweiterung« des Territoriums ihr kulturelles Selbstverständnis. Doch für die stetige Instandhaltung der transnationalen Identität ist das materielle Territorium nach wie vor ein wichtiger Faktor, da es notwendig ist, um dieses Selbstverständnis zu formen. Der Bezug auf das materielle Land wird vor allem in den Kontexten des Tourismus und des Naturschutzes deutlich. Dies geschieht jedoch nicht, weil Naturschutzpraktiken und Tourismuspraktiken als globale Phänomene Grenzen auflösen. Im Gegenteil, die ZDTIs und die Naturschutzzonen manifestieren sich in räumlichen und diskursiven Exklusionen und führen zu verschiedenen Formen der Entortung. Aus diesem Grund machten die Bewohnerinnen Boa Vistas ihre Anbindungen an die materielle Umwelt auf den Inseln zu einem bedeutenden Faktor, um das kapverdische Selbstverständnis bekräftigen. Mit dieser ReTerritorialisierung findet gleichzeitig eine Re-Konfiguration lokaler Machtbeziehungen statt. Macht kann durch die Re-Territorialisierung von Raum mobilisiert werden (Pile 1997: 30), da Orte Produkte lokaler Machtkämpfe sind (Rössler 2009: 318). Über den politischen Prozess der Re-Territorialisierung bringen Menschen somit auch ihre Vorstellungen über Anrechte, Bürgerschaftlichkeit und Teilhabe zum Ausdruck (Appadurai 2003: 345).
4.5 Z USAMMENFASSUNG Die zwei Fragen dieses Kapitels waren, wie Menschen ihre Anbindungen zur materiellen Umwelt im Zuge touristischer und ökologischer Transformationen geltend machen, und welche Bedeutung sie der materiellen Umwelt in ihren
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Praktiken einräumen. Mein Argument lautete, dass Menschen ihre lokalen Anbindungen im Zuge der ökologischen und touristischen Raumtransformationen als bedroht wahrnehmen und sich dieser Bedrohung in verschiedenen Formen widersetzen. In den beschriebenen Formen des Widerstandes kam der materiellen Umwelt eine herausragende Bedeutung zu. Sie wurde zu einer Projektionsfläche für Verortungen, Ansprüche und Rechte. Menschen verhandeln ihr Selbstverständnis neu und verändern lokale Machtstrukturen, in dem sie auf die materielle Umwelt Bezug nehmen. Diese Bezugnahme auf lokale Orte kann als Re-Territorialisierung verstanden werden, mit der Menschen auf die Globalisierung und auf die transnationale Konstruktion Kap Verdes reagieren. Die einzelnen Aspekte der drei Beispiele möchte ich an dieser Stelle miteinander in Verbindung setzen. Im Laufe der drei Beispiele habe ich zunächst gezeigt, wie sich der »sense of place« (Ness 2005: 120) und die »use values« (Rodman 1992) eines Ortes verändern, wenn materielle Orte im Zuge der touristischen Entwicklung und der Einrichtung von Naturschutzgebieten umgestaltet werden. Aus Sicht der Naturschutzvertreterinnen sind die Naturschutzzonen das Gegengewicht zu den ZDTIs, mit denen die räumliche Ausbreitung touristischer Aktivitäten eingedämmt werden soll. Für die Bewohnerinnen von Boa Vista bedeuten Naturschutzgebiete und ZDTIs jedoch beide Formen der Landaneignung und der Aneignung ihres Zuhauses. Vor diesem Erfahrungshorizont artikulieren sie ihren Widerstand. Die Darstellung von Bofareira als Biodiversitäts-Hotspot oder als Teil einer globalen Biodiversität ist eine Abstraktion. Auch die Darstellung von Dörfern auf Boa Vista als Relikte einer vergangenen Zeit oder von Minão als Naturschutzzone sind eine Abstraktion der kapverdischen Kultur als Ganze. Solche Abstraktionen verschleiern und nivellieren interne Differenzen und Machtgefälle (Schnepel 2013: 28) und festigen die bereits bestehenden Machtgefälle zwischen den NROs, den AP, der Regierung und der lokalen Bevölkerung. Die materiellen und diskursiven Transformationen dieser Orte manifestierten sich als Exklusionen, die dazu führen, dass Menschen sich auf verschiedene Weise entortet fühlten. Hierbei erstehen koloniale Situationen wieder auf (Britton 1996), wenn zum Beispiel Menschen der Zugang zu ihren Stränden verwehrt wird. Diese Gefühle der Entortung entwickeln sich aus materiellen und immateriellen Anbindungen, die Menschen zu ihrem Zuhause und zu ihrem Ort haben, und die sie als bedroht wahrnehmen. Diese Anbindungen reichen von Bezügen zu dem Wohnort, über den sozialen Status in einer Gesellschaft, bis zur Loyalität und Verpflichtung gegenüber einem kulturellen Erbe. Die Menschen bekräftigen ihre Anbindungen und widersetzen sich gegen deren Auflösung mit verschiedenen Formen des Widerstandes. Damit widersetzen sie sich gegen ihre Exklusion
134 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN aus Räumen, sowie gegen die zunehmende Einschränkung ihrer Erwerbsmöglichkeiten und fordern eine politische Mitgestaltung über ihr Zuhause ein. Abhängig von den räumlich-kulturellen Bedingungen und den Erfahrungen der Menschen, benutzen sie verschiedene Formen des Widerstands (Routledge 1997: 83 zitiert in Rössler 2009). Der Widerstand ist, wie die Landschaft, eine Form von menschlichem Ausdruck (Rössler 2009: 318). Aus diesem Grund unterscheiden sich die drei Formen des Widerstandes voneinander: es handelt sich um unterschiedliche Akteure, die auf verschiedenen sozialen Ebenen agieren und deren Zugehörigkeiten und Strategien sich aus verschiedenen Logiken ableiten. Die Formen des Widerstandes beschreiben unterschiedliche Grade der Grenzverschiebungen von materiellem Raum, sowie Konfigurationen von sozialen und politischen Beziehungen. Dennoch bildet in allen Formen des Widerstands der materielle Raum den Referenzpunkt, den die Bewohnerinnen auf Boa Vista für sich beanspruchen und der gleichzeitig zum integralen Bestandteil der Aushandlung darüber wird, was Kapverdisch- Sein bedeutet. Diese Re-Territorialisierung dient dazu, materiellen Raum zu bewahren oder zurückzuerobern und die lokalen Machtbeziehungen zu verändern. Diese Formen des Widerstandes und der politische Prozess der Re-Territorialisierung zeigen, dass die räumlichen Transformationen durch Naturschutz und Tourismus nicht nur zur räumlichen Exklusion und sozialer Marginalisierung beitragen. Sie führen auch dazu, dass Menschen ihr Land zurückfordern, indem sie ihre kulturelle Zugehörigkeit sowohl über sprachliche als auch über nicht sprachliche Handlungen artikulieren.
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Abbildung 1: Karte der Kapverdischen Inseln
Abbildung 2: Praia, Santiago
Abbildung 3: Praia Cabral, Boa Vista
Abbildung 4: Wohnsiedlung in Praia, Santiago
Abbildung 5: Senegalesiche Händler und Touristinnen in Sal Rei, Boa Vista
Abbildung 6: Rabidantes beim Fisch-verkauf am Hafen in Praia, Santiago
Abbildung 7: Straße nach Cidade Velha, Santiago
Abbildung 8: Hauptstraße in Tarafal, Santiago
136 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Abbildung 9: Markierung der ZDTI Santa Monia
Abbildung 10: Naturschutzzonen Boa Vista
Abbildung 11: Wandbemalung am Jugendzentrum in Sal Rei, Boa Vista
Abbildung 12: Erodierter Strand, Praia, Santiago
Abbildung 13: Präsentation Areas Protegidas, Boa Vista
Abbildung 14: Taxi von Sal Rei zum Hotel Calistan
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Abbildung 15: Touristische Exkursion Minão
Abbildung 16: Hotel Calistan in Minão, Boa Vista
Abbildung 17: Helder und Luis beim Fischen in Praia, Santiago
Abbildung 18: Billboard in Praia, Santiago
Abbildung 19 »Wir essen Schildkröten« und »das ist unser Land« überschriebenes Wandbild auf Boa Vista
Abbildung 20: Schildkrötenpanzer auf Boa Vista
138 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Abbildung 21: Soldaten im Camp Fundo das Figueiras Boa Vista
Abbildung 22: Strandbucht in Palmareijo Grande, Santiago
Abbildung 23: Abgebaute Sandhaufen Praia, Santiago
Abbildung 24: Sandabbau Monte Vermelho, Santiago
Abbildung 25: Workshop in São Francisco, Santiago
Abbildung 26: RTC-Beitrag: »Wegen des illegalen Sandabbaus bedroht das Meer die Bewohner von Lem-Rotcha in Ribeira da Barca.«
5. Nachts am Strand
Am Strand von Porta Grande, im Norden der Insel Boa Vista, kam es im November 2011 zwischen Bewohnerinnen der Insel und Mitarbeiterinnen der NRO Verde zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung: ein paar Boavistenserinnen hatten am Strand ihr Camp aufgeschlagen und verbrachten den Abend mit einem Barbecue und Musik, als eine der nächtlichen Schildkrötenschutz-Patrouillen der NRO Verde auftauchte.1 Die zwei Soldaten und ein Kapverdier, die für die NRO arbeiten, forderten die Gruppe auf, die mitgebrachten Lampen auszuschalten, da diese die an Land kommenden Schildkröten irritieren würden. Die Personen aus der Gruppe weigerten, sich den Aufforderungen nachzukommen, woraufhin die Diskussion zwischen der Gruppe und den NRO-Mitarbeiterinnen eskalierte und es zwischen einem Soldaten und einem der Bewohner zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung kam. Der Tourismusbeauftragte der câmara von Boa Vista war eine der Personen, die an diesem Abend mit der NRO Verde in Konflikt geraten waren. Während eines unserer Gespräche beschreibt er mir den Vorfall in Porta Grande aus seiner Sicht und geht dabei auf den Schildkrötenschutz auf Boa Vista ein: »Die ganze Sache [der Schildkrötenschutz] ist gegenüber der Bevölkerung nicht gut kommuniziert worden. Und untereinander haben die NROs [Verde und Azul] ja auch Probleme. Für uns Kapverdier ist es [Schildkrötenfang und -konsum] auch keine Überlebenssache, sondern eine kulturelle Frage. Für Jungen, um sich zu beweisen, und dann die Mythengeschichten, usw. Viele machen es wegen des Verkaufs, weil die Schildkröten einen ökonomischen Wert haben. Und jetzt machen die NROs damit Geschäfte und das passt den Leuten nicht. Außerdem wird jetzt viel mehr getötet. Vielleicht stimmen die Zahlen nicht. Aber es gab in Boa Vista schon mal einen Zeitpunkt, an dem der Schutz gut lief. Aber seit der Geschichte in Porta Grande sind die Leute wieder verärgert. An diesem Strand kommen gar keine Schildkröten an Land und unsere Gruppe campt dort schon seit
1
Zur NRO Verde und den Patrouillen siehe weiter unten.
140 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Jahren. Und das Licht, über das sich die Soldaten aufgeregt haben, das war so klein und schwach. Aber in der Zeitung wurde der Vorfall natürlich anders dargestellt.« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit dem Tourismusbeauftragten der câmara von Boa Vista in Sal Rei, Boa Vista]
Solche Auseinandersetzungen und Konfliktlinien zwischen der lokalen Bevölkerung und den NROs prägen den Umgang mit Schildkröten auf Boa Vista. Darin geht es um Anbindungen an und Ansprüche auf den Umgang mit Schildkröten, sowie um die Frage, wie Menschen diese legitimieren und mit Autorität versehen. Die daraus entstehenden konfligierenden Positionen arbeite ich in diesem Kapitel aus. Schildkröten stehen in Kap Verde unter Artenschutz und der Fang und Konsum sind seit dem Jahr 2005 gesetzlich verboten. Auf Boa Vista ist der Schildkrötenschutz besonders präsent. Auf der ilha das dunas, der Sandinsel, kommen im Gegensatz zu den anderen Inseln noch viele Schildkröten an die langen weißen Strände, um dort ihre Eier zu legen. Und hier werden die Schildkröten diskursiv zu Objekten des Naturschutzes gemacht (Luke 1995). Besucherinnen Boa Vistas begegnet der Schildkrötenschutz auch als materielle Einschreibung auf der Insel. Am Flughafen in Rabil bilden große Plakate des GEF die Schildkröten als weltweit bedrohte Art ab. Auch an der Hauptverkehrsstraße, die vom Flughafen in die Hauptstadt Sal Rei führt, passiert man mehrere Schilder, die auf das reserva natural da tartaruga Ervatão, das Naturschutzgebiet der Schildkröten hinweisen, wo Schildkrötenexkursionen für Touristinnen stattfinden. Auf dieser Straße begegnet man auch den mit Schildkrötenlogos versehenen Pick-ups der beiden ausländischen NROs, deren »Hauptquartiere« in Sal Rei liegen. Und spätestens am praça von Sal Rei, den Wandbemalungen mit Schildkröten umgeben, hat sich der Eindruck verfestigt, dass die Schildkröte ein fester Bestandteil der Insel ist. Die historische Bedeutung der Schildkröte als Fleischlieferant, als Handelsware und als Teil des Handwerks ist hier besonders stark ausgeprägt. Boa Vista zählt zu den flachsten und zu den regenärmsten Inseln des kapverdischen Archipels. Landwirtschaft und Viehhaltung waren im Gegensatz zu Santiago oder Fogo nur bedingt möglich. Schildkröten zählten somit lange Zeit zu den einzigen ›Fleischlieferanten‹ auf der Insel und fungierten gleichzeitig als Zahlungsmittel. Zudem fertigten die Bewohnerinnen Schmuck und anderes Kunsthandwerk aus den Schildkrötenpanzern und den Schuppen an (Loureiro und Torrão 2008). Im Zuge des sich etablierenden Naturschutzparadigmas und der touristischen Entwicklung wurde die Schildkröte jedoch auch zu einem Objekt des Naturschutzes und zu einer touristischen Attraktion. Schildkröten zählen, wie Wale
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oder Eisbären, zu den vom Aussterben bedrohten Tierarten. Sie sind zu globale Ikonen von Umweltbewegungen geworden und symbolisieren, welchen Schaden die Menschheit angerichtet hat, sowie die Dringlichkeit, diesen Bedrohungen jetzt gegenzusteuern (vgl. Theodossopolous 2003; Campbell 2010; Woodrom 2010). Wie Menschen sich gegenüber bedrohten Arten verhalten, ist zu einer moralischen Frage geworden, die sich besonders unter dem Leitbild der ›nachhaltigen Entwicklung‹ entfaltet hat und sich in der Verbindung von Naturschutzprojekten mit ökotouristischen Aktivitäten manifestiert (vgl. Einarsson 2005 [1993]; Peace 2005 [1993]; Kalland 2009). Auch auf Boa Vista haben die Mitarbeiterinnen der NROs begonnen, den Schildkrötenschutz als ökotouristische Attraktion zu vermarkten und arbeiten dafür mit verschiedenen Reiseagenturen zusammen. Da ökotouristische Projekte als Alternative, beziehungsweise als Gegenentwurf zum Massentourismus gelten (Nash 1996: 131), werden sie auf Kap Verde, wie auch in anderen Ländern in hohem Maß politisch und wirtschaftlich unterstützt (vgl. Vorlaufer 1996; Vivanco 2001; Gössling 2002; Akama 2004; West und Carrier 2004; Gilbert 2007; Honey 2006 [1999]; Carrigan 2011). Ökotouristische Projekte sollen nicht nur den Schutz der Umwelt gewährleisten, sondern auch die Lebensgrundlagen der lokalen Bevölkerung verbessern (Orlove und Brush 1996: 337). Diese Vorstellung gründet auf der Annahme, dass Menschen von der Inwertsetzung ihrer ›natürlichen Ressourcen‹ finanziell profitieren und dass sich der ökologisch nachhaltige Umgang mit ›Natur‹ auf andere Lebensbereiche, beispielsweise Gesundheit und Bildung auswirkt. Ökotourismus wird daher zu einem »conservation tool« (Fletcher 2010: 177), mit dem Naturschützerinnen darauf abzielen, Mensch-Umwelt-Beziehungen nachhaltig zu verändern (Gilbert 2007; Honey 2006 [1999]). Doch die Bewohnerinnen der Orte, in denen diese Projekte stattfinden, profitieren nur selten davon, Tiere, Pflanzen oder Landschaften für ökotouristische Zwecke zu vermarkten (vgl. Vivanco 2001, 2005; West und Carrier 2004; West, Igoe und Brockington 2006; Ojeda 2012). Der Großteil des Gewinns bleibt bei den beteiligten Organisationen, die meistens im Ausland ansässig sind. Zudem bewirken ökotouristische Projekte für die lokale Bevölkerung oft eine soziale Marginalisierung anstatt der versprochenen Partizipation, da sie umweltbezogene Rechte und Zugänge der lokalen Bevölkerung einschränken (Akama 1996; Butcher, Burns und Novelli 2008). Eine Reihe von Autorinnen, die sich mit der Verbindung von Ökotourismus und Naturschutz kritisch auseinandersetzen, greift in diesem Zusammenhang auf das Konzept der environmentality (Luke 1995; Agrawal 2005) zurück, um zu erklären, wie sich die Beziehung der lokalen Bevölkerung mit der Umwelt unter
142 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN dieser neuen Inwertsetzung verändert. Besonders Agrawal (2005) geht darauf ein, wie ›Umwelt‹ für Menschen zur zentralen Achse wird, um die sich ihre Gedanken, Wünsche, Interessen und Handlungen ausprägen. Agrawal verwendet dafür den Begriff der »environmental subjects« (ebd.: 7) also Menschen, die sich »um die Umwelt kümmern« (Fletcher 2010: 176). Indem Umweltpolitiken dezentralisiert werden und Menschen auf lokaler Ebene in Umweltprojekte involviert sind, entsteht eine lokale Beziehung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, die von umweltbezogenen Praktiken, Sozialität und lokalen Machtverhältnissen (Agrawal 2005: 195) geprägt ist. Diese neuen Techniken der Umweltregierung (intimate government) (ebd.: 195) führen Agrawal zufolge dazu, dass Menschen eine »Sorge« gegenüber der Umwelt entwickeln, die sich umgekehrt auch auf lokale Politiken überträgt. Environmentality als analytisches Instrument für die Auseinandersetzung über die Bedeutungszuschreibung und Nutzung von Umwelt zu verwenden, birgt die Gefahr, menschliches Handeln entweder als durch eine Regierbarkeit von Umwelt oder als durch die lokale »Kultur« durchdrungen zu deuten. Diese Perspektive führt zur Dichotomisierung von Naturschutz und lokaler Bevölkerung, sowie zur Essentialisierung von Kultur und vernachlässigt die dazwischenliegenden Komplexitäten und Verflechtungen (vgl. Cepek 2011). Menschen ändern nicht unbedingt ihre Beziehungen zur Umwelt und entwickeln ein ›Umweltbewusstsein‹ nach den Vorstellungen des Naturschutzes. Auch auf Boa Vista, wo eine ausgeprägte Form der politischen und institutionellen Regulierung von Umwelt existiert, insbesondere wenn es um Schildkrötenschutz geht, steht der Großteil der Bewohnerinnen der Insel diesen Initiativen kritisch gegenüber und lehnt sie ab. Um diesen empirischen Befund zu erklären, reicht es daher nicht aus, die Verbindungen zwischen neuen Formen der Regierbarkeit von Umwelt und environmental subjects zu betrachten. Wieso sich Menschen für den Schildkrötenschutz einsetzen, an ökotouristischen Projekten teilnehmen oder beides ablehnen, betrifft vielmehr auch Fragen nach den Haltungen und Anbindungen gegenüber Schildkröten, sowie nach den Folgen ihrer Involviertheit in den Projekten. Hierfür ist eine spezifischere Betrachtung notwendig, die die Formen des Umgangs mit Tieren gleichzeitig auch als Formen der Wahrnehmungen und Erfahrungen mit ihnen erfasst. Denn Mensch-Tier-Beziehungen sind immer auch an Überlebensstrategien und wirtschaftliche Strategien geknüpft und hängen mit Moralvorstellungen und Kosmologien zusammen (Ingold 1987 und 2000). In diesem Kapitel arbeite ich die Verflechtung der verschiedenen Anbindungen und Bezugspunkte heraus, die für Menschen eine Rolle dafür spielen, inwieweit sie im Schildkrötenschutz involviert sind. Ich argumentiere, dass sich
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Menschen dabei an unterschiedlichen Moralvorstellungen orientieren und ihre Handlungen an verschiedene Vorstellungen von Legitimation und Autorität knüpfen, die sich während ihrer Involviertheit mit dem Schildkrötenschutz aktualisieren und verändern. Die Anbindungen, die Menschen an Schildkröten haben, sind nicht voneinander getrennt, sondern miteinander verflochten und entwickeln sich in ihrem Verhältnis zueinander. Um diese Verflechtung auszuarbeiten, beschreibe ich Mensch-SchildkrötenBeziehungen in mehreren sozialen Kontexten. Im ersten Teil des Kapitels erläutere ich Aspekte des Schildkrötenfangs und -verkaufs in Praia und zeige dabei, wie lokale Anbindungen zu Schildkröten auf einer Form des Animismus und auf Abgrenzung gegenüber dem Schildkrötenschutz basieren. Der zweite Teil des Kapitels kombiniert Beobachtungen der NRO-Projekte und der Schildkrötenexkursionen auf Boa Vista als zwei Formen des Schildkrötenschutzes, an denen die Bewohnerinnen von Boa Vista unterschiedlich beteiligt sind. Darauf aufbauend diskutiere ich im letzten Teil des Kapitels, dass die verschiedenen MenschSchildkröten-Beziehungen auf Boa Vista trotz ihrer verschiedenen Ausprägungen alle biosoziale Konfigurationen darstellen, in denen Wissen über, Erfahrungen mit und Ansprüche gegenüber Schildkröten kondensieren.
5.1 S CHILDKRÖTENFANG Gerüchte auf dem Meer Ende März 2011 in Praia begleitete ich Helder, einen Fischer und seine zwei kolegas2 (Kollegen) Tinho und Luis bei der péska (Fischen). Um fünf Uhr morgens verabredeten wir uns am Kebra Kanela, dem von den Bewohnerinnen von Praia und Touristinnen meistbesuchtesten Strand im Süden der Stadt. Kurz vor Sonnenaufgang ist der Strand aus dunkelbeigefarbenem Sand und schwarzen Steinen, der einer Strandbucht gleicht, leer und ruhig. Wir fahren mit Tinhos kleinem Fischerboot eine Stunde auf das Meer, westlich in Richtung Cidade Velha, hinaus. Helder und Luis sprechen während der ganzen Fahrt kaum. Tinho dagegen erzählt gern über das Fischen in Kap Verde: darüber, dass es früher viel mehr Fisch und Fischarten in Kap Verde gegeben habe; darüber, dass außer chicharro
2
Helder bezeichnet alle männlichen Personen, mit denen er fischt als kolegas. Andere Personen, mit denen Helder zusammenarbeitet, wie zum Beispiel rabidantes oder guárdas, fallen nicht unter diesen Begriff.
144 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN und cavala3, alle anderen Arten rar geworden seien und über die großen Hochseetrawler, die alles »mitgenommen« hätten. Das Vorhaben der kapverdischen Regierung, den Einfluss ausländischer Fischerei durch Verbote zu regulieren, erachtet er deshalb als notwendig und begrüßt weitere politische Maßnahmen der Regierung, wie er in diesem Zusammenhang erzählt: »Ich glaube, das ist eine gute Sache, die die Regierung macht: man darf keine Schildkröten fangen, die Chinesen nicht reinlassen, da sie sonst alles mitnehmen…diese Typen nehmen sogar die Pflanzen, die am Meeresboden wachsen, mit! Die von ganz unten! […] Die Fischerei ist schwierig. Vielleicht gehe ich nach Fogo oder nach Boa Vista. In Santiago gibt es zu viele Fischer und in Fogo und Boa Vista gibt es mehr Fisch.« [Videotranskript, Tinho beim Fischen in Praia, Santiago]
Die industrielle Fischerei ist für viele Fischer, die der pesca artesanal, 4 der handwerklichen Fischerei, nachgehen, zu einer starken und fast übermächtigen Konkurrenz geworden (Almeida 1996). Die Wahrnehmung der Konkurrenz aus dem Ausland hängt mit der vergleichsweise schwachen Industrialisierung der nationalen Fischerei zusammen. Vor der politischen Unabhängigkeit Kap Verdes ging die lokale Bevölkerung ausschließlich der kleingewerblichen Fischerei nach, während ausländische Unternehmen die industrielle Fischerei in den kapverdischen Gewässern betrieben (Andrade 2002). Da die Zona Económica Exclusiva (ZEE; exklusive Wirtschaftszone)5 Kap Verdes 734.000 km² umfasst und als kaum ausgeschöpft gilt, ist dieses Gebiet für Unternehmen aus Japan, Europa und dem Senegal attraktiv (Fonseca 2000; Governo de Cabo Verde 2012). In den letzten Jahren initiierte die kapverdische Regierung verschiedene Programme, um den kleingewerblichen Fischereisektor anzukurbeln (UNCTAD 2011) und regulierte die Anzahl der ausländischen Boote und die Fangmengen über spezielle Fischereiabkommen (Carneiro 2011a). Doch da die ausländischen Fischereiunternehmen nicht immer angeben, wie viel Fisch sie gefangen haben kann die tatsächliche Fangmenge nicht kontrolliert werden. Hinzu kommt, dass sich die kapverdischen Institutionen nicht ausreichend untereinander abstimmen, wodurch neben der Kontrolle auch die Überwachung der Grenzen eine Herausforderung darstellen (Rocha, Merino und Neves 2007). Tinhos Haltung gegenüber den ausländischen Fischereinbooten spiegelt eine vielfach artikulierte Sorge und 3
Hierbei handelt es sich um zwei verschiedene Arten von Makrelen.
4
Damit ist die kleine Küstenfischerei gemeint, der die meisten Fischer Kap Verdes
5
Vgl. MAAP (2004a). Die ZEE sind Hoheitsgebiete von Staaten, in denen souveräne
nachgehen (Carneiro 2011b; Governo de CaboVerde 2012). Rechte gelten, insbesondere das alleinige Recht für den Fischfang.
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Unsicherheit der Bewohnerinnen in Praia wider, dass die wirtschaftliche Liberalisierung des Landes sie benachteiligt und dass nicht mehr sie, sondern Chinesinnen, Libanesinnen oder Europäerinnen bestimmte Arbeitsbereiche dominieren. Derartige Sorgen äußerten meine Gesprächspartnerinnen vor allem in den vagen und ambivalenten Beschreibungen von stranjerus und deren Praktiken. Es kursieren verschiedene Versionen über die Praktiken der Chinesinnen, die, wie Tinho sagt, alles und sogar Pflanzen mitnehmen. Auch, dass die Chinesinnen die weißen Krabben äßen, was keine Kapverdierin jemals tun würde, oder Erzählungen darüber, dass es sich bei den Chinesinnen, die in Kap Verde arbeiten, um ehemalige Gefängnisinsassen handele verdichten das Bild einer wahrgenommenen Befremdung. Die vage Darstellung der chinês, deren Vermischung mit den stranjerus und das Gefühl, von deren wirtschaftlich und sozial befremdlichen Praktiken verdrängt zu werden, manifestieren sich dabei in der Form von Gerüchten. Gerüchte sind eine Ausdrucksform, um das Gefühl unsicherer Lebensumstände mit Sinn zu versehen (vgl. Das 2007; Gardner 2012b). White zufolge sind Gerüchte »the product of lived experience, of thought and reflection, of hard evidence« (White 2000: 30 zitiert in Gardner 2012b). Sie entstehen durch die Beteiligung verschiedener Personen und deren wahrgenommene Unsicherheiten, weshalb sie sich stetig verändern und unterschiedlich verstanden werden. Das Gefühl der Unsicherheit, das viele meiner Gesprächspartnerinnen auf diese Weise äußerten, ist darauf zurückzuführen, dass sie eine Veränderung in ihrem Zuhause verspüren, gegenüber der sie eine ambivalente Haltung haben. Chinesische Händlerinnen importieren ihre Waren aus China zollfrei nach Kap Verde und bringen so viele und preiswerte Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs auf die Inseln. Angesichts der sonst hohen Einfuhrzölle (um 60 Prozent) für aus dem Ausland stammende Waren, die sich in den lokalen Verkaufspreisen niederschlagen, sind die Angebote für Gegenstände aus den lojas chinês, den chinesischen Geschäften, für viele Kapverdierinnen eine finanzielle Erleichterung.6 Doch gleichzeitig sind die lojas chinês eine Konkurrenz für den kapverdischen Einzelhandel, deren Betreiberinnen mit den niedrigen Preisen und der Auswahl der Waren nicht mithalten können (Haugen und Carling 2005). Ambivalente Haltungen bestehen auch hinsichtlich der Arbeitsplätze in den lojas chinês. Besonders viele junge Menschen und diejenigen ohne formale Bildung, sind froh, in den Geschäften der Chinesinnen als empregadas zu arbeiten. Hier verdienen sie jedoch nur ca. 70 Euro pro Monat, die Hälfte des durchschnittlichen kapverdischen Einkommens. Daher bezeichnete einige meiner Gesprächspartne6
Im Jahr 1995 eröffnete die erste loja chinês in Praia. Zur chinesischen Diaspora in Kap Verde siehe Haugen und Carling (2005).
146 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN rinnen die Arbeitsbedingungen in den loja chinês als escravatura chinês, als chinesische Sklaverei. In derartigen Aussagen liegt eine indirekte Kritik gegenüber den wirtschaftlichen und politischen Lebensumständen. In gleicher Weise können Gerüchte als machtvolle Form anonymer Kommunikation (Scott 1990: 144) interpretiert werden, mit denen Menschen vorherrschende Machtkonstellationen und Legitimationen kritisieren. Auch Tinho stellt die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen in Frage und beansprucht in diesem Zusammenhang als Kapverdier das Recht, über die eigenen Ressourcen und über die soziale Gestaltung des Lebens bestimmen zu dürfen. Auf Schildkrötenfang Die unterschiedlichen Ansprüche und Legitimationen konkretisiert Tinho in Bezug auf den Schildkrötenfang. Während der Fahrt fragt er, ob ich »ein Problem damit hätte«, wenn er heute eine Schildkröte fangen würde. Ich verneine, und Helder, mit dem ich schon zuvor über den Schildkrötenfang gesprochen habe, bestätigt meine Aussage. Daraufhin formuliert Tinho eine Reihe von Gründen, weshalb er eine Schildkröte fangen möchte: Tinho: »Stell dir vor 10.000 [Escudos]. Falls ich eine fange! ((richtet sich auf und gestikuliert mit seinen Händen)) Aber, wenn, dann check check, 10.000« ((lacht)). Luis ((lacht)): Ja, wenn wir eine sehen, dann fangen wir sie. Tinho: Wir befinden uns in einer Krise. Die Situation ist momentan schlecht. Wir haben eine Fischkrise. Momentan ist es schlecht. Das ist eine Möglichkeit, um Geld zu machen.« [Videotranskript, Tinho und Luis beim Fischen in Praia, Santiago]
Tinho rechtfertigt den Schildkrötenfang als Folge einer Fischkrise. Hierbei handelt es sich um eine diskursive Praktik der Legitimation, da die Fischer im Schildkrötenfang eine Einkommensquelle sehen, die sie in Anspruch nehmen. Doch der Schildkrötenfang hat noch eine andere Bedeutung, die sich in der Art und Weise, wie Tinho und Luis darüber sprechen und in ihrer angriffslustigen Körperhaltung andeutet. Als wir uns der Stelle nähern, die Helder und die kolegas für ihren heutigen Fischgang ausgemacht haben, beginnen Tinho und Luis ihre Harpunen, Taucherbrillen und Schnorchel einsatzbereit zu machen und ziehen ihre Neoprenanzüge an. Helder wirft den Anker ins Wasser und das Boot schaukelt nun auf derselben Stelle hin und her. Während Helder und ich die Kö-
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der für die linhas7 vorbereiten, tauchen die beiden kolegas mit ihren Harpunen ins Meer und entfernen sich einige Meter von unserem Boot. Helder schaut immer wieder aufs Wasser und verfolgt die Schwimmbewegungen seiner kolegas. Luis kommt nach etwa zehn Minuten ans Boot geschwommen und reicht uns seine mit Fischen besteckte Harpune, die Helder und ich entfernen, bevor er zurück ins Wasser taucht. Es ist etwa eine halbe Stunde vergangen als Helder, der abwechselnd auf das Meer hinaussieht, die Köder fertigmacht und ein paar der gefangenen Fische ausnimmt, sich aufrichtet und mehrmals »tartaruga« (Schildkröte) in die Richtung seiner kolegas ruft. In der Nähe unseres Bootes hat Helder eine kleine Schildkröte entdeckt, die mit ihrem Kopf aus dem Wasser auf- und abtaucht. Ihr Kopf ist so klein und im Sonnenlicht und in den Wellen getarnt, dass ich – im Gegensatz zu Helder – Schwierigkeiten habe, ihre Position auszumachen. Tinho und Luis, die Helders Rufe gehört haben, halten inne und beginnen, aufeinander zu zu schwimmen. Tinho reicht Luis seine Harpune, an der erneut mehrere Fische aufgespießt sind, und taucht in die Richtung der Schildkröte. Luis schwimmt zum Boot, wo er gemeinsam mit Helder Tinho in die Richtung dirigiert, in die sich die Schildkröte bewegt. »Da ist sie«, und »sie ist bestimmt auf dem Boden«, rufen Helder und Luis durcheinander. Nach einigen Minuten, als von der Schildkröte jede Spur fehlt, bricht Tinho die Jagd ab. »Die war schlau, sie ist abgehauen«, sagt er, nimmt seine Harpune, die Luis von den Fischen befreit hat und taucht weiter. Etwas später löst Helder den Anker und wir fahren zu einer weiteren Stelle, an der Tinho nochmal mit der Harpune ins Wasser geht, während Luis im Boot sitzt und mit der linha noch eine Moräne fängt. Nach etwa fünf Stunden fahren wir mit einer – nach Aussage der drei Fischer – geringen Ausbeute zurück. Die Jagd auf die Schildkröte zeigt, dass es sich nicht bloß um eine Aktivität der Nahrungssuche und um die Sicherung des Einkommens handelt. Die Art und Weise, wie die Fischer über die Jagd sprechen und wie sie versuchen, die Schildkröte zu fangen, verdeutlicht, dass es sich bei der Praktik um eine männliche Herausforderung handelt und hierfür bestimmte Fertigkeiten erforderlich sind. Gleichzeitig machen die Fischer den Erfolg der Jagd nicht nur von ihren Fertigkeiten, sondern vom Verhalten der Schildkröte abhängig. Die Fischer konstruieren den Schildkrötenfang als eine Herausforderung, der sie sich zwar gewachsen fühlen, die die ihnen aber gleichzeitig auch etwas abverlangt. Diese reziproke Vorstellung über die Beziehung zwischen Menschen und Schildkröten deutet auf eine animistische Verbindung (Ingold 2000 und 2006) 7
Gefischt wird mit der linha, der Angelschnur, die die Fischer um ein Stück Holz oder ähnliches wickeln.
148 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN hin, die Ingold als »welterneuernd« (Ingold 2000: 114) bezeichnet. Mit Animismus ist nicht der Glaube an eine Beseelung von Objekten durch geistige Wesen nach Tylor (Tylor 1871 zitiert in Haller 2005) gemeint, sondern die Auffassung, dass Menschen in einem reziproken Verhältnis zu nicht-menschlichen Entitäten stehen und dass sich soziale Relationalität auf nicht-menschliche Entitäten erweitert (Kohn 2015: 317). Nach Descola (1992) bedeutet Animismus: »objectification of nature [which] endows human beings not only with human dispositions, granting them the status of persons with human emotions and often the ability to talk, but also with social attributes – a hierarchy of positions, behaviours based on kinship, respect of certain norms of conduct« (ebd. 1992:14).
Animistische Verbindungen beinhalten damit auch eine »richtige Behandlung« (Ingold 2000: 114) der Tiere, damit sie diese den Menschen ihre Lebenskraft übergeben können. Das reziproke Verhältnis zwischen Menschen und Tieren konnte ich auch in anderen Situationen beobachten, in denen Kapverdierinnen mit Schildkröten interagierten. Ein paar Wochen später treffe ich mich mit Helder in seinem Haus in Tira Chapeu, einem Stadtteil Praias, wo er mir eine Schildkröte zeigt, die er einige Tage zuvor gefangen hat. Er hat das Tier auf den Boden gelegt und auf den Rücken gedreht, damit es nicht entkommen kann. Helder will die Schildkröte ein paar Tage behalten, um sich nach dem bestmöglichen Verkaufspreis umzusehen. Er erzählt mir von einer rabidante aus einem anderen Stadtteil Praias, die ihm das Tier abkaufen will. Er warte jedoch noch ab, ob er die Schildkröte an einen Kapverdier aus den USA verkaufen kann, der jedes Jahr danach fragt und der viel bezahlen würde. Helder steckt die Schildkröte behutsam in einen Karton und wir verlassen das Haus. Es ist eine kleine Schildkröte, sodass er den Karton unter den Arm klemmen und tragen kann. Wir durchqueren das Viertel auf dem Weg zu einer kleinen Bar, in der für gewöhnlich unsere gemeinsamen Treffen beenden. Dort lässt er die Schildkröte aus dem Karton auf den Boden. Der Barbesitzer wirft ein paar Blicke auf das Tier, geht in die Küche, kommt mit einem Wasserglas zurück und beginnt, die Schildkröte mit ein paar Tropfen am ganzen Körper zu beträufeln. »Sie hat Durst«, sagt er, beugt sich über das Tier und beginnt, es am Kopf zu streicheln. Einige der anwesenden Gäste fragen, ob sie zu verkaufen oder zu töten sei. Helder sagt, dass sie bereits verkauft sei. An diesem Tag hat er wohl kein besseres Angebot bekommen. Die Verbindung zwischen der richtigen Behandlung und der Lebenskraft der Tiere verdeutlicht sich auch bei der Zubereitung der Schildkröten, über die Helder mir in einem Gespräch am Strand von Kebra Kanela erzählt:
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»I: Aber warum, aber warum ist es [Schildkrötenfang] verboten? H: Weil man sagt, dass sie [Schildkröte] schon sehr lange existiert, sie lebt schon sehr lange. 200 Jahre lebt sie und stirbt nicht. Wenn man sie tötet, dann stirbt sie nicht. Man schneidet die Beine ab, die kleinen Beine, Bein um Bein. Die kommen in eine Pfanne mit Wasser, damit sie kochen… I: Ist die Schildkröte in der Pfanne noch am Leben? H: ((nickt)) Alles geschnitten. Man schneidet die Beine, die Zehen und den Kopf ab. Man schneidet das Herz raus, alles. Es dauert bis sie stirbt. Sie ist 200 Jahre alt, deswegen… I: 200 Jahre? H: Ja, die Schildkröte ja. So [macht einen 40cm-Abstand mit den Händen] ist sie ein bisschen weniger als vierzig oder fünfzig. I: Eine große Schildkröte ist 200 Jahre alt? H: ((nickt)) I: Das ist sehr alt.« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit Helder am Strand Kebra Kanela in Praia, Santiago]
Die richtige Zubereitung der Tiere ist von symbolischer Bedeutung und hängt mit der Vorstellung von der aphrodisierenden Wirkung des Fleisches zusammen, die auch aus anderen Region bekannt ist (vgl. Jensen 2009; Woodrom 2013). Durch die richtige Behandlung und Zubereitung der Tiere stellen die Menschen sicher, dass sich diese Lebenskraft der Tiere erhält und auf die Menschen überträgt. Mit der Vorstellung der aphrodisierenden Wirkung des Schildkrötenfleisches werden zudem die männlichen Attribute der Praktik aktualisiert und auf die lokalen Geschlechtervorstellungen übertragen. Helder sagte mir beispielsweise, dass eine alleinstehende Person keine Schildkröten oder andere Meerestiere essen sollte, da man mit dem Verzehr eine sexuelle Potenz aufnehme, die man nur mit seinem Partner verbrauchen könne. Die Übertragung der sexuellen Potenz der Tiere auf Frauen zeigt zwar, dass der Fleischkonsum nicht ausschließlich Männlichkeit reflektiert (vgl. Morris 1998). Doch die Tatsache, dass dem Schildkrötenpenis die meisten aphrodisierenden Eigenschaften zugeschrieben werden und dieser meistens von Männern konsumiert wird, weist auf die geschlechtspezifische Konstruktion dieser Praktik hin. Die symbolische Kraft, die Menschen mit dem Verzehr des Schildkrötenfleisches verbinden, hängt auch mit der Zähigkeit der Schildkröte während der Zubereitung zusammen. Helders Aussage, »wenn man sie tötet, stirbt sie nicht« und »es dauert bis sie stirbt« verweist auf die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod, die auch auf polynesischen Inseln existiert (Woodrom 2013). Auch hieran zeigt sich die Mensch-Schildkröten-Beziehung als eine dialogische Perspektive auf die Welt, in der Menschen und Tiere Teil einer regenerativen Lebenswelt sind (Ingold 2000).
150 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Die reziproken Beziehungen zwischen Menschen und Schildkröten charakterisieren auch die Netzwerke, in denen die Fischer, die rabidantes und die Konsumentinnen mit ihren Praktiken aufeinander angewiesen und miteinander verbunden sind. In diesen Beziehungen haben Wissensbestände darüber, wie man etwa Schildkröten in Praia fangen und halten kann, oder an wen man sie verkaufen kann, eine wichtige Bedeutung. Ebenso bedarf es eines spezifischen Wissens darüber, wie viel Geld der Verkauf einbringt, da der Verkaufspreis keine feste Größe ist, sondern von äußeren Umständen, wie der Jahreszeit oder den Schwankungen im Fischereisektor abhängig ist. Diese spezifischen Beziehungen zu Schildkröten sowie zu Personen innerhalb ihrer Netzwerke, sind für Helder und Tinho die Bezugspunkte, an denen sie ihr Handeln orientieren. Abgrenzungen Die Haltungen der Fischer stehen zudem mit dem Schildkrötenschutz, von dem sie sich abgrenzen, in Zusammenhang. Diese Abgrenzungen äußern sich in einer bestimmten Weise: Keine meiner Gesprächspartner ging auf das gesetzliche Fang- und Konsumverbot ein. Keiner bezog sich auf das Fang- und Konsumverbot, wenn er seine Praktiken rechtfertigte. Wenn sie ihr Verhalten problematisierten, dann nahmen sie auf den Schildkrötenschutz Bezug: »H: Die stranjerus mögen Schildkröten. Aber nicht, um sie zu töten. I: Die stranjerus mögen sie? H: Ja. In Boa Vista, da schützen sie sie viel. Sie fahren dort mit ihren Quads überall herum und suchen nach den Schildkröten, die zum Eierlegen an Land kommen und ihre Eier im Sand vergraben. Und dann wissen sie, wo sie sind, wenn sie schlüpfen. I: Warst du in Boa Vista? H: Ich war da zum Fischen. I: Woher weißt du, dass die Personen, die stranjerus, sie mögen? H: Die kommen hierher und erzählen das. Es gibt viele Italiener in Sal und in Boa Vista. Mit ihren Quads fahren sie überall hin, zu den Orten, wo die Schildkröten an Land kommen, und dann stellen sie da Zelte auf. Und dann bleiben sie da. Da ist anders als in Praia. […] I: Wieso mögen es die bránkus nicht, wenn du Schildkröten fängst? H: Die Schildkröte ist ein Tier, das es schon sehr lange gibt. Ein Tier, das niemandem etwas zuleide tut, das niemanden stört. Man kann mit ihm zusammen sein, man kann es überall anfassen, am Kopf, innen, am Arm. Das kommt überall hin mit wo du willst. I: Aber warum mögen es die Portugiesen nicht, dass du Schildkröten fängst? H: Weil sie meinen, dass die Schildkröte sehr schön ist.
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I: Und du meinst nicht, dass sie schön ist? H: Doch, aber das [zeigt auf Geld das auf dem Tisch liegt] das hier ist schöner.« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit Helder im Café in Praia, Santiago]
Helder spricht über die Schildkrötenschutzprojekte auf Boa Vista und Sal und von den stranjerus und deren Motivation Schildkröten zu schützen. Obwohl Helder einzelne Praktiken und Narrative dieser Schutzprojekte wiedergibt, bleibt seine Erklärung, weshalb die stranjerus das Töten der Schildkröten ablehnen, vage. Was Helder mit »schön« und »mögen« beschreibt, habe ich von vielen Kapverdierinnen gehört, wenn sie die Motivation der Naturschützerinnen erklären. Die Gesprächspartnerinnen geben hier nicht die Aussagen der Naturschützerinnen wieder, sondern antizipieren, was die stranjerus mit Schildkröten verbinden. Diese Antizipationen sind einerseits von den eigenen Erfahrungen und Erzählungen über die Praktiken derjenigen, die Schildkröten schützen, geprägt. Andererseits fließen hier die eigenen Haltungen gegenüber den Tieren mit ein. Keiner der Fischer lehnt den Schildkrötenschutz ab oder kontrastiert ihn mit dem Fang und Konsum als kulturelle Praktiken. Die Fischer thematisieren vielmehr, dass die Naturschützerinnen andere Praktiken gegenüber Schildkröten etablieren und eine Autorität auf diesem Gebiet einfordern. Diese Entwicklung nehmen sie als eine Bedrohung für ihre eigenen Praktiken wahr. Die Mensch-SchildkrötenBeziehungen der Naturschützerinnen beschreibe ich im folgenden Teil des Kapitels.
5.2 S CHILDKRÖTENSCHUTZ : P ATROUILLEN UND E XKURSIONEN Der Beginn der Schildkrötensaison im Juni ist die Zeit, in der die Arbeit der NRO Verde und der NRO Azul auf Boa Vista ihren Höhepunkt erreichen. Die beiden NROs sind seit den Jahren 2000 (NRO Azul) und 2007 (NRO Verde) auf der Insel vertreten, um den Schutz der Schildkröten zu gewährleisten. Die Mitarbeiterinnen der NRO Azul, die an ein Forschungsinstitut einer spanischen Universität angegliedert ist, konzentrieren sich vor allem darauf, umfassende wissenschaftliche Daten über das Nistverhalten der Schildkröten zu erheben. Zudem haben sie damit begonnen, Schildkrötenexkursionen auf Boa Vista durchzuführen. Die Vertreterinnen der NRO Verde sehen ihren Hauptauftrag dagegen darin, die Schildkröten vor dem Fang und dem Konsum durch die lokale Bevölkerung zu schützen und die Bewohnerinnen von Boa Vista zu einer nachhaltigen Ände-
152 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN rung ihres Umgangs mit Schildkröten zu bewegen. Die Leitungen beider NROs entwickelten nach und nach weitere Aktivitäten, wie »Beach Clean Ups« oder Workshops für die Kinder aus den Dörfern Boa Vistas, um die Bevölkerung für die Umwelt zu ›sensibilisieren‹. In den Camps Die »Headquarter« beider NROs liegen in Sal Rei, wo die NRO Leitungen Büroräume und einige Wohnung angemietet haben oder besitzen. Von hier aus koordinieren sie ihre Aktivitäten. In den Monaten vor der Nistsaison organisieren und planen die Mitarbeiterinnen der NRO Verde vor allem die Strandcamps, in denen die Hauptarbeit des Schildkrötenschutzes stattfindet. Carina, die Feldkoordinatorin8 der NRO Verde aus Portugal, bezeichnet die Camps als das Herzstück der NRO-Arbeit. In ihrem Büro in Sal Rei veranschaulicht sie mir anhand einer Karte, wie sich die beiden NROs seit dem Jahr 2007 die Strände der Insel aufteilen. Die drei Camps der NRO Verde verteilen sich auf drei Strände Boa Vistas und decken einen Teil der Insel ab, in dem das Schildkrötenvorkommen besonders hoch ist. Den anderen Teil der Insel übernimmt die NRO Azul, mit der die NRO Verde nach Carinas Aussage gut zusammenarbeitet. Zwei Camps der NRO Verde liegen an den Stränden von Lacacão und Boa Esperança und eines in Fundo das Figueiras, wo die NRO-Leitung ein Haus im Dorf angemietet hat. In jedem dieser Camps leben von Juni bis Oktober zwischen zehn und 20 Personen. Die meisten arbeiten als Freiwillige und engagieren sich nur für diesen Zeitraum für die NRO. Darunter sind überwiegend europäische Meeresbiologinnen, die sich die Mitarbeit bei der NRO als ›praktische Erfahrung‹ für ihr Studium anrechnen lassen. Auch einige ältere Personen, engagieren sich für den Artenschutz, um einmal etwas Anderes in ihrem Leben zu machen, wie sie sagen. Die Freiwilligen zahlen für ihr Engagement zwölf Euro pro Tag und bilden das personelle und finanzielle Rückgrat der NRO.9 Die Kapverdierinnen, die für die NRO arbeiten, zählen zwar auch als Freiwillige, doch im Gegensatz zu ihren europäischen Kolleginnen, werden sie für ihre Mitarbeit bezahlt. Mit dem Gehalt will die NRO-Leitung den Kapverdierinnen und vor allem denjenigen aus Boa Vista einen Anreiz bieten, sich für das Projekt zu engagieren. Zudem arbeiten in jedem Camp einige Soldaten des kapverdischen Militärs. Die meisten von ihnen befinden sich in der Ausbildung, aber ich traf auch 8
Feldkoordinatorin ist eine Position in der NRO, die die Arbeit der drei Camps organi-
9
Die NRO Verde finanziert sich aus privaten Spenden und Geldern von größeren Ge-
siert. ber- Organisationen.
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auf Offiziere, die sich am Schildkrötenschutz beteiligen. Die Leitung der NRO Verde greift hierbei auf das Modell des Schildkrötenschutzes der Nachbarinsel Sal zurück. Die NRO-Leitungen auf Sal hatten sich an die Regierung gewandt, um mehr Unterstützung für den Schildkrötenschutz zu erhalten. Die DGA bezahlt das Militär dafür, einige ihrer Soldaten für die Schutzprojekte auf Sal und auch auf Boa Vista zur Verfügung zu stellen.10 Zudem sind einige Bewohnerinnen aus Boa Vista über das ganze Jahr bei der NRO angestellt und arbeiten als Fahrer oder übernehmen einen Teil der Logistik. Die Positionen und die Arbeit in den Camps sind hierarchisch strukturiert. Die NRO-Leitung vergibt jedes Jahr und manchmal auch während einer Saison verschiedene Posten an die Freiwilligen und an die Soldaten. Neben der NROLeitung und der Feldkoordinatorin, hat die Camp-Koordinatorin die Autorität in den Camps, gefolgt von wissenschaftlichen Assistentinnen, ›Ranger‹, Mitarbeiterinnen und den Soldaten. Die Freiwilligen werden nach ihrem beruflichen und fachlichen Hintergrund und ihren Erfahrungen mit Schildkröten und Schildkrötenschutz eingeteilt. Die Motivation der Kapverdierinnen, die für die NRO arbeiten, variiert. Für viele der kapverdischen Mitarbeiterinnen ist das dreimonatige Engagement bei einer der NROs eine stabile Einkommensquelle. Andere wollen darüber hinaus eine neue Erfahrung machen und mehr über das Verhalten der Tiere erfahren. Zudem schätzen sie die Begegnungen mit den anderen Freiwilligen, vor allem mit denjenigen aus dem Ausland. Die meisten der kapverdischen Mitarbeiterinnen haben mindestens einmal in ihrem Leben Schildkröten gefangen oder gegessen. Sie beschreiben den Schildkrötenfang und -konsum als kapverdische ›Traditionen‹, aber auch als eine Folge von Unwissenheit. Früher hätten die Menschen nicht gewusst, dass die Schildkröten vom Aussterben bedroht seien. Da jedes Jahr viele Schildkröten an Land kamen, machten sie sich auch keine Gedanken über deren Fortbestand. Doch seitdem die NROs auf Boa Vista arbeiteten, habe sich die Haltung vieler verändert. Adilson, ein Boavistenser Mitte 20 arbeitet seit einigen Jahren abwechselnd für beide NROs, wenn er nicht als Koch oder als Kellner in einem der Restaurants oder einer der Bars seinen Lebensunterhalt verdient. Um die Schildkröten zu schützen, nimmt sich Adilson jeden Sommer drei Monate frei. Seine Motivation für den Schildkrötenschutz legt er mir folgendermaßen dar:
10 Nach Aussagen eines Mitarbeiters der NRO Verde weigerten sich die Vertreter der Militärs jedoch auch, weitere Soldaten für den Schildkrötenschutz zur Verfügung zu stellen, da sie nicht von der DGA bezahlt wurden.
154 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN »A: Ich mag sie [die Arbeit]. Es ist nicht einfach, aber ich mag es. I: Warum ist es nicht einfach? A: Warum es nicht einfach ist? Weil du Stärke und Wille haben musst, das ist eine Sache, die man in meinem Land nur schwer findet ((lacht)). Feeling, arbeiten, aber fürs feeling, nicht, um was zu verdienen.« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit Adilson in Sal Rei, Boa Vista]
Adilson verbindet den Schildkrötenschutz eher mit einer Leidenschaft als mit einer Einkommensquelle. Obwohl er als Kapverdier für sein Engagement bezahlt wird, geht es ihm nicht um das Gehalt. In einem der Beachclubs oder als Angestellter bei einer der Reiseagenturen könnte er besser verdienen. Adilson zählt zu den jungen Boavistenser, die aufgrund ihrer Sprachkenntnisse in vielen touristischen Bereichen, wie im Restaurant, an der Bar oder als Reiseleiter arbeiten könnten. Ihm geht es darum, etwas über die Schildkröten zu lernen und auch darum, andere Leute aus Boa Vista dazu zu bewegen, den Schildkrötenkonsum aufzugeben. Calu aus Jalunga arbeitet für den Schildkrötenschutz bei der NRO Azul. Auch er hat früher gerne Schildkröten gegessen und sich wegen der Arbeit der NROs dagegen entschieden. Nun ist er überzeugt, dass die Menschen etwas gegen das Aussterben tun müssten. Doch wegen seines Engagements bei der NRO ist er mit seiner Familie und mit anderen Personen aus Jalunga in Konflikt geraten. Sie werfen ihm vor, dass er mit den Leuten arbeite, die dem Dorf seit Jahren das Leben erschwerten. Im Jahr 2012 überschrieben einige Bewohnerinnen von Jalunga die Wandbilder der NROs mit Schriftzügen in Kreol und Italienisch: »Wir essen sie«, »Boa Vista ist unser Land« und »Verschwindet von hier« zog sich über die Wände um den praça. Solche Vorkommnisse tragen zu dem Bild des Dorfes Jalunga als das »Problemdorf« und als Teil des »problematischen Nordens« der Insel bei, das sich zuletzt wegen der handgreiflichen Auseinandersetzung am Strand von Porta Grande verfestigte. Calu kann den Ärger seiner Familie und der Bewohnerinnen aus Jalunga zwar nachvollziehen und begründet ihn damit, dass sie nicht vom Schildkrötenschutz profitieren. Doch er bezeichnet die Bewohnerinnen seines Heimatdorfes auch als eigenwillig, stur und – in Bezug auf Schildkrötenschutz – als »à parte da Bubista« (Sonderlinge). Er findet es nicht gut, dass sie immer noch Schildkröten essen und hofft, dass die Leute ihr Verhalten mit der Zeit ändern. Aus den vorangegangenen Beschreibungen wird deutlich, dass die Praktiken und Haltungen der Personen, die sich für den Schildkrötenschutz engagieren, nicht immer mit den Philosophien der NROs übereinstimmen. Vielmehr zeichnet sich eine ambivalente Haltung meiner Gesprächspartnerinnen ab, die von
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ihren jeweiligen Erfahrungen mit Schildkröten und ihren Beziehungen zu ihrern Gemeinschaft enabhängt. Einige Kapverdier, die bei den NROs arbeiten, fangen und töten Schildkröten nach der Saison, sobald die Camps schließen. Ein Boavistenser aus einem Dorf im Norden der Insel erzählt mir, dass er gar nicht mehr überschauen könne, wie viele Schildkröten er schon in seinem Leben getötet habe. Er könne nicht damit aufhören – obwohl er für die NRO arbeitet. Er hat bereits für beide NROs gearbeitet und gerät mit beiden wiederkehrend in Konflikt, da er sich gegen die Strukturen in den Camps widersetzt. Obwohl der Boavistenser auf eine fast tragische Weise erzählt, dass er vom Schildkrötenfang nicht ablassen könne, erzählt er dies auch mit einem Gefühl von Stolz. Diese Haltung nehmen auch andere meiner Gesprächspartner ein, wenn sie davon erzählen, wie und wie viele Schildkröten sie gefangen haben und dass sie auch jetzt – trotz ihrer Arbeit bei der NRO – in der Lage seien, Schildkröten zu finden. Auch Calu, bietet mir mehrmals an, dass er es »arrangieren« könne, dass ich einmal Schildkrötenfleisch probiere. Solche ›Angebote von einheimischen Mitarbeiterinnen beider NROs sind keine Seltenheit. Die ambivalente Haltung der Kapverdierinnen zum Schildkrötenschutz führt oft zu einer unbeständigen Beziehung zwischen den NROLeitungen und ihren boavistensischen Mitarbeitern. Und manchmal scheint es, als könnte die Situation jeden Moment eskalieren. Doch diese Unbeständigkeit geht nicht nur von den Mitarbeitern aus, sondern auch von den NRO-Leitungen, die einzelne Mitarbeiter beispielsweise wiederholt entlassen und wiedereinstellen. Auch wenn die NRO-Leitung vermutet, dass ihre Mitarbeiter an den Schildkrötenfängen auf Boa Vista beteiligt sind – sie bezeichnet dies dann als »Rückfälle« – gibt sie ihnen mit einer neuen Anstellung eine »Chance«, ihr Verhalten zu ändern. Das gilt vor allem für die älteren ehemaligen Schildkrötenfänger, die auch als ›Wilderer‹ bezeichnet werden und die die Leitungen beider NROs für die Arbeit in den Camps gewinnen wollen. Ehemalige Schildkrötenfänger wissen viel über das Verhalten von Schildkröten, sowie über die Netzwerke des Fangs, des Handels und des Konsums. Besonders für die nächtlichen Patrouillen am Strand gibt es aus Sicht der NRO-Leitungen keine besseren Mitarbeiter. Die ehemalige ›Wilderer‹ sind im Gegensatz zu anderen Mitarbeiterinnen weitaus besser darin, die Bewegungen von Schildkröten im Meer und am Strand oder Spuren im Sand in der Dunkelheit zu erkennen. Zudem ist die NRO-Leitung der Ansicht, dass sich die Beziehungen zur Bevölkerung, vor allem zu der im Norden der Insel, verbessern lassen, wenn ehemalige Fänger sich für den Schildkrötenschutz engagieren.
156 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Misstrauen am Strand Die nächtliche »Patrouille« ist die wichtigste Arbeit in den Camps. Dabei sind die Mitarbeiterinnen zu Fuß am Strand unterwegs und überwachen die Aktivitäten der Schildkröten. Zwischen 21.00 Uhr abends und 04.00 Uhr morgens gehen mehrere Gruppen von zwei bis fünf Personen die Strandabschnitte des Camps ab. Je nachdem, wie viele Personen sich in den Camps befinden, patrouillieren an einem Abend zwischen zwei und vier Gruppen und lösen sich im Abstand von drei Stunden gegenseitig ab. Im Camp von Boa Esperança, wo ich mehrere Tage verbrachte, lief ich vier Stunden gemeinsam mit zwei Soldaten und einem kapverdischen Freiwilligen einen Strandabschnitt auf und ab. Zuvor hatte mich die Camp-Koordinatorin aus Portugal instruiert, wie ich mich verhalten soll: geschlossen mit der Gruppe, hintereinander und zügig gehen, nicht laut reden und kein grelles Licht verwenden. Und sobald ich eine Schildkröte sähe, solle ich mich auf den Boden legen und eine der Assistentinnen und erfahrenen Freiwillige informieren. Während der Patrouillen beobachten und dokumentieren die NRO-Mitarbeiterinnen die Schildkröten und deren Nistaktivitäten. Eine wichtige Fähigkeit ist es deshalb, Spuren im Sand erkennen und deuten zu können. Schildkröten hinterlassen Abdrücke im Sand, die Reifenspuren ähneln und je nach Ausrichtung anzeigen, ob die Schildkröte an Land gekommen oder sich wieder zurück ins Meer bewegt hat. Wenn die Spuren in Landrichtung zeigen und keine anderen Spuren in der Nähe darauf hindeuten, dass die Schildkröte das Land wieder verlassen hat, ist sie vermutlich dabei, einen Nistplatz zu finden oder Eier zu legen. Auch an den größeren Scharrbewegungen und an den Abdrücken der Beine im Sand ist erkennbar, ob die Schildkröte ein Nest gebaut und nach der Eiablage bedeckt hat. In diesem Fall folgt die Patrouille den Spuren. Manchmal können die Spuren sich verlieren, wenn die Schildkröte bis in die bewachsenen Dünen geht, oder wenn das Wasser den Sand bereits wieder geglättet hat. Manu, ein kapverdischer Ehrenamtlicher aus Praia, mit dem ich gemeinsam die Strandabschnitte ablief, bemerkte auch die kleinsten Bewegungen und Spuren in der Dunkelheit. Er selbst hat früher viele Schildkröten gegessen. Einmal entdeckte er eine Schildkröte, die dabei war, auf einen weit entfernten Felsen zu klettern, um einen geeigneten Platz zum Nisten zu finden. Er nannte sie tartaruga louca (verrückte Schildkröte), da es dort in den Felsen gar nichts gebe, wo sie nisten könnte. Wenn eine Schildkröte aus dem Meer kommt, hält die Patrouille inne und duckt sich. Dann wartet sie und sieht zu, wie das Tier sich langsam aus dem Meer an Land bewegt und nach einem Nistplatz sucht. Während der Patrouille
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treffen die Mitarbeiterinnen auch auf Schildkröten, die dabei sind, Eier zu legen. In solchen Fällen zeichnet die Ranghöchste der Gruppe auf, wie groß die Schildkröte ist, wie viele Eier sie legt, und notiert die Uhrzeit und die Stelle der Nistaktivität. Auf einigen Patrouillen sichten die Mitarbeiterinnen keine Schildkröten, sondern treffen nur auf die Abdrücke von Schildkröten vom Vortag oder auf bereits markierte Nester von vorherigen Patrouillen. Doch auch nach solchen »ereignislosen« Patrouillen kehrt die Gruppe erschöpft ins Camp zurück und berichtet den übrigen Mitarbeiterinnen am nächsten Tag, was nachts am Strand passiert ist. Im Laufe der drei Monate, die die Personen in den Camps verbringen, teilen sie gemeinsame Erfahrungen und Praktiken, die sich während der beschriebenen Patrouillen, aber auch während der tagsüber stattfindenden Aktivitäten entwickeln. Dazu zählen Aufgaben wie Kochen und Waschen, die die CampKoordinatorin auf die einzelnen Personen verteilt und auf einer Kreidetafel dokumentiert. Die Mitarbeiterinnen übernehmen auch Sonderaufgaben, wie ein Schild mit dem Logo der NRO anzufertigen oder einen Sonnenschutz für die Freiwilligen am Strand zu bauen, wenn sie dort ihren Tag verbringen. Eine andere Aktivität ist der »Zensus«, der wöchentlich stattfindet und dazu dient, jegliche Aktivitäten oder Besonderheiten in den zu überwachenden Strandabschnitten zu erheben, die während der nächtlichen Patrouillen nicht erfasst wurden. Auch hier läuft eine Gruppe die Strandabschnitte ab und hält nach getöteten Schildkröten, zerstörten Nestern, geschlüpften Schildkröten oder sonstigen Ereignissen Ausschau. Vor allem in den Momenten, in denen die Freiwilligen den Schildkrötenbabys beim Schlüpfen zusehen oder die toten Schildkrötenpanzer in den Dünen zählen und sich danach mit den anderen NRO-Mitarbeiterinnen austauschen, verstärkt sich das Gefühl, gemeinsam für eine Sache zu arbeiten und sich dabei gegenseitig zu unterstützen. Die Personen übernehmen auch im Lauf der Zeit Verantwortung füreinander und unterstützen sich gegenseitig bei anderen Arbeiten im Camp. Als sich beispielsweise eine Freiwillige eine Beinverletzung zuzog, übernahmen andere ihre Aufgaben. In solchen Momenten der gegenseitigen Unterstützung halten die Naturschützerinnen sich die Bedrohung der Tiere, die moralische Aufgabe des Schildkrötenschutzes und die Nachhaltigkeit ihrer Arbeit deutlich vor Augen. Hier setzen sich auch implizite Dynamiken der Abgrenzung gegenüber denjenigen, die Schildkröten fangen, in Gang. Die NRO-Mitarbeiterinnen teilen nicht nur ihre Praktiken, ihr Wissen und ihre Erfahrungen miteinander, sondern aktualisieren auch die Sinnhaftigkeit und Zielsetzung ihrer Arbeit. Hierbei entsteht ein Gefühl der Zusammengehörigkeit (Pfaff-Czarnecka 2012), das Gemeinsamkeiten, Gegenseitigkeiten und Anbindungen kombiniert.
158 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Nachdem ich alle Camps der NRO besucht hatte, stellte ich fest, dass das Gemeinschaftsgefühl immer auch in Abgrenzung zu den anderen Camps entsteht. Hierbei spielen die geographische Lage der Camps und der Schwierigkeitsgrad der Arbeit eine Rolle. Viele Freiwillige empfinden Boa Esperança als das »schönste« Camp, da es direkt an dem langen weißen Strand liegt. Auch ist das Camp nur 20 Minuten von der Hauptstadt entfernt. Der Aufenthalt im Camp in Fundo, wo die Freiwilligen im Haus und nicht in Zelten schlafen, gilt dagegen als bequem und einfach. Die Freiwilligen haben Zugang zu Geschäften oder können das Internet benutzen, was in den am Strand gelegenen Camps nicht möglich ist. Die NRO-Leitung bezeichnet das Camp in Fundo wiederum als weitaus »chaotischer« als die beiden anderen und als schwieriger unter Kontrolle zu halten, da die Mitarbeiterinnen mit den Reaktionen der lokalen Bevölkerung konfrontiert sind. Das dritte Camp in Lacacão, liegt am weitesten vom nächsten Dorf entfernt und wird als das isolierteste Camp bezeichnet. Zudem gibt es in Lacacão drei lange Strandabschnitte zu patrouillieren, die als am schwierigsten zu bewachen gelten. Im Zuge der gemeinsamen Arbeit für den Schildkrötenschutz entwickelt sich unter den NRO-Mitarbeiterinnen aller Camps auch ein Gefühl der Autorität, die sie gegenüber anderen Personen und deren Praktiken durchsetzen. Im September verbrachte ich einige Tage im Camp von Lacacão, das in der Zone von Minão, nicht unweit vom Hotel Calistan liegt, das zu dieser Zeit im Bau war. Vom erhöht gelegenen Camp hat man einen guten Blick auf die am Strand liegende Baustelle des Hotels, die 24 Stunden in Betrieb ist. Für die NRO-Leitung ist die Baustelle des Hotels ein Problem, da die Geräusche der Maschinen und die nächtlichen Lichter die Schildkröten bei der Eiablage abschrecken. Die CampKoordinatorin, eine Meeresbiologin aus Brasilien, die schon zum wiederholten Mal während der Nistsaison für die NRO auf Boa Vista arbeitet, teilt die Freiwilligen und Soldaten für die Patrouillen an den drei Stränden ein. An diesem Tag ist auch Carina, die Feldkoordinatorin anwesend, die zwei Tage im Camp verbringen will, um die »Lage« in Lacacão einzuschätzen. Gemeinsam mit ihr, einem Soldaten und zwei Freiwilligen aus Europa laufe ich den Strandabschnitt ab, der zwischen dem Camp und der Hotelbaustelle liegt. Wir sind eine Stunde am Strand entlanggelaufen, ohne auf Schildkröten oder Spuren von Schildkröten zu treffen. Auf einmal bemerken wir Bewegungen und Stimmen hinter uns, die wir in der Dunkelheit und aufgrund der Entfernung nicht ausmachen können. »Da sind Leute!«, sagt Carina aufgebracht und bleibt stehen. Auch der Rest der Gruppe hält inne. In diesem Moment ändert sich die Stimmung. Die zuvor lockere Atmosphäre weicht einer Anspannung, die sich auf die unbekannte Personengruppe richtet. »Wir müssen nachsehen, wer das ist und
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was die dort machen« sagt Carina. Unsere Gruppe kehrt um und bewegt sich nun schneller und geschlossener. Carina fordert den Soldaten auf, mit ihr zusammen vorwegzulaufen, damit die Leute sofort sehen, dass wir das Militär dabeihaben. »Wer ist das, was machen die hier? Die dürfen nicht hier sein!« wiederholt Carina mehrmals, während sie in schnellen Schritten auf die Unbekannten zugeht. Wir kommen den unbekannten Personen immer näher, die sich ebenfalls in unsere Richtung bewegen. Schließlich stehen sich unsere Gruppen gegenüber: es ist die andere Patrouille aus dem Camp. Carina ist verärgert. Offensichtlich hat es ein Missverständnis gegeben, welche Gruppe für welche Strandabschnitte eingeteilt ist. Die Anspannung entlädt sich. Carina fordert die Freiwilligen auf, die Einteilung der Patrouillen besser zu koordinieren, damit solche Vorfälle nicht wieder passieren. Sie hatte gedacht, es seien Wilderer am Strand. Die Intensität, mit der die NRO-Mitarbeiterinnen darüber verhandeln, wer am Strand sein darf und wer nicht zeigt, wie die Naturscützerinnen räumliche Ansprüche und Verhaltensregeln einfordern. Diese Ansprüche gelten nicht nur innerhalb der Camp-Gruppen. Die NRO-Mitarbeiterinnen erheben sie auch gegenüber anderen Personen, die sich in der Nähe der Camps aufhalten und denen sie erklären, wie sie sich am Strand verhalten sollen. So äußerten sie etwa ihre Befürchtungen darüber, dass die guárdas der Baustelle Schildkröten unbemerkt fangen könnten: »Sie haben einen viel zu einfachen Zugang zu den Schildkröten. Keiner würde etwas bemerken, falls sie eine Schildkröte fangen würden. Die meisten von ihnen sind aus GuineaBissau, wo viele auch Schildkröten essen. Aber wir haben auch schon positive Erfahrungen mit ihnen gemacht. Einer der guárdas hat einmal etwas Verdächtiges am Strand gesehen und ist sofort zum Camp hochgerannt, um die NRO zu informieren. Unsere Arbeit trägt Früchte.« [Feldnotiz, informelles Gespräch mit Carina im Camp Lacacão, Boa Vista].
Die größten Probleme sahen die NRO-Mitarbeiterinnen jedoch noch vor sich und zwar nach der Eröffnung des Hotels. Die Aktivitäten der Touristinnen am Strand, das Quadfahren und der Lärm würden die Nistaktivitäten der Schildkröten und die Unversehrtheit der Nester erheblich beeinträchtigen. Die NROLeitung versucht deshalb schon seit Längerem, mit der Hotelführung über Maßnahmen zu sprechen, die das Hotel ›schildkrötenfreundlicher‹ gestalten sollen. James, der Leiter der NRO Verde, schlägt dem Direktor beispielsweise vor, einen Schildkrötenexperten aus Florida einfliegen zu lassen, der das Hotel darin unterstützen soll, die Lichtverhältnisse richtig einzustellen. Die Hoteldirektion lehnt die Zusammenarbeit mit der NRO Verde ab, wodurch sich die Beziehung
160 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN zwischen der NRO-Leitung und den Managerinnen des Hotels verschlechtert hat. Auch als der Hoteldirektor sich kurze Zeit darauf für eine Zusammenarbeit mit der NRO Azul entscheidet, verschärft sich der Konflikt zwischen der NRO Verde und dem Hotel Calistan, sowie zwischen der NRO Verde und der NRO Azul.11 Da die touristischen Praktiken und die der NROs primär am Strand stattfinden, treffen Touristinnen und NRO-Mitarbeiterinnen immer wieder aufeinander. Seit das Hotel Calistan in Betrieb ist, versuchen die NRO-Mitarbeiterinnen, auch die Touristinnen für den Schildkrötenschutz zu sensibilisieren. James hat gerade drei Touristinnen zu Besuch im Camp, die sich für den Schildkrötenschutz interessieren und sich über die Arbeit der NRO informieren wollen. Während er sie durch das Camp führt und die Arbeit der NRO erläutert, fährt eine Gruppe von 15 Touristinnen auf Quads zwischen den Zelten und der Kochstelle hindurch und die Dünen zum Hotel hinunter. Einige der Touristinnen winken uns zu, doch James ist irritiert. Er wendet sich an die drei Touristinnen und sagt: »We have been here for many years. We saw the hotel growing. So we considered, this is our spot. And then we saw – oh –there are quads and cars running right through our camps. And then we thought, ok, is this good or bad? So we said, ok, let them go, cause we have this nice sign there, so maybe they might think – ah NRO Verde – they might check the website, what are they doing. And then they get this information from us.« [Videotranskript, Gespräch zwischen James und Touristen im Camp in Lacacão, Boa Vista]
James formuliert einen Anspruch auf die Autorität in diesem Gebiet, den der daraus ableitet, dass sie zuerst da waren. Dieser Anspruch auf das Gebiet in Minão steht in Konflikt mit den Ansprüchen der Reiseagenturen sowie den Áreas Protegidas, die eine ähnliche Autorität in diesem Gebiet einfordern. Ihre Territorialitätsansprüche und ihre Autorität markieren die NRO-Mitarbeiterinnen auch über räumliche Einschreibungen. Sie begannen nach und nach die Nester am Strand weitläufiger als sonst zu umzäunen und mit Informationen in mehreren Sprachen zu beschriften. Diese Nester wurden bald zu touristischen Attraktionen, die die Urlauberinnen während ihrer Strandspaziergänge besichtigen. Auch im Camp von Boa Esperança, das in unmittelbarer Nähe eines alten Schiffwracks liegt, welches zu den Sehenswürdigkeiten der Insel zählt, manifestieren sich die Territorialitätsansprüche der NROs und touristischer Akteure. Re11 Zwischen den beiden NROs gibt es verschiedene Konflikte darüber, wie ein ›richtiger‹ Schildkrötenschutz aussieht. Im Lauf meiner Feldforschung spitzten sich die Auseinandersetzungen zu.
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gelmäßig besuchen Touristinnen auf Quads, in Mietwagen, mit Taxis oder in den Transportern der Hotels diesen Ort. Da der Weg zum Schiffswrack am Camp vorbeiführt, wissen die Mitarbeiterinnen des Camps jedes Mal darüber Bescheid, wenn sich Personen an den Stränden aufhalten. Die NRO-Mitarbeiterinnen haben ein Schild mit dem Logo der NRO Verde an einer der Dünen aufgestellt, an denen die Fahrzeuge vorbeifahren. Ein weiteres Schild formuliert die Bitte, den gesammelten Müll am Strand, den die Mitarbeiterinnen zuvor in Säcke gepackt hat, in die Stadt mitzunehmen. Manchmal gehen die Freiwilligen auf Touristinnen zu und bitten sie persönlich darum, den Müll mitzunehmen. Wenn Touristinnen mit Quads den Strand entlangfahren, formulieren die NRO-Mitarbeiterinnen keine Bitten, sondern erheben ihre Forderungen mit mehr Nachdruck. Die NRO-Leitung weist die Mitarbeiterinnen darauf hin, dass in solchen Fällen immer Soldaten mit einem Gewehr und eine NRO-Mitarbeiterin zusammen mit den Touristinnen sprechen sollen, »um ihnen mehr Respekt einzuflößen«. Einmal beobachten die NRO-Mitarbeiterinnen, wie zwei Touristen auf Quads am Camp vorbei und hinunter zum Schiffswrack fahren. Die CampKoordinatorin stellt schnell eine Gruppe zusammen – ein Soldat, der sich sein Gewehr umhängen soll, sie selbst und eine weitere Freiwillige. Zusammen laufe ich mit der Gruppe an die Stelle, wo die Touristen stehen geblieben sind. Ein Mann und sein Sohn aus Italien sitzen auf ihren Quads. Die Camp-Koordinatorin fordert sie auf Englisch auf, abzusteigen und weist beide darauf hin, dass das Quadfahren am Strand verboten ist, und dass sie damit die Nester der Schildkröten zerstören. Dies sei ein Gebiet, in dem es unter Artenschutz stehende Schildkröten gebe und mit ihrem Verhalten gefährden sie deren Fortbestand. Die Camp-Koordinatorin macht dem Mann das Angebot, ihn und seinen Sohn während der Besichtigung des Schiffs zu begleiten, um sicherzustellen, dass sie nicht aus Versehen etwas zerstören. Der Mann und sein Sohn, die die ganze Zeit über nicht von ihren Quads absteigen und lediglich ein paar Mal mit dem Kopf nicken und auf Italienisch sagen, dass sie nichts verstehen, fahren kurz darauf mit ihren Quads die Dünen hinauf und verlassen den Strand. Militarisierter Schildkrötenschutz Die Bewohnerinnen Boa Vistas setzten die Mitarbeit des Militärs am Schildkrötenschutz mit einer willkürlichen Durchsetzung von Autorität gleich. Zudem zirkulieren Gerüchte darüber, dass die Soldaten selbst Schildkröten fingen und äßen oder anderen Personen dabei unterstützen, sie an die Mitarbeiterinnen oder Touristinnen in den Hotels zu verkaufen. Die Beteiligung des Militärs wirft die Frage auf, wie sich eine Partnerschaft zwischen Militär und Naturschutzorganisatio-
162 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN nen im Schildkrötenschutz auswirkt. Die Soldaten unterstützen die NROMitarbeiterinnen durch ihre Arbeitskraft und statten den Schildkrötenschutz mit einer staatlichen Legitimation aus. Diese Zusammenarbeit mit dem Militär hat sich auch im Vokabular der NRO-Leitung manifestiert. ›Hauptquartiere‹, ›Patrouillen‹, ›marschieren‹, ›Ranger‹, ›Wilderer‹, ›Überwachung‹ und ›Kontrolle‹ sind keine neutralen Begriffe, sondern führen zu einer diskursiven Spannung zwischen der suggestiven ›Friedlichkeit‹ und Dringlichkeit des Schildkrötenschutzes und seiner Durchsetzung mit militärischer Gewalt. Die Teilnahme des Militärs in Naturschutzprojekten (Peluso 1993; Ojeda 2012; Ybarra 2012), die dabei helfen soll, eine ›globale Umwelt‹ zu sichern, intensiviert oft bestehende Konflikte zwischen Bewohnerinnen, NROs und Regierungen. Lunstrum bezeichnet die Inanspruchnahme militärischer Unterstützung als »green militarization« (Lunstrum 2014: 817), die die Grenzziehungen im Kontext von Naturschutzpraktiken verstärkt. Zudem tragen Partnerschaften zwischen NROs und Militär indirekt auch zu Transformationen in anderen Bereichen bei, wenn militärische Akteure ihre Souveränität in Bereichen durchsetzen, die nicht unmittelbar mit dem Naturschutz zusammenhängen. Auch auf Boa Vista geht die Zusammenarbeit zwischen der NRO Verde und dem Militär oft über den Schildkrötenschutz hinaus und erstreckt sich auf Bereiche, die nicht auf der Agenda der NRO stehen. Die NRO fördert durch den Einbezug des Militärs wirtschaftliche und sicherheitspolitische Projekte der kapverdischen Regierung. Indem die NROs ihre territorialen Ansprüche mit militärischer Unterstützung gegenüber den Touristinnen oder anderen einfordern, unterstützen sie gleichzeitig die Bemühungen der kapverdischen Regierung, der UN oder der SDTIBM, die Insel räumlich zu klassifizieren. Die nächtliche Patrouille in Lacacão oder der Vorfall in Porta Grande sind Beispiele dafür, wie die Zusammenarbeit von NROs und Militär unter dem Paradigma von Naturschutz dazu beiträgt, die räumlichen Ansprüche gegenüber Gebieten auf der Insel durch den Staat autoritativ durchzusetzen. Zudem operieren die NROs oftmals unbeabsichtigt als verlängerter Arm des Staates (Peluso 1993), da sie nicht nur Umweltprobleme angehen, sondern den Staat auch darin unterstützen, gegen Praktiken wie den Schildkrötenfang vorzugehen. Darüber hinaus hilft die NRO mit ihrer militärischen Partnerschaft dem Staat auch dabei, touristische Enklaven aufrechtzuerhalten. Die Partnerschaft zwischen dem Militär und den NROs hängt nicht nur mit dem Schildkrötenschutz zusammen, sondern trägt indirekt auch dazu bei, den sich dort etablierenden Tourismus zu schützen. Als sich der Tourismus auf beiden Inseln entwickelte, stieg die Kriminalitätsrate an, woraufhin die Regierung das Projekt Turismo Se-
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guro (sicherer Tourismus) ins Leben rief.12 Mit einer verstärkten Präsenz von Militär und Polizei, die mit anderen Akteure zusammenarbeiten, sollen Übergriffe auf Touristinnen und Diebstähle auf beiden Inseln eingedämmt werden. Die Unterstützung durch das Militär wird zwar als sicherheitspolitisches Projekt legitimiert, doch schützt und verteidigt es gleichzeitig Formen des Tourismus, die zu wirtschaftlichen und sozialen Exklusionen führen. Visuelle Spektakel Eine weitere Form des Schildkrötenschutzes auf Boa Vista sind die Schildkrötenexkursionen. Mitarbeiterinnen der NRO Azul veranstalteten die ersten Schildkrötenexkursionen im Jahr 2008. Zum Zeitpunkt meiner Feldforschung existierten noch keine gesetzlichen Regelungen darüber, wer Schildkrötenexkursionen durchführen darf. Dies führte dazu, dass die Leitung der NRO Azul diesen Arbeitsbereich für sich besetzte, da sie diejenigen waren, die den Schildkrötenschutz auf Boa Vista initiiert hatten. Auch aufgrund ihrer fachlichen Expertise verstanden sie sich als die legitime Entität auf Boa Vista, die sie zu den Exkursionen berechtigt. Im Zuge der sich zuspitzenden Konflikte zwischen den NROs sprechen Mitarbeiterinnen der beiden NROs sich gegenseitig das »Recht« ab, solche Exkursionen durchzuführen.13 Da die NROs keine profitorientieren Touren anbieten können, haben Mitarbeiterinnen der NRO Azul die Agentur Islazul gegründet, die auf Boa Vista mittlerweile der Hauptanbieter für Schildkröten-, Wal- und Vogelexkursionen ist. Zwar bieten auch andere Reiseagenturen ökotouristische Exkursionen an, doch können sie diese nur in Verbindung mit dem Personal von Islazul durchführen. Die Leitung der NRO begründet dies damit, dass deren Mitarbeiterinnen die Einzigen seien, die für diese Arbeit geschult seien. Soto, ein Veterinärmediziner aus Spanien und Gründer der NRO Azul, ist der Koordinator der Reiseagentur Islazul. Zusammen mit den Mitarbeiterinnen der NRO Azul – Meeresbiologen, Fahrern und ehemaligen ›Wilderer‹ – führt er die Schildkrötenexkursionen durch. Das Personal für die Touren wechselt und orientiert sich daran, aus welchen Ländern die Touristinnen kommen. Mitarbeiterinnen, die Englisch, Italienisch, Portugiesisch oder Französisch sprechen, übernehmen die Rolle des 12 Das Projekt Turismo Seguro entstand im Jahr 2010 auf den Inseln Boa Vista und Sal. Das Projekt war Teil des Strategieplans zur inneren Sicherheit, an dem sich die Polizei, das Militär, Reiseagenturen, NROs und die Generaldirektion für Tourismus beteiligen. 13 Diese ungeklärte Situation sollen nach Aussagen der NRO-Leitungen die Áreas Protegidas »irgendwann mal« entscheiden.
164 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN guias (Tourführerin). Von Juni bis September finden die Exkursionen fast täglich statt. Sie beginnen bei Einbruch der Dunkelheit und enden um Mitternacht, da Schildkröten nur nachts an Land kommen, um ihre Eier zu legen. Die Dauer der Exkursionen variiert und hängt davon ab, wie schnell und wie viele Schildkröten gesichtet werden können. Im Juni 2010, als ich das erste Mal auf Boa Vista war und Soto kennengelernt hatte, nahm ich an einer der Exkursionen teil. Ich treffe die Mitarbeiterinnen von Islazul in Sal Rei. Von dort aus fahren wir zu drei Hotels und holen die Touristinnen ab, die eine Tour für 50 bis 65 Euro gebucht haben. Zwölf Touristinnen sitzen in jedem der fünf Pick-ups, die nun als Wagenkolonne in das Schildkrötenschutzgebiet Ervatão im Osten der Insel fahren. In Ervatão befindet sich ein Camp der NRO Azul. Der Weg nach Ervatão führt von Sal Rei durch das Dorf Jalunga, das letzte Dorf vor dem Naturschutzgebiet. Nach einer fast einstündigen und holprigen Fahrt erreichen die Pick-ups Ervatão. Die guias leiten die Touristinnen in ein Zelt und teilen sie je nach Sprache in verschiedene Gruppen ein. Nach einer kurzen Stärkung mit Orangensaft und Keksen führen die guias ihre Gruppen durch das Camp und den Arbeitsplatz der NRO, der so zu einem Teil der touristischen Kulisse wird. Nach der kurzen Besichtigung des Camps geben die guias eine Einführung zum Thema Schildkröten und Schildkrötenschutz. Hier kommen nun auch NROMitarbeiterinnen aus den Camps dazu, die sich an den Exkursionen beteiligen. Mit Hilfe von Tafeln und Bildern erklären sie den Lebenszyklus der Schildkröten und sprechen die Faktoren an, die den Lebensraum der Schildkröten bedrohen. Dazu zählen die Erwärmung der Meere durch Klimawandel, der Schildkrötenfang und die Bedrohung durch andere Tiere. Die Touristinnen erfahren etwas über die einzigartige Lokalität Kap Verdes und Boa Vistas, wo sich die drittgrößte Schildkrötenpopulation der Welt befindet. Dabei erwähnen die guias mehrfach die Bedeutung des Schildkrötenschutzes für den Erhalt der globalen Biodiversität und weisen darauf hin, wie wichtig ein nachhaltiger Umgang mit den Tieren sei. Mit dieser Vorbereitung erhöhen die Mitarbeiterinnen von Islazul die Spannung und Neugier der Touristinnen, bald selbst ein Exemplar dieser bedrohten Art zu sehen. Sie überbrücken damit jedoch auch die Wartezeit, bis andere Mitarbeiterinnen aus dem Camp eine Schildkröte gesichtet haben. Die guias bringen die Touristinnen erst an den Strand, wenn die Tiere zu sehen sind, oder wenn die Mitarbeiterinnen zumindest Spuren entdeckt haben. Auch die NRO Azul und Islazul arbeiten mit ehemaligen Fängern zusammen, da deren Fähigkeit, die Tiere schnell zu sichten, für die Exkursionen besonders wichtig ist. Je früher die Tou-
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ristinnen eine Schildkröte sehen, desto mehr werden ihre Erwartungen erfüllt und desto positiver gestaltet sich die Atmosphäre der Exkursion. Während der Wartezeit verlassen die guias ein paar Mal das Zelt und tauschen sich mit den anderen Mitarbeiterinnen aus, die ins Zelt kommen und sie auf dem Laufenden halten. Dann ist es soweit. Nach etwa einer Stunde hat ein Mitarbeiter die Spur einer Schildkröte am Strand entdeckt. Die guias weisen die Touristinnen darauf hin, wie sie sich am Strand und bei den Schildkröten verhalten sollen. (Es handelt sich um dieselben Regeln, die die NRO-Mitarbeiterinnen während der Patrouillen einhalten müssen). Dann startet der nächste Teil der Exkursion. In Abstimmung mit den anderen Mitarbeiterinnen navigieren die guias nacheinander ihre Gruppen im Dunkeln am Strand entlang. An diesem Abend haben die Mitarbeiterinnen mehrere Schildkröten aufgespürt. Die Touristinnen sehen Schildkröten, die an Land kommen und wieder im Wasser verschwinden. Sie beobachten auch, wie die Schildkröten Eier legen und wie die Tiere dabei in einen trance-ähnlichen Zustand verfallen, bei dem sie ihre Umgebung nicht mehr wahrnehmen. Die Mitarbeiterinnen der NRO Azul nutzen den Trance-Zustand der Schildkröten, um die Größe, das Alter und die Anzahl der Eier in ihrem Notizbuch festzuhalten. Bei einigen der Tiere bringen sie GPSTags an, um deren Bewegungen und Aufenthaltsorte in den kommenden Jahren zu verfolgen. Der Trance-Zustand der Schildkröten ist auch der Moment, indem die Mitarbeiterinnen die Touristinnen auffordern, die Panzer der Schildkröten zu berühren, bevor sie ihnen die frisch gelegten Eier zum Anfassen in die Hand geben. Nach etwa drei Stunden, nachdem die Mitarbeiterinnen ihre Erhebungen abgeschlossen haben und die Touristinnen eine ›ausreichende‹ Anzahl von Schildkröten gesehen haben, beenden die guias die Exkursion. Zurück im Zelt erhalten alle Teilnehmerinnen eine aus Ton gefertigte Schildkröte als Souvenir, die aus einer örtlichen Töpfereifabrik stammt und die NRO-Mitarbeiterinnen fahren die Touristinnen zurück in ihre Hotels. Die Moralisierung von Konsum Im Mittelpunkt der ökotouristischen Touren steht der nachhaltige Umgang mit Tieren oder Pflanzen, der oft als moralisches Gegenstück zu lokalen physischen Fang- und Konsumpraktiken dargestellt wird (Meletis und Campbell 2007). Doch auch im Ökotourismus findet ein Konsum statt: der Konsum von Symboliken und sozialen Praktiken (Appadurai 1996; Urry 1995). Aus Sicht der Naturschützerinnen wird Konsum jedoch zu einer moralischen Handlung (Bryant und Goodman 2004; Meletis und Campbell 2007) und ist damit richtiger und vertretbarer als der physische Konsum. Insofern verkörpern ökotouristische Praktiken
166 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN moralische Haltungen (Gilbert 2007) und reproduzieren die Vorstellung eines richtigen und falschen Umgangs mit der Umwelt (Meletis und Campbell 2007). Ich möchte die Kritik an der Moralisierung des Ökotourismus anhand der Ähnlichkeiten zwischen diesen visuellen Konsumpraktiken und der Jagdpraxis ausführen, auf die John Knight (2009) hingewiesen hat. Obwohl die Tiere während der Exkursionen nicht getötet werden, unterscheiden sich beide Formen des Konsums nicht erheblich voneinander (Peace 2005; Knight 2009; Kalland 2009).14 Um die Schildkröten zu sehen, muss der Mensch – wie bei der Jagd – in die ›Sphäre‹ der Tiere eindringen. Meeresschildkröten gehören zu den Tieren, die sich der menschlichen Beobachtungssphäre entziehen und gerade die Tatsache, dass sich ›wilde Tiere‹ nicht beobachten lassen, macht die Exkursionen so attraktiv. Zudem verringert eine Exkursion auch die physische und emotionale Distanz zwischen Mensch und Tier. Ähnlich wie bei der Jagd ist die Konsumlust erst befriedigt, wenn die Tiere tatsächlich gesehen und angefasst werden können. Eine weitere Ähnlichkeit zwischen den Exkursionen und der Jagd besteht im Aufspüren der Tiere. In beiden Fällen müssen die Tiere gesucht und gefunden werden. Die Personen, die diese Aufgabe übernehmen sind darin geübt, die Tiere in kurzer Zeit in ihrem Territorium aufzuspüren und verfügen dementsprechend über ähnliche Fähigkeiten wie Jäger (Knight 2009: 168). Es ist daher nicht verwunderlich, dass ehemalige ›Wilderer‹ bevorzugte Mitarbeiter sind und während der Exkursionen nach den Schildkröten suchen. Die Exkursionen erfordern darüber hinaus wie bei der Schildkrötenjagd einen hohen Grad an Arbeitsteilung. In der Zeit in der die Mitarbeiterinnen der NRO die Tiere suchen, bieten die Reiseleiterinnen ›Unterhaltungsprogramme‹ für die Touristinnen an. Hiermit wird für den Fall, dass die Tiere nicht auftauchen, Befriedigung der Touristinnen auf andere Weise sichergestellt. Aufgrund dieser Ähnlichkeiten setzt Knight die Beobachtung wilder Tiere im Ökotourismus mit der Jagd gleich: »In this sense wildlife viewing takes place under the shadow of the hunt« (ebd.: 171). Diese Vergleichbarkeit von Jagd und Exkursion trifft nicht nur auf die Schildkrötenexkursionen zu. Ich konnte diesen visuellen Konsum auch bei Walexkursionen auf Boa Vista beobachten. Und auch die Bewohnerinnen von Boa Vista stellen den moralischen Anspruch der Schildkrötenexkursionen in Frage. Viele meiner Gesprächspartnerinnen auf Boa Vista, von denen einige mit den NROs oder Islazul zusammenarbeiten, bezeichneten die Schildkrötenexkursionen als Belastung für die Tiere. Ein Einwohner Boa Vistas nannte die Exkursionen als kulturellen Schock. Sogar die Wale und Schildkröten ließen die Menschen nicht in Ruhe, sagte er. Ein anderer Mitarbeiter der NRO war der Ansicht,
14 Auch Gilbert (2007) sieht Parallelen im wildlife viewing und in der kolonialen Jagd.
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dass die Tiere vor den Menschen »fliehen« würden, da sie jeden Tag von den Booten der NROs oder von den Gruppen am Strand verfolgt würden. Die Abneigung meiner Gesprächspartnerinnen gegenüber den Exkursionen hängt auch mit der Kommerzialisierung der Schildkröten zusammen. Adilson, der zum Zeitpunkt unseres Gespräches für die NRO Azul arbeitet, bezeichnete die Schildkrötenexkursionen der Islazul als »ausbeuterisch«. Ihn stört vor allem der Profit, den die Agentur mit den Schildkrötenexkursionen macht: »A: Ich glaube, es ist eine gute Arbeit. Gut, aber wie immer wird das Ziel das gleiche sein: Touristen hierher zu holen, damit sie Schildkröten sehen können. Und das…tsss…Die Leute kommen hierher, um die Schildkröten zu sehen, aber dazu brauchen sie keine Exkursionen. Klar, mit einem Ökoguide, aber sicherlich nicht, um ihn zu bezahlen, damit sie Schildröten sehen können. I: Wäre es besser, wenn sie nicht zahlen? A: Ja, ohne zu zahlen. Das wäre ein schöneres Gefühl oder? […] Wenn du hier ein Tourist wärst und eine Schildkröte sehen würdest und nicht dafür bezahlen würdest, dann hättest du viel mehr Respekt oder? Wenn du dann eine Quadtour machen und ein Nest sehen würdest, würdest du denken: ah, gestern habe ich eine Schildkröte gesehen, wir dürfen das Nest nicht zerstören oder?« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit Adilson in einem Café in Sal Rei, Boa Vista]
Die meisten Boavistenser wie Adilson befürworten den Schildkrötenschutz, der jedoch aufgrund seiner Kommerzialisierung und den Autoritätsansprüchen der NROs in den Hintergrund rückt. Adilsons Vorstellung von einer unbezahlten Schildkrötenexkursion, die zu mehr »Respekt« führen würde, zeigt, dass er die Naturschutzpraktiken und ihre Verbindung mit dem Tourismus auf Boa Vista als profitorientiert wahrnimmt. Während es Adilson darum geht, den Umgang mit Schildkröten weniger zu kommerzialisieren, sind andere Bewohnerinnen von Boa Vista verärgert, dass sie nicht von den Exkursionen profitieren. Vor allem die Bewohnerinnen aus Jalunga, durch deren Dorf in den Sommermonaten täglich die Wagenkolonnen fahren, kritisieren, dass die Touristinnen dort nicht einmal anhalten, um ein Getränk zu kaufen oder etwas zu essen. Walter, ein Mitarbeiter der DGA auf Boa Vista, interpretiert die Abneigung der Menschen auf Boa Vista folgendermaßen: »Die Leute sind unzufrieden, weil sie nicht von den Schildkrötenexkursionen profitieren. Stattdessen wird es noch verboten, aber die NROs lassen kein Geld da und investieren nicht. Das ärgert viele. Ich finde das auch nicht gut. Die NRO Azul ist schon seit dreizehn Jahren hier. Aber die ganzen Informationen bleiben bei denen. Es wird nichts verbreitet.
168 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Das macht einen komischen Eindruck. Und was die Leute sehen ist: Im Sommer fahren täglich zehn Autos mit 30 Touristen durch die Stadt. Jeder zahlt 50 Euro. Keiner steigt aus. Wo bleibt das Geld?« [Feldnotiz, informelles Gespräch mit einem DGA-Mitarbeiter in Jalunga].
Die Unzufriedenheit über den finanziellen und sozialen Ausschluss von den Touren führte auch dazu, dass einige Bewohnerinnen auf Boa Vista selbst Schildkrötenexkursion durchführen. Bei meinen ersten Besuchen auf Boa Vista boten mir mehrere Taxifahrer an, mich für 100 Euro zu Stränden zu bringen, wo ich Schildkröten beobachten und anfassen könne. Als die NRO von diesen ›versteckten‹ Touren erfuhr, versuchten sie, die Taxifahrer dazu zu bringen, sie als Ranger oder zum Öko-Guide auszubilden, damit sie sich ›legal‹ an den Exkursionen beteiligen könnten. Die Taxifahrer sahen in diesen Angeboten eine Abhängigkeit von den NROs und bevorzugten es, die Touren ohne deren Unterstützung zu machen. Wenn sie die Touren allein oder zusammen mit einer kapverdischen Reiseleiterin anbieten, sei dies für sie einträglicher, als für die NROs zu arbeiten.
5.3 B IOSOZIALE K ONFIGURATIONEN In den beschriebenen Mensch-Schildkröten-Beziehungen interagieren Personen auf unterschiedliche Weise mit Schildkröten und schreiben ihnen zahlreiche Bedeutungen zu. Dabei werden Schildkröten zu einer Projektionsfläche für Anbindungen, »Affinitäten und Partizipation« (Einarsson 2005 [1993]: 77). Die Affinität zu Schildkröten entsteht, indem Personen nicht-menschlichen Lebewesen menschliche Eigenschaften zuschreiben (Egomorphisierung)15 und sie so zu moralischen Objekten der Sympathie und der Anteilnahme machen (Peace 2005 [1993]: 75). Diese Affinitäten beinhalten auch Auffassungen darüber, wie Menschen mit nicht-menschlichen Lebewesen interagieren und formulieren damit unterschiedliche Vorstellungen über Teilnahme. In den Konflikten um den Fang, den Konsum und den Schutz von Schildkröten geht es nicht nur um den Status der Tiere und was mit ihnen passiert. Es geht auch darum, wer in Kap Verde et-
15 Milton zieht den Begriff des Egomorphismus dem Begriff des Anthropomorphismus vor. Egomorphismus erfasst die Vorstellung, andere Lebewesen wie sich selbst zu sehen, wohingegen Anthropomorphismus das Menschsein als Bezugspunkt hat (Milton 2005).
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was zu sagen hat, wer wie ökonomisch von den Ressourcen der Inseln profitieren kann und darf und wessen Praktiken zu respektieren sind. Diese Anbindungen an Schildkröten sind kontextabhängig und an Orte und Erfahrungen gebunden. Wie Menschen ihre Beziehungen zu Schildkröten gestalten, hängt damit zusammen welches ›Wissen‹ sie mit ihnen verbinden, welche Bedeutung sie ihnen zuschreiben und wie sie sich gegenüber diesen Bedeutungen positionieren. Diese verschiedenen Mensch-Schildkröten-Beziehungen sind stellvertretend für die Involviertheit von Menschen mit der Umwelt, die Lien als »biosocial configurations« (Lien 2012: 252) definiert. Biosoziale Konfigurationen umfassen die gesamte Spannbreite existierender und imaginierter MenschUmwelt-Beziehungen und eignen sich daher als übergeordnetes Konzept, um verschiedene Anbindungen an Schildkröten zu analysieren. Die animistischen Beziehungen von Mensch und Tier, als eine biosoziale Konfiguration, ist von der Vereinheitlichung von Menschen und Tieren geprägt. In ihren Praktiken und Haltungen pflegen die Menschen ein reziprokes Verhältnis gegenüber Tieren, zum Beispiel bei der Jagd, der Zubereitung oder dem physischen Konsum. In diesen Beziehungen entwickeln sich moralische Werte, an denen die Menschen ihr Handeln orientieren und die sie als Teil eines regenerativen Kreislaufes verstehen. Die reziproken Beziehungen, die Menschen zu Tieren haben, betreffen auch ihre Gemeinschaft, da sie auf die Fertigkeiten und Verantwortungen anderer angewiesen. Hieraus entsteht eine Zusammengehörigkeit geteilter Erfahrungen, Praktiken und moralischer Werte. Die Perspektive der Naturschützerinnen mit ihrer Differenzierung zwischen Menschen und Tieren sowie zwischen Natur und Kultur ist eine weitere biosoziale Konfiguration. Die Mitarbeiterinnen der NROs versuchen zwar, die emotionale und physische Distanz zwischen Menschen und Tieren zu verringern und unter dieser vermeintlich hergestellten intimen Beobachtung (Knight 2009: 172) Mensch und Tier als eine Einheit zu betrachten. Dies gelingt ihnen aber nicht, weil sie Tiere durch ihre diskursiven Praktiken zu Objekten machen, indem sie sie mit Symboliken versehen und sie zum Indikator für den Zustand der globalen Biodiversität machen. Unter den diskursiven Praktiken der Naturschützerinnen kommt es daher zu einer Objektivierung der Tiere. Der moralische Bezugspunkt dieser Mensch-Schildkröten-Beziehung ist eine global geteilte Sorge über das Artensterben und um die Umwelt. Über diesen moralischen Bezugspunkt verteidigen und legitimieren die Mitarbeiterinnen der NROs den Schildkrötenschutz und grenzen sich dabei von Personen und Praktiken ab, die den Erhalt der globalen Biodiversität gefährden. Auch hierbei entsteht ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sich durch gemeinsame Erfahrungen, geteiltes Wissen und gemeinsame Praktiken verstärkt.
170 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Beiden hier beschriebenen biosozialen Konfigurationen ist gemein, dass sie auf ›Wissen‹, Bedeutungszuschreibungen und moralischen Werten basieren und dass sie Teil verschiedener sozialer Beziehungen sind. Diese sozialen Beziehungen stehen jedoch nicht gesondert für sich, sondern überschneiden sich oder entwickeln sich erst in Abgrenzung zu den Beziehungen der jeweils anderen. So positionieren sich Fischer gegenüber den Moralvorstellungen der Schildkrötenschützerinnen, genauso wie die NRO-Mitarbeiterinnen den Schildkrötenkonsum der Kapverdierinnen als Referenzpunkt für ihr Handeln und ihre Praktiken setzen. Insofern sind die Handlungen und Vorstellung der Personen mit Schildkröten – die biosozialen Konfigurationen – miteinander verflochten.
5.4 Z USAMMENFASSUNG Der Ausgangspunkt dieses Kapitels waren die unterschiedlichen Beziehungen, die Menschen zu Schildkröten haben und die daraus entstehenden Konflikte. Dazu habe ich vorgeschlagen, die Involviertheit der Menschen in Schildkrötenprojekten nicht mit dem Konzept der environmentality zu analysieren, sondern Mensch-Tier-Beziehungen als Formen der Wahrnehmung und Erfahrung zu erfassen. Schildkrötenfang, Schildkrötenschutz und Schildkrötenexkursionen basieren auf sozialen Anbindungen, Werten und Netzwerken personeller Beziehungen. Hierbei handelt es sich einerseits um animistische Vorstellungen und andererseits um die Objektivierung von Tieren. Beide Vorstellungen von Mensch-Schildkröten-Beziehungen geraten im Kontext von Naturschutz und Ökotourismus unter Druck, da sich auch Ansprüche und Legitimationen auf den Umgang mit der Umwelt gegenüberstehen. Insofern artikulieren und verteidigen Fischer und NRO-Mitarbeiterinnen ihre Anbindungen zu Schildkröten gegenüber den jeweils Anderen. Im Zuge dessen spielen moralische, kulturelle und finanzielle Aspekte eine Rolle, die gleichzeitig auch Teil verschiedener sozialer Beziehungen sind. Menschliche Handlungen gegenüber Schildkröten sind somit keine isolierten Einheiten, sondern sozial eingebettet und miteinander verflochten. Aus diesem Grund stehen sich Schildkrötenschutz und Schildkrötenfang und -konsum nicht einfach als Haltungen und Praktiken gegenüber, sondern entwickeln sich jeweils in Abgrenzung zueinander. Diese Abgrenzungen nehmen Fischer, die Mitarbeiterinnen der NROs, ehemalige Fänger, Reiseagenturen, und das Militär in unterschiedlicher Weise vor. Ebenso wurde deutlich, dass diese Abgrenzungen flexibel sind, da sich die Konstellationen von Personen, Machtansprüchen und Praktiken ändern können. Biosoziale Konfigurationen verkörpern somit verschiedene
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Erfahrung und Sichtweisen, die Menschen mit der Umwelt haben. Und dennoch verbindet die heterogenen Beziehungen, dass alle involvierten Personen MenschTier-Beziehungen moralisieren.
6. Vor den Augen aller
»Nachrichtensprecherin: Der Sandabbau in Ribeira da Barca an der Küste von Piroqua, Santiago ist eine alte Tätigkeit, die schon viele Kontroversen geschaffen und zu einer vollständigen Zerstörung des Strandes beigetragen hat. Umweltschutz wird dem täglichen Überleben geopfert. Das Problem ist nun, dass die Zerstörung des Strandes die Bewohner bedroht, wie die Reportage von gestern gezeigt hat. Mit dieser Situation konfrontiert, drückte der Umweltminister seine Besorgnis aus und schlug folgende Lösung vor: Umweltminister: Seit gestern verhandeln wir mit dem Außenminister darüber und arbeiten mit einer luxemburgischen Gesellschaft zusammen, die eine sehr große finanzielle Summe investiert, um uns zu helfen, all diese Strände wiederherzustellen. Und mit dem umfangreichen Projekt helfen wir auch, alternative Erwerbsmöglichkeiten für die Familien bereitzustellen, die von Sandabbau leben. Mit der Unterstützung der Vereinten Nationen haben wir eine komplette Bestandsaufnahme von der Situation auf der Insel Santiago gemacht und in diesem Moment verfügen wir über die Bedingungen, um das Megaprojekt vorzubereiten und durchzuführen. Voice-over: Die Regierung versucht, bis 2011 eine endgültige Lösung für die Umwelt und die betroffene Bevölkerung zu finden. Zum Sandabbau am Strand von Fonte Bila auf der Insel Fogo vertritt der Minister folgende Meinung: Umweltminister: Wir müssen an einer besseren Artikulation und Ausarbeitung arbeiten. Eigentlich ist das Institut für Häfen und Seeverkehr dafür zuständig, diese Entscheidungen zu treffen und diese Situation zu gestalten, nicht wahr? […] Wir wissen, dass das Baugewerbe einen wichtigen Beitrag für die Erwerbstätigkeit vieler Personen darstellt. Aber wir können auch nicht zulassen, dass dieser Abbau, diese Exploration, unorganisiert abläuft. Voice-over: Der Minister versprach ein Techniker-Team zu senden, um der Stadt São Felipe zu helfen. Das Institut für Häfen und Seeverkehr überlegt, inwieweit es den Sandabbau an bestimmten Orten legalisieren kann. Dabei werden immer Maßnahmen der Mitigation berücksichtigt, um die Einflüsse auf die Umwelt zu minimieren.« [Fernsehbeitrag des RTC. ›Die Reaktion des Umweltministers auf den Sandabbau‹, 06.01.2010]
174 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Das Narrativ dieses Nachrichtenbeitrags beschreibt zwei Formen des Sandabbaus auf Kap Verde: eine wird als ›alte‹ und als ›illegale‹ Praktik bezeichnet, der arme Personen nachgehen. Sie bauen Sand ab, um ihren Lebensunterhalt zu sichern und tragen so zur Zerstörung der Küstenbereiche bei. Die andere ist eine ›vernünftige Exploration‹ von Sand, die die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes unterstützt und die Bauunternehmen in einer nachhaltigen Weise praktizieren. Unter dieser diskursiven Trennung des Sandabbaus entstehen eine negative und eine vertretbare Form ein und derselben Praktik. Personen, die ›illegal‹ Sand abbauen, reagieren auf die Nachfrage nach Sand, die im Zuge des anwachsenden Bausektors gestiegen ist. Welche Folgen diese diskursive Trennung für Personen, die Sand abbauen haben und wie Menschen mit diesen Folgen umgehen, arbeite ich in diesem Kapitel heraus. Sandabbau ist seit dem Jahr 2002 gesetzlich verboten, doch statt eines Rückgangs hat sich die Praktik zunehmend verbreitet.1 Im Zuge des Wohnungsbooms und der touristischen Entwicklung hat sich der Sandabbau zu einer wirtschaftlichen Aktivität entwickelt, an der sich eine Reihe von Akteuren beteiligen: lokale Verwaltungen, die den Sandabbau für Bauunternehmen lizenzieren; kapverdische und ausländische Bauunternehmen, die mit Sand einen billigen und einfach abzubauenden Rohstoff für Baumaterial erhalten; Transportfahrer (camionistas), die abgebauten Sand kaufen und abholen; sowie Personen, die Sand vom Strand oder aus dem Meer abbauen. Sandabbau von Küstenstreifen rückt erst allmählich in den Mittelpunkt politischer Debatten um Ressourcenextraktionen und wurde nur in wenigen Studien aufgegriffen (vgl. Mensah 1997; Young und Griffith 2009; Worliczek, Allenbach und Mückler 2010; Nyandwi 2010). Bisher beschäftigen sich ethnologische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen über Ressourcenextraktionen mit dem Bergbau in lateinamerikanischen Ländern (Ciuffolini und Vega 2013; Bebbington 2013), dem Abbau von Holz in Indonesien (Tsing 2005) und Zentralafrika (Hardin 2011) oder dem Kupferabbau in Sambia (Ferguson 2006) oder Papua-Neuguinea (Bacalzo, Beer und Schwoerer 2014). Einige Autorinnen dieser Studien bemerken, dass Ressourcenextraktionen nicht mehr ausschließlich als Umweltzerstörungen wahrgenommen werden und damit auch einen Gegensatz zum Naturschutz darstellen. Eher arbeiten Vertreterinnen von extraktiven Industrien und Naturschutzprojekten zusammen und treten als Einheit auf (Fairhead und Leach 2012: 278). Wie diese Akteure miteinander zusammenarbeiten hängt davon ab, inwieweit Ressourcenextraktionen mit Naturschutzprojekten, Sicherheitsprojekten oder Entwicklungsprojekten verflochteb sind, etwa, wenn 1
Siehe Gesetz 2/2002. Die Hintergründe des Sandabbaus habe ich ausführlich in Kapitel 3 beschrieben.
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Naturschutzinitiativen von Unternehmen, die Ressourcen extrahieren, finanziert werden. Die Verbindung von Naturschutzdiskursen und Naturschutzpraktiken mit extraktiven Industrien verkörpert anhaltende neokoloniale Tendenzen und eine neue Form von Entwicklung (Shiva 2006 [1989]; Escobar 1995; Grandia 2012; Doane 2012), bei der die Inwertsetzung von ›Natur‹ zu einem gemeinsamen und kompatiblen Ziel wird. Diese Komptabilität von Naturschutzprojekten und Ressourcenextraktionen ist besonders hoch, wenn die Inwertsetzung von ›Natur‹ unter ressourcenschonenden und sozialverträglichen Kriterien als Teil der ›nachhaltigen Entwicklung‹ stattfindet. In Kap Verde ist der Diskurs der ›nachhaltigen Entwicklung‹ die diskursive Rahmung, unter der Vertreterinnen von NROs, der Regierung und nationalen und internationalen Institutionen über den Sandabbau sprechen. Dieser Diskurs verkörpert die Hegemonie einer neuen moralischen Ordnung, die die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorstellungen über die Nutzung und Gestaltung von Umwelt festschreibt. Im Zuge dessen werden Personen und deren Praktiken degradiert, die sich nicht im Einklang mit dem neuen Nutzen und der Gestaltung von Umwelt verhalten. Welche lokalen Praktiken eine Degradierung erfahren, und wie diese Degradierung ausfällt, hängt davon ab, wer die Deutungsmacht in den Naturschutzdiskursen innehat. Im Kontext dieser Machtverhältnisse untersuche ich wie Menschen die Degradierung ihrer Praktiken erfahren und wie sie mit dieser Erfahrung umgehen. Dabei argumentiere ich, dass die diskursive Trennung des Sandabbaus dazu dient, die ›traditionelle‹ Form rhetorisch abzuwerten und gleichzeitig den nachhaltigen Sandabbau als eine ›vernünftige Exploration‹ zu legitimieren. Hierbei entfaltet sich ein Prozess der Stigmatisierung (Link und Phelan 2001), unter dem Menschen eine Nichtanerkennung ihrer Person und ihres sozialen Status erfahren (Das 1997; Yang et al. 2007, Friedman 2007). Stigmatisierung betrachte ich als ein rhetorisches Mittel im politischen Diskurs (Satterfield 1996), sowie als eine moralische und soziale Erfahrung (Yang et al. 2007; Kleinman und Hall-Clifford 2009) und als das, was täglich ›auf dem Spiel steht‹ und was eine Entwertung erfährt. Menschen die Stigmatisierung erfahren, verinnerlichen einerseits das Gefühl, sozial abgewertet zu werden und reproduzieren so die Hegemonie der moralischen Ordnung. Andererseits führt das Gefühl der Nichtanerkennung dazu, dieselbe moralische Ordnung in Frage zu stellen und sich ihr zu widersetzen. Stigma wird so gleichermaßen zu einer Erfahrung und einem Medium, mit dem Menschen miteinander kommunizieren und eine moralische Ordnung aushandeln. Diesen Aushandlungsprozess erläutere ich in drei Schritten. Im ersten Teil des Kapitels beschreibe ich, wie Personen auf der Insel Santiago Sand abbauen
176 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN und stelle dabei deren personelle Verflechtungen und Motivationen heraus. Im zweiten Teil dekonstruiere ich den Diskurs zum Sandabbau und zeige, wie ›Politiken der Beschuldigungen‹ dazu dienen, eine ›vernünftige‹ Form des Sandabbaus zu legitimieren. Im dritten Teil des Kapitels erläutere ich, wie Personen, die im Zuge der Beschuldigung eine Degradierung erfahren, mit den formalen Diskursen in einen Dialog treten.
6.1 N ETZWERKE
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Arlinda lernte ich zu Beginn meiner Feldforschung in Praia kennen. Sie war eine rabidante Anfang 30 und verkaufte Mangos auf einem Straßenmarkt zwischen den zwei Stadtteilen Di Nós und Téra Branca. Einige Wochen nach unserem ersten Treffen besuchte ich Arlinda und ihren Mann Silvino in ihrem Haus im Stadtteil Palmareijo Grande. Die Siedlung liegt in einem Außenbezirk und zählt zu jenen Gebieten Praias, in denen die Personen ohne Autorisation ihre Häuser zu bauen begannen (Monteiro et al. 2011). Gemeinsam mit Silvinos Mutter bewohnten Arlinda, Silvino und ihre drei Söhne, die zwischen vier und acht Jahre alt waren, ein aus Zementblöcken gebautes Haus mit zwei Zimmern. Als wir in der Siedlung ankommen, führt Arlinda mich zunächst durch eine Reihe von Häusern und stellt mich jeder Person, der wir begegnen als »meine Freundin aus Deutschland« vor. So lerne ich ihre Nachbarinnen und den Priester der Kirche in Tira Chapeu kennen, der Arlinda auffordert, mich nächsten Sonntag zur Messe mitzunehmen. Wir erreichen Arlindas Haus, das in ein Schlafzimmer und in einen Wohnbereich mit Küche unterteilt ist. Während Arlinda mir das Haus zeigt, sagt sie mehrmals, dass sie arm sei (ami ê probre) und dass es da, wo ich herkomme wohl nicht solche Häuser gäbe. Auch die Tatsache, dass sie keine Toilette besitzen, erklärt sie damit, dass sie und die Leute der Gegend arm seien. Ich unterhalte mich einige Zeit mit der Schwiegermutter, die auf dem Bett sitzt und im Fernsehen eine Reportage über die Landwirtschaft in Kap Verde schaut. Arlinda sagt mir, dass ihre Schwiegermutter dement sei und weist mich mehrmals darauf hin, dass sie von dem, worüber wir sprechen, nicht viel verstehen würde. Gegen 16 Uhr, als die Hitze allmählich nachlässt, verlassen Arlinda und ich das Haus. Arlinda will mir den Strand zeigen, an dem sie und die anderen aus der Siedlung ihre freie Zeit verbringen. Wir steigen von der Anhöhe der Siedlung in ein ausgetrocknetes Flussbett herab und laufen etwa 20 Minuten den Flusslauf entlang. Wir erreichen eine Bucht, in deren Schatten ein paar Männer zusammensitzen, Fisch grillen und grógu (Zuckerrohrschnaps) trinken. Wir set-
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zen uns an das Wasser. Die Bucht besteht fast nur aus größeren dunklen Steinen, die das Wasser der heftigen Brandung überspült und unter denen der schwarze Vulkansand sichtbar ist. Ich frage Arlinda, ob sie hier baden gehe und sie erwidert, dass sie nur ein paar Schritte ins Wasser gehe, um sich abzukühlen. Die Strömungen hier seien sehr stark, »o mar ê prigosu, ami tem médu di mar« (Das Meer ist gefährlich, ich habe Angst vor dem Meer). Arlinda kommt an diese Stelle, um auszuspannen. An einem ihrer freien Tage oder am Feiertag sitzt sie wie die Männer im Schatten der Bucht, bereitet Essen zu und isst und trinkt. Früher hat sie hier auch manchmal Fisch von den Fischern gekauft, die von dieser Stelle mit ihren Booten auf das Meer fuhren. Sie haben den Ort jedoch verlassen, da an dem Strand fast keinen Sand liegt, was ihre Boote beim Aufsetzen beschädigt. Wir bleiben eine Weile am Wasser sitzen und schauen auf das Meer. Kurz bevor es zu dämmern beginnt, machen wir uns auf den Rückweg. Als ich aufstehe, gehe ich ein paar Schritte ins Wasser und spüre den starken Sog der Strömung. Einige Monate nach meinem Treffen mit Arlinda kehre ich mit Simon, einem Fischer aus Praia, an diese Bucht zurück. Simon will mir einen der Orte zeigen, wo er und einige seiner Bekannten, darunter Fischer und Lehrerinnen, in Praia Sand abbauen und verkaufen. Wenn Simon nicht fischt ist er guárda in einem kleinen Restaurant am Strand von Kebra Kanela. Er hat früher Sand abgebaut und kennt die Stellen in und um Praia. Von unserem Treffpunkt in Palmareijo laufen wir etwa zwei Stunden bis zu der Bucht in Palmareijo Grande. Der Weg führt uns über die Straße und an der teils erhöhten und steilen Küste entlang, bis wir schließlich über einen eingetretenen Pfad von den Felsen in die Bucht hinabsteigen. Mehrere aufgeschüttete Sandhaufen, halb bedeckt von weißen Plastikplanen, liegen links und rechts neben dem Pfad. Simon zeigt auf einen der Haufen und sagt: »Das ist eine gute Stelle. Hier stiehlt sie niemand. Aber man muss stark sein, um sie bis zur Straße zu transportieren.« In der Bucht angekommen, erkenne ich den Ort, an dem ich die Nachmittage mit Arlinda verbracht habe. Simon erinnert sich, dass es hier früher sehr viel Sand gegeben hat. Sehr feinen weißen und schwarzen Sand. Doch der sei jetzt weg, hier gebe es fast nichts mehr, da die Leute alles abgetragen haben. Als ich Arlinda ein paar Tage später in ihrem Haus treffe, frage ich sie, ob sie Personen kenne, die in dieser Bucht Sand abbauen. Arlinda antwortet mir zunächst nicht – ganz im Gegensatz zu unseren anderen Gesprächen. Sie sagt etwas zu ihrer Schwiegermutter und verzögert ihre Antwort. Als ich sie nochmals frage, sagt sie:
178 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN »Sand? ... Da bauen viele Leute Sand ab, hier aus der Siedlung und ich auch, ja. Wenn das Geschäft [Mangoverkauf] nicht läuft und es keine andere Arbeit gibt. Nach dem Regen ist es gut, dann bringt der Fluss immer viel Sand an den Strand.«
Wie viele andere Personen in Kap Verde geht Arlinda im Laufe eines Jahres mehreren Arbeiten nach, um Geld zu verdienen. Als ich sie kennenlernte, verkaufte sie Mangos, eine Tätigkeit, die nur zur tempo di mángi (Mangosaison) zwischen Mai und Juli möglich war. Zwischendurch verkauft sie Kosmetikartikel und Kleidung. Sie hatte mir auch viel darüber erzählt, wie sie ihre Arbeiten verrichtet: von wem sie kauft, an wen sie verkauft, wann und warum der Verkauf besonders gut oder weniger gut liefe. Dass sie auch Sand abbaut, um den Lebensunterhalt ihrer Familie zu sichern, hatte Arlinda mir gegenüber jedoch nie erwähnt. Auf meine Nachfrage erfuhr ich von Arlinda, dass sie bereits als junges Mädchen Sand abgebaut hat und dass sie dieser Tätigkeit heute gemeinsam mit anderen Personen aus der Siedlung nachgeht. Sandabbau sei sehr anstrengend für den Körper, weshalb auch ihre Söhne mithälfen, den Sand zwischen den Steinen herauszuholen. Obwohl sie mir über den Sandabbau erzählte, legte sie viel Wert darauf, sich von dieser Arbeit zu distanzieren. Mehrmals betonte sie, dass sie nur eine kurze Zeit, ab und zu, und nie über einen längeren Zeitraum Sand abbaue. Doch ihre Aussage darüber, wie häufig sie Sand abbaue, widersprach der Aussage ihres Mannes Silvino. In einem Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt sagte Silvino ganz selbstverständlich, dass Sandabbau eine der regelmäßigen Arbeiten von ihm, Arlinda und den Kindern sei und dass kaum ein Monat vergehe, in dem Arlinda nicht Sand abbaue. Sein Verdienst als iási-Fahrer reiche nicht aus, um die Familie zu versorgen und um das Haus weiterzubauen, wofür sie unter anderem auch Sand verwenden. Arlindas Bemühungen, sich vom Sandabbau zu distanzieren und die widersprüchlichen Aussagen verfestigten nach einer Zeit den Eindruck, dass sie sich wegen des Sandabbaus mir gegenüber schämte. »Hier steigen wir ins Meer« Die Bucht in Palmareijo Grande ähnelt vielen erodierten Küstenzonen Santiagos, an denen der Sandabbau seine Spuren hinterlassen hat. Sandabbaustellen sind zudem an den aufgeschütteten Sandhaufen entlang der Küste erkennbar, wie in der im eingangs genannten Medienbericht Stadt Piroqua. Piroqua liegt im viertgrößten Bezirk Santiagos. Die Stadt ist stark von der Landwirtschaft geprägt und vor allem der Bananenanbau und -export und die Fischerei zählen hier zu den wichtigsten wirtschaftlichen Aktivitäten. Doch die Arbeitslosenrate in Piroqua
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ist eine der höchsten auf Santiago und viele Personen aus der Region sind nach Praia oder auf andere Inseln gezogen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.2 Von Eneida, der Sozialbeauftragten der Stadt und Lehrerin an einer der öffentlichen Schulen, erfuhr ich, dass ein Großteil der Bevölkerung von Piroqua vom Sandabbau lebt. Eneida ist davon überzeugt, dass die Strände der Stadt seit den 1980er Jahren wegen des Sandabbaus erheblich zurückgegangen seien. Während eines Gesprächs in ihrem Büro veranschaulicht sie mir das Ausmaß des Sandabbaus anhand einer alten Karte der Stadt, wo weiße und schwarze Strandabschnitte (praia de areia branca und praia de areia preta) und ein Fels (penedo) abgebildet waren. Der Fels, der sich auf der Karte zwischen dem weißen und dem schwarzen Strandabschnitt befindet, liege heute im Meer, da der ganze Sand abgebaut wurde.3 Den Felsen sehe ich eine Stunde später, als Eneida mit mir eine Tour durch Piroqua unternimmt, damit ich die Region besser kennenlerne. Am Rand der Stadt biegen wir von der Hauptstraße, die an der Küste entlangführt, links in einen Weg ein, an dessen Ende eine kleine Siedlung liegt. Kurz bevor wir anhalten sagt Eneida, dass sie mich mit ein paar Personen, die Sand abbauen, bekannt machen will. Als wir in der Siedlung ankommen und aus dem Wagen steigen, geht Eneida auf eine Frau zu, die vor ihrem Haus steht und die sie offenbar kennt. Eneida stellt uns gegenseitig vor und sagt, dass die Frau, deren Name Nelida ist, mir etwas über den Sandabbau erzählen könne. Nelida ist Anfang 40 und lebt mit dreien ihrer sieben Kinder, die zwischen vier und 19 Jahre alt sind, in einem der Häuser der Siedlung. Ihre anderen Kinder sind bei anderen Familienmitgliedern in Praia, da Nelida nicht alle versorgen kann. Nelidas Mann ist vor einigen Jahren nach Portugal gegangen. »Ele ka adjuda«, er unterstütze (finanziell) sie nicht, sie müsse sich alleine um ihre Familie kümmern. Nelida erzählt mir, dass sie ihren Lebensunterhalt genauso wie die anderen Frauen in der Siedlung ausschließlich mit dem Abbau von Sand verdient. Als ich Nelida frage, wo sie Sand abbaut, deutet sie in die Richtung der Küste. Die Stelle liegt nur unweit von der Siedlung und sie bietet mir an, mich dorthin zu führen. Wir verlassen die Siedlung und überqueren die Straße zu dem Strand, der von ein paar Büschen verdeckt ist. Als wir kurz vor dem Wasser stehen, sagt Nelida: »Hier ist alles weg. Hier gibt es nur noch Steine.« Sie schweigt 2
Auf Boa Vista leben Männer und Frauen aus Piroqua, die als Taxifahrer, als Bauarbeiter, als Putzfrauen oder als Zimmermädchen in den Hotels arbeiten. Viele von ihnen schicken einen Teil ihres verdienten Geldes nach Piroqua zurück, mit dem sie ihre dort zurückgelassenen Familien unterstützen.
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In welchem Verhältnis die Erosion durch den Sandabbau, durch veränderte Meeresströmungen und durch andere Umwelteinflüsse stehen, wurde zum Zeitpunkt meiner Forschung nicht untersucht.
180 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN und schaut auf das Meer hinaus. Nach einer Weile deutet sie mit ihrer Hand auf den Horizont und sagt: »Hier gehen wir ins Meer. Zusammen mit den anderen [die aus der Siedlung]. Wir nehmen die Wannen und die Schaufeln mit und machen sie voll. […] Eine hält die Wanne, die andere holt den Sand. Dann schütten wir ihn hier auf. Das ist anstrengend. Wenn das Meer rau ist, ist es noch schwieriger.«
Birgt ein Strand noch ausreichend Sand, bleiben die Personen am Ufer und schaufeln ihn dort heraus. Ich traf vielerorts auf Frauen und Männer, die entweder am Boden saßen und den Sand mit Plastiktellern zwischen den Steinen und aus den Felsen herauskratzten oder ihn mit Spaten aus dem Boden entnahmen. Nelida erzählt jedoch von einem Arbeitsablauf der den Sandabbau aus dem Meer betrifft und den die Personen dann praktizieren, wenn der Strand bereits keinen Sand mehr hat. Sandabbau aus dem Meer konnte ich an mehreren Stellen Santiagos beobachten. Wenn Frauen Sand aus dem Meer abbauen, gehen sie so weit ins Meer bis sie noch stehen können und manchmal auch weiter, je nachdem ob sie schwimmen können oder nicht. Während eine Frau ein Gefäß, eine Plastikwanne oder einen Plastikeimer in den Händen hält, holt eine andere den Sand mit einer Schaufel oder mit den Händen vom Boden herauf. Oft sind auch Kinder dabei, die besser schwimmen können als die meisten der Frauen und die in das Wasser tauchen und den Sand heraufholen. Sobald das Gefäß voll ist, tragen die Frauen es gemeinsam mit den Händen oder alleine auf dem Kopf zum Strand und schütten den Sand dort auf. Der Sandabbau aus dem Meer ist lebensgefährlich, da die Strömung und Brandung des Atlantiks sehr stark ist und viele der Frauen nicht oder nicht gut schwimmen können. Immer wieder kommen Frauen, Männer und Kinder beim Sandabbau ums Leben. Vor allem während der Regenzeit ist die Gefahr hoch, da sich die Personen dann den schlechten Sichtverhältnissen und stärkeren Meeresströmungen und Wellengängen aussetzen. Auch Nelida bezeichnet ihre Arbeit als prigozu (gefährlich), da das Meer viele Gefahren berge. Zwar habe sie Angst vor dem Meer, aber ihr Leben sei eben so (vida ê asin). Sie habe keine Alternative. Immer wieder während Nelida erzählt, fasst sie sich mit ihrer Hand an den Rücken und sagt dann: »Die Arbeit ist hart (duru), mein Rücken schmerzt (dór na kósta), mein ganzer Körper. Aber was soll ich tun. So ist es eben.«
Viele Frauen erzählen, dass Sandabbau gefährlich ist und dass sie sich körperlich verletzen. In der gleichen Weise, wie Nelida sich an den Rücken fasst und mich
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auf ihre Schmerzen hinweist, artikulieren auch die anderen Frauen, wie körperlich anstrengend der Sandabbau für sie ist und dass sie unter starken andauernden Schmerzen im Rücken und in den Armen leiden. Einige sagen, dass sie wegen dieser Beeinträchtigung tagelang nicht aufstehen oder eine andere Arbeit aufnehmen können. Ich frage Nelida, wie oft sie Sand abbaut und ihre Antwort darauf ist im Gegensatz zu der von Arlinda eindeutig: »Immer. Hier gibt es keine andere Arbeit. Wir sind arm.« Nelida arbeitet ein paar Stunden am Tag, abwechselnd morgens oder abends, wenn es nicht mehr so heiß ist und wenn das Meer sich zurückzieht (mar baixo).4 Im November und im Dezember baue sie jedoch mehr ab als sonst: »Wir müssen dann Essen für die Feierlichkeiten an Weihnachten und Silvester kaufen. Das ist mehr als sonst. Das ist auch die Zeit nach dem Regen. Dann gibt es besonders viel Sand, Erde und Gestein, das aus den Flussläufen in den Küstenbereich kommt.«
Obwohl Sandabbau das ganze Jahr über praktiziert wird, gibt es einige solcher Hochphasen wie im Dezember, während denen die Einwohnerinnen von Santiago vermehrt Sand abbauen. Auch kurz vor den Regenphasen steigt der Sandabbau an, da viele Personen anfangen, die Wände und Decken ihrer Häuser abzudichten und den Sand vor dem Eingang aufzuhäufen, um Überschwemmungen zu vermeiden. Ich kann auch mehrmals Personen dabei beobachten, wie sie am Strand sitzen, eine Schüssel oder einen Eimer vor sich halten und diese mit Sand auffüllen und mitnehmen. Eine der Personen, ein junger Kapverdier, den ich seit ein paar Monaten kenne, ist verlegen, dass ich ihn dabei sehe, wie er an der kleinen Strandbucht Prainha in Praia sitzt und den Sand in eine große Schüssel füllt. »Ten vergónha«, er schäme sich. Aber er nehme nur ganz wenig mit. Eine weitere Hochphase liegt in den Ferienmonaten Juli bis September. In dieser Zeit reisen viele der kapverdischen Emigrantinnen aus den USA oder aus Europa nach Kap Verde und nehmen ihre privaten oder kommerziellen Bauprojekte wieder auf. Für die Zementherstellung benötigen sie Sand, den sie oft schon vor ihrer Ankunft auf den Inseln bestellen.5 Neben diesen Hochphasen haben sich zudem einige Abbaustellen in Santiago und auf den anderen Inseln herausgebildet, an denen besonders viele Personen Sand abbauen. Der Zugang zu den Abbaustellen 4
Wie lange die Personen für eine Wagenladung Sand arbeiten, hängt von der ihrer Anzahl und von den Witterungsbedingungen ab. Am günstigsten ist der Abbau morgens zwischen fünf und sechs Uhr oder abends bei Sonnenuntergang zwischen 18 Uhr und 19.30 Uhr. Da sich Ebbe und Flut im Monat mehrmals ändern, variieren auch die Arbeitseinheiten (siehe auch Mendes Lopes 2010).
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Zur Verarbeitung von Sand zu Zement siehe Kapitel 3.
182 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN hängt davon ab, ob die Personen in der Gegend wohnen oder ob sie Familienmitglieder haben, über die sie den Zugang zu der Stelle erhalten. Eine Frau in Tarafal im Norden der Insel Santiago, sagt mir in diesem Zusammenhang: »Hier gibt es keine Arbeit. Wir haben keine andere Wahl, das Leben ist so. Ich bin alleine. Mein Mann ist ausgewandert und er hilft mir nicht. Ich versorge meine Kinder alleine. Ich danke Gott dafür, dass ich hier lebe, wo es so viel Sand gibt.« [Feldnotiz, Frau beim Sandabbau in Tarafal, Santiago].
Diejenigen, die an solchen Abbaustellen wohnen bedauern andere Personen, die auch gerne Sand abbauen würden, aber die an Orten leben, wo Sandabbau nicht möglich ist (vgl. Mendes Lopes 2010: 57). Die Konzentration des Sandabbaus auf wenige Abbaustellen führt dazu, dass der Großteil der Bewohnerinnen dieser Gegenden Sand abbaut und die nächstgelegenen Stränden aufsucht, sobald kein Sand mehr übrig ist. Zwei junge Männer, die in einer Bucht in Tarafal Sand abbauen sagen mir, dass sie zur nächsten Bucht gehen würden, wenn es hier keinen Sand mehr gäbe. Einer von ihnen deutet auf einen Strandabschnitt mit schwarzem Sand, der ein paar hundert Meter entfernt liegt. Im Gegensatz zu der Stelle, an der ich sie treffe, sieht dieser Strand noch unversehrt aus. An welchen Stellen die Personen Sand abbauten hängt auch von den polizeilichen Kontrollen ab. Meine Gesprächspartnerinnen versichern sich oft gegenseitig, die Kontrollen der Polizistinnen zu umgehen, indem sie im Vorhinein die Stellen ausmachen, wo sich die Polizistinnen aufhalten könnten. Es kommt jedoch immer wieder vor, dass die Polizei sie beim Sandabbau entdeckt. Einige laufen in solchen Fällen davon und lassen die Wannen und die anderen Werkzeuge, die sie für den Abbau verwenden, liegen, die die Polizistinnen dann mitnehmen. Die Personen kehren erst wieder nach einigen Tagen an diese Stellen zurück. Oft beobachten die Polizistinnen die Personen beim Sandabbau einfach und ohne sie davon abzuhalten. In Tarafal unterhalte ich mich mit vier Frauen, von denen zwei Sand aus dem Meer und zwei Sand am Strand abbauen. Nach ein paar Minuten sehen wir, wie zwei Polizisten in ihrem Auto die Küstenstraße entlangfahren. Sie halten an, steigen aus und sehen einige Momente zu uns hinüber, bevor sie in den Wagen steigen und weiterfahren. Die Frauen sagen mir daraufhin: »Die machen nichts. Manchmal kommt die Polizei und sagt, wir sollen aufhören, sonst zeigen sie uns an. Dann machen wir für ein paar Tage eine Pause. Aber sie wissen, dass wir wieder Sand abbauen. Wie sollen wir sonst leben.« [Feldnotiz, Frau beim Sandabbau in Tarafal, Santiago]
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In einer Gemeinde ist bekannt, wer den Sand abbaut, verkauft und kauft. Personen, die Sand abbauen, Mitarbeiterinnen in den lokalen Verwaltungen und Polizistinnen sind Nachbarinnen, verwandt oder anders miteinander bekannt. Ein Mitarbeiter der lokalen Verwaltung aus Tarafal erzählt, dass die engen und familiären Beziehungen der Grund dafür sind, dass die Polizistinnen nur selten und erst nach wiederholten Malen eine Strafverfolgung gegen die Personen, die Sand abbauen aufnehmen.6 Die vorangegangenen Beschreibungen zeigen, dass der Sandabbau eine Arbeit ist, die die Personen aufgrund der körperlichen Anstrengung und der Gefahr, im Meer zu ertrinken, kaum allein durchführen (Correira 2012; Mendes Lopes 2010; Mendes Lopes und Cunha 2012). Da die Personen aufeinander angewiesen sind, arbeiten sie mindestens zu zweit, wobei die Zusammensetzung der Gruppen variiert (siehe Mendes Lopes 2010; Aráujo 2006; MAAP 2003) Zweiergruppen sind aber am häufigsten, da sie in der Zusammensetzung am einfachsten und in der Gewinnaufteilung am profitabelsten sind. Personen bauen nur dann allein Sand ab, wenn sie vor neuen Lebensabschnitten stehen und Sandabbau als eine kurzfristige Alternative heranziehen (Mendes Lopes 2010: 56f.). Es arbeiten meist Familienmitglieder, Nachbarinnen oder Freundinnen zusammen und teilen sich die Abbaustellen untereinander. Auch so reduziert sich das Konfliktpotenzial um den Zugang zu den Abbaustellen. Sandhandel Wenn Nelida zusammen mit den Frauen aus ihrer Siedlung eine carrada (Fuhre) angehäuft hat, verkaufen sie den Sand an die camionistas (Transportfahrer). Die Transportfahrer fungieren als Zwischenhändler und bringen den Sand zu den Endkundinnen, zu denen Baufirmen oder einzelne Personen zählen. Personen wie Nelida verwenden den Sand nicht für den eigenen Bedarf, sondern bedienen mit ihrer Arbeit die Nachfrage aus dem Bausektor (Mendes Lopes 2010; Correira 2012). Dafür verpacken sie den Sand in einen Plastiksack oder schaufeln ihn auf die Transporter. Für eine carrada bezahlen die Transportfahrer eine Summe zwischen 4.000 und 5.000 Escudos, die sich die Personen untereinander aufteilen. Der Verkaufspreis einer carrada richtet sich nach der Größe der Transporter: während eine carrada Sand eines kleinen Toyota Dyna 250 bei ca. 2.500 Escudos liegt, bezahlen Fahrer eines Volvos beinahe das Doppelte (Mendes Lopes 6
Auch Worliczek, Allenbach und Mückler (2010) beschreiben, dass die engen Beziehungen zwischen der Polizei und den Personen, die auf der pazifischen Insel Wallis Sand abbauen, der Grund dafür seien, dass die Personen nicht angezeigt werden. Ähnliches dokumentiert Irshad (2015) auch beim Sandabbau in Kerala.
184 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN 2010: 64). Zudem schlägt sich die Qualität des Sandes auf den Verkaufspreis nieder. Die homogenere Struktur des Meersandes wird im Bausektor bevorzugt, weshalb der Wert von Sand aus dem Meer doppelt so hoch ist, wie der Wert von Sand aus einem Flussbett. Das Verhältnis zwischen Personen wie Nelida, die den Sand abbauen und den camionistas beschreiben mir meine Gesprächspartnerinnen überwiegend als negativ. Die Transportfahrer erzielen als Mittelsmänner den doppelten oder gar dreifachen Verkaufswert einer carrada und sind diejenigen, die den Sandhandel dominieren und am meisten davon profitieren (Mendes Lopes 2010: 63; Correira 2012: 83). Hierbei entsteht ein Machtgefälle, das die Zusammenarbeit zwischen den Transportfahren und den Personen, die Sand abbauen kennzeichnet. Erst nachdem die Transportfahrer den Sand an die Endverbraucherinnen verkauft haben, bezahlen sie die Frauen. Einige Frauen erzählten mir, dass sie oft Tage hintereinander arbeiten ohne dafür bezahlt zu werden, da die Transportfahrer sie entweder nicht bezahlen oder nachts die unbewachten Sandhaufen stehlen. Dies veranlasst viele Frauen dazu, die Sandhaufen gegen Bezahlung überwachen zu lassen, was ihren Verdienst am Sandabbau jedoch erheblich reduziert. Den Transportfahrern kommt hier die Illegalität des Sandabbaus zu Gute, da die Personen die Fahrer nicht anzeigen und ihr Geld einfordern können (Mendes Lopes 2010: 64). Die machtvolle Position der Transportfahrer ist auch eine Folge ihrer Einbindung in den ›lizenzierten‹ Sandabbau. Da sie den Sand an Bauunternehmen verkaufen, die Lizenzen für den Sandabbau erworben haben, agieren sie auf einer legalen Grundlage. Obwohl der Sandabbau mit dem Decree 2/2002 verboten wurde, definierte das Gesetz Ausnahmen, um Sand an bestimmten Stellen zu einem bestimmten Volumen und mit bestimmten Auflagen abzubauen. Für die Ausstellung der Lizenzen ist die Direcção Geral da Marinha e Portos (GDMP; Generaldirektion für See- und Hafenangelegenheiten) zuständig, doch auf einigen Inseln hat sich die Praktik etabliert, dass die lokalen Regierungsverwaltungen Lizenzen für Bauunternehmen und Transportfahrer ausstellen. Solche Lizenzierungen führen zu Sand- und Gesteinsminen, wie in der Stadt Praia. Am Monte Vermelho, dem roten Berg, bauen Männer mit Schaufeln und Baggern Vulkangestein ab, das zusammen mit Sand in den Zementfabriken zu Beton verarbeitet wird. Jora, wie das Gestein genannt wird, ist als Baumaterial sehr beliebt, da es leichter als Stein ist. Die Baufirma aus Praia (Novacasa), die das Gestein hier abbaut, hat den Berg als privat deklariert und mit Schildern ab-
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gesteckt.7 Derartige Lizenzierungen geraten immer wieder in die Kritik der Öffentlichkeit, da sich die Bauunternehmen nicht an das Abbauvolumen halten, den Abbauort erweitern oder die anfallenden Steuern nicht bezahlen. Auch umgehen sie die obligatorischen Studien zu den Umwelteinflüssen (estudios dos impactes ambientais) der Sandentnahmen oder der Bauprojekte. Mit diesen Studien sollen unabhängige Gutachterinnen abschätzen, welche Auswirkungen der Sandabbau an bestimmten Stellen hat und inwieweit sich das entstehende Bauprojekt auf die Umwelt auswirkt. Darüber hinaus werden viele Lizenzen zum Sandabbau von den câmaras ›unter der Hand vergeben‹, oder die Baufirmen holen diese erst nachträglich ein. Diese Umgehung staatlicher Vorgaben und die Abänderung der Lizenzen spiegeln sich ebenfalls in der hohen Differenz der Statistik zwischen dem erlaubten und dem tatsächlichen Sandverbrauch wider (Mendes Lopes 2010: 18). Die Vertreterinnen der lokalen Verwaltungen rechtfertigen die Lizenzierung des Sandabbaus damit, dass sie gegenüber den Bauunternehmen und den Transportfahrern unter Druck stehen. Doch nach Ansicht meiner Gesprächspartnerinnen ist der lizenzierte Sandabbau in erster Linie eine Finanzquelle für lokale Regierungen, die auf diese Weise an der Subventionierung nationaler und internationaler Investitionen mitverdienen. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass in der Praxis tatsächlich nur eine Form des Sandabbaus existiert, an der alle der aufgeführten Akteure beteiligt sind. Personen, die ihren Lebensunterhalt sichern, Transportfahrer, die den Sand verkaufen, Vertreterinnen kommerzieller Unternehmen, für die der Sand ein profitables Geschäft ist und lokale Verwaltungen, die durch die Vergabe der Abbaulizenzen politische und wirtschaftliche Vorteile erlangen. Alle Akteure sind in ihren Aktivitäten miteinander verflochten und voneinander abhängig. Sie unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihrer Motivationen und ihrer Machtpositionen, wodurch eine von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ungleichheiten durchzogenen Konstellation ensteht, in der die Lasten und Profite des Sandabbaus ungleich verteilt sind. Wie diese Konstellationen und Machtverhältnisse von den Vertreterinnen der Naturschutzdiskurse rezipiert und artikuliert werden, führe ich im kommenden Teil des Kapitels aus.
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Die Personen, die im lizenzierten Sandabbau auf Santiago, Saõ Vicente oder Fogo arbeiten, sind ausschließlich Männer und meistens Immigranten aus Guinea-Bissau, Senegal und Nigeria.
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6.2 P OLITIKEN DER B ESCHULDIGUNG : D IE SOZIALE K ONSTRUKTION DES S ANDABBAUS Die massive Zunahme des Sandabbaus führte auf Santiago zu einem Rückgang sowie zur Zerstörung vieler Küstenstreifen. Die Folge dieser Zerstörung sind Erosion, Grundwasserversalzung und Überschwemmungen, die sich besonders auf den Lebensalltag des sozial und ökonomisch schwächeren Teils der kapverdischen Bevölkerung auswirken. Das kapverdische Umweltministerium, die DGA, die UN und nationale Institutionen und NROs arbeiten seit einigen Jahren gemeinsam daran, den Sandabbau zu reduzieren und die Küstenbereiche zu schützen. Das Ziel der Naturschutzmaßnahmen ist, Personen, die vom Sandabbau leben, von der Praktik abzubringen und sie für andere Einkommensquellen zu motivieren. In den Diskursen über Sandabbau und bei der Gestaltung von Naturschutzmaßnahmen heben die Naturschützerinnen dabei vier wiederkehrende Aspekte hervor, die den Sandabbau charakterisieren: Weiblichkeit und Armut, Tradition, fehlendes Umweltbewusstsein und Illegalität. Hierbei handelt es sich um eine Verbindung von Stereotypen und Attributen, unter der Frauen zu den Verantwortlichen des Sandabbaus stigmatisiert werden. Im Griechischen bezeichnete Stigma den »Verweis auf ein körperliches Zeichen, die dazu bestimmt waren, etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes über den moralischen Zustand des Zeichenträgers zu offenbaren« (Goffman 1963: 9). Link und Phelan (2001) greifen auf Goffmans Arbeit zurück und konzeptualisieren Stigma als gemeinsames Auftreten von Prozessen des Stereotypisierens, des Labeling, des Statusverlusts, der Trennung und der Diskriminierung (ebd.: 367). Mit der Aufschlüsselung der einzelnen Prozesse wird deutlich, wie sich die Stigmatisierung in einem bestimmten kulturellen und sozialen Kontext und im Kontext von Machtausübung entfaltet und kommunikativ verhandelt wird. Goffman definiert Stigma als »Kennzeichen einer Person oder Gruppe, das dazu führt, dass sie sozial diskreditiert wird« (Goffman zitiert in Link und Phelan 2001: 366) und dem gleichzeitig ein bestimmtes Verhältnis zwischen einem »Attribut und einem Stereotyp« (Goffman 1963: 4 zitiert in (ebd.: 365) zugrunde liegt. Sozialanthropologische Perspektiven auf Stigma (Yang et al. 2007) legen zwar auch den Fokus auf Merkmale und deren Zuschreibung von außen. Sie grenzen sich jedoch insofern von Goffman ab, indem sie Stigmata nicht als Merkmale erachten, die sich in der Person finden, sondern den Fokus darauf richten, inwieweit diese Zuschreibungen gültig werden. Die Autorinnen gehen auch insofern über Goffmans‘ Ansatz hinaus, indem sie untersuchen, wie sich das soziale Leben und soziale Beziehungen unter Stigmatisierungsprozessen verändern (Link und Phelan 2001; Klein-
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man und Hall-Clifford 2009). Link und Phelan (2001) beschäftigen sich zudem mit den unterschiedlichen Folgen der Stigmatisierung in Machtkonstellationen. Auch Naturschutzdiskurse und Naturschutzpraktiken sind in Machtverhältnisse eingebettet und können Stigmatisierungserfahrungen produzieren. Diesen Prozess werde ich im Folgenden erläutern und dabei zeigen, wie Naturschutzvertreterinnen und Regierungsvertreterinnen vier Merkmale anwenden und ein Narrativ des Sandabbaus konstruieren. Weiblichkeit und Armut Die Mitarbeiterinnen der NRO Lutus in Santiago setzen sich für die Abschaffung des Sandabbaus und für alternative Einkommensquellen für die vom Sandabbau lebenden Personen ein. Der Präsident der NRO Jorge und eine französische Mitarbeiterin erzählen mir bei einem unserer Treffen, dass die meisten Personen, die Sand abbauen, Frauen und deren Kinder seien und dass sie damit ihren Lebensunterhalt finanzieren. Die NRO-Mitarbeiterinnen führen Workshops und Ausbildungen durch, in denen die Frauen lernen sollen, aus recycelbaren Gegenständen, wie Plastikflaschen oder Kartons Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs anzufertigen und zu verkaufen. Die NRO-Mitarbeiterinnen wollen damit auch erreichen, dass die Frauen die neu erlernten Fähigkeiten innerhalb ihrer Gemeinden verbreiten. Zudem soll eine Sensibilisierung für die Umweltproblematik des Sandabbaus stattfinden, damit die Frauen ein Bewusstsein dafür entwickeln, welche negativen Auswirkungen ihre Praktik hat. Zur Vorbereitung auf einen dieser Workshops veranstalten die NRO-Mitarbeiterinnen ein Treffen im Rathaus von Piroqua. Es befinden sich etwa 30 Personen im Saal – Mädchen und Frauen zwischen 15 und 40 Jahren und einige Jungen und Männer. Zuerst spricht ein Vertreter der örtlichen Fischereibehörde darüber, dass die degradierten Strände restauriert werden müssten, was viel Geld koste. Er appelliert an die Anwesenden, mit dem Sandabbau aufzuhören, um ihre eigenen Wohngegenden und die Strände für die Fischer nicht weiter zu zerstören. Im Anschluss an den Vortrag tritt Jorge vor die Gruppe. Er sagt, die Situation an den Stränden könne so nicht mehr weitergehen: man könne sich nicht auf Gott verlassen, dass er die verschmutzen Strände vom Plastik befreie und bald gebe es auch keinen Sand mehr. Sandabbau sei schädlich für die Umwelt, überdies ein Problem für die Gesundheit und vor allem ein probléma di bariga, ein Problem des Hungers und eine Ursache für die verbreitete Armut in der Region. Er wisse, dass die meisten der Frauen ihre Familien alleine zu versorgen hätten, aber sie müssten andere Wege finden, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
188 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Aus diesem Grund seien sie heute hier, um etwas über die Ausbildungen zu erfahren. Jorge betont, dass die Frauen »Opfer« erbringen müssen, um an der Ausbildung teilzunehmen. Sie müssten regelmäßig von Montag bis Freitag je vier Stunden am Nachmittag anwesend sein und vor allem die Ausbildung beenden. Auf den konkreten Inhalt der Ausbildung geht er nicht ein und das Treffen endet mit einer – im Verhältnis zur gesamten Veranstaltung – langen Diskussion über den Termin für das nächste Treffen, den Jorge schließlich auf zwei Wochen später festlegt. Zum Ende der Veranstaltung, als ich mich von den NRO-Mitarbeiterinnen verabschiedete, sagt Jorge: »Es ist immer schwierig, die Leute zusammenzubringen und sie zum Zuhören zu motivieren. Heute war es besser als sonst. Wir haben schon so oft über den Sandabbau gesprochen. Wir und andere auch. Viel wichtiger ist es jetzt, dass die Personen an den Workshops teilnehmen und dabeibleiben«.
Der Vertreter der Fischereibehörde und Jorge konstruieren die Anwesenden als eine Gemeinschaft, die weiblich, arm, nicht umweltbewusst und körperlich krank ist und die nur schwer dazu zu bringen ist, sich anders zu verhalten. Über diese Beschreibung machen sie die Frauen einerseits zu Opfern der Armut, da sie aus einer Not heraus handeln. Andererseits weisen beide mehrmals auf die falsche oder fehlende »Mentalität« hin und schreiben den Frauen ein Fehlverhalten zu, das geändert werden müsse. Zugleich sind die Frauen die Zielgruppen der Naturschutzprogramme und insbesondere der Workshops. Diese Zuschreibungen führen dazu, Personen und deren Gemeinschaften als dysfunktionale Akteure (Satterfield 1996: 74) zu stigmatisieren. Die angebotenen Ausbildungen für die Frauen entsprechen einem institutionellen Ansatz, über den sich die Stigmatisierung auf struktureller Ebene (Yang et al. 2007: 1527) äußert. Obwohl die Naturschützerinnen beabsichtigen, den Frauen mit den Ausbildungen und Workshops Alternativen zu bieten und ihre Lebenssituation zu verbessern, kritisieren sie implizit deren Handlungen und Verhaltensweisen, die durch die Programme geändert werden sollen. Somit werden die Frauen aufgrund ihrer herausgestellten negativen Merkmale zu Objekten der Naturschutzpraktiken. Die Stigmatisierung vertieft sich zudem, wenn die Workshops und Ausbildungen nicht das von den NRO- Mitarbeiterinnen gewünschte Ergebnis erzielen. Viele der Frauen erscheinen nicht zu den Ausbildungen, brechen sie vorzeitig ab und bauen wieder Sand ab. Aus Sicht der Naturschutzvertreterinnen scheitern die Ausbildungen dann daran, dass bei den Frauen noch keine Mentalitätsänderung stattgefunden habe.
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Ein ähnliches Narrativ, das Sandabbau zu einem Problem von Frauen und der Armut macht, habe ich auf Veranstaltungen zum Schildkrötenschutz beobachtet. Der folgende Ausschnitt aus dem Vortrag einer Mitarbeiterin der DGA auf einem Seminar für Schildkrötenschutz in Mindelo zeigt, wie die Referentin den Sandabbau als Zerstörung des Nistraumes für die Schildkröten problematisiert und die Verantwortung dafür an die Frauen richtet: »Es sind arme Gebiete und diese Personen sagen, dass der Sandabbau eine Alternative ist, um zu überleben. Sie müssen Sand abbauen, damit sie sich und ihre Familie versorgen können. Die Mehrheit, die Sand abbaut, sind Frauen. Und das sind Frauen, die diese Aktivität schon seit vielen Jahren, über mehrere Jahre machen. Und sie geben sie [Sandabbau] auch an ihre Töchter, an die nächste Generation weiter [...] und die haben auch Kinder, die ihre Mütter begleiten. Die Mehrheit sind Mütter, die Sand abbauen und die Kinder bauen dann auch Sand ab.« [Videotranskript, Referentin der DGA auf einem Seminar zum Schildkrötenschutz in Mindelo]
Obgleich die Referentin zu Anfang noch von »Personen« spricht, benennt sie im Rest ihres Vortrags ausschließlich »Frauen«, »Mütter« und »Töchter«, die Sand abbauen. Die DGA-Mitarbeiterin stellt die weiblichen Personen in einen direkten Zusammenhang mit Armut, indem sie von »armen Gebieten«, vom Sandabbau als »eine Alternative […], um zu überleben […]«, spricht und davon, dass diese Personen Sand abbauen müssen, um ihre Familien zu versorgen. Der narrative Bezug auf Armut setzt eine Rhetorik des Entwicklungsdiskurses im Naturschutzdiskurs fort. Armut gilt als messbares soziales Kriterium, ist in den Begriffen ›Entwicklung‹ und ›Modernisierung‹ verankert (Appadurai 2007: 31) und behindert die Entwicklung einer Gesellschaft. Bereits aus früheren entwicklungspolitischen Kontexten in Kap Verde wird ersichtlich, wie Arumt als ein ›Hindernis‹ für die wirtschaftliche und technische Entwicklung einer Gesellschaft verstanden wurde (Challinor 2008a: 74). In Naturschutzdiskursen stellt Armut zudem eine Bedrohung für die gesamte Menschheit dar, da in ihnen die negativen lokalen Praktiken den Zustand der globalen Umwelt direkt beeinflussen. Die Referentin stellt eine Lokal-global-Rhetorik her, als sie zu Anfang des Vortrags von einem Theaterstück, das den Titel »Die Erde und der Enkel, der sie geliehen hat« trug, erzählt. Die Gesellschaft sollte die Erde nachhaltig, das heisst in einer Weise nützen, dass auch spätere Generationen etwas von ihr haben. Zudem konstruiert die Referentin einen niedrigen sozialen Status der Frauen, indem sie Weiblichkeit und Armut miteinander verbindet. Dieser soziale Status verfestigt sich im Diskurs um Sandabbau und Naturschutz zu einer negativen Kategorie. Zugleich gehen mit der Erniedrigung der sozialen Position der Frauen eine
190 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Erhebung und eine positive Aufladung der Regierung und der Naturschutzvertreter einher. Da die Referentin selbst ein Teil der Regierung ist wertet sie auch ihre eigene Position auf. Diese Aufwertung der Regierung hat zur Folge, die Anschuldigungen gegen die Frauen zu legitimieren und gleichzeitig andere Formen des Sandabbaus zu akzeptieren. »Practica tradicional« Das oben erwähnte Zitat der DGA-Referentin enthält eine weitere wiederkehrende Komponente der Konstruktion des Sandabbaus als traditionelle Praktik. Indem die DGA-Mitarbeiterin erläutert, dass die Frauen seit vielen Jahren Sand abbauen und die Praktik an die Töchter weitergeben, konstruiert sie den Sandabbau als eine tradierte Praktik. Im Verlauf ihres Vortrags benennt sie diesen Aspekt der Tradition: »Es ist auch eine traditionelle Aktivität. Diese Personen machen das in dieser traditionellen Form schon eine ganze Zeit lang. Sie bauen Sand am Strand ab, oder dort, wo es keinen mehr gibt. Ich weiß nicht, ob das hier [São Vicente] oder auf den anderen Inseln stattfindet, aber in Santiago, wo es schon keinen Sand mehr am Strand gibt, holen sie den Sand aus dem Meer, zum Beispiel in Tarafal […] Also, das ist eine Tradition, das sind Personen eines gewissen Alters, und die haben Kinder, die ihre Mütter begleiten.« [Videotranskript, Referentin der DGA auf einem Seminar zum Schildkrötenschutz in Mindelo]
Die DGA-Mitarbeiterin beschreibt Sandabbau als eine »traditionelle Aktivität«, als eine »traditionelle Form« und als »Tradition«. Diese Benennung ist besonders deshalb relevant, da diejenigen, die Sand abbauen, ihre Praktik nie als traditionell bezeichnen. Der Begriff der Tradition, wie ihn die Referentin verwendet, kann zunächst positiv interpretiert werden, da der Sandabbau als althergebrachte Praktik über eine Berechtigung verfügt, die in Naturschutzdiskursen oftmals geschützt und bewahrt werden sollen. Doch hier offenbart sich vielmehr das zwiespältige Verhältnis, das der Naturschutz zu ›Tradition‹ hat: die Referentin spricht die Techniken der Abbauform an, die in der »traditionellen Form« mit den Händen, Schaufeln oder Eimern stattfindet. Im Laufe ihres Vortrags spricht sie jedoch über die »vernünftige Exploration« von Sand durch Bauunternehmen und von den Lizenzierungen, die sowohl die Umwelt schütze als auch die Entwicklung des Landes voranbringe. Die Referentin kontrastiert damit implizit die traditionelle Praktik mit dem professionellen Sandabbau, wodurch die traditionelle Form des Sandabbaus zu einem Entwicklungshindernis wird: Es geht nicht um eine Tradition, die schützenswert ist und erhalten werden soll, wie es im Natur-
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schutzes bisweilen der Fall ist. Vielmehr bezeichnet die Referentin den Sandabbau als eine rudimentäre Praktik. Über diese Leitdifferenz »traditionell« und »modern« (Matthes 1992: 81) aktualisiert die Referentin Abstraktionen von Werten und Verhaltensweisen und erhebt die moralischen Werte des Naturschutzdiskurses zu einem Maßstab für das ›richtige‹ menschliche Vehalten. Als zeitliche Dimension verweist ›Tradition‹ in diesem Zusammenhang auch darauf, dass sich die Frauen nicht weiterentwickelt hätten und rückständig geblieben sind. Und auch die Übergabe der Praktik ist negativ konnotiert. Indem die Frauen mit ihren Töchtern Sand abbauen, geben sie ein Wissensrepertoire an zukünftige Generationen weiter, das sich im Alltag vergegenständlicht und institutionalisiert. ›Die Tradition‹ wird so zu einer potenziellen Bedrohung. Sie erweitert auch die davon betroffenen Personenkreise und Lebensbereiche, die unter dem Sandabbau leiden: die Frauen ziehen künftige Generationen, die Zukunft, die Gesundheit, die Entwicklung des Landes und die Umwelt in Mitleidenschaft. »Fehlendes Umweltbewusstsein« und Illegalität »Mit einer Wagenladung Sand kann man ein Problem lösen, um ein Haus zu bauen, um etwas zu lösen, um ein Gebäude zu bauen, für die touristische Entwicklung Kap Verdes. Und Nachhaltigkeit spielt keine Rolle, sie denken nicht langfristig, ob diese Aktivität gut ist oder nicht.« [Videotranskript, Referentin der DGA auf einem Seminar zum Schildkrötenschutz in Mindelo]
Obwohl die DGA-Referentin die wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge anspricht, unter denen der Sandabbau stattfindet, attestierte sie den Frauen nicht ausreichend nachhaltig zu Denken und ein fehlendes Umweltbewusstsein. Für zwei Mitarbeiterinnen des INDP, mit denen ich während einer Veranstaltung zum Naturschutz spreche, lag das Problem des Sandabbaus darin, dass sich die Frauen dafür entschieden haben, weiter Sand abzubauen, obwohl sie sich der Zerstörung der Strände bewusst sind: »Sie wissen, dass, dass es nicht gut ist, aber…es ist immer einer Frage der Alternative. […] Sie wissen, was sie machen, aber ich glaube, es geht um zwei Dinge: sie sind sich über die physikalischen Folgen bewusst, weil sie sehen, dass es bereits keinen Sand mehr gibt. Sie gehen jetzt ins Meer und holen den Sand aus dem Meer. Und dann sagen sie auch, dass sie keine andere Alternative haben.« [Audiotranskript, informelles Gespräch mit einer Mitarbeiterin des INDP]
192 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Die Entscheidung der Frauen, ob sie zu ›kurzfristigen Lösungen‹ greifen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, oder ob sie nachhaltig denken und damit die Umwelt schützen, korrespondiert mit einer in Naturschutzdiskursen auftretenden Beziehung des ›Ökonomischen‹, das über dem ›Ökologischen‹ steht. Obwohl die beiden Mitarbeiterinnen des INDP in anderen Gesprächen kritisieren, dass die kapverdische Regierung und die Transportfahrer sich in einem viel größeren Ausmaß am Sandabbau beteiligen, schreiben sie den Frauen die Rolle der bewussten Zerstörerinnen der ›Natur‹ zu. Indem sie die bewusste Entscheidung der Frauen ansprechen, verfestigt sich deren Rolle als Schuldige, deren ›falsche Mentalität‹ mit entsprechenden Maßnahmen geändert werden müsse. Die Stigmatisierung der Frauen vertieft sich zudem, wenn Naturschutzvertreterinnen und Regierungsvertreterinnen über die Illegalität des Sandabbaus sprechen. Dazu zitieren sie entweder das Gesetz 2/2000, gegen das die Personen verstoßen oder sie kritisieren, dass die Polizei nichts dagegen unternimmt, wenn sie die Frauen beim Sandabbau sieht. Obwohl die Bauunternehmen, die Transportfahrer und die lokalen Verwaltungen gleichermaßen gegen das Verbot des Sandabbaus verstoßen, sind es nur die Frauen, die illegal Sand abbauen. Der Bezug auf die Illegalität setzt die moralische Funktion des Stigmas und des Statusverlustes der Frauen am stärksten durch, da die Frauen gegen Gesetze handeln und sich gegenüber dem Staat und gegenüber ihrer Gesellschaft ›falsch verhalten‹. Sandabbau und Stigmatisierung Stigma ist eine Form von Nichtanerkennung, der Verkennung oder der Abneigung und wird im politischen Diskurs zu einem diskursiven Instrument, um Verhalten und Positionen zu entwerten. In The Politics of Recognition (1992) stellt Taylor heraus, wie Menschen im Zuge dieser Nichtanerkennung eine Abwertung ihrer eigenen Person erfahren, die nicht nur von außen an sie herangetragen wird, sondern die sie annehmen und verinnerlichen. Diese Entwertung »can inflict harm, can be a form of oppression, imprisoning someone in a mode of false, distorted, and reduced mode of being« (Taylor 1992: 25). Die Durchsetzungskraft von Stigmata erhöht sich zudem, wenn allgemeingültige Normen, die ein hohes Maß an Verbindlichkeit und Verbreitung besitzen, durch abweichende Handlungen verletzt werden. Der ›traditionelle‹ Sandabbau steht nach der beschriebenen Rhetorik nicht in Einklang mit der Nutzung und Gestaltung von Umwelt, die die Naturschutzvertreterinnen und Vertreterinnen des Umweltministeriums propagieren. Im hegemonialen Diskurs von Naturschutz und Entwicklung wird diese Form des Sandabbaus zu einer schlechten und destruktiven Praktik politisiert. Diejenigen, die Sand abbauen, werden zu
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einer Personengruppe kategorisiert, die die Schuld an der fortschreitenden Zerstörung der Küstenbereiche trägt. Im Zuge dieser Politiken der Beschuldigung konstruieren Naturschutzvertreterinnen und Regierungsvertreterinnen die Sandabbauenden als Personen mit niedrigem sozialem Status. Dieser soziale Status beschreibt das Verhältnis zwischen dem Sandabbau als Praktik und den Attributen Weiblichkeit und Armut, Tradition, fehlendes Umweltbewusstsein und Illegalität. Auf diese Weise wird ein Merkmal der Zuschreibung generiert, das auf eine »Zugehörigkeit zu den Klassen« (Bourdieu 1982: 752) verweist. Da es sich bei den Sandabbauenden vorwiegend um Frauen handelt, reproduzieren sich in den Naturschutzdiskursen zum Sandabbau auch bestehende Geschlechterverhältnisse in Kap Verde, die Frauen ohnehin einen niedrigeren sozialen Status zuweisen. In den kapverdischen Studien zum Sandabbau (vgl. Aráujo 2006; Mendes Lopes 2010; Mendes Lopes und Cunha 2012; Correia 2012; dos Reis 2014) gehen die Autorinnen meist auf die überproportionale Beteiligung der Frauen am Sandabbau ein. Als Gründe werden deren sozioökonomisch schwächerer Status und dem daraus folgenden erschwerten Zugang zum formalen Arbeitsmarkt genannt. Auch Statistiken über die Unterschiede zwischen von Frauen und Männern dominierten Haushalten in urbanen Gebieten thematisieren die schwache Stellung der Frau, die dann auf prekäre Einkommensquellen wie den Sandabbau angewiesen sind (Baker 2006 und 2009; Proença 2009). Die Autorinnen dieser Studien beziehen sich dabei auf die Geschlechterverhältnisse während der Kolonialisierung: zu Beginn des 19. und 20. Jahrhunderts emigrierten überwiegend Männer, während Frauen auf den Inseln blieben und die Familien und das Land versorgten. Obwohl Frauen das familiäre und landwirtschaftliche Leben in Kap Verde »zusammenhielten« (so formulierten es mehrere meiner Gesprächspartnerinnen), profitierten sie nicht von der Transnationalisierung der Gesellschaft. Von den wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen der kapverdischen Gesellschaft ausgeschlossen, bezeichnete Davidson Frauen deshalb als »zweifache Opfer« (Davidson 1989: 172), die in ihrer sozialen Position sowohl von den Folgen der kolonialen Politiken, als auch von den patriarchalischen Strukturen betroffen waren. Diese empirischen Beobachtungen zeigen zwar einerseits, wie asymmetrisch Frauen in das Projekt ›Entwicklung‹ (Shiva 2006 [1989]: 184) einbezogen sind. Doch andererseits trägt die diskursive Herausstellung der Frau im Spannungsverhältnis von ökonomischer und politischer Liberalisierung und Naturschutzdiskursen zu deren weiteren Marginalisierung bei. Die Porträtierung der Frauen als Verliererinnen globaler Entwicklungen führt dazu, veränderte Geschlechterbeziehungen der letzten Jahre, wie die ansteigende Emigration von Frauen, zu vernachlässigen (Carling 2004; Grassi 2007; Åkesson 2009; Massart 2013). Da
194 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN die Politiken der Beschuldigung zum Teil auf diesen Porträtierungen aufbauen, reproduzieren diese Studien ebenfalls bestehende lokale Geschlechterkategorien und verfestigen durch eine historisierende Perspektive die Marginalisierung der Frauen in Kap Verde. Die diskursive Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Sandabbau und die Stigmatisierung des traditionellen Sandabbaus ist jedoch keine Rhetorik, mit der die Naturschutzvertreterinnen den Frauen, die Sand abbauen, bewusst schaden wollen. Die Naturschutzvertreterinnen beabsichtigen, die Fehlverhalten der Frauen zu erklären, indem sie auf deren Lebensumstände verweisen. Die Workshops stellen Angebote dar und sind als Möglichkeiten gedacht, um ihre Lebensumstände zu verbessern. Umso tragischer ist es, dass gerade unter derartigen Rationalisierungen Stigmatisierungsprozesse auftreten (Goffman 1963: 13f.). In dem die Naturschutzvertreterinnen das Verhalten der Frauen rationalisieren, verschleiern sie einerseits die ungleichen Machtverhältnisse zwischen den am Sandabbau beteiligten Akteuren. Andererseits legitimieren die Naturschutzvertreterinnen die Ressourcenextraktionen, die durch den professionellen Sandabbau stattfinden: während der traditionelle und unorganisierte Sandabbau zur Umweltzerstörung beiträgt und als Indikator für Armut steht, entspricht der vernünftige Sandabbau einer nachhaltigen Exploration, durch die Arbeitsplätze entstehen und die die Entwicklung des Landes voranbringt. Die Stigmatisierung der ›traditionellen‹ Praktik fungiert somit als eine Kontrastfolie zum professionellen Sandabbau und als Zeichen für die Modernisierung Kap Verdes. Auf diese Weise werden Umweltdegradationen unter dem Deckmantel von Nachhaltigkeit verschleiert (Ferradas 2004). Der lizenzierte Sandabbau wird zu einem Teil der vernünftigen Exploration von Sand. Hieran zeigt sich, dass Naturschutzdiskurse nicht nur rhetorisch eng mit Entwicklungsdiskursen verflochten sind, sondern dass auch die Verbindung und die Kompatibilität beider Diskurse praktisch vollzogen werden. Die Lizenzierung des Sandabbaus ist ein Instrument, um natürliche Ressourcen und die Kontrolle über Land zu regulieren. Diese Regulation ist zwar gesetzlich verankert, doch in der Praxis das Ergebnis lokaler Dynamiken, in denen lokale Verwaltungen und Transportfahrer miteinander verhandeln. Hardin (2011) beschreibt solche Konzessionspolitiken als soziale Prozesse des Erkundens, des Absteckens und der Durchsetzung. Hierbei agieren Akteure verschiedener Ebenen miteinander und üben eine »environmental governance« (Lemos und Agrawal 2006: 298) aus, mit dem Versuch, Ressourcen, Identitäten und Territorien zu definieren und zu gestalten. Meine Gesprächspartnerinnen, die für NROs arbeiteten oder die an staatlichen Naturschutzmaßnahmen beteiligt waren, erachteten die Lizenzierungen des
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Sandabbaus jedoch nicht unbedingt immer als legitim. Auch äußerten sie Sympathie gegenüber den Frauen und kritisierten die Beteiligung der Regierung, der Bauunternehmen und der Transportfahrer. Auf ähnliche gleichzeitige Sympathien und Beschuldigungen trifft Satterfield (1996) bei ihrer Untersuchung über die Stigmatisierung von Holzfällerinnen durch Naturschützerinnen in Oregon. Dort entwickelte sich die Ambiguität im Zuge der damals auftretenden Umweltpolitiken, in denen die Naturschützerinnen die Doppelrolle einnahmen, die lokale Bevölkerung zu vertreten und gleichzeitig den Naturschutz als moralische Ordnung voranzutreiben. In ähnlicher Weise befinden sich die Naturschutzvertreterinnen in Kap Verde in einem Zwiespalt, die sozioökonomisch schwachen Teile der Bevölkerung gegenüber der Dominanz des Staates zu unterstützen und den Naturschutz zu etablieren. Diese Ambiguität deutet auch darauf hin, dass die Naturschutzvertreterinnen nicht beabsichtigten, die Frauen zu stigmatisieren. Stigmatisierungen sind eher eine Folge davon, eine bestimmte Vorstellung von Naturschutz und Entwicklung gegenüber anderen Vorstellungen durchzusetzen, die aber dennoch im politischen Diskurs desintegrierend wirken. Wie die Frauen diese Stigmatisierungen erfahren und mit ihnen umgehen, erläutere ich im letzten Teil des Kapitels.
6.3 D AS E INFORDERN SOZIALER ANERKENNUNG In den Politiken der Beschuldigung erfahren die Frauen eine Stigmatisierung, die zu einer moralischen Erfahrung (Yang et al. 2007) wird. Diese Erfahrung ist von mehreren Aspekten geprägt: den Lebensunterhalt zu verdienen, sich körperlichen und gesundheitlichen Gefahren auszusetzen, sowie von der diskursiven Abwertung ihrer Person durch die Stigmatisierung. Somit steht für die Frauen nicht nur ihr wirtschaftliches Überleben, ihre körperliche Unversehrtheit und der Erhalt ihrer Wohnorte auf dem Spiel. Es geht ihnen auch darum als Teil der Gesellschaft wahrgenommen und anerkannt zu werden. Die Frauen verhandeln diese moralische Erfahrung auf unterschiedliche Weise. Die Begegnungen mit Arlinda verweisen darauf, wie Menschen den Sandabbau verheimlichen und sich für die Ausübung der Praktik schämen. Die Begegnung mit Simon und Nelida dagegen verdeutlicht, wie sichtbar Sandabbau im Alltag ist und wie Menschen, die Sand abbauen, die Gründe und Folgen ihrer Tätigkeit artikulieren. Trotz dieser Unterschiede sprechen alle beteiligten Personen über die körperliche Anstrengung des Sandabbaus und über ihre Angst vor dem Meer, sowie über die Notwendigkeit ihren Lebensunterhalt zu sichern und darüber, dass sie froh sind eine Einkommensquelle zu haben.
196 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Mendes Lopes (2010) interpretiert die negativen Aspekte, die die Frauen mit dem Sandabbau assoziieren und die Dankbarkeit, die sie formulieren, als einen Widerspruch und als ein Spannungsverhältnis (Mendes Lopes 2010: 57). Mehr noch als um ein Spannungsverhältnis handelt es sich hierbei um verschiedene Reaktionen auf die Erfahrung von Stigmatisierung und auf den Umgang mit dem Gefühl von Scham. Entweder schämen sich die Frauen dafür, dass sie selbst Sand abbauen, oder sie sprechen über die verbreitete gesellschaftliche Assoziation von Scham gegenüber dem Sandabbau, der mit niedrigen Einkommen und einer prekären Situation zusammenhängt (Mendes Lopes 2010). Scham ist ein Teil der Stigmatisierungserfahrung und bezeichnet die Wahrnehmung der Aberkennung des sozialen Status oder »the deeply felt and highly motivating experience of the fear of being judged defective« (Shweder 2003:1115 in Friedman 2007). Friedman (2007) zeigt jedoch auch wie Scham zu einem Medium wird, um die sozialen und wirtschaftlichen Normen und Werte, die dazu beitragen, dass Menschen sich schämen, zu kritisieren. Scham als moralische Erfahrung und als Medium treten immer in Kontexten auf, in denen sich politische, soziale und ökonomische Werte ändern und die von Inkonsistenzen und Widersprüchen gekennzeichnet sind (Friedman 2007: 239). Diese analytische Perspektive auf Scham eignet sich dafür zu analysieren, wie Menschen Stigmatisierung erfahren. Stigmatisierte Personen verstärken die Stigmatisierung, wenn sie ihre Situation als gegeben und als optionslos erachten (Link und Phelan 2001: 375). Infolgedessen akzeptieren sie die neue moralische Ordnung und verbleiben in den Grenzen der Stigmatisierung. Die Art und Weise, wie Frauen in den Naturschutzdiskursen dargestellt werden, vertieft ihre eigene Scham darüber, dass sie Sand abbauen. Beispielsweise verheimlichen diejenigen, die Sand abbauen und nicht alleinerziehend sind ihre Praktik häufiger, da sie sonst ihren sozialen Status aufs Spiel setzen würden. Sie verheimlichen ihre Praktik somit weniger aus Angst vor Strafe, sondern eher aus Scham. Obwohl sie aufgrund ihres sozioökonomischen Status eine bessere Voraussetzung hätten, Widerstand zu leisten, ist die Scham, als Personen, die Sand abbauen, wahrgenommen zu werden größer. Wenn Menschen Stigmatisierung erfahren, kann sich jedoch auch eine Motivation entwickeln, um den eigenen Statuts aufzuwerten. Hierbei handelt es sich um die Einforderung von sozialer Anerkennung, die im Zuge der Stigmatisierung verloren ging. Die Mehrheit der Frauen verheimlicht nicht, dass sie Sand abbaut, sondern thematisiert ihre schwierige Lebenssituation. Sie thematisieren ihre Arbeitslosigkeit, ihre Armut und ihr Rolle als Familienversorgerinnen und verwenden somit dieselben Merkmale, die zu ihrer Stigmatisierung beigetragen haben. Doch die Frauen sehen sich nicht als Umweltzerstörerinnen, sondern als
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von der Regierung vernachlässigte Personen, deren Lebenssituation nicht wahrgenommen wird. Indem sie weiter Sand abbauen, sich zusammenschließen und nicht an den Workshops teilnehmen oder diese abbrechen, versuchen sie die negativen Zuschreibungen aufzubrechen. Damit äußern sie Kritik an den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, von denen sie sich ausgeschlossen fühlen und unter denen sich ihr sozialer Status innerhalb der Gesellschaft verschlechtert. Somit wird die Erfahrung des Stigmas zu einem Medium, um diese moralische Ordnung zu kritisieren. Goffman sieht in den Stigmatisierungsprozessen die Zuschreibung einer neuen sozialen Identität, die sich in den Haltungen derjenigen die stigmatisiert werden manifestiert. Diese soziale Identität entwickelt sich indem die Stigmatisierten mit den sozial konstruierten Kategorien interagieren (Goffman 1963 zitiert in Yang et al. 2007: 1527). Auch für Bourdieu ist soziale Identität nach der Logik der Stigmatisierung das zentrale Objekt der Auseinandersetzung (Bourdieu 1982: 741 f.). In den Diskursen über Sandabbau konstruieren die Akteure soziale Identitäten, die Personen kategorisieren. Diese Kategorisierungen bedeuten, dass Stigmatisierende über Stigmatisierte eine Machtposition ausüben. Hierzu bedarf es eines bestimmten Machtverhältnisses, in dem sich der soziale Status einer Person im Kontext entfaltet und in dem die diskursive Praktik der Kommunikation zu einer Ausübung von Macht wird (Massart 2000: 145f.) Somit handelt es sich um eine relationale Beziehung, in denen Akteure ihre sozialen Identitäten aushandeln (Strathern 1988 zitiert in Massart 2000: 146). Die relationale Beziehung legt nahe, hier nicht von Identitäten, sondern von Zugehörigkeiten zu sprechen, die im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen. Diese Zugehörigkeit wird durch die moralische Ordnung nicht nur bedroht und in Frage gestellt, sondern die Frauen erfahren eine Exklusion, die erst unter bestimmten Machtstrukturen möglich wird. Dementsprechend versuchen sie, Sympathie zu erwecken, um die Anerkennung ihrer sozialen Zugehörigkeit einzufordern. Hierbei spielt das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit anderen Personen, die diese Stigmatisierungserfahrungen teilen, sowie die Anbindung zu den Abbaustellen eine Rolle. Für die Frauen ist der Sandabbau nicht nur eine Einkommensquelle oder ein Ort, der eine materielle Ressource zur Verfügung stellt. Die Sandabbaustelle verkörpert auch eine für sie bestehende Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt trotz schwieriger Umstände zu sichern. Die Sandabbaustelle als natürlich gegebener Ort der Lebenssicherung stellt somit einen Möglichkeitsraum dar, aus dem die Personen einen gemeinsamen Besitzanspruch ableiten. Diesen Besitzanspruch verteidigen sie nicht nur gegenüber Naturschutzvertreterinnen oder der Polizei, sondern auch gegenüber den Bewohnerinnen anderer Dörfer und Städte, die ihren Lebensunterhalt über Sandabbau verdienen.
198 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Diese als ›natürlich‹ gegebene Anrecht zwischen der Umwelt und den Bewohnerinnen wird gegenseitig wahrgenommen, praktiziert und verteidigt.
6.4 Z USAMMENFASSUNG In den institutionellen Diskursen zu Sandabbau findet eine diskursive Unterscheidung zwischen einer destruktiven und einer vertretbaren Form des Sandabbaus statt. Mithilfe dieser diskursiven Unterscheidung stellen Naturschützerinnen und Regierungsvertreterinnen den Sandabbau und die beteiligten Akteure entlang selektierter und konstruierter Merkmale dar, in denen Weiblichkeit und Armut, Tradition, fehlendes Umweltbewusstsein und Illegalität einen Sandabbau beschreiben, der umweltschädlich und entwicklungshindernd ist. Die Stigmatisierung dient hier als »effective and natural response« (Yang et al. 2007: 1528): sie beschreibt einen Akt der Selbstbewahrung und der Verteidigung des Naturschutzes und manifestiert sich als moralische Haltung auf interpersoneller und struktureller Ebene. Somit wurden Naturschutzpolitiken des Sandabbaus zu Politiken der Beschuldigung. Die Stigmatisierung der Frauen entfaltet sich in hegemonialen Diskursen von Naturschutz und nachhaltiger Entwicklung und trägt dazu bei, den professionellen Sandabbau zu legitimieren, an dem Transportfahrer, Baufirmen und die lokalen Verwaltungen beteiligt sind. Naturschutzpolitiken sind daher nicht ›neutral‹, sondern Maßnahmen, die auf Machtausübung basieren und mit denen politische Entwicklungsagenden gerechtfertigt werden. Naturschutzvertreterinnen, die kapverdische Regierung, Bauunternehmen und Transportfahrer grenzen sich in einer Allianz gegenüber den Frauen ab und ermöglichen unter der Verschleierung der Machtverhältnisse eine Ressourcenextraktion. Stigma wird so ein Teil der politischen Rhetorik. Ich habe Stigma jedoch auch als moralische Erfahrung begriffen, die die Einzelne in ihrem sozialen Kontext macht. Da Stigma kontingent ist und der Grad der Stigmatisierung davon abhängt, welche Zugänge stigmatisierte Personen zu sozialer, ökonomischer und politischer Macht haben, unterscheiden sich das Ausmaß der wahrgenommenen Stigmatisierung, sowie die Reaktionen darauf. Entweder vertiefen die Menschen ihre Stigmatisierung, oder sie verwenden Stigma als Medium, um die neue moralische Ordnung herauszufordern. Hierbei offenbart sich eine Dialektik zwischen den Frauen, die Sand abbauen und den Vertreterinnen des Naturschutzes. Diese Dialektik verweist darauf, wie Menschen dieselben Strukturen nutzen und die gleichen Elemente verwenden, mit denen sie unterdrückt werden, um Machtbeziehungen aufzubrechen (Ewick und Sibley 1998: 205). Somit regulieren Natur-
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schutzdiskurse einerseits die ›Ressourcen‹ des Archipels und andererseits werden sie zu kommunikativen Kanälen, in denen Verantwortlichkeiten und Beschuldigungen ausgefochten werden. In diesem Kapitel bin ich auch darauf eingegenagen, wie Anforderungen von wirtschaftlicher Entwicklung, der Sicherung des Lebensunterhaltes und des Umweltschutzes aufeinandertreffen, und wie es in diesen Konflikten um die Politisierung von Zugehörigkeiten geht. Den Zusammenhang von Naturschutz und Politiken der Zugehörigkeit erabeite ich im letzten Kapitel.
7. Naturschutz und Politiken der Zugehörigkeit
»Wenn in Kap Verde von Umwelt die Rede ist, geht es eigentlich um das Geschäft mit der Umwelt. Der Massentourismus bringt viel, aber die Arbeit ist schlecht bezahlt und mit Ökotourismus kann man keine Massen erreichen. Es gibt noch nicht genügend Personen, die sich damit auskennen. Aber jeder in Boa Vista kann mit einer Ziege umgehen.« [Feldnotiz, informelles Gespräch mit Antonio, Boa Vista]
Antonio, ein boavistensischer Fotograph, Öko-Guide und »Naturliebhaber«, wie er sich selbst nannte, spricht mit seiner Aussage die Ausgangsfrage der vorliegenden Arbeit an: Wie ist die kapverdische Gesellschaft in Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskursen involviert? Diese Frage, die ich in den vorangegangenen Kapiteln ausgearbeitet habe, lässt sich an dieser Stelle mit dem Hauptargument der Arbeit beantworten: Naturschutzdiskurse und Naturschutzpraktiken sind materielle, symbolische und soziale Grenzziehungen, unter denen sich das Verhältnis von Menschen zu ihrer Umwelt verändert. Diese Grenzziehungen knüpften an koloniale Strukturen des Ressourcenmanagements und an neoliberale Politiken an, wodurch sich bestehende politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ungleichheiten vertieften. Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse führten zu finanziellen Exklusionen und sozialen Marginalisierungen, die meine Gesprächspartnerinnen als eine Bedrohung ihrer sozialen Zugehörigkeiten wahrnahmen. Daraufhin verdichteten sie ihre sozialen Beziehungen und politisierten ihre Anbindungen zur materiellen und immateriellen Umwelt gegenüber den hegemonialen Praktiken und Diskursen des Naturschutzes. Hierbei entwickelten sich Politiken der Zugehörigkeit, bei denen Naturschutz zu einem Ventil wurde, um politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ungleichheiten zu thematisieren. Dieses Argument lege ich in drei Schritten dar und arbeite darauf aufbauend den Zusammenhang von Naturschutz und Zugehörigkeiten aus. Dafür resümiere ich zunächst die drei Fallstudien zu den räumlichen Transformationen, zum
202 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Schildkrötenschutz und zum Sandabbau als eine ›Kolonialisierung des Alltags‹, in die die Bewohnerinnen Kap Verdes unterschiedlich involviert waren. Sie nahmen Naturschutzprojekte und touristische Entwicklungen als Entortungen und Entfremdungen in ihrem Zuhause wahr, zu dem sie sich daraufhin nicht mehr zugehörig fühlten. Im Zuge dieser Erfahrungen entstanden verschiedene Formen des Widerstandes, den die Personen gegen die Machtkonstellationen und Deutungsansprüche der neuen ökologischen Agenden und Praktiken richteten. Im Anschluss diskutiere ich im zweiten Teil des Kapitels die Frage nach der Legitimität des Naturschutzes, die sich als wiederkehrendes Merkmal der verschiedenen Formen des Widerstandes herauskristallisierte. Meine Gesprächspartnerinnen machten die Legitimität nicht von formalen Gesetzen abhängig, sondern davon, ob sie die Änderungen der sozialen Beziehungen durch die Naturschutzpraktiken als legitim erachteten. Hieran zeigt sich, dass sich Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse nicht als westliche Konstrukte manifestierten, die auf eine lokale Gesellschaft aufgesetzt werden, sondern dass sie soziale und ökonomische Projekte darstellen, die Menschen vor Ort gestalten und in denen sie ihre Beziehungen aushandeln. Was im Zentrum der Aushandlung steht, erörtere ich im dritten Teil des Kapitels und diskutiere dabei, in welchem Verhältnis Naturschutz und Politiken der Zugehörigkeit stehen. Ich zeige, wie die Forderungen nach Anerkennung und Mitgestaltung in den Mittelpunkt der Politiken der Zugehörigkeit rücken und wie insbesondere Bürgerschaftlichkeit das Verhältnis von Naturschutz und Zugehörigkeiten konkretisiert.
7.1 K OLONIALISIERUNGEN
DES
ALLTAGS
»The colonization of everyday life […] creates new kinds of miseries for the poor« (Grandia 2012: 205).
In Enclosed beschreibt die Ethnologin Liza Grandia (2012), wie Naturschutzprojekte und neue Landreformen in Guatemala den Lebensalltag der Quetchi »kolonialisieren« und wie diese zwischen beiden räumlichen Transformationen festsitzen. Die Formen der enclosure basieren zum einen auf der formalen Legitimierung der Naturschutzprojekte und der Landreformen und zum anderen auf der »versteckten Kannibalisierung« (ebd.: 205) lokaler Wirtschaftsformen, unter denen Menschen auf subtile Weise von formalen Ökonomien abhängig werden. Diese Abhängigkeit führte Jürgen Habermas (1981: 488) bereits in seiner These zur »Kolonisierung der Lebenswelt« in Theorie des Kommunikativen Handels aus. Darunter versteht er
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»das Eindringen von Formen ökonomischer und administrativer Rationalität in Handlungsbereiche, die sich der Umstellung auf die Medien Geld und Macht widersetzen, weil sie auf kulturelle Überlieferung, soziale Integration und Erziehung spezialisiert sind und auf Verständigung als Mechanismus der Handlungskoordinierung angewiesen bleiben.« (ebd.)
Der Einfluss von Kapital und Macht ›zwingt‹ demnach soziale Bereiche des Lebens dazu, sich den Marktgesetzten zu unterwerfen, wodurch soziale Beziehungen verrechtlicht und bürokratisch organisiert werden. Eine solche Kolonialisierung fand in Kap Verde im Zuge der Naturschutzpraktiken und der touristischen Entwicklung statt und veränderte den Lebensalltag und die sozialen Beziehungen der Menschen. Nicht formal regulierte wirtschaftliche und soziale Lebensbereiche wurden über ›stabile Ökonomien‹, die im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung (siehe Kapitel 3) zu Beginn der 1990er Jahre mit Kapital aus Europa, den USA und China aufgebaut werden sollten, zunehmend formalisiert. Diese unorganisierten Arbeitsbereiche und irregulären Einkommensquellen1 haben ihren Ursprung in der Besiedlungs- und Kolonialgeschichte des Archipels und sind bis heute wichtig dafür, wie Menschen ihren Lebensunterhalt bestreiten. Hierbei handelt es sich um reziproke Wirtschaftsformen, die eine kontinuierliche Geldzirkulation zwischen und innerhalb der kapverdischen Gemeinschaften ermöglichten und auch die sozialen Beziehungen auf den Inseln und zwischen den Inselbewohnerinnen und den Kapverdierinnen in den diasporischen Gemeinschaften festigten und definierten. Die Ethnologin Kesha Fikes (2010) vergleicht die Geldzirkulation auf den Inseln vor und nach dem Aufbau dieser ›stabilen Ökonomien‹. Sie bemerkt, dass obwohl innerhalb des Archipels mehr Geld zirkuliert und der Wohlstand statistisch anstiegen ist, Menschen in Kap Verde einen weniger direkten Bezug zu diesem Geldfluss besitzen als zuvor. Dieses Phänomen verdeutlicht sich besonders an den Remittances, die in Kap Verde einen institutionalisierten Faktor der Lebensgrundlage (Åkesson 2009) darstellen. Obwohl die Geldsendungen nominal kontinuierlich ansteigen, verringert sich deren relativer Einfluss als Folge der anwachsenden formalen Wirtschaften (Carling 2004; Åkesson 2009 und 2011;
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Grassi fasst diese unorganisierten Arbeiten unter dem Begriff des ›informellen Sektors‹ (Grassi 2003), der auch in anderen Studien zu Kap Verde auftaucht (vgl. Carneiro 2011b). Ich vermeide den Begriff ›informelle Ökonomie‹, da er negativ konnotiert ist (Hart 1973) und die diskursive Trennung von nicht organisierten Arbeitsbereichen und einem formalen Wirtschaftssystem reproduziert.
204 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Fikes 2010; Resende-Santos 2015).2 Bis zum Ende der 1990er Jahre besaß die ärmere Bevölkerung die ›Doppelrolle‹ von Konsumentinnen und Verkäuferinnen, deren zyklische Verkaufs- und Kaufstrategien zwischen dem Archipel und der Diaspora dazu beitrugen, dass in der Kolonie und in den portugiesischen Metropolen und nach der Unabhängigkeit 1975 kontinuierlich Geldreserven vorhanden waren (Fikes 2010). Dieser dynamische urban-rurale Warenzyklus und der Austausch von Dienstleistungen wie Transport, Importe oder die Bauwirtschaft stellten wichtige Strukturfaktoren für die lokale Wirtschaft dar (Grassi 2005a und b; Fikes 2010). Nach dem Regierungswechsel der PAICV zur MpD im Jahr 1991, mit dem die ›demokratische Wende‹ eingeleitet wurde, erfuhr diese lokale Wirtschaftsweise einen Einschnitt, da die ausländischen Unternehmen ihre Geschäftsmodelle nicht an den lokalen monetären Kreisläufen der unorganisierten Arbeitsbereiche orientierten und integrierten (Grassi 2005a; Fikes 2010). Fikes beschreibt die Trennung der Gemeinschaft von dieser wirtschaftlichen Struktur als einen »dissociative space« (Fikes 2010: 65), unter der sich soziale Beziehungen veränderten und unter der sich die Lücke zwischen den reichen und armen Teilen der Bevölkerung vergrößerte. Die Folgen dieser Trennung zeigen sich vor allem an den touristischen Entwicklungen: Diese haben zwar das Transportwesen, das off shore banking oder den Bausektor positiv stimuliert, doch den Inselbewohnerinnen nicht immer zu mehr Wohlstand verholfen, sondern deren Lebensumstände zum Teil verschlechtert. Da diese Arbeitsbereiche zunehmend von ausländischen Kapitalflüssen durchdrungen sind, setzten sie lokale Wirtschaftsformen unter Druck und führten zu einer Zurückdrängung lokaler Märkte (Fikes 2010). An diese Zurückdrängung knüpften in verschiedener Weise Naturschutzprojekte und ihre Verbindungen zu touristischen Entwicklungen an, da sie den Großteil der Profite nicht innerhalb der kapverdischen Ökonomie verteilen. Naturschutzprojekte und touristische Projekte basieren auf externem Kapital, mit dem Naturschützerinnen und Tourismusvertreterinnen professionalisierte Arbeitsbereiche aufbauen und wirtschaftliche Verhältnisse verändern. Diese Arbeitsbereiche sind zudem an eine Transformation der materiellen Umwelt, sowie an umweltbezogene Wissensbestände und Praktiken gekoppelt, zu denen der ärmere Teil der kapverdischen Bevölkerung aufgrund fehlender oder geringer ökonomischer und sozialer Ressourcen keinen Zugang hatte.
2
Am Ende der 1970er Jahre trugen die Remittances zu 24 % des BIP bei (Åkesson 2011), derzeit liegen sie bei 9 % (Resende-Santos 2015). Der Unterschied der prozentualen Anteile der Remittances ist trotz der weit auseinanderliegenden Jahreszahlen relevant, da die finanziellen Überweisungen nominal angestiegen sind.
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Unter diesen materiellen und diskursiven Umgestaltungen von Umwelt waren diejenigen, die ihren Lebensunterhalt durch irreguläre Einkommensquellen bestreiten, von diesen Arbeitsbereichen ausgeschlossen und erfuhren finanzielle Einschränkungen. Mit den Transformationen von Gebieten in ZDTIs und Naturschutzzonen entstanden neue räumliche Grenzen (siehe Kapitel 4), über die touristische Akteure und Naturschützerinnen den Zugang zu diesen Arbeitsbereichen und zu dem damit verbundenen finanziellen Einkommen reglementierten. Indem Betreiberinnen der Hotels und der Reiseagenturen den touristischen Transport monopolisierten, schlossen sie die Taxifahrer vom touristischen Alltagsgeschäft aus. Auch die Klassifikation von Gebieten in Naturschutzzonen führte dazu, dass Schildkrötenexkursionen und andere ökotouristische Touren nur den Personen offenstanden, die Teil dieser professionalisierten Arbeitsbereiche waren. Zudem gerieten die lokalen Fang- und Verkaufsstrategien von Fischern und rabidantes im Zuge formaler Gesetze zum Naturschutz unter Druck. Naturschutzvertreterinnen trugen dazu bei, den Schildkrötenfang und -verkauf als eine Einnahmequelle zu illegalisieren (siehe Kapitel 5). Diese Naturschutzpraktiken unterstützen gleichzeitig die Umgestaltung der traditionellen Fischerei in eine formale Ökonomie, die unter dem Einfluss der ausländischen Hochseefischerei unter Druck geriet (vgl. Carneiro 2011b). Naturschutzdiskurse und Naturschutzprojekte trugen ebenso dazu bei, Personen, die individuell Sand abbauten, von ihrer Einkommensquelle auszuschließen (siehe Kapitel 6). Naturschützerinnen trennten Sandabbau in eine destruktive und in eine vertretbare Form und unterstützten damit einen professionalisierten Sandabbau, von dem Bauunternehmen, Transportfahrer und die lokalen Regierungen profitierten. Viele der hier angeführten wirtschaftlichen Beziehungen in Kap Verde sind in soziale Beziehungen eingebettet, deren Schwächung mit einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit von reziproken Beziehungen einhergeht (Fikes 2010; Rodrigues 2008; Åkesson 2009). Daher betrafen die finanziellen Einschränkungen und Ausschlüsse nicht nur das Leben einzelner Personen, sondern auch deren Beziehungen zu Familienmitgliedern, Nachbarinnen und Mitgliedern der Gemeinschaft. Die Monopolisierung des touristischen Alltagsgeschäfts durch Reiseagenturen und NROs schwächte die reziproken Wirtschaftsformen zwischen den Taxifahrern und ihren Familien und den Taxifahrern untereinander. Die meisten Taxifahrer, die auf Boa Vista arbeiteten, kamen von anderen Inseln und schickten ihr verdientes Geld an ihre Familien nach Santiago oder auf andere Inseln zurück, die dort Häuser bauten oder damit andere wirtschaftliche Tätigkeiten unterstützten. Oft arbeiteten mehrere Taxifahrer zusammen, indem sie sich einen Wagen teilten oder gemeinsam touristische Touren durchführten. Die Formalisierung des touristischen Transportsystems auf Boa Vista wirkte sich da-
206 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN her negativ auf soziale Netzwerke aus. Solche Einschnitte erfuhren auch Fischer, die mit anderen Fischern und mit rabidantes in einem reziproken Arbeitsverhältnis stehen und Personen, die gemeinsam Sand abbauen und damit ihre Familien unterstützen. Deren soziale Beziehungen veränderten sich, indem ihre Arbeitsbereiche als Folge touristischer Entwicklungen und Naturschutzpraktiken professionalisiert wurden. Neben den Einschnitten in die wirtschaftlichen Verhältnisse, erfuhren die Bewohnerinnen Kap Verdes auch eine soziale Exklusion, die im Zuge der Moralisierung von Mensch-Umwelt-Beziehungen erfolgte: Naturschutzakteure stereotypisierten, degradierten und stigmatisierten die Personen, die sich nicht an Naturschutzprojekten beteiligten, die Schildkröten fingen, verkauften und aßen oder die Sand abbauten. Sandabbau, Schildkrötenfang, -verkauf und -konsum oder unorganisierte Touren mit Touristinnen zählen zu den informellen Arbeitsbereichen. Obwohl dieser Arbeitsbereich einen dynamischen Charakter besitzt und sich hier für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung Einkommensquellen entwickeln (Grassi 2005a: 213), wird er innerhalb der Naturschutzdiskurse mit Armut und Unproduktivität assoziiert. Die Tatsache, dass es sich dabei auch um formal illegale Aktivitäten handelt, trägt zur negativen Bewertung dieser Arbeitsbereiche bei. Doch die Moralisierungen entfalteten sich vor allem auf der Grundlage eines normativen Maßstabs von Mensch-Umwelt-Beziehungen, bei dem der Schutz und die Inwertsetzung von ›Natur‹ auf lokaler Ebene zu einem Imperativ für den Erhalt der globalen Biodiversität werden. Naturschützerinnen bewerteten die Art und Weise, wie die Bevölkerung mit der Umwelt interagierte und formulierten Ansprüche über die richtige Umgangsweise. Ein rhetorisches Instrument war dabei, der lokalen Bevölkerung die gegensätzlichen Rollen als Zerstörerinnen oder Hüterinnen von ›Natur‹ zu zuschreiben. Diese Rollen wurzeln in der romantischen Idee des »ecologically noble savage« (Redford 1991: 46), der im Einklang mit der ›Natur‹ lebt, die sich in Reaktion auf die Mensch-Natur-Verhältnisse in den westlichen Industrienationen entwickelt hat (Milton 1996). Einerseits attestierten die Naturschützerinnen der Bevölkerung ein passives Verhalten, Desinteresse und Sturheit und machten sie zu Wilderern, Abergläubischen und Kriminellen. Andererseits stellten sie das ›kulturelle Potenzial‹ der lokalen Bevölkerung als Schlüssel zum Erfolg der Naturschutzprojekte heraus und wiesen ihr eine positiv aufgeladene Rolle zu. Unter dieser paradoxen Zuschreibung von Zerstörerinnen und Hüterinnen von ›Natur‹ rechtfertigten Naturschützerinnen die moralischen Degradierungen, Stereotypisierungen und Stigmatisierungen, und wie auch in anderen Regionen, wurden Naturschutzpraktiken in Kap Verde zu
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einem moralischen Kreuzzug (vgl. Luke 1995; Doane 2012), der die Welt und menschliches Verhalten moralisch trennt. Hieran offenbart sich das zwiespältige Verhältnis, das Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse zur ›Tradition‹ haben, die gleichermaßen als Schlüssel zur Bewahrung von ›Natur‹ und als Hindernis für Modernisierung und eine nachhaltige Entwicklung gilt. Naturschutzvertreterinnen kontrastierten Merkmale wie ›traditionell‹ und ›arm‹ mit ›umweltbewusst‹ und ›nachhaltig‹. Dadurch wurden ›Tradition‹ und ›Armut‹ auch zu Gegenpaaren der Kategorien ›rückständig‹ und ›entwicklungsbedürftig‹ und destruktives umweltbezogenes Verhalten und Passivität zu einer Kontrastfolie zu Modernität und Fortschrittlichkeit. Dieser Zwiespalt und diese Kontrastierung sind zwei charakteristische Merkmale der Entwicklungspraxis, mit der eine homogenisierende Vorstellung ›lokaler Kultur‹ einhergeht: Die Annahme, kulturelle Diversität mit einer wirtschaftlichen und politischen Ethik vereinbaren zu können, weist auf eine simplifizierte Vorstellung von und eine fehlende Auseinandersetzung mit ›Kultur‹ hin. Was in Entwicklungs- und Naturschutzdiskursen unter Kultur oder Tradition verstanden wird, liegt innerhalb eines Referenzrahmens, der nur eine bestimmte Sichtweise auf diese Kategorien zulässt (Milton 1996). Dieser Einschränkung liegt die Leitdifferenz von Modernität und Tradition zu Grunde, unter der weniger ein echter Vergleich, sondern ein Angleichen stattfindet, die Matthes (1992: 84) in Anlehnung an Stagl als Nostrifizierung, als »Aneignung des anderen nach gleichem Maß« bezeichnet. So entstammt die wiederkehrende rhetorische Trennung von richtigem und falschem Verhalten, von ›traditionellen‹ Praktiken und ›modernen‹ Denkweisen, ›informellen‹ und ›formellen‹ Wirtschaften (vgl. Hart 1973, 2012) einer eurozentrischen Grundlage, auf der Entwicklungs- und Naturschutzexpertinnen ihre (westlichen) Wissensbestände und Praktiken mit dem Wissen und dem Verhalten der ›lokalen‹, meist armen Bevölkerung kontrastieren. Hierbei erscheinen lokales Wissen und lokale Praktiken nicht nur als verbesserungswürdig, sondern erfahren auch eine ideologische Degradierung. In dieser Weise reproduzierten Naturschutzvertreterinnen die eurozentrischen Kategorien des nachhaltigen Entwicklungsdiskurses, der in Kap Verde einen hegemonialen Deutungsanspruch innehat (vgl. Kovtun 2014) und in den sich die politischen, sozialen und ökonomischen Ziele des Naturschutzes integrieren. Naturschutzpraktiken weisen nicht nur ähnliche diskursive Strategien zu Entwicklungsprojekten auf, in denen Mensch-Umwelt-Beziehungen beurteilt werden. Naturschutzpraktiken manifestieren sich zudem als materielle Umgestaltung von ›Natur‹ und verkörpern die kontinuierliche Eroberung und Transformation von ›Natur und Kultur‹, auf denen Escobar zufolge Entwicklung und Modernität basieren (Escobar 2003 und 2008). Naturschutzdiskurse und Natur-
208 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN schutzpraktiken sind daher eng mit Entwicklungsdiskursen und -praktiken verflochten und vertieften die sozio ökonomischen Ungleichheiten auf dem Archipel. Vertreterinnen der politischen Ökologie bezeichnen die Verflechtung von ökologischen Agenden, Entwicklungsparadigmen und moralischen Agenden (vgl. Büscher et al. 2012; Vaccaro et al. 2013), unter der Führung eines expertokratischen Regimes (Potthast 2014), in dem Naturschützerinnen und die gouvernementale Verwaltung zusammenarbeiten und das zu sozioökonomischen Ungleichheiten führt (siehe Kapitel 3), als neoliberal conservation. Darunter verstehen sie ein »product of late modernity due to the structural framework of its implementation, both from the point of view of political power interactions and consolidation.« (Vaccaro et al. 2013: 258.) Die Naturschutzprojekte in Kap Verde basierten auf und verbanden sich mit neoliberalen Praktiken und Ideologien. Doch Naturschutz ist kein neoliberales Konstrukt, das immer zu einer Vertiefung sozioökonomischer Ungleichheiten führt.3 Neoliberale Formen von Naturschutzprojekten entwickelten und integrierten sich im Rahmen der bestehenden sozialen, ökonomischen und politischen Strukturen der Gesellschaft. In Kap Verde haben diese Strukturen ihren Ursprung in der ungleichen Landvergabe während der Besiedelung und der Kolonialisierung und in einer politischen Haltung, finanzielle und wirtschaftliche Investitionen aus dem Ausland zu bevorzugen. Hierzu zählen die ›Freizügigkeit‹ der kapverdischen Regierung, ausländische Investorinnen ›Ressourcen‹ wie Wasser oder Sand frei nutzen zu lassen, die zu einer materiellen und finanziellen Akkumulation führte, die gegenwärtig aufgrund der fehlenden effizienten Kontrollmechanismen nur schwer einzudämmen ist. (siehe Kapitel 3). Zudem knüpften Naturschutzpraktiken an soziale Ungleichheiten an, die an den formalen Bildungsstand einer Person gebunden sind (vgl. Challinor 2015; Massart 2000). Diese Ungleichheiten machen sich im Zuge der Rückkehr vieler formal gut ausgebildeter Kapverdierinnen auf den Inseln bemerkbar, die als Beraterinnen, als NRO-Mitarbeiterinnen oder in politischen Ämtern im Naturschutz arbeiten und von den professionalisierten Arbeitsbereichen profitieren, während der sozioökonomisch schwache Teil der kapverdischen Gesellschaft zunehmend ausgeschlossen wird. Des Weiteren reproduzierten Naturschützer die bestehenden kapverdischen Geschlechterbeziehungen, die mit dem sozialen Status, ökonomischen Bedingungen, formaler Bildung und Mobilitätsstrategien zusammenhängen. Obwohl sich Zuschreibungen der Geschlechterrollen allmählich wan3
Der Ansatz, Naturschutz unter der analytischen Perspektive des Neoliberalismus zu untersuchen, greift zu kurz, weil er die Strukturen der lokalen Kontexte ausblendet. Diesen Aspekt habe ich in der Einleitung und in Kapitel 3 ausführlicher diskutiert.
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deln (vgl. Rodrigues 2003; Massart 2013; Challinor 2015) führt der Naturschutzdiskurs zu einer weiteren Verfestigung traditioneller Geschlechterbeziehungen. Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse spiegelten daher bestehende soziale, politische und ökonomische Machtverhältnisse wider und reproduzierten koloniale Strukturen. Entortungen, Entfremdungen und Grenzziehungen »Belonging to a place means being embedded in a network of connections to people and locations.« (MacGill 2014: 156)
Ein Anliegen meiner Arbeit war, die sozioökonomischen Folgen von Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskursen in Kap Verde als menschliche Erfahrungen zu untersuchen. Menschen stehen nicht nur über ihre physische Beziehung mit einem Ort in Verbindung, sondern sind auch in ein Beziehungsgeflecht involviert, das soziale Beziehungen und die materielle Umwelt konstitutieren. Diese Involviertheit beinhaltete ein breites Spektrum an sozialen Praktiken, Einstellungen, Positionierungen und politischen Aktionen. Die im Zuge der Naturschutzpraktiken entstandenen wirtschaftlichen und sozialen Exklusionen, führten dazu, dass Menschen ihre Anbindungen an diese Beziehungsgeflechte, an das Zuhause, die Gemeinschaft, sowie ihre Vorstellungen über die eigene Position in der Welt und in der Zukunft bedroht sahen. Somit beschreiben diese finanziellen und sozialen Ausschlüsse Entortungen und Entfremdung (Pfaff-Czarnecka 2012), die dann entstehen, wenn Menschen sich nicht mehr in der Welt, in der sie leben, zugehörig fühlen. Zugehörigkeiten sind an individuelle Erfahrungen gebunden, entstehen aus persönlichen Biographien und beziehen sich auf kollektive Werte, Wissensbestände, sowie auf Anrechte und gegenseitige Pflichten innerhalb verschiedener Gemeinschaften. Sie beschreiben eine emotionale Verortung zur materiellen und immateriellen Umwelt (Pfaff-Czarnecka 2012: 12) und definieren das, was Menschen sich unter ihrem Zuhause vorstellen. Im Zuge der Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse nahmen Menschen ihre Zugehörigkeiten als bedroht wahr, wobei es sich hier um Beziehungen und Anbindungen an die materielle und immaterielle Umwelt handelt. Diese Beziehungen und Anbindungen waren heterogen und umfassten kollektive autochthone Bindungen an einen Ort, wie die der Menschen in Bofareira, oder individuelle nostalgische Erinnerungen an ein vergangenes Kap Verde, wie die des Erben in Minão. Anbindungen an Orte formulierten auch die Taxifahrer, die in politischen Auseinandersetzungen ihre Ansprüche auf räumliche Inklusion über die Kontrastierung von Kapverdierinnen und stranjerus ethnisierten. Ent-
210 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN fremdungen und Entortungen entwickelten sich auch in Bezug auf die Beziehungen zwischen Menschen und Tieren, die im Zuge des Schildkrötenschutzes in Frage gestellt wurden. Zugehörigkeiten zu Tieren umfassen ebenfalls ein Beziehungsgeflecht kollektiver und individueller Erfahrungen an bestimmten Orten und in bestimmten sozialen Kontexten. Mensch-Schildkröten-Beziehungen in Kap Verde haben einen reziproken Charakter, in dem sich die Beziehung von Menschen zu ihrer Umwelt als welterneuernd und in einem Geben und Nehmen manifestiert. Die Funktion, die Schildkröten während der Hungersnöte hatten und ihre Stellung als Handelsware, sind mit dem Überlebens-Topos der Gesellschaft verbunden. Personen, die Schildkröten fingen und zubereiteten oder aßen, aktualisieren diese historischen Bezüge und festigten in Erzählungen über den Geschmack und den Geruch des Fleisches Erinnerungen an ein kollektives Erbe und an das Zuhause. Anbindungen an die materielle Umwelt existierten auch bei denjenigen Personen, die Sand abbauen, indem sie über eine gemeinsame Performanz (Pfaff-Czarnecka 2012: 29) ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Gemeinschaft, sowie ein Zugehörigkeitsgefühl gegenüber dem Ort und der Gesellschaft entwickeln. Die Stigmatisierung der Frauen, die Sand abbauen, bedrohte daher nicht nur die finanzielle Einkommensquelle, sondern auch die Anerkennung ihres sozialen Status, der mit einem wahrgenommenen Anrecht, als soziales Mitglied der Gemeinschaft vom eigenen Land leben zu können, zusammenfällt. Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse trugen somit auf verschiedenen Ebenen dazu bei, dass die Bewohnerinnen Kap Verdes die veränderten Mensch-Umwelt-Beziehungen als symbolische, materielle und soziale Grenzziehungen (Lamont und Molnár 2002) wahrnahmen. Diese Grenzziehungen gehen mit einem ungleichen Zugang zu und ungleicher Verteilung von finanziellen Ressourcen und politischen Möglichkeiten einher und bedrohten das Gefühl, Verfügungsgewalt über das eigene Zuhause zu besitzen. Gleichzeitig motivierten diese Grenzziehungen die Menschen auch zu verschiedenen Formen des Widerstandes, um sich in ihrem Zuhause erneut zu verorten. Widerstand In einer durch Wettbewerb gekennzeichneten Welt werden soziale und emotionale Verortungen zunehmend wichtiger und umkämpfter (Flinders 2002). In Kap Verde widersetzen sich die Menschen gegen die Kolonialisierung des Alltages, indem sie die Vorstellungen und Praktiken von Mensch-Umwelt-Beziehungen über Re-Territorialisierungen, biosoziale Konfigurationen und Ansprüchen nach sozialer Anerkennung in Frage stellten. Dabei verdichteten sie ihre sozialen Be-
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ziehungen und gestalteten neue Allianzen in den Bereichen, die im Zuge der Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse und des Tourismus unter Druck gerieten. Die Verdichtung sozialer Beziehungen geschah in unterschiedlicher Weise, da meine Gesprächspartnerinnen unterschiedliche soziale, politische und wirtschaftliche Ausgangsbedingungen hatten und somit unterschiedlich mit dem Naturschutz involviert waren. Darüber hinaus war diese Verdichtung sozialer Beziehungen nicht immer beabsichtigt. Meine Gesprächspartnerinnen artikulierten auch Ängste und Wünsche, ohne dabei ein politisches Ziel zu verfolgen. Und trotz der diversen Motivationen und Techniken, widersetzten sich Menschen den verschiedenen Exklusionen und sozialen Marginalisierungen und bestärkten auf diese Weise ihre Zugehörigkeiten. In Bofareira verhinderten Personen die Präsentation der UN über ein Naturschutzgebiet, indem sie über ihre gemeinsame physische Präsenz und NichtTeilnahme die räumlichen und situativen Machtkonstellationen re-konfigurierten. Damit kämpften sie nicht nur um die Anbindung an ihren Ort, der nun an der Grenze eines Naturparks lag und neue Verhaltensweisen erforderte. Mit der Re-Territorialisierung wehrten sie sich auch dagegen, von global agierenden Regimes als passive und als inaktive Personen dargestellt zu werden. Auch die Taxifahrer gingen mit ihrem Verband neue Allianzen ein, indem sie sich formal zusammenschlossen und mit der Unterstützung der kapverdischen Regierung gegen die Hotelbetreiberinnen und Reiseagenturen agierten. Mit den Straßenblockaden vor Hotelresorts verschoben die Taxifahrer Grenzen, die durch die touristischen Entwicklungszonen gezogen wurden. Damit gewannen sie einen Raum zurück, der gleichzeitig eine Zurückgewinnung des Zugangs zu einer Einkommensquelle und ihrer sozialen Anerkennung bedeutete. Eine Verdichtung sozialer Beziehung entstand auch im Rahmen des Verbandes für den ›Kampf‹ um die ehemalige Siedlung Minão, deren Status ehemalige Erbinnen und Aktivistinnen gegenüber Naturschützerinnen und Akteuren touristischer Entwicklungen verteidigten (siehe Kapitel 4). Fischer, die trotz der Verbote Schildkröten fingen und verkauften, widersetzten sich gegen die neuen Mensch-Schildkröten-Beziehungen. Ebenso entstanden zwischen Taxifahrern und Reiseleiterinnen, die gemeinsam Schildkrötenexkursionen durchführten und sich damit gegen den moralischen Anspruch der ökotouristischen Touren widersetzen, neue soziale Beziehungen (siehe Kapitel 5). Frauen widersetzten sich den Exklusionen und Stigmatisierungen, indem sie gemeinsam weiter Sand abbauten, nicht an den Naturschutzmaßnahmen teilnahmen, auf ihre wirtschaftlich instabile Situation hinwiesen und von der Regierung Hilfe forderten (siehe Kapitel 6). Reaktionen wie in Bofareira, der Schildkrötenfang und -verkauf, ›illegale‹ Schildkrötenexkursionen oder der heimliche und öffentliche Sandabbau sind
212 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN nach der engen Definition keine ›kollektiven‹ Politiken des Widerstandes (Scott 1989), sondern werden als passives Verhalten oder als illegale Strategien der Einkommensgenerierung wahrgenommen. Nach dieser engen Definition scheint eine Widerstandskultur in Kap Verde nicht zu existieren. Doch Widerstand in Kap Verde ist oftmals implizit, verborgen, subversiv und als Überlebensstrategie ein Aspekt des täglichen Lebens (Carter und Aulette 2009a: 154): »A superficial reading of life in Cape Verde might lead us to anticipate that people would be struggling in the streets in light of the difficulties created by the global economic and political power structure. And we might wonder why they are not and attempt to explain the vacuum of resistance as a result of apathy or lack of leadership and organization.« (Carter und Aulette 2009a: 163)
Die implizite Widerstandskultur der kapverdischen Gesellschaft hat ihre Bezüge in den kollektiven Erinnerungen und Erfahrungen unter der wirtschaftlichen Ausbeutung und der Verbote und Illegalisierung kultureller Praktiken. In den vier Jahrhunderten Sklaverei und fünf Jahrhunderten Kolonialisierung erfuhr die kapverdische Bevölkerung verschiedene Formen der wirtschaftlichen Exklusion, der Ausbeutung und der sozialen Marginalisierung (Davidson 1981).4 Daraufhin entwickelte sich eine Form des Widerstandes in Literatur, Sprache, Tanz und Gesang, bei der Kultur performativ und diskursiv zum zentralen Element wurde (Carter und Aulette 2009a) und mit der sich Kapverdierinnen gegen die Kolonialisierung sowie gegen ungleiche Geschlechterverhältnisse widersetzten.5 Meintel bezeichnete das Kreol Kap Verdes als »tool of resistance to colonial rule« (Meintel 1984: 148), das sich in literarischen Formen in der Lyrik, im Gesang
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Diese Exklusionen betrafen beispielsweise den Handel mit den pánus, den auf Santiago gewebten und mit Indigo gefärbten Textilien, die als Zahlungsmittel im Sklavenhandel eingesetzt wurden (Lobban 1995). Als einige kapverdische Händlerinnen mit dem pánu-Handel erfolgreich wurden und sich im Sklavenhandel etablierten, erklärten die Portugiesinnen den Handel 1721 als illegal, um das wirtschaftliche Handelsmonopol der portugiesischen Krone nicht zu gefährden. Andere Formen der Ausbeutung äußersten sich in rassistischer Diskriminierung und sexueller Unterdrückung (Carreira 1982; Lobban 1995; Carter und Aulette 2009a).
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Im Gegensatz zu anderen afrikanischen Ländern ist in Kap Verde die demokratische Wende auf Staatsebene erfolgt und ging nicht von der breiten Masse der Bevölkerung aus. Aus diesem Grund existierte keine öffentliche Protestkultur, die sich aus hinterlassenen »Traumata« entwickelt hat (Anjos 2007: 26).
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oder im Tanz des batuku oder in der Institution tabánka6 manifestierte (Meintel 1984; Carter und Aulette 2009a und b; Trajano Filho 2009). Während der antikolonialen und antifaschistischen Revolten in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts fand Widerstand in Form von physischer Gewalt nicht in Kap Verde, sondern in Guinea- Bissau statt, mit dem Kap Verde zusammen unter der Führung Almicar Cabrals für die Unabhängigkeit kämpfte. Auf dem Archipel äußerten sich nationalistische Bewegungen in der literarisch-kulturellen Bewegung Claridade7 (Hamilton 2010), die zum einen die »kreolische Kultur« betonte und zum anderen die soziale und ökonomische Unterdrückung der portugiesischen Kolonialherrschaft kritisierte (Aguiar 2010). Diese Formen des Widerstandes sind Perspektiven, über die Kapverdierinnen ihre Unterdrückung unter der Kolonialisierung deuten (Carter und Aulette 2009a) und in denen die kapverdische Kultur ein zentrales Merkmal darstellt. Der Bezug zur kapverdischen Kultur ist auch in der Gestaltung der Wirtschaftsstrategien der rabidantes ein wichtiges Merkmal, mit dem die Frauen in verschiedenen kulturellen und sozialen Kontexten navigieren. Grassi hebt deren Allianzen als eine Form des Widerstandes gegen eine erzwungene Homogenisierung von Wirtschaftsformen hervor, bei der die Frauen gleichzeitig »Identitäten« (Grassi 2005a: 215) konservieren und neu entwickeln. Indem die Frauen ihre Praktiken an die Herstellung von Identität knüpfen, wird Widerstand zu einer Form der Erfahrung und der Subjektwerdung (Gupta und Ferguson 1997b). Die unterschiedlichen Reaktionen und Strategien, die Menschen im Zuge der Naturschutzdiskurse und Naturschutzpraktiken entwickelt haben, knüpfen an diese Widerstandskultur an. Ihre politische Dimension manifestiert sich darin, dass meine Gesprächspartnerinnen ihre Ansprüche und Forderungen gegen Akteure richten, die aus einer höhergestellten Position den Zugang zu Ressourcen und öffentlicher Macht ausüben (Scott 1989: 37).8 In diesem Sinne sind ›illegale‹
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Batuku ist eine Tanzveranstaltung auf Santiago, die überwiegend Frauen ausführen. Der Tanz ist in ein rhythmisches Trommeln und in ein Ruf-Antwort-Schema eingebettet. Tábanka bezeichnet einen Zusammenschluss zur gegenseitigen Hilfe mit katholischer Prägung. Zu batuku und tabánka als Formen des Widerstandes siehe Carter und Aulette (2009a) und Trajano Filho (2009).
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Erläuterungen dazu in Kapitel 3 und im Glossar.
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James Scott erweiterte die Definition von politischer Aktion, indem er den Fokus auf den »hidden realm of political conflict« (Scott 1989: 33) legte und auch den alltäglichen Praktiken eine politische Bedeutung zusprach. Auch Mbembe (2001: 128) weist darauf hin, dass Menschen in vielfacher Weise mit Macht umgehen und Machtgefälle nicht immer direkt konfrontieren. Oftmals entwickeln sich Reaktionen als »arts of re-
214 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Schildkrötenexkursionen oder ›illegaler‹ Sandabbau Praktiken, mit denen Menschen sich den politischen und wirtschaftlichen Eingriffen in ihrem Alltag widersetzen (Scott 1990; Ewick und Sibley 1998). Zwar war die ›kapverdische Kultur‹ in den verschiedenen Formen des Widerstandes gegen Naturschutzpraktiken auch ein Element des Widerstandes, wenn die Menschen ihre Zugehörigkeiten über ihre autochthonen Positionen oder über die Ethnisierung des Politischen betonten. Doch mehr als Identitäten standen Zugehörigkeiten als emotionale soziale Verortung, die innerhalb globaler Zusammenhänge bedroht sind, im Mittelpunkt des Widerstands. Die Motivationen und Logiken des Widerstandes zeigen einerseits, wie die Bedrohung von Zugehörigkeit zu einer Bestärkung neuer Zugehörigkeiten führt, und andererseits, wie ambivalent und mehrdeutig Widerstand ist. Und trotz der diversen Praktiken und Strategien ist Widerstand immer auch eine Präsenz und Ausübung von Macht (Ortner 1995). Shelly Ortner bezeichnet Widerstand als eine Kategorie, die »highlights the presence and play of power in most forms of relationship and activity« (ebd.: 176) und die sich in verschiedenen, sich überschneidenden sozialen Projekten manifestiert. Gerade dieses Wechselspiel und die Formierung unterschiedlicher Machtkonstellationen durch Akteure mit unterschiedlichen sozialen und ökonomischen Hintergründen wurden in den beschriebenen Praktiken offensichtlich. Im Zentrum standen dabei nicht nur die Bedrohung und Formierung sozialer Zugehörigkeiten. Die Akteure richteten die Widerstände auch gegen die Perspektiven auf und die Gestaltung von Machtkonstellationen und Legitimitäten, unter denen sich Mensch-Umwelt- Beziehungen veränderten.
7.2 G RÜNE I LLEGALITÄTEN Die Kritik an den bestehenden Machtkonstellationen ist gleichzeitig eine Kritik an der Legitimität der veränderten sozialen Beziehungen. Wenn soziale Beziehungen, Pflichten und Privilegien neu definiert werden, verändert sich das, was Menschen als normal und gültig betrachten (Ewick und Sibley 1998). Naturschutzpraktiken und touristische Entwicklungen führten zu einer Verrechtlichung von sozialen Beziehungen, sowie zu formal legalisierten Praktiken und Machtkonstellationen zwischen der Regierung, den IOs, den NROs und den privaten Unternehmen und Agenturen. Auf einer formal verankerten Gestaltung
sistance« (Scott 1990), die es unterdrückten Personen erlauben, mit ›Macht‹ zu spielen, anstatt sie direkt herauszufordern.
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von Umwelt basierend, äußerten die Verrechtlichungen sich in gesetzlichen Verboten zum Schildkrötenfang und -konsum und zum Sandabbau, sowie in Regelungen darüber, Land im Zuge des Biodiversitätsschutzes oder der touristischen Entwicklung umzugestalten. Unter diesen formalen Regelungen wurden Lizenzierungen des Sandabbaus und die Landenteignung legitimiert. Die formale Legalität dieser Politiken und Praktiken bedeutet nicht, dass sie legitim sind oder dass sie als legitim wahrgenommen werden. »Legality is an emergent feature of social relations rather than an external apparatus acting upon social life« (Ewick und Sibley 1998: 17). ›Legalität‹ und ›Illegalität‹ sind instabile Kategorien (Kedron und Galemba 2013) und sozial konstruiert. Die soziale Konstruktion betrifft nicht nur formale Verbote von Praktiken, sondern auch Praktiken, die aufgrund ihrer moralischen Zuschreibung mit illegalem oder legalem Verhalten assoziiert werden. Naturschutzvertreterinnen konstruierten legale Kategorien, die moralische Vorstellungen beinhalteten und die sich darauf bezogen, wie Menschen mit der Umwelt umgehen sollen. Diese Kategorien schlossen daher auch darüberhinausgehende Praktiken, wie die Anwesenheit von Personen am Strand oder die Schildkrötenexkursionen der Taxifahrer mit ein. Besonders in Situationen, in denen Unklarheit darüber herrschte, wer sich am Strand aufhalten darf, welche Befugnisse das Militär im Schildkrötenschutz hat oder wie Sand abgebbaut werden darf, illegalisierten Naturschutzvertreterinnen die Praktiken, die nicht den Normen des Naturschutzes entsprachen. Wenn Naturschützerinnen hingegen auf die formale Legalität der Praktiken Bezug nahmen, versuchten sie die öffentliche Kritik an den Aneignungen und Nutzungen von Land, Sand und Schildkröten auszuhebeln. Besonders wenn Naturschützerinnen dazu beitrugen, den professionellen Sandabbau zu legitimieren (siehe Kapitel 6) fand unter dieser diskursiven Prozedur eine Legalisierung von Illegalitäten (Mattei und Nader 2008) statt. Gleichermaßen stellten meine Gesprächspartnerinnen die Enteignung von Land, die Gestaltung von ZDTIs und Naturschutzzonen und den moralischen Anspruch der Schildkrötenexkursionen sowie die daran beteiligten Autoritäten in Frage. Die Bewohnerinnen Boa Vistas nahmen an, dass die Mitglieder der NROs, die Schildkröten »stehlen« würden, um sie in den Gewässern der Herkunftsländer der NROs anzusiedeln. Sie interpretierten die Zusammenarbeit zwischen den NROs, den Hotels und den Reiseagenturen als willkürlich und korrupt und kritisierten die Akteurskonstellationen, wie die Partnerschaft zwischen Militär und NROs. Die Streitigkeiten zwischen den lokalen NROs, den Tourismusagenturen und Hotels trugen zusätzlich dazu bei, die legalen Akteurskonstellationen zu hinterfragen. Besonders die Gleichsetzung der Naturschützerinnen und Politikerinnen mit Technokraten und Personen, die nur ihre eigenen Interessen
216 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN verfolgen, korrespondiert mit einer verbreiteten Wahrnehmung der kapverdischen Bevölkerung, vom politischen und wirtschaftlichen Feld ausgeschlossen zu sein (Massart 2000). Aber auch NRO-Mitarbeiterinnen, Regierungsvertreterinnen und Mitarbeiterinnen nationaler und internationaler Umweltinstitutionen kritisierten die Enteignung und den Verkauf von Land als eine illegale staatliche Besitzaneignung durch die Regierung und die SDTIBM und bezeichneten sie als crime (Verbrechen) oder als »Verkauf« von Kap Verde. Regierungsvertreterinnen des Umweltministeriums und der DGA waren der Ansicht, dass die NROs und die Tourismusagenturen mit den Schildkröten nur Profit machten. Ebenso kritisch betrachteten sie die von den NRO-Leitungen entworfenen Kriterien dafür, wer Schildkrötenexkursionen durchführen darf und wer nicht. Die Mitarbeiterinnen der UN, der NROs und des INDP benannten den professionellen Sandabbau als crime ambiental (Umweltverbrechen) und richteten die Kritik gegen die lokalen Regierungen und die Bauunternehmen. Besonders unter den Expertinnen war die Ansicht verbreitet, dass die Regierung ihre eigenen Gesetze breche und dass der Staat der größte »Zuwiderhandelnde« im Sandabbau sei. Taxifahrer, Fischer und Naturschützerinnen setzten somit Naturschutzpraktiken und die touristischen Entwicklungen mit Intransparenz, Verbrechen, Diebstahl und Ausbeutung gleich. Sie hinterfragten Autoritäten, moralische Ansprüche und Machtkonstellationen und kritisierten Werte, moralische Diskurse, Sicherheitsdiskurse und Gesetze. Hierbei entwickelten meine Gesprächspartnerinnen »regimes of legality and morality« (Kedron und Galemba 2013: 212), in denen sie soziale und politische Legitimitäten konstruierten und damit Werten, Praktiken, Positionen und Autoritäten eine Gültigkeit zuschrieben oder absprachen. Da diese Regimes in lokalen Machtverhältnissen eingebettet sind, erschließen sich deren Werte und Positionen weniger aus Naturschutzdiskursen oder nationalen Gesetzen zum Naturschutz, sondern aus den moralischen Perspektiven auf soziale Beziehungen. Die lokalen Regierungen der Inseln, Vertreterinnen des Umweltministeriums und der DGA beteiligten sich gleichermaßen an touristischen Projekten wie an Naturschutzprojekten und unterstützten beide im Namen des »nationalen Interesses«. Vandana Shiva ist der Ansicht, dass lokale Bevölkerungen ausländischen Projekten weitaus kritischer gegenüberstehen, wenn der Staat nicht eingebunden ist. Ihrer Ansicht nach würden Gesellschaften die »Opfer« und »Kosten« solcher Projekte eher akzeptieren, wenn sie im »nationalen Interesse« gerechtfertigt sind (Shiva 2006 [1989]: 188f.). Die Fälle in Kap Verde zeigten eine gegenteilige Lage: gerade weil die Regierung sich an dem Landverkauf oder an dem profes-
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sionellen Sandabbau beteiligte, nahm die Bevölkerung die Naturschutzprojekte und die touristischen Entwicklungen als illegitim wahr. Diese beidseitige Kritik an der Legitimität des Naturschutzes und an den umweltbezogenen Praktiken richtet sich nicht gegen den Naturschutz, die touristische Entwicklung und ihre Akteure per se. Vielmehr offenbart sich hier eine gesamtgesellschaftliche Perspektive auf veränderte soziale Beziehungen, die durch Naturschutzpraktiken und touristische Entwicklungen in Erscheinung traten und die die Menschen in Kap Verde als nicht legitim wahrnahmen. Mit dieser Kritik stellten meine Gesprächspartnerinnen den normativen Anspruch des Naturschutzes als ein Projekt, dem eine demokratische Dimension zugrunde liegt und das Teilhabe ermöglicht, in Frage. Naturschutz verspricht nicht nur eine Bewahrung und Inwertsetzung der materiellen Umwelt, sondern auch soziale Entwicklung, Partizipation und Demokratie. Die Verbindung von Naturschutz und demokratischen Elementen entstammt den theoretischen Grundlagen des Naturschutz-Begriffs, dessen Wurzeln im amerikanischen theologischen Romantizismus und moralischen Aktivismus des 19. Jahrhunderts liegt (Brush und Orlove 1996; Diaw 2010; Orr, Lansing und Dove 2015). In den gegenwärtigen Konzeptualisierungen des Naturschutzes in den Ansätzen der politischen Ökologie wird dessen demokratische Dimension dadurch hervorgehoben, dass Naturschutzprojekte als Prozesse erfasst werden, unter denen restriktive staatliche Strukturen reduziert und die Rechte kleiner und marginalisierter Gemeinschaften geschützt werden. Naturschutz ermöglicht zudem Partizipation und Demokratie, indem er ökologische Projekte und Geschäftsideen kleiner Gemeinschaften unter dem Leitgedanken der »nachhaltigen Entwicklung« (Igoe und Brockington 2007: 434) unterstützen sollen. Dafür etablierten sich die UN, Naturschutz-NROs und weitere Institutionen zu einer Akteursgruppe, die mit dem Anspruch ausgestattet ist, demokratisch, effizient und fair zu agieren (Lemos und Agrawal 2006). »That conservation expunged democracy from its discourse may reflect the fact that its morally superior arguments have more to do with political influence and reasons of state than the will of people.« (Diaw 2010:70)
Zwar haben die Fälle in Kap Verde gezeigt, dass die Auseinandersetzung mit dem Naturschutz dazu beitrug, dass sich die Bevölkerung politisierte und Partzipation als demokratisches Element gesteigert wurde. Doch die demokratische Dimension des Naturschutzes – verstanden als ein gleichberechtigter Zugang zu sozialen und materiellen Ressourcen und eine damit verbundene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – bleibt ein leeres Versprechen. Ebenso verkommt die
218 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Integration nachhaltiger Entwicklungsziele in Naturschutzpraktiken zu einem »Mythos« (Soule und Terbogh 1999 zit. in Diaw 2010: 66). Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse sind vielmehr von antidemokratischen Elementen (Potthast 2014) durchzogen und reproduzieren einen hegemonialen Diskurs, in dem Regimes Lebenswelten und Praktiken legalisieren und illegalisieren. Der antidemokratische Charakter des Naturschutzes ist jedoch nicht von vornherein gegeben. Naturschutz ist kein westliches Konzept, das auf den Rest der Welt aufgesetzt wird (vgl. Rival 2012), sondern es sind Menschen, die an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit Naturschutzpraktiken gestalten und umsetzen. »Green is not an absolute, it is relational to time and place, situated« (Arsel und Büscher 2012: 68). In Kap Verde existieren mehrere Naturschutzprojekte unter mehreren Regimes, in denen die lokale Bevölkerung, die kapverdische Regierung, NROs, IOs, und Tourismusakteure auf lokaler, nationaler und globaler Ebene miteinander agieren. Vor Ort manifestierten sich die Naturschutzprojekte in heterogenen kommerziellen und sozialen Projekten, in denen Menschen mit unterschiedlichen Strategien und Praktiken involviert sind. Naturschutzprojekte stellen daher vielmehr mehrere »ongoing social projects« (Moore 2005 zit. in Münster und Münster 2012: 207) mit unterschiedlichen Akteurkonstellationen dar (Hardin 2011: 122), in denen sich unterschiedliche Wertzuschreibungen von und Anbindungen an die Umwelt offenbaren. Ausgehend von diesen lokalen Verflechtungen, ziehe ich drei Schlussfolgerungen für den Naturschutz in Kap Verde: 1. Es existiert keine Dichotomie zwischen dem Staat, den NROs und der lokalen Bevölkerung, die auf der einen oder auf der anderen Seite stehen und mit gegensätzlichen Vorstellungen von ›Modernität‹, ›Entwicklung‹ und ›Tradition‹ operieren. Eher handelt es sich um komplexe Verflechtungen verschiedener Akteure und Regimes, die in verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereichen agieren. 2. Des Weiteren ist der Staat weder ein monolithischer Akteur, noch bleibt er innerhalb der Beziehungen und Konstellationen unsichtbar. Exklusion und Marginalisierung sind keine vagen sozialen und globalen Prozesse, sondern »systematische Prozeduren« (Thapan und Raoul 2010: 5), in denen sich die »Signatur« des Staates offenbart. Lokale und nationale Regierungsteile nahmen oftmals eine Steuerungsfunktion (Wacquant 2012) ein, und die lokale Bevölkerung appellierte an und agierte mit der Unterstützung des Staates gegenüber anderen Akteure. Diese Praktiken »stärkte[n] die Präsenz des Staates im Alltag, anstatt seinen Rückzug zu fördern« (Geschiere 2013: 101). Und 3. manifestieren sich Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse als symbolische, materielle und soziale Grenzziehungen, in denen Menschen ihre Zugehörigkeiten politisieren und lokale Machtkonstellationen, die sich im Zuge von Naturschutzpraktiken und touristischen
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Entwicklungen verfestigt haben, herausfordern. Was im Mittelpunkt der Politiken der Zugehörigkeit steht, werde ich im letzten Teil des Kapitels erarbeiten.
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Politiken der Zugehörigkeit Wenn Menschen sich in ihrer Lebenswelt entfremdet und entortet fühlen und das Gefühl und die Möglichkeit als bedroht wahrnehmen, an der Gestaltung des Zuhauses beteiligt zu sein, artikulieren und politisieren sie ihre Zugehörigkeiten. In diesen Politiken der Zugehörigkeit (Yuval-Davis 2006) festigten die Bewohnerinnen Kap Verdes ihre Verortung zum Land, ihre Anbindung zu Tieren und ihre Beziehung zu ihrer Gemeinschaft und ihrem Zuhause. Nonverbale Performanzen, wie das Aussitzen in Bofareira und die Blockaden der Taxifahrer, Schildkrötenfang und -verkauf, ›illegale‹ Schildkrötenexkursionen, die Gründung von Verbänden, sowie die Artikulation der eigenen Lebenssituation, stellen verschiedene Bekräftigungen von Zugehörigkeiten dar, die ich als Re-Territorialisierung, biosoziale Konfigurationen und als Einforderung sozialer Anerkennung beschrieben habe. Die Politisierungen von Zugehörigkeiten waren dabei relational und entwickelten sich im Kontext der Naturschutzpraktiken und touristischen Entwicklungen. Sie richteten sich gegen die Mensch-Umwelt-Beziehungen, deren Symboliken, Wissensbestände und akteursgebundene Regimes eine hegemoniale Stellung erlangten. Mit diesen Politiken positionierten sich meine Gesprächspartnerinnen in verschiedener Weise zueinander, zu ihrer Umwelt und gegenüber lokalen, nationalen und globalen Projekten. Die sozialen Positionen sind »experienced through identification, embeddedness, connectedness and attachments« (Pfaff-Czarnecka 2013: 13) und hängen davon ab, wie Menschen in Naturschutzprojekten involviert sind und wie sich die Grenzziehungen auf ihr Leben auswirken. Wenn Grenzziehungen markanter werden, fixieren Menschen ihre Zugehörigkeit, formulieren Ansprüche und ziehen neue Grenzen. Im Zuge der Politiken der Zugehörigkeit versuchten meine Gesprächspartnerinnen, die räumlichen und diskursiven Grenzziehungen aufzubrechen und zu verschieben. Sie konstruierten eine politische Gemeinschaft, die zum einen auf einer kulturellen Zugehörigkeit und zum anderen auf moralischen Werten und Ansprüchen, die sich in den Beziehungen gegenüber der lokalen Gemeinschaft entfalteten, basierte. Die Zurückgewinnung von Land als Re-Territorialisierung (Morley 2001: 427) bedeute-
220 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN te gleichzeitig eine Fixierung von Zugehörigkeit, die meine Gesprächspartnerinnen anhand ihrer autochthonen Positionen, ihrer biographischen Erfahrungen, sowie ihrer Ansprüche auf wirtschaftliche Beteiligung formalisierten. Gleichermaßen führten sie kulturelle Aspekte an, wenn sie ihren Anspruch auf den Schildkrötenfang, -verkauf und -konsum artikulierten. Dies führte zum Teil zu einer Ethnisierung des Politischen, mit der sich die Kapverdierinnen jedoch weniger gegen die stranjerus abgrenzten, sondern womit sie ihre sozialen Beziehungen der Gegenseitigkeit (Pfaff-Czarnecka 2012: 12) auch gegenüber dem Staat sowie gegenüber ihren sozialen Gemeinschaften aktualisierten. Mit der Politisierung von moralischen Ökonomien, Zusammengehörigkeiten und gegenseitigen Verpflichtungen forderten sie Werte und Ansprüche ein, die sie durch die Naturschutzpraktiken als bedroht wahrnahmen. Bürgerschaftlichkeit Obwohl meine Gesprächspartnerinnen unterschiedlich in Naturschutzprojekte involviert waren, bildeten die Forderungen nach sozialer Anerkennung, Mitgestaltung und Teilhabe das zentrale Element der Politiken der Zugehörigkeit. Die Bewohnerinnen Kap Verdes formulierten den Anspruch, wahrgenommen, gehört, einbezogen, respektiert und als entscheidungsfähig erachtet zu werden, und damit die Möglichkeit nach Beteiligung. Yuval-Davis bezeichnet diese Forderung nach Beteiligung im Kontext von Politiken der Zugehörigkeit als Bürgerschaftlichkeit (Yuval-Davis 2011b: 46). Ihr zufolge ist diese partizipatorische Dimension von Zugehörigkeit gerade für postkoloniale Gesellschaften von Bedeutung, da politische Projekte von Zugehörigkeit immer auch nationale Projekte von Zugehörigkeit (Yuval-Davis 2011b: 202) darstellen und im Kontext globaler Prozesse wie im Naturschutz zu Politiken individueller und kollektiver Verortungen werden. In Kap Verde konkretisiert demnach die Forderung nach Bürgerschaftlichkeit das Verhältnis von Naturschutz und umweltbezogenen Politiken der Zugehörigkeit. Bürgerschaftlichkeit ist eine Form der Repräsentation und Partizipation (Levitt 2001: 5), auf deren Grundlage Menschen ihre Identitäten konstruieren und einfordern (Oliver 2011). Schepher-Hughes (2006) bezeichnet Bürgerschaft als das Recht der öffentlichen Selbst-Repräsentation, des Ausdruckes, des Rechtes und der Anerkennung gesehen zu werden. Holston (2008) zufolge beschreibt Bürgerschaftlichkeit zudem die Forderung nach der Freiheit, in politischen Diskursen öffentlich teilnehmen zu können. Die Anforderungen an Bürgerschaftlichkeit basieren auf den Erfahrungen, die Menschen mit Armut, Illegalität oder Ideologien machen und im Zuge derer sie ihren sozialen Status kons-
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truieren und verhandeln. Insofern beschränkt sich Bürgerschaftlichkeit nicht auf nationale und legale Zugehörigkeit, sondern beschreibt einen sozialen Status (Merry 2012) und berührt die Ausübung von Mitgliedschaft auf mehreren Ebenen. Diesen Status handeln Menschen in verschiedenen Kontexten nach bestimmten Kriterien aus (vgl. Thapan und Raoul 2010) und konstruieren dessen Grenzen und Marker in Diskursen und Praktiken der Autochthonie, der Freiwilligkeit und der Selbstjustiz (Gambetti und Godoy-Anativia 2013). Die Ausübung von Bürgerschaftlichkeit bezieht sich darauf, inwieweit Menschen das Gefühl haben, in einer imaginierten politischen Gemeinschaft zu partizipieren und diese mitzugestalten. Der Grad der Repräsentation des eigenen Status und der Beteiligung beeinflusst, inwieweit sich Menschen mit ihren Orten verbunden fühlen (Levitt 2001). Insofern ist Bürgerschaftlichkeit oftmals eng an sozioökonomische Verhältnisse geknüpft. Diese Verknüpfung trifft besonders auf die kapverdische Gesellschaft zu, für die die Ausübung von Mitgliedschaft als transnationale und de-territorialisierte an mehreren geographischen Orten, in vielfacher Hinsicht zum sozialen und politischen Leben gehört. Hier hat Bürgerschaftlichkeit als Kategorie vor der Staatenbildung (Cohen 1999) eine zentrale Bedeutung, da die ›Nation‹ bereits vor der Staatsgründung an unterschiedlichen Orten existierte und im Zuge »Deterritorialisierung der Nation« (Góis 2010: 257) entstanden ist. Die kapverdische Gesellschaft übt soziale und formale Bürgerschaft durch Mitgliedschaft im transnationalen sozialen Feld entlang sozialer, politischer und ökonomischer Positionen aus. Hierbei sind es »Zugehörigkeiten zu einer bestimmten sozialen Schicht, die an unterschiedliche Mobilitätsvariationen gekoppelt ist« (Drotbohm 2011a: 322), die die sozialen Stratifizierungen der kapverdischen Gesellschaft definieren. Für Kapverdierinnen, die nicht auf den Inseln leben, bedeutet Mitgliedschaft, auf die Insel zurückzukehren (vgl. Sánchez-Gibau 2008; Nascimento 2008) und umfasst ein von Stolz geprägtes Verhältnis zum Archipel (Nascimento 2008: 59), sowie die Anerkennung von Rechten und Pflichten, die Menschen auf den Inseln und in der Diaspora einfordern (Drotbohm 2011a). Sowohl auf den Inseln als auch in den diasporischen Gemeinschaften stehen sich in den Aushandlungen von zivil- bürgerlichen Rechten und Pflichten die legalen Konzepte von Bürgerschaft und die moralischen Ökonomien von sozialen Zugehörigkeiten und Mitgliedschaft gegenüber (Drotbohm 2011a und b und 2014). Die Verhandlung von Bürgerschaftlichkeit in Naturschutzdiskursen und Naturschutzpraktiken ist gleichermaßen eine Verhandlung sozialer Erfahrungen, in denen verschiedene Machtstrukturen, Praktiken und moralische und rechtliche Diskurse aufeinandertreffen. Im Naturschutz stehen sich formale, globale und nicht an Orte gebundene Vorstellungen von Mensch-Umwelt-Beziehungen und
222 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN partikulare Anbindungen zur Umwelt gegenüber, die in soziale und moralische Kontexte eingebettet sind. Diese haben in Kap Verde mehr Gewicht als die formal legitimierte Kommodifizierung von Natur. »Citizenship trumps ownership« (Bollier 2002 zitiert in Grandia 2012). Die Gestaltung von Mensch-Umwelt-Beziehungen bedarf deshalb einer Legimitierung, die weniger an abstrakte Kategorien und Konzepte gebunden ist, sondern die sich an den lokalen Beziehungen orientiert. Meine Gesprächspartnerinnen handelten Bürgerschaftlichkeit im Kontext von Naturschutzpraktiken somit nach den Bedeutungen ihrer sozialen Beziehungen aus und schlossen dabei ihre Anbindungen an moralische Ökonomien und an die materielle Umwelt ein. Indem sie die Legitimität von Naturschutzpraktiken und Mensch-UmweltBeziehungen sowie die lokalen Machtkonstellationen in Frage stellten, forderten sie einen hegemonialen Deutungsrahmen von Bürgerschaftlichkeit heraus (Gomberg-Munoz 2011: 123), der sich im Kontext von Naturschutzdiskursen und Naturschutzpraktiken entwickelt hat. Diese Korrelation von als illegitim wahrgenommenen Strukturen und sich daraus entwickelnden Formen von Bügerschaftlichkeit beschreibt Holston (2008) in seiner Untersuchung urbaner Peripherien in Brasilien. Mit »insurgent citizenship« (ebd.: 9) definiert er ein Modell von Bürgerschaftlichkeit, das entsteht, indem die Bewohnerinnen gegen eingeschränkte politische Rechte und Zugängen zu Land, sowie gegen den Status, illegale und damit nicht vollständige Mitglieder der Gesellschaft zu sein, angehen. Aus diesen empirischen Beobachtungen baut Holston (2008) das Argument auf, dass dieselben Faktoren, die dafür ausschlaggebend waren, den Bewohnerinnen der urbanen Peripherien eine volle Bürgerschaft abzusprechen, dazu dienten eine neue Form von Bürgerschaft zu etablieren. Die hier beschriebene Einforderung von Bürgerschaftlichkeit weist auf eine ähnliche Korrelation hin, da die durch Naturschutzdiskurse und Naturschutzpraktiken veränderten, bedrohten und eingeschränkten Anbindungen Menschen dazu veranlassten, ihre Zugehörigkeiten einzufordern. Bürgerschaftlichkeit als partizipatorische Dimension von Zugehörigkeit ist keine stabile Kategorie, sondern unterliegt den Dynamiken der symbolischen, sozialen und materiellen Grenzziehungen. Daher sind Aushandlungen von Bürgerschaftlichkeit immer auch Aushandlungen von sich überschneidenden Positionalitäten (Yuval-Davis 2011b). Menschen artikulieren das Bedürfnis, sich innerhalb globaler wirtschaftlicher Prozesse zu verorten, ohne dabei das Gefühl zu verlieren, von Entscheidung- und Gestaltungsprozessen ausgeschlossen zu sein oder kulturelle Werte und soziale Beziehungen aufgeben zu müssen. Meine Gesprächspartnerinnen versuchten Werte und Anbindungen in verschiedenen Kontexten beizubehalten oder zu generieren, um einerseits die Bezüge zur lokalen Gemeinschaft zu behal-
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ten und um sich andererseits in globalen Prozessen zu verorten. Sie positionieren sich gleichzeitig innerhalb und außerhalb einer Gemeinschaft und entlang ihrer individuellen und kollektiven Beziehungen. Obwohl sich meine Gesprächspartnerinnen in solchen überschneidenden Zugehörigkeitskontexten häufig in moralischen Dilemmata und realen Konflikten wiederfanden, bedeuten diese Positionierungen in Kap Verde jedoch keine Gegensätze. Vielmehr beschreiben sie eine Verflechtung, die einen zentralen Aspekt der kapverdischen Gesellschaft beschreibt: »to be cape verdean is to look outwards to the world and inwards to the homeland at the same time.« (Challinor 2008a: 14) Naturschutz als Ventil Konfligierende Zugehörigkeiten stellten somit auch eine Möglichkeit dar, um in lokalen, nationalen und globalen Verflechtungen zu navigieren und um gesellschaftliche Ungleichheiten zu thematisieren. Politische Projekte von Zugehörigkeit präsentieren unterschiedliche symbolische Machtordnungen (Yuval-Davis 2011b: 19) und fungieren als Wertelinse (ebd.: 203), unter der Machtverhältnisse und Ungleichheiten offengelegt werden und die die Dynamiken der Grenzziehungen beschreiben. Die Bewohnerinnen Kap Verdes kritisierten über Politiken der Zugehörigkeit die finanziellen und sozialen Exklusionen und Marginalisierungen, die Legitimität der veränderten sozialen Beziehungen, sowie die Machkonstellationen. Und gleichzeitig kreierten sie moralische, symbolische und soziale Machtordnungen. Naturschutz fungierte somit als ein Ventil, welches Grenzen schafft, Zugänge einschränkt und gleichzeitig Möglichkeiten eröffnet, soziale, ökonomische und politische Beziehungen und Machtverhältnisse über Bürgerschaftlichkeit zu thematisieren und auszuhandeln. Auf diese Weise setzen sich Menschen mit der Bedrohung, der Auflösung, der Bestärkung und der Schaffung von verschiedenen Zugehörigkeiten auseinander, die die Ebenen der Gemeinschaft, des Kollektiven und Individuellen sowie des Partikularen und des Globalen betreffen. Einerseits positionierten sie sich gegenüber den moralischen und universalen Bezugspunkten von Naturschutzprojekten und gegen deren rationalisierenden und instrumentalisierenden Charakter und kontrastierten sie mit ortgebundenen und sozial eingebetteten Zugehörigkeiten. Andererseits ›navigierten‹ sie zwischen Projekten von Naturschutz und den Ansprüchen ihrer lokalen Netzwerke und befanden sich so innerhalb mehrerer Zugehörigkeitskontexte. Naturschutz als Ventil bot somit die Möglichkeit, die sozialen und emotionalen Verortungen und Anbindungen an die Umwelt herauszustellen, die sich im Zuge ihrer Involviertheit mit dem Naturschutz aktualisiert und neu entwickelt haben.
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7.4 Z USAMMENFASSUNG In diesem Kapitel habe ich das Argument der vorliegenden Arbeit über das Resümee der drei Fallstudien, die Diskussion der Legitimität des Naturschutzes und die Frage nach dem Verhältnis von Naturschutz und Bürgerschaftlichkeit erarbeitet. Ich habe gezeigt, wie die Inwertsetzung von natürlichen Ressourcen durch den Tourismus und durch Naturschutz und die Formalisierung von Mensch-Umwelt-Beziehungen zu einem Wertewandel von ›Natur‹ und zu einer Kolonialisierung des Alltags führten. Diese Veränderungen schlossen an bestehende sozioökonomische Ungleichheiten an und betrafen die Personen, die zu den ärmeren Teilen der kapverdischen Gesellschaft zählen. Diese Veränderungen beinhalten nicht nur finanzielle und soziale Exklusionen, sondern auch Bedrohungen von Zugehörigkeiten, die moralische wirtschaftliche und soziale Beziehungen von Menschen zu ihrer Umwelt und zu ihrer Gemeinschaft beeinflussen. Naturschutzprojekte und touristische Entwicklungen offenbarten und vertieften soziale, wirtschaftliche und politische Ungleichheiten. Im Zuge dessen verdichteten sich auf unbeabsichtigte und beabsichtigte Weise soziale Netzwerke, aus denen unterschiedliche Formen von Widerstand entstanden und in denen sich soziale Zugehörigkeiten verfestigten. Die Menschen in Kap Verde widersetzen sich nicht gegen den Naturschutz an sich, sondern gegen lokale Machkonstellationen, sowie gegen eine formale Legitimität, unter der sich soziale Beziehungen verändern. Die Komplexität der Formen des Widerstandes und die unterschiedliche Involviertheit der Personen zeigte, dass Naturschutz in Kap Verde weniger ein westliches Konstrukt ist, das auf eine lokale Gesellschaft aufgesetzt wird. Naturschutz ist vielmehr das Ergebnis verschiedener Erfahrungen mit der Anbindung an die materielle Umwelt und manifestiert sich in verschiedenen sozialen Projekten. Aus diesem Grund kann Naturschutz in seiner Vielseitigkeit vor Ort nur erfasst werden, indem das Verhältnis von Naturschutz und Zugehörigkeit berücksichtigt wird. Diesem Verhältnis liegt eine Einforderung von Bürgerschaftlichkeit zu Grunde, die im Zentrum der Politisierung von Zugehörigkeiten stand und die Menschen entlang der veränderten sozialen Beziehungen zueinander, sowie entlang der Bezüge zu ihrer Vergangenheit und Ansprüchen gegenüber der Zukunft aushandelten. Bürgerschaftlichkeit im Naturschutz bedeutete hier die Forderung danach, das Zuhause mitzugestalten und den moralischen Verpflichtungen ihrer lokalen Netzwerke nachkommen zu können und sich gleichzeitig innerhalb globaler und grenzüberschreitender Prozesse zu positionieren. Naturschutz fungierte deshalb als ein Ventil, da er Grenzen zog und Zugänge ein-
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schränkte, jedoch gleichzeitig einen Weg bot, um Ungleichheiten zu thematisieren, sich neu zu verorten und das Zuhause neu zu gestalten. Bürgerschaftlichkeit beschreibt »how new entitlements are being realized through situated mobilizations and claims in milieus of globalized contingency« (Ong 2006: 499). Als natürlich wahrgenommene Rechte stehen Zugehörigkeiten zunehmend im Mittelpunkt der Widerstände gegen formalisierte MenschUmwelt-Beziehungen der globalen Naturschutzbewegungen (Rival 2012), da sie oftmals mit bestehenden Ungleichheiten und Exklusionen vor Ort einhergehen. In Kap Verde werden die Ungleichheiten, die während der Kolonialisierung entstanden sind und bereits zu dieser Zeit in den politischen Hintergrund gedrängt wurden (Rodrigues 2008), unter der gegenwärtigen Konstruktion des Archipels als Tourismusdestination und als Biodiversitätshotspot verschleiert. Zudem gehen die Ausschlüsse, Entortungen und Entfremdungen mit einer größer werdenden Distanz zu Macht und Teilhabe an der Gestaltung des eigenen Zuhauses einher, die bereits im Zuge der politischen und wirtschaftlichen Liberalisierung in den 1990ern eingesetzt hat (Massart 2000) und gegen die sich die Menschen in Kap Verde widersetzten. Somit stellten Naturschutzpraktiken in Kap Verde symbolische, soziale, materielle und moralische Grenzziehungen dar, in denen Menschen soziale, politische und wirtschaftliche Ungleichheiten vertieften und über die sie gleichzeitig neue moralische Machtordnungen kreierten.
8. Ausblick: Naturschutz als Projekt globaler Fürsorge?
Der Beitrag meiner Arbeit liegt in der empirischen Ausarbeitung von Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskursen und in der erweiternden Anwendung des Zugehörigkeitskonzepts auf Mensch-Umwelt-Beziehungen. Ich habe umweltbezogene Politiken und Praktiken in Kap Verde aufgegriffen und herausgearbeitet, wie Menschen ihre Beziehungen zur Umwelt deuten und neugestalten. Das Erkenntnisinteresse der Arbeit lag darin, die Anbindungen, die Menschen zu ihrer materiellen Umwelt haben, zu erarbeiten und zu zeigen, wie sich diese Anbindungen verändern und welchen Einfluss diese Veränderungen auf die Konstruktion sozialer Zugehörigkeiten haben. Meine Untersuchung begrenzte sich nicht nur darauf zu zeigen, wie sich Mensch-Umwelt-Beziehungen unter der Transformation von Land in Naturschutzgebiete, dem Schutz von Schildkröten oder den Maßnahmen zum Küstenschutz verändern. Vielmehr habe ich umweltbezogene Zugehörigkeitskonstruktionen auch in Bezug zu anderen Lebensbereichen auf den Inseln gesetzt und bin neben Praktiken wie Sandabbau, Schildkrötenfang oder Fischen auch auf die Praktiken und Haltungen von Taxifahrern und Reiseleiterinnen eingegangen: besonders in Hinblick auf die verschiedenen neuen Formen der räumlichen Mobilität, wie der zunehmenden Immigration oder des Tourismus wurde deutlich, wie sich individuelle und kollektive Positionalitäten im Kontext gesamtgesellschaftlicher wirtschaftlicher, sozialer und politischer Veränderungen durchdringen und aufeinander beziehen. Meine Arbeit bietet somit einen Ausgangspunkt, um umweltbezogene Zugehörigkeitskonstruktionen auch für andere Lebensbereiche der kapverdischen Gesellschaft mitzudenken und macht sie für weitere Arbeiten über Kap Verde und über die kapverdische Gesellschaft anschlussfähig. Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskurse über die Perspektive von Zugehörigkeiten auszuarbeiten ist zugleich ein Forschungsdesiderat, das über die Region Kap Verde hinausgeht. Angesichts weltweit steigender ökologischer Veränderungen, neuer Technolo-
228 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN gien zur Extraktion von Ressourcen und damit zunehmender Naturschutzmaßnahmen bleibt die Frage, inwieweit Menschen mit umweltbezogenen Praktiken und Politiken in anderen Regionen involviert sind, aktuell. Zugehörigkeitskonstellationen können hier als Ausgangspunkt dienen, um Mensch-UmweltBeziehungen in weiterführenden Themenfeldern, wie Vorstellungen von Bürgerschaftlichkeit, Geschlechterverhältnisse oder Auswirkungen räumlicher Mobilität mitzudenken. Ausblickend möchte ich an dieser Stelle eine Frage skizzieren, mit der umweltbezogene Zugehörigkeiten weitergedacht werden können und die sich in die rezente Forschungsrichtung der Ethnologie der Sorge einordnen lassen. Ausgangspunkt für diese Fragestellung ist das, in meiner Untersuchung herausgearbeitete, reziproke Verhältnis zwischen einer menschlichen Fürsorge für die Umwelt einerseits und den Annahmen, dass die Umwelt den Menschen versorgt, andererseits. Naturschützerinnen, Fischer oder Frauen, die Sand abbauen, artikulieren und praktizieren ihre Sorge um Land, Schildkröten oder den Strand in unterschiedlicher Weise. Sie verfügen über eine ebenso unterschiedliche Vorstellung darüber, wie diese materiellen Umwelten den Menschen versorgen oder versorgen sollen. Den Haltungen und Praktiken gegenüber der Sorge um die Umwelt liegen unterschiedliche moralische Werte zugrunde, die im Zuge von Naturschutzpraktiken und Naturschutzdiskursen gleichzeitig die Basis dafür sind, dass Menschen sich voneinander abgrenzen und die Beziehung zu ihrer Umwelt unterschiedlich und gegensätzlich gestalten. Die Praktiken der Sorge gegenüber der Umwelt, die einerseits alle Menschen teilen und die andererseits zum Ausgangspunkt von Grenzziehungen werden, existieren parallel und manifestieren sich in ambivalenten Praktiken, Einstellungen und Politiken. Diese Ambivalenzen lassen sich mit jüngsten ethnologischen Ansätzen ausarbeiten, die Sorge als emotionale, kulturelle und soziale Praxis begreifen (Drotbohm und Alber 2015: 2). Sorge wird als eine professionalisierte und kommodifizierte Aktivität und als eine Form der sozialen Zugehörigkeit verstanden, deren politische und moralische Konnotation sich im Lauf des Lebens ändern. Zwar richten sich die ethnologischen Perspektiven auf Sorge überwiegend auf menschliche Bedürfnisse und Abhängigkeiten wie Geschlechterverhältnisse, Ethnizität und Klasse (MacGill 2014: 157), Arbeit, Mobilitätsregimes, Verwandtschaft und Lebensläufe (Drotbohm und Alber 2015). Doch die Praktiken der Sorge schließen auch nicht-menschliche Akteure ein: Zum einen existiert eine abstrakte moralische Sorge um die Umwelt, die Menschen zum gemeinsamen Nenner der Naturschutzdiskurse und Naturschutzpraktiken machen und die sie über expertokratische Techniken der Umweltgestaltung als Praxis professionalisieren. Diese Sorge ist abstrakt, da sie nicht lokal eingebettet ist oder spezifische erfahrene
A USBLICK: NATURSCHUTZ
ALS
P ROJEKT
GLOBALER
FÜRSORGE?
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Beziehungen zwischen Menschen untereinander und Menschen und der Umwelt widerspiegelt. Vielmehr beschreibt sie die moralische Basis einer globalen Gemeinschaft und stellt als Mobilisationsgegenstand gleichzeitig eine rationale Strategie dar, mit der Menschen kollektive Interessen verteidigen oder maximieren und in lokalen Kontexten Grenzen ziehen. Zum anderen praktizieren Menschen eine sozial eingebettete Sorge gegenüber der lokalen Gemeinschaft, der sie sich zugehörig fühlen und die mit ihren Anbindungen zu dem materiellen Zuhause verwoben ist. Hierbei ist der Bezug zur Umwelt ein partikularer und die Sorge persönlich und relational. Die Sorge wird nicht so sehr rationalisierend verteidigt, sondern manifestiert sich über relationale Praktiken, mit denen Menschen sich in der Welt verorten. Und genauso, wie Zugehörigkeiten relational sind, und Menschen sich zu unterschiedlichen und auch gegensätzlichen Kontexten zugehörig fühlen können, sorgen sich Menschen in dieser abstrakten Weise um die Umwelt und sind gleichzeitig darum bemüht, ihr materielles Zuhause entlang partikularer sozialer Beziehungen und Bedürfnisse zu gestalten. Eine Untersuchung über umweltbezogene Praktiken der Sorge erweitert den Fokus auf die relationalen Beziehungen von Menschen und ihrer materiellen Umwelt und eröffnet ein Spektrum weiterführender Fragen: Mit welchen sozialen, kulturellen und emotionalen Praktiken gestalten Menschen eine Sorge für die Umwelt? Wie rationalisieren und professionalisieren sie diese? Und wie und unter welchen Umständen ändern sich dabei die Gestaltung und das Konzept von Sorge? Wenn Sorge als Form der sozialen Zugehörigkeit verstanden wird, lässt sich des Weiteren danach fragen, wie sich unter Praktiken der Sorge soziale Zugehörigkeiten verändern oder neugestaltet werden. Neue Fragestellungen können auch das reziproke Verhältnis der Sorge um die Umwelt untersuchen und darauf eingehen, wie sich die Annahme, dass die Umwelt den Menschen ›umsorgt‹ und die Gestaltung der Fürsorge beeinflussen
9. Glossar
pt: Portugiesisch kr: Kreol africanos
aluger
apanha da tartaruga apanha da areia áreas protegidas badíu, -â
barákas barlavento
bránku, a
câmara
(pt) Afrikanerinnen. Bezeichnung für Personen aus dem Senegal, Guinea-Bissau, Nigeria oder Gambia. (kr) Sammeltaxi. Private Pick-up-Fahrzeuge, die für den Personen- und Materialtransport eingesetzt werden. (pt) Schildkrötenfang (pt) Sandabbau (pt) Naturschutzgebiete (kr) Kapverdierin von Santiago. Bezeichnet auch die damit zusammenhängende soziale Kategorie und Variante des kapverdischen Kreols. Pendant zu sanpadjudu. (kr) Baracke. Bezeichnung für das ›Slumviertel‹ auf Boa Vista. (pt) Inseln ›über dem Wind‹ (São Vicente, Sal, Boa Vista, São Nicolão und Santo Antão). Pendant zu sotavento. (kr) Weißer, -e. Bezeichnung für Europäerinnen und Amerikanerinnen, nicht aber für Chinesinnen oder Libanesinnen. (pt) Abkürzung für câmara municipal. Verwaltungseinheit eines Bezirkes oder einer Insel, aber auch Rathaus.
232 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN capela
camionista
carrada claridade
conservação (da biodiversidade) crime crime ambiental crioulidade duru empregada
grógu guárda
guia iási inertes jora
(pt) Portugiesisches System der Landverteilung nach religiösen Verpflichtungen während der Besiedelung Kap Verdes. (pt) Transportfahrer, Zwischenhändlerinnen. Sie kaufen und transportieren den von Einzelpersonen abgebauten Sand und verkaufen ihn an Bauunternehmerinnen oder Privatpersonen. (pt) Fuhre. Abzurechnende Einheit für den Preis einer Wagenladung Sand. (pt) Helligkeit. In den 1930er Jahren entstandene aktivistische literarisch-kulturelle Bewegung in Mindelo (São Vicente) und gleichnamiges Literaturmagazin. Die Bewegung betonte die Anerkennung der kapverdischen Kultur und Sprache gegenüber der portugiesischen Kolonialherrschaft. (pt) Biodiversitätsschutz (pt) Verbrechen, manchmal auch Ungerechtigkeit. (pt) Umweltverbrechen (pt) Kreolität (kr) hart, fest, zäh, schwierig (pt) Angestellte. Berufsbezeichnung für eine Haushälterin; bezeichnet auch Angestellte eines Restaurants oder Geschäfts. (kr) Zuckerrohrschnaps. In Kap Verde hergestelltes und beliebtes alkoholisches Getränk. (pt) Wache, Wächterin. Wachpersonal von Wohnanlagen, Hotels, Unternehmen und öffentlichen oder privaten Institutionen oder auch Baustellen. (pt) Fremdenführerin. Tour- oder Reiseführerin touristischer Exkursionen. (kr) Transportwagen des interurbanen Verkehrs; benannt nach dem japanischen Hiace-Modell. (pt) Gemisch aus Schotter und Sand, das zur Herstellung von Beton verwendet wird. (kr) Vulkangestein; wird als ›leichtes‹ Baumaterial abgebaut und für den Hausbau verwendet.
G LOSSAR
kabrer
kábuverdianu, a kolega
kriolu,-a
linha loja chinês
merkanu, a
meio ambiente morgadio
motor económico
naturéza nha téra pánu di téra
parádu
péska
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(kr) Ziegenhalter; Bezeichnung für die Einwohner Boa Vistas, wo es früher einen überproportionalen Anteil von Ziegen gab. (kr) Kapverdierin, kapverdisch. (kr) Kollege/Kollegin. Wird meist für Arbeitskolleginnen verwendet, kann aber auch Freundinnen oder Gleichaltrige bezeichnen. (kr) Kreolische Sprache, Kapverdianerin; wird öfters für die Bezeichnung hellhäutiger Kapverdierinnen gebraucht. (pt) Angelschnur aus Plasik, die zum Beispiel über ein Stück Holz gewickelt wird. (pt) Von Chinesinnen geführter Einzelhandel. Verkauft werden aus China oder aus anderen Ländern importierte Artikel und Lebensmittel. Zum Teil stammen die Waren (auch) aus Kap Verde. (kr) Amerikanerin. Bezeichnung für Kapverdierinnen, die in den USA leben/ lebten und sich durch die Beherrschung des amerikanischen Englisch und einen mit den USA verbundenen Lebensstil auszeichnen. (pt) natürliche Umwelt (pt) Portugiesisches System der Landverteilung und Bezeichnung für die, daraus hervorgegangenen Großgrundbesitzerinnen. (pt) Wirtschaftlicher Motor. Ein dem Tourismus zugeschriebenes ›Potenzial‹, der andere Wirtschaftssektoren stimulieren soll. (pt) Natur, natürliche Umwelt (kr) Mein Land; Bezeichnung für Heimat und die Inseln Kap Verdes. Pendant zu téra longe. (kr) Auf Santiago hergestelltes Tuch, das als Zahlungsmittel im Sklavenhandel eingesetzt wurde. (kr) Ohne sich fortzubewegen, stehend, arbeitslos. Beschreibt sowohl physischen Stillstand als auch die Unfähigkeit zum Handeln. (kr) Fischen, Fischfang, Angeln
234 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN pesca artesanal praça
practica tradicional practica antiga probléma di bariga rabidante
sanpadjudu
sotavento stranjeru, a
tartaruga marinha tchada
txuba
tempo di mángi téra longe
tradição
(pt) kleine Küstenfischerei, der die meisten Fischer in Kap Verde nachgehen. (pt) Hauptplatz eines Dorfes oder einer Stadt, der deren Zentrum markiert. Bildet meist ein erhöhtes und bepflanztes Plateau und ist oft mit Bänken und einem Brunnen in der Mitte ausgestattet. (pt) traditionelle Praktik (pt) alte Praktik (kr) ›Problem des Bauches‹. Bezeichnet ein mit Armut zusammenhängendes Problem. (kr) (Zwischen-)Händlerin. Meist Frauen, die Obst, Gemüse, Fischer oder auch Kleidung und Waren des alltäglichen Gebrauchs bei Fischer, Bäuerinnen oder im Großhandel einkaufen und am Markt und auf der Straße weiterverkaufen. (kr) Bezeichnung für die Bewohnerinnen der Inseln Fogo, Brava, Maio, São Vicente, Sal, Boa Vista, São Nicolão und Santo Antão und die damit zusammenhängende soziale Kategorie und Variante des kapverdischen Kreols. Pendant zu badíu. (pt) Inseln ›über dem Wind‹ (Fogo, Brava, Santiago und Maio). Pendant zu barlavento. (kr) Ausländerin. Bezeichnung für hellhäutige Personen, die vornehmlich aus westeuropäischen Ländern stammen. (pt) Meeresschildkröte (kr) Umgangssprachlich für Achada Santo Antonio. In Praia gelegener Stadtteil, der sich zu einem der reicheren Stadtviertel entwickelt. Bekannt als Ausgehviertel und Sitz mehrerer Regierungseinrichtungen und Institutionen. (kr) Regen. Besitzt eine beinahe mystische Konnotation und taucht häufig als Topos im Gesang oder in der Lyrik auf. (kr) Mangosaison in den Monaten Mai und Juni (kr) Fernes Land. Bezeichnung für die geographischen Orte, an denen die kapverdische Diaspora lebt; Pendant zu nha téra. (pt) Tradition
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Abbildungen
Abbildung 1: Karte der Kapverdischen Inseln. Online verfügbar: http://westafri kaportal.de/KapverdeMap.jpg Abbildung 2: Praia, Santiago. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 3: Praia Cabral, Boa Vista. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 4: Wohnsiedlung in Praia, Santiago. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 5: Senegalesische Händler und Touristinnen in Sal Rei, Boa Vista. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 6: Rabidantes beim Fischverkauf am Hafen Praia, Santiago. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 7: Straße nach Cidade Velha, Santiago. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 8: Hauptstraße in Tarafal, Santiago. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 9: Markierung der ZDTI Santa Monica, Boa Vista. Quelle: http://www.sdtibm.cv/images/zdtiDeSantaMonika.pdf Abbildung 10: Naturschutzzonen Boa Vista. Quelle: www.sia.cv Abbildung 11: Wandbemalung am Jugendzentrum in Sal Rei, Boa Vista. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 12: Erodierter Strand, Praia, Santiago. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 13: Präsentation der áreas protegidas in Bofareira, Boa Vista. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 14: Taxi von Sal Rei zum Hotel Calistan, Boa Vista. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 15: Touristische Exkursion in Minão, Boa Vista. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 16: Hotel Calistan in Minão, Boa Vista. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 17: Helder und Luis beim Fischen in Praia, Santiago. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 18: Billboard in Praia, Santiago. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 19: Mit »Wir essen Schildkröten« und »das ist unser Land« überschreibenes Wandbild auf Boa Vista. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 20: Schildkrötenpanzer auf Boa Vista. Foto: Jelena Adeli.
268 | G RÜNE V ERFLECHTUNGEN Abbildung 21: Soldaten im Camp, Fundo das Figueiras, Boa Vista. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 22: Strandbuch in Palmareijo Grande, Santiago. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 23: Abgebaute Sandhaufen in Praia, Santiago. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 24: Lizensierter Sandabbau am Monte Vermelho, Santiago. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 25: Workshop in São Francisco, Santiago. Foto: Jelena Adeli. Abbildung 26: Screenshots des RTC-Beitrags über Sandabbau: »Wegen des illegalen Sandabbaus bedroht das Meer die Bewohner von Lem-Rotcha in Ribeira da Barca.«
Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)
Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN EPUB:978-3-7328-3638-3
Fatima El-Tayeb
Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.)
Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-2232-4 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8
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Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph J. Poole, Manfred Weinberg (Hg.)
Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-1709-2
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 1/2017) März 2017, 180 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3806-6 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3806-0
Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Diskriminierungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2016 2016, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3578-2 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3578-6
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