Ästhetische Ordnungen und Politiken des Wohnens: Häusliches und Domestisches in der visuellen Moderne 9783839463833

Wohnen ist geprägt von Vorstellungswelten, die in bildlichen und räumlichen Medien produziert werden. Seit 1800 werden B

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German Pages 552 Year 2023

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INHALT
Wohnen als Umgebung und Umgebendes: ästhetische Politiken und taxonometrische Ordnungen der Wohnbilder als Beziehungsräume der Moderne
Zum Buch
IM INTERIEUR: EINBLICKE IN HÄUSLICHE OBJEKT- UND RAUMKONSTELLATIONEN
Cézanne’s Domestic Uncanny
Wo das Domestizierte und das Domestische sich begegnen: Monstera deliciosa und Ficus elastica als Komponenten des Wohnens in der ‚Neuen Sachlichkeit‘
Wohnen mit Stachel: Kaktusfenster, Kakteengefäße und Interieur(-Fotografie) der 1920er Jahre
Kunst und Dekoration. Über die Verortung und Imagination von Stillleben in der Wohnungseinrichtung um 1914
Interieurmalerei und die ‚Große Divergenz‘ von Design und Kunst
Wohnen und Volkstümlichkeit: propagandistische Bildstrategien für die Innenraumgestaltung in Polen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg
Napoleon in der ,guten Stube‘. Das Interieur als Medium postnapoleonischer Geschichtsrhetorik
ZU HAUSE: ZEIGESTRATEGIEN DES SELBST
Zwischen Baby- und Beischlaf. Deana Lawsons afroamerikanische Familienporträts (2009–2016)
Ästhetische An/Ordnungen – die Zeitschrift als Archiv eines Wohnwissens
Catview. Eine kritische Lektüre von David Hockneys Mr and Mrs Clark and Percy (1971) als interspecies-Begegnung im Wohnen
Untitled (My Bed). Zum Domestischen als feministischer Bildstrategie bei Lina Scheynius
The Domestic Space as an Artistic Strategy: The Intimate Photographic Album of Pablo Picasso
Domesticity, Creativity, and the Female Body: Matisse’s Red Studio
GRUNDRISS: AUSSTELLUNGSPOLITIKEN DES WOHNENS
Der Film Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? Konstruktion und Fiktion der Marke Bauhaus
Nah am Körper – von der Unterwäsche zum Raum. Zur Ausstellungs- und Wohnraumgestaltung von Lilly Reich
Wir haben in die Zukunft geplant. Architektonische Zukunftsperspektiven in der Schöner Wohnen der 1960er und 70er Jahre
Insta(gram)-Wohnen. How we fell for (or in love with) digital image worlds. Über die Reproduktion neuer Wohnideale
Privilegiertes Künstlerwohnen im Kalten Krieg: Eigenheime für die schaffende Intelligenz, Ost-Berlin 1950/51
Post-postmodernes Schaudern. Einrichtungen von Henrike Naumann zwischen Interieur und White Cube
d is for domesticity? Biopolitics of Domesticity in the Early History of documenta
BIOGRAFIEN
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Ästhetische Ordnungen und Politiken des Wohnens: Häusliches und Domestisches in der visuellen Moderne
 9783839463833

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Irene Nierhaus, Kathrin Heinz (Hg.) Ästhetische Ordnungen und Politiken des Wohnens

wohnen +/− ausstellen Schriftenreihe Herausgegeben von Irene Nierhaus und Kathrin Heinz

wohnen +/− ausstellen Schriftenreihe, Band 9 Herausgegeben von Irene Nierhaus, Kathrin Heinz http://www.mariann-steegmann-institut.de/publikationen

Forschungsfeld wohnen +/− ausstellen Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik Universität Bremen

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept, Gestaltung und Satz: Christian Heinz Redaktion: Amelie Ochs Deutsches Lektorat und Korrektorat: Ulf Heidel Englisches Lektorat: Joe O’Donnell, Edward Belleville Englisches Korrektorat: Joe O’Donnell Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN: 978-3-8376-6383-9 E-Book-PDF: 978-3-8394-6383-3 https://doi.org/10.14361/9783839463833 Buchreihen-ISSN: 2747-3716 Buchreihen-eISSN: 2747-3724 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Irene Nierhaus, Kathrin Heinz (Hg.)

ÄSTHETISCHE ORDNUNGEN UND POLITIKEN DES WOHNENS Häusliches und Domestisches in der visuellen Moderne

wohnen +/− ausstellen

INHALT

Wohnen als Umgebung und Umgebendes: ästhetische Politiken und taxonometrische Ordnungen der Wohnbilder als Beziehungsräume der Moderne Irene Nierhaus

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Zum Buch Amelie Ochs, Irene Nierhaus, Kathrin Heinz

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IM INTERIEUR: EINBLICKE IN HÄUSLICHE OBJEKT- UND RAUMKONSTELLATIONEN Cézanne’s Domestic Uncanny Susan Sidlauskas

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Wo das Domestizierte und das Domestische sich begegnen: Monstera deliciosa und Ficus elastica als Komponenten des Wohnens in der ‚Neuen Sachlichkeit‘ Annette Tietenberg

90

Wohnen mit Stachel: Kaktusfenster, Kakteengefäße und Interieur(-Fotografie) der 1920er Jahre Burcu Dogramaci

114

Kunst und Dekoration. Über die Verortung und Imagination von Stillleben in der Wohnungseinrichtung um 1914 Amelie Ochs

134

Interieurmalerei und die ‚Große Divergenz‘ von Design und Kunst Philipp Zitzlsperger

164

Wohnen und Volkstümlichkeit: propagandistische Bildstrategien für die Innenraumgestaltung in Polen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg Piotr Korduba

188

Napoleon in der ,guten Stube‘. Das Interieur als Medium postnapoleonischer Geschichtsrhetorik Astrid Silvia Schönhagen

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ZU HAUSE: ZEIGESTRATEGIEN DES SELBST Zwischen Baby- und Beischlaf. Deana Lawsons afroamerikanische Familienporträts (2009–2016) Elena Zanichelli

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Ästhetische An/Ordnungen – die Zeitschrift als Archiv eines Wohnwissens Rosanna Umbach

270

Catview. Eine kritische Lektüre von David Hockneys Mr and Mrs Clark and Percy (1971) als interspecies-Begegnung im Wohnen Christiane Keim

300

Untitled (My Bed). Zum Domestischen als feministischer Bildstrategie bei Lina Scheynius Mira Anneli Naß

318

The Domestic Space as an Artistic Strategy: The Intimate Photographic Album of Pablo Picasso Pierre-Emmanuel Perrier de la Bâthie

340

Domesticity, Creativity, and the Female Body: Matisse’s Red Studio Temma Balducci

362

GRUNDRISS: AUSSTELLUNGSPOLITIKEN DES WOHNENS Der Film Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? Konstruktion und Fiktion der Marke Bauhaus Philipp Oswalt

380

Nah am Körper – von der Unterwäsche zum Raum. Zur Ausstellungs- und Wohnraumgestaltung von Lilly Reich Eliana Perotti

408

Wir haben in die Zukunft geplant. Architektonische Zukunftsperspektiven in der Schöner Wohnen der 1960er und 70er Jahre Jan Engelke

428

Insta(gram)-Wohnen. How we fell for (or in love with) digital image worlds. Über die Reproduktion neuer Wohnideale Bernadette Krejs

448

Privilegiertes Künstlerwohnen im Kalten Krieg: Eigenheime für die schaffende Intelligenz, Ost-Berlin 1950/51 Alexia Pooth

466

Post-postmodernes Schaudern. Einrichtungen von Henrike Naumann zwischen Interieur und White Cube Burkhard Meltzer

488

d is for domesticity? Biopolitics of Domesticity in the Early History of documenta Nanne Buurman

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BIOGRAFIEN

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The image of the interior space of modernity shows dwelling and subject in a mutual process of identification. Dwelling becomes the subject’s environment, which it traverses in the processes of subjectification. Around 1800, dwelling is produced as a display of clarity that conveys interior space as a culture of order and dimensional relations and has taxonometric features. In the taxonometric dispositif, a scale of bourgeois society and gender is designed on an aesthetic and moral-ethical level. In the course of the 19th century, the surrounding environment is multiplied by changes in perception, sensibility, sensuality and imagination. Dwelling has thus evolved into a spatially, visually, materially multisensory and dramatized display of ecologies, economies, and cultures of reason, one that develops affects and feelings, which are produced in exchange with things and narrative versions. The surrounding is the reference space of the processes of capitalist commodity production, and is therefore socially generated.

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IRENE NIERHAUS WOHNEN ALS UMGEBUNG UND UMGEBENDES: ÄSTHETISCHE POLITIKEN UND TAXONOMETRISCHE ORDNUNGEN DER WOHNBILDER ALS BEZIEHUNGSRÄUME DER MODERNE Wohnen ist ein Beziehungsraum von Bewohner*innen, Dingen und Räumen und wird im vorliegenden Band wie auch in diesem Beitrag vor allem als Bildraum auf seine ästhetischen Verfahren hin untersucht. Wohnen als Bildraum der Künste und Medien gestaltet Vorstellungen vom Wohnen, die es wiederum mitproduzieren und mit ihm verknüpfte Ideale, Ideologeme, Begehren oder Kritik artikulieren. Die Bildräume des Wohnens bilden mit ihren Medien und deren jeweiligen Verfahren ein Reservoir an Formen und Formaten, mit denen Wohnen in Erscheinung tritt. Die ästhetischen Verfahren und ihre Ordnungen und Politiken sind nicht neutral, sondern produzieren in ihrem Wie Bedeutungen. Sie sind von gesellschaftlichen Diskursen gelenkt, die Künstler*innen oder Gestalter*innen mitproduzieren, verschieben oder durchbrechen. Wie werden also Beziehungen und Aussagen im Wechselspiel von Subjekt, Ding und Raum gestaltet? Wie artikulieren sich Verhältnisse von Bewohner*innen und Wohnraum in Bildern? Welche Ordnungen von Verräumlichung, Verdinglichung und Subjektivierung werden gesetzt? Zum Auftakt dazu als Beispiel das Bild Rudolph Arthaber und Kinder von Friedrich von Amerling (1837, Abb. 1). Zu sehen ist ein reichhaltig ausgestatteter, von einer polychromen und gemusterten Dichte an Oberflächen be-

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Wohnen als Umgebung und Umgebendes

1  Friedrich von Amerling, Rudoph Arthaber und Kinder, 1837, Öl auf Leinwand, 221 × 155 cm, Österreichische Galerie Belvedere, Wien

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Irene Nierhaus

stimmter Wohnraum gehobener Bürgerlichkeit: rechts ein farbenprächtig gedeckter Tisch, ein glänzender Teekessel, ein feingemustertes Kännchen, eine Teetasse mit Goldrand, ein Silberlöffel, ein Notenblatt, daneben ein Blumenarrangement. Eine Personengruppe, die als Vater mit Kindern identifizierbar ist, befindet sich an der grün gepolsterten Sitzbank mit Troddeln, darauf ein Schal, Zeichnungen sowie ein Album. An der Wand ein goldgerahmtes Gemälde, gläserne Appliken, ein prächtig leuchtender goldbrauner Vorhang, der Boden ein vielteiliges und mehrfarbiges Parkett. Die Dinge sind jedoch ungleich verteilt. Dingfülle herrscht im rechten, den Betrachter*innen nähergerückten Bildgeschehen. Davon durch die getreppte Figurendiagonale geschieden und zurückgesetzt eine objektarme, fast ins Monochrome laufende, dunklere Bildzone, in der die Silhouette eines Sofaknaufs aufsteigt. Er bildet mit Vater und Tochter einen horizontalen und mit den beiden Knaben einen diagonalen Vektor. Der Wechsel von Fülle und Leere visualisiert Präsenz und Absenz. Der leere Platz am Sofa vergegenwärtigt als sichtbarer Ort die verstorbene Mutter, Knauf und Schal übertragen ihre Absenz in Präsenz im Gegenstand. Schemenhaft schwebt sie als Porträt über dem Geschehen und ist auch auf dem von den Kindern betrachteten, für uns Betrachtende unsichtbaren Bild anwesend. So verbindet das Bild lebendige Gegenwärtigkeit im Alltag mit der üppigen und farbigen Objektfülle und in den matteren Farbnuancen und zeichenhaften Gegenständen Abwesenheit bzw. im Gedenken Vergegenwärtigung. Das Textilreiche, wie der Schal, der als Wiener Shawl lesbar ist und zu den bekanntesten Produkten des Textilfabrikanten Arthaber gehörte, integriert das Familienbild zudem in sein gesellschaftliches Umfeld und markiert seinen sozialen Stand als Unternehmer. Der Raum als Wohnzimmer, die Figurenordnung als heteronormative Familie, die Dingbeschaffenheit als Besitz deuten auf gesellschaftlich diskursive Anschlussstellen des Bildgeschehens. Ein solches Anschließen und Zusammentreten interessiert umso mehr, als in der dominanten Wohnrede der Moderne – Moderne gedacht als Zeitraum ab 1800 bis heute – das Auftreten der Subjekte und das Auftreten des Wohnens und seiner Dinge als kohärente Prozesse verstanden werden. Das Innere des Subjekts wird mit dem Inneren des Wohnens in Beziehung gesetzt, wenn nicht gar analogisiert. Subjekt und Objekt werden dabei gegenseitig durchlässiger und beides als beziehungsräumlich miteinander Eingebettetes artikuliert. Das moderne Subjekt, gerne als autonome Einheit vorgestellt, zeigt sich darin als immer schon im Austausch und in Konnektivität Generiertes.

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Wohnen als Umgebung und Umgebendes

2  Georg Friedrich Kersting, Entwürfe für Tellerdekore Nr. 19–24, 1820, Feder-/ Rohrfederzeichung, 32,2 × 42,5 cm, Porzellanmanufaktur, Meißen

Auf Prozesse des Einbettens und Umgebungbildens wird im Folgenden das Augenmerk gelegt und damit der Bogen zur Interieurdebatte geschlagen. Die Interieurdebatte ist zugleich Subjektdebatte und das ist keineswegs metaphorisch gemeint. Im Folgenden wird die Bezüglichkeit von Subjekt und Interieur auf die Art ihres Verhältnisses in verschiedenen historischen Situationen befragt. Dabei wird die geläufigere Vorstellung vom Interieur als subordinativ vereinheitlichtes, stimmungshaft und klimatisch ästhetisiertes Bildraumgefüge auch um taxonometrische Beziehungen erweitert. Das Taxonometrische1 verbindet zwei Worte,

1 Auf den Begriff des Taxonometrischen bin ich über den Zusammenhang des Wohnens mit der Ökonomie, der kapitalistischen Produktion und der Haushaltsführung gekommen, wobei die Wortfindung von dem von Norman Bryson

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Irene Nierhaus

Taxonomie (Ordnung und Gesetz für Klassifikationssysteme) und das Metrische (Maßeinheiten). Die Wortkombination steht hier für Verfahren des Herstellens von Ordnungen und Kanonizes entlang von Figuren des Meßbaren wie Maßstäblichen, des Klassifizierens von Abständen. Es ist ein Gegenstände und Subjekte diskursiv durchkreuzender Grundzug des Wohnens, der hinter dem Narrativ des Interieurs als raumzeitlicher Einheit meist zurücktritt, jedoch Bewohnen wie auch Bewohner*innenschaft räumlich, bildlich und sozialpolitisch mitorganisiert. Das Taxonometrische verortet und klassifiziert Wohnen, ordnet Gegenstände zu und verwaltet sie; so werden z.B. Räume durch bestimmte Ausstattungselemente zu Schlaf- oder Wohnzimmern. Der das Wohnen begründende Haushalt ist eine sichtbare taxonometrische Ordnungsformation, die jedem Wohnen das entsprechende Maß gibt und es auf der sozialen Skala einträgt. Haushaltsführung im wörtlichen Sinne der Ökonomie (grch. oikos und nemein als Einteilung des Hauses) als Regieren und Regulieren des Hauses registriert Besitz, dokumentiert Verfügbarkeit und Mangel, kalkuliert Budgets, lässt mehrteilige Geschirrsets für bestimmte Personenanzahlen kaufen, Hochzeitslisten auffüllen oder Nachlassverzeichnisse führen. Das Diagrammatische und Tabellarische zeigt sich z. B. im Blatt der Entwürfe von Tellerdekorationen des Malers Georg Friedrich Kersting (1820, Abb. 2). Es ist eine Reihung von Tellern als Serie und Variation, Wiederholung und Differenz gleich einem Katalogblatt. Das am Amerling’schen Tisch stehende Teegeschirr ist aus einer solchen Objektserie in den szenischen Handlungszusammenhang des Teetrinkens umgruppiert worden. Taxonometrisches verweist auf das Wohnen als Spur der Akkumulation und der Rationalisierung des Kapitalismus. Es bildet ein taxonometrisches Dispositiv der Moderne, das gesellschaftliche Organisationsformen gestaltet, so auch Wohnen, Geschlechter oder den Zusammenschluss als Familie. Die im Schrank stöbernde Frau in dem Gemälde Femme fouillant dans un placard von Félix Vallotton (1901, Abb. 3) zeigt ein ordentlich gereihtes und gestapeltes Lager von Wäsche. Wäsche wie Leib- oder Tischwäsche war von Frauen in einen neu gegründeten Haushalt als Aussteuer einzubringen, zu verwalten und zu pflegen – wie Haushalten insgesamt zum stetig beschriebenen Maßstab der Bewertung einer ‚guten‘ oder ‚schlechten‘ Hausfrau wurde.

verwendeten Begriff der Taxonomie in Zusammenhang mit dem Stillleben und Interieurbild der niederländischen Malerei gefördert wurde (Bryson 2003).

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Wohnen als Umgebung und Umgebendes

3  Félix Vallotton, Femme fouillant dans un placard, 1901, Öl auf Leinwand, 78 × 40 cm, Privatsammlung, Basel

Darin wird etwas von der vergeschlechtlichten Struktur der Wohntaxonometrie sichtbar, worauf unter anderem feministische Künstlerinnen aufmerksam gemacht haben. Die Hausfrau von Birgit Jürgenssen (um 1974, Abb. 4) ist ein aus Quadraturen zusammengesetztes Pseudobildnis. Hintergrund, Kopf, Büste wie Bekleidung sind in Form und Farbe eingetragene geometrische Maßeinheiten. Sie machen das Bildnis zum Bild einer taxierenden Rollenvermessung der Frau als Hausfrau, der zur Dinghaftigkeit umgerechneten weiblichen Figur, der gemessenen Mäßigung ohne eigentliches Gesicht. Charakteristika des Diskurses des Maßbildens wie Maßhaltens als Wohnspur sollen hier mitbenannt werden, zumal dieser Diskurs im Interieurbild des 19. Jahrhunderts und in der Geschichtsschreibung zum selbigen peripher blieb. Nicht peripher ist das ‚Maßnehmen‘ in der Kunstgewerbeproduktion (Serien, Objektgruppen) und ihren Medien (Kataloge, Warenkunden etc.), auf

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Irene Nierhaus

4  Birgit Jürgenssen, Hausfrau, um 1974, Farbstift und Bleistift auf Büttenkarton, 62,5 × 44,5 cm, Estate Birgit Jürgenssen

die jedoch hier nicht weiter Bezug genommen werden kann. In der modernen Trennung von Wohnen und Betrieb wird Arbeit und somit auch Haushaltung von der Wohnerzählung abgespalten und in spezialisierte Fachdiskurse verschoben (Soziologie, Ökonomie, Konsumlehre etc.). So taucht der Vallotton’sche Schrankinhalt zwar prominent beleuchtet, doch nur im nächtlichen, fast heimlichen Augenblick zwischen den mächtigen Raumschatten der geöffneten Türen und der Rückenfigur auf. Der Wohninnenraum ist mit der Moderne in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß zum Gegenstand der Künste wie der Literatur geworden. Die hier genannten historischen Stationen sind – wenn auch weitgehend chronologisch aufeinander abfolgend – nicht als einfache

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Wohnen als Umgebung und Umgebendes

Entwicklungslinie zu verstehen, sie sind vielmehr spezifische historische Situationen mit sich wiederholenden, erodierenden oder sich verändernden Qualitäten und Verschiebungen und Rücksprüngen, die Wohnen als gesellschaftliches und gesellschaftspolitisch hoch relevantes, dispositiv geordnetes, komplexes und in sich konnektives Feld der Moderne etablieren.

DOPPELT WOHNEN Wohnen ist ein Raumgeflecht, in dem die Verhältnisse von Gesellschaft, Subjekt und Individuum2 nicht nur lebensumfänglich praktiziert werden, sondern Programm und sozialer Auftrag sind. Als gesellschaftliches und individuelles Handlungs- und Interaktionsfeld ist es öffentlich reguliert und wird zugleich als privater, vom Individuum und seinen Verwandtschaften allein bewohnter Raum versprochen. In dieser paradoxen Spanne zwischen privat/individuell und öffentlich/allgemein situiert sich Wohnen und Bewohnen. Dieses Doppelte und Widersprüchliche bleibt zumeist im Hintergrund, sodass Wohnen im Vordergrund als einfacher und eindeutiger, nicht entfremdender, den gesellschaftspolitischen Bedingungen ferner Raum des realen Bei-sich-Seins erscheint. Das sozial verlangte Wohnen und das sozial verlangte Subjekt verschränken sich im Projekt des Privaten. Dafür seien kurz das Domestische und das Häusliche erläutert, die beide als Theoreme dieses Buchprojekts Wohnen und Subjekt auf ihre Weise verkoppeln. Das Domestische bildet das gesellschaftlich Systematische und Regulierte, in dem Wohnen unter der Perspektive moderner Gesellschafts- und Biopolitik gesehen wird. Das betrifft identifikatorische Subjektivierungsprozesse z. B. in Familien-, Geschlechter- oder Gesundheitspolitiken wie auch in Mythisierungen von Privatheit, Innerlichkeit, Intimität, Individualität. Es enthält ebenso kulturelle und soziale Ordnungen des Wohnens und damit vorgesehene Subjekt- und Gemeinschaftsökonomien (u. a. Ehe- und Familienverständ-

2 Der Einfachheit halber wird das Subjekt in diesem Beitrag als das sozial bestimmte und normierte Einzelwesen und das Individuum als die damit verbundene Einzelpersönlichkeit verstanden. Zumeist geht es in dieser Wohnanalyse um das mit Normen ausgestattete Subjekt, da es um die Darstellung allgemein orientierter Prozesse geht.

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Irene Nierhaus

nis, Zuordnung von Gefühlshaushalten wie z. B. desjenigen der alles mit Liebe durchsetzenden Hausfrau). Das Häusliche deutet auf Wohnen als Erfahrungs- und Erlebnisraum des mit dem Subjekt verwickelten Individuums. Es ist das ge- und erlebt realisierte Wohnen, das Gesprochene und Gezeigte, das situativ Umgesetzte, das Handlungs-, Gefühls- und Wissensspielräume praktiziert. Das Häusliche ist keinesfalls das ‚freie‘, unregulierte Gegenüber des Domestischen, denn zwischen beiden, wie auch zwischen Häuslichkeit und Moderne, besteht eine „gewisse Komplizenschaft“ (Heynen 2013, S. 18),3 die ein ergänzendes, korrelierendes, konkurrierendes oder auch konfligierendes Wechselspiel erzeugt, das einem Changieren zwischen Normierungen, Begehren und porösen Öffnungen Raum gibt. So eignete sich Grete Tugendhat in der gleichnamigen, von Ludwig Mies van der Rohe errichteten Villa, weil im Damenzimmer der bürgerlichen Wohnraumkonvention folgend kein Schreibtisch stand, das Herrenzimmer während der Abwesenheit des Hausherrn zum temporären Rückzug an, wie ihre Tochter berichtet: „Da Mies van der Rohe für das Zimmer der Dame bezeichnenderweise keinen Schreibtisch vorgesehen hatte, saß sie sehr oft im Zimmer meines Vaters oder seltener, am großen Schreibtisch in der Bibliothek des großen Wohnraums.“ (Hammer-Tugendhat 2015, S. 49) Das heißt, die Bewohnerin, die durch die geschlechtlich zugeschriebene Raumdisposition in ihrem Zimmer zwar Schminktisch und Ehebett, jedoch keinen Ort zum tätigen Rückzug hatte, unterbrach dafür die vorgesehene Anordnung. Frau Tugendhat veränderte die Situation temporär und individuell, was jedoch keine Änderung des ‚Programms‘ z. B. in einer Ummöblierung der Räume zur Folge hatte. – So viel, um Variabilität und Bedingtheit der Verhältnisse anzudeuten und Wohnen als relationale Bezüglichkeit zwischen Raum, Ding, Subjekt und Individuum zu verdeutlichen. Zum stets Zweifachen des Wohnens gehört auch seine grundsätzliche Medialität und Bildlichkeit. Denn Wohnen ist nicht einfach, sondern bildet als ein gesellschaftliches Zeigesystem einen Schau_Platz. Der Schau_Platz zeigt durch Prozesse und Ordnungen des Sichtbar- und/oder

3 Hilde Heynen (2013) sieht diese Komplizenschaft wirksam in der Trennung der ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ normierten und dabei stets aufeinander bezogenen Sphären, z.B. der Sphären außer- und innerhäuslicher Arbeit. Häuslichkeit als Teil des modernen Differenzsystems ist in Bezug auf Kapitalismus und Imperialismus zu diskutieren.

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Wohnen als Umgebung und Umgebendes

Nichtsichtbarmachens, wie das Selbst, wie das Geschlecht, wie die Familie, wie das Heim etc. zu gestalten sind. Wohnen wird in Bildlichkeiten produziert, modifiziert und reproduziert und in Gattungen, Genres, Motiven und intermedialen Geflechten aus Medien, Medienformen, -formaten und -verbünden realisiert: im Innenraumbild der Kunst und Literatur, des Spielfilms, der Produktwerbung, der TV-Sendeformate, der Internetportale, in Ausstellungen und in Bewohner*innenselfies. In Abwandlung und pausenloser Wiederholung werden implizit oder explizit andauernd Reden übers Domizil und seine Insass*innen geführt, wobei ästhetische Strategien und Politiken, visuelle Verfahren je nach Medium Wohnen auf bestimmte Weisen sichtbar machen. Ästhetisierung ist ein konstitutiver Begleitprozess der Vorstellungen vom modernen Wohnen. Sie strukturiert historisch nicht nur die geführten Geschmacksdebatten, sondern wird zur grundlegenden Qualität und Form des Verhältnisses zwischen dem Subjekt und seiner Umwelt. In Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen von Friedrich von Schiller (1795) bildet das Ästhetische ein Gleichgewichtsparadigma, das dualistisch getrennte Gegensätze (wie u.a. Erscheinung und Wesen, Vernunft und Sinnlichkeit) zueinander dialektisch in Beziehung setzen und in Ausgleich bringen soll. Ästhetisierung ist eine Prozessualität, mit der nicht nur die Künste, sondern gerade Gesellschaft und Subjekt, Leben und Alltag harmonisiert und optimierend gestaltet werden können. Sie ist im gesamten 19. Jahrhundert und darüber hinaus eine immer wieder von Denkschulen modifizierte und unter unterschiedlichen Synonymen (z. B. als Stil, Lebensstil, Einrichtungsstil, Geschmack) aufgerufene Akteurin im Ein_Richten des Subjekts und seines Umfelds. Im modernen Wohnen hat Ästhetisierung eine prägende Rolle, ihr Potenzial ist politisch und mit ihr werden stets normkonforme oder normperforierende Entscheidungen gefällt. Ein ästhetisch geformtes Leben in entsprechenden ‚Lebensformen‘ verlangte auch der Funktionalismus, wie ihn Walter Gropius 1930 für die Bauhausmoderne beschrieb: „[…] ebenso wie es uns nicht einfällt im rokokokostüm über die strasse zu gehen, statt in unserer modernen kleidung, ebenso wünschen wir auch unser erweitertes kleid, die wohnung, befreit von sinnlosem, raumsperrendem kram und überflüssigen verzierungen, der willkür der stile sind wir satt geworden, von der laune zur regel geschritten und suchen nun im klaren, knappen und einfachen formen, die der art unseres heutigen lebens entsprechen“ (Gropius 1974, S. 144). Die Entsprechung von Wohnen, Gestalten und Leben wird in

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Irene Nierhaus

diesen Sätzen nicht nur nach Formsprachen vorgeführt, sondern zugleich einer wertenden Dichotomie von ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Formen, einem vermeintlich ‚richtigen‘ oder ‚falschen‘ Leben unterzogen. Ein solches Bewerten gehört zu den Prozessen der ‚Valorisierung‘, der Erstellung von Werteinheiten, die die gesellschaftliche Kulturalisierung der Moderne prägen.4 Valorisierung verweist zudem auf das Erziehungsprinzip, das zur Allianz von Ästhetisierung und Wohnen gehört. Die im Diskursgeflecht ‚Wohnen‘ hausenden Bewertungsagenturen machen dessen machtpolitische Anschlussstellen zu gesellschaftlichen Anordnungen und Zuschreibungen sichtbar – wie Geschlecht, Klasse, race, Sexualität –, die oft nur situativ in ihrer historischen Dynamik zu fassen sind, so wie das in den Gropius’schen Sätzen flüsternde Geschlecht vom Rokokokostüm oder dem klaren Knappen, das an die zeitgenössisch kursierenden Zuschreibungsdeklinationen von männlich und weiblich anschließt. Um Ästhetisierungsprozessen auf die Spur zu kommen, gilt es in Bild- und Raumarrangements, in Formate und Genres und ihre Verfahren einzusteigen und zu fragen, was ihre Modi bewirken. Was und wie es bestimmte Rahmen- und Schwellenbildungen, Flächen- und Linienstrukturen, Raumgevierte, Raumanschnitte, Durchblicke, Nahsichten, Tastbarkeiten, Materialtexturen, Realitätseffekte, Objektporträts tun und wie sie welche Vorstellungen von Wohnen produzieren. Bildverfahren machen uns rezeptionsästhetisch zum in den Bildern figurierten Teil der Bilder5 und – um es poststrukturalistisch weiterzutreiben – zum Im-Bild-Sein, zum Bild selbst, zum Selbst als Bild. Sie generieren in den im Bild niedergelegten Blick-, Raum- und Bildregimen soziale Beziehungen und Subjektkonstellationen und sind in machtvolle und politische Diskurse wie Klassismus, Rassismus oder Nationalismus verwickelt. Dieses Beziehungsgefüge ist seit dem späten 18. Jahrhundert eine sich in Mutationen und Wiederholungen vollziehende Prozessualität – die auch heute anhält. Somit geht es in der Analyse der Verfahren um Untersuchungen des Ästhetischen als gestalterisch kulturelle Politiken des Politischen – und damit auch um „Übungen […] um eine im wesentlichen deskriptive Annäherung an das, was wir Orte des Subjekts oder (Wohn)Orte des Denkens nennen werden“

4 Zur Koppelung von Kulturalisierung und Valorisierung als sozialer Logik siehe Reckwitz 2019. 5 Dies wird exemplarisch vorgeführt von Wolfgang Kemp in seinem Buch Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto (Kemp 1996).

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Wohnen als Umgebung und Umgebendes

5  Georg Friedrich Kersting, Die Stickerin am Fenster (1. Fassung), 1812, Öl auf Leinwand, 47,2 × 37,5 cm, Schlossmuseum, Weimar

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Irene Nierhaus

(Damisch 1997, S. 12). Orte des Denkens und Orte des Subjekts werden auf Vorstellungen und Bilder des wohnenden und vom Wohnen bewohnten Subjekts bezogen. So reflektierte etwa René Descartes in der ersten seiner 1641 publizierten erkenntnistheoretischen Meditationen über seine körperliche Lokalisierung in einem Wohninneren, in einem Mantel am Ofen und als nackter Körper zwischen den Laken. In diesem Setting aus Raum, Ding, Subjekt, der Wahrnehmung und den Sinnen als einem Bezugsgeflecht entfaltet er seine philosophische (an den Sinnen allerdings zweifelnde) Position.

INNENRAUMBILD, ZIMMERBILD UND ZIMMERREISE: MASSNEHMEN UND MASSHALTEN Mit der Moderne konstituiert sich das Innenraumbild neu und wird gar zum paradigmatisch erklärten „Leitfossil“ und „Schlüsselbild einer Epoche“ (Aurenhammer 1969, S. 23f.). Ein Schlüsselbild des Schlüsselbildes, das in Publikationen zu Romantik und Biedermeier oft an prominenter Stelle auftaucht, ist Die Stickerin am Fenster von Georg Friedrich Kersting (erste Fassung 18126, Abb. 5), das schon zeitgenössisch durch die erfolgreiche Vermittlung von Johann Wolfgang von Goethe an August von Sachsen verkauft worden war. Zu sehen ist ein durch Feinheit in Zeichnung und Farbnuancierung charakterisierter heller, häuslicher Innenraum in einfacher und sparsamer Möblierung. Der Raum ist vom Dielenboden bis zum Deckenfries, vom Stickrahmen bis zum Blumenfenster, vom Sofa bis zum Vorhang, vom Stuhl bis zur Kommode, vom Nähkörbchen bis zur Gitarre, vom umrankten Porträtbild bis zum reflektierenden Spiegel genau beschrieben. Die gezeigten Dinge stellen alle einen Bezug zur weiblichen Rückenfigur her: das männliche Porträt, die Gitarre, das Nähkörbchen und das Sticken. Die dargestellte Person, Louise Seidler, schreibt: „[…] allgemein gefiel die von ihm [Kersting] oft wiederholte Ausführung des glücklichen Gedankens, die Personen, welche er zu porträtieren hatte, in ganzer Figur auf mäßig großen Holztafeln zugleich mit dem Inneren ihrer Behausung abzubilden. In der Tat ist es interessant, geliebte oder hervorragende Menschen in der ihrem Berufe angemessenen, folglich auch für

6 Von dem Bild existieren zwei weitere Fassungen (1817, 1827), die in Farbgebung und einzelnen Elementen der Raumausstattung, wie der Bekleidung der Rückenfigur, variieren.

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Wohnen als Umgebung und Umgebendes

6  Georg Friedrich Kersting, Atelier des Malers Gerhard von Kügelen, 1811, Öl auf Leinwand, 53,5 × 42 cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe

ihre ganze Wesenheit charakteristischen Umgebung zu sehen.“ (Seidler 1922, S. 43) Die vom Maler Dargestellten werden demnach durch die Situierung in einem ihnen als ‚wesenhaft‘ zugeschriebenen Umraum identifiziert. Welches ‚Wesen‘, welche Identität erhalten die Stickerin und ihr Raum und die Dinge? Die flimmernd blonde Haarkrone mit lockerer Stirnlocke, der Ohrring, das Kleid mit gebundener Schürze, die im Sticken abgespreizten Finger, der in die Arbeit versenkte und abgewendete Kopf vermitteln Zartheit, Stille und Zurückhaltung. Die Figur gibt ein Klima wieder, wie es die Erziehung für Frauen z.B. im Frauentaschenbuch Alruna 1805 fordert: „Zeige Deine Tugend jetzt im Bilde der heiteren, wonnegebenden Gattin […]. Dein Gewand trage stets, wie Dein Gesicht, den Liebreiz der höchsten Reinlichkeit an sich, der so gewöhnlich auf deine Seele deutet.“ (Zit. n. Spickernagel 1985, S. 12) Ihr Gesicht ist vergrößert im Spiegel zu sehen, worin ein bürgerlich-romantisch gewendeter An-

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schluss an die Bildkonvention des Venussymbols und der weiblichen Schönheit gesehen werden kann. Die der Perspektivkonstruktion des Raumes widersprechende Größe und Positionierung des Spiegelbildes lässt das Gesicht hervortreten, bringt es der Betrachtung nah, distanziert es jedoch zugleich, da es eingerahmt und ‚nur‘ Spiegelung ist. Nah und fern, anziehend und tugendhaft visualisiert es das Ideal der Frau als Figur der Braut, die Frau an der Schwelle zur Berührung. Goethe schenkte Seidler später einen Spiegel mit den Worten „so spiegle sie […] sich an ihren eigenen Tugenden und denke der Liebenden und Teilnehmenden“ (zit. n. Seidler 1922, S. 70). Der Porträtierte im zweiten Bild im Raum, dem Gemälde, wird in der Forschungsliteratur als ihr im Krieg gestorbener Verlobter (umrankt von der Ackerwinde als Zeichen bleibender Verbundenheit) interpretiert. Damit wird die Stickerin auch in den Rahmen einer heterosexuellen Paarbeziehung gestellt, da zwischen Gemälde und Spiegel eine Bildgemeinschaft besteht, die im Bild als Bild realisiert wird. Auch das Musikinstrument und das aufgeschlagene Notenbuch mag auf das Paar deuten, da Seidler selbst vom gemeinsamen Musizieren mit dem Verlobten berichtet. Die Gitarre war seit 1800 ein zur Mode gewordenes Instrument für Frauen, „seitdem sie bei unsern Schönen durch ihren bezaubernden Ton, durch ihre niedliche Form, durch den Reiz, den ihre Handhabung der Spielerin giebt […], sich einzuschmeicheln gewußt hat“ (Journal des Luxus und der Moden 1801, S. 623).7 Seidler schreibt jedoch, dass sie Piano gespielt habe – hat Kersting die Feminisierung im Bild mit der in Mode gekommenen Gitarre im Sinne der romantischen Ideale verstärkt? Kersting erzeugt in der Stickerin ein verhäuslichtes Geschlecht, das durch Formen der Liebe, der Anmut, des Reizes, des Maßes, des Schönen und des Musischen determiniert wird. Das gehört zu den in der Romantik und frühen Moderne zugeschriebenen Geschlechtsidealen und -normen, die immer wieder hochgerufen zur Geschlechtsidentität naturalisiert werden. Zu den Subjektivierung und Verräumlichung verwebenden Prozessen bei Kersting

7 Die Gitarre war neben Klavier und Harfe das einzige Instrument, das Frauen zu spielen als angemessen galt. „Die Guitarre […] verdient gewiß unter den beliebtesten Modeartikeln eine vorzügliche Stelle. Welche Verehrerin der Musik sollte in ihrem Zimmer diesem Instrumente einen Platz versagen, das im Dienste der Musen und Grazien steht, das mit beiden den vertrautesten Umgang verräth und mit seinem nach der Mode gefärbten Trageband niedlich umschlungen, von schöner und bezaubernder Kunst gewiß das sprechendste Bild ist?“ (Journal des Luxus und der Moden 1801, S. 623f.)

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notierte auch sein Malerkollege Gerhard von Kügelen, den er wie Caspar David Friedrich oder Friedrich Matthäi zeitgleich zur Stickerin in seinem Atelier gemalt hatte, dass Kersting „saubere Porträts“ male, „ganze Figuren in einer Umgebung, die ebenfalls Porträt war“ (zit. n. Gärtner 1988, S. 71). Bei Kügelen sind unter anderem antikische Skulpturen Verweise auf seine Tätigkeit als Historienmaler (Abb. 6). Kersting erzeugt Übertragungen, die den Innenraum zur dinglichen Versammlung subjektbezogener Identifikationen machen bzw. die Person als subjektiviertes Display der Ausstattung und Dinge aufspannt und damit zur sicht- und lesbaren Konfiguration macht. Dabei zeigt Kersting die Dargestellten in einer stillen und konzentrierten Tätigkeit, die ein Inneres ventilieren: Männer malen, die Frau stickt – wie auch in den anderen Kersting’schen Innenraumbildern lesen Männer und Frauen. Das Fixieren der Geschlechterdifferenz geht noch weiter, denn die Stickerin Louise Seidler war selbst Künstlerin,8 doch kommt sie unter den Künstler-im-Atelier-Porträts von Kersting nicht als solche ins Bild, sondern wird zur anonymen Stickerin, wie sie selbst sagt: „[…] ein in prunkloser Wohnung am Stickrahmen arbeitendes junges Mädchen, dessen Gesicht man im gegenüberhängenden Spiegel erblickt. Es ist mein eigenes Porträt.“ (Seidler 1922, S. 43) Dazu lässt sich sarkastisch anmerken, dass Seidler zur Sicherung ihres Lebensunterhalts Handarbeiten übernehmen musste: „[I]ch beschloss daher durch eigene Kraft das nötige Geld zu erwerben. Obgleich ich in Handarbeiten bei weitem nicht ganz so geschickt war […]. Ich nähte, strickte und stickte heimlich, oft bei Nacht, zu jämmerlichen Preisen, und wirklich erwarb ich mir auf diese Weise Geld genug, um den Unterricht bei [Jakob Wilhelm] Roux zu bezahlen.“ (Ebd., S. 28) Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird textile Handarbeit zur fast aus-

8 Louise Seidler (1786–1866) war Malerin, hatte u.a. bei Kügelen Unterricht genommen, von dem sie berichtet, er hätte Frauen keinen Ernst in der Kunst zugestanden. Seidler war Teil der damalig bekannten Künstler- und Intellektuellenkreise und erstellte zeitgleich zum Stickerinnenbild ein Porträt von Goethe. Sie erhielt Stipendien nach München und Rom, wo sie in der deutschen Künstlerkolonie fünf Jahre lebte und arbeitete, sie war eine gefragte Porträtistin und stellte Kopien von Bildern aus der Geschichte der Kunst her (ein damals gängiges Reproduktionsverfahren). Aufgrund der Erkrankung des Vaters kehrte sie zurück und wurde in Weimar Zeichenlehrerin der Prinzessinnen, hatte die Aufsicht für die Galerie der Zeichenschule, war Weimarer Hofmalerin und verfasste ihre Lebenserinnerungen. Ihre biografischen Wege zeigen, in welchen Rahmensetzungen künstlerische Tätigkeit für Frauen damals möglich war.

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schließlich weiblich visualisierten Tätigkeit,9 was sie zunächst nicht in dieser Ausschließlichkeit war, so haben auch Männer, wie z.B. Goethe, gestickt (woran der Schriftsteller Peter Handke heute anschließt). Otto Philipp Runge wurde „Stickdirektor“ genannt (Gärtner 1985, S. 86) oder hatte Kersting wie oben gezeigt Teller- und Stickereientwürfe gefertigt (Abb. 2) – hier reicht der Diskurs in das komplizierte Verhältnis von Kunst und Kunstgewerbe, das wiederum eine eigene Systematik des Geschlechtlichen produzierte. Seidler, zwischen Nähkörbchen und Gitarre angesiedelt, wird als musische Frau, doch nicht als Künstlerin in ihre Umgebung eingesetzt, die dementsprechend Wohnraum und nicht Atelier ist. In der Forschungsliteratur wird vermerkt, dass der in den Bildern von Atelier und Wohnung abgebildete Raum identisch war, d.h., er wird im Bild einmal zum Atelier und einmal zum Stickzimmer. Im Übrigen hatte Seidler später in Rom für ein kleines ihrer Madonnenbilder als Gegengabe von einem Hamburger Kaufmann ein „prächtiges Nähkästchen“ erhalten, „welches mir aber gar kein Vergnügen machte, da eine geheime Mißbilligung meiner Künstlerlaufbahn mir in dieser Gabe zu liegen schien. Ich erlaubte mir daher die Bitte, das Nähkästchen mit einem mir besser zusagenden Gegenstande vertauschen zu dürfen.“ (Seidler 1922, S. 142) Ob das männliche Porträt im Stickzimmer ein von ihr gefertigtes Porträt ihres Verlobten war, wäre zu klären, da Seidler bereits in diesen Jahren als Porträtistin hervorstach. Im Stickerinnenbild verschwindet die Künstlerin, ihre Tätigkeit ist verdeckt und der von ihr verdeckte Nebenerwerb wird zum eigentlich Sichtbaren, der Ort ihres Tuns ist das Haus, allenfalls ein Gitarrenspiel für ‚Damen‘ und kein „wie glücklich ich war! Losmachen konnte ich mich nun von den drückenden, ja, erdrückenden häuslichen Verhältnissen; der Anfang einer selbständigen Existenz war in meine Hand gegeben. Ein freies Künstlerleben winkte mir mit all seinem Zauber; mit seinen Mühen, aber auch mit seinen lohnenden, herrlichen Aufgaben!“ (Ebd., S. 82) Solchermaßen erinnerte sie sich später, als sie ein großherzogliches Stipendium für einen Aufenthalt in München erhalten hatte. Kersting formuliert mit der zur häuslichen Muse zurückübersetzten Künstlerin ein Begründungsbild moderner Innenräumlichkeit und Vergeschlechtlichung. In Differenz

9 Handarbeit diente dem Herstellen häuslicher Ausstattung und war zugleich eine der Möglichkeiten, mit der auch bürgerliche Frauen Geld verdienen konnten, allerdings geheim als verdeckte Arbeit, um den gesellschaftlichen Status nicht zu verletzen.

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7  Übersicht der zweiten Folge der Natuerliche und affectirte Handlungen des Lebens von Daniel Nikolaus Chodowiecki, 1778/79, Radierungen, Staatsgalerie, Stuttgart

zu den Künstlerraumporträts wird das Bild anhand seiner feminisierten Idealbildung romantischer Empfindung zur Erneuerung des Interieurbildes. Ohne das Bild direkt in die Konvention des „moral interior“ (Borzello 2006, S. 104) zu stellen, lässt sich dennoch sagen, dass es explizit einen moralisch-ethischen Anspruch des Maßhaltens erhebt. Diesbezüglich schließt es direkt an die Umformulierungen des Körpers bei Daniel

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Nikolaus Chodowiecki an. In den Vergleichsbögen Natuerliche und affectirte Handlungen des Lebens (1778/79, Abb. 7) werden expressiv nach außen fahrende Körpergesten zu Abbildern bloßer Äußerlichkeit, die mit den ‚neuen‘ gemäßigten Körperhaltungen eines als innengeleitet vorgestellten Selbst kontrastiert werden. Wie Walter Gropius später mit dem Bauhaus gegen das Neorokoko agiert, stellt Kersting seine Figuren und Räume in radikaler Vereinfachung gegen das Rokoko, dessen Formen der Krümmung, des asymmetrischen und auswuchernden Lineaments zum ästhetischen Gegensatz der ‚neuen‘ Einfachheit werden. Kersting hat mit der Stickerin den Raum- und Figurenentwurf zum Konzeptiven kondensiert. Präzis, deskriptiv, detailgetreu und in sensitiver Verwirklichung der Gegenstände wird das Bild zu einem Visualisierungsgefüge, das das romantisch geprägte empfindsame Narrativ eines Subjekts nicht nur realisiert, sondern als Umgebendes im Sensualismus auch wahrnehmbar macht. Die Qualität des Stickerinnenbildes beschreibt der Kunsthistoriker Hugo von Tschudi 1906 so: „Das Neue, was darin lag, gewisse zarte, noch nie dagewesene Farbverbindungen, eine schmeichelnd die Dinge umspielende, alle Schatten durch leuchtende Atmosphäre wurde sicher von den meisten nicht, jedenfalls nicht störend empfunden.“ (Zit. n. Gärtner 1985, S. 82) Er weist dem Bild somit einen besonderen Status zu, dessen ‚Neues‘ – wenngleich von den ‚meisten‘ nicht erkannt – gerade die Art der Beziehungsräumlichkeit sei, welche die Bildgegenstände zu einer atmosphärisch genannten Einheit zusammenführe. Die Figur und die sie umstellenden Dinge und Raumelemente werden in Bildzeichen und Bildästhetik kompositorisch zusammengeschlossen (die zarten, hellen und fein ponderierten Farben und Farbtöne harmonisieren das strenge Fluchtliniengefüge, das den Raum in konstruierenden Linien- und Flächenbildungen fest im Griff hat). Dieser Schritt wird im Vergleich mit den sogenannten Zimmerbildern deutlich, die im frühen 19. Jahrhundert großen Anklang fanden.10

Wohnen taxieren: Zimmerbild und Zimmerreise Oft in Alben gesammelt, vermitteln Zimmerbilder das neue Wohnen als Ort der Reflexion, des Wissens und Sich-Bildens, wie dies die regelmäßig

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Vgl. dazu auch den Text von Philipp Zitzlsperger in diesem Band.

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8  Innenraum Wien, Aquarell, Wien Museum

gezeigten Schreibtische, Bilder, Musikinstrumente oder Vitrinen über die oft nicht sichtbaren Bewohner*innen aussagen. Sie sind zumeist Raumschachteln mit raumöffnenden Fenster- und Türrahmungen und Möbelkonstellationen (Abb. 8, 9). Die Deskription der Zimmer addiert Fenster, Topfpflanzen, Tische und Stühle, Wand- und Deckendekor. Raumbildung und Detaillierung bezeugen genaues Hinsehen, klares Wahrnehmen, das Plastisch-werden-Lassen und Schärfen des Blicks. Es ist eine visuelle und visuell vorgeführte Aufmerksamkeitskultur, die Gegenstand und Raum umgreift und formt. Das ist vergleichbar mit dem Blickregime, das Tony Bennett in Zusammenhang mit der Entwicklung des exhibitionary complex beschreibt: Dieser „perfected a self-monitoring system of looks in which the subject and object positions can be exchanged, in which the crowd comes to commune with and regulate itself through interiorizing the deal and ordered view of itself as seen from the controlling vision of power – a

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9  Franz von Malek, Wohnzimmer, Wien 1836, Aquarell, 25,8 cm × 38,1 cm, Wien Museum

site of sight acessible to all“ (Bennett 1995, S. 69). Nicht nur in Museen und Ausstellungen, sondern gerade auch im Wohnen kann und soll Beobachtung und Selbstbeobachtung erlernt werden. Die Zimmerbilder sind meist klare Liniengerüste und Flächenfelder, die nicht zuletzt, wie bei Johann Erdmann Hummel, mit Perspektivstudien verbunden werden. Auch Kersting hat entsprechende Raumgeometrien erstellt, wie eine mit Projektionseinzeichnungen versehene Ansicht eines Innenraums von 1812 belegt. Ebenso ist die Stickerin als bildgeometrische Projektion aufgebaut, sie ist in ein Fluchtliniensystem eingepackt, das dem Bild ein Gerüst und ihr Aufmerksamkeit gibt. In der zweiten Bildversion von 1817 wird das geometrisch Angeordnete verschärft, da sind z.B. die Linien der Kleiderschürzenbänder und die Fläche des Rückenausschnitts betont. Die Gevierte der Zimmerbilder bilden ein striktes Display der Anordnung, Klarheit und Übersicht und bezeugen den Bestand von Innenräumlichkeit als Kultur von Ordnung, Maßverhältnissen und Klassifizierungen. Darin liegt etwas Taxonometrisches im Wortsinn von Ordnung, Gesetz und Maß. Prinzipien

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des Vermessens, Messens und Aufreihens bilden die Räume, wie im Wohnzimmer von Franz von Malek (Abb. 9), in dem links eine Etagere mit gereihtem Geschirr und Porträts und rechts eine Staffelei und ein Schrank mit aufgereihten Büchern und Grafiken den Gegenstandsrahmen um die mittig sitzende Frau schließen. Dingreihen und linearisierte Raumgeometrien machen den neuen Wohnraum des modernen Subjekts zum Container im Sinn von continere, zum Behältnis, das enthält und zusammenhält. Das manchmal Statische der Bilder ist im Blatt mit der Wohnraumflucht (Abb. 8) durch kleine spontane Gesten aufgebrochen (geöffnete Schublade, aufgeblättertes Buch, überfüllter Papierkorb, schräg stehende Türe). Das deutet ein Öffnen zu einem interaktiven Handlungsraum an, der im zeitgenössischen literarischen Genre der Zimmerreise ausgesprochen wird. Die Zimmerreise wird in der rhetorischen Form der genauen Beschreibung eines Innenraums vollzogen, mit der die im Raum befindlichen Autor*innen das gesamte Zimmer und seine Gegenstände abtasten. Im Lesen nachvollzogen und bildlich erscheinend, changiert das Zimmerbild zwischen Text und Bild. Mit dem späten 18. Jahrhundert wurden die Zimmerreisen zu einem sehr verbreiteten Genre (z. B. Xavier de Maistres Voyage autour de ma chambre, 1790, Sophie von La Roches Mein Schreibetisch, 1799). Dabei wird die Reise als Außenerfahrung ins Rauminnere verlegt und die Welt des Zimmers als Außen eines Inneren beschrieben.11 Zimmerreisen sind konnektive Praktiken der Inversion. Gemälde, Bildinhalte, Bücher, Briefbündel, Inventarbögen, Regale, Tische, Stühle etc. werden aufgezählt und über den schreibenden Blick als Teil des Selbst fixiert. Diese Raum-, Dingund Selbstbeschreibung verkoppelt Wahrnehmungen, Gefühle, Vertrautheiten und Distanzen. Die einer Reise gleiche Bewegung verlebendigt die Zimmerbilder und spannt einen kartografisch entworfenen Raum in Dialog mit den Wohndingen auf. Die Zimmerreisen operieren mit der „Anspielung auf Karten und kartographische Methoden der Positionsbestimmung“ und erstellen eine „kartographische Inskriptionsfläche“ (Kasper 2014, S. 194, 206). Eine solche Inskriptionsfläche ist nicht zuletzt auch das Bild der Stickerin, das eine Umgebung für die Protagonistin topografisierend erzeichnet. Das Maß wörtlich nehmend verwendete die Autorin Sophie von La Roche ein Lineal, um an ihre Zimmertüre zu klopfen, wenn sie Kontakt

11 Zu de Maistre vgl. Stiegler 2010; zu La Roche vgl. Pelz 1993. Pelz analysiert ein geschlechterdifferentes Verfahren der Zimmerreise bei de Maistre und La Roche.

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zu jemand jenseits ihres Zimmers haben wollte – das Lineal als Maßstab zwischen Körper und Gehäuse bzw. des Abstandes zwischen Selbst und seinem Außen. Das La Roche’sche Lineal kann für das Verhältnis zwischen Ding, Subjekt und Raum im frühen 19. Jahrhundert geradezu metaphorisch stehen. Es sind Maß und Maßeinheiten, die die Ordnung der Bildräume und der in sie eingeschriebenen Bildfiguren und -gegenstände bauen. Zeitgleich spielt Vermessen, Kartografieren und Aufzeichnen eine gesamtgesellschaftlich zunehmend bedeutsame Rolle. So wird die Ausbildung der Sinne als Grundlage von Pädagogik extensiv betrieben durch Verfahren des Messens, Geometrisierens und Vergleichens von Formen, z. B. in Johann Heinrich Pestalozzis Entwicklung der „Ausmessungskunst“ als Erziehung mit spezifischem Schwerpunkt auf Formalisierungen des Blicks (vgl. dazu Teutenberg 2019). Das Interesse an der visuellen Konstruktion von definierbaren (mess-, klassifizier-, bestimmbaren) Beziehungen zwischen Raum, Objekt und Subjekt hat sich seit dem 18. Jahrhundert in Kongruenz mit der Entwicklung des modernen Staatswesens intensiviert. Dabei ergeben sich Klassifikationen „nicht von selbst, sie sind vielmehr das Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen – eines Kampfes um Zahlen, Indikatoren und Darstellungsweisen“ (Mau 2017, S. 189). Aufzeichnen, Kalkulieren und Vermessen in Karten, Inventaren, Verzeichnissen und Listen sind Verfahren der zivilen wie militärischen Verwaltung. So wurde z. B. der Kataster, in dem Grundstücke und Gebäude grafisch wie schriftlich zur Besteuerung inventarisiert werden, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts implementiert, ab 1780 wurde er in den Ländern der habsburgischen Monarchie schrittweise praktiziert, wie auch die Zählung der städtischen Häuser in Wien durch Konskriptionsnummern, die sichtbar an den Häusern angebracht wurden. Solche Formate des Verwaltens sind Teil eines taxonometrischen Dispositivs der Moderne, das auch das Wohnen und den Haushalt mit formt. Das Taxonometrische ist nicht das Gegenüber des Wohnens als subjektivierter Beziehungsräumlichkeit, vielmehr ist es ein Teil von ihm. Es haust in Gegenständen der Innenraumbilder, wie dem Nähkörbchen, dem Stickrahmen, im Arthaber’schen Teegeschirr, dem aus seiner Manufaktur stammenden Shawl, in den abgebildeten Kleiderordnungen oder im Linienraster der Bodenfugen und den Fluchtlinien der Möbelkanten. Das Taxonometrische ist auch nicht nur in den Dingen oder den Bildstrukturen, sondern bildet mit ihnen Verhältnisse und Beziehungen, Positionierungen und Verortungen in einem gesellschaftlich sich wandelnden und modernisierenden gesellschaftlichen Raum, der die Subjek-

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tivierungsprozesse prägt. Das Bemessen des Verhaltens – im Sinne der oben benannten Valorisierungskultur des modernen Subjekts – wird zum auferlegten und der permanenten Optimierung des Selbst verschriebenen Reg(ul)ierunginstrumentarium. Es führt einen ethischen Maßdiskurs der Geschlechter, der besonders an Frauen und dem von ihnen erwarteten Maßhalten vorgeführt wird. So wird auch Louise Seidler als Stickerin in Anmut, Zartheit, mit fein gespreiztem Finger und abgewendetem Blick zum Maß idealer weiblicher Schönheit – wie auch die ‚verbesserten‘ und als ‚natürlich‘ kategorisierten Figuren bei Chodowiecki (Abb. 7). Gegenüber den Zimmerbildern hat Kersting das Taxonometrische hin zur poetologischen Aufzeichnung verschoben. Durch Farbe, Licht und Raumkomposition ist das Bild raumzeitlich vereinheitlicht und keine additive Aufzählung mehr. Auch ist das Zimmer keine reine Bühnenschachtel, sondern ein Raumausschnitt mit zentrierter Figur. In solchen Innenraumbildern wird die weibliche Gestalt „ein mensch-lebender Teil des Interieurs“, „um die der Raum ‚erzählend‘ gebaut ist, [sie wird] zum Stilleben des Menschen mit den Dingen“ (Aurenhammer 1969, S. 24). Das Bild von Kersting verwandelt das Zimmerbild zum modernen Innenraumbild, in dem die Figur in eine beziehungsräumlich jetzt als mimetisch verstandene Umgebung eingebettet ist. Bezogen auf die Wahlverwandtschaften von Goethe schreibt der Philosoph Karl Wilhelm Ferdinand von Solger: „In der Natur erkennt er [Goethe] die Liebe, das sind Wahlverwandtschaften. Eben dazu gehören die Details der Umgebungen. Gerade diese sind das sichtbare Kleid der Persönlichkeiten. Und sie haben noch eine andere hohe Bedeutung. Sie sind das tägliche Leben, worin sich die Persönlichkeit ausdrückt.“ (Zit. n. Spitzer 1942, S. 211)

UMGEBUNG ALS KARTE UND UMGEBENDES ALS EREIGNIS Die Umgebung ist Beziehungsräumlichkeit, die Subjektivierung situiert. Sie macht damit die als neu markierten Verinnerlichungsansprüche les- und sichtbar – ein Grundprinzip des verbürgerlichten Subjekts, das ein gesellschaftlich vorgesehenes Inneres in Veräußerung sichtbar zeigen und beweisen muss. Die Regularien des Vorgesehenen grenzen das, was gezeigt werden soll, ein (die Stickerin als zurückhaltend weiblich, ohne Wunsch Malerin zu sein, ohne Geldsorgen, ohne Wut …). Die Umgebung ist wie Subjektivierung eine gesellschaftspolitische Situation. Machtanalytisch wäre dafür der von Michel Foucault verwendete, doch

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wenig ausgeführte Gedanke zur environnementalité zu verfolgen, wobei es um die Regierbarkeit der Subjekte durch ihr Milieu geht, eine „Gouvernementalität, die auf die Umgebung Einfluß nehmen und systematisch die Variablen dieser Umgebung verändern wird“ (Foucault zit. n. Sprenger 2019, S. 83). Im Regieren und im Politischen der Umgebung wird das Subjekt dem Verhältnis von Staat und Kapitalismus entsprechend an gesellschaftliche Formationen wie Konsum, Markt, Sozial- und Gesundheitspolitik etc. angedockt. Die Umgebung ist ein konnektives Gesellschaftsdisplay in Verkettungen, Zirkulationen und Konglomeraten von raumzeitlichen Umständen. Wobei Umgebung oder das Umgebende als Beziehungsraum im Abgleich mit Begriffen wie Ambiente, Milieu, Feld, Environment, Umwelt, ökologisches System, die von ihrer Gebrauchsund Begriffsgeschichte her oft aus biologischen oder technologischen Zusammenhängen kommen, als geeignete Benennungen für Wohnen und Wohnbild weiter zu überlegen wären (vgl. dazu Spitzer 1942). Historisch ist Umgebung unter anderem als Wahrnehmungshintergrund (Edmund Husserl), als Ort eines sehr reichen Zusammenschlusses von Inhalten (Arnold Gehlen), als Speicherort mit verschiedenen Möglichkeiten, als Potenz zur Handlung (Georg W. F. Hegel) oder als Umgebung, die stets eine weitere Umgebung zur Hülle habe (Reyner Banham), gedacht worden (vgl. zu den verschiedenen Positionen Sprenger 2019). Mit der Verdichtung des Geflechts von Subjekt und Umgebung im Laufe des 19. Jahrhunderts mag das der Umgebung anhaftende Topografische noch deutlicher zu einem Zuständlichen werden, das ein gestreut-offeneres Umgebendes ist. Das Umgebende befindet sich nicht ‚um‘ das Subjekt herum, sondern durchkreuzt, differenziert und verzweigt es in bislang ungeahnter Weise in Korrespondenz mit der Bildung staatlicher und wirtschaftlicher Strukturen. Subjektivierung als Umgebendes. Im Wohnen erhält das Subjekt eine raumhaltige Ausdehnung im Umgebenden als Selbst. So mehrt sich in der Zeit um 1900 das Sprechen über das Umgebende, wie z. B. bei Georg Simmel, der die Basis vom „Lebensreichtum der Menschen und der Dinge […] in der Vielfachheit ihres Zueinandergehörens [sieht], in der Gleichzeitigkeit des Drinnen und Draußen, in der Bindung und Verschmelzung nach der einen Seite, die doch zugleich Lösung ist, weil ihr die Bindung und Verschmelzung nach der anderen Seite gegenübersteht. […] an der die Ganzheit des einen die Ganzheit des anderen erfaßt, ohne daß darum eine von ihnen zerrissen wird.“ (Simmel 2010, S. 209) Simmel verweist dabei konkret auf die

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Ästhetisierungsparameter von Stil und Geschmack als Vergesellschaftungsformen, die als Umgebendes notwendig seien, um das Individuum vom „Balancieren auf der Schmalheit der bloßen Individualität zu erlösen“, und „in den stilisierten Formgebungen, von denen des Benehmens bis zur Wohnungseinrichtung, […] eine Milderung und Abtönung dieser akuten Personalität“ bedürften (Simmel 1993, S. 380, 382). Stil also als ein Akteur und Garant der Vergesellschaftung und Errettung des Individuums. Stil und Geschmack sind die im 19. Jahrhundert heftig debattierten Ästhetisierungsagenturen, die zugleich Bewertungsmaßstäbe der Valorisierungsmaschine sind. Dabei unterscheidet Simmel das Verhältnis zu den einzelnen Dingen von dem zur Ganzheit des Wohnraums. Stil gelte für das Verhältnis zu den einzelnen Dingen und ausschließlich für dieses Verhältnis und nicht für die „Umgebung als Ganzes“, denn das Ganze des Innenraums müsse durch die Person und ihre Seele zu einer „subjektiven Einheit“ gefügt werden (ebd., S. 381f.). Die Einheit des Interieurs als Einheit des Subjekts, das durch Ästhetisierung zu einem sozialen Subjekt wird. ‚Einheit‘ und ihre Synonyme sind das Prinzip der Verschiebung vom taxonometrisch Deskriptiven der Umgebung zum ästhetisch verbindend verstandenen Umgebenden als ‚Ganzem‘, als Interieur. Der Innenraum als Interieur wird zum ganzheitlichen Bildraum: „The very context for a bourgeois sense of domesticity emerges as a doubled interior, an interior that is consciously understood as both an image and a spatial condition.“ (Rice 2004, S. 275) Dahin führt auch Edgar Allen Poes Reise durch Wohnräume in seiner Philosophie der Wohnungseinrichtung von 1840. Zuerst ist es eine Welt ‚falscher‘ Wohnformen, bis er endlich in einem Zimmer ankommt, das er in zimmerreisender Beschreibung von Wänden, Fenstern und Möbeln in Licht, Farbe, Textur und Material schließlich zu einer als Einklang verstandenen ästhetischen Vereinheitlichung zusammenschließt – einem Gemälde vergleichbar. Den von Poe ventilierten ästhetischen Einklang hatte Hugo von Tschudi wie oben schon gesehen bei der Stickerin unterstrichen – die „Farbverbindungen“ und die „die Dinge umspielende“, „leuchtende Atmosphäre“ (Tschudi zit.n. Gärtner 1985, S. 82). Das Wohngemälde von Poe ist zweifach bewohnt. Da sind ein schlafender und ein wacher Bewohner. Der wache Bewohner ist der wissende und in der Beschreibung erkennende, während der schlafende einen anderen Raum enthält, den Schlaf, den Traum, das Ungewisse. Da wach sein, beobachten, vergewissern und dort schlafen, dem deskriptiven Blick abgewandt. Damit rückt das moderne Subjekt als doppeltes

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ins Bild, dessen Sichtbarkeit allerdings die Ahnung seiner Unsichtbarkeit hochruft. Das Abwenden des Blicks wie bei Poes Schlafendem findet sich auch bei der Stickerin, deren Kopf abgewendet zum verlorenen Porträt wird. Doch wird ihr das Nichtsichtbare und Nichtgewisse mit dem Spiegelbild genommen, das ihr Gesicht in das Sicht- und Beobachtbare zurückholt und überprüfbar werden lässt. Die unsichtbaren Dimensionen des Subjekts beschäftigen den modernen Staat und seine Wissenschaften, wie in Biologie, Medizin, Psychiatrie, Psychologie etc. Das Taxonometrische gilt darin dann als Sicherungsinstrument mit Datenerhebungen, Statistiken und Auswertungssystemen. Im Laufe des 19. Jahrhundert wird das Umgebende durch die paradigmatisch neu bewerteten Veränderungen in Wahrnehmung, Sensibilität, Sinnlichkeit und Einbildungskraft multipler und zeitlich dimensioniert. Es wird vermehrt ein bewegliches und situatives Gefüge, in dem Konstellationen, Positionen, Konnektivitäten kursieren und sich zu Situationen kombinieren. Situationen werden szenisch und in hohem Maße dramatisiert. So beschreibt Walter Benjamin den Besuch in der Wohnung der Großmutter: „Wenn dann ihr Mutterland sich wieder auftat, betrat ich dessen Dielen so voller Scheu, als hätten sie mit ihrer Herrin auf den Wellen des Bosporus getanzt und als verberge sich in den Persern noch der Staub von Samarkand.“ (Benjamin 2017, S. 50) Bodendielen, Teppich und Großmutter projizieren assoziative Empfindungsflächen von Landschaftsbildern, die das Wohninnere mit einem auf Orientalismen basierenden vorgestellten Äußeren verknüpfen. Die Welt nicht im Außenraum zu erfahren, doch im Innenraum zu imaginieren war schon bei Søren Kierkegaard zentral, so in der Sequenz, in der der Sohn vom Vater im Gang über den Boden die Außenwelt beschrieben bekommt.12 Im Grunde sind das Zimmerreisen, die nicht mehr deskriptiv berichten, sondern in der Vorstellung aufgerufene Bilder (re)produzieren. Das moderne Wohn-

12 Christina von Braun (1987) hat eine solche Ausdehnung des Wohnens auf die Welt als Verleugnung der Existenz des Fremden und als Phantasma eines omnipotenten Ich kritisiert und Theodor W. Adorno hat mit Kierkegaard das Interieur als Raumschein zu entlarven versucht, in dem Wirklichkeit zur reinen Innerlichkeit würde, und als zum Punkt zusammengezogene Raumlosigkeit ohne Verhältnis zu einem wirklichen Außen verurteilt. Beide Argumentationslinien sind für eine weiter gefasste politische Analyse wesentlich, doch möchte ich in diesem Beitrag den Schwerpunkt auf die Verschiebungen der bildräumlichen Artikulationen legen.

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10  Berthe Morisot, Im Wohnzimmer, 1873–1877, Öl auf Leinwand, 92 × 73 cm, Privatsammlung

subjekt wird zum Prozesshaften aus Zurichtungen und Potenzialitäten, wie auch der angekurbelte Projektionsapparat der Einbildungs- und Vorstellungskraft, der Verfeinerung der Sinne, der Differenzierung des Wahrnehmungsvermögens zeigt. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wird der Wohnung in Innenraumausstattung und Einrichtungsgegenständen ein geradezu psychisch-subjekthaftes Wesen zugeschrieben, das ausdrücken soll, was in diesem Behältnis von Subjekt und Selbst enthalten ist. Wohnen und Subjekt werden analogisierte Container. Die Wohnung wird zum dialogisch performativen und temporalisierten Raum (so auch in der Zuschreibung historischer Stilphasen als bestimmte Raum-‚ Charaktere‘, wie z. B. Renaissance im Speisezimmer) und bekommt etwas von ereignishafter Dramatisierung. Das weiblich besetzte Innenraumbild wird im Verlauf des Jahrhunderts zum Standard der Bildkultur des Häuslichen, wobei im Vergleich

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11  John Singer Sargent, Repose, 1911, Öl auf Leinwand, 64 × 76 cm, National Gallery of Art, Washington

zum Raumporträt von Kersting der Bildraum zeitlich akzentuiert wird. Verschiedene Modi erzeugen die Temporalisierung, so z. B. Gesten und Handlungen des Bildpersonals; narrativ ausgestattete Vorgänge wie in den genrehaften Bildern; gestalterische Mittel der Malerei (u. a. Lichtund Schatteneffekte, Faltengebungen, Pinselduktus). Im Bild Im Wohnzimmer von Berthe Morisot (1873–77, Abb. 10) sind es der gestisch bewegte, das Bild zum beweglichen Gespinst machende impressionistische Pinselstrich, das Aufleuchten der Farben, das Ausschnitthafte und nah Herangezogene, die hantierende weibliche Rückenfigur, die das Bild zum momentanen Einblick gestalten. In seiner Fülle und Gedrängtheit von Kamin, Tisch und Figur, die den Raumausschnitt ausfüllen, scheint das Bild fast zu bersten. Die Wirkung der Fülle beruht nicht so sehr auf der Vielzahl von Einzeldingen, sondern auf den vitalisierten Oberflächen und den Beziehungen der Gegenstände untereinander, die von den

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sich spiegelnden Farbnuancierungen und den eng aneinanderstoßenden Umrissen herrührt. Gegenstände und Rückenfigur bestehen aus klaren kreisförmigen und viereckigen Grundflächen und werden durch Farbe, Licht und Strich in den Raum eingewoben. Die Rückenfigur ist ein Hausmädchen, das Gläser oder Geschirr in einen Schrank stellt. Sie ist ein dem Taxonometrischen des Haushalts zugeordnetes (Bild-)Personal. Sie begleitet Wohnbilder fallweise seit dem frühen 19. Jahrhundert, knüpft an die ältere Bildtradition der Magd und Dienerin an, wobei sie hier zu einem ästhetisch unter anderem mit der Kaminvase korrespondierenden Bildgegenstand wird. Ihre Arbeit ist fast unsichtbar, verschliffen, wie das haushaltend Taxonometrische selten ins Bild findet. Ein reduziertes Tun ist generell Merkmal der Wohnbilder, allenfalls wird gehandarbeitet oder gelesen und auch einfach nichts getan. Die ruhende Figur des Bildes Repose von John Singer Sargent (1911, Abb. 11) ist eine mit geschlossenen Augen an einem Sofa lehnende Frau. Ihr Kleidkörper korreliert in glänzend weißgrünlichen Tönen mit der Raumausstattung. Faltentiefe, Stoffwölbung und geklitterte Stoffarchitektur stellen ein Raumkleid her, das sie in den Raum einbindet, wie auch das Schwarze des aufgelösten Haars im Schatten unter dem Tisch weiterfließt und sich von dort auf den Boden ausbreitet. Das über das Kleid gelegte Stoffteil trägt spiegelbildlich gewendet die gleiche Ornamentik wie die Sofapolsterung. Dieses Vexierbildhafte verunklärt die Gegenstandsbezüge. Der Raum ist nicht mehr, wie noch bei Kersting, überblickbar, die Figur im Raum umschlossen und von den Betrachter*innen auf Distanz gehalten. Wie bei Morisot ist es ein nahegerücktes, fragmentiertes und temporalisiertes Raumgefüge, in dem nach Franz Roh „der räumlich ordnende Zusammenhang zugunsten […] [der] Einzeleffekte“ zerfällt.13 Subjekt wie Objekte werden im fluiden Sensualismus der Oberflächen als situatives (also verräumlichtes und verzeitlichtes) Wahrnehmungsgefüge visualisiert, das etwas Ereignishaftes hat. Ereignishaftes enthält Unerwartetes, das vermeintlich dem Wohnen als Gewohntem entgegensteht, doch füllt sich das Wohnen zunehmend mit Ungewissem, Vermutungen und Ahnungen. Das Ereignis besagt, dass es „von sich selbst abweicht, sich verschiebt, sich faltet, sich schlängelt. Es kann nur besagen, daß es anderes ist als das, was es ist, daß es anderswo ist als dort, wo es ist.“ (Waldenfels 2004, S. 457) Das Potenzielle des Ereignishaften konvertiert Wohnen und seine Bilder zum

13 Franz Roh im konkreten Zusammenhang mit der Malerei von Rudolf von Alt (Roh 1955, S. 17).

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Projektionsraum angedeuteter Lektüren von unsichtbaren Räumlichkeiten des Subjektiven, Privaten und Intimen. Sigmund Freud beschreibt später Räumlichkeit als „Ausdehnung des psychischen Apparats“, als „Korrelat jener Operation, durch die sich die Wahrnehmung selbst – und durch sie die Psyche – der Außenwelt öffnet, indem sie sich in sie hineinprojiziert“ (Freud 1999, S. 52). Daraus spricht die eingängig bürgerliche Interieurerfahrung. Wie schon der Wohnort in Das doppelte Zimmer von Charles Baudelaire aus dem Jahr 1869 etwas ereignishaft Hereinbrechendes hat, wird Wohnen vermehrt eine nicht abschließbare, poröse, unstetige und dem Subjekt mannigfaltige, unsichtbare und ungeahnte Spatien eröffnende Situation. Doch auch diese Spatien sind nicht schlicht frei, sondern werden domestizierend verwertet und valorisiert. Da wird das Versunkensein zu einer kurzen Ruhepause nach oder vor der Arbeit, zum produktiven Nachdenken über das Gelesene oder zur ungern gesehenen Faulheit. Wohnen hat sich zu einem räumlich, visuell, materiell multisensorischen und dramatisierten Display aus Ökologien, Ökonomien und Kulturen der Vernunft, der Affekte und Gefühle entwickelt, die im Austausch mit Dingen und Erzählversionen hervorgebracht und vorgeführt werden. Die eigentliche Leistung des bürgerlichen Interieurs14 des 19. Jahrhunderts ist die Ingangsetzung der Kapazitäten von mannigfaltigen Wahrnehmungen und Erfahrungsmöglichkeiten im modernen Subjekt durch sein Umgebendes. Das Umgebende ist auch Bezugsraum der Effekte und Prozesse der kapitalistischen Warenproduktion. Ganz wie Karl Marx feststellte, dass die Ware „ein sehr vertracktes Ding“ sei, „voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken“ (Marx 1971, S. 85). Die aufgeladene und aktive Verschränkung von Subjektivierung und Objektivierung lässt die Dinge zuweilen ‚wesenhafte‘ Qualitäten annehmen: „As the perception of relationships between people and their surroundings changed, descriptions of domestic interiors thickened, suggesting a growing potential for objects to become performers in the drama. […] The image of either chair holding out its arms […] emphasizes the way that descriptions of furniture in use as animate were starting to become metonyms for situations and relationships.“ (Pringle 2010, S. 226f.) Die Dinge werden zu Mitspielern und Darstellern, was in Literatur und Visueller Kultur nachvollziehbar ist. Um

14 Das hier beschriebene Wohnen bezieht sich auf das gehobene und mittlere Bürgertum und es wäre zu fragen, in welchem Verhältnis dieses zum proletarisch-prekären Wohnen der Zeit stand.

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1900 gipfelt das in einer enormen Spannweite von psychischen Zuständen, die bis hin zum dramatischen Aufgesogen-Werden und Sich-in-den-DingenAuflösen reicht, wie beispielsweise in der Kurzgeschichte Die gelbe Tapete von Charlotte Perkins Gilman aus dem Jahr 1892. Darin taucht eine in einem Zimmer isolierte Frau wahnhaft in die Arabesken einer gelben Tapete ein. – Die Autorin war im Übrigen eine bekannte Frauenrechtlerin, die das Augenmerk auf die taxonometrische Seite des Wohnens lenkte und Haushaltung zur Grundlage ihrer stadtplanerischen Entwürfe machte. Diese Aufspaltung von Wohnen und Haushalt ist die Aufteilung des Weiblichen im Wohnen: zum einen sich mit Leib und Seele mit dem Umgebenden und als Umgebendes zu identifizieren und zum anderen den Haushalt mit Kopf und Verstand als Umgebung zu lenken. Psychisierung und taxonometrische Professionalisierung als scheinbar getrennte Welten durchziehen die Wohndiskurse bis ins 20. Jahrhundert. Ebensolche getrennten Welten werden sie im System des Ästhetischen durch die Trennung und Hierarchisierung von Kunst und Kunstgewerbe bzw. die Abspaltung der Gestaltung von einer ‚freien‘ Kunst, die sich auch in der Trennung von Kunstakademie und Kunstgewerbeschulen niederschlägt. Die Kunstgeschichtsschreibung folgt und befördert diese Trennung, da in der Behandlung der Wohnbilder das Taxonometrische aus dem Blick fällt und eine unendliche Vielzahl von Innenraumbildern mit oft ruhenden, allenfalls handarbeitenden Frauen sich zum Repräsentanten des Wohnens stapelt. Das bürgerliche Wohnen wird kaum als Bestandteil sozialer Verhältnisse und sozialer Ungleichheit visualisiert, das wird wie in der Sozialreportage eher Bereichen der Grafik oder Fotografie überlassen.

UMGEBUNG UND UMGEBENDES NEU VERMESSEN Die Moderne des frühen 20. Jahrhunderts hat sich gegen das aufgeladene Umgebende gewendet und das sich darin ‚verlierende‘, nun als dekadent klassifizierte Subjekt in seinem bourgeoisen Habitus verurteilt. Forderungen des ‚Neuen Wohnens‘ beispielsweise verlangten, die Gegenstandsfülle zugunsten einer funktionsbezogenen und sozial ausgleichenden Versachlichung zu tilgen. Wie eingangs in Gropius’ (wie zuvor schon Kerstings) Aussage gegen das Rokoko wird sie zum Feindbild der Modernisierung. Sie wird zur Figur absolutistischer Herrschafts- und Kulturformen, als deren Gegenteil man sich entwarf. Das Umgebende wird zum frei gedachten

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12  Anton Räderscheidt, Junge Ehe, 1922, vermisst

Handlungsraum geleert. Eine die Reduktion bis zum Äußersten treibende Situation zeigt die Junge Ehe von Anton Räderscheidt (1922, Abb. 12). Das nur in schwarzweißer Aufnahme erhaltene Gemälde zeigt einen einfachen und bis auf die Grundausstattung leeren Wohninnenraum mit einer weiß gekleideten weiblichen Rückenfigur und einer schwarz gekleideten männlichen Figur im Dreiviertelprofil. Über dem dunklen Boden sind in der oberen Bildhälfte Möbel, Wand und das opake Fenster in weißen bis dunkelgrauen Tönen eingezeichnet. Im Vordergrund bildet die Rückenfigur die symmetrische Bildachse und erzeugt mit der Boden-Wand-Kante ein präzises Raumkreuz, das in den am Rücken verschränkten Armen reproduziert wird. Der Mann ist ihr diagonal zugeordnet und gemeinsam bilden sie mit dem Stuhl ein Raumdreieck. Die Bildgegenstände sind mittels Umriss- und

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13  Die neue Wohnung, Film von Hans Richter, CH 1930

Flächenbetonung ohne Binnenzeichnung geometrisch radikalisiert. Das Ehebild ist eine Flächenorganisation, in der die beiden Körper(umrisse) geschlossen für sich artikuliert und nicht überschnitten sind. Die Dinge bilden ebenfalls Grundformen, sind als Einzelgegenstand ganz nach dem Prinzip der ‚Neuen Sachlichkeit‘ isoliert, wie auch im sachlichen Stillleben der Malerei und Fotografie. Diese stilllebenartige Grundstruktur erweckt den Anschein von Beziehungslosigkeit bzw. das Darstellen von Beziehung wird zurückgenommen. Das entsprach dem Distanzierungsparadigma des ‚Neuen Menschen‘: Frau und Mann sehen sich nicht an, haben die Arme am Rücken verschränkt, die Körper sind voneinander isoliert und der Kontrast zwischen dem Hellen der Frau und dem Dunklen des Mannes ist als Gegensatz artikuliert. Das Raumdreieck aus beiden Körpern und Stuhl deutet eine fragile, auf Distanz gehaltene und doch schwebend-latente Spannung an. Die isolierende Umrissgeometrie des Bildes voreilig als moderne innerliche Beziehungsleere zu deuten, wäre hinsichtlich der Debatten um den sachlichen ‚Neuen Menschen‘ kurzschlüssig, da es da eher um eine Nichtveräußerung denn um eine Nichtexistenz von Affekten ging.

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Das Zurücknehmen von sichtbaren Äußerungen ist nicht unähnlich zur Stickerin von Kersting oder den Figuren bei Chodowiecki. Jedoch hat das Ehebild ein Jahrhundert der Einübung und Differenzierung von Wahrnehmung und Einbildungskraft hinter und in sich. Konstituiert sich um 1800 das moderne Subjekt mit der Umgebung, (re)produziert es sich nun in der Entleerung als einem scheinbar von den Konventionen freigeräumten Raum der Autonomien. Im (späteren) Baudrillard’schen Sinn ist dieser ein Modell, ein Raum, der gegenüber der Anhäufung der beredten Objekte die „Konnotation durch die Leere“ anzeigt (Baudrillard 1991, S. 187). Die Wohnung von Anton Räderscheidt und der mit ihm verheirateten Malerin Marta Hegemann soll einer ebensolchen geleerten Ordnung entsprochen haben. Die im Interieur des 19. Jahrhunderts in das Umgebende eingenisteten Befindlichkeiten sind getilgt, allenfalls ins Nichtsichtbare der Subjekte verschoben, das als spannende Stillstellung anwesend ist. Ereignis, Temporalisierung, Sensibilisierung der Oberflächen und Psychisierungseffekte sind zurückgefahren. Die Dinge der Ausstattungen sind als zum Katalog des Häuslichen gehörende Typen qualifiziert, sie verdeutlichen Sparsamkeit, Leben mit Maß und Ziel. Das Bild ist ein zum Taxonometrischen (rück)verwandeltes Innenraumbild, in dem Ordnung und eine Vorstellung von Autonomie von Objekten und Subjekten herrschen. Gleichwohl behält es seinen heteronormativen Rahmen und die Frauenfigur als Innenraum bestimmende Matrix. Die in den Interieurbildern des 19. Jahrhunderts nur peripher auftauchende Darstellung des Haushalts (Abb. 3) gerät mit Fotografie und Film, doch auch in den Stillleben der neusachlichen Malerei verstärkt ins Bild. So zeigt sich das Innenleben von Schränken nicht nur wie bei Vallotton im Grunde heimlich, sondern explizit. In Fotografie und Film kehren die Dinge wieder, nun präsentiert als Objekte der rationalisierten Fertigung. Sie zeigen sich aufgereiht, gestapelt, vervielfältigt. Die Ästhetik der Serialisierung, wie der von Gegenstandsklassen (z. B. Kaffeeservice), war in Warenbüchern und Katalogen ein bereits lang bestehendes Bildverfahren. In den Küchen der Wohnfilme der 1920er und frühen 1930er Jahre, wie in der von Hans Richters Die neue Wohnung (1930, Abb. 13), werden die Dinge zu Protagonisten des neuen rationalisierten Haushalts der Einteilung, Zählung und Sortierung. Sie verbildlichen Ökonomie als gleichmäßig und funktional verteilende Lebensgrundlage, häufig als Gegenbild zur ‚alten‘ anhäufenden und irrlichternden bürgerlichen Gesellschaft. Maßstäblichkeit, Messen und planvolles Anordnen werden zur multiplen Grundfigur des

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14  Francesca Woodman, Untitled, New York, 1979, Fotografie, 14,7 × 14,8 cm, Courtesy George and Betty Woodman, New York

neuen Haushaltens und das keineswegs nur im Wohnen. Walter Benjamin greift am Ende seiner Aufzeichnungen zum Interieur in Textpassagen zu Nummern, Registern, Formularen und Verwaltung das Registrierende als ‚Spurbildung‘ auf: „Vermehrung der Spuren durch den modernen administrativen Apparat“ (Benjamin 1983, S. 297). Administrieren und Registrieren bleiben keine vereinzelten Verwaltungsakte, sondern werden Teil der Subjekt- und Gesellschaftsführung. So sind Vorstellungen von Angemessenheit und Maß im Verhalten im gesamten 19. Jahrhundert Parameter für moralisierende Bewertungen. Ab dem letzten Viertel des Jahrhunderts betrifft das insbesondere die Hausfrau, auch in ihrer neuen Rolle als Konsumentin – da ist zunehmend die Rede vom ‚richtigen‘ Maß der Maßvollen und die ‚falsche‘ Anmaßung wird zur stehenden Rede. Modernisierung und Organisation (und das Spurbilden) der Bevölkerung (auch als Bewoh-

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15   Henrike Naumann, Ansicht aus der Ausstellung Innenleben, Haus der Kunst, München, 2019

ner*innenschaft) sind eng verschwägert, denn im 19. Jahrhundert prägen Klassifizierung, Quantifizierung und Katastralisierung nicht nur Industrie oder Wissenschaft, sondern den gesamten gesellschaftlichen Raum. Das Vermessen erzeugt „Valorisierungsprozeduren, die immer auch Ordnungen erzeugen und diese nicht nur abbilden“.15 Das Umgebende in seinem neu evaluierten Metrischen der Modernisierung folgt jedoch nicht den Brucherzählungen des 20. Jahrhunderts und hebt das Prinzip des Umgebenden auf, sondern transformiert, adaptiert, variiert und aktualisiert es in mannigfaltigen Versionen. So schreibt die feministische Künstlerin Francesca Woodman ihren Körper in Wände, Tapeten und Kästen ein. In der Fotografie Untitled (1979, Abb. 14) sind

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Steffen Mau bezogen auf Algorithmen (Mau 2017, S. 205).

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es wechselseitige Inskriptionen von Körper und Wand: Stuckgeflecht und Wirbelsäule, wie Blatt- oder Fischskelett; freigelegte Wandstruktur und nackter Rücken; abgeblätterte Wandfarbe und Blätterung auf Kleidung; Wanderung der Körperschattenschattierungen in die Wand. In solchen Analogiebeziehungen arbeitet ein projektives Vermögen, das im Wohnen des 19. Jahrhunderts als das umgebende Selbst historisch erlernt worden ist. Damit ist auch das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt porös geworden, das hier im Kontext der feministischen Kunst der 1970er als Beziehung von weiblichem Körper und Raum thematisiert wird. Die Raumarrangements von Henrike Naumann (Ausstellungseinsicht 2019, Abb. 15) setzen am Umgebenden als zeichenreichem Wohnort des Politischen an. Möbel, Wohnaccessoires deuten in Formen und Konstellationen auf Bezüge zur politischen deutschen Geschichte, die als Kodifizierungsfiguren für die Besucher*innen dienen und im Gang durch die Objekte assoziiert werden können. Bezieht sich Woodman reflektierend auf die Einschreibungen zwischen Umgebendem und weiblichem Selbst, erzeugen die Interieurstücke von Naumann kritisch-kaleidoskopische Umgebungen der ästhetischen Ordnungen des Politischen im Wohnen. Umgebung und Umgebendes bilden als moderne (Aus- und Ein-)Schreibpraxen ein mannigfaltiges Bezüglichkeitsregime von Praktiken, mit denen auch Veränderungen produziert werden könnten: Grete Tugendhat bestellt bei Lilly Reich einen Schreibtisch für ihr Zimmer und tritt einer Frauenrechtsgruppe bei; die im Vallotton’schen Schrank stöbernde Frau wechselt in die Wäscheabteilung eines Kaufhauses, da sie dort für dieselbe Arbeit bezahlt wird; Louise Seidler stellt Kersting zur Rede und lässt sich als Künstlerin im Atelierbild porträtieren; das Morisot’sche Hausmädchen wendet sich um, verlangt mehr Lohn und tritt der Gewerkschaft bei; die Ruhende schreit auf und spricht über Leidenschaft und Wut; Francesca Woodman löst sich aus der Wand und Henrike Naumann muss 2022 kein Militärlager zum zeitgenössischen Wohnensemble zusammenstellen …

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Literatur

Aurenhammer 1969 Aurenhammer, Hans: ‚Die Spinnerin am Fenster‘ von Friedrich Loos. Zu einem romantischen Bildthema, in: Mitteilungen der Österreichischen Galerie, H. 52, Jg. 2, 1969, S. 23–33. Baudrillard 1991 Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen (1968), Frankfurt a. M./New York: Campus 1991. Benjamin 1963 Benjamin, Walter: Blumeshof 12, in: ders.: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, m. e. Nachwort v. Theodor W. Adorno, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1963, S. 50–54. Benjamin 1983 Benjamin, Walter: Das Passagenwerk, Bd. 1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983. Bennett 1995 Bennett, Tony: The Birth of the Museum. History, Theory, Politics, London/New York: Routledge 1995. Borzello 2006 Borzello, Frances: At home. The Domestic Interior in Art, London: Thames & Hudson 2006. Bryson 2003 Bryson, Norman: Stilleben. Das Übersehene in der Malerei, München: Fink 2003. Damisch 1997 Damisch, Hubert: Skyline. Architektur als Denkform, Wien: Passagen 1997. Freud 1999 Freud, Sigmund: Vortrag 22.8.1938, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 17: Schriften aus dem Nachlass 1892–1938, 2. Aufl., hg. v. Anna Freud et al., Frankfurt a. M.: S. Fischer 1999. Gärtner 1988 Gärtner, Hannelore: Georg Friedrich Kersting, Leipzig: Seemann Verlag 1988. Gropius 1974 Gropius, Walter: Bauhausbauten in Dessau (1930), m. e. Vorwort des Hg. Hans M.

Wingler, Reprint, Mainz/Berlin: Florian Kupferberg 1974. Hammer-Tugendhat 2015 Hammer-Tugendhat, Daniela: Leben im Haus Tugendhat, in: dies.; Ivo Hammer; Wolf Tegethoff: Haus Tugendhat. Ludwig Mies van der Rohe, Basel: Birkhäuser 2015, S. 24–55. Heynen 2013 Heynen, Hilde: Moderne und Häuslichkeit. Spannungen und Widersprüche, in: Domestic Utopias, Ausst.-Kat., Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, 14.6.–28.7.2013, Berlin: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst 2013, S. 15–20. Journal des Luxus und der Moden 1801 Journal des Luxus und der Moden, H. 11, Jg. 16, November 1801. Kasper 2014 Kasper, Nils: Die Dinge (in) der Literatur, in: Manfred Pfaffenthaler; Stefanie Lerch; Katharina Schwabl; Dagmar Probst (Hg.): Räume und Dinge. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld: transcript 2014, S. 193–210. Kemp 1996 Kemp, Wolfgang: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München: Beck 1996. Marx 1971 Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1867), Bd. 1, Berlin: Dietz 1971. Mau 2017 Mau, Steffen: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2017. Pelz 1993 Pelz, Annegret: Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autogeographische Schriften, Köln u.a.: Böhlau 1993. Pringle 2010 Pringle, Patricia: Scampering Sofas and ‚Skuttlin‘ Tables: The Entertaining Interior, in: Interiors. Design, Architecture, Culture, H. 3, Jg. 1, 2010, S. 219–244. Reckwitz 2019 Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin: Suhrkamp 2019.

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Rice 2004 Rice, Charles: Rethinking histories of the interior, in: The Journal of Architecture, H. 4, Jg. 9, 2004, S. 275–287. Roh 1955 Roh, Franz: Der Wohnraum in der europäischen Malerei, Darmstadt: Schneekluth 1955. Seidler 1922 Seidler, Louise: Erinnerungen der Malerin Louise Seidler, hg. v. Hermann Uhde, Berlin: Propyläen Verlag 1922. Simmel 1993 Simmel, Georg: Das Problem des Stiles (1908), in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 8: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. II, hg. v. Alessandro Cavalli; Volkhard Krech, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 374–384. Simmel 2010 Simmel, Georg: Der Henkel (1919), in: ders.: Das Abenteuer und andere Essays, hg. v. Christian Schärf, Frankfurt a. M.: Fischer 2010, S. 201–209. Spickernagel 1985 Spickernagel, Ellen: Die Macht des Innenraums. Zum Verhältnis von Frauenrolle und Wohnkultur in der Biedermeierzeit, in: Kritische Berichte, H. 3, Jg. 13, 1985, S. 5–15. Spitzer 1942 Spitzer, Leo: Milieu and Ambiance: An Essay in Historical Semantics (2. Teil), in: Philosophy and Phenomenological Research. A Quarterly Journal, H. 2, Jg. 3, 1942, S. 169–218. Sprenger 2019 Sprenger, Florian: Epistemologien des Umgebens. Zur Geschichte, Ökologie und Biopolitik künstlicher environments, Bielefeld: transcript 2019. Stiegler 2010 Stiegler, Bernd: Reisender Stillstand: Eine kleine Kulturgeschichte der Reisen im und um das Zimmer herum, Frankfurt a. M.: Fischer 2010. Teutenberg 2019 Teutenberg, Tobias: Die Unterweisung des Blicks. Visuelle Erziehung und visuelle

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Kultur im langen 19. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2019. Waldenfels 2004 Waldenfels, Bernhard: Die Macht der Ereignisse, in: Marc Rölli (Hg.): Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, Paderborn: Fink 2004, S. 447–458.

Abbildungsnachweise

Abb. 1: Sabine Grabner (Hg.): Friedrich von Amerling. 1803–1887, Ausst.-Kat., Österreichische Galerie Belvedere, 26.3.–22.6.2003, Leipzig: Seemann 2003, S. 159. Abb. 2, 5, 6: Hannelore Gärtner: Georg Friedrich Kersting, Leipzig: Seemann 1988, S. 198, 54, 44. Abb. 3: Claire Frèches-Thory (Hg.): Die Nabis. Propheten der Moderne, Ausst.-Kat., Kunsthaus Zürich, 28.5.–15.8.1993, München: Prestel 1993, S. 294. Abb. 4: Nachlass Birgit Jürgenssen, z966 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Abb. 7: Herbert Beck; Peter C. Bol; Maraike Bückling (Hg.): Mehr Licht. Europa um 1770. Die Bildende Kunst der Aufklärung, Ausst.-Kat., Städelsches Kunstinstitut und Liebighaus – Museum alter Plastik, Frankfurt a.M., 22.8.1999–9.1.2000, München: Klinkhardt & Biermann 1999, S. 235. Abb. 8: Museum der Stadt Wien 96.745/5_ H31. Abb. 9: Archiv der Autorin. Abb. 10: Charles F. Stuckey (Hg.): Berthe Morisot, Impressionistin, Ausst.-Kat., National Gallery of Art, Washington, 6.9.–29.11.1987, Stuttgart: Klett-Cotta 1987, S. 87. Abb. 11: https://www.nga.gov/collection/artobject-page.35080.html (27.1.2023).

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Abb. 12: Hildegard Reinhardt: Leben wie unter dem „Rasiermesser“. Marta Hegemann und Anton Räderscheidt, in: Renate Berger (Hg.): Liebe Macht Kunst. Künstlerpaare im 20. Jahrhundert, Köln u.a.: Böhlau 2000, S. 302 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Abb. 13: Die neue Wohnung (CH 1930, Hans Richter), 0:23:49. Abb. 14: Gabriele Schor (Hg.): Feministische Avantgarde. Kunst der 1970er Jahre aus der Sammlung Verbund, Wien, Ausst.-Kat., Galleria Nazinale d’Arte Moderna, Rom, 19.2.– 16.5.2010, München: Prestel 2015, S. 407 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Abb. 15: Ausstellungsfotos der Autorin.

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AMELIE OCHS, IRENE NIERHAUS, KATHRIN HEINZ ZUM BUCH In Überlegungen zur ‚modernen‘ Ordnung des Wohnens wird häufig die Passage aus dem Kapitel „Louis-Philippe oder das Interieur“ von Walter Benjamin zitiert, in der es um die Trennung von Arbeitsstätte bzw. Öffentlichkeit und Lebensraum (Privatheit) im Zuge von Industrialisierung und Demokratisierung im 19. Jahrhundert geht. Benjamin stellt hier fest, dass sich der „Privatmann […] im Interieur (konstituiert)“, das für diesen sowohl „Universum“ als auch „Etui“ sei. Ans Interieur richte er konkrete Erwartungen, nämlich „in seinen Illusionen unterhalten zu werden“ (Benjamin 1982, S. 52f.). Benjamin skizziert damit ein typisches Bild des ‚modernen‘ Wohnens, das sich über verschiedene Aspekte charakterisiert: Zunächst handelt es sich um ein bürgerliches Wohnen, das jenseits von Arbeit entworfen wird. Damit hängt die Figur des Privatmannes zusammen (außerhalb des Wohnens ist er ein Geschäftsmann oder eine öffentliche Person), der die patriarchale Struktur des modernen, bürgerlichen Wohnideals verkörpert. Der Fokus auf den Privatmann verdeckt die Sicht auf die weiblichen Bewohnerinnen, die das moderne Wohnen als Hausfrauen ‚für ihn‘ realisieren. Sie gestalten sein häusliches Universum respektive Etui, in dem er „Ferne und Vergangenheit (versammelt)“ und seine Spuren hinterlässt (ebd.). Mit Benjamin lässt sich das Interieur als Zeichenuniversum denken. Es ist Abdruck bürgerlicher Wertvorstellungen und Ideale wie auch der gesellschaftlichen Stellung der Bewohnenden. Im Wechselverhältnis dazu lässt sich die Wohnung als stabilisierender Faktor des Selbstbilds der Bewohner*innen analysieren. Nicht zuletzt möchte Benjamin das Wohnen als Illusion einer vermeintlich privaten, auf Repräsentanz ausgerichteten häuslichen Ordnung dekodieren. Im Begriff der Illusion deutet sich kritisch-polemisch die ästhetische Strukturiertheit des Wohnens als Schein, als Trugbild an.

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Diese rhetorische Zuspitzung verweist auf die grundsätzliche Bildlichkeit von Wohndiskursen. Die Rede von Wohnen als Bild und Vorstellung, bei Benjamin auch Phantasmagorien genannt (ebd., S. 52), impliziert das kulturelle und gesellschaftliche Gemachtsein der Wohnbilder. Vorstellungen des Privaten, Intimen, Häuslichen und Domestischen werden in Gemälden, Fotografien, Zeichnungen, Grundrissen, Architektur, Schaufenstern, Ausstellungsinstallationen, Filmen und Texten materialisiert. Flüchtig und vielgestaltig – nicht umsonst ist bei Benjamin von Illusionen und Phantasmagorien im Plural die Rede – re/formulieren sie ästhetisch strukturiert Ordnungen und Politiken des Wohnens, die stets mit Vorstellungen der Lebensführung zusammenhängen. Unter anderem deshalb ist es trügerisch, Wohnbilder als bloße Trugbilder zu bezeichnen, denn sie sind stets konstituierender Teil der alltäglichen Realität, wirken handlungsanleitend und normierend. Dennoch beinhalten sie in ihren imaginären Verdichtungen eine Spanne und Spaltung zwischen Alltag und gesellschaftlichen Idealvorstellungen und Bedingtheiten. In diesem Abstand verschwinden Wohnformen und Alltagspraxen, die hegemonialen Vorstellungen von Wohnen und Lebensführung nicht entsprechen, aus der Sichtbarkeit. Künste und visuelle Kultur produzieren Vorstellungswelten des Bewohnens, Wohnens und Verhäuslichens in spezifischen Bild- und Medienform(at)en und Darstellungsweisen. Sie machen das abstrakte Geflecht des Domestischen anschaulich und greifbar. Dieses lässt sich in Analysen an Politiken des sozialen Zusammenlebens rückbinden. Im Sinne der dreifachen Unterscheidung des Begriffs im Englischen (politics, policy, polity) sind darunter Prozesse, Inhalte und Strukturen zu verstehen, die hegemonial konzipiert, d.h. auf Fragen der Macht(-verteilung) und Vorherrschaft ausgerichtet sind. Da das gesellschaftliche Zusammenleben gemäß der herrschenden politischen Ordnung organisiert wird, zeigen sich die Normierungen und Regelungen auch oder vielmehr gerade im Wohnen. Die Sichtbarmachung dessen, was mit Wohnen in Verbindung gebracht wird, ist daher immer auch politisch zu verstehen: als Herstellung bestimmter Vorstellungen vom Wohnen durch deren Darstellungen. Wohnbilder sind „Schau_Plätze des Wohnwissens“ (Nierhaus/Nierhaus 2014), sie dienen der Vermittlung des Wohnens und sind zugleich stets Inszenierungen desselben. Wohnen ist in der westlichen Moderne seit 1800 gemeinhin als kultivierte Zivilisationspraxis konnotiert. Die Domestizierung im Sinne einer Zähmung der Natur macht dabei nicht bei der Nutzbarmachung und (häuslichen) Einhegung von Tieren halt, sondern betrifft auch die (gesell-

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schaftliche) Zurichtung auf Verhältnisse des (häuslichen) Zusammenlebens von Menschen und Pflanzen. Das Domestische meint aber nicht nur das Häusliche, sondern, wenn man den Begriff vom englischen Adjektiv domestic oder dem französischen domestique ableitet, auch das Heimische, Innerländische oder, allgemein gesprochen, die inneren Angelegenheiten. In diesem letzteren Sinne fasst das lateinische Adjektiv domesticus/-a/-um zudem das Familiäre, das Eigene und Eigentümliche sowie das Private.1 Im Domestischen werden Beziehungen zwischen Bewohner*innenschaft, Räumlichkeit und Objekten/Dingen gestaltet. Mit der Moderne werden diese Beziehungen als identitätsproduzierende Verhältnisse in Subjektivierungs- und Gemeinschaftsbildungsprozessen konzipiert, gelebt und fortwährend ästhetisch entworfen und in Bildlichkeit transformiert. Wenn dieser Band Häusliches und Domestisches in der visuellen Moderne seit 1800 in den Blick nimmt, wird die Sichtbarkeit des Wohnens in den Fokus gerückt. Aus einer historischen Perspektive bedeutet dies, dass bildliche Überlieferungen der Moderne einer betrachtenden Analyse unterzogen werden. Die Autor*innen des Bandes setzen sich mit Bildern des Wohnens und deren ästhetischen Strukturen auseinander. In konkreten Analysen sowie durch kulturelle, gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Kontextanalysen behandeln sie die Bildlichkeiten des Wohnens, des Häuslichen und des Domestischen in Geschichte und Gegenwart der Künste, der Visuellen Kultur und der Medien. In verschiedenen Bildsorten, Genres (u. a. Interieurbild, Stillleben, Familienszenen), in Bildstrategien und visuellen Verfahren werden Wohnen, Bewohnen und Bewohner*innenschaft zu sehen gegeben. Im Zeigen der Bilder werden (An-)Ordnungen, Prinzipien, Praxis und Poiesis von Wohnen, Häuslichem und Domestischem augenscheinlich. Die Bilder bringen Bedeutungsproduktionen und -verschiebungen hervor. Sie eröffnen Perspektiven auf das Mannigfaltige wie das Reproduktive, das Innovative wie das Affirmative der Bilder – und damit die Potenzialität des Bildlichen im Wohnen. Das Domestische ist ein Geflecht aus den unterschiedlichsten Diskursen zur gesellschaftlichen Formation des Wohnens bzw. des Wohnens als

1 Diese Charakteristika werden mit dem Substantiv domus in Verbindung gebracht, das in seinen verschiedenen Bedeutungsebenen eine Breite an (lebensräumlichen) Zugehörigkeiten definiert: Haus/Wohnsitz/Wohnung/Aufenthalt, Hausgenossenschaft/Familie/Geschlecht, philosophische Schule, Partei, Hauswesen/Haushalt, Heimat/Mutterland/Vaterstadt.

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normalisierender Aufenthalt innerhalb des Sozialen. Die Biopolitik des Domestischen ist daher ein entscheidendes machtstrategisches Moment der Regulierung und Regierung der Gesellschaft. Wohnen wird darin zum biopolitischen Handlungsraum. In seinen Schriften theoretisiert Michel Foucault grundlegend drei Begriffe, die untrennbar mit Biopolitik zusammenhängen, mit Wohnpraxen verwoben sind, im Wohnen stattfinden: Sexualität, Technologien des Selbst und Gouvernementalität. Vorstellungen und vor allem Bilder vom Wohnen regulieren Handlungsweisen oder stellen Reibungspunkte für eine kritische und künstlerische Auseinandersetzung dar. Beispielsweise wird Sexualität zumeist unsichtbar gemacht oder der bürgerlichen Konvention entsprechend visuell in Schlafzimmern und (andeutungsweise) auf Polstermöbeln verortet. Darin zeigen sich Technologien des Selbst durch die Ausstattung und das Ins-Beziehung-Setzen mit ausgewählten Wohndingen und -räumen. Das Gouvernementale unterliegt insbesondere Wohnratgebern und Wohnzeitschriften, wenn diese ihre handlungsanleitenden Regelkataloge formulieren. Bilder erweisen sich dabei als Vor-Bilder, die nachgeahmt werden und Handlungsweisen vorstrukturieren können und sollen. Ihre (bio-)politische Relevanz ist die ästhetische Ordnung des Wohnens, in und mit der Häusliches und Domestisches musterhaft und vorbildlich entworfen wird. So werden auch Geschlechterbeziehungen in die verschiedenen Bildgenres des Wohnens eingeschrieben. Thema des Bandes ist, wie Wohnen, das Domestische und Häusliche als beziehungsräumliche, materielle und psychische Umwelt historisch und gegenwärtig ins Bild gesetzt werden. Wie formieren und konfigurieren ästhetische Strukturen Vorstellungen des Wohnens? Wie bringen Visualisierungen des Materiellen und Räumlichen diese Vorstellungen hervor? Was tun, wie agieren Bildmedien, um Wohnen und Häuslichkeit zu erzeugen? Was wird ins Bild gesetzt, was angedeutet und was wird nicht zu sehen gegeben? Haben sich Bilder des Wohnens historisch verändert und wenn ja: wie? Wie werden Ordnungen, Normierungen und Idealisierungen des Domestischen bildlich angeordnet? Welche politischen und utopischen Vorstellungen verbinden sich damit? Wie produzieren Künstler*innen und visuelle Gestalter*innen Wohnen, wo bleiben sie in Konventionen verhaftet, woran knüpfen sie an, welche Bildlichkeiten kritisieren sie, welche entwerfen sie? Die Texte dieses Bandes gehen mehrheitlich auf die Vorträge der Tagung Ästhetische Ordnungen des Wohnens. Zu bildlichen Politiken des Woh-

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nens, Häuslichen und Domestischen in Kunst und visueller Kultur der Moderne zurück, die 2021 im Rahmen des Forschungsfeldes wohnen+/–ausstellen, stattfand.2 Sie verband die feministische Kritik mit Fragen nach den ästhetischen, kulturellen und politischen Bildkulturen des Wohnens. Die Autor*innen des Bandes kommen aus der Kunstwissenschaft, Kunst-, Architektur- und Designgeschichte und fragen nach konventionellen und unkonventionellen Bildverfahren und Darstellungsweisen zur Herstellung von Wohnen und Häuslichkeit und nach seiner Kritik. Die Auseinandersetzungen mit visuellen Praktiken und Strategien des Wohnens bzw. mit Bildkulturen des Wohnens werden in drei Bereichen vorgeführt: Im ersten Teil, ‚Im Interieur‘, werden Objektkonstellationen fokussiert, im zweiten Teil, ‚Zu Hause‘, sind Perspektiven auf die Darstellungsweisen der Bewohner*innensubjekte versammelt und im dritten Teil, ‚Grundriss‘, werden Ausstellungen und Politiken des Wohnens thematisiert.

IM INTERIEUR: EINBLICKE IN HÄUSLICHE OBJEKT- UND RAUMKONSTELLATIONEN Das Interieur ist ein Raum/Bild. Während der Begriff ‚Interieur‘ beispielsweise im Englischen und Spanischen (interior) oder Französischen (interieur) deckungsgleich ist mit dem Innenraum bzw. der Innenarchitektur, wird er im Deutschen eng mit der entsprechenden Gattung der Malerei assoziiert. Die kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Interieurs basiert stets auf der Analyse von bildlich dargestellten Räumen. Diese Bildräume entsprechen einer spezifischen Perspektive auf den dargestellten Raum, darin begründet sich die Bildhaftigkeit dieser Raumkonstellationen. Aus Perspektive der Wohnraumforschung interessieren Interieurbilder, insofern sie Darstellungen einer ästhetisch strukturierten häuslichen Ordnung des Wohnens sind. Sie zeigen Wohnen aus einer künstlerischen, dokumentarischen oder ökonomischen Sicht und das Wohnen zeigt sich wiederum in den

2 Das Forschungsfeld wohnen+/–ausstellen ist eine Kooperation des Instituts für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen mit dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender, siehe www. mariann-steegmann-institut.de. Die Tagung, die im Januar 2021 hätte stattfinden sollen, wurde aufgrund der Coronapandemie verschoben und fand erst im Juni 2021 statt.

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dargestellten Räumen, ihrer Ausstattung und Einrichtung. Die Bilder des Wohnens bieten somit Einblicke in Objekt- und Raumkonstellationen, über die sich Wohnen in seiner Summe überhaupt konstituiert (vgl. Muthesius 2009, S. 105). Insofern lassen sich die im Interieur gezeigten Objekte als ‚Wohndinge‘ auffassen – ein sprachlicher Begriff, der im Bremer Forschungszusammenhang zur Bezeichnung von Alltags- bzw. Gebrauchsgegenständen verwendet wird, die ihren Platz im Wohnraum haben und diesen komplettieren. Es sind gewissermaßen domestizierte Objekte. Eingepflegt in die Alltagssphäre des Wohnens wird ihnen ein häuslicher Status gegeben, sodass sie auf die Bewohner*innenschaft hin individualisiert, ihrer Warenförmigkeit entledigt zu sein scheinen. Die folgenden Beiträge setzen sich mit Einblicken in häusliche Innenräume auseinander und fokussieren die imaginierten Objekte oder verwohndinglichten Pflanzen in ihren Beziehungsweisen zueinander oder zu Subjekten. Su s a n S i d l au s ka s thematisiert in ihrem Text das Verhältnis des Malers Paul Cézanne zu den Dingen, die ihn in seinem Haus in Aix-en-Provence umgaben. Aufbauend auf ihrer differenzierten Analyse ausgewählter Werke des Malers, darunter weniger bekannte Zeichnungen wie die einer Jacke auf einem Stuhl und eines Armlehnstuhls, argumentiert die Autorin, dass Cézanne zwischen häuslichem Leben und Malerei weniger scharf trennte als gemeinhin angenommen, wenn er auch den Dingen des alltäglichen Gebrauchs mit Skepsis begegnete. In Bezug auf Freuds psychologische Theoretisierung des Unheimlichen, Nigel Thrifts Verständnis von sapient objects (weise Dinge) und Jane Bennetts Konzept der vibrant matter (lebhafte Materie) arbeitet Sidlauskas die Spannung und das Unbehagen gegenüber dem Häuslichen heraus, das sich in der Beziehung zu Alltagsgegenständen begründet und das Cézanne zeichnerisch und malerisch ins Bild setzte. Die Auslöschung unbehaglicher Eigenschaften von Pflanzen im ‚modernen‘ Wohnen behandelt A n n e t t e T i e t e n b e rg in ihrem Beitrag. Sie vollzieht kritisch die Genealogie der Nutzbarmachung bzw. Domestizierung der Monstera deliciosa und des Ficus elastica von mächtigen Urwald- zu ansehnlichen Zimmerpflanzen nach und beleuchtet hierbei den Zusammenhang zu kapitalistischen Entwicklungen und kolonialen Bestrebungen. Darüber hinaus zeigt sie auf, wie die beiden Pflanzenarten unter anderem von den Architekten des Neuen Bauens (planerisch) ins Neue Wohnen integriert wurden und hier ihren Beitrag zur neusachlichen Wohnatmosphäre leisteten. Fotografien zeugen von der skulpturalen bzw. dekorativen Wirkung der Pflanzen, wohingegen die Ins-Bild-Setzung des Gummibaums in gemalten

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Stillleben der Neuen Sachlichkeit narrativ aufgeladen wurde, unter anderem als Alter Ego von Künstlern. Die Symmetrie im Natürlichen als dekorativer Faktor für die Einrichtung in den 1920er und 1930er Jahren thematisiert auch B u rc u D o g r a m a c i in ihrem Text. Die Autorin fokussiert mit Kakteen eine andere Pflanzenfamilie, die in den 1920er und 1930er Jahren eine Blütezeit in der Wohnungseinrichtung erlebte – davon zeugen die Malereien und Fotografien, die die Autorin analysiert. Sie zieht beispielhaft prominente Kakteenliebhaber*innen (Walter und Ise Gropius, Rosa Schapire u.a.) und ihre Wohnungen heran, um der Frage nachzugehen, worin sich die Beliebtheit der Pflanzen und ihre ästhetische Einschreibung in Idealbilder des Wohnens begründet. Ergänzend dazu zeigt sie die Parallelen zwischen Wohn- und Kakteenratgebern auf, die seit den 1920er Jahren vermehrt auf den Markt kamen, und macht damit deutlich, dass die Kultivierung von Kakteen vor dem Hintergrund der Kultivierung des Zuhauses zu betrachten ist. Kontrastierend dazu reflektiert Dogramaci schließlich darüber, welche Prozesse angestoßen wurden, als die Zusammenhänge des Wohnens und Gestaltens durch die Dislozierung der Kakteenliebhaber*innen infolge der nationalsozialistischen Politik und der Wohn-Bilder mit Kakteen aufgelöst wurden. Die Frage nach der Rolle von Stillleben in der ästhetischen Ordnung des Wohnens untersucht A m e l i e O c h s. Ausgangspunkt ist eine Innenaufnahme des für die Werkbundausstellung 1914 realisierten Gelben Hauses von Bruno Paul. Daran wird gezeigt, wie mithilfe der Ins-Bild-, d.h. In-den-imaginären-Wohnraum-Setzung von (Blumen-)Stillleben Idealvorstellungen vom wohlständigen bürgerlichen Wohnen vom ‚langen 19. Jahrhundert‘ ins 20. Jahrhundert überführt wurden – und mehr noch: wie Stillleben diese Vorstellung komplettieren. Zugleich kann die Autorin über den Vergleich von Wohnratgebern des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wie auch im Rückgriff auf die Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration deutlich machen, dass Bilder in der Wohnungseinrichtung zunehmend weniger als Dekoration, sondern als isoliertes Einzelbild und als Kunst betrachtet wurden und sich damit ein Paradigma der Hängung von Kunstwerken in der Wohnung im 20. Jahrhundert etablierte. Das Spannungsfeld zwischen ‚hoher Kunst‘ und einem weiten Begriff von Gestaltung ist Thema bei P h i l i p p Z i t z l s p e rg e r. Anhand der sogenannten Zimmerbilder, einem spezifischen Genre des Biedermeier, wird vorgeführt, dass diese weniger dokumentarisch denn als idealisierte Darstellungen des Wohnens zu verstehen sind. Von diesen Repräsentationen des Wohnens ausgehend zeichnet er eine Entwicklung ästhetischer

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Ideale der Moderne nach, die schließlich zur Trennung von Kunst und Design führten. Diese als ‚Große Divergenz‘ bezeichnete paradigmatische Trennung, eine normative Neuausrichtung, die den gesamten Diskurs der Moderne bestimmt und spätestens am Beginn des 20. Jahrhunderts hegemoniale Züge annahm, sei nach wie vor virulent. Insbesondere zwei Aspekte hätten, so argumentiert der Autor, diese Spaltung seit um 1800 bedingt, nämlich die „Autonomie der [Umriss-]Linie“ und die Aufwertung des Sehens bei der Kunstwahrnehmung, die mit der Ablehnung des Tastens in diesem Kontext einherging. Den Einsatz häuslicher Objektformen und -konstellationen als Teil nationaler Narrative behandelt P i o t r Ko rd u b a anhand von Wohneinrichtungsinstitutionen in Polen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Augenmerk liegt dabei auf der Integration volkstümlichen Kunsthandwerks in Form von Gegenständen und Materialien in ‚moderne‘ Wohnkonzepte, worin der Autor trotz der unterschiedlichen historischen Rahmenbedingungen eine konzeptuelle Kontinuität von der Zwischen- in die Nachkriegszeit wie auch darüber hinaus eine propagandistische Motivation erkennt. Die Analyse beleuchtet Institutionalisierungsprozesse – wobei personelle Überschneidungen deutlich gemacht werden – und staatlich geförderte Ausstellungsprojekte im In- und Ausland (und ihre Kritik) sowie architektonische Vorbilder wie auch Werbestrategien. Anhand einer Auswahl vorbildlicher Wohnraumsituationen und Gegenstände wird deutlich gemacht, dass diese utopischen bildpolitischen Zuschnitte nachhaltig auf das kollektive Gedächtnis Polens wirkten und in den Wohnalltag eingegangen sind. Wie Interieurbilder eine erinnerungspolitische Funktion erfüllen können, ist Thema des Textes von A s t r i d S i l v i a S c h ö n h a g e n . Im Zentrum ihrer Analyse steht das Gemälde On the Road from Waterloo to Paris (1863) vom britischen Maler Marcus Stone. Die genrehafte Szene, die den französischen Eroberer Napoléon Bonaparte nach der Niederlage in der Schlacht von Waterloo als Gast in einem häuslichen Innenraum zeigt, folglich ‚privatisiert‘ und damit zu entmystifizieren sucht, deutet die Autorin als „Interieurisierung Waterloos im Historiengemälde“. Auf Basis ihres close reading dieses politisierten Interieurs argumentiert die Autorin, dass Stones bildliche Inszenierung vor dem Hintergrund zeitgenössischer viktorianischer, antinapoleonischer Politik zu verstehen ist, gleichsam eine „Echokammer“ dieser Politik darstellt. Der Analyse zufolge kann das Gemälde als visueller Diskursbeitrag zur Behauptung militärischer Stärke Großbritanniens wie auch zur Beschwichtigung der

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ebendort verbreiteten Angst vor einem neuen militärischen Erstarken Frankreichs unter Napoleon III. verstanden werden.

ZU HAUSE: ZEIGESTRATEGIEN DES SELBST Vergeschlechtlichung und Subjektivierung finden in (visuellen) Diskursen und Räumen statt. So basiert auch die häusliche Ordnung auf vergeschlechtlichten Strukturen und dient der Subjektivierung, die mit Michel Foucault zweifach zu begreifen ist: als Unterwerfung und als Selbstwerdung. ‚Zu Hause‘ – die Formulierung ist aufs Engste mit dem Wohnen verbunden – meint daher nicht nur eine räumliche Verortung, sondern als solche auch eine Zustandsbeschreibung. Zu Hause sind wir gesellschaftlich zugerichtet und ‚bei uns‘. Gerade in der Moderne wird der häusliche Raum zumeist mit dem Individualismus der Bewohnenden in Verbindung gebracht. Die Dimensionen der gesellschaftlichen Domestizierungsprozesse, d.h. hier besonders, dass Bewohnende sich gesellschaftlichen Normen ihres Geschlechts (und ihrer Klasse) gemäß einrichten, werden zum persönlichen Bedürfnis oder Erreichten konvertiert. Das Zuhause ist ein Ort des Sich-Zeigens, der Selbstdarstellung in seiner (vermeintlich) intimsten Form, was in Kunst und visueller Kultur augenfällig ist. Da können häusliche Situationen als Szenen zur (Selbst-)Porträtierung der Bewohnenden dienen. Auf solche (normierten) Zeigestrategien in ihrer Wechselbeziehung zwischen (Bild-)Raum und Subjekt nehmen die folgenden Beiträge kritisch Bezug. E l e n a Z a n i c h e l l i untersucht die Verschränkungen ästhetischer Ordnungen der Familie und ästhetischer Ordnungen des Wohnens in den Fotografien der afroamerikanischen Künstlerin Deana Lawson. Die Familienporträts, die zwischen 2009 und 2016 entstanden sind, greifen tradierte Muster der Familieninszenierung auf, um diese Ordnungen zugleich in Störmomenten zu kritisieren. Zanichelli begründet diese Betrachtungsweise unter anderem mit dem Konzept des ‚oppositionellen Blicks‘ von bell hooks. Weiterhin werden Zadie Smiths Interpretation von Lawsons Familienporträts herangezogen, um deren grenzübergreifendes, panafrikanisches Identifikationsangebot herauszustellen. Darauf aufbauend wird die Anwendung der Resonanztheorie von Hartmut Rosa auf familiäre und häusliche Konstellationen, die als Zufluchtsort in einer beschleunigten Gegenwart beschrieben sind, kritisch in den Blick genommen. Lawsons Familienport-

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räts zeigen allerdings häusliche Umgebungen, die nicht dem aufgeräumten, bürgerlichen – weißen – Ideal des familiären heimeligen Heims entsprechen. Der Beitrag der Wohnzeitschrift Schöner Wohnen zur Herstellung dieses Ideals ist Thema von Ro s a n n a Um b a c h . In ihren Analysen zeigt sie auf, wie in der Zeitschrift geschlechtsspezifische Rollen und soziale Normen (re)produziert werden. Ästhetisch strukturiert und didaktisch konzipiert motiviert die Zeitschrift ihre Leser*innen zur Selbst-Subjektivierung im Sinne eines ‚richtigen‘ Wohnens und zur Lösung von Problemen beim Einrichten. Herausgehoben wird, dass den Leser*innen das An/Ordnen als ordnungsstiftende Praxis mithilfe von Ende der 1970er Jahre vom Verlag Gruner + Jahr eigens herausgegebenen Sammeleditionen nahegebracht wurde. Auf Basis von Heften im Heft und Kärtchen mit Wohnanleitungen, die sich herauslösen und separat ordnen ließen, wurde das vorgeschlagene Wissen als ‚eigenes‘ Wissensarchiv des Wohnens der Bewohner*innen gebildet. Die Zeitschrift selbst, so die Autorin, sei darüber hinaus als ‚Archiv des Wohnwissens‘ zu begreifen. C h r i s t i a n e Ke i m beschreibt in einem close reading des Bildes Mr and Mrs Clark and Percy von David Hockney (1971) eine oft übersehene, doch zentrale Beziehungsweise des Wohnens: das Zusammenleben mit Tieren. Die Verbindung von Mensch- und Tierbewohner*innen zeigt eine hierarchisch strukturierte Mitbewohner*innenschaft. Mit Bezug auf zwei einschlägige Texte der Human-Animal-Studies, Jacques Derridas L’animal que donc je suis (2006) und Roland Barthes’ Comment vivre ensemble (2002), stellt die Autorin mit Sehen/Blickbeziehungen, Domestizierung/Domestikation, Namen/Benennungen zentrale Kategorien für die Analyse von Mensch-Tier-Beziehungen im Bild heraus und unterstreicht die Frage des Sehens und Gesehen-Werdens im häuslichen Beziehungsgefüge zwischen Tier und Mensch als grundlegend. Der Text von M i r a A n n e l i Na ß hat intime menschliche Beziehungen im häuslichen Raum zum Thema. Gegenstand der Analyse sind Lina Scheynius’ Fotografien, darunter Selbstporträts, aus den frühen 2000er Jahren. Diese zeigen (sexuell interagierende) nackte oder spärlich bekleidete Körper und Körperteile oder Körpersekrete, wobei das häusliche Umfeld den szenischen Rahmen darzustellen scheint. Da Scheynius darin einerseits tradierte Ordnungsmuster, wie insbesondere die Verortung von heteronormativer Sexualität im privaten, häuslichen Raum, zu reproduzieren scheint und andererseits als feministische Fotografin rezipiert wird, fragt die Autorin kritisch danach, inwiefern das Domestische in

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Scheynius’ Bildern ein Möglichkeitsraum feministischer Kritik sei. Sie kommt zu dem Schluss, dass Scheynius’ (Selbst-)Darstellungen zwischen feministischen Bildpraktiken der 1960er Jahre und dem heutigen Netzfeminismus zu verorten sind. Der private Wohnraum als künstlerische (Bild-)Strategie ist auch Gegenstand im Beitrag von P i e r re - E m m a n u e l d e L a B â t h i e . An fotografischen Inszenierungen von Pablo Picasso in seinem privaten, häuslichen Umfeld diskutiert der Autor die Herstellung von Künstlermythen, die die Wahrnehmung seiner Kunst und seiner Genialität unterstreichen sollten. Über diese intimen Bilder wird Picasso einerseits als ‚genialer‘ Künstler porträtiert, der beständig und überall, auch in seiner Wohnung, zu arbeiten scheint, und andererseits als Privatmann (vermeintlich) zugänglich. Für die von Picasso selbst gezielt geplante (Selbst-)Imagebildung, die bis heute nachwirkt, schienen Wohnräume das geeignete Setting zu sein, um ein vermeintlich authentisches Bild des Künstlers abzugeben. Zugleich ging diese Bildstrategie, die ikonografischen Variationen der Figur des Künstler-Bohemien entsprach, mit einer Ästhetisierung des Alltags als Einklang von künstlerischer Praxis und einfachem (Familien-)Leben einher. Den Zusammenhang von Kreativität und Häuslichkeit thematisiert auch Te m m a B a l d u c c i in ihrer Auseinandersetzung mit L’atelier rouge (1911) von Henri Matisse. Ihre feministische Lesart des Gemäldes schließt an die etablierte Sichtweise auf Matisse’ konzeptionellen Zusammenhang von Weiblichkeit und Kreativität an und erweitert diesen um die Dimension der Häuslichkeit. Die Autorin interpretiert das rote Atelier als uterusartigen Ort, der als Geburtsort der Kreativität konzipiert sei. Somit sei das Gemälde anschlussfähig an einen Diskurs über Gebärmutterneid, der um 1900 unter männlichen Künstlern etabliert war. Darüber hinaus weiche die weibliche Konnotation des Künstlerstudios durch das Zusammendenken von Häuslichkeit und weiblichem Körper von der konventionellen Interpretation dieser Räume als männliche Enklave ab.

GRUNDRISS: AUSSTELLUNGSPOLITIKEN DES WOHNENS Architektonische Grundrisse zeigen die Struktur von Gebäuden. Sie visualisieren die Raumaufteilung in zwei Dimensionen, manche geben Einblick in die Infrastruktur der Häuser. In der architektonischen Praxis stehen

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sie – neben den Aufrissen – am Beginn der Planung, dienen als Entwurfsgrundlage. In der Kunst- und Architekturgeschichte sind sie ein Schlüssel für das Verständnis von Gebäudestrukturen und -gestaltung. Grundrisse von Wohnräumen geben Aufschluss über die Einrichtung und damit auch die Zweckbestimmung der Räume, wenn Möbel in die Pläne eingezeichnet sind. Darüber hinaus lassen sich Anordnungen von Einrichtungsgegenständen auf oder mithilfe von Grundrissen ausprobieren. Somit ist der Grundriss Ausdruck und Instrument von Wohnpolitik(en). Über die Grundrisse lassen sich Gender- und Biopolitiken des Wohnens entwerfen und lesen. Dadurch manifestieren oder verändern sich beispielsweise Klassen- und Geschlechterverhältnisse, geografische, kulturelle und Altersunterschiede. Im übertragenen Sinne lassen sich auch Ausstellungen als Grundrisse, als Konzepte und deren Übersetzung in ein Raumdisplay begreifen. Je nach Perspektive schließen sie Gegenstände und Inhalte ein oder aus. Solche Ausstellungspraktiken lassen sich auch für die medialisierte Zurschaustellung des Wohnens analysieren. Die folgenden Beiträge diskutieren das Ausstellen von Wohnpolitiken und die Ausstellungspolitiken des Häuslichen. Gegenstand des Textes von P h i l i p p O swa l t ist der neunteilige Film Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? (1926–1928), der in Ausstellungen und wissenschaftlichen Kontexten aufgrund seiner historischen Filmaufnahmen des Dessauer Bauhauses nach wie vor stark rezipiert wird, obgleich das Bauhaus nur als ein Beispiel unter vielen in Bezug auf die titelgebende Frage vorgestellt wurde. Auf Basis einer breit angelegten Quellenrecherche werden die Konzeption und die Entstehungszusammenhänge des Filmprojekts aufgezeigt, an dessen Realisation der Architekt Richard Paulick maßgeblichen Anteil hatte. Darüber hinaus wird auf die medialen Wechselwirkungen zwischen Film und Architektur der 1920er Jahre verwiesen und werden die Bauhausbauten als ‚Reklamearchitektur‘ gelesen. Das Medium Film wird als wesentlich für die Imagebildung des Bauhauses analysiert, das dadurch gleichsam zur Marke wird – obwohl die Filmteile bei genauerer Betrachtung auch konzeptionelle Widersprüche in Gropius’ Architektur erkennen lassen, wie etwa die Reproduktion von Geschlechterund Klassenverhältnissen. E l i a n a Pe ro t t i widmet sich dem Schaffen von Lilly Reich, die ab 1932 als Leiterin der Weberei-Werkstatt und der Bau-/Ausbauabteilung am Bauhaus tätig war. In dieser Doppelfunktion deutet sich die Breite ihres gestalterischen Œuvres an, das von professionalisierten Stickereien und Unterwäschedesigns bis hin zu Wohn- und Ausstellungsarchitekturen reichte.

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Perotti fächert die einzelnen Etappen ihrer Schaffensphasen auf und streicht hervor, dass Stoff- und Körperlichkeit stets zentrale Bezugspunkte in der Gestaltung von Reich waren. Sie argumentiert, dass Reich durch ihre Arbeit mit Textilien – sei es bei der Herstellung fließender Körperbekleidung oder in der Verwendung von leichten Stoffbahnen als beweglichen Elementen der Raumteilung offener Grundrisse – ein Konzept der Befreiung von beengenden Strukturen verfolgte und variierte. Ja n E n g e l ke analysiert architektonische Zukunftsentwürfe in der Wohnzeitschrift Schöner Wohnen in den 1960er und 1970er Jahren. Er verfolgt die These, dass in der Zeitschrift die Vorstellungen dessen, was (möglicherweise) noch kommt, stets über das Konzept des Eigenheims rückversichert wurden. Während sich das Letztere – korrespondierend mit der Wohnungsbaupolitik in der jungen Bundesrepublik – subtil als feste Größe des idealen Wohnens manifestiert, wird Kommendes bis zum ‚Zukunftsschock‘ in den 1970er Jahren in vielfältigen Varianten ins Bild gesetzt und beschrieben. Folglich, so der Autor, werden trotz formaler Änderungsvorschläge für das Wohnen gesellschaftliche Verhältnisse und Geschlechterrollen fortgeschrieben. Zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt B e r n a d e t t e K re j s in ihrer Analyse von Wohnbildern auf der digitalen Plattform Instagram. Sie argumentiert, dass die alltägliche Präsenz von Idealbildern des Wohnens durch digitale Medien potenziert wurde und wird. Krejs entlarvt in ihrem Beitrag die spezifischen Produktionszusammenhänge und Strategien der Ökonomisierung, wobei deutlich wird, wie Instagram als Handlungsrahmen der User*innen die ästhetische Strukturiertheit der Posts mitbedingt. Die gezeigten Bilder treten dadurch trotz der Vielzahl unterschiedlicher Urheber*innen weniger vielfältig als vielmehr eintönig – clean – in Erscheinung. Vor diesem Hintergrund schlägt Krejs vor, das Handlungspotenzial digitaler Medien, die Teil unseres Alltags sind, zu nutzen, um Alternativen zu konventionellen Wohnbildern zu produzieren. A l e x i a Po o t h eröffnet eine Perspektive auf ein bisher unterbelichtetes Themenfeld: Künstlerhäuser in der DDR. Im Fokus auf die ehemalige Straße 201 in Berlin-Niederschönhausen zeigt sie, wie das ‚Privilegierte Künstlerwohnen‘ 1950/51 staatlich entworfen wurde. Als ‚Eigenheime für die schaffende Intelligenz‘ sollten Häuser in der sogenannten Intelligenzsiedlung errichtet werden, ohne dass zunächst ihre späteren Bewohner*innen an der Gestaltung beteiligt gewesen wären. Nichtsdestotrotz wurden letztendlich auch ‚Sondertypen‘ realisiert, die über die Grenzen der Typisierung

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und Normierung hinaus an die individuellen Bedürfnisse der Künstler*innen angepasst wurden. Pooths Beitrag unterstreicht, dass die Auseinandersetzung mit diesen Häusern die Möglichkeit birgt, über (privilegierte) Wohnund Arbeitsbedingungen von Künstler*innen in der DDR nachzudenken. B u r k h a rd M e l t z e r verhandelt das Einrichten des Ausstellungsraums mit Möbeln der 1990er Jahre bei Henrike Naumann. Ausgehend von einer Installation der Künstlerin im Kunstverein Hannover 2019 argumentiert Meltzer, dass es dabei um Einräumen – in Referenz auf die Wohneinrichtung und das alltägliche Leben – und Ausräumen – in Bezug auf den leeren White Cube und die Sphäre der Kunst – zugleich gehe, d. h. um das Spannungsverhältnis von Wohnraum und Kunstraum. Den vielgestaltigen Formen des postmodernen 1990er-Jahre-Designs stelle Naumann außerdem politische Antipoden in den Videos gegenüber, die Teil der Installation sind: Reichsbürger*innen und Neonazis als Protagonist*innen eines ‚Reinheitsdenkens‘. Die verschiedenen gesellschaftlich-ästhetischen Phänomene in der Situation der sogenannten deutschen Wiedervereinigung in den 1990er Jahren werden in der Installation verdichtet, was Meltzer zu einer Kritik an Jacques Rancières Gleichheitsparadigma zugunsten von ‚post-postmodernen Ungleichzeitigkeiten‘ veranlasst. Das Wechselverhältnis von Ausstellungsraum und Domestischem ist auch Gegenstand von Na n n e B u u r m a n s Kritik der Diskursformation um die erste documenta 1955 in Kassel, die maßgeblich von den Ausstellungsmachern hergestellt wurde: Während der Kunsthistoriker Werner Haftmann die unpolitische Innerlichkeit der abstrakten Kunst zu begründen suchte, bemühte sich der ehemalige Innenarchitekt Arnold Bode durch seine eigens entworfene (Ausstellungs-)Einrichtung um eine heimelige Atmosphäre im Museum Fridericianum. Dabei sei es laut Buurman nicht nur um die Herstellung von Gemütlichkeit in der Ausstellungssituation gegangen, sondern darüber hinaus um vielschichtige Biopolitiken bzw. biopolitische Argumentationsmuster zur Rehabilitierung (West-)Deutschlands als Kulturnation. Die Autorin zeigt, wie mit der Betonung von domestischen Idealen strategisch versucht wurde, politische und kulturelle Brüche zum Nationalsozialismus herauszustellen. Eine Auseinandersetzung mit dem Umgang mit domestischen Idealen fand zuletzt verstärkt im Rahmen der Coronapandemie statt. Dadurch dass der Großteil des Lebensalltags, Arbeit wie Freizeit, ins Wohnen verlegt wurde (und damit auch die bürgerliche Trennung der beiden Sphären vermeintlich endgültig aufgehoben wurde), regte – so scheint es – ein intensives

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Nachdenken darüber an, wie wir wohnen/leben wollen, wie Wohnen/Leben unter solchen Umständen (etwa in beengten räumlichen Verhältnissen oder in Isolation) möglich ist und gemäß welchen Vorbildern (eigene) Einrichtungs- und Repräsentationspraxen strukturiert werden (können). Nicht nur durch Diskussionen auf Konferenzen, in Publikationen und im Kontext von Ausstellungen3 zogen das Wohnen und seine ästhetischen Ordnungen und Politiken im Zuge der Pandemie zunehmend in den Wissenschaftsbetrieb ein. Videokonferenzen und Webinare machten Privaträume oder private Arbeitsräume der Beteiligten sichtbar. Die entsprechenden Softwares ‚zwangen‘ bzw. ‚zwingen‘ die Teilnehmenden, sich zu ihrem eigenen Wohnen und häuslichen bzw. mobilen Arbeiten ins Verhältnis zu setzen: Bildausschnitte der digitalen Videokameras gewähren kuratierte oder zufällige Einblicke ins Private, sie zeigen den hintergründigen Raum verschwommen oder dieser wird durch virtuelle Hintergründe unsichtbar gemacht – Letzteres auf die Gefahr hin, das eigene Gesicht in glitches, d.h. aufgrund kurzweiliger grafischer Fehler, im eigentlichen Wortsinn zu verlieren. Die Alternative dazu war die völlige Unsichtbarkeit des Wohnens und des eigenen Körpers, der durch die Repräsentation der eigenen Person durch ein Bild oder einen Namen substituiert wurde. Aussagen darüber, was Wohnen leisten musste, ob und wie es sich im Rahmen der Pandemie veränderte, wie und ob es nachhaltig sichtbar(er) wurde, lassen sich aus der geringen historischen Distanz und der wellenförmig andauernden Pandemie kaum formulieren. Allerdings wird es Aufgabe

3 Allein im kunstwissenschaftlichen Bereich widmeten sich z. B. folgende Veranstaltungen dem Thema: Interiors in the Era of Covid-19, online/Kingston University, 24.5.2021; Inside/Outside: The Built Environment and Dialogues between Interior and Exterior Space, online/University of Cambridge, 22.–24.9.2021; House, Home and the Domestic, Coventry University, 22.10.2021; Creative Homemaking: Visualising Home in Times of Crisis, online/University of Derby, 23.3.2022; Wohnen im/als Museum, online/Ruhr-Universität Bochum, 8.4.2022; Inne(n)Wohnen – Das Interieur als Medium, Technische Universität Dortmund/Kulturwissenschaftliches Institut Essen, 21.–22.4.2022; Translating Home: Views from the Diaspora, online/Rutgers University, 22.4.2022; Hitting Home: Representations of the Domestic Milieu in Feminist Art, online/ University of Johannesburg, 14.–17.11.2022. Darüber hinaus wurden aktuelle Wohn-Themen jüngst z.B. in folgenden Ausstellungen verhandelt: Home Stories. 100 Jahre, 20 visionäre Interieurs, Vitra Design Museum, 8.2.2020–28.2.2021; Ideales Wohnen, Museum für Gestaltung Zürich, 12.5.2020–28.3.2021; Wohnen einmal anders! Neue Wohnkonzepte für vielfältige Lebensmodelle, Kesselbrink 1, Bielefeld, 14.9.– 14.10.2021; Who’s Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt, Architekturmuseum der Technischen Universität München, 4.11.2021–6.2.2022; wohnen³ bezahlbar. besser. bauen., Hafenmuseum Bremen, 5.12.2021–3.7.2022.

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zukünftiger Wohnforschung sein, Effekte bzw. Überreste der pandemischen Wohnerfahrungen retrospektiv in den Blick zu nehmen und zu kontextualisieren – denn nicht nur die Pandemie macht(e) das Thema Wohnen virulent, hinzu kommen weitere Faktoren wie Wohnraumknappheit, Klima- und demografische Veränderungen. Daher kann es nicht nur um die Frage danach gehen, welche Bilder das Wohnen in der Pandemie strukturierten, sondern auch und darüber hinaus darum, welche Bilder entstanden, im Entstehen sind und welche übrig bleiben. Wie materialisieren sich Bilder des Wohnens? Welche Einblicke ins Wohnen werden ermöglicht? Welche Medien strukturieren die ästhetischen Ordnungen des Wohnens? Welche Politiken produzieren und reproduzieren sie? Welche Ästhetisierungen, Verklärungen und Unsichtbarmachungen gehen damit einher? – Und waren und sind die Veränderungen, Neuerungen und Chancen in der Wohnpraxis überhaupt so groß, wie sie uns momentan (noch) erscheinen? Welche Kontinuitäten werden fortgeführt, wo entstehen Diskontinuitäten? Diese Fragen sind den eingangs formulierten nicht unähnlich. Sie immer wieder und (er)neu(t) zu stellen, ist Aufgabe der kunstwissenschaftlichen Wohnforschung. Wohnen selbst wie auch seine ästhetischen Ordnungen und Politiken sind affirmierend wie wandelbar, Teil der sich wiederholenden wie erneuernden gesellschaftsformierenden Prozesse.

Dank Unser großer Dank gilt den Autor*innen für ihre kritischen Beiträge zu den ästhetischen Ordnungen und Politiken des Wohnens, des Häuslichen und des Domestischen. Wir bedanken uns sehr bei Amelie Ochs für die Redaktion des Buches und bei Rosanna Umbach für ihre Unterstützung dabei. Ulf Heidel danken wir für das deutschsprachige Lektorat, Edward Belleville und Joe O’Donnell für das englischsprachige Lektorat und Letzterem ebenso für die Übersetzung der Abstracts. Wir danken Franziska von den Driesch für die Bildbearbeitung. Christine Wichmann vom transcript Verlag danken wir für die Betreuung unseres Bandes. Nicht zuletzt geht unser besonderer Dank an Christian Heinz für die Gestaltung.

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Literatur

Benjamin 1982 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Bd. V.1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982. Muthesius 2009 Muthesius, Stefan: The Poetic Home. Designing the 19th-Century Domestic Interior, New York: Thames & Hudson 2009. Nierhaus/Nierhaus 2014 Nierhaus, Irene; Andreas Nierhaus: Wohnen Zeigen. Schau_Plätze des Wohnwissens, in: dies. (Hg.): Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, Bielefeld: transcript 2014 (wohnen+/−ausstellen, Bd. 1), S. 9–35.

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IM INTERIEUR: EINBLIC HÄUSLICH OBJEKT- U RAUMKONSTELL

CKE IN HE UND

LATIONEN Im Interieur: Einblicke in häusliche Objekt- und Raumkonstellationen

Most writers on Cézanne have emphasized the division between the painter’s domestic life and his studio practice. While the artist was demonstrably most comfortable when anchored before his motif, he did live for prolonged periods with his son and the mistress who would become his wife. While there is some truth to the assumption that Cézanne did not enjoy a conventional home life, he did not renounce it completely. Instead, he reimagined it by refusing to accept the commonplace that the objects we include in our living spaces recede with familiarity. As the artist moved through the rooms he occupied, the everyday became radically de-familiarized. Cézanne’s account of his horror of being touched is well known. Yet the desire to touch seems to be exactly what the artist provoked, and then deflected, as he orchestrated and transformed the objects within his domestic world.

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SUSAN SIDLAUSKAS CÉZANNE’S DOMESTIC UNCANNY Not long ago, Joel Meyerowitz published a book of photographs of the objects that Paul Cézanne kept in his studio in Aix: ceramic pitchers, vases, a glass carafe, a derby hat, a skull and a plaster after Pierre Puget’s Cupid. Aside from the last two, these pieces were likely lifted from the family home nearby. Despite their chips and cracks, Meyerowitz’s photographs erase the signs of their prior utility. They have been staged – perhaps, more precisely, consecrated – at the center of a pristine space that they never would have occupied in art or life while Cézanne was alive. Recognizing them from the artist’s paintings or drawings is both pleasurable and unnerving. In Cézanne’s still lifes, objects ride waves of drapery, cohabit mountains of pillows or huddle together like anxious congregants. The pieces that Meyerowitz photographed lead a solitary existence, even when they are seen as a collective. (Meyerowitz 2017) Most writers on Cézanne have emphasized the sharp division between the painter’s domestic life – if they concede that he had one – and his studio practice. While the artist was demonstrably most comfortable when anchored before his motif, he did live for prolonged periods with his son, Paul fils, and the mistress who would become his wife, Hortense Fiquet. Madame Cézanne’s relevance to both her husband’s life and his art has been contested, although the existence of over thirty oil portraits, multiple watercolors, and scores of drawings would seem to affirm that her presence was at least periodically meaningful to the artist (Sidlauskas 2009). While there is some truth to the assumption that Cézanne did not enjoy a conventional home life, he did not renounce it completely. Instead, he reimagined it by refusing to accept the commonplace that the objects we include in our living spaces recede with familiarity. As Cézanne moved through the rooms he occupied, the everyday became radically de-familiarized. In his catalogue raisonné of the artist’s drawings, Adrien Chappuis

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1  Paul Cézanne, Hortense Fiquet (Madame Cézanne) Sewing, c. 1880, pencil on pale cream wove paper, with laid and chain lines, 47.2 × 30.9 cm, Courtauld Gallery, London (Samuel Courtauld Trust)

describes Cushion on an Armchair, a graphite sketch of a half-made bed, an oversized pillow, and a bedframe pressed against a window, as “the kind of drawing Cézanne did when he was confined to his room” (Chappuis 1996, vol. I, p. 224 and vol. II, no. 959). Perhaps there is a different way to see these domestic vignettes, other than as signs of confinement.

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Consider the apparently unremarkable drawing of Hortense sewing, Hortense Fiquet (Madame Cézanne) Sewing (fig. 1). Look again, and the expanse of her unselfconscious gesture is constricted by a teetering pile of boxes and books and the knobbed chest from which they are about to fall. An overly assertive bed post both mimics and competes with the crown of her bent head, and the chair’s edges are at once sharp and illogical. Hortense’s chins are not simply doubled: they are quadrupled, before drifting downward to become her collar. Despite her partial confinement, the artist granted his wife the privilege of complete absorption. Her right index finger is coiled expertly to guide the knitting or embroidery needle in her hand. We can see both ends of this instrument, but nothing of what is between them. A sinuous line travels down the left edge of Hortense’s dress, only to magically turn into the length of fabric that may be in her hands. Despite the artist’s withholding of the object of his wife’s attention, the effect here is a keen, affectionate observation, a meditation on presence and absence, and the recognition that transformations can occur even while we are watching. While Madame Cézanne is not the central subject of this essay, before concluding I will consider her unexpected presence in a painting that has become emblematic of the most ambitious works Cézanne produced only in his studio. Ordinarily, we do not expect to be tripped up by a sudden shock within a domestic interior – unless someone has altered it without our consent, by relocation or substitution. But Cézanne’s bloated pillows, entangled fireplace tongs, and oddly assertive articles of clothing (such as the jacket arm flung atop the springy bowler hat in a drawing of 1884–87)1, often seem as if they are not so much waiting to be touched as straining to touch us. Merleau-Ponty believed that Cézanne was acutely and uncomfortably aware of the fact that “the body is a thing among things,” caught in the fabric of the world (Merleau-Ponty in Galen 1993, pp. 124f.). For Cézanne, particular objects set at unlikely angles, inexplicably attached to others seemingly unrelated, or crowded into nooks, alcoves and corners somehow resonated for him as bodies would have for anyone else. Perhaps the artist intuited what energy scientists of the 19th century had been asserting for decades, thereby laying the foundation for modern physics: that everything is moving, and everything is connected.2

1 2

See Chappuis 1996, vol. II, no. 951 (Derby Hat and Garment) and vol. I, p. 223. See Smith 1998 for the best account of the history of energy science.

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To understand what I take to be “Cézanne’s Domestic Uncanny,” I am borrowing Freud’s well-known concept of the Unheimliche, which he originally described as an experience of a place that had once been familiar, but now seemed positively strange (Freud 1955, pp. 217–252). For Freud, the Unheimliche conjured that which had been repressed. Over the past two decades, anthropologists, sociologists, literary scholars, philosophers and art historians have suggested a more nuanced way to accommodate the animacy and agency of objects, or as Bill Brown calls them, “things”: poised between the living and the inert, but fully anchored in neither territory (Brown 2004). Nigel Thrift has argued that in “sapient objects,” consciousness somehow becomes bound with materiality (Thrift 2005). Anthropologist Alfred Gell has considered the embedded human agency that is inevitably contained within the objects we regularly use (Gell 1998). Bruno Latour has written about the nonhuman force that hovers inevitably and persistently just below the level of agency (Latour 2005, pp. 87–120). Jane Bennett’s writing on what she calls “vibrant matter” (“a political ecology of things”) resonates in particularly illuminating ways with Cézanne’s variations on the uncanny. Bennett defines vibrant matter as “nonhuman powers circulating around and within human bodies,” and she argues for what she calls a “material vitalism” that flows through and around us (Bennett 2010, p. 2). I would suggest that Cézanne’s ‘vital objects’ supplied him with an opportunity to test, over and over, where he ended and the world began. I doubt that he ever resolved the dilemma, keeping himself, and in so doing, us, his viewers, suspended between the two, in a kind of activated interworld. The private domestic realm – a relatively recent idea in the history of civilization – assumed a new importance in the 19th century, and its equivocal status as a protective enclosure is one of that period’s more compelling subjects. No matter how fortified the walls of the domestic interior appeared to be, the world always managed to seep inside (Sidlauskas 2000). Cézanne himself was profoundly skeptical of any attempt to create a stable division between inside and outside, self and world. His houses often appear impenetrable; yet when a building’s openings are incorporated, they yawn like caves. Domestically scaled structures are riven by cracks or are at the mercy of the gnarled tree branches that seem poised to overwhelm them. The House with the Cracked Walls (fig. 2) is a case in point. Assuredly, it is uninhabitable. But if we step back from its obvious unfitness as a dwelling, we can see that the trees beside it are the obverse of the house’s structural incisions: ‘positives’ rather than

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2  Paul Cézanne, The House with the Cracked Walls, 1892–94, oil on canvas, 80 × 64.1 cm, The Walter H. and Leonore Annenberg Collection, Gift of Walter H. and Leonore Annenberg, 1993

‘negatives.’ The House with the Cracked Walls is no less an organic creation than the trees that appear poised to bear down on its walls. Consider The Balcony (Philadelphia Museum of Art), a watercolor painted around 1900 (Sidlauskas 2016): The broad, layered strokes of blue and green color – presumably an allusion to the foliage outdoors – seem to rush towards us with unnerving force. Vertigo threatens the viewer who tries to ‘enter’ the space, because there is nowhere to land. The decorative ironwork, in spite of its muscularity, as well as its height in relation to the viewer, offers no discernible protection. Nature’s un-

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stoppable momentum affirms that the boundary between self and world is both “permeable and reversible” (Connerton 2011, p. 980). Cézanne’s account of his horror of being touched (or more precisely, of someone getting their grappins into him) is well known, although I doubt that anyone fully accepts the explanation he repeated: that in his childhood, a boy kicked him in the rear while he was sliding down a banister (Bernard 2018, p. 70). Nonetheless, the artist felt compelled to offer an explanation for the powerful conjunction of two competing drives within his temperament: his intense desire for near-physical immersion in his motif, and his much professed horror at being touched. Yet the desire to touch seems to be exactly what Cézanne provokes, and then deflects, as he orchestrates and transforms the objects within his domestic world. The armchair he rendered in graphite and watercolor, Armchair (Fauteuil) (fig. 3), now in the Courtauld Gallery Collection, possesses the lived presence of a portrait. Like a throne, this chair presides over the artist’s delicately tiled floor in splendid isolation. The pillows prevent anyone from actually sitting upon it; perhaps a small child could be accommodated, but she would topple to the floor. And what about that extra chair leg? – presumably, the trace of a false start. Stranded as it is and denied its proper function, the solitary leg becomes a kind of doppelgänger, haunting the newer, functional, version. But the abandoned leg will not be ignored. The longer we study it, the more life it seems to contain. Its base resembles a tiny shoe – lifting its sole ever so slightly from the floor, as if it is about to walk away.3 Perhaps the most demanding of Cézanne’s domestic objects is his Jacket on a Chair (fig. 4). Writing in his 2017 catalogue for the exhibition Cézanne’s Metamorphoses, Alexander Eiling pronounced the watercolor with graphite a “disconcerting work.” He described the piece as “an animated still life that likewise serves as a landscape, sculpture and portrait of an absent person” (Eiling 2017, pp. 9, 33). Eiling’s colleague Juliane Betz pointed out that the apex of this singular piece of clothing is more than slightly remniniscent of Mount St. Victoire’s famous profile. Indeed, if we allow the central bulk of the coat to fill our field of vision, we sense not simply a malleable piece of fabric but what appears to be an aggregate of natural, if not quite identifiable, forms (Betz 2017, p. 79).

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On this watercolor see Ruppen 2017, pp. 107, 189–192.

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3  Paul Cézanne, Armchair (Fauteuil), c. 1885–90, graphite and watercolor and gouache on pale cream laid paper, 32.3 (l) × 31.6 (r) × 34.3 (upper) and 33.7 (lower) cm, Courtauld Gallery, London (Samuel Courtauld Trust) 4  Paul Cézanne, Jacket on a Chair, 1890–92, watercolor and graphite on paper, 47.5 × 30.5 cm, private collection

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Jacket on a Chair teams with life, its mass and weight a seemingly impossible burden for the springy chair legs on which it sits – a type of chair for which Cézanne seems to have had a particular affection.4 How in the world would one inhabit such a curious article of clothing? We might discern the beginnings of sleeves, but the coat seems to be made expressly to invoke, only to refuse, a potential wearer’s desire – not only by its illogical structure, but by its genuinely repellant features. Is this Cézanne’s own jacket? To be sure, it is not the dapper but somber attire of his youth; nor is it the battered black ensemble of his old age. But it is much like the workman’s jacket he wore in Pontoise in the 1870s when he, Hortense and Paul fils lived near Camille Pissarro, who portrayed his intensely earnest protégé in just such a garment (Camille Pissarro, Portrait of Cézanne, 1874, National Gallery, London). The few indications that this ungainly form with its surfeit of hollows and projections is somehow a repository for the human figure are not reassuring. Look at the hyperbolic roundedness of the sleeve, on our left, and the gaping maw of its counterpart on the right. While we might understand that these shapes could be functional, it is nonetheless impossible to imagine sliding one’s arms into those dark voids, either from the interior (which remains inaccessible), or from outside it, where a potential wearer would be confounded about where, and how, to begin. The jacket’s individual features border on the grotesque. The sleeve on the left, which thrusts down rather than limply sagging, looks positively elephantine. Its companion on the right resembles either the open mouth of yet another animal, or the canopied rim of a cave. What is presumably the back panel of the jacket, on the right, does not so much spill down the side of the chair as fall like a sack filled with rocks. A river of graceful curves loops down from an outcropping on the upper left edge. This must be a notched collar, with a seam lightly articulated along its interior edge. While the collar offers us a place to grip, the sensation would be akin to grabbing the edge of a rocky outcropping. The effect of condensed physicality in this theoretically inanimate object is reminiscent of the barely-contained power of a Hellenistic sculpture’s writhing torso.5

4 See the photograph taken by Gertrude Osthaus in April of 1906, illus. in Danchev 2012, p. 324. 5 Cézanne knew well The Belvedere Torso, 1st c. B.C. and the Laocoön, c. 40–30 B.C., both from the Vatican Museum, which provide ready precedents.

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The chair legs, bowed under the weight of the sculpted mass they are obliged to support, have unevenly rounded tips and multiply defined contours. They function mostly to lift the jacket off the ground and thrust it into the centrality of a portraiture subject. Long sweeping strokes of soft graphite, drawn nearly parallel to one another, further intensify the sensation of animacy. Graphite also defines both the coat’s organic contours and its looping interior curves, creating hollows of immeasurable depth. Inflections of color – deep gray and sienna tones applied with watercolor, give additional weight to the most ambiguous but dramatic shapes: those misbehaving sleeves, for example. Strokes of violet-blue first edge and then become the baseboard. Landscape associations are conveyed by a wash of the same tone that skims the left contour of the garment, and spills onto the wall. The notched collar, dashed with strokes of grey, evokes an animal poised to bite. After a recent study of Jacket on a Chair (Hauptman/Friedman 2021), I wonder whether there is not just one misshapen, half-alive garment here, but two – one atop the other in an impossible marriage, with neither actor deferring to the other. The larger forms that comprise the rounded, cave-like portion in the lower right, and the slightly flattened, but still disturbingly enormous sleeve on the left, are both inflected by colors darker and slightly denser than those above: a deeper steel grey, along with the wash of blue. We know that Cézanne allowed each layer he painted to dry before applying another, so we can assume that deepening the tonalities was deliberate. The landscape and living-still-life metaphors persist, whether there is one unruly garment or two. But the possibility of two garments suggests that the artist may be invoking a creaturely drama, with one ‘figural’ form (or surrogate) on top of the other. The lower form is by no means passive, writhing so powerfully that the ‘supremacy’ of the upper could easily be dislodged. Whether or not this particular reading is plausible, it remains true that the sensation of lived intensity is a quality that separates Cézanne’s domestic objects from everyone else’s. The effect seems especially potent in Jacket on a Chair – whether we choose to see what is before us as a garment, a condensed fragment of natural forms, or a portrait. The formal and affective transformation of fabric was one of Cézanne’s most compelling strategies. In Cézanne’s Metamorphoses, Eiling and his colleagues offered fresh insights into how to interpret such images: the draperies that float free of any support, sweeping dramat-

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5  Paul Cézanne, The Card Players, c. 1890– 92, oil on canvas, 135.3 × 181.9 cm, Barnes Foundation, Merion, Pennsylvania

ically across a wall; those which collapse inexplicably on the floor, or overwhelm the scale of the human subject nested inside them. The artist used fabric as an alternately porous or impenetrable medium that intervened between self and world, with the two alternately coming together or falling apart, sometimes within the very same image. This impulse of Cézanne’s seems to have found an especially fruitful and varied expression in the series of Card Players, all of which were painted during the 1890s (Ireson/Wright 2010). Until relatively recently, writers had not known what to do with this group of paintings. There was a frustration about the relative inexpressivity of the card players’ countenances, with the same criticism often leveled at the portraits of the artist’s wife, Hortense. Richard Shiff has taken up the problem of the interpretation of Cézanne’s ostensibly “underanimated figures and over-animated objects.” In relation to the Card

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Players, Shiff writes, “We expect to discover more life in people than in things. When technique has been applied uniformly without regard to distinguishing people from things we tend to judge the organic human elements as under-animated, while regarding the inorganic elements as over-animated. This is a common human prejudice and it can sway interpretation.” (Ireson/Wright 2010, p. 78) The subjects for the Card Player series were likely the gardeners and grounds-workers near Cézanne’s home. While two or three of the men may have occasionally posed together, it is far likelier that the figures were studied, and painted, one at a time. Meyer Schapiro famously pointed out that each of the figures, no matter how large the group, seemed to be playing a kind of “collective solitaire” that Shiff describes, in turn, as “a model of [Cézanne’s] own activity as an artist” (Ireson/Wright 2010, p. 83). Consider the costume worn by the card player who occupies the far right position in both the Metropolitan Museum and Barnes Foundation versions of the group.6 In the Barnes’ painting (fig. 5) the blue garment he wears both envelops and amplifies his figure, which seems to swell as we observe it. The coat’s shape hovers somewhere between a colossal turtle shell (particularly as the subject’s neck protrudes on the diagonal) and a Baroque opera curtain. There is the distinct possibility that the coat’s amplitude would have continued unabated if Cézanne had had a broader canvas. Sitting directly opposite the card player immersed in blue is the only subject of the series who has been identified: Paulin Paulet, a gardner at the Jas de Bouffon. Cézanne made multiple individual studies of him in oil, watercolor, and graphite, and included him in most of the group paintings.7 There is one painting of Paulet that has a special significance to my meditation on Cézanne’s ‘domestic uncanny.’ He was the model for the Smoker (fig. 6), for which he seems to wear the same brown jacket and pants he wore in most of the Card Player series, including the painting that included his daughter.8 In Man Smoking a Pipe, Paulet is presented in a pose not unlike that of the melancholy philosopher. His head is tipped

6 It is believed that the Barnes version was the first of the large groups, and the Metropolitan Museum of Art’s the second, although both are dated 1890–1892. 7 Paulet’s daughter Leontine modeled for the child included in the Barnes version (Ireson/Wright, p. 17). 8 For more on Paulet, see Ireson/Wright 2010, pp. 15–29.

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6  Paul Cézanne, Man Smoking a Pipe, c. 1890–92, oil on canvas, 91 × 72 cm, State Pushkin Museum of Fine Arts, Moscow

into a large, squarish hand, and he leans heavily on his elbow. In fact, his entire upper body rests rather stiffly upon the fulcrum of his right arm. From that anchoring elbow on the table across to his left shoulder, on our right, he is framed by a dense, unidentifiable, landscape with the dark, jewel-like intensity of a stained glass window. Paulet’s pants are rendered in tones of umber, russett and golden orange, with passages of warmed grays; the musculature of his left leg, in particular, is imagined through the surface contours of the pants. His (mostly) white and blue-toned shirt is carefully buttoned, as is his vest. The shirt beneath the vest fans out below like a sheaf of drying leaves, folded upon one another, dotted by small but sparkling white buttons. Paulet appears lost in thought, or perhaps he is politely weary at the artist’s request to stay in this position. When we widen our view, we see

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that this apparently solitary man is not exactly alone. In the upper right corner is an instantly identifiable portrait of Madame Cézanne (fig. 7). Although we are not given a glimpse of Hortense’s head, key idiosyncratic features of the original portrait have been maintained here: the exposure of the arm above the wrist, along with the limb’s relative shortness, and the disturbing angle at which her wrist is turned upward. The slightly curved centerline of her dress in the Detroit portrait is also reiterated, as is much of the original’s blue and clay-red coloration. In fact, even as edited, Hortense’s figure is as densely and brightly painted as the ‘human’ subject she accompanies. Her painting-within-a-painting is unframed and its lower left corner is rolled up, which is both a reiteration and displacement of one of the original portrait’s more enigmatic features: the huge roll of fabric – a drapery or canvas of some kind that occupies most of the painting’s left edge. In this re-appearance, the constellation of autumnal colors meshes nicely with those of Paulet’s jacket.

7  Paul Cézanne, Madame Cézanne, c. 1886, oil on canvas, 100.6 × 81.3 cm, Detroit Institute of Arts, bequest of Robert H. Tannahill

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Why is this portrait of Hortense included here? Perhaps the visitors who came to Cézanne’s studio shortly after Ambroise Vollard’s 1895 exhibition of his work in Paris might illuminate us. Contrary to his fierce reputation, Cézanne welcomed a number of visitors with, at the very least, good manners. With some, he developed a relationship of great warmth. Indeed, he became quite close to Émile Bernard’s entire family, which included two young children (Doran 2001, pp. 72–79). Many of Cézanne’s visitors commented on the chaos of the artist’s studio, citing paintings unframed and abandoned, and piles of watercolors seemingly discarded, lying on the floor. The disorder is mentioned by many writers; one of the more eloquent accounts is by Jules Borély, who visited Cézanne in 1902 (ibid., p. 21). While it is true that this painting within a painting is unframed, it has certainly not been ‘abandoned.’ An oil painting discarded is one thing; a finished work that is chosen to effectively become part of another is a different thing entirely. The portrait of Hortense had been painted a full decade before the image of Paulet. Yet, Cézanne took pains to emphasize that this was not a casual inclusion, calculating the precise distance he wanted between Paulet and the representation of his wife. Originally, the rolled-up edge of Hortense’s painting-of-a-painting was much closer to Paulet’s shoulder – indeed, the shoulder and canvas almost touched. But even a quick study of the area affirms that Cézanne deliberately increased the interval between the two by painting over the left shoulder (on our right) of Paulet’s jacket. There are other formal and conceptual links between the two: in the Detroit portrait, Hortense’s right arm, on the figure’s left, is textured through a series of folds in the fabric. While these are only lightly included in the later work, something of their structural intervention has been transferred, and amplified, in the painting of her unanticipated companion, the card player. Paulet’s left sleeve expands as if composed of successively wider rings or pads of fabric, which become larger and larger as they travel downward, like the stacked wooden donuts of a child’s toy (or a giant, unevenly proportioned caterpillar) to terminate in a boneless but elegant hand that seems to melt over Paulet’s thigh. This may not literally be a portrait of a marriage, or the conjunction of home and studio. But, on the other hand, it just may be. The family spent a long interlude together in Switzerland in 1896. Cézanne’s friends liked to say that the artist’s time there “pained him” (Rewald 1995, pp. 250–251). But consider the luminous work he made there, one

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of his most arresting landscapes: the Lac d’Annency (Courtauld Gallery, London), painted while he was sharing a dwelling with the wife who has been so maligned. Cézanne did not simply paint where he dwelled. He dwelled where he painted.

——————————— My thanks to Amelie Ochs, Irene Nierhaus and Kathrin Heinz for the invitation to contribute to the June 2021 symposium, “Aesthetic Orders of Dwelling,” the impetus for this book. The June gathering was not only a great pleasure; it was ingeniously organized, despite the pandemic. Lini Radhakrishnan, a Rutgers PhD student, took time from her dissertation on Mary Cassatt to provide indispensable help in organizing the images, and Fabienne Ruppen of the Staatliche Kunsthalle in Karlsruhe provided key information with her customary generosity. Finally, I want to extend my gratitude to Curators Jodi Hauptman and Samantha Friedman, not only for their extraordinary exhibition at the Museum of Modern Art, Cézanne Drawing (June 6–September 25, 2021), but for the study evening that encouraged me to strengthen the interpretations offered here.

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Credits

Fig. 1: Hortense Fiquet (Madame Cezanne) Sewing, Cézanne, Paul, 1839–1906, photo credit: Courtauld Institute. Fig. 2: Bequest of Walter H. Annenberg, 1993. 4002. Fig. 3: Armchair – Fauteuil, Cézanne, Paul, 1839–1906, photo credit: Courtauld Institute. Fig. 4: Private collection. Fig. 5: The Barnes Foundation, Merion, Pennsylvania. Fig. 6: HIP/Art Resource, NY. Fig. 7: Detroit Institute of Arts, USA© Detroit Institute of Arts /Bequest of Robert H. Tannahill/Bridgeman Images.

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The Swiss cheese plant, Monstera deliciosa, and the rubber tree, Ficus elastica, are conspicuously represented in ‘good living’ guides, advertizing brochures and architecture magazines from the 1920s, 1930s and 1950s. Architects used such publications to induce the residents of buildings they had designed to adopt a furnishing style and to select and position indoor plants in keeping with the program of the Neues Bauen movement. They regarded the Ficus elastica, with its synthetic quality, and the decorative Monstera deliciosa as integral elements of their architectural concepts, and they featured these plants in photographs and exhibitions designed to circulate images of domestic living based on the aesthetic standards of the New Objectivity (Neue Sachlichkeit). The integration of tropical plants into European and North American living rooms on the one hand imbued the constructed order of modern dwelling with a sense of naturalness. On the other hand, it extended the New Objectivity’s civilizing triumph of the rational over the danger of disorientation, libidinousness, and loss of control to plants taken from the ‘primeval forest’: rampant climbing plants and reckless tree stranglers from the Amazon were transformed in the living space into elegant, socially acceptable, modest houseplants. This paper not only considers the hitherto largely ignored connection between these design elements and colonial history. It also positions them in the context of international trade in the 19th and 20th centuries.

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ANNETTE TIETENBERG WO DAS DOMESTIZIERTE UND DAS DOMESTISCHE SICH BEGEGNEN: MONSTERA DELICIOSA UND FICUS ELASTICA ALS KOMPONENTEN DES WOHNENS IN DER ‚NEUEN SACHLICHKEIT‘ Monstera deliciosa, zu Deutsch Köstliches Fensterblatt, und Ficus elastica, hierzulande umgangssprachlich schlicht Gummibaum genannt, sind derzeit überaus beliebt (vgl. Siebeck 2015). Sie erweisen sich als fotogen und machen sich daher gut im Home-Office und in Blogs (Abb. 1). Die Corona-Pandemie und die mit ihr einhergehende tägliche Bildwerdung der im heimischen Büro Tätigen hat den urban-jungle-Trend verstärkt (Spano et al. 2021), ja einen regelrechten „Pflanzenwahn“ (Propson-Hauck 2021) ausgelöst. Die derzeitige Sammelwut von dekorativen Zimmerpflanzen, so ist in Zeitungen und Lifestyle-Magazinen zu lesen, sei vergleichbar mit der Tulpenmanie im 17. Jahrhundert. Wie damals das osmanische Liliengewächs, so würden heute die großblättrigen Zimmerpflanzen zu Spekulationsobjekten. Junge Leute seien ohne Weiteres bereit, „500 Euro und mehr für eine Monstera auszugeben, die sich dadurch auszeichnet, dass jedes einzelne Blatt einen unterschiedlich hohen Weißanteil hat und damit gescheckt, panaschiert, leicht gestreift oder mit einer Art Halbmond versehen ist, was die Besitzer in höchstes Entzücken versetzt, das umso größer ausfällt, je öfter es in den sozialen Medien geteilt wird.“ (Ebd.) Zudem gibt es eine unübersehbare Anzahl von Deko-Artikeln, die auf das charakteristische Blatt der Monstera deliciosa anspielen, darunter Fototapeten,

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1  Einträge im Blog Urban Jungle, Bildschirmfoto (15.1.2022)

Duschvorhänge, Tisch-Sets, Untersetzer, Wandleuchten, LED-Tischlampen, Kunststoffattrappen, Ohrringe und Schmuckanhänger. Meine These lautet: Die Begeisterung, die diese tropischen Pflanzen gegenwärtig bei der europäischen Mittelschicht wecken, ist alles andere als voraussetzungslos. Sie ist das Ergebnis eines langwierigen Prozesses der Domestizierung und des Einhegens der einst in Südamerika und Nordostasien beheimateten Urwaldgewächse (vgl. Maunders 2015) in das Häusliche, in das Domestische. Die Integration der Pflanzen in die ästhetischen Ordnungen des Wohnens soll – zumindest in Ansätzen – im Folgenden mit Methoden der Visual Culture Studies rekonstruiert werden. Zu diesem Zweck stelle ich zunächst zeitspezifische Inszenierungsformen der Zimmerpflanzen anhand von exemplarischen Beispielen in Architekturfotografien der 1920er und 1930er Jahre vor. Anschließend gehe ich der Frage nach, was gerade diese immergrünen Gewächse dazu prädestinierte, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit weißen Wänden und Möbeln aus Glas, Chrom und Stahl in Beziehung zu treten. In diesem Zusammenhang finden auch bildliche Repräsentationen in Fotografien und in gemalten Stillleben der 1920er und 1930er Jahre Berücksichtigung. An-

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schließend betrachte ich Monstera deliciosa und Ficus elastica „im Rückspiegel der sich beschleunigenden Bewegungen von Eroberung, Kolonisierung und Extraktion“ (Harrasser 2018, S. 274). Und schließlich reflektiere ich die Importe der ‚Neuen Welt‘ im Kontext von Wohnmodellen, die von der Ideologie des ‚Neuen Menschen‘ der Moderne geprägt sind.1

DIE ATMOSPHÄRE ,NEUER SACHLICHKEIT‘ Architekten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts programmatisch für das ‚Neue Bauen‘ eintraten, sahen, wenn sie Villen und Einfamilienhäuser entwarfen, zumeist auch die damit verbundene Gartengestaltung als ihre ureigene Aufgabe an. Sie strebten einen Gleichklang zwischen der Bepflanzung des Gartens und den Materialien im Innenraum an; die Elemente der Landschaft sollten eine regelrechte ‚Natur des Hauses‘ konstituieren. „Die Maserung des Holzes, die Faser des Textilen, die kristalline Struktur und Zeichnung der geschnittenen Steinwand, die Wasserfläche des Wintergartens, die Panoramascheiben, die die alte Trennung zwischen Wohnen und Landschaft minimieren“ (Nierhaus 2010, S. 35), wurden regelrecht exponiert. Die Betonung der Stofflichkeit der korrelierenden Elemente im Innen- wie im Außenraum, die nicht nur den Sehsinn, sondern auch den menschlichen Tastsinn ansprachen, trug erheblich zur Akzeptanz, ja zu einer Naturalisierung der Gestaltungsprinzipien und der Raumauffassung der Moderne bei. Im deutschsprachigen Raum stellte in dieser Hinsicht Peter Behrens’ Vorgehensweise einen Orientierungspunkt für eine Architektengeneration dar, die mit sogenannten Architektengärten professionellen Gartengestaltern Konkurrenz machte. Behrens, der schon 1901 auf der Darmstädter Mathildenhöhe sein Wohnhaus sowie den dazugehörigen Garten in ein symmetrisches Gesamtkonzept eingepasst und im Rahmen der Ausstellung Ein Dokument deutscher Kunst einer Fachöffentlichkeit vor Augen geführt hatte, veröffentlichte 1930 einen Aufsatz mit dem Titel Neue Sachlichkeit in

1 Distanzierend werden hier Bezeichnungen in Anführungszeichen gesetzt und damit ausgestellt, deren ideologische Dimension im Text untersucht werden soll, so die ‚Neue Welt‘, die nur aus Sicht europäischer Eroberer ‚neu‘ war, aber auch ‚Neue Sachlichkeit‘, ,Neues Bauen‘ und ,Neuer Mensch‘, die die Moderne über die Metaphorik des Bruchs mit Traditionen definieren und biopolitischutopische Entwürfe propagieren. Vgl. Groys 1992; Groys/Hagemeister 2005.

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der Gartenformung. Darin heißt es: „Unser Kunstwollen ist die Sachlichkeit, und beim Gartenbauen kann es nicht die heute noch so vielfach willkürliche Anwendung von greifbarem Pflanzenmaterial zu dekorativen Zwecken sein, sondern da sind Wachstumsbedingungen zu schaffen oder zu verwerten. Das Wesen des Gartenschaffens ist ein gegenseitiges Durchdringen von Natur und Menschenwerk. Hierin liegt die grosse Kunst des Gärtners, wenn er den künstlerischen, biologischen und botanischen Sinn hat, die Pflanzen, die zueinander und zu ihrem Standort passen, auszuwählen und mit System und künstlerischem Sinn verwildern zu lassen.“ (Behrens zit. n. Ammann 1940) Behrens formulierte diese Grundsätze im Hinblick auf die Konzeption von Gärten. Die Betrachtung von Architekturfotografien, die um 1930 als Reproduktionsvorlagen entstanden sind und in Fachbüchern oder -magazinen veröffentlicht wurden (vgl. Platz 1933), lassen aber den Schluss zu, dass er im Innenraum ähnlichen Naturalisierungsprinzipien folgte. Das „gegenseitige [...] Durchdringen von Natur und Menschenwerk“ erzeugte den Anschein, die konstruierte Ordnung des Wohnens sei naturgegeben und somit nicht zu hinterfragen. So wurden die Pflanzen nicht nur sorgsam ausgewählt, sodass sie ideal zum Standort passten, sondern auch mit System im Raum positioniert. Die exponierten Gewächse brachten durch ihre Größe, ihre skulpturale Anmutung, ihre Blattstruktur und die Art und Weise, wie sie die Möbel ‚rahmten‘, den gewünschten Effekt von ‚Neuer Sachlichkeit‘ hervor. Was darunter zu verstehen ist, hat der Fotohistoriker Herbert Molderings treffend beschrieben: Die sich formelhaft im Bild manifestierende Atmosphäre ‚Neuer Sachlichkeit‘ sei der Fähigkeit der Fotograf*innen der 1920er und 1930er Jahre zu verdanken, „in allen Dingen ein in Natur und Technik einheitlich wirkendes Formprinzip hervorzukehren“ (Molderings 1977, S. 73). Wie eine Aufnahme von Max Göllner zeigt (Abb. 2), sticht durch die gewählte Perspektive der konstruktiv-strukturelle Aufbau der Architektur wie der Pflanzen gleichermaßen hervor. Göllner erhielt Anfang der 1930er Jahre den Auftrag, die Villa Gans in Kronberg ins Bild zu setzen, die von 1929 bis 1931 nach Entwürfen von Peter Behrens errichtet worden war. Auf Göllners Schwarzweißfotografie treten der architektonisch gestaltete Innenraum, die gezähmte Natur in Gestalt einer Zimmerpflanze und der kultivierte Außenraum gleich in mehrfacher Hinsicht in Relation zueinander. Zum einen ist durch das große, horizontale Fenster der Villa Gans eine hügelige Kulturlandschaft mit Bäumen zu sehen, die akkurat in Reihe gepflanzt sind. Zum anderen fällt der Blick, gelenkt durch

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2  Peter Behrens, Landhaus im Taunus, 1932; Blick von der Veranda auf die Hauptterrasse der Villa Gans in Kronberg, 1929–31; Fotografie: Max Göllner

eine doppelflügelige Glastür, auf eine weiträumige, sonnenbeschienene Terrasse. Dort befinden sich Tisch und Sitzmöbel sowie zwei Kübelpflanzen, die in voller Blüte stehen. Für den Innenraum, genauer gesagt für die Veranda, die als Passagenraum zwischen Interieur und Exterieur fungiert, wurde eine einzelne Pflanze ausgewählt, die durch ihre wechselständigen, ausladenden und dadurch leicht voneinander zu unterscheidenden Blätter gekennzeichnet ist: ein Gummibaum, ein Ficus elastica. Wie die Kübelpflanzen auf der Terrasse steht er direkt auf dem Boden und nicht etwa auf der spiegelglatt polierten marmornen Fensterbank. Sein weißer Keramikübertopf ähnelt optisch einem Sockel, was die skulpturale Inszenierung unterstreicht. Ebenso verhält es sich, wie eine weitere Fotografie von Göllner veranschaulicht, im Wohnzimmer der Villa Gans, wo eine Agave als Solitär im weißen Übertopf mit Bedacht in Fensternähe platziert wurde (Zimmermann 1932, S. 37). Die Atmosphäre von ,Neuer Sachlichkeit‘ wird dadurch gesteigert, dass Göllners Fotografie den Eindruck erweckt, der Gummibaum befände sich

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in einer Vitrine. Das horizontale Fensterband rechts, das vertikale Fenster, das ihn hinterfängt, die Tür, die zur Terrasse führt, ja selbst die kassettierte Decke, die im Bild links oben zu erkennen ist, sind aus Glas. Dieses Material ist hier nicht nur als „Metapher für Immaterielles“ (Hoormann 2007, S. 135) zu verstehen, sondern auch als Referenz von Behrens’ Villa Gans an den „Ursprung aller Architektur aus Eisen und Glas im Sinne der Gegenwart“ (Meyer 1907, S. 55) zu deuten: das Gewächshaus. Seit dem 18. Jahrhundert als Ort der „Kultivierung sowohl von Pflanzen als auch von Menschen, die in den Gewächshäusern die Leistungen der Zivilisation bestaunen sollten“ (Dobryden 2017, S. 29), gefeiert, ging im 19. Jahrhundert mit der Möglichkeit, bürgerliche Wohnhäuser in Europa relativ kostengünstig mit Wintergartenanbauten zu versehen, eine Verschiebung der Bedeutung des Gewächshauses einher. Der Wintergarten wurde, wie von Émile Zola im Roman La Curée (1871/72) anschaulich geschildert, zum Wunschbild einer vorindustriellen Idylle, zum Treibhaus des Exotismus und der erotischen Fantasien. An die Stelle eines solchen Wintergartens, der mit Palmen, „mit Ritterrüstungen und Raubtierfellen, mit arabischen Sitzmöbeln und japanischen Wandschirmen“ ausgestattet war (Koppelmann 1988, S. 49), um die Fantasie der zivilisationsmüden Bewohner*innen anzuregen, tritt im frühen 20. Jahrhundert programmatisch die von allem Symbolischen und Metaphorischen entleerte Veranda der ‚Neuen Sachlichkeit‘. Ihr Credo lautet: vollkommene Transparenz. Hier gibt es keine geheimen Triebkräfte. Dafür aber einen immergrünen Gummibaum, der so pflegeleicht und genügsam daherkommt, als sei er, ebenso wie die Keramikschale auf der Fensterbank, als nützliche Zweckform konstruiert. Seine Existenz im Wohnbereich ist damals nicht nur ästhetisch und ideologisch motiviert, sondern auch tatsächlich zweckrational zu begründen gewesen: Seit den 1920er Jahren war bekannt, dass Pflanzen zur Luftverbesserung im Innenraum beitragen – und daher der Hygiene dienen. „Für die Architekt*innen des ‚Neuen Bauens‘ waren die Vorgaben der Hygieniker*innen nicht allein Referenzrahmen, sondern vielmehr Orientierungsmarke ihres Tuns.“ (Keim 2016, S. 209) So verwundert es nicht, dass auch andere Vertreter des ‚Neuen Bauens‘ den Gummibaum – neben dem Kaktus (vgl. Pohlmann 2019) – als Gestaltungselement für sich entdeckten. Fotografien, die zur Publikation vorgesehen waren, dokumentieren, dass in der 4-Zimmer-Wohnung, die Marcel Breuer 1930 für die Kulturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Grete Weissenstein in der Rudolstätter Straße 9 in Berlin-Wilmersdorf eingerichtet hatte, hinter dem von Breuer entworfenen Daybed nebst einer Glasscha-

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le ein Gummibaum auf dem Regal stand (vgl. Platz 1933, S. 246). Dieser war allerdings in Marcel Breuers Grundriss, der die Platzierung der Möbel vorgibt, nicht verbindlich fixiert.2 Architekten wie Gabriel Guevrekian legten in ihren Entwürfen hingegen eindeutig fest, wo welche Pflanzen ihren Standort haben sollten (vgl. ebd., Tafel XIII). Und auch Ludwig Mies van der Rohe fühlte sich bei Planungen von Neubauten für die Auswahl der Pflanzen zuständig und beschränkte sich dabei keineswegs auf Außenanlagen. Ebenso wie Peter Behrens verstand Ludwig Mies van der Rohe Garten und Haus als Einheit. Daher zeichnete er beispielsweise in seinen Entwürfen zur Villa Tugendhat in Brünn (1929/30) minuziös die Standorte von tropischen Pflanzen wie Ficus elastica und Monstera deliciosa im Wintergarten ein.3 Seine Vorgaben wurden im Laufe der Zeit sogar immer rigider. In den 1950er Jahren gab er nicht nur eine vorbildliche Möblierung, sondern auch Ficus elastica und Monstera deliciosa im Aufriss der von ihm geplanten typical apartments in Chicago vor. Wie eine Werbebroschüre zum Apartment Building Lakeshore Drive (1949–1951) erkennen lässt, ist die auf dem Boden stehende Monstera – von oben dargestellt – im Grundriss eindeutig zu identifizieren (Abb. 3). Demnach erwartete der Architekt von den künftigen Bewohner*innen seiner Hochhäuser am Michigansee wohl nicht nur, dass sie seinen Barcelona-Sessel erwarben und nutzten. Er legte ihnen auch nahe, ihre Zimmerpflanzen dort aufzustellen, wo er dies vorgesehen hatte. Festzuhalten ist: Sofern sie nicht direkt mit ihren Auftraggeber*innen in Kontakt standen, nutzten viele Architekten in den 1920er, 1930er und 1950er Jahren4 ihre publikatorischen Möglichkeiten, um die anonyme Bewohnerschaft der von ihnen entworfenen Bauten dazu zu veranlassen, ihren Einrichtungsstil, aber auch die Auswahl und Platzierung von Zimmerpflanzen der Programmatik des ‚Neuen Bauens‘ anzupassen. Sie interpretierten Ficus elastica und Monstera deliciosa als integrale Bestandteile ihres architektonischen Konzepts und setzten Fotografien und Architekturdarstellungen gezielt ein, um Bilder des regelgerechten Wohnens

2 Der Grundriss ist zu finden im Marcel Breuer Digital Archive, Nr. 395: Grundriss Rudolstätterstr. 9 (nr. 395), https://breuer.syr.edu/xtf/view?docId= mets/20966.mets.xml;query=Berlin%201931;brand=breuer (7.6.2021). 3 Vgl. bspw. den Grundriss Ludwig Mies van der Rohe: Tugendhat House, Brno, Czech Republic, Entrance-level plan. 1928–1930, MoMA Archives, Object Number MR2.178, https://www.moma.org/collection/works/87534 (9.6.2021). 4 Die 1940er Jahren finden hier keine Berücksichtigung, da in dieser Phase bedingt durch Krieg und Materialknappheit kaum gebaut wurde.

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3  Broschüre für das 860/880 Lake Shore Drive Apartment Building, entworfen von Mies van der Rohe, Chicago, Illinois, ca. 1948–51, 30,5 × 22,9 cm

nach ästhetischen Standards der ‚Neuen Sachlichkeit‘ kursieren zu lassen. Diese ins Bild gesetzten Planungsfantasien der Architekten der Moderne entsprechen, wie Karin Harrasser schreibt, „dem, was Donna Haraway den ‚god trick‘ nennt: Ein entkörperlichter Blick, der so tut, als wäre er interesselos, rational, fortschrittlich, dem es aber immer um Beherrschung geht.“ (Harrasser 2018, S. 274)

DER GUMMIBAUM IN FOTOGRAFIE UND MALEREI Nicht nur in Wohnratgebern, Werbebroschüren und Architektur-Zeitschriften der 1920er, 1930er und 1950er Jahre sind Monstera deliciosa und Ficus elastica auffallend häufig abgebildet. Ein Gummibaum prangt auch auf dem Cover von Hans Reuters Buch Das Lichtbild aus dem Jahr 1932 (Abb. 4). Als

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Vorlage diente eine Aufnahme von Aenne Biermann, die schon zu Lebzeiten der Fotografin mehrfach im Großformat ausgestellt worden war und als gerahmter Abzug in ihrem eigenen Zimmer – eingerichtet vom van-de-VeldeSchüler Thilo Schoder – an der Wand hing (vgl. Koetzle 2019, S. 83). „Aenne Biermann zeigt den Gummibaum nicht als das Ausstattungsstück ‚Zimmerpflanze‘, sondern sie findet eine Ansicht, die das organische Gewächs im engen Ausschnitt vor dunklem Hintergrund als skulpturale Form in unmittelbarer Plastizität aufscheinen lässt.“ (Förster 2020, S. 23) Die ovalen, glatten Blätter haben eine so klare Kontur, als hätte ein*e Künstler*in die Linien gezogen. Hier ist keine Pflanze abgelichtet, die mit dem Kreislauf der Natur in Verbindung steht, die wächst und wuchert, welkt und austreibt, sondern eine scheinbar zeit- und ortlose Skulptur, die ohne Weiteres mit Constantin Brancusis Vogel im Raum (1925) konkurrieren könnte.

4  Cover der Publikation Das Lichtbild. Meisterbilder der Photographie von Hans Reuter, Berlin: Die Buchgemeinde 1932, Fotoreproduktion einer Fotografie von Aenne Biermann aus dem Jahr 1926

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5  Alexander Kanoldt, Stillleben mit Gummibaum, 1921, Öl auf Leinwand, 72,5 × 51,5 cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe

Diese „neue Sehweise“, die in den 1920er Jahren im Medium der Fotografie eingeübt wurde, „vermied die Totale und beschränkte sich aufs Detail. Erst im engbegrenzten Ausschnitt verwandelte sich nüchterne Zweckform in abstrakte Schönheit.“ (Molderings 1977, S. 70) Die extreme Nahsicht fand vor allem in der Werbefotografie ihren Widerhall, wo industriell hergestellte Gegenstände wie Kochtöpfe, Besteck, Gläser und Glühbirnen in isolierter Freistellung und in schräger Aufsicht als verführerische Warenfetische (vgl. Pohlmann 2019, S. 35) abgebildet wurden, was Walter Benjamin zu der Polemik veranlasste, man könne inzwischen „keine Mietskaserne, keinen Müllhaufen mehr photographieren […], ohne ihn zu verklären“ (Benjamin 1980, S. 693). Mit den zeitspezifischen Mitteln

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einer Sachfotografie, die „auf modisch-perfektionierte Weise“ vor Augen führt, dass es möglich ist, „die Welt wie sie nun einmal ist von innen her – mit anderen Worten: modisch – zu erneuern“ (ebd.),5 gelang es Aenne Biermann, den Gummibaum zu objektivieren und ihn eben dadurch „zum Gegenstand des Genusses“ (ebd.) zu machen. Aufgrund seines Potenzials, in der Fotografie dinghaft zu wirken, aber auch wegen der makellosen Oberfläche seiner wie gelackt glänzenden Blätter harmoniert der Gummibaum in Architekturfotografien nicht nur mit den Bauelementen aus Glas, Stahl, Granit und Marmor, sondern auch mit den glatten, staubfreien, spiegelnden Oberflächen von Möbeln aus Glas, Chrom und Stahl – und setzt dadurch das Gebaute und das Gewachsene in eins. Die bildlichen Repräsentationen des Gummibaums in der sogenannten nachexpressionistischen Malerei um 1925, die seit der von Gustav Friedrich Hartlaub kuratierten Ausstellung Neue Sachlichkeit in der Mannheimer Kunsthalle unter diesem Stilbegriff firmiert, bezogen sich weder auf die von der Sachfotografie unterstrichene „nüchterne Zweckform“ (Molderings 1977, S. 70) der Pflanze noch auf ihre Funktion als Dekorelement des ‚Neuen Wohnens‘. Vielmehr wurde der Gummibaum von Malern wie Georg Schrimpf, Xaver Fuhr, Walter Schulz-Matan, Friedrich Krampf und nicht zuletzt Alexander Kanoldt als stummer Mitbewohner und Zeuge künstlerischen Schaffens im Atelier, wenn nicht gar als Alter Ego des Künstlers in Szene gesetzt. Den vor monochromen Wänden oder Vorhängen auf Tischen oder am Boden platzierten Gummibäumen stellte etwa Alexander Kanoldt alltägliche Dinge wie Bücher, Glasvasen, Streichholzschachteln (Abb. 5), zuweilen auch Tabakspfeifen oder einen Kleistertopf an die Seite. Diese Gegenstände sind, Pars pro Toto, mit dem Künstler eng verbunden. Er hat sie berührt oder – wie die Tasse – an den Mund geführt. Sie sind somit Teil seiner Körpererfahrung. Bei Xaver Fuhr lädt hingegen ein einsamer Gummibaum, der in Richtung des diffusen Lichts wächst, das durchs Atelierfenster fällt, zur Identifikation ein. Seine fünf grünen Blätter scheinen angesichts der jenseits des Fensters zu betrachtenden entlaubten Bäume, die eine von Straßen durchzogene, landwirtschaftlich genutzte Landschaft säumen, die letzten kläglichen Überbleibsel einstmals herrschender Naturkräfte zu symbolisieren. Begriffe wie „Isolierung“ und „Auskühlung“ oder „transzendentale Obdachlosigkeit“ (Fegert 2008, S. 33), die verwendet wurden, um der-

5 Auch der Gummibaum erneuert sich stets aus sich heraus: Stirbt unten ein Blatt ab, wächst oben ein neues.

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artige Stillleben der 1920er Jahre zu beschreiben, zielen mithin sowohl auf die Darstellungskonventionen des Gummibaums, „der leblos und starr wie eine künstliche Pflanze“ (ebd., S. 146) wirkt und oftmals erste Anzeichen des Verwelkens zeigt, als auch auf die fragile Existenz der Maler, die – wissend, dass ihr Tun vergeblich ist – in einer von technischer Reproduzierbarkeit durchdrungenen Dingwelt an der Notwendigkeit von individueller händischer Produktion festhielten.

KAUTSCHUKGEWINNUNG IM KONTEXT VON WELTHANDEL UND KOLONIALISMUS Um das Spezifische der Darstellungen des Gummibaums herauszuarbeiten, die seit den 1920er Jahren in der Fotografie und in der Malerei zur Popularisierung der Pflanze beigetragen haben, wären weitergehende kulturhistorische Untersuchungen notwendig, die publikatorische Praktiken von Biolog*innen, Fotograf*innen, Architekt*innen und Künstler*innen berücksichtigen. Der Kurator Christian A. Larsen hat 2015 erste Anstöße gegeben, als er sich im Rahmen einer Ausstellung und eines dazugehörigen Katalogs mit der Verbreitung, Zucht und Repräsentation des Philodendrons befasste. Beginnend mit 3.400 Zeichnungen von Aronstabgewächsen, die der Wiener Hofgärtner Heinrich Wilhelm Schott ab 1828 bei Künstlern in Auftrag gegeben hatte, über den US-amerikanischen mid-century-style und die Tropicália-Mode bis zu heutigen vegetabilen Dekors auf Kleidungsstücken und Kissenbezügen analysierte Larsen Visualisierungen des Philodendrons und kam zu dem Schluss: „[…] the philodendron became ever more a product and construct of cultural desires and needs, uprooted from any real sense of its native habitat.“ (Larsen 2015, S. 90) Wo aber befanden sich die heimischen Lebensräume des Ficus elastica und der Monstera deliciosa, bevor diese Pflanzen in domestizierter Form in europäischen und nordamerikanischen Wohnzimmern Wurzeln schlugen? Der Ficus elastica ist, wie der Name schon sagt, ein Feigenbaum. Zunächst vor allem in Nordostasien vorkommend, ist er seit Langem in den Tropen und Subtropen weit verbreitet. Im deutschsprachigen Raum heißt er Gummibaum, weil er klebrige weiße Milch freisetzt, sobald seine Rinde verletzt wird. Spanische Kolonisatoren sollen bereits im 16. Jahrhundert erkannt haben, dass diese weiße Milch von praktischem Nutzen

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sein kann. So heißt es im botanischen Nachschlagewerk Nutzpflanzenkunde: „Nach der Entdeckung Amerikas lernten die Spanier bei den Indianern Bälle kennen, die weit höher sprangen als die in Europa bekannten. Die Bälle wurden aus einem Milchsaft hergestellt, den die Indianer des Amazonasgebietes Cahuchu nannten, wovon sich das Wort Kautschuk ableitet.“ (Nutzpflanzenkunde 2007, S. 390) In der Sprache der Quechua heißt ‚Kao-ochoe‘, ‚Kwachu‘ oder ‚Cahuchu‘ so viel wie ‚weinender Baum‘. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Kautschukgewinnung im Amazonasgebiet zu einem Eldorado für europäische Hasardeure, die – Werner Herzog hat es im Spielfilm Fitzcarraldo (1982) in eindringliche Bilder übersetzt – von Gewinnsucht und Fantastereien getrieben waren. Der Publizist Wolfgang Jünger, ein Bruder von Ernst Jünger, stellt in seiner Wirtschaftsund Kolonialgeschichte Kautschuk. Vom Gummibaum zur Retorte aus dem Jahr 19526 das Amazonasgebiet als „eine Zufluchtsstätte vor dem Eingriff der bürgerlichen Welt“ dar, „von der die Heerschar der Glücksritter und Abenteurer sofort Besitz ergriff. Es war das Kimberley und Klondike des vergangenen Jahrhunderts […]. Die erbarmungslose Ausbeutung der Menschen und die Verwüstung der Güter und Wälder erregten die Entrüstung der Welt […]. Im steten Wechsel der Regenzeiten waren Maßlosigkeit, wildestes Wachstum der tägliche Anblick dieser halbdüsteren Welt, und in der urtümlichen Kraft der Wälder glitten die Menschen unmerklich in ein vegetatives Leben zurück.“ (Jünger 1952, S. 8) Es zeigte sich, dass die Hevea brasiliensis, ein laubabwerfender Parakautschukbaum aus der Familie der Wolfsmilchgewächse, der ebenfalls Gummibaum genannt wird, wesentlich besser für die Verwertung geeignet war als der Ficus elastica. Im 19. Jahrhundert wurde ihr weißer Milchsaft, als weißes Gold bezeichnet, daher aus dem Amazonas, vor allem aber aus Brasilien, nach Europa und in die USA exportiert (vgl. Heinisch-Buitenzorg 1950). Kautschuk war für die industrielle Produktion unverzichtbar geworden, insbesondere nachdem der US-Chemiker Charles Goodyear 1839 das Verfahren der Vulkanisation entdeckt hatte, wodurch die weiße Milch sich mittels des Einarbeitens von elementarem Schwefel in formbares, elastisches, wasserabweisendes und nicht klebendes Gummi verwandelte. Dadurch konnten nicht nur Regenmäntel,

6 Das Buch hieß in der Erstfassung aus dem Jahr 1937 Kampf um Kautschuk und wurde in den 1940er Jahren mehrfach wiederaufgelegt. Es verbreitete auch in den 1950er Jahren noch ideologische Perspektiven des Nationalsozialismus.

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6  Sammelbild der Compagnie Liebig’s Fleisch-Extract, 1905, Chromo-Lithografie, 7,3 × 11 cm

sondern auch Gummidichtungen für Dampfmaschinen, Schläuche und Autoreifen hergestellt werden. Ja, sogar die isolierende Ummantelung der Unterseetelegrafenkabel im Ärmelkanal und im Atlantik, das sogenannte Nervensystem der Industrialisierung, bestand aus Gummi. Britische Politiker suchten mit Hochdruck nach Mitteln und Wegen, sich von den teuren Kautschuk-Lieferungen aus Südamerika unabhängig zu machen. Um Brasiliens Monopol und Exportverbot von Pflanzen und Samen zu brechen, planten sie, selbst Kautschukbäume anzubauen. Eine zentrale Rolle spielten in diesem Zusammenhang die Royal Botanical Gardens.7 Aus den ehemaligen Lustgärten wurden Instrumente zur Durchsetzung nationaler Wirtschaftsinteressen (vgl. Schneckenburger 2010; Koppelmann 1988, S. 11). In riesigen Treibhäusern versuchte man, mithilfe von nach England geschmuggelten Samen Gummibäume

7 Die Royal Botanic Society betrieb einen Garten im Londoner Regent’s Park und ein großes Palmenhaus in Kent, vgl. Koppelmann 1988, S. 18.

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zu züchten. Dem Vogeljäger und Abenteurer Henry Wickham gelang es schließlich im Jahr 1876, 70.000 Samen von Gummibäumen zu sammeln und an Bord des Dampfschiffs SS Amazonas nach England zu transportieren. In London wuchsen daraus Setzlinge heran, die nach Malaysia verschifft wurden. Dort bildeten sie die Grundlage für riesige Plantagen. In der Folge verlor Brasilien beim Export vom Wildkautschuk im Jahr 1913 seine Vormachtstellung auf dem Weltmarkt und der Plantagenkautschuk aus Asien erlebte einen immensen Aufschwung durch den Bedarf der Autoindustrie (vgl. Jünger 1952, S. 98–107). Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts konkurrierten Kolonialmächte, die Kautschuk für ihre Industrieproduktion und Kriegswirtschaft benötigten, um die besten Anbaugebiete und -methoden, schlossen sich aber auch immer wieder zu brüchigen Zweckbündnissen zusammen. So betrieb Frankreich Pflanzungen im damaligen Indochina, Belgien zwang die Bewohner*innen des Kongo mit brutaler Gewalt dazu, Kautschuk einzusammeln, die Niederlande plünderten Indonesien aus und Japan ließ Kautschuk auf Malaya, Sumatra und Borneo anbauen. Nicht nur Staaten, auch Großindustrielle traten im Zusammenhang mit der Kautschukgewinnung in Erscheinung: Der italienische Kabel- und Reifenhersteller Giovanni Battista Pirelli unterhielt Plantagen auf Malaya und Ceylon, Harvey Samuel Firestone pachtete Gummibaumplantagen in Liberia, auf denen Nachkommen von in den USA freigelassenen amerikanischen Sklav*innen schufteten, und Henry Ford schloss mit der brasilianischen Regierung Verträge, die ihm die Errichtung von Plantagen samt Mustersiedlungen in Amazonien zusicherten. Sie trugen Namen wie Fordlandia und Belterra (vgl. Grandin 2010) und sind bis heute ein sprechendes Beispiel für Größenwahn, unternehmerischen Misserfolg und Ignoranz gegenüber kulturellen Differenzen. Die Kautschukgewinnung ist also im Kontext der europäischen und nordamerikanischen Eroberung und Ausbeutung Asiens, Mittel- und Südamerikas und der Domestizierung der Natur und sogenannter Naturvölker zu sehen, wie auf einem diese Tatsache verklärenden Sammelbild der Firma LEMCO (1905) zu erkennen ist, die ihren Hauptsitz in London hatte und industriell hergestelltes Fleischextrakt vertrieb (Abb. 6). Das Abschöpfen, der Transport und das Erhitzen des Kautschuks werden hier als traditionelle Kulturtechniken im brasilianischen Urwald vor Augen geführt, wobei der Eindruck entsteht, die Produktion fände in familiärer Idylle statt. Tatsächlich aber schufteten die Ärmsten der Ar-

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men Brasiliens, damals als Gummi-Soldaten bezeichnet, noch während des Zweiten Weltkriegs unter unvorstellbaren Bedingungen im Amazonasgebiet, wo die letzten wild wachsenden Kautschukbäume angezapft wurden (vgl. Kolbe 2015), bis der synthetische Kautschuk dem Naturund Plantagenkautschuk den Rang ablief. 1926 ließ die I. G. Farben den Styrol-Butadien-Kautschuk Buna patentieren, der ab 1935 in Leuna bei Merseburg und später in Ludwigshafen hergestellt wurde. Als kriegswichtiger Rohstoff eingestuft, wurde Buna während des Zweiten Weltkriegs im Konzentrationslager Auschwitz III Monowitz produziert. Wer zur Zwangsarbeit nach Buna-Monowitz abkommandiert worden war, erhielt damit sein Todesurteil.8 Dialektisch gedacht ist der Ficus elastica somit das industriell und rüstungstechnisch nicht verwertbare Gegenmodell zum Plantagenbaum Hevea brasiliensis, der für die Gummiherstellung, die Kriegswirtschaft und die Mechanisierung der Welt unverzichtbares Ausgangsmaterial lieferte. Der Ficus elastica hingegen schmückte als Zierform des Gummibaums die europäischen und US-amerikanischen Wohnzimmer, wobei ihm aufgrund seines ,neusachlichen‘ Aussehens weder der Hauch von Exotik noch der Ruch von Kolonialismus anhaftete.

DOMESTIZIERTE BAUMWÜRGER Auch die schlitzblättrige Monstera deliciosa ist im tropischen Regenwald Mittel- und Südamerikas beheimatet. Sie gehört – ebenso wie der ihr ähnlich sehende Philodendron – zur Familie der Araceae, der Aronstabgewächse. Ihre Früchte sind essbar und schmecken süß, was ihr den Beinamen deliciosa eingebracht hat. Der erste Botaniker, der sich mit der Gattung der Monstera befasste, war Charles Plumier. Er gab ihr Ende des 17. Jahrhunderts aufgrund der Form ihrer Blätter den Namen Arum hederaceum amplis foliis perforates und verortete sie auf Martinique (vgl. Hollsten 2012). Carl von Linné führte sie 1753 in seiner Publikation Spe-

8 Weitere Informationen hierzu bietet die Wanderausstellung des Fritz Bauer Instituts Die I.G. Farben und das Konzentrationslager Buna-Monowitz. Wirtschaft und Politik im Nationalsozialismus (1998–2015, seit 2018 in neu konzipierter Form), vgl. www.fritz-bauer-institut.de/ausstellungen/die-ig-farben-und-das-konzen trationslager-buna-monowitz (8.1.2022).

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cies Plantarum als Dracontium pertusum (vgl. Madison 1977). Durchgesetzt hat sich hingegen die Bezeichnung Monstera, die Michel Adanson 1763 in seiner Familles des Plantes verwendete. Vermutlich stellt Monstera eine Analogie zum griechischen dracunculus dar und spielt auf die schlangenartig gemusterten Blattstiele an und nicht, wie der Wiener Hofgärtner Heinrich Wilhelm Schott 1860 annahm, auf die monströsen Löcher in den Blättern (Madison 1977, S. 4).9 Die Monstera, vor allem die nach Adanson benannte Art Monstera adansonii, die sich durch ihr längliches Lochmuster auszeichnet, war in Europa also bereits bekannt, als Frederik Liebmann in Mexiko und Józef Warszewicz in Guatemala in den 1840er Jahren die Monstera deliciosa entdeckten und Ableger nach Kopenhagen bzw. Berlin sendeten. Ihre Ansiedlung und Züchtung in den botanischen Gärten Europas gelang und zählte im 19. Jahrhundert zu den gartenbaulichen Erfolgsgeschichten. „Als das Exemplar in den preußischen Gärten so groß wurde, dass es von Sanssouci in Schinkels Palmenhaus auf der Pfaueninsel umziehen musste, hatten Ableger der Pflanze längst Einzug in die Ankleidezimmer der Damen gefunden, wo sie ,allenthalben Wohlgefallen fanden‘. Der königliche Hofgärtner gab gern Stecklinge ab, Lithografien besonders schöner Blätter wurden über Buchhandlungen in ganz Deutschland vertrieben.“ (Siebeck 2015) Der dekorative Charakter ihrer Blätter, aufgrund dessen die Monstera deliciosa bereits im 19. Jahrhundert in Wohnräumen europäischer Großbürger*innen höchst willkommen war, kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie, ebenso wie der Ficus elastica, im Außenraum alles andere als harmlos ist. Nicht nur ihre Luftwurzeln sind nicht zu zügeln. Sie hat generell einen Drang zur Expansion. Die Monstera deliciosa hangelt sich an Bäumen hoch und breitet sich unkontrolliert aus. Diese Eigenschaft verliert sie auch dann nicht, wenn sie ins Domestische eingepflegt ist. So heißt es etwa, Picasso habe seine Monstera in die Badewanne gestellt, während er für einige Monate auf Reisen war; bei seiner Rückkehr soll sie das gesamte Badezimmer in Beschlag genommen haben (vgl. Siebeck 2015). Als noch unheimlicher erweist sich der Ficus elastica, gedeiht er in freier Natur. Dort wird er 40, manchmal sogar 60 Meter hoch und gehört

9 Im Englischen wird die Monstera deliciosa wegen ihrer löchrigen Blätter profan als Swiss cheese plant bezeichnet.

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7  Ficus elastica im Botanischen Garten Puerto de la Cruz, Teneriffa, 2013

zu den sogenannten Baumwürgern (Abb. 7). Vögel verteilen seine Samen in Astgabeln von Trägerbäumen, wo diese dann zu keimen beginnen. Sobald die Luftwurzeln den Boden berühren, entwickeln sie sich zu einem Geflecht von Stämmchen, die den Trägerbaum dicht ummanteln. „Schließlich können sie den gesamten Wirtsbaum dicht anliegend wie ein Panzer umwachsen und sein Dickenwachstum verhindern. Der Wirtsbaum wird ‚eingesargt‘. Der Würger wird später zu einem vielstämmigen Baum, der den Wirt ringförmig wie ein Korsett umgibt […]. Der Wirtsbaum stirbt schließlich infolge von Licht- und Nahrungsmangel“, weiß der Forstdirektor Herwig Zahorka zu berichten (Zahorka 2019, S. 26).

WOHNMODELLE DES ‚NEUEN MENSCHEN‘ Nach Georg Simmel ist die Baukunst „der sublimste Sieg des Geistes über die Natur“ (Simmel 1993, S. 124). Trägt dann das ‚Neue Bauen‘, das seinen Bewohner*innen ein von der ästhetischen Ordnung der ‚Neuen

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Sachlichkeit‘ diktiertes Wohnen abverlangte, den sublimsten Sieg des Domestischen über eine domestizierte Natur davon? Ist es eine zivilisatorische Leistung der Moderne, eine im Freien ungehemmt wuchernde Kletterpflanze und einen rücksichtslosen Baumwürger im Wohnraum in elegante, sozialverträgliche, genügsame Zimmerpflanzen verwandelt zu haben, die sich elastisch dem Umfeld des ‚Neuen Menschen‘ anpassen, ja, die so praktisch und zweckdienlich daherkommen, dass sich jeder Gedanke an den kolonialisierten und ausgebeuteten ,Urwald‘ verbietet, in dem sie einst ihren Trieben freien Lauf lassen konnten? Der im Zeichen der ‚Neuen Sachlichkeit‘ errungene Triumph des Rationalen über die Gefahr von Orientierungslosigkeit, Triebhaftigkeit und Kontrollverlust, die Claude Lévi-Strauss in den Traurigen Tropen mehr literarisch als wissenschaftlich in Worte fasste, als er die Bäume im brasilianischen Amazonasgebiet als „Vegetationsklumpen“ beschrieb, die in sämtliche Richtungen zugleich wuchsen und „denen alle Dimensionen des Raums, nicht nur die Vertikale, zugänglich zu sein schienen […]“ (Lévi-Strauss 2020, S. 325), ist hart erkauft: Er setzt eine ästhetische Homogenisierung sämtlicher

8  Mies van der Rohe, Beitrag zur Deutschen Bau-Ausstellung, Berlin 1931

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Lebenszusammenhänge des ‚Neuen Menschen‘ voraus – einschließlich einer an den Rand gedrängten und domestizierten, d.h. industriell zugerichteten und verwerteten Natur (Abb. 8). Um als ,neu‘ und ‚sachlich‘ gelten zu können, mussten die asketisch eingerichteten Wohnräume, die darin sorgsam wie Skulpturen platzierten singulären Pflanzen, vor allem aber der Mensch selbst sich vollkommen der Herrschaft „von Technik, Mechanisierung und modernem Komfort“ (Nierhaus 2020, S. 162) unterwerfen. Von der leisen Gefahr, dass die sublimierten Triebkräfte der Zimmerpflanzen – ebenso wie die ihrer menschlichen Mitbewohner*innen – trotz des Zivilisationsdrucks eines Tages wieder die Überhand gewinnen könnten, erzählen viele Spielfilme.10 Bleibt zu vermuten, dass die heutigen selbstoptimierten urban-jungle-Euphoriker*innen sich gerade deshalb so gerne mit Ficus elastica und Monstera deliciosa in ihrem Wohnumfeld ablichten, weil sie glauben, im Zeitalter des Anthropozäns gegen die Wachstumskräfte des Vegetativen, ja sogar gegen sämtliche schlummernden Triebe der dem ,Neuen Menschen‘ unterworfenen Natur immun zu sein. Aber das ist eine andere Geschichte.

10 Besonders drastisch wird dies im Film Vivace (F 2010, Regie: Pierre Boutron), auf Deutsch Grüne Hölle, dargestellt. Gilles schenkt seiner Nachbarin Pauline ein brasilianisches Tropengewächs, das deren gesamtes Leben durcheinanderbringt. Zum Schluss erstickt die Zimmerpflanze – stellvertretend für den übergriffigen Nachbarn – Pauline mit ihrem ungezügelten Begehren, was diese erst zu spät bemerkt, weil sie in ein Buch namens Was Pflanzen erzählen vertieft ist. Im Film Du bist nicht allein (D 2007, Regie: Bernd Böhlich) wird den Zuschauer*innen schlagartig klar, dass die Ehe der beiden Protagonist*innen ernsthaft in Gefahr ist, als Herr Moll (Axel Prahl) den von seiner Frau (Katharina Thalbach) heiß geliebten Gummibaum aus seinem Wohnzimmer in den Fahrstuhl des Berliner Plattenbaus schleppt, um ihn der Nachbarin Frau Lehmann (Katharina Medvedeva) zu schenken, in die er sich Hals über Kopf verliebt hat. Als Frau Lehmann ihm die Tür öffnet, sagt Herr Moll: „Jetzt fehlt nur noch der Gummibaum. Das ist das Schönste überhaupt.“

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Literatur

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Annette Tietenberg

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Bildnachweise

Abb. 1: https://urbanjungle.tumblr.com/ar chive (15.01.2022). Abb. 2: Platz 1933, S. 332. Abb. 3: Archive Museum of Modern Art, New York, Inv. Nr. AD946. © 2021 Artists Rights Society (ARS), New York / © VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Abb. 4: Reuter, Hand: Das Lichtbild. Meisterbilder der Photographie, Berlin: Die Buchgemeinde 1932, Cover. Abb. 5: akg images. Abb. 6, 7: Archiv der Autorin. Abb. 8: Innen-Dekoration, Jg. 17, H. 7, 1931, S. 255 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2023.

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In the 1920s, the art historian Rosa Schapire, the architect Walter Gropius and the photographer Aenne Biermann shared an interest in cacti. All three collected cactus plants and made them an integral part of their living spaces, which they in turn had photographed. In this context, the cactus did not fall victim to the functionalization of interiors and their liberation from “unnecessary ballast” as espoused by Gropius in an essay published in 1930. Rather, the prickly plants self-confidently asserted their place in the Neues Wohnen (New Dwelling) movement, as expressed in successful designs such as the cactus pots by the ceramist Grete Heymann-Loebenstein and artfully arranged cactus windows. The paper reflects on the aesthetics of cactus plants and their programmatic appropriation into the living space. The cactus is considered as a popular motif of the Neues Sehen (New Vision) and Neue Sachlichkeit (New Objectivity) movements, as seen in painting, photography and exhibitions produced during the Weimar Republic. The flourishing cactus literature of the 1920s is also placed in the context of domestic lifestyle guides from the period. The essay concludes with reflections on the cactus in the context of travel and on transplanted Modernism after 1933.

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BURCU DOGRAMACI WOHNEN MIT STACHEL: KAKTUSFENSTER, KAKTEENGEFÄSSE UND INTERIEUR(-FOTOGRAFIE) DER 1920ER JAHRE 1. Walter Gropius war ein Kakteenfreund.1 Der Gründer des Bauhauses, der den Purismus lobte und lebte, ging – so überliefern es schriftliche Quellen – gern zum Kakteenkauf. So heißt es am 17. April 1926 im Tagebuch von Ise Gropius, der Ehefrau von Walter Gropius: „in aschersleben um kakteen zu kaufen mit lührs. […] eine prachtsammlung von kakteen. verkaufte uns einige sehr schöne exemplare, aber nur widerstrebend, weil er sie liebt wie die kinder. w. ganz hingenommen und bewachte den transport wie ein cerberus.“2 (Zit. n. Fischer-Leonhard 2005, S. 95) Die Hintergründe dieser Leidenschaft sind weitgehend unbekannt. Auch ist sie in der üppigen Gropius-Literatur bislang kaum behandelt worden.3

1 Kakteengewächse (Cactaceae) sind eine Familie innerhalb der Ordnung der Nelkenartigen und ursprünglich bis auf eine Art auf dem amerikanischen Kontinent beheimatet. Bei den zwischen wenigen Zentimetern und 15 Metern großen Kakteen handelt es sich um Stammsukkulenten, bei denen die Sprossachse als Wasserspeicher dient, was es ihnen erlaubt, auch in äußerst trockenen und heißen Verhältnissen zu überleben. 2 Im Mai 1926 besuchte Ise Gropius – ohne ihren Mann – den Botanischen Garten in Berlin und schrieb später: „ich allein morgens im botanischen garten in der Kakteenabteilung. herrliche exemplare.“ Tagebucheintrag Ise Gropius vom 11. Mai 1926, zit. n. Fischer-Leonhardt 2005, S. 95. 3 Ein Hinweis auf die Kakteen im Dessauer Meisterhaus von Gropius findet sich bei Valdivieso 2019, S. 176 und Anm. 40.

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Dabei lässt sich von einer programmatischen Haltung ausgehen, denn die Kakteen oder vielmehr das Kakteenfenster waren in einem seiner Meisterstücke – dem eigenen Meisterhaus in Dessau – sicherlich nicht randständig. Gleich an zwei Orten gaben Ise und Walter Gropius hier den Kakteen Raum: auf der Terrasse (Abb. 1), wo Gropius unweit eines Kakteen-Ensembles sitzt, und im Wohnzimmer (Abb. 2). Im Hinblick auf die funktionale Ausgestaltung der Bauhaus-Häuser und die Befreiung von Überflüssigem – Teppich, Vorhängen und ausgreifendem Mobiliar – formulierte Gropius in den Neuen Bauhausbüchern: „reibungsloses, sinnvolles funktionieren des täglichen lebens ist kein endziel, sondern bildet nur die voraussetzung, um zu einem maximum an persönlicher freiheit und unabhängigkeit zu gelangen. Die standardisierung der praktischen lebensvorgänge bedeutet daher keine neue versklavung und mechanisierung des individuums, sondern befreit das leben von unnötigem ballast, um es desto ungehemmter und reicher sich entfalten zu lassen.“ (Gropius 1974, S. 101) Doch wie verträgt sich das verschwenderisch mit Pflanzen dekorierte Kakteenfenster mit dieser Sehnsucht nach Purifizierung und der Ablehnung von „unnötigem ballast“. Der Kaktus scheint eben kein Ballast gewesen zu sein, sondern sein Gegenteil. Zugleich war Gropius nicht der Einzige, der das Kakteenfenster schätzte. Im Haus des Architekten Hans Poelzig gab es ein Fenster mit Kakteen und anderen Sukkulenten, Hans Scharoun plante einen Wintergarten mit Kakteenbeet im Haus Schminke in Löbau (vgl. Stamm 2016, S. 78) und auch die Wohnratgeber jener Jahre empfahlen Kakteen für das moderne Heim. Überhaupt lassen sich bemerkenswerte Beobachtungen zu den Überschneidungen zwischen Kakteen- und Wohnratgebern anstellen. In der Franckh’schen Verlagshandlung in Stuttgart wurden Ratgeber zur Kakteenzucht und -pflege publiziert, darunter Werner von Roeders Kakteenzucht leicht gemacht. Grundsätze neuzeitlicher Kakteen und Sukkulentenpflege (1928). Die 1822 eröffnete Verlagshandlung war Gründerin der Kosmos-Gesellschaft der Naturfreunde (1904), die mit großem Erfolg die natur- und populärwissenschaftliche Zeitschrift Kosmos herausgab. Unter dem Namen Kosmos existiert der Verlag bis heute. Werner von Roeders Kakteenzucht leicht gemacht klärte auf über die Herkunft der Kakteen, stellte aber auch moderne Kakteengefäße vor, etwa Produkte der Karlsruher Majolikamanufaktur (Abb. 3). Zeichnungen und sachliche Fotografien sind ins Buch eingestreut; besonders interessant ist, dass das Buch auch auf die Lebens- und Wohn-

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1  Ise Gropius (?), Walter Gropius auf seiner Terrasse, 1927 2  Lucia Moholy, Walter und Ise Gropius im Wohnzimmer ihres Hauses in Dessau, 1927, Bauhaus-Archiv Berlin

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3  Hechtaloe, Tiger- oder Forellenkaktus, mit Genehmigung der Karlsruher Majolikamanufaktur

umstände der Kakteenbesitzer*innen eingeht, ein ländliches ebenso wie ein städtisches Publikum berücksichtigt. Dabei werden auch praktische Tipps für die urbanen Kakteenzüchter*innen gegeben, die keinen Platz für Gewächshäuser oder einen Garten haben. Die „Kakteensammlung zwischen den Fenstern“ ist etwa eine Lösung, die mit einem vorhandenen Doppelfenster arbeitet, das mit einigen eingezogenen Brettern zum Glashaus umgebaut wird (Abb. 4). Die Franckh’sche Verlagsbuchhandlung veröffentlichte aber nicht nur Ratgeber für Kakteenfreund*innen, sondern war auch im Segment der Wohnratgeber aktiv. 1927 erschien dort Elisabet Neffs Auch allein – wohne fein. Die Wohnung der Junggesellin, ein Ratgeber mit Einrichtungstipps für allein lebende Frauen (Neff 1927). Ludwig Neundörfers So wollen wir wohnen von 1931 (Abb. 5) sprach zumindest auf dem Titelbild eher Paare und ihre Träume vom Wohnen an, war aber laut Klappentext an „jedermann“ gerichtet und berück-

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4  Die Kakteensammlung zwischen den Fenstern: Das Doppelfenster wurde zum Glashaus umgebaut.

sichtigte im Innenteil die Wohnung für „Mindestbemittelte“, kinderreiche Familien wie auch die Ledigenwohnung und/oder Neubauwohnungen für die berufstätige Frau. Die Einrichtungsvorschläge folgten grundsätzlichen Prämissen, etwa dass das Wohnen das Leben und die Bewohnerschaft prägt oder dass Ordnung eine Leitkategorie der Einrichtung sein sollte, denn „Ordnung ist Zeitersparnis“ (Neundörfer 1931, S. 7). Und so stellte der Band vorwiegend Praktisches, Nützliches, Multifunktionales vor, riet zur Sachlichkeit und Reduktion des Mobiliars, wobei Grundrisse und beispielhafte Fotografien von eingerichteten Wohnsituationen integraler Bestandteil der Erläuterungen waren. Dieser Hang zur schlichten Form zeigte sich auch in den abgebildeten Grünpflanzen, dem Gummibaum oder den Sukkulenten.4

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Zum Gummibaum siehe den Beitrag von Annette Tietenberg in diesem Band.

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5  Ludwig Neundörfer, So wollen wir wohnen, Stuttgart: Franckh’sche Verlagshandlung 1931, Titelbild

Ratgeber zur Wohnungseinrichtung und Fachliteratur für den Kakteenfreund (oder die Kakteenfreundin) erschienen also im selben Verlag, der Franckh’schen Verlagshandlung, zudem wurden Kakteen in der Literatur zum Wohnen abgebildet, ebenso wie das Kakteenbuch auch Einrichtungsfragen thematisierte. Dies zeigt, dass es zwischen beiden Genres Überschneidungen gab und vermutlich sogar von derselben Leserschaft auszugehen ist. Kakteen und Innenarchitektur bildeten also keinen Widerspruch.

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2. Das artikuliert sich auch in den gestalteten Räumen von Kunsthistoriker*innen und Architekt*innen der 1920er Jahre. In der Hamburger Wohnung der Kunsthistorikerin, Mäzenin und Sammlerin Rosa Schapire findet sich ein großzügiges Kakteenfenster (Abb. 6). Schließlich lässt sich auf der bereits erwähnten Fotografie aus dem Meisterhaus Gropius (Abb. 2) ein Kakteenfenster identifizieren, das sich wie ein dritter Akteur neben Ise und Walter Gropius gesellt. Lucia Moholy fotografierte das Paar im Kontext der programmatisch modernistischen Inneneinrichtung, wobei auch den Kakteen vor dem Fenster Sichtbarkeit gegeben wurde. Auch in den Aufnahmen weiterer Protagonist*innen des Neuen Sehens haben Kakteen und andere Sukkulenten ihren festen Platz – als ein Beispiel unter vielen sei der bebilderte Beitrag Kakteen-Aufnahmen von Albert Renger-Patzsch genannt, der 1926 in der Zeitschrift Photographie für Alle erschien (Renger-Patzsch 2010, S. 54). Darüber hinaus lassen sich noch die vielen Stillleben neusachlicher Maler wie Georg Scholz, Manfred Hirzel oder Edgar Scheibe anführen, in denen sich Kakteen neben unbelebten Dingen befinden.5 Zuletzt stehen auch die Kakteenübertöpfe, welche die Bauhaus-Keramikerin Grete Heymann-Loebenstein in den von ihr mitbegründeten Haël-Werkstätten für Künstlerische Keramik fertigte, für ein Interesse am Kaktus (Hudson-Wiedenmann 2005, S. 59; dies. 2006, S. 3f.). Diese avantgardistischen Gefäße, die in den 1920er Jahren für Aufsehen bei der Kritik sorgten und in verschiedenen Publikationen besprochen wurden, waren oftmals eckig, abstrakt dekoriert und gestaffelt (vgl. Wendland 1924, S. 185f.; Riedrich 1929, S. 719). Diese Beobachtungen zur vielfältigen Präsenz des Kaktus in unterschiedlichen Kunstgattungen prädestinieren die Pflanze als idealen Gegenstand für eine Untersuchung zur Verschränkung der Gattungen und künstlerischen Disziplinen der Weimarer Republik. Eine der sich für moderne Kunst engagierenden Galerien, die Galerie von Herbert von Garvens in Hannover, richtete 1922 eine Ausstellung

5 Georg Scholz: Kakteenstillleben, 1925, Pfalzgalerie, Kaiserslautern (Abb. in Mück 1991, S. 89); Manfred Hirzel: Rotblühende Kaktee, 1932, Privatbesitz (Abb. in Fuhrmeister 2001, S. 183); Edgar Scheibe: Blühender Kaktus, 1934, Privatbesitz (Abb. ebd.). Viele Werkbeispiele für Kakteenstillleben finden sich bei Fegert 2008, S. 150–184; siehe dazu auch das Kapitel zum Kaktus in der Malerei der Neuen Sachlichkeit bei Heide 1998, S. 109–114.

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6  Olga Zuntz (?), Rosa Schapires Wohnung, Osterbekstraße 43, Hamburg, mit Möbeln und einem Gemälde von Karl SchmidtRottluff, um 1921, Nachlass Olga Zuntz, London

von Werken Emil Noldes aus, die seine Reiseaquarelle mit afrikanischen und ozeanischen Plastiken und Kakteen kombinierte. Dazu hieß es in einer Kritik des Hannoverschen Kuriers vom 16. Mai 1922: „Dort in der Kestner-Gesellschaft, eine kühle, sachliche, fast wissenschaftliche Ausstellung [von Noldes Bildern], hier in der Jägerstraße ein höchst raffiniertes, bizarres Beieinandersein von Noldescher Kunst, exotischen

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Skulpturen und Kakteen.“ (Zit. n. Vester 1992, S. 98)6 Die Sukkulente wurde also den sogenannten primitiven Skulpturen und den Arbeiten Noldes als Gegenüber und Dialogpartnerin ausgestellt. 2016 widmete sich die Ausstellung Exotische Welten. Kakteen und außereuropäische Blütenpflanzen im Werk von Nolde und Schmidt-Rottluff im Brücke-Museum in Berlin der Kakteenliebe der beiden Künstler. Bereits der Titel verweist auf die Argumentation; Noldes und Schmidt-Rottluffs Interesse am Kaktus wird einem Exotismus zugeschrieben. Hergeleitet wird diese Deutung aus der Genese der Kakteeneuphorie in Europa, die durch die Entdeckungsreisen von Seefahrern wie Christopher Kolumbus ausgelöst wurde und in eine Geschichte der Kolonisierung, der Geopolitik und wirtschaftlicher Interessen eingeordnet werden könne.7 War der Kaktus tatsächlich ein ähnlich exotisch wahrgenommenes Objekt wie eine afrikanische oder ozeanische Skulptur? Und/Oder war er ein anregendes Gegenüber für künstlerische Inventionen europäischer Künstler*innen? Oder wurde der ins Häusliche eingehegte Kaktus gar nicht mehr als exotische Pflanze wahrgenommen, sondern war zum selbstverständlichen Bestandteil bürgerlicher und intellektueller Wohnkultur geworden – wie er schon 1856 in der Beamtenstube von Spitzwegs Kaktusliebhaber begegnet? Eben als diesen vertrauten Freund pries das Berliner Vokalensemble Comedian Harmonists im Jahr 1934 den kleinen grünen Kaktus auf dem Balkon als stacheligen Beschützer seiner Besitzerin gegen aufdringliche Verehrer. Doch was wäre, wenn also nicht primär die – allerdings eingehegte – Fremdheit und Exotik leitend für das interdisziplinäre Interesse am Kaktus wäre? Die Intensität, mit der Fotograf*innen der 1920er Jahre Kakteen fotografierten, ist zwar bereits vielerorts angemerkt worden und lässt sich auf der Basis von Fotobüchern oder Einzelabzügen in den Nachlässen der Fotograf*innen nachweisen. Oftmals wird ein Faible für die organische

6 Emil Nolde – Aquarelle und Graphik. Exotische Plastik und Kakteen war die 16. Ausstellung in der Galerie von Garvens und fand von Mai bis Juni 1922 statt. Katrin Vester kommentiert dazu: „[…] ohne Zweifel will er [Herbert von Garvens] neue Strömungen bekannt machen, gleichzeitig aber auch das Erlebnis von Kunst steigern. Dies erreicht er durch kombinierte Ausstellungen, die erfrischend neue, oft assoziative Zugänge zu dem Gezeigten eröffnen.“ (Vester 1992, S. 98) 7 Siehe dazu die einleitenden Beiträge im Katalog zur Ausstellung von Magdalena M. Moeller, die historische oder botanische Überblicke für die Kakteeneuphorie bieten (Moeller 2016a; 2016b).

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Geometrie der Pflanzen angeführt, die sie neben Kristallen zu beliebten Fotoobjekten machten (Stamm 2016, S. 65–73).8 Es wäre indes produktiv, die Kakteenaufnahmen mit dem Motiv des Auges bzw. verletzten Auges zusammenzudenken, wie es beispielsweise in Luis Buñuels und Salvador Dalís Un chien andalou in Erscheinung tritt. In der Eröffnungssequenz des 1929 entstandenen Films schneidet eine Rasierklinge durch das weit geöffnete Auge einer Frau (zum Film vgl. Michaud 2019). Ein radikaler ästhetischer Schnitt in der Kunst der Gegenwart, neue Konnotationen des Kunst-Sehens, neue Erfahrungsdimensionen sind hier implizit. Analog ist in den Kakteenfotos eben nicht nur ein vordergründiger Dialog mit den geometrischen Formen der Pflanzen zu erkennen, sondern es geht auch um den Stachel im Auge, der stört, irritiert, verletzt. Ein neues Sehen wird in diesen Aufnahmen über eine potenzielle zerstörende Kraft des erblickten Naturobjekts aufgerufen, das mit den Mitteln der Fotografie perspektiviert wird.

3. Als Kaktus im Fenster präsentiert sich die Pflanze, wie in Rosa Schapires Hamburger Wohnung (Abb. 6), als plastisches, natürliches Objekt vor Glas und Licht. Das Kakteenfenster zeigt sich also wie ein Relief, zumindest aber hat es installative Qualitäten und ist dabei eher zentrales Versatzstück eines ästhetischen, innenarchitektonischen Konzeptes als Indikator einer wie auch immer gearteten Leidenschaft für das ‚Exotische‘. Gerade in durchgestalteten Wohnräumen wie jenen Schapires oder dem Wohnatelier der Fotografin Aenne Biermann muss von einem kunstprogrammatischen und konzeptuellen Umgang mit Kaktuspflanzen gesprochen werden. In den wohlarrangierten Räumen von Schapire, Bier-

8 Obgleich eine disziplinenübergreifende und, wie es bei Rainer Stamm (2016) heißt, „merkwürdige“ Faszination an Kakteen festgestellt wird, berühren sich die einzelnen Argumentationslinien bei ihm nicht: So beobachtet der Autor den Kaktus in der Fotografie, der Malerei und beim Neuen Bauen nebeneinander in drei separierten Kapiteln. Leitend ist hier erneut die Diagnose einer Faszination am aus den Amerikas importierten, exotischen Gewächs wie auch ein Faible für das Geometrische, Strenge und Kühle. Jede Disziplin bleibt bei sich. Dabei sollte m.E. doch zum einen auf divergierende Interessen, zum anderen auf Überschneidungen geachtet werden.

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mann und Gropius sind die Kakteen am Fenster qua ihrer Gesamtgröße und ihres Standortes gleichberechtigte Gegenspieler des Mobiliars und übrigen Wohninventars, der Lampen, Stoffe, Bilder und Bücher. Dass bei diesem Umgang mit dem Kaktus auch seine wohlgeordneten Formen und Stacheln, das Aufgeräumtsein seiner körperlichen Erscheinung nicht unwichtig ist, liegt auf der Hand, wenn das Arrangement der Stifte auf Biermanns Schreibtisch in einer Fotografie von Alfred Köster in die Beobachtung einbezogen wird.9 Bereits bei den drei genannten Kakteenliebhaber*innen ließen sich verschiedene disziplinäre Stränge zusammenführen. So hatte Biermann in ihrer Jenaer Atelierwohnung, die von dem Architekten Thilo Schoder ausgestattet und vom Fotografen Köster fotografiert wurde, ein Kakteenfenster. Kakteen wählte Biermann auch zum Motiv ihrer Stillleben.10 Bei Schapire treten die Kakteen in einen Dialog mit den Möbeln und den Gemälden von Karl Schmidt-Rottluff, den die Kunsthistorikerin förderte und sammelte und der selbst wiederum auch Kakteen malte. Schmidt-Rottluff gestaltete 1921 das Wohnzimmer in der Wohnung von Rosa Schapire, die bereits seit 1908 und bis zu ihrer Emigration 1939 in der Osterbekstraße 43 in Hamburg-Uhlenhorst lebte. Die Konzeption des Zimmers umfasste Möbel, Textilien, Gemälde, Skulpturen, Leuchten und – wie Hanna Strzoda schreibt – wohl auch das Kakteenfenster (Strzoda 2010, S. 40).11 Eine Interieurfotografie von Olga Zuntz aus den 1920er Jahren zeigt Kakteenfenster im Dialog mit einer von Schmidt-Rottluff bemalten Sitzecke, bestehend aus Tisch und Hockern, und seiner Frau mit Handtasche (1915) auf farbiger Wand.12 Dieses Arrangement betont, dass das mit Kakteen bestückte Fenster als gleichrangig mit anderen künstlerischen Artefakten verstanden wurde. Auf einer Postkarte, die sie

9 Arthur Kösters Fotografie der Atelierwohnung Aenne Biermanns ist reproduziert in Stamm 2016, S. 80f.; siehe auch Förster/Seelig 2019, S. 129. 10 Zu den Fotografien Biermanns siehe Eskildsen 1987; Förster/Seelig 2019. Siehe auch die bereits zu ihren Lebzeiten als zweiter Band der Reihe Fototek publizierte Monografie Aenne Biermann. 60 Fotos von Franz Roh (1930). 11 Eine ausführliche Beschreibung von Schapires Wohnung findet sich in einem Brief des Künstlers Franz Radziwill vom 25.10.1962, publiziert in Wietek 2001, S. 164–166. 12 Die Möbel wurden vom Hamburger Tischler Jack Goldschmidt gefertigt, vgl. Wietek 1984, S. 1. Das Gemälde konnte Schapire mit in ihr Londoner Exil nehmen, wo es schließlich als Schenkung an die Tate Gallery kam, vgl. Beiersdorf 2009, S. 270.

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Schapire im Juli 1922 zur Begrüßung nach wohl längerer Abwesenheit schickten, schrieben Karl und Emy Schmidt-Rottluff: „Einen herzlichen Willkommensgruß zur Rückkehr ins Kakteenheim“.13 Die Beispiele Rosa Schapire und Walter Gropius führen zu einer weiteren zentralen Frage: Was passiert, wenn Konzepte, Ideen und Werke mobil werden und in flux geraten? Beide, Schapire und Gropius, emigrierten 1939 respektive 1934 nach England.14 Beide mussten sich nicht nur von ihrem gewohnten Umfeld verabschieden, sondern begaben sich in neue Kontexte, auch Wohn-Kontexte. Schapire lebte in ihrem Exil in England zur Untermiete, Ise und Walter Gropius verließen ihre großzügige Berliner Wohnung, um in einem zwar avantgardistischen, aber auf kleine Apartments abonnierten lodging house in London einzuziehen.15 Kakteen scheinen weder hier noch in ihrem späteren Haus in Lincoln/USA eine größere Rolle zu spielen, zumindest ist kein Bildmaterial überliefert, das die Kakteen derart prominent in den Mittelpunkt rückt wie am Bauhaus in Dessau. Auch die Keramikerin Grete Heymann-Loebenstein, Urheberin avantgardistischer Kaktusgefäße in den 1920er Jahren, musste Deutschland verlassen, verkaufte ihren Betrieb, der in der Folge von der Keramikerin Hedwig Bollhagen weitergeführt wurde. Heymann-Loebenstein emigrierte 1936 nach Großbritannien, wo sie zwei Jahre später die Greta Pottery begründete. Ob sie hier ähnlich gewagte Kaktusgefäße herstellte, ist nicht bekannt, aber zu bezweifeln, passte sich HeymannLoebenstein doch an die ästhetischen Vorlieben ihrer englischen Kund*innen an; so finden sich traditionelle Formen, sanfte Farben und florale Dekorationen (Hudson-Wiedenmann 2005, S. 70). Es scheint, als habe die programmatische oder sogar kunstideologische Kakteenliebe der hier genannten Künstlerinnen und Architekten die Emigration nicht überlebt. Die Kakteen der Avantgarde, so lässt sich vermuten, ließen sich nicht ohne Weiteres umtopfen. Aber zumindest bezüglich einiger ins Ausland verbrachter oder veräußerter Objekte

13 Karl und Emy Schmidt-Rottluff an Rosa Schapire, 25. Juli 1922, Museum Ludwig, Köln, Grafische Sammlung, Inv.-Nr. ML/Z 1957/027. Ich danke Miriam Szwast vom Museum Ludwig in Köln, die mich auf die Postkarte hinwies. 14 Zum Londoner Exil von Rosa Schapire siehe Beiersdorf 2009; Dogramaci 2017. Zu Gropius in London siehe Daybelge/Englund 2019. 15 Siehe eine Interieurfotografie des Apartments von Ise und Walter Gropius in den Lawn Road Flats in Powers 2019, S. 57.

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in und nach der Zeit des Nationalsozialismus lässt sich im Sinne einer transplantierten Moderne von Kakteen auf Reisen sprechen – dann etwa, wenn ein auf der Beschlagnahmeaktion ‚Entartete Kunst‘ entwendetes Stillleben mit blühendem Kaktus von Oskar Moll (1917) seinen Weg in einen Privatbesitz in den USA fand.16 Welche Rezeption haben Bilder wie diese erfahren, wenn sie in Kontexte verpflanzt wurden, in denen Kakteen heimisch waren? Anni und Josef Albers oder Max Ernst etwa begegneten in ihrem Exil in den USA oder auf Reisen, die sie von dort aus unternahmen, Kakteenpflanzen in freier Natur, die ihre Arbeit nicht unberührt ließen. Über die ästhetische Erfahrung der wilden Kakteen in Mexiko (Albers) oder Sedona/Arizona (Ernst) müsste ausführlicher nachgedacht werden, ebenso über das Verhältnis der modernen Künste zu freier Natur und Pflanzenkultivierung in Gestalt der Zimmerpflanze Kaktus.

4. Am Ende meiner Überlegungen möchte ich den Gedanken der Dislozierung in die Gegenwart übertragen und damit auch die Idee formulieren, Forschungen zur Klassischen Moderne noch intensiver mit jenen zur zeitgenössischen Kunst zu verbinden. Der Künstler Simon Starling hat für sein Projekt Kakteenhaus und anlässlich einer Ausstellung im Portikus Frankfurt von 2002 einen Kaktus aus der Gattung Cereus, gewachsen in der andalusischen Tabernas-Wüste, ausgegraben und in einem roten Volvo über eine Strecke von 2.145 Kilometern nach Frankfurt am Main transportiert. In den 1960er Jahren war die Tabernas-Wüste Drehort für die Spaghettiwestern von Sergio Leone. Kakteen aus Mexiko und dem Südwesten der USA wurden als Kulissen für Filme wie The Good, The Bad and the Ugly (1966) nach Spanien importiert und siedelten sich im Folgenden dort an (Volz 2002, S. 4–10). Starling transportierte in seinem Volvo also ein Exemplar nach Frankfurt; da das dortige Klima der Pflanze nicht guttat, funktionierte der Künstler seinen Wagen zu einem Antriebsmotor

16 Das Gemälde, zu dem Zeitpunkt im Besitz des Schlesischen Museums der Bildenden Künste in Breslau, wurde 1938 beschlagnahmt. Es befindet sich heute in US-amerikanischem Privatbesitz, siehe Datenbank zum Beschlagnahmeinventar der Aktion ‚Entartete Kunst‘, Forschungsstelle Entartete Kunst, FU Berlin, emuseum.campus.fu-berlin.de (25.4.2022).

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für eine Heizung um.17 Eine ökonomische Pflanzenart, die über lange Zeit Wasser speichern kann, wurde damit von einer enorm ineffizienten Technik, einem PKW-Verbrennungsmotor, geheizt. Starlings Aktion verweist also auf die Migrationsgeschichte von Pflanzen, setzt aber auch zwei divergierende Systeme in ein Abhängigkeitsverhältnis: den Motor und den Kaktus. Zuletzt bezog sich Starling auch auf das Jahr 1825, in dem der Portikus (ehemals die Frankfurter Stadtbibliothek) errichtet wurde, denn im selben Jahr wurde erstmals die Art Cactus Cereus Scopa beschrieben und inventarisiert (ebd.). Ein Jahr später, 1826, besuchte Alexander von Humboldt die Frankfurter Bibliothek, der selbst 15 verschiedene Kakteen aus Südamerika nach Europa gebracht hatte. Starling widmet sich mit seiner Arbeit also auch der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte sowie der botanischen Forschung als Geschichte des Im- und Exports. All dies bietet einen Rahmen für den Kaktus auf Reisen. Der Kaktus ist in meinem Beitrag ein Ausgangspunkt, um über die disziplinär verschränkten Interessen moderner Künstler*innen der 1920er und 1930er Jahre nachzudenken. Der Kaktus ist aufgrund seiner ‚exotischen‘ Herkunft und wegen seiner tektonischen Form beliebt.18 Seine stacheligen Konturen bildeten eine ästhetische Herausforderung für Fotograf*innen und ihre Blicke durch den Sucher, als sei das Arrangement von Glas, Kaktus und Licht von Baumeistern als architektonisches Versatzstück in einem Ensemble verstanden worden und für die Keramikkünstlerin ein Motor der neuen Formenfindung. In meinem Beitrag habe ich das in den 1920er Jahren in der Weimarer Republik verbreitete Interesse an Kakteen mit zeitgenössischen Überlegungen zum Wohnen und Einrichten zusammengebracht. Zugleich stellte ich auch die Frage, wie das ästhetische Potenzial des Kaktus als zwischen den Disziplinen und Gattungen befindlich wahrgenommen wurde und in der Fortführung

17 „Ein für die Installation entwickeltes Heizsystem hebt die Raumtemperatur [des Portikus] entsprechend an. Diese Heizung besteht aus dem Motor eines Volvos. Das Automobil selbst, welches auf der Rückseite des Portikus steht, ist mit dem Motor durch die nötigen Leitungen, wie Benzinschlauch, Kühlwasserschläuche, Auspuffrohr und elektrische Kabel verbunden. Der Motor wird vom Auto aus gestartet. Alle Zu- und Abläufe zum Motor sind lediglich entsprechend verlängert, damit die auf der Wegstrecke freiwerdende Hitze den Raum aufheizen kann.“ O. A.: Simon Starling. Kakteenhaus. 14.09.–20.10.2022, https://www.portikus.de/de/ exhibitions/113_kakteenhaus (25.4.2022). 18 Beide Prämissen werden nebeneinander formuliert in Utitz 1927, S. 140f.; vgl. auch Luke 2015, S. 240f.; Anonym 1925, S. 30; Francé 1923, S. 5–11.

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heute interdisziplinär zu untersuchen wäre. Abschließend habe ich meine Überlegungen auf den Kaktus als Migranten gelenkt. Was geschah mit der Kaktusliebe, als die Künstler*innen ihre Produktionskontexte verließen und migrierten? Der Kaktus verschwand als Teil der Einrichtung und als Sujet, so meine Beobachtung, und mit ihm vermutlich auch die durch ihn provozierten konzeptuellen Ideen. Doch haben ins Exil verbrachte Werke oder aber looted art objects in der Gestalt bereits existierender Stillleben sehr wohl das Kakteengewächs ins Ausland gebracht. Und die Erfahrung von in der freien Natur gedeihenden Kakteen hat neue künstlerische Zugriffe auf diese Pflanze ermöglicht.

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Literatur

Anonym 1925 Anonym: Die Zeitschriften, in: Das Kunstblatt, H. 1, Jg. 9, Januar 1925, S. 30. Beiersdorf 2009 Beiersdorf, Leonie: „Wieder Boden unter den Füßen“. Rosa Schapire in England (1939–1954), in: Sabine Schulze (Hg.): Rosa. Eigenartig grün. Rosa Schapire und die Expressionisten, Ausst.-Kat., Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, 28.8.–15.11.2009, Ostfildern: Hatje Cantz 2009, S. 250–281. Daybelge/Englund 2019 Daybelge, Leyla; Magnus Englund: Isokon and the Bauhaus in Britain, London: Batsford 2019. Dogramaci 2017 Dogramaci, Burcu: Still Fighting for Modern Art. Rosa Schapire in England, in: dies.; Günther Sandner (Hg.): Rosa und Anna Schapire – Sozialwissenschaft, Kunstgeschichte und Feminismus um 1900, Berlin: Aviva 2017, S. 229–256. Eskildsen 1987 Eskildsen, Ute (Hg.): Aenne Biermann. Fotografien 1925–33, Ausst.-Kat., Folkwang Museum Essen, 18.10.–6.12.1987, Berlin: Nishen 1987. Fegert 2008 Fegert, Elke: Alexander Kanoldt und das Stilleben der Neuen Sachlichkeit, Hamburg: Kovač 2008. Fischer-Leonhardt 2005 Fischer-Leonhardt, Dorothea: Die Gärten des Bauhauses. Gestaltungskonzepte der Moderne, Berlin: Jovis 2005. Förster/Seelig 2020 Förster, Simone; Thomas Seelig (Hg.): Aenne Biermann. Fotografin, Ausst.-Kat., Pinakothek der Moderne, München, 12.7.– 12.10.2019, Zürich: Scheidegger & Spiess 2020. Fuhrmeister 2001 Fuhrmeister, Christian (Hg.): „Der stärkste Ausdruck unserer Tage“. Neue Sachlichkeit in Hannover, Ausst.-Kat., Sprengel

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Museum Hannover, 9.12.2001–10.3.2002, New York/Hildesheim: Olms 2001. Francé 1923 Francé, Raoul: Die sieben tektonischen Grundformen der Natur, in: Das Kunstblatt, H. 1, Jg. 7, Januar 1923, S. 5–11. Gropius 1974 Gropius, Walter: Bauhausbauten Dessau (1930), hg. v. Hans M. Wingler, Mainz/Berlin: Kupferberg 1974 (Neue Bauhausbücher N. F.). Heide 1998 Heide, Kristina: Form und Ikonographie des Stillebens in der Malerei der Neuen Sachlichkeit, Weimar: VDG 1998. Hudson-Wiedenmann 2005 Hudson-Wiedenmann, Ursula: Von den HaëlWerkstätten zur Greta-Pottery, in: dies.; Beate Schmeichel-Falkenberg (Hg.): Grenzen überschreiten. Frauen, Kunst und Exil, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 53–74. Hudson-Wiedenmann 2006 Hudson-Wiedenmann, Ursula: Margarete Heymann-Loebenstein-Marks: Keramikdesignerin, in: Monika Dittmar et al. (Hg.): Haël-Keramik – wenig bekannt, bei Sammlern hoch geschätzt, Ausst.-Kat., Ofen- und Keramikmuseum Velten, 21.5.– 17.9.2006, Velten: Ofen- und Keramikmuseum 2006, S. 2–13. Luke 2015 Luke, Megan R.: Still Lifes and Commodities, in: Stephanie Barron; Sabine Eckmann (Hg.): New Objectivity. Modern German Art in the Weimar Republic 1919–1933, Ausst.-Kat., Los Angeles County Museum of Art, 4.10.2015–18.1.2016, München: Prestel 2015, S. 229–241. Michaud 2019 Michaud, Philippe-Alain: Un chien andalou, 1929, 35 mm, b&w, 16’ 30’’, in: Didier Ottinger; Marie Sarré (Hg.): The Surrealist Movement from Dalí to Magritte, Ausst.Kat., MNG Magyar Nemzeti Galéria – Hungarian National Gallery, 27.6.–20.10. 2019, Budapest: Magyar Nemzeti Galéria 2019, S. 164–168.

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Moeller 2016a Moeller, Magdalena M.: Kakteen erobern die Welt, in: dies.; Christian Ring (Hg.): Exotische Welten. Kakteen und außereuropäische Blütenpflanzen im Werk von Nolde und Schmidt-Rottluff, Ausst.-Kat., Brücke-Museum Berlin, 6.11.2016–8.1.2017, München: Hirmer 2016, S. 15–35. Moeller 2016b Moeller, Magdalena M.: Außereuropäische Blütenpflanzen, in: dies.; Christian Ring (Hg.): Exotische Welten. Kakteen und außereuropäische Blütenpflanzen im Werk von Nolde und Schmidt-Rottluff, Ausst.-Kat., 6.11.2016–8.1.2017, Brücke-Museum Berlin, München: Hirmer 2016, S. 41–59. Mück 1991 Mück, Hans-Dieter (Hg.): Georg Scholz 1890– 1945. Malerei, Zeichnung, Druckgraphik, Stuttgart: Hugo Matthaes Verlag 1991. Neff 1927 Neff, Elisabet: Auch allein – wohne fein. Die Wohnung der Junggesellin, Stuttgart: Franckh’sche Verlagshandlung 1927. Neundörfer 1931 Neundörfer, Ludwig: So wollen wir wohnen, Stuttgart: Franckh’sche Verlagshandlung 1931. Powers 2019 Powers, Alan: Bauhaus goes West. Modern Art and Design in Britain and America, London: Thames & Hudson 2019. Renger-Patzsch 2010 Renger-Patzsch, Albert: Kakteen-Aufnahmen (1926), in: Bernd Stiegler et al. (Hg.): Die Freude am Gegenstand. Gesammelte Aufsätze zur Photographie, München: Fink 2010, S. 54. Riedrich 1929 Riedrich, Otto: Neue märkische Gebrauchsund Zierkeramik, in: Keramische Rundschau und Kunst-Keramik, Jg. 37, 1929, S. 719–721. Roeder 1928 Roeder, Werner von: Kakteenzucht leicht gemacht. Grundsätze neuzeitlicher Kakteen- und Sukkulentenpflege, Stuttgart: Franckh’sche Verlagshandlung 1928.

Roh 1930 Roh, Franz: Aenne Biermann. 60 Fotos, Berlin: Klinkhardt & Biermann 1930. Stamm 2016 Stamm, Rainer: Kaktus in der Kunst der Neuen Sachlichkeit, in: Magdalena M. Moeller; Christian Ring (Hg.): Exotische Welten. Kakteen und außereuropäische Blütenpflanzen im Werk von Nolde und Schmidt-Rottluff, Ausst.-Kat., Brücke-Museum Berlin, 6.11.2016–8.1.2017, München: Hirmer 2016, S. 65–83. Strzoda 2010 Strzoda, Hanna: Das Schmidt-Rottluff-Zimmer Rosa Schapires in Hamburg, in: Eva Scheid (Hg.): Brücke und Blaues Haus. Heckel, Kirchner, Schmidt-Rottluff und die Sammlerin Hanna Bekker vom Rath, Ausst.-Kat., Stadtmuseum Hofheim im Taunus, 14.10.2010–20.2.2011, Frankfurt a. M.: Henrich 2010, S. 37–44. Utitz 1927 Utitz, Emil: Die Überwindung des Expressionismus. Charakterologische Studie zur Kultur der Gegenwart, Stuttgart: Enke 1927. Valdivieso 2019 Valdivieso, Mercedes: Ise Gropius: „Everyone Here Calls me Frau Bauhaus“, in: Elisabeth Otto; Patrick Rössler (Hg.): Bauhaus Bodies. Gender, Sexuality, and Body Culture in Modernism’s Legendary Art School, New York/London: Bloomsbury 2019, S. 169–193. Vester 1992 Vester, Katrin: Herbert von Garvens-Garvensburg: Sammler, Galerist und Förderer der modernen Kunst in Hannover, in: Henrike Junge (Hg.): Avantgarde und Publikum, Köln: Böhlau 1992, S. 93–102. Volz 2002 Volz, Jochen: Zwei glorreiche Halunken. Zu Simon Starlings „Kakteenhaus“, in: Simon Starling: Kakteenhaus, Ausst.-Kat., Portikus, 14.9.–20.10.2002, Frankfurt a. M.: Portikus 2002, S. 4–10. Wendland 1929 Wendland, Fritz: Hael-Keramik, in: Kunst und Kunstgewerbe, Jg. 4, 1924, S. 185–186.

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Wietek 1984 Wietek, Gerhard: Karl Schmidt-Rottluff in Hamburg und Schleswig-Holstein, Neumünster: Wachholtz 1984. Wietek 2001 Wietek, Gerhard: Karl Schmidt-Rottluff. Plastik und Kunsthandwerk. Werkverzeichnis, München: Hirmer 2001.

Bildnachweise

Abb. 1: Gabriele Kolber: Leben am Bauhaus. Die Meisterhäuser in Dessau, München: Bayerische Vereinsbank 1993, S. 51. Abb. 2: Elisabeth Otto und Patrick Rössler (Hg.): Bauhaus Bodies. Gender, Sexuality, and Body Culture in Modernism’s Legendary Art School, New York/London: Bloomsbury, 2019, S. 176 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Abb. 3, 4: Roeder 1928, S. 34, 57. Abb. 5: Neundörfer 1931, Cover. Abb. 6: Sabine Schulze (Hg.): Rosa. Eigenartig grün. Rosa Schapire und die Expressionisten, Ausst.-Kat., Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg, 28.8.–15.1.2009, Ostfildern: Hatje Cantz, 2009, S. 77.

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This paper explores the place of the still life in the aesthetic order of dwelling. Starting with an interior photograph of the so-called Gelbes Haus (Yellow House, 1914) by Bruno Paul, this essay focuses on a (visual) shift in discourse which can be seen as exemplified by relevant ‘good living’ guides and the magazine Deutsche Kunst und Dekoration. It becomes clear that still lifes, which are repeatedly seen in idealized images of the home, are always evaluated as domestic artifacts in the field of tension between art and decoration. While in the 19th century these pictures still had to subordinate themselves to a uniform decoration program, in the initial decades of the 20th century the individual picture as wall decoration increasingly became the furnishing ideal. Following the thesis by Julie Berger Hochstrasser that they are a constitutive part of the concept of domesticity, it is finally argued that, with the help of the (floral) still life as a medium and interior photography, ideas of bourgeois domestic culture were transported beyond the turn of the century into the (ideal) living spaces of the 20th century.

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AMELIE OCHS KUNST UND DEKORATION. ÜBER DIE VERORTUNG UND IMAGINATION VON STILLLEBEN IN DER WOHNUNGSEINRICHTUNG UM 1914 Ausgangspunkt für die folgende Untersuchung ist eine farbige Abbildung, die in Gustav Adolf Platz’ Publikation Wohnräume der Gegenwart (1933)1 als Bruno Pauls „Gartensaal auf der Werkbundausstellung, Köln, 1914“ betitelt wird (Abb. 1). Zu sehen ist ein Innenraum, der mit seinen reduzierten Formanleihen bei Renaissance, Barock und Rokoko eine eigentümliche Mischung traditioneller und moderner Architekturelemente aufweist. Die fotografische Aufnahme eröffnet den Blick in das benachbarte, durch einen kräftigen Farbkontrast zum Gartensaal abgesetzte Speisezimmer – hier pastellige Gelb-, Orange- und Rot-, dort intensive Blau-, Türkis- und Grüntöne. Die Komposition weist noch weitere ungleiche Gleichzeitigkeiten auf: die Simultaneität von architektonischer Tradition und moderner Reduktion des Architekturschmucks; das Nebeneinander von üppigen Kronleuchtern und mehrarmigen, güldenen Wandleuchten zum einen und einfachen, abstrakt gemusterten Polster-

1 Platz’ Überblickswerk ist nur ein Beispiel von Titeln zur Wohnraumgestaltung unter vielen in dieser Zeit. Es erschien 1933 vergleichsweise spät und versuchte, sich nicht eindeutig auf der ‚traditionellen‘ oder der ‚modernen‘ Seite der modernen Innenarchitektur zu positionieren, um als „Orientierungshilfe“ für „zukünftige Bauherren“ zu dienen (vgl. Jaeger 2000, S. 85–98). Gerade aufgrund dieses Selbstverständnisses ist diese Publikation auch interessant für die Wohnratgeberforschung.

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1  Farbtafel des Gartensaals mit angrenzendem Speisezimmer des Gelben Hauses von Bruno Paul auf der Werkbundausstellung in Köln, 1914, in Gustav Adolf Platz’ Wohnräume der Gegenwart, 1933, Fotograf*in unbekannt

möbeln zum anderen; und nicht zuletzt die Integration von kontrastierenden Farbflächen, dekorativen, gegenständlichen Wandmalereien und einem einzelnen, großformatigen Gemälde, das fleckig-expressiv einen Blumenstrauß zu erkennen gibt. Angesichts dieser Mannigfaltigkeit lässt sich die Fotografie als Beispiel für eine historische wie stilistische Schwellensituation begreifen.2

2 Bemerkenswerterweise wird die Raumansicht in Platz’ Abbildungsteil nicht der ‚Gegenwart‘ zugerechnet, deren mannigfache Bildbeispiele durch die ornamentfreie Gestaltung der Wandflächen charakterisiert sind, sondern der Zeit davor: „Vom 19. Jahrhundert bis zum Weltkrieg“ (S. 193–222). Vgl. das In-

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Der Wandel von Konventionen der Innenraumgestaltung und -einrichtung fällt, grob gesagt, mit dem Ende des ‚langen 19. Jahrhunderts‘ zusammen – und auch die standardmäßige Wiedergabe von Innenräumen durch Fotografien war Teil dieses Wandels. Die Leistungsschau des 1907 gegründeten Deutschen Werkbundes, die vom 16. Mai 1914 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs am 6. August desselben Jahres in Köln stattfand, wird als Symptom dieser Epochenschwelle bzw. als „Lackmustest der ersten Moderne“ begriffen (Nicolai 2016). Hier zeigte sich in manchen Exponaten die formale Reduktion, die ab den 1920er Jahren zum Standard werden sollte, gleichzeitig wurde vielfach an Traditionen, die in der Kontinuität des Historismus über das 19. Jahrhundert hinauswiesen, angeknüpft. Tatsächlich stand die Werkbundausstellung zum Zeitpunkt ihrer kriegsbedingten Schließung vor allem wegen eines ‚neuen Historismus‘ in der Kritik (vgl. ebd., S. 131 und bspw. für die zeitgenössische Kritik Stahl 1914, S. 2). Zurück zum eingangs beschriebenen Interieurbild: Dass hier mit den Mitteln des modernen Mediums der Fotografie ausgerechnet das gemalte Blumenstillleben an der Wand des Speisezimmers ins Bildzentrum gesetzt wird, macht das spannungsreiche Bild darüber hinaus für das Thema des Aufsatzes relevant. Dem liegt die Beobachtung zugrunde, dass in den menschenleeren und vergleichsweise leergeräumten Interieurfotografien der Wohnratgeberliteratur im 20. Jahrhundert immer wieder Stillleben als Wandschmuck zu sehen sind.3 Für die ästhetische Ordnung des Wohnens ist das Stilllebenmotiv von besonderem Interesse, weil sich in Wechselwirkung mit den gezeigten Einrichtungsarrangements eigentümliche Effekte wie motivische Doppelungen ergeben, wenn beispielsweise Blumensträuße, Obstkörbe und Krüge sowohl auf Tischen als auch auf Bildträgern an der Wand zu sehen sind. Im Kontext der Domestizierung – ein sozialer Prozess der Naturbeherrschung und -nutzbarmachung im weitesten und der Verhäuslichung im engeren Sinne – reflektieren Stillleben darüber hinaus die Kultivierung der Natur einerseits und des häuslichen Raums andererseits, indem sie Künstlichkeit und Natürlichkeit, Elemente

haltsverzeichnis in Platz 1933, S. 10. Die farbige Tafel IV mit dem Speisezimmer ist ohne Seitenzahl zwischen Seite 218 und 219 platziert und grenzt damit in der Chronologie des Buches beinahe an die ‚Gegenwart‘. 3 Vgl. zu den menschenleeren Bildern der Architektur- und Interieurfotografie z. B. Haus 2015 und Vetter 2014.

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des Innen und Außen visuell integrieren. Als Einrichtungsgegenstände erscheinen Stilllebenbilder darüber hinaus als im häuslichen Zusammenhang verklärte Konsumgegenstände. Diese Untersuchung geht explorativ der Frage nach, welchen Ort das Stillleben als Einrichtungsgegenstand in der ästhetischen Ordnung des Wohnens einnimmt, und knüpft in diesem Zusammenhang an die These von Julie Berger Hochstrasser an, dass es Teil des Konzepts von Häuslichkeit ist (Berger Hochstrasser 2000, S. 165).4 Analysegegenstände sind daher fotografische Idealbilder des Wohnens, um der Imagination dieses Konzepts auf die Spur zu kommen. Über das Beispiel des Speisezimmers in Bruno Pauls sogenanntem Gelbem Haus auf der Werkbundausstellung 1914 soll der Blick auf eine (visuelle) Diskursverschiebung eröffnet werden, die sich seit den 1910er Jahren zunehmend in Fotografien und Texten zum (bürgerlichen) Wohnen im deutschsprachigen Raum beobachten lässt. Ausgehend von diesem historischen Schwellenphänomen, in dem das Einzelbild als Einrichtungsgegenstand nicht ohne die ‚Raumkunst‘ zu denken war, soll zunächst der Blick zurück in die Geschichte des Stilllebens als Konsum- und Einrichtungsgegenstand gerichtet werden.5 Im Rückgriff auf kunstwissenschaftliche Forschung lässt sich schlaglichtartig die Frage behandeln, inwiefern Stillleben insbesondere im 17. und 19. Jahrhundert zum Inventar bürgerlicher Wohnkultur und Selbstrepräsentation gehörten. Die Gegenüberstellung einschlägiger Ratgeber zur Wohnungseinrichtung macht anschließend deutlich, dass Bilder als Wandschmuck immer im Spannungsfeld zwischen Kunst und Dekoration bewertet wurden. Dies gilt umso mehr für Stillleben, die der akademischen Ordnung gemäß als ‚dekorative Kunst‘ bezeichnet wurden. Im Abgleich dazu soll im nächsten Schritt mithilfe der Zeitschrift

4 Dem Aufsatz Imag(in)ing Prosperity von Julie Berger Hochstrasser, der die Malerei im Kontext materieller Kultur in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts in den Blick nimmt, verdanke ich wesentliche konzeptuelle Impulse für das Nachdenken über den Zusammenhang von Vorstellung und Verbildlichung von Wohlstand und (bürgerlicher) Häuslichkeit in Bezug auf die Gattung Stillleben. 5 Dabei handelt es sich freilich um einen eingeschränkten Blick auf die Gattung, die in der kunstwissenschaftlichen Forschung nach wie vor Fragen zur Funktion aufwirft. Der Literaturwissenschaftler Joachim Knape, der Stillleben im Kontext seiner Untersuchung zur Rhetorik der Dinge befragt, fasste zuletzt im Rückgriff auf den Ausstellungskatalog Stilleben in Europa (1980) insgesamt zehn „Entstehungs- und Funktionshypothesen zum Stillleben der frühen Neuzeit“ zusammen (Knape 2019, S. 60f.).

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Deutsche Kunst und Dekoration der zeitgenössische Diskurs zum Thema um 1914 beleuchtet werden, um abschließend deutlich zu machen, dass Vorstellungen von bürgerlicher Wohnkultur unter anderem über das Medium des (Blumen-)Stilllebens bzw. der Interieurfotografie über die Jahrhundertwende hinaus in die (idealen) Wohnräume des 20. Jahrhunderts transportiert wurden.

STILLLEBEN UND RAUMKUNST: VOM PRINZIP DES (FARBIGEN) BILDES IM GELBEN HAUS Wie bereits erwähnt, stellt das großformatige Blumenstillleben, das über der gedeckten Tafel im Speisezimmer von Pauls Gelbem Haus hängt, das Zentrum der Fotografie dar. Dieser Eindruck wird durch den räumlichen Tiefensog unterstützt, der noch verstärkt wird durch die eingangs beschriebene Farbgebung der Räume von einem hellen zu einem dunkleren Farbspektrum und die doppelte Rahmung durch den eigentlichen Bilderrahmen und den Rahmen der scheinbar türlosen Wandöffnung. Im Gemälde, in dessen Hintergrund sich bei näherer Betrachtung eine Landschaft in Vogelperspektive erstreckt, wird dieser Sog in ein imaginäres Äußeres verlängert. Die Kameraperspektive gliedert den Kronleuchter visuell in die Bildkomposition ein, sodass dessen Konturen im gemalten Blumenstrauß verschwimmen. Bei dem Bild handelt es sich um ein Gemälde von Emil Orlik, der in erster Linie als Grafiker in die Kunstgeschichte einging (vgl. bspw. Osborn 1920).6 Erst 2020 wurde es auf dem Kunstmarkt unter dem Label „moderne Kunst“ wieder zum Verkauf angeboten.7 Losgelöst aus dem histori-

6 Max Osborns Band in der Reihe Graphiker der Gegenwart ist nur ein Beispiel unter vielen, die diese Fokussierung auf Orliks künstlerisches Werk vornehmen. Er betont Orliks Nähe zur „dekorative[n] Bewegung“ in der Kunst (Osborn 1920, S. 11 und insbes. 15). Auf der Werkbundausstellung 1914 in Köln war Orlik jedoch insbesondere mit Gemälden (zwei Stück im Gelben Haus) und Wandmalereien (z.B. im Weinrestaurant) vertreten, vgl. Osborn 1919. 7 Siehe die entsprechende Ergebnisseite des Berliner Auktionshauses Grisebach: www.grisebach.com/ergebnisse/werk-objektarchiv.html?tx_griarchiv_gri archiv%5Blot_id%5D=4055492&tx_griarchiv_griarchiv%5Bsearch%5D=orlik&tx_ griarchiv_griarchiv%5Bsort%5D=&tx_griarchiv_griarchiv%5Bcategory%5D=&tx_ griarchiv_griarchiv%5Bsearch_id%5D=&tx_griarchiv_griarchiv%5BcurrentPage% 5D=1&tx_griarchiv_griarchiv%5Btoggle_direction%5D=&tx_griarchiv_griarchi

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schen Ausstellungskontext nahm es Warenförmigkeit an und wird seither privat ‚genutzt‘.8 Aus den auf der Internetseite des Auktionshauses angegebenen Daten geht hervor, dass das fast quadratische Gemälde aller Wahrscheinlichkeit nach für Bruno Pauls Raumkomposition entstanden ist.9 Während Platz, der Autor der Wohnräume der Gegenwart, mit fast 20 Jahren Abstand den oben beschriebenen Raum nicht unkritisch als „behaglich[ ], etwas schwer[ ], patrizierhaft[ ], auf jeden Fall aber elegant[ ] und kultiviert[ ]“ beschreibt (Platz 1933, S. 27), wird das Gelbe Haus vom Kunstschriftsteller Fritz Stahl 1914 in dessen reich bebilderter Besprechung in der Zeitschrift Dekorative Kunst noch gelobt. Stahl hebt insbesondere das Farbkonzept der Innenraumgestaltung hervor – auch sein Text ist neben großformatigen Schwarzweißfotografien mit farbigen Bildern illustriert, wobei das Speisezimmer gleich zweimal aus derselben Perspektive mit Fokus auf das Stillleben, einmal schwarzweiß und einmal farbig, abgebildet ist (Abb. 2).10 Im „Ineinanderweben und der Nuancierung der Farbe“ erkennt er ein „Prinzip des Bildes“ (Stahl 1914, S. 3). In Bezug auf das lichtblaue Speisezimmer, in dem sogar das Geschirr mit kobaltblauem Rand ‚mitspielt‘, betont Stahl außerdem: „Noch bestimmter wird der Zusammenhang durch ein großes Blumen-

v%5Baction%5D=detail&tx_griarchiv_griarchiv%5Bcontroller%5D=Archiv&cHas h=36b4a3117472dad4d1821a7a9893a0a4 (1.11.2021). Hier lassen sich überhaupt die Bilddaten finden: Emil Orlik, Großes Blumenstillleben in blauer Vase, 1914, Öl über Kreide auf Leinwand, 176,5 × 166 cm, Aufbewahrungsort unbekannt. 8 Traute Meins, einer Mitarbeiterin des Auktionshauses Grisebach, verdanke ich den Hinweis, dass das Gemälde bereits in zwei Auktionen zum Verkauf stand (Auktion 320, Los 129, 2020 und zuvor Auktion 25, Los 142, 1992) und dass Orliks Stillleben überwiegend in Privatsammlungen verkauft werden. E-Mail-Korrespondenz mit Traute Meins, Grisebach GmbH, am 21.12.2021. 9 Eine Zusammenarbeit ist durchaus wahrscheinlich, da sich beide durch ihre Tätigkeit an der Staatlichen Lehranstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums kannten – Paul war seit 1907 Direktor der Schule, Orlik wurde bereits 1904/05 zum Leiter der dortigen Grafik-Klasse berufen. Die Angaben zu Orlik sind allerdings uneinheitlich. Er selbst nennt in seinem Lebenslauf von 1919 das Jahr 1905 (Orlik 1924, S. 54). 10 In der Gegenüberstellung wird deutlich, wie wichtig die aufwendige Produktion von Farbaufnahmen und die farbige Reproduktion für die Vermittlung und das Verständnis von Raumkunst war und ist. Vgl. zur Rezeption des Gelben Hauses Drebusch/Ziffer 1992, S. 214, zur aktuellen Forschung zur Dreifarbenfotografie um 1900 Hannouch 2022 und zur Verwendung von Farbreproduktionen Imorde/Zeising 2022.

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2  Doppelseite des Artikel Das gelbe Haus von Fritz Stahl, Dekorative Kunst, 1914, mit der Gegenüberstellung einer schwarzweißen und einer farbigen Version der fotografischen Aufnahme des Speisezimmers, Fotograf*in unbekannt

stück von EMIL ORLIK hergestellt, das dem Eingang vom Saale aus gerade gegenüberhängt und für den Blick sehr entschieden mitwirkt. Es kann und soll nicht den Dekorationen gleichartig sein, mußte aber doch wieder so geartet sein, daß kein Gegensatz entstand. […] Es könnte ganz unabhängig bestehen und niemandem würde ein Zwang auffallen. Und doch ist es nicht nur in der Tonart, sondern sogar in den Farben, die vorkommen mußten, durch die Situation bestimmt.“ (Ebd., S. 9, Herv. i. Orig.) Bemerkenswert an diesen Ausführungen ist, dass der Anspruch an eine einheitliche Raumwirkung formuliert wird. Darin klingt der zeitgenössische Diskurs um die ‚Raumkunst‘ an, der sich im deutschsprachigen Raum spätestens seit der III. Deutschen Kunstgewerbe-Ausstellung in Dresden 1906 etabliert hatte und auch im Rahmen der Werkbundaus-

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stellung 1914 präsent war (Sildatke 2013, S. 29f.).11 Der Diskurs kann mit seinem Bekenntnis zum ‚organischen‘ Einheitsraum, in dem die Künste ‚ineinanderfließen‘, als eine Aktualisierung der Rede vom Gesamtkunstwerk verstanden werden, allerdings unter dem Vorzeichen der Reformbewegung in Zuschnitt auf das Kunstgewerbe (vgl. ebd., S. 30; Haenel 1906, S. 25–27): „Das Kunstgewerbe ward zur Kunst der Interieurgestaltung, zur Technik des wohnlichen Raums, zur Raumkunst.“ (Haenel 1906, S. 27) In diesem Sinne ist das bestimmende Merkmal der Raumkunst ihr „Kompositionscharakter“ (Sildatke 2013, S. 31). Vor diesem diskursiven Hintergrund will Stahl Orliks Gemälde als Element einer Raumkomposition verstanden wissen, das jedoch nicht bloß dekorativ ist. Die Frontalansicht der fotografischen Raumaufnahmen unterstützt diesen dialektischen Eindruck und untermalt das ‚Prinzip des Bildes‘. Während das Gemälde in der Schwarzweißfotografie im Bildhintergrund in Grautönen verblasst, zieht es in der farbigen Raumaufnahme die Aufmerksamkeit auf sich. Das Bild im Bild dominiert (als farbiges Bild) den Raum aufgrund seiner Größe oder vielmehr: aufgrund der Größe des dargestellten Blumenstraußes, der die Maße des davorhängenden Kronleuchters übertrifft. Zugleich bildet das Gemälde, gemeinsam mit den Leuchtern an der Wand, dem neobarocken Büffet, den darauf gereihten Gefäßen und dem Blumenschmuck in der Mitte (noch ein Stillleben!), den Hintergrund der Szenerie wie auch deren kompositorischen Fixpunkt. Insbesondere in der farbigen Abbildung wird deutlich, wie ausgewogen die Komposition sein will, wenn die Möbel- mit der Wandfarbe korrespondiert, die helle Zimmerdecke ein Pendant in der Tischdecke findet und einen Kontrast im Rot des Teppichbodens, der wiederum einen tonalen Gegensatz zum Blau der Möbel- und Wandfarbe bildet wie auch einen farbigen Zusammenhang zum vorgelagerten Gartensaal herstellt – und alle Farben sind in Orliks Gemälde zusammengefasst. Es ist konstitutives Element der Innenausstattung und ein Kunstwerk ‚für sich‘, d.h., dass es auch ohne den spezifischen Raum und seine Ausstattung ‚funktioniert‘. Damit ist das zugrunde liegende Spannungsfeld beschrieben, um das es hier geht.

11 Arne Sildatke weist darauf hin, dass der Begriff auf die Tektonik-Diskussion des 19. Jahrhunderts zurückgehe, die das Zusammenspiel von konstruktiven und dekorativen Elementen für die Raumgestaltung hervorhob (Sildatke 2013, S. 29, Anm. 59). Vgl. zur Definition von Raumkunst außerdem König (2018). Für einen konstruktiven Austausch zum Thema ‚Raumkunst‘ danke ich Sonja Sikora.

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SALONFÄHIGE SPEISEZIMMERBILDER: STILLLEBEN IN DER BÜRGERLICHEN WOHNKULTUR In seiner Kritik des Pariser Salons von 1845 qualifizierte Charles Baudelaire die Blumenstillleben eines prominenten Vertreters der Lyoneser Malschule, Simon Saint-Jean, als „Speisezimmerbilder“ ab (Baudelaire zit. n. Hansen 2021, S. 92). Damit gedachte Baudelaire den Gemälden, die in der „neo-niederländischen Tradition“ standen (vgl. Hardouin-Fugier/Grafe 1989, S. 18–22), ihre künstlerische Relevanz abzusprechen, indem er zusätzlich betonte, dass sie nicht für Kunstkabinette und Galerien geeignet seien. Die Polemik beinhaltete allerdings wichtige Hinweise für die Verortung der Gattung Stillleben im 19. Jahrhundert. Einerseits reproduzierte die Formulierung die niedrige Stellung der Stillleben in der von der Académie française bestimmten Gattungshierarchie, verwies auf den kommerziellen Kontext der Stilllebenmalerei und implizierte das Ressentiment dieser häufig als dilettantisch klassifizierten Tätigkeit, die insbesondere mit der Praxis von Malerinnen in Verbindung gebracht wurde (vgl. Hansen 2021, S. 92). Andererseits referierte sie darüber hinaus auf den häuslichen Zusammenhang, in dem diese Bilder Verwendung fanden. Dass es sich dabei auch damals schon um eine lang tradierte Konvention handelte, lässt sich sowohl anhand der visuellen Kultur als auch im Rückgriff auf kunsthistorische Forschung zur Gattung des Stilllebens aufzeigen. Die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts ist außer für (Blumen-)Stillleben auch für die Darstellung von häuslichen Genreszenen bekannt. In diesen werden vermehrt Bilder, allerdings eher Landschaftsgemälde als Stillleben (vgl. z.B. Beaujean 2001, S. 181, 198–200, 202f.).12 Für diesen Zeitraum können auch statistische Analysen die zunehmende Präsenz der Genregattungen in privaten Haushalten und Sammlungen nachweisen, wie es z.B. die Kunsthistorikerin Julie Berger Hochstrasser

12 Die Etablierung der genannten Gattungen wird in Zusammenhang mit der Entstehung des Kunstmarkts gesehen, vgl. hierzu insbes. Silver 2006. Berger Hochstrasser betont darüber hinaus, dass diese Entwicklung vor dem Hintergrund der Entstehung der Konsumkultur in den Niederlanden des 17. Jahrhundert zu betrachten sei, dass Stillleben die ökonomische Entwicklung der Niederlande gar spiegeln würden (Berger Hochstrasser 2007, S. 1). Vgl. allgemein zur großen Beliebtheit der Stillleben unter privaten Käufer*innen König/ Schön 1996, S. 57–59; für das 19. Jahrhundert vgl. z.B. Hansen 2021, S. 93.

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anhand von Inventarlisten insbesondere städtischer Haushalte getan hat (Berger Hochstrasser 2000, S. 197, 199). Sie kann außerdem aufzeigen, in welche räumlichen Kontexte die Stillleben eingebunden waren. Dabei wird deutlich, dass die große Mehrzahl der Stillleben in Vorderzimmern hing, gefolgt von Kammern („other rooms“) und Küchen, selten jedoch in Schlaf- und Speisezimmern, Büro- oder Geschäftsräumen (ebd., S. 220f.). Die Kunsthistorikerin Claudia Goldstein hat folglich vorgeschlagen, Gemälde als „domestic artifacts“ der flämischen Alltagskultur zu begreifen und zu analysieren, um „ikonografische Korrespondenzen“, beispielsweise in Speisezimmern, herauszustellen (Goldstein 2000, S. 179, 181). Sie konstatiert, dass die Hängung kostbarer Bilder in halböffentlichen Räumen in einem flämischen Haushalt des 17. Jahrhunderts Wohlstand und Kennerschaft symbolisieren sollte und im Falle des Speisezimmers dasselbe als Ort der Vergnügung und des Genusses auszeichnete (vgl. ebd., S. 181–185). Damit weist die Autorin auf die Distinktionspraxis der Selbst-(Re-)Präsentation hin, die für das Verständnis von Bürgerlichkeit zentral ist.13 Passend dazu beschreibt Norman Bryson Stillleben dieser Zeit als Luxusgüter, die den „Traum von Wohlstand […] repräsentieren“ (Bryson 2003, S. 137, Herv. i. Orig., vgl. auch S. 119), was insbesondere auf Prunk- und Blumenstillleben zutrifft.14 Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Maren-Sophie Fünderich in Bezug auf einen späteren historischen Kontext, wenn sie Bilder als elementaren Bestandteil der bürgerlichen Selbstrepräsentation im Wohnen im deutschen Kaiserreich benennt (vgl. Fünderich 2019, S. 60f.). Sie weist darauf hin, dass in Haushaltsbüchern „Familienbilder […], Stillleben, Historienbilder, Genremalerei sowie kostengünstige Kopien von Meisterwerken“ gelistet wurden (ebd., S. 61). Um deren Funktion zu bestimmen,

13 Im Anschluss an Manfred Hettling (2015) verstehe ich Bürgerlichkeit als „kulturelles Muster“, das in Wechselwirkung mit dem Kapitalismus entstand. In Zusammenhang mit dem Kunstfeld soll das Adjektiv ‚bürgerlich‘ eine nicht-adelige Käufer*innenschicht bezeichnen, d.h. wohlhabende Mitglieder der Mittelschicht, die ihr Selbstbewusstsein über Distinktionspraktiken zum Ausdruck bringt. 14 Bryson fächert in seiner Monografie über Stillleben in dem Kapitel „Hülle und Fülle“ verschiedene Ebenen heraus, auf denen insbesondere die Blumenstillleben Wertigkeit haben: „der den dargestellten Gegenständen inhärente Wert, ihre Bedeutung als wissenschaftliche Musterexemplare, der Wert der Arbeitsleistung des Malers, die Leinwand als solide finanzielle Investition“ (Bryson 2003, S. 117f.).

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bezieht die Autorin die retrospektive Einschätzung des Kulturhistorikers und Schriftstellers Julius Zeitler mit ein: „Das Bild an der Wand ist der Gradmesser für die Bildung des Bewohners.“ (Zeitler zit. n. ebd., S. 61) Die Symbolisierung von Bildung in der Wohnungsausstattung spielte für das Bürgertum eine wichtige Rolle, da es seine gesellschaftliche Relevanz gegenüber dem Adel sowie der Arbeiter- und Bauernschaft über unternehmerische, wissenschaftliche und kulturelle Leistung zu legitimierten suchte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden noble, als ‚adelig‘ konnotierte Stile (insbesondere Neobarock und -rokoko) im Historismus zur Symbolisierung des Machtanspruchs gebraucht (vgl. ebd., S. 63). Vor diesem Hintergrund lässt sich Platz’ oben zitierte Beschreibung der Wirkung der Innenräume von Pauls Gelbem Haus auch als eine Referenz auf Wunschträume bürgerlichen Wohnens auffassen, die zum Zeitpunkt der Kölner Werkbundausstellung unter wohlhabenden Bürger*innen einerseits noch verbreitet waren und andererseits von einigen Protagonist*innen, die später mit dem Neuen Bauen assoziiert waren, zunehmend in Frage gestellt wurden.15 Fünderich weist in ihrer Studie allerdings auch daraufhin, dass die finanziellen Mittel dem Repräsentationsbedürfnis des aufstrebenden Bürgertums kaum genügten (vgl. ebd., S. 37f.). Insofern waren weniger Ölgemälde als vielmehr Kunst- bzw. sogenannte Öldrucke als Wandschmuck weit verbreitet. Diese waren jedoch nicht minder Ausdruck von Geltungsbedürfnis. Christa Pieske macht in ihrer umfassenden Studie über industriell gefertigte Wandbilddrucke deutlich, dass diese mit Kunst gleichgesetzt wurden (Pieske 1988, S. 57). Während in der Mitte des 19. Jahrhunderts vorwiegend noch Stiche und Lithografien als Wandbilder produziert wurden, erweiterten sich bis zum Ende des Jahrhunderts die Möglichkeiten insbesondere des Farbendrucks wie auch die Käufer*innenkreise, bis um 1900 ein vielfältiges Angebot für alle sozialen Schichten gegeben war und somit Bilder als Einrichtungsgegenstände allgemein verfügbar waren (ebd., S. 25–27; vgl. Renié 2006, S. 83). Bei dem Angebot der Kunstdruckverlage handelte es sich zunächst noch zum großen Teil um Reproduktionen von Gemälden der ‚Alten Meister‘ (vgl. Pieske 1988, S. 82; Betz 2012, S. 92). Darunter waren, empfoh-

15 Bruno Pauls Architektur ist typisch für diesen Zwiespalt, der dem Geschmack einer wohlhabenden bürgerlichen Schicht entsprach, vgl. Ottomeyer 1992, insbes. S. 106, 108 und Ziffer 1992.

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len insbesondere für die Ausstattung der Speisezimmer, die Stillleben „[v]on ungebrochener Beliebtheit“ (Pieske 1988, S. 41).16 Diese Empfehlung formuliert beispielsweise Ernst Zimmermann 1893 in seinem Beitrag über „[d]as Bild als Wandschmuck“ in der Zeitschrift Kunst für Alle (Zimmermann 1893, S. 185). – Offenbar waren Stillleben trotz aller akademischer Kritik stets und gerade im 19. Jahrhundert ‚salonfähig‘.

MEHR ALS DEKORATION: DIE VERORTUNG DER BILDER DURCH WOHNRATGEBER Vor dem Hintergrund der Stabilisierung des bürgerlichen Selbstbewusstseins durch Wissen, Kultur und Repräsentativität im Wohnen ist es kaum überraschend, dass das Aufkommen der Ratgeberliteratur zum Wohnen in Zusammenhang mit der Entstehung und Etablierung einer bürgerlichen Klasse steht (Reagin 2007, S. 21f.). Vermehrt seit Mitte des 19. Jahrhunderts tragen Wohnratgeber neben Zeitschriften zur Kanonisierung des ‚Wohnwissens‘ bei, das eine Orientierung beim ‚richtigen‘ Einrichten bieten soll (vgl. Nierhaus/Nierhaus 2014, S. 9). Vom Bild ist in diesen Abhandlungen zumeist als Wandschmuck die Rede, selten wird dabei auf einzelne Gattungen eingegangen. Obwohl die Bilder also mit Kunst gleichgesetzt wurden, wurden sie als Teil des Dekorationsprogramms begriffen (Renié 2006, S. 73).17 Die angrenzende Diskussion um die Dekoration in der Architektur ist mindestens so alt wie die Theoretisierung der Architektur selbst. Besondere Bedeutung erlangte sie jedoch in der Diskussion der Semper’schen ‚Bekleidungstheorie‘ im Kontext des Historismus. Dass in der Folge die Anzahl der Bilder an den Wänden von Wohnräumen zunahm, wird damit begründet, dass Bilder – wie auch alle übrigen Objekte im Raum – zur Vereinheitlichung des Raumeindrucks beitragen würden (vgl. Muthesius 2009, S. 105). Diese Auffassung spiegelt sich etwa in Georg Hirths Werk Das deutsche Zimmer der Renaissance. Anregungen zu häuslicher Kunstpflege (1880)

16 Unbegründet bleibt jedoch, warum Pieske trotz dieser Feststellung in ihrer Übersicht der Bildmotive gar nicht auf die Gattung eingeht. 17 Während die Zusammenstellung von Bildern (wie auch die Ausstattung mit Blumenschmuck) nicht Teil der Aufgabe von Dekorateur*innen war, fiel ihnen die Auswahl der passenden Bilderrahmen zu, vgl. Muthesius 2009, S. 106.

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wieder – und zuvor ganz ähnlich in Jacob Falkes Kunst im Hause (1871). Das gerahmte Bild behandelt Hirth im Kapitel „Hauptstücke der Dekoration“. Einleitend bemerkt er dazu, dass „jeder Raum […] ein harmonisches Ganzes bilden soll“ (Hirth 1880, S. 145).18 Hirth betont in Bezug auf Gemälde die Notwendigkeit eines plastischen Rahmens, der das Bild sowohl vom übrigen Wandschmuck isoliert als auch damit verbindet.19 Weiterhin definiert er: „[…] wenn das Oelbild ein echter ‚Zimmerschmuck‘ […] sein, wenn es also dekorativ wirken soll, so muß es mit der übrigen Dekoration harmoniren. […] Das Bild muß […] der intellektuellen und sinnlichen Gesamtstimmung des Raumes entsprechen, der ‚Temperaturunterschied‘ zwischen dem Bilde und der ganzen Dekoration darf kein großer sein.“ (Ebd., S. 175) Nicht zuletzt gibt er eine Empfehlung zur Hängung, welche „die Miniaturen und kleinen Genreszenen u. dgl.“ unten und „oben die großen Porträts, Madonnen, Stillleben, Landschaften etc.“ verortet (ebd.). Es hat den Anschein, dass sich dieser Anspruch an das Bild als Einrichtungsgegenstand bis ins 20. Jahrhundert hinein verstetigt, wenn beispielsweise der Temperatur-Aspekt bei der Betonung von Tonart und Farbe durch Stahl in Bezug auf das Speisezimmer im Gelben Haus angedeutet wird. Auch der Hinweis auf die Notwenigkeit des Bilderrahmens, einerseits zum ‚Schutz‘ des eigenständigen Bildmotivs, andererseits zur Einpassung des Bildes in die Umgebung, klingt zum einen in Stahls Rede von der Nicht-Gleichartigkeit des Kunstwerks zur Dekoration an und wird zum anderen sehr prominent von Georg Simmel in seinem Text Der Bilderrahmen (1902) aufgegriffen. Auch 40 Jahre später deuten sich die Maximen vom Einheitsraum, Farbenklang und dem dekorativ wirksamen Kunstwerk in dem von Alexander Koch herausgegebenen Sammelband Das schöne Heim. Ratgeber für die Ausgestaltung und Einrichtung der Wohnung noch an (vgl. insbes. Jaumann 1920). In dem Band, in dem diskursmächtige Autor*innen zum Thema Wohnen zu Wort kamen, wird den Bildern – anders als in den Wohnratge-

18 Er spricht von einer „Thätigkeit“ der einzelnen Teile und unterscheidet dabei zwei gleichrangige Funktionen: eine subjektive, die der technischen Rolle des Gegenstands im Raumaufbau entspreche, und eine objektive, die der Erfüllung ästhetischer Bedürfnisse der Bewohner*innen diene (Hirth 1880, S. 145f.). Damit kommt der Diskurs zur Raumgestaltung im 19. Jahrhundert zum Ausdruck, von der in Anm. 11 bereits die Rede war. 19 Zur Geschichte des Bilderrahmens im 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. Pieske 1988, S. 128–136.

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bern vom Ende des 19. Jahrhunderts – ein eigenes Kapitel gewidmet. Unter der Überschrift „Die bildende Kunst im Heim“ wird hervorgehoben, dass der künstlerische Besitz den Mittelpunkt der Raumausstattung bilden und eine „seelische Atmosphäre“ verbreiten solle (Servaes 1920a, S. 137f.). „Das Bild soll ein Schmuck sein für das Zimmer. Neben die Zweckformen der Möbel stellt es das freie Spiel der Phantasie und der künstlerischen Laune […]. Als räumliche Erscheinung belebt und gestaltet das Bild den Raum.“ (Jaumann 1920, S. 141, Herv. i. Orig.) Die Formulierung erinnert an das ‚Prinzip des Bildes‘, von dem bei Stahl die Rede war. Auffällig ist, dass in den Einzelbeiträgen vom Bild vor allem im Singular die Rede ist. Das hat nicht nur damit zu tun, dass es sich um eine verallgemeinernde grammatikalische Form in einer theoretischen Abhandlung handelt, sondern auch damit, dass inzwischen „Massenansammlungen von Bildern“ als „etwas Barbarisches [an sich]“ beschrieben wurden (Servaes 1920b, S. 139). Entscheidend dafür, ob ein Bild überhaupt aufgehängt werden sollte – kein Bild sei besser als ein schlechtes –, sei die „Beziehung zu uns“ (Hardenberg 1920, S. 144, Herv. i. Orig.). Bei Franz Servaes ist diesbezüglich von einem „Freundschaftsverhältnis“ die Rede (Servaes 1920b, S. 140). In solchen Formulierungen kommt ein zentrales Motiv des modernen Wohnens zum Ausdruck, nämlich der Anspruch der Individualität, die sich im wechselseitigen Verhältnis zwischen Bewohnenden und Raumausstattung konstituiert.20 Das Kunstwerk wird hier zum Dialogpartner animiert (vgl. Servaes 1920a, S. 138). Es verlange „den einsamen Betrachter, die einsame Umgebung. Das Ideal wäre: ein einzelnes Kunstwerk in einem ganz auf sein innerstes Wesen abgestimmten, harmonisch-abgeschlossenen Raum.“ (Servaes 1920b, S. 139) Wenn zuvor Kunstwerke in Bezug auf die einheitliche Raumwirkung ausgewählt werden sollten, so ist es nun umgekehrt: Die Raumgestaltung habe sich – idealerweise – am Kunstwerk zu orientieren. In Pauls Speisezimmer ist dieses Ideal zumindest insofern realisiert, als das Stillleben das einzige dort aufgehängte Bild ist. Dass es als solches im Speisezimmer hängt, ist überhaupt die Anwendung eines weiteren ‚modernen‘ Einrichtungsideals, das in Das schöne Heim formuliert wird: „Frühstücks- und Speisezimmer haben wenig, aber wohltuenden Wandschmuck. Die italienische Barockkultur hat für sie Blumenstilleben

20 Zum Identisch-Werden von Einrichtung und Bewohnenden hat insbesondere Penny Sparke kritisch geforscht und mehrere Sammelbände herausgegeben, vgl. z. B. Massey/Sparke 2013.

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auf schwarzem Grunde, meist in Gestalt von Supraporten, maßgebend gemacht. Wir sollten diese Gedanken in unserer neuen Wohnkunst neu beleben und moderne, sonnige Stilleben oder Blumenstücke der lichten Täfelung einfügen.“ (Hardenberg 1920, S. 143, Herv. i. Orig.)

DOMESTISCHE DING-BILDER: DIE IMAGINATION VON STILLLEBEN AN DER KAHLEN WAND Die betonte Reduzierung des Wandschmucks und die Aufwertung des (einzelnen) Bildes als wesentliches Element der Raumwirkung sind maßgebliche Unterschiede zur (empfohlenen) Raumausstattung und Hängung von Bildern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Verschiebung des Diskurses wurde bereits anhand der Besprechung des Wohnratgebers von Hirth und des von Koch herausgegebenen Sammelbands erkennbar. Sie bildet den diskursiven Hintergrund zu Pauls Gelbem Haus und lässt sich visuell unter anderem in der Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration nachvollziehen. Diese wurde 1897 im Zuge der Reformbewegung gegründet und bis 1932 als Monatsschrift ebenfalls von Koch herausgegeben. Die Zeitschrift kann als ein Leitmedium des damals herrschenden Wohndiskurses im deutschsprachigen Raum gelten.21 Wie auch der oben zitierte Sammelband verfolgte die Zeitschrift dezidiert didaktische Absichten, wofür sie Idealbilder des Wohnens durch Fotografien verbreitete (vgl. Randa 1990, S. 114).22 Deutsche Kunst und Dekoration adressierte ein bürgerliches Publikum, das an zeitgenössischen Entwicklungen auf dem Kunstmarkt und im Kunstgewerbe interessiert war und somit auch als Konsument*innen von Kunst und entsprechenden Produkten in Frage kam (vgl. ebd., S. 88; Sildatke 2013, S. 128). Im ersten Jahrzehnt des Bestehens widmete sich das

21 Die Zeitschrift beinhaltete neben Texten über Möbelhersteller und Inneneinrichtungen insbesondere Beiträge über Künstler*innen und Kunstwerke, Architekten und Architektur, aber auch Besprechungen von Ausstellungen und Publikationen, kunsttheoretische Beiträge und Texte über die Bedingungen des Kunstfeldes. Eine umfassende Inhaltsanalyse legt Sigrid Randa in ihrer Dissertation vor (Randa 1990, S. 139–159). 22 Vgl. zum Zusammenhang von Zeitschriften und der idealen Verbildlichung des Wohnens den Sammelband WohnSeiten, herausgegeben von Irene Nierhaus, Kathrin Heinz und Rosanna Umbach (Nierhaus et al. 2021), und hierin insbesondere Jeremy Aynsleys Beitrag zur Rolle Alexander Kochs in der deutschsprachigen Publizistik zu diesem Thema (Aynsley 2021).

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3a, b  Doppelseiten aus dem Artikel Vereinigte Werkstätten für Kunst im Handwerk von Paul Westheim, Deutsche Kunst und Dekoration, 1911, Fotograf*in unbekannt

Periodikum vor allem dem ‚Jugendstil‘,23 der dem Konzept der Raumkunst noch stark verpflichtet war (vgl. Sildatke 2013, S. 127). Hier stellen jedoch gerahmte Bilder und vor allem Stillleben bei der Innenraumgestaltung eine Ausnahme dar.24 Mit Beginn der 1910er Jahre waren, zeitgleich mit

23 Die Bezeichnung ‚Jugendstil‘ entspricht einem heutigen, durch den kunstund architekturhistorischen Kanon vermittelten Verständnis der Stilrichtung. Randa macht allerdings darauf aufmerksam, dass Koch den Begriff keinesfalls positiv konnotierte, sondern in Abgrenzung vom „sogenannten Jugendstil“ vom „neuen“, „[m]odernen“ oder – wie es im Untertitel der Deutschen Kunst und Dekoration heißt – „neuzeitlichen“ Stil sprach (Randa 1990, S. 21f., 91). 24 Ein Beispiel dafür ist der Entwurf für ein Treppenhaus von Max Rose von 1899, siehe Deutsche Kunst und Dekoration, Jg. 1899, S. 514. Die Jahrgänge der Zeitschrift sind vollständig digitalisiert und über die Webseite Heidelberger historische Bestände – digital zugänglich: digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/dkd (21.12.2021).

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einer fortschreitenden Reduzierung der Wandgestaltung hin zu einer kaum gegliederten Fläche, zunehmend Stillleben in der Zeitschrift zu sehen. In Artikeln über Möbel oder Möbelhersteller sind sie den Einrichtungsgegenständen zur Seite gestellt wie im Text Vereinigte Werkstätten für Kunst im Handwerk von Paul Westheim (1911). Sie hängen als Kunstdrucke unkommentiert über Sitzmöbeln oder Tischchen und dienen unter anderem als Fensterersatz (Abb. 3a, b). Letzteres wird insbesondere in der Fotografie deutlich, in der das Stillleben einer Obstschale, dargestellt vor einem Fensterkreuz, über einem Stuhl neben einer Eckvitrine steht. Es ist eine unwahrscheinliche Raumsituation, die die Fotografie als Studioaufnahme erkennen lässt. Gleichzeitig wird in Textbeiträgen über das „Verlangen nach Bildern“ (Bredt 1912) und „[v]om Bild als Wandschmuck“ (Braungart 1913/14) geschrieben. Ein Text von Anton Jaumann handelt von den „Aufgaben der Malerei“ (Jaumann 1916) und wird – so könnte man zumindest

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4a, b  Doppelseiten aus dem Artikel Die Aufgaben der Malerei von Anton Jaumann, Deutsche Kunst und Dekoration, 1916, mit Aufnahmen aus dem Haus G. von Emanuel von Seidel, Fotograf*in unbekannt

meinen – von Esszimmereinrichtungen von Emanuel von Seidel illustriert (Abb. 4a, b). Doch der Text geht in keiner Weise auf die dazwischengesetzten Fotografien ein und auch nicht auf die Stillleben, die in den Zimmern zu sehen sind – hier zum Teil idealtypisch als Supraporte platziert (Abb. 4b). Vielmehr handelt sich um Illustrationen zum vorausgegangenen Artikel. Ebenso wird das Thema des Bildes als Einrichtungsgegenstand außer Acht gelassen, wenn es um die Besprechung von zeitgenössischen Ausstellungen oder Künstler*innenporträts geht. Auch hier sind vermehrt ab 1910 immer wieder Stillleben abgebildet.25 Eine Ausnahme im Hinblick auf den Zusammenhang von Einrichtung und Malerei stellt ein Porträt Emil

25 Neben dem oben genannten Artikel über Orlik sei hier z. B. verwiesen auf M. 1913; Hausenstein 1918; Braungart 1918; Hamann 1923.

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Orliks von Max Osborn dar. Darin geht es zwar insbesondere um dessen Wandmalereien für das Weinrestaurant der Kölner Werkbundausstellung 1914, doch darüber hinaus bemerkt der Autor über Orliks Stillleben: „Auch diese Arbeiten haben dekorative Werte, ohne daß sie als Dekorationen entworfen sind.“ (Osborn 1919, S. 208). Diese Formulierung liest sich wie eine Beschreibung des Gemäldes im Speisezimmer des Gelben Hauses. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Bezüge zwischen Malerei bzw. Stillleben und Inneneinrichtung in den Texten der Zeitschrift – anders als im Text von Fritz Stahl oder den Ratgebern – so gut wie gar nicht zur Sprache gebracht werden. Stillleben werden hier entweder als Kunst- oder als Einrichtungsgegenstand präsentiert. Eine mögliche Verwendung der Gemälde als Raumausstattung steht kaum zur Debatte, obwohl die Fotografien Stillleben in Einrichtungsarrangements zeigen. Visuell wird der Diskurs auf den Seiten der Zeitschrift durch die Vielzahl an Interieurfotografien und reproduzierten Kunstwerken aber durchaus eröffnet. So konstituiert sich über das ‚Display‘ der Zeitschrift (Nierhaus 2021) ein Vergleichstableau, in dem sich im Sinne des „Hyperimage“ (Thürlemann 2013) die Bilder gegenseitig kommentieren. Ihre vermeintlich verschiedenen Funktionsweisen werden untrennbar: Isolierte Reproduktionen von Stillleben werden als herausragende Beispiele der modernen Malerei für die private Verwendung konsumierbar und darüber als Einrichtungsgegenstand vorstellbar. Zugleich bildet ihre Besprechung kennerschaftliche Leser*innen aus. Diese wiederum dürften in den Gemälden und insbesondere den Stillleben in den menschenleeren Fotografien von vorbildhaft gestalteten Innenräumen ein Identifikations- oder mehr noch ein Distinktionsangebot erkennen. Vorwiegend in den bürgerlichen Wohnräumen des Wohn- und Speisezimmers platziert, werden die Stillleben domestisch imaginiert, d.h. auf systematische Weise in etablierte gesellschaftliche Vorstellungen vom Wohnen visuell ‚eingeschrieben‘,26 und somit Repräsentanten der bürgerlichen Wohnkultur im 20. Jahrhundert. Sie sind, wie es Berger Hochstrasser vergleichbar für die Stillleben im 17. Jahrhundert ausführt, Teil eines domestischen Ideals, einer häuslichen Ordnung der Möbel und Dinge (vgl. Berger Hochstrasser 2000, S. 196; Bryson 2003, S. 120). Somit tragen sie dazu bei, dass aus dem Haus ein Heim wird – und aus dem Möbelarrangement eine

26 Vgl. zur Unterscheidung zwischen Häuslichem und Domestischem den Beitrag von Irene Nierhaus in diesem Band.

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5  Doppelseite aus Walter Müller-Wulckows Die deutsche Wohnung der Gegenwart, 1930, Wohn- und Speisezimmer der billigen Wohnung von Adolf G. Schneck (Entwurf ab 1926), Fotograf*in: Leonard (Berlin)

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‚gute Stube‘. Auch wenn knapp ein Jahrzehnt später Stillleben gerade aufgrund dieser Funktion in der Kritik standen – in einer Ausstellungskritik verurteilte Hans Curjel Stillleben als „bürgerliche Sofa-Bildkunst“ (zit. n. Heide 1998, S. 19) –, waren sie aus den Idealbildern des Wohnens offenbar nicht mehr wegzudenken. Dass es sich dabei keinesfalls um eine Ordnungsvorstellung handelt, die nur wohlhabenden bürgerlichen Schichten der Gesellschaft vorbehalten sein sollte, machen zwei Fotografien deutlich, die das Wohn- bzw. Speisezimmer des Typenmöbelprogramms Die billige Wohnung (1925) von Adolf G. Schneck zeigen (Abb. 5).27 Während insbesondere in der unteren der beiden Aufnahmen für den ersten, flüchtigen Blick die Illusion einer wohnlichen Situation erzeugt wird – auch der von oben ins Bild ragende Lampenschirm trägt seinen Teil dazu bei –, wird doch auf den zweiten Blick und im Vergleich zur gut ausgeleuchteten Fotografie des Wohnzimmers deutlich, dass es sich bei den fensterlosen Räumen um Studioaufnahmen von Möbelarrangements handelt. ‚Lebensnähe‘ im Sinne von Wohnlichkeit wird im Bildraum dadurch hergestellt, dass zu den Möbeln Gebrauchsgegenstände gegeben werden, wie Glaswaren im Schrank und ein Früchtekorb – auch ein ‚klassisch modernes‘ Thema der Stilllebenmalerei – oder das Teeservice auf dem Tisch, aber auch ‚Schmuck‘ wie das Stillleben an der Wand und Blumensträuße. Diese ‚Wohndinge‘28, insbesondere im Arrangement des gedeckten Tischs, suggerieren die Anwesenheit von Bewohner*innen, auch wenn keine Personen im Bild sichtbar sind. Die Insbildsetzung des Typenmöbelprogramms, das als Beispiel für die Ambition der Deutschen Werkstätten Hellerau gelten kann, gediegene Möbel jenseits des Luxussegments anzubieten, zeigt auch, dass diese Bestrebung allerdings nicht ohne bürgerliche Ideologeme auskam und diese vielmehr aufs Neue reproduzierte. Die Kunstdrucke der Blumenstillleben erscheinen hier umso mehr als Medien der Repräsentation, da sie Zugehörigkeit zu den Wohlhabenden versprechen.

27 Die Möbel werden auch in der Deutschen Kunst und Dekoration gezeigt, allerdings sind in den Fotografien, die im Rahmen der Besprechung von Ernst Zimmermann gezeigt werden, keine Stillleben zu sehen (Zimmermann 1927). 28 Der Begriff ‚Wohndinge‘ wurde im Forschungsfeld wohnen+/–ausstellen des Mariann Steegmann Instituts. Kunst & Gender für die Gesamtheit der Alltagsgegenstände, die ins Wohnen integriert sind, geprägt, vgl. „Zum Buch“ in diesem Band. Zur Verweisfunktion solcher Gegenstände auf die ‚Persönlichkeit‘ von Bewohner*innen vgl. in Bezug auf Eugène Atgets Serie Intérieurs parisiens – die zwar keine Studioaufnahmen, sondern tatsächliche, jedoch nicht minder vorbildhafte Wohnräume zeigen – Tietenberg 2014, S. 16f.

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AUSBLICK: INTERIEURFOTOGRAFIEN ALS STILLLEBEN DER EINRICHTUNGSGEGENSTÄNDE Die Verbildlichung der Ordnung des Wohnens in idealen Wohnräumen ist eine Grundlage der Domestizierung im Sinne einer (gesellschaftlichen) Einrichtung nicht nur von Stillleben, sondern auch von potenziellen Bewohner*innen. Es ist eine Grundannahme von Theorien der Distinktion, wie der von Pierre Bourdieu oder zuvor Thorstein Veblen, dass die Kultur der ‚höheren Klassen‘ – im konkreten Fall könnte man mit Nancy Ruth Reagin von einem ‚Habitus der Häuslichkeit‘ sprechen (Reagin 2007, S. 21) – von den ‚niederen Klassen‘ rezipiert oder gar nachgeahmt wird. In Fotografien, die Einrichtungsgegenstände sorgfältig komponieren, ist die häusliche Ordnung visuell vorgestellt bzw. vorstellbar und hat damit neben der ideellen eine zeitliche Vorbildfunktion (vgl. Tietenberg 2014). Nicht nur Stillleben sind spätestens seit dem 17. Jahrhundert Visionen des guten Lebens, die eine „Ikonografie des Wohlstandes“ begründen (Berger Hochstrasser 2000, S. 196), sondern auch Interieurs (vgl. z.B. Tietenberg 2014, S. 16f.; Reimann 2017, S. 28f.). In diesem Sinne definiert Bryson das (räumliche) Interieur als „Hauptsitz des Wohlstandes“ (Bryson 2003, S. 119). Insofern ist es auch kein Zufall, dass sich in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts neben dem Stillleben und der Landschaft auch das Interieur im Kontext einer Wohlstandsikonografie als Bildgattung verselbstständigte (vgl. Silver 2006). Als eine Verbildlichung der Vorstellung von Wohlstand lässt sich insbesondere die Innenraumaufnahme des Gartensaals und des Speisezimmers in Pauls Gelbem Haus auf der Werkbundausstellung 1914 auffassen. Dabei handelt es sich – den besprochenen Studioaufnahmen in dieser Eigenschaft vergleichbar – um eine ephemere Ausstellungsarchitektur, die in der Fotografie zu einem Bild stillgestellt ist. Es ist gleichsam ein Stillleben, um dessen Blumenstrauß im Bildzentrum die Inneneinrichtung arrangiert – um nicht zu sagen: konstruiert – ist.29 Mit den hohen Decken,

29 Dieser Eindruck, dass das Interieur um das zentrale Motiv eines Stilllebens, etwa um einen Blumenstrauß, herumgruppiert ist, entsteht bei der Lektüre der ersten Beschreibungen von Stillleben in Arne Reimanns Aufsatz Das Interieur – Stillleben im Zoom. Diese legen nahe, dass Betrachtende, wenn sie ein Stillleben ansehen, zumeist einen detaillierten Einblick in einen häuslichen Innenraum erhalten (vgl. Reimann 2017, S. 27f.). Sie werden vom Bild gewissermaßen in den Innenraum projiziert, sodass sie sich quasi in diesem befinden. Vgl. darüber

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den Anleihen bei ‚patrizierhaften‘ Architekturformen, den Polstermöbeln, Kronleuchtern und dem großformatigen Ölgemälde an der Wand wird darin das Konzept des häuslichen Wohlstands zu einem bildähnlichen Raumkunstwerk verdichtet und über das Medium Fotografie bildlich verbreitet. Derartige – gewissermaßen fotorealistische – Wohlstandsvisionen implizieren daher auch die Virtualität des Konzepts des Häuslichen. Das Prinzip des Bilds vom Wohnen, die Bildmäßigkeit der Bilder des Wohnens, zeigt sich gerade in den Doppelungen sorgfältiger, nicht selten üppiger Arrangements von Blumenvasen, Obstkörben und Stillleben. Die zunehmende Präsenz der Interieurfotografie in Zeitschriften und Wohnratgebern am Beginn des 20. Jahrhunderts setzt eine Verbreitung idealer Bilder vom bürgerlichen Wohnen in Gang und transportiert das Stillleben als prägendes Element von Wohn- und Speisezimmern in breite Leser*innenkreise. Dabei stellt das Stillleben ein Identifikations- bzw. Distinktionsangebot dar. Das Bild im Bild ist in diesen Wohnarrangements gewissermaßen ein Bild für ein Bild, ein Platzhalter. Stillleben dienen, wie auch die Interieurfotografien, ihren Betrachter*innen somit als Projektionsfläche für Vorstellungen von Häuslichkeit, gutem Leben und individueller Einrichtung wie auch der eigenen Stellung in der Gesellschaft. Mit Blick auf die fotografierten Möbelarrangements kann darüber hinaus von einer Verdinglichung von Stillleben die Rede sein, insofern sie gewissermaßen eine formale Funktion erfüllen: Sie sind Bestandteil der alltäglichen materiellen Kultur, komplettieren diese unabhängig von künstlerischer Intention und inhaltlicher Bedeutung. Hier haben sie eine Nähe zu den ‚Dingen‘ des Gebrauchs. Sie funktionieren als Kunst und Dekoration, dienen als Schmuck, als Fenster, als Ausdruck von Prestige oder – in Form von Blumenstillleben – als Blumen- oder Pflanzenersatz.30 Mithilfe der Fo-

hinaus zur symbolischen Fixierung des zentralen Bildgegenstands und zur davon ausgehenden ideellen Erzeugung von Raum durch die (Zentral-)Perspektive Panofsky 1980, inbes. S. 108, zur Rolle der Fotografie bei der Gewöhnung an perspektivische Darstellungen ebd., S. 104, und zur taxonomischen „Aufmessung“ der Bildräume den Beitrag von Irene Nierhaus in diesem Band. 30 (Künstliche) Natürlichkeit ist ein integraler Bestandteil des Konzepts modernen Wohnens vor allem am Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. z. B. Nierhaus 2009, S. 110). Die Vermutung, dass insbesondere Blumenstillleben als Substitute für Pflanzen in der Wohnungseinrichtung fungierten, liegt gerade dann nahe, wenn es sich bei den abgebildeten Blüten um besonders wertvolle oder ‚exotische‘ Exemplare handelte. Vgl. außerdem zu Pflanzen im Neuen Wohnen die Beiträge von Burcu Dogramaci und Annette Tietenberg in diesem Band.

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tografie bildlich im Wohnraum verortet, werden Stillleben zu Dingen verklärt, die symbolisches – um nicht zu sagen: bildliches – Kapital darstellen (vgl. Berger Hochstrasser 2000, S. 200). In einer Zeitschrift wie Deutsche Kunst und Dekoration ist diese warenförmige Verdinglichung doppelt, wenn Stillleben sowohl ins Display der fotografierten Innenräume wie auch in Reproduktionen als einzelne Kunstwerke ins Display der Zeitschrift eingeordnet werden. Dermaßen ver-ding/bild-licht sind sie konsumbierbar. Der symbolische Wert, den die Stillleben wie auch die Interieurfotografien als Bezugspunkte für die Verstetigung einer bürgerlichen Wohnkultur haben, ist ihr eigentlicher Nutzen (vgl. ebd., S. 225). Sie sind nützlich für die Konstituierung der Wohn- und Alltagsvorstellungen einer gesellschaftlichen Schicht und werden zugleich von derselben hervorgebracht.

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Abb. 3a, b: Westheim 1911, S. 130–131, 134–135. Abb. 4a, b: Jaumann 1916, S. 72–75. Abb. 5: Walter Müller-Wulckow: Die deutsche Wohnung der Gegenwart, Königstein i. Ts.: Langewiesche 1930, S. 36–37.

Bildnachweise

Abb. 1: Platz 1933, Tafel IV / © VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Abb. 2: Stahl 1914, S. 12f. / © VG Bild-Kunst, Bonn 2023.

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The ‘great divergence’ refers to the drifting apart of design and art, which conditions the aesthetics of dwelling. The distinction between ‘high’ and ‘low’ gained particular momentum in the 19th and 20th centuries, when applied art was also increasingly conceptually separated from the artistic realm. The thesis of this paper is that this process can be clearly observed in the Biedermeier period, when it was subject to a new, normative and still little-noted aesthetic associated with this epoch. For around 1800, the aesthetic hierarchy of sensory perception (in the sense of aisthesis) was rearranged. European culture like no other accorded primacy to the visual, while the sense of touch fell into disdain. The simple spatial representation of room pictures seems to comment on the aesthetic reorientation that was finally to assert itself in classical Modernism and provide the foundation for the ‘great divergence.’

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PHILIPP ZITZLSPERGER INTERIEURMALEREI UND DIE ‚GROSSE DIVERGENZ‘ VON DESIGN UND KUNST Ein Aquarell aus dem Jahr 1837 zeigt das Wohnzimmer Alexander von Fahnenbergs, Legationssekretär an der königlich bayrischen Gesandtschaft in Berlin, der im selben Jahr in eine Parterrewohnung in der Wilhelmstraße, Ecke Unter den Linden eingezogen war (Abb. 1). Seine Schwester Stephanie, die mit ihm nach Berlin gekommen war, malte die Zimmeransicht und Alexander trug einen mehrseitigen Text bei, der die Inneneinrichtung unter dem Titel „Naturgetreue Schilderung der Wohnung des Unterfertigen mit zu Grundel[eg]ung des Gemähldes della Signorina Stefana“ ausführlich beschreibt. Darin heißt es: „[Wir sehen] in dem Wohnzimmer 4 Wände, das heißt auf dem Bilde kann das verehrte Publicum nur drei sehen, weil die vierte sich hinter dem Mahler befand. Diese unsichtbare Wand sei die Wand Nro. 1; zunächst folgt die Wandseite Nro. 2 gegen die Straße hin, mit den Fenstern; sodann Wand Nro. 3 mit der Thüre ins Schlafzimmer; endlich Wand Nro. 4, an der der Ofen steht.“ (Fahnenberg 1995, S. 163) Daraufhin beschreibt er zuerst die unsichtbare Wand 1, die sich im Rücken des Betrachters befindet, und leitet über zur rechten Fensterwand, indem er in der Beschreibung eine kleine, aber feine Änderung festhält: „[…] die Etagere, welche, um sie in das Bild aufzunehmen, etwas vorgerückt wurde.“ (Ebd.) Um aber das offene Regal rechts mit den fünf Ebenen, das eigentlich noch zur Wand 1 gehört, hier ins Bild setzen zu können, musste wiederum ein Spieltisch aus diesem verbannt werden. Von Fahnenberg schreibt: „[…] auf demselben liegen in bunter Unordnung die neuesten Erscheinungen der Literatur […]; dieser Tisch mußte auf dem Bilde weggelassen werden, weil er die Etagere verdeckt hätte.“ (Ebd., S. 164)

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Interieurmalerei und die ‚Große Divergenz‘ von Design und Kunst

1  Stephanie von Fahnenberg, Wohnzimmer des Alexander von Fahnenberg in Berlin, 1837, Bleistift, Feder, Aquarell und Deckfarbe auf Karton, 28,6 × 24,1 cm, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg

Diese Textstelle ist insofern interessant, als sie verrät, dass die sogenannten Zimmerbilder der Biedermeierzeit nicht so dokumentarisch sind, wie gemeinhin angenommen wird. Zimmerbilder beschäftigen die Wissenschaft schon lange. Sie bilden eine eigene Gattung der Interieurdarstellung, die im Biedermeier, also in der Zeit zwischen dem Ende der Herrschaft Napoleon Bonapartes und den Revolutionen von 1848, aufblühte und danach wieder verschwand. Die Gattung des Zimmerbildes wird in der Forschungsliteratur häufig mit dem Porträt verglichen, das ein Individuum charakterisiert. Zimmerbilder stellten „mit bemerkenswerter

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Objektivität und Detailgenauigkeit die Einrichtung und Dekoration eines bestimmten Raumes zu einer bestimmten Zeit“ dar (Stein 2006, S. 188). Dabei erfüllten sie eine Memoriafunktion (Schoch 1995, S. 12), waren „Statusindikatoren“ (Stein 2006, S. 188) sowie Selbstdarstellungen als Brücke zwischen Sein und Schein (Börsch-Supan 1976, S. 9f.). Zimmerbilder sind meist in Aquarelltechnik gemalt. Sie waren keine Ausstellungsstücke, sondern Sammlerstücke für das Album, für die Schublade – sie hingen also nicht an der Wand. Und sie waren oft Geschenke, wurden wie Postkarten verteilt, um – wie etwa im Falle Alexander von Fahnenbergs – für Freunde, Bekannte und Verwandte die (neuen) Lebensumstände zu dokumentieren. Oft waren die Zimmerbilder aber auch für den Eigengebrauch gedacht und dienten etwa der Dokumentation. Die Funktionen der Zimmerbilder sind hinlänglich bekannt und weiter nicht zu beanstanden. Allein ihr dokumentarischer Wert ist mit Vorsicht zu betrachten. Denn wie eingangs hinsichtlich der Bildbeschreibung von Alexander von Fahnenberg dargelegt, konnten mit Blick auf die tatsächliche Einrichtung

2  Anonym, Wohnzimmer mit gedecktem Tisch, um 1830, Bleistift, Aquarell und Deckwieß auf Karton, 17,2 × 29,7 cm, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg

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im Zimmerbild auch Veränderungen vorgenommen werden. Mit anderen Worten: Die Bildwirklichkeit war mit der Lebenswirklichkeit nicht unbedingt deckungsgleich. Wichtig sind darüber hinaus auch zwei weitere Aspekte der Zimmerbilder, die sich in den im Folgenden besprochenen Abbildungen summarisch ablesen lassen: Zum einen sind Zimmerbilder, worauf in der Forschungsliteratur vielfach hingewiesen worden ist, in der Regel menschenleer. Zum anderen fällt auf, dass die Zimmer meist außerordentlich karg eingerichtet sind. Das Bild aus dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg (um 1830) steht exemplarisch für die Leere des Raums (Abb. 2), der zwar reichlich Möbel enthält, jedoch keine oder nur wenige Sammlungsgegenstände wie Kleinskulpturen, Geschirr, Bilder, Souvenirs oder andere Kleinkunst. Die in der Forschung schon oft besprochene Menschenleere und Kargheit fällt besonders ins Auge, wenn man die Zimmerbilder aus dem Biedermeier mit solchen aus anderen Stilepochen vergleicht. Ein Beispiel für ein späteres Zimmerbild wäre etwa Ludwig Streitenfelds Bodouir-Darstellung von 1888 (Abb. 3), die zum Zimmerbild des Anonymus um 1830 einen starken Kontrast bildet. Bei Streitenfeld ist das Gesims der hölzernen Wandvertäfelung vollgestellt mit Geschirr aus Porzellan und Zinn, die Wände darüber sind vollgehängt und -gestellt, rechts mit einem Gemälde, daneben in der rechten Zimmerecke mit einer Ritterrüstung und Schwertern, in der linken Ecke mit einer großen Vase mit imposanten Blumen und Palmzweigen nebst einem Papierschirm, und an der linken Wand hängt ein großer Teller vermutlich aus Majolika. Der Teppichboden, die Holzdecke mit geometrischen Rippenformationen, die dunkelgrüne Wandtünche sowie schwere Fenstervorhänge verdüstern die Raumatmosphäre. Dagegen leuchtet das Biedermeierzimmer in hellen Farben. Hier gibt es, abgesehen von einer unauffälligen Trinkgläserkollektion links auf dem kubischen Holzschrank und auf dem zentralen Esstisch, keine Sammlerstücke, keine Vorhänge oder Teppiche und die weiße Tapete mit hellgrünem Blattornament und das kubisch-schlichte Mobiliar aus hellem Furnierholz lassen den Raum erfrischend großzügig, schlicht und lichtdurchflutet wirken. Man kann den Kontrast zwischen dem hellen und leeren Biedermeierzimmer der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem düsteren und vollgestellten Zimmer des ausgehenden 19. Jahrhunderts an vielen weiteren Zimmerbildern nachvollziehen. Die Ausstattung in Carl Blechens Zimmerbild (Abb. 4), das zwischen 1815 und 1835 entstanden sein muss,

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3  Ludwig Streitenfeld, Boudoir, 1888, Privatbesitz 4  Carl Blechen, Interieur mit einem Schreibschrank, 1815–1835, Aquarell über Bleistift auf Papier, 22,2 × 20,4 cm, Kupferstichkabinett, Berlin

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kommt mit wenigen schlichten Möbeln aus, deren geschlossener Kontur vor allem durch das Spinett rechts und den kubischen Schreibschrank in der Bildmitte repräsentiert ist. Und wieder fällt auf, dass die Kleinkunst weitgehend fehlt: Außer einer bronzenen Urne und vier winzigen Bronzefiguren auf dem Schreibschrank ist kein Sammlungsgegenstand zu sehen. Hinlänglich bekannt ist, dass um 1900 die vollgestellten Wohnungen des Bürgertums zunehmend in die Kritik gerieten und in der Architektur die nackte, kubische Form die Vorherrschaft des Historismus ins Wanken brachte. Zwischen den Weltkriegen war es dann unter anderem der Werkbund, der etwa in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung (1927) dem historistischen Bürgerstil des Wohnens entschieden den Kampf ansagte. Die Entrümpelung der Wohnungen und ihre schlichte Einrichtung in der klassischen Moderne sind nicht ohne den Rekurs auf das Biedermeier geschehen. Grob skizziert verlief die Entwicklung des bürgerlichen Wohnungsambientes in Deutschland in einem wellenförmigen Prozess: Das schlichte Biedermeierzimmer wurde abgelöst vom überladenen Historismuszimmer, das wiederum abgelöst wurde von der kubischen Reduktion des International Style der Zwischenkriegszeit. In Wirklichkeit war die Entwicklung natürlich komplexer und weniger linear. Und dennoch darf die Vereinfachung als methodische Hilfskonstruktion dazu dienen, die wesentlichen Entwicklungsstränge einer bürgerlichen Geschmacksbildung für die Ursachenanalyse hervorzuheben. Um den historischen Bogen noch etwas weiter zu spannen, kann die Entwicklung zurückverfolgt werden bis ins ausgehende 18. Jahrhundert, also die Zeit des Übergangs vom Rokoko zum frühen Klassizismus. In den Darstellungen des Wohnens im bürgerlichen Ambiente vor 1800 überwiegt noch das Kunstkammerambiente mit vielen Sammlerstücken an den Wänden und auf den Simsen. Auf diese Phase folgt das schlichte Biedermeier, dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der reiche Dekorstil des Historismus folgt, der schließlich von der Renaissance der Schlichtheit in den 1920er Jahren abgelöst wird. Diese Beobachtung bezieht sich auf die Bilder des Wohnens und nicht unbedingt auf die Lebensrealität des Wohnens in den betreffenden Epochen. Denn auch im Biedermeier war die Sammel- und Souvenirleidenschaft der Bürger groß und man kann sich angesichts der leeren Zimmerbilder fragen, wo die gesammelten Kunstkammergegenstände abgeblieben sind. Auch die Werkbundausstellung 1927 in Stuttgart lieferte eher Idealbilder des Wohnens. Denn das Bürgertum hatte in Wirklichkeit mehr als nur Tische und

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Stühle. In der Lebensrealität brauchten Bücher, Kleinkunst und Souvenirs auch in den 1920er Jahren ihren Platz. In der Bildrealität jedoch herrschen eher Idealzustände, die den Bruch mit der Vergangenheit dramatisieren.

URSACHEN DER GESCHMACKSBILDUNG Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, warum es zu den dargestellten Schwankungen bei der Sammlungsausstellung im bürgerlichen Wohnambiente gekommen ist. Zu beleuchten sind zwei Aspekte des theoretischen Überbaus dieser Ästhetikgeschichte des Wohnens: (1) die Autonomie der Linie und (2) die Hierarchie der Sinne. Sie führen am Ende des vorliegenden Artikels zu einem Erklärungsangebot, das die Ursache zu greifen sucht für die langsame, jedoch unaufhaltsame Trennung von Design und Kunst respektive die sich über mehrere Generationen hinweg vollziehende Abspaltung der Angewandten bzw. Gebrauchskunst von der ‚hohen Kunst‘. Sie nimmt – so die These – ihren ostentativen Anfang in den Zimmerbildern. Diese sogenannte ‚Große Divergenz‘, die das langsame, aber stetige Auseinanderdriften von Design und Kunst beschreibt, war in ihrem Verlauf heftiger Kritik ausgesetzt, wenn etwa Gottfried Semper um 1850 beklagte: „Daher nichts von Vorschlägen, welche einen künftigen Künstlerareopag und Vormundschaftsanstalten des Volksgeschmackes in Aussicht stellen, nichts von dualistischem Trennen der hohen und der industriellen Kunst, fort mit ästhetischer Polizei und geheimer Oberbaubehörde.“ (Semper 1852, S. 61) Ein letzter großer Höhepunkt der Kritik an der ‚Großen Divergenz‘ war der Typen- bzw. Werkbundstreit 1914 in Köln (hierzu ausführlich Zitzlsperger 2021, S. 162–177). Danach erreichte die ‚Große Divergenz‘ einen Kipppunkt und ist bis heute irreversibel weitergetrieben worden. Im Folgenden soll die Entwicklung, die andernorts ausführlich analysiert ist (Zitzlsperger 2021), in groben Zügen nachgezeichnet werden. (1) Beginnen wir mit der Autonomie der Linie, der Umrisslinie. Der traditionelle Anspruch an die Zeichnung ist im Vergleich zwischen Michelangelo zum einen und den klassizistischen Malern Asmus Jacob Carstens bzw. Philipp Otto Runge zum anderen gut zu erkennen. Denn während Michelangelo den gezeichneten Körper aus der Innenfläche entwickelt und seine plastischen Qualitäten, die Muskulatur, an der dargestellten Oberfläche durch Licht und Schatten betont (Abb. 5), konzentrie-

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5  Michelangelo, Zeichnung, 1512, Kreide auf Papier, 40,4 × 20,6 cm, British Museum, London 6  Asmus Jakob Carstens, Skizzenbuch (67 Seiten), fol. 35v-36r, 1792–1798, Bleistift und Feder auf Papier, Städel Museum, Frankfurt a.M.

ren sich Carstens und Runge auf die Umrisslinie, die den klassizistischen Anspruch an die Zeichnung verdeutlicht (Abb. 6). Die Binnenzeichnung tritt zurück zugunsten des Umrisses. Der Kontur bestimmt nun den Körper. Ihren Rückhalt erhält die zunehmende Betonung des Umrisses auch in der Kunsttheorie: William Hogarth etwa entwirft in den 1750er Jahren eine Theorie der „Line of Beauty“ als Rahmen gestalterischer Urformen. Winckelmann ruft 1761 aus, „suchet die edle Einfalt in den Umrissen“ (zit. n. Busch 1984, S. 180), und Kant betont 1790 in seiner Kritik der

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Urteilskraft, dass die schöne Form allein im Umriss zur Geltung komme. Die Farbgebung innerhalb des Umrisses sei reizvolle Hinzufügung, ja, ihren Reiz mache der Umriss erst möglich. Und Schiller, um ein letztes Beispiel zu nennen, steht ebenfalls symptomatisch für die idealistische Linientheorie, nach der eben die Linie wegen ihrer Autonomie Trägerin der Schönheit sei (ebd., S. 190). Die Autonomie der Linie scheint auch ein Anspruch, der an die Ästhetik der Zimmerbilder der Biedermeierzeit gestellt wurde. Ihre oft strenge, achsensymmetrische Zentralperspektive betont die Achsenlinien der Sehpyramide. Und vor allem die auffallende Leere der Zimmer betont die Umrisslinie der Möbel. Die Reduktion der Gegenstände im Bild rückt das Gesehene deutlich in die Fläche. Selbstverständlich wirkt die zentralperspektivische Räumlichkeit des Zimmers dreidimensional. Aber es sind Flächen, die kombiniert erscheinen. Auch die Möbel verharren zeichnerisch in der Fläche, obwohl sie räumlich erscheinen. Doch ihre Plastizität ist extrem reduziert, weil sie durch die Autonomie der Linie im Umriss betont, in der Binnenstruktur jedoch zurückgenommen sind. Weitere Gegenstände würden die Umrisslinie empfindlich stören – Figuren, Geschirr oder Souvenirs lösen den Kontur auf, weshalb sie ausgespart bleiben. Grob gesprochen: je höher die Dichte der gesammelten Kunstgegenstände im Bild, desto geringer die Autonomie der Linie. Das ist ein zentraler Punkt der Autonomieästhetik, die ja nicht nur die Autonomie des Künstlers, sondern auch die Autonomie des Artefakts betont; Möbel und Bilder sind gleichermaßen angesprochen. Claudia Sedlarz konnte unlängst die Vorstellung der Autonomie der Dinge um 1800 anhand der Theorie von Karl Philipp Moritz verdeutlichen, der 1789 schrieb: „Isolieren, aus der Masse sondern, ist die immerwährende Beschäftigung des Menschen, er mag als Eroberer die Grenzen seines Gebietes um Meere und Länder herziehen – oder aus dem Marmorblock eine in sich vollendete Bildung hervortreten lassen./ Aller Reiz der Dichtung beruht auf diesem Isolieren, Aussondern aus dem Ganzen“ (zit. n. Sedlarz 2014, S. 189). Das Isolieren oder Aussondern aus dem Ganzen geschieht im Zimmerbild des Biedermeier durch die Autonomie der Linie, die erst in der Leere zur Wirkung kommt und der Winckelmann’schen Ästhetik der edlen Einfalt gerecht wird. (2) Der zweite Aspekt einer Ästhetikgeschichte des Wohnens in der Biedermeierzeit verweist auf die Theorie der Sinne, also des Zentralthemas der Ästhetik hinsichtlich des griechischen Begriffs der aisthesis (Wahrneh-

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mung). Denn genau in der Zeit um 1800 fand ein Paradigmenwechsel statt, der die Hierarchie der Sinne neu ordnete. Daniel Chodowieckis berühmte Radierung der natürlichen und affektierten Kunst-Kenntnis von 1779 ist ein früher Vorbote dieser neuen Sinneshierarchie. Zu sehen ist einerseits die neue Etikette der Kunstbetrachtung, die – orientiert an Rousseau – als ‚natürliche‘ begriffen wird. Im Bild stehen zwei Kunstkenner still und andächtig vor einer Skulptur, mit verschränkten Armen in ehrfürchtiger Distanz, einer von beiden hat sogar seinen Hut abgenommen. Im Gegensatz dazu charakterisiert Chodowiecki in einer zweiten Szene die alte, überwundene Kunstkennerschaft als distanzlose Zudringlichkeit. Während dort der rechte Mann in einer exaltierten Pathosbewegung seiner Überwältigung Ausdruck verleiht, zeigt und erklärt ihm sein Konversationspartner die Ursache der Wirkung des Kunstwerks. Dabei zeigt er nicht nur auf die Skulptur, sondern vielmehr berührt er sie mit dem Finger, ohne sie zu betrachten, denn sein Gesicht wendet er dem anderen Kenner zu. In der Tat zählte die Berührung in der Vormoderne zum anerkannten Mittel der Kunstbetrachtung. Das Abtasten des Kunstwerks quittiert die Skulptur jedoch mit einem grimmigen Blick in ihrem verschatteten Gesicht, während sie auf der ersten Abbildung die Betrachter mit einem milden Lächeln belohnt, weil sie Abstand wahren. Die neue Ästhetik der Distanz steht hier gegen die alte Ästhetik der Berührung. In der vormodernen Hierarchie der Sinne gelten das Sehen und Tasten als Primärsinne der Erkenntnis, denen das Riechen, Schmecken und Hören untergeordnet sind. Mit dem Tasten – so die gängige Theorie der Sinne – erfahre man die Wahrheit, während das Sehen allein für sich genommen Traum sei. Denis Diderot betont in seinem „Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden“ (1749): „Wie trügerisch wäre das Auge, wenn sein Urteil nicht unaufhörlich vom Gefühlssinn berichtigt würde.“ Er nennt die Haut das „blinde Organ“, das durch das Berühren und Tasten vor allem auch in der Lage sei, Schönheit zu erkennen. Die Haut sei keine bloße Oberfläche, sondern ein beseeltes Organ.1 Das Lob des Tastsinns ist mitunter auch der Grund für Diderots Wertschätzung des Handwerks. In seiner Encyclopédie wächst der Handwerker zum Sym-

1 Das wörtliche Zitat bzgl. des trügerischen Auges in: Manthey 1983, S. 197. Zum ‚blinden Organ‘ und zur Textexegese von Diderots Lettre sur les aveugles vgl. zuletzt Benjamin 2014, S. 79f.

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bol der Aufklärung empor und bildet als Homo faber den Gegensatz zum dem Müßiggang frönenden Aristokraten. Diderots Tafelbände zeigen in großer Detailfreude die technische und handwerkliche Komplexität Angewandter Künste, die die dargestellten Akteure als ‚Designer‘ mit lächelnder Mimik sichtlich erfreuen. Deshalb beklagen die Autoren in der Encyclopédie unter dem Lemma ‚Kunst‘ die verbreitete Ansicht, dass die Beschäftigung „mit materiellen Einzelgegenständen eine Entwürdigung des menschlichen Geistes bedeute & dass die Ausübung, ja sogar das Studium der mechanischen Künste erniedrigend sei“ (zit. n. Selg/Wieland 2001, S. 218).2 Diderot registriert bereits die aufkommende Ästhetik der Distanz, in der das Handwerk nur verlieren konnte. Seine Encyclopédie ist eine der letzten Bastionen gegen die Aufwertung des Sehsinns und die zunehmende Abwertung des Tastsinns. Ungefähr zur gleichen Zeit sieht auch Rousseau die Entwicklung mit Sorge. In seinem pädagogischen Hauptwerk Émile (1762) betont er deshalb den trügerischen Gesichtssinn, dem man sich allzu leichtfertig hingebe, und fordert das ausführliche Training vor allem des Tastsinns, um den Gesichtssinn im Zaum zu halten (Zitzlsperger 2021, S. 41). Doch nach Diderot und Rousseau erfolgt die endgültige Umwertung der Sinneshierarchie. Schwenkt Johann Gottfried Herder Ende des 18. Jahrhunderts in seinen Schriften noch langsam vom Lob des Tactus zum alleinigen Lob des Visus über, repräsentiert Schiller bereits die reine Kultur des Sehens. Im 26. Brief seiner ästhetischen Erziehung des Menschen (1793/94) schreibt er, dass der ‚Wilde‘ taktil und der zivilisierte Mensch visuell veranlagt sei: „Der Gegenstand des Takts ist eine Gewalt, die wir erleiden; der Gegenstand des Auges und des Ohrs ist eine Form, die wir erzeugen. So lange der Mensch noch ein Wilder ist, genießt er bloß mit den Sinnen des Gefühls, denen die Sinne des Scheins in dieser Periode bloß dienen.“ Und schließlich ist auch Goethe zu zitieren, der wie Schiller der neuen Sinneshierarchie zugetan ist: „Das Gesicht ist der edelste Sinn. Die andern vier belehren uns nur durch die Organe des Takts: wir hören, wir fühlen, riechen und betasten alles durch Berührung; das Gesicht aber steht unendlich höher, verfeint sich über die Materie und nähert sich den Fähigkeiten des Geistes.“ (Goethe 1950, S. 770) Der Naturphilosoph,

2 Über Diderots Wertschätzung und Aufwertung des Handwerks vgl. instruktiv Sennett 2008, S. 90–92; Fox 2009, S. 266. Zu Diderots Encyclopédie in der kunsthistorischen Wissenschaftsgeschichte vgl. ebd., S. 263–282.

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7  Auguste Renoir, Ambroise Vollard, 1908, Öl auf Leinwand, 81,6 × 65,2 cm, The Courtauld Institute of Art, London

Biologe, Anatom und Physiologe Lorenz Oken wiederum spricht in seiner äußerst breitenwirksamen Naturgeschichte für Schulen (1821) von den europäischen „Augen-Menschen“ als Krone der Schöpfung, gefolgt von den asiatischen „Ohren-Menschen“, den amerikanisch-indianischen „Nasen-Menschen“, den australischen „Schmeck-Menschen“ und schließlich den afrikanischen „Fühl-Menschen“ (Oken 1821, S. 973–975). Hier wurde das Tasten zum niedersten der niederen Sinne erklärt. Okens Sinnes- und Rassenhierarchie füllte die deutschen Schulbücher, konditionierte die folgenden Generationen und prägte das koloniale Zeitalter bis hin zu heutigen Debatten über ‚Leitkultur‘ und ‚Alteuropa‘. Der Visualprimat und die Entwertung des Tastsinns um 1800 kann mit der Wohnästhetik des Biedermeier in Verbindung gesetzt werden,

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denn die Zimmerbilder scheinen ebendiese neue Kultur der Distanz zu thematisieren. Ihre bereits beschriebene Menschenleere und die Absenz von Kleinkunstgegenständen und Souvenirs, die Hervorhebung der Umrisslinie der kubischen Möbel, die ihre Fläche, jedoch nicht ihre Plastizität betont, scheinen Indikatoren für eine neue, distanzierte Kultur des Sehens. Das menschenleere Zimmerbild wird selbst zum Bild, zu einem distanzierten Bühnenbild, das der Betrachter nicht betreten können soll. In der Leere des Zimmers, in dem die Souvenirs, obwohl sie auch im Biedermeier leidenschaftlich gesammelt wurden, fehlen, kommt die Autonomie der Linie auf besondere Weise zur Geltung.3 Selbstzeugnisse, Inventare, Briefe und auch das eingangs beschriebene Wohnzimmer der Fahnenbergs aus dem Jahr 1837 geben reichlich Hinweise auf die kleinen Sammlerstücke, die man doch so gerne in die Hand nahm. Im oben bereits beschriebenen Zimmerbild stehen sie gerade noch im Regal rechts vorne. Auch auf der Spiegelkommode rechts zwischen den Fenstern stehen Kleinigkeiten, eine Schatulle, in der Handarbeiten von „gütigen Mädchen und Frauen“ enthalten sind, wie Fahnenberg schreibt (Fahnenberg 1995, S. 164), sowie einige kosmetische Fläschchen und andere Gegenstände. Die anderen Zimmerbilder dieser Zeit lassen solche Kleinigkeiten hingegen in der Regel völlig weg, um der Autonomie der Linie und der Ästhetik der Distanz uneingeschränkt Geltung zu verschaffen. Doch war bereits zu sehen, dass diese Entwicklung nicht linear verlief. Das Ideal des Wohnens schwankte in den letzten 200 Jahren zwischen Fülle und Leere. Und es ist deshalb sehr vielsagend, dass gerade der Tastsinn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder an Ansehen gewann. Denn nun empfand man das Wohnen wieder als körperlichen Berührungsbezug zu seiner Umgebung, zu den Möbeln und zur Kleinkunst – also genau in der Zeit, als die Zimmerbilder von einer drastischen Zunahme der Dichte dargestellter Sammlungsgegenstände zeugen. Renoirs Bildnis des Kunstsammlers und -händlers Ambroise Vollard von 1908 legt Zeugnis ab von dieser allerdings kurzlebigen Trendwende (Abb. 7). Denn der Porträtierte begreift im wahrsten Sinne des Wortes nun wieder jene Kleinskulptur, die in den Zimmerbildern des Biedermeier fehlt. Renoir zeigt Vollard, wie er mit seinen Händen die Hockende Frau von Aristide Maillol

3 Vgl. zu Kunst- und Souvenirobjekten Wilton/Bignamini 1996, S. 271–303; Muthesius 2009, S. 117; Sánchez-Jáuregui/Wilcox 2012, S. 181–308; Schneider 2006; Volmert 2018, S. 8.

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abtastet, als würde er seinen Augen nicht trauen. Man könnte seine Generation als die Taktilen bezeichnen, also als Menschen, bei denen der Tastsinn seit den 1860er Jahren wieder hoch im Kurs stand. Dazu gehört z.B. auch Georg Simmel, der 1911 seinen berühmten Aufsatz über den Henkel (Simmel 1919) schrieb, ein Feuerwerk des Gefühls, des Eindrucks durch Handhabung. In dieser Zeit entstand auch im Zirkel der Wiener Schule ein regelrechter Haptik-Diskurs zur Körperlichkeit der Kunstbetrachtung. In den Schriften des Wiener Kunsthistorikers Alois Riegl etwa erfuhren das Haptische und Optische wieder eine gleichberechtigte Bewertung. Mit Rekurs auf zeitgenössische Wahrnehmungstheorien operierte Riegl dabei mit Begriffen wie Haptik, haptischer Raum, Sehraum, Tastraum, haptische Täuschung oder sinnliche Wahrnehmung.4 Die Renaissance des Tastsinns begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hatte um 1900 ihre Blütezeit und fand nach dem Ersten Weltkrieg ihr Ende. Die kurze Blütezeit beschränkte sich auf den Kreis der Kunsthistoriker. Im Kreise der Designer blieb die neue Hierarchie von Design und Kunst in Relation zur neuen Ordnung der Sinne zunächst unbemerkt. Wachsende Bestürzung über die ‚Große Divergenz‘ von Design und Kunst setzte erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein, als Kritiker wie Henry Cole, Gottfried Semper, die Kunstgewerbe- und Arts-and-Crafts-Bewegung, das Aesthetic Movement, dann Anfang des 20. Jahrhunderts in Schweden Gregor Paulsson, der Werkbund oder das Bauhaus mit Sorge und Sorgfalt versuchten, den Niedergang des Kunsthandwerks aufzuhalten, indem sie die Einheit von Design und Kunst beschworen, jedoch die Hierarchie der Sinne als Ursache des Problems nicht erkannten. Darunter, dass der Gesichtssinn den Tastsinn vom Sockel gestoßen hatte, leiden die Hand, das Handwerk und das Design bis heute. Denn nun wurde die Kultur des aufgeklärten Westens wieder ganz als eine Kultur des Sehens bestimmt, während die Hand – wie schon zuvor um 1800 – als atavistisches Greifwerkzeug der ‚Primitiven‘ galt. Das mag von unzählig möglichen Zitaten nur eines aus Robert Musils Mann ohne Eigenschaften (1943) beleuchten, dessen Protagonist die Hand der schönen Diotima hält: „Die Überspanntheit der Frauenhand hatte ihn

4 Vgl. mit wissenschaftsgeschichtlichem Weitblick zum Haptischen in der Wiener Moderne Vasold 2016; zum Haptischen bei Riegl vgl. Fend 2005; zu Riegls Begriff der sinnlichen Wahrnehmung vgl. Riegl 1901, S. 19/Anm. 1; Zitzlsperger 2021, S. 52.

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überwältigt, eines im Grunde ziemlich schamlos menschlichen Organs, das wie eine Hundeschnauze alles betastet.“ (Musil 1957, S. 95)

DIE TRENNUNGSGESCHICHTE VON KUNST UND DESIGN Die Zimmerbilder des Biedermeier sind Zeugen eines Paradigmenwechsels, der in ein neues Kunstzeitalter führen sollte, in dem die Angewandte Kunst eine dramatische Entwertung erfuhr. Sie boten eine neue Alltagsästhetik, in der die kühle Distanz und das reine Sehen dem Taktilen schwer zusetzten. In ihnen manifestiert sich die Ausgrenzung der Berührung als Kulturtechnik, insofern sie der ‚zu berührenden Kunst‘ nur noch – wenn überhaupt – eine Nebenrolle im Bild zuweisen. Die ‚zu berührende Kunst‘ sind Artefakte der Angewandten Kunst – Geschirr, Besteck oder Kleidung, die in den Zimmerbildern kaum noch eine Rolle spielen. Die neue Ästhetik ist das Leben als Kunstwerk der Distanz ohne die Angewandte Kunst, ohne Design. Die Geburtsstunde des Designs, so ist es in Geschichtsbüchern zu lesen, sei das Zeitalter der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Die Maschine sei die Mutter des Designs. Sie gebäre Serien- und Massenprodukte, die für viele das eigentliche Design ausmachten und sich vom Unikat eines Kunstwerks kategorisch unterschieden (vgl. Frye 2017, S. 38; Steinbrenner 2019; Mareis 2014, S. 48; Selle 2007, S. 10, 51; Bürdek 2005, S. 19; Hirdina 1990, S. 208). Doch der Industrialisierungsmythos steht auf tönernen Füßen, denn er übergeht, dass es Design schon immer gab. Zum einen ist die Serialität nicht sein einziges Kennzeichen. Jenseits des industriellen Produktdesigns gibt es selbstverständlich das designte Einzelstück aus der Maßschneiderei, dem Innenraumdesign, der Goldschmiede, Glashütte oder Schreinerwerkstatt. Folglich ist Design im Unikat ebenso enthalten wie in der seriellen Reproduktion. Zum anderen ist die Serienproduktion kein Alleinstellungsmerkmal der Industrialisierung. Es gab sie auch schon davor. Spätestens seit der Antike sind Serienproduktionen z.B. für Devotionalien, Geschirr oder Gebrauchsgegenstände wie Öllampen bekannt. Frühneuzeitliche Sammlungen waren zahlreich bestückt mit industrieller Serienware wie Kleinskulpturen aus Terrakotta, Seidenblumen oder Weihnachtskrippen (vgl. Ago 2006, S. 158f.). Und die Gutenberg-Bibel aus der Mitte des 15. Jahrhunderts ist eindrückliches Beispiel für die damals neue Reproduktionstechnik des Buch-

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drucks. Insofern die Mechanisierung der seriellen Produktionsabläufe und ihre Maschinen keine Erfindung der Moderne sind, scheint es also wenig zielführend, die Designgeschichte erst mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts beginnen zu lassen. Jean Gimpel spricht in diesem Zusammenhang auch von der „industriellen Revolution des Mittelalters“ (Gimpel 1980).5 Auch wenn diese frühe industrielle Produktion es in ihrem Umfang, in der Zahl von Produktionsstätten und Erzeugnissen bei Weitem nicht mit dem Maschinenzeitalter der Moderne aufnehmen kann, gilt dennoch: Die ästhetischen Eigenheiten des Designs zwischen Unikat und Serie sind so alt wie die Kulturgeschichte der Menschheit. Design gab es schon vor der Moderne, nicht jedoch die Unterscheidung zwischen Design und Kunst. Der Design-Begriff ist eine englische Erfindung des 19. Jahrhunderts. Geschichtlich betrachtet ist Design aus der Kunst hervorgegangen, nicht aus der Industrie. Den Zusammenhang verdeutlicht schon allein die Begriffsgeschichte, denn design kommt vom italienischen disegno, also der Zeichnung, der Erzdisziplin der bildenden Kunst (Zitzlsperger 2021, S. 136–151). Anfangs war Design Teil der Kunst, und im Laufe der ‚Großen Divergenz‘ sonderte es sich ab bzw. wurde abgesondert, bis der Zustand der Design/Kunst-Dichotomie erreicht war. Die Kunst wanderte ins Museum, das Design in die reine Anwendung. Seitdem huldigt die Gebildetenschicht einer entrückten Kunst, die für die übrige Gesellschaft zum blutleeren Gebilde erstarrt. Das Verlangen der anderen nach Ästhetik außerhalb der Museen richte sich dann leicht auf das Billige und Vulgäre, wie John Dewey 1934 feststellte (Dewey 2005, S. 4). Nicht selten ist das Billige und Vulgäre gleichgesetzt mit Design, weshalb Dewey zu zeigen versuchte, dass Kunst als Erfahrung die Angewandte Kunst mit einschließt. Das ist Design-Ästhetik, die ihre Konturen erst gewinnt, wenn sie ins rechte Verhältnis zur Kunstästhetik gesetzt wird. Dieser Feststellung widerspricht freilich, dass die Wissenschaft die Hierarchien zwischen high und low längst abgebaut hat und weltweit zahlreiche Kunstmuseen auch Designabteilungen umfassen. Das Humboldt-Forum im Berliner Schlossneubau greift das Format frühneu-

5 Einen konzisen Überblick über die verschiedenen, bisweilen widersprüchlichen Industrialisierungs-Theorien findet man bei Osterhammel 2009, S. 909– 924. Zur Hausindustrie vgl. unter vielen die Allgemeine Wirtschaftsgeschichte in zwei Bänden von Kulischer 1965, hier: Kap. 21 in Bd. 1 und Kap. 9 in Bd. 2.

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zeitlicher Kunst- und Wunderkammern ohne Hierarchien der Kunstgattungen auf. Und im Ausstellungswesen drängen Designerwerke zunehmend in den Vordergrund. Auf der documenta 8 in Kassel (1987) durften Designartefakte eines Jasper Morrison Kunststatus beanspruchen, die in den 1990er Jahren starken Einfluss auf Konstantin Grcic, Jonathan Ive oder das niederländische Kollektiv Droog Design ausübten. Auch die westliche Gegenwartskunst hat vielfach die Berührungsängste mit dem Design überwunden. Ausgehend von den asiatischen Ländern sind Design und Kunst bei Jeff Koons, Damian Hirst, Takashi Murakami oder KAWS wieder vereint. Es häufen sich Ausstellungen, in denen Design unter der Kunstrubrik läuft. Das Metropolitan Museum in New York veranstaltet spektakuläre Ausstellungen zum Modedesign. Das Milwaukee Art Museum stellte Design in Midcentury America (2018) aus, das MoMA in New York bietet regelmäßig Designausstellungen, jüngst etwa The Value of Good Design nach 1945 (2019), und die Tate Modern in London zeigte Arbeiten der Bauhaus-Textildesignerin Anni Albers (2018). Der Abbau der Hierarchien zwischen Design und Kunst in der Kunst-, Wissenschafts- und Museumsszene ist aber nur eine scheinbare Überwindung der Design/Kunst-Dichotomie. In Wirklichkeit ist sie in der kollektiven Wahrnehmung westlicher Konsumgesellschaften unauslöschlich. Denn gerade die neoliberale „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz 2017) bzw. die Bereicherungsgesellschaft sind regelrecht gefangen in den Mythen des Designmaterialismus und Kunstidealismus (Boltanski/ Esquerre 2018). In ihnen ist der irritierende Trend zu beobachten, dass man herkömmliche Serienprodukte zu Unikaten erklärt, um die Kauflust anzufachen. Sie werden wie Kunstwerke beworben, um mit ihrer vermeintlichen Teilhabe an der ‚freien Kunst‘ ein Freiheitsversprechen geben zu können – und das, obwohl mittlerweile 90 Prozent aller Kunstwerke als öffentliche oder private Auftragskunst entstehen (Rauterberg 2015, S. 47).6 Die Verkunstung des Designs hat in den 1990er Jahren sogar die Rechtsprechung beschäftigt, die sich bemüßigt sah, Stühle von Le Corbusier und Marcel Breuer durch Gerichtsbeschluss zu Kunst erklären, sie aus den Niederungen des Designs in den Olymp der Kunst heben zu müssen (Breuer 2009, S. 270f.; Breuer 2001, S. 17–34). Auch die Creative Industries zementieren die Design/Kunst-Dichotomie, indem sie Waren

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Zum neuen Boom der Auftragskunst vgl. Vogel 2017.

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sakralisieren, auratisieren, zu etwas Besonderem erklären, somit singularisieren und am Ende wie Kunstwerke rezipieren.7 Die Kreativwirtschaft boomt, doch die Dienstleistung des Designers erfährt keine adäquate Wertschätzung. Es gibt ein großes Designerprekariat, und selbst erfolgreiche Stardesigner wundern sich über den geringen Wert ihrer Arbeit auf dem freien Markt.8 Die Verkunstung des Designs ist eine Marketingfassade der Authentizitätsregime, hinter der die Design/Kunst-Dichotomie fortwirkt. Dies ist „the dark side of the boom“ (Adam 2017).9 Die ‚Große Divergenz‘ ist also ein Paradox. Grob gesprochen existieren zwei Konzepte parallel, die einerseits auf einen hierarchiefreien Kunstbegriff rekurrieren wollen, andererseits aber in der kollektiven Wahrnehmung jenseits der Wissenschaftszirkel sehr deutlich einer Design/ Kunst-Dichotomie huldigen. Das Paradox wird vor allem dann sichtbar, wenn man die problematische Entwicklung der ‚Großen Divergenz‘ rekonstruiert. Sie nahm ihren Anfang bereits in der Frühneuzeit, als sich das Kunstsystem zunehmend vom Handwerk zu emanzipieren trachtete, um eine Dichotomie zwischen den artes mechanicae und den artes liberales aufzubauen. Mit der Aufklärung nahm die ‚Große Divergenz‘ an Fahrt auf, indem sich die Blickästhetik weit über jede Berührungsästhetik erhob. Angewandte Kunst geriet zunehmend in Misskredit. Um 1800, davon zeugen die Zimmerbilder der Biedermeierzeit, erreichte die ‚Große Divergenz‘ ihren ersten Höhepunkt, als Design-Artefakte ihre Bildwürdigkeit verloren. Zwar behielten die Möbel in den Zimmerbildern ihre Bildwürdigkeit, doch dienten sie dabei der architektonischen Raumkonstruktion als Erfüllungsgehilfen des linearen Sehens. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand man kurzzeitig zurück zur Angewandten Kunst und ihrer Bildwürdigkeit – eine Bestätigung, dass Entwicklungen nur selten linear verlaufen. Sie sind in der Regel Schwankungen ausgesetzt. Deshalb betonten Stifter, Fontane, Baudelaire, Goncourt, Proust und nicht zuletzt Benjamin die Sammlung wieder als Gattung des Mik-

7 Hierzu grundlegend Karpik 2011, Kap. 10; Reckwitz 2012 und 2017. Zum Gegensatz von funktionalen und kulturellen Gütern und zu ihrer „Sakralisierung“ vgl. ebd., S. 123–126. Ähnlich Boltanski/Esquerre 2018, S. 44 und v. a. S. 274f. 8 Zum Designproletariat bzw. Kreativprekariat in den Creative Industries vgl. Menger 2006 und 2014; Reckwitz 2017, S. 218. 9 Bei Georgina Adams Rede von der „dark side of the boom“ im Hinblick auf den Kunstmarkt geht es um die Ökonomisierung der Kunst, sie lässt sich aber auf die Ökonomisierung des Designs ausweiten.

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rokosmos (Schoch 1995, S. 13). In ihm erreichte die Dichte dargestellter Sammlerstücke wieder das Niveau des Biedermeier, bis sie in der BauhausModerne jäh und endgültig der Leere weichen musste. Anfangs, vor und zwischen den Weltkriegen, ging der kubische und entleerte Raum aus der avantgardistischen Bewegung hervor, flankiert von der Verachtung des klassischen Ornaments. Erst nach 1945 verhalf ihm der Reimport der Bauhaus-Ästhetik aus den USA nach Europa und vor allem auch nach West-Deutschland zum Durchbruch in der bürgerlichen Wohnästhetik. Die amerikanische good-design-Propaganda ebnete in den 1950er Jahren den Weg in den ‚leeren Raumkubus‘ (Kaufmann 1946 und 1950).10 Seine normative Ästhetik hatte in Zeiten des Kalten Krieges auch ihre politische Konnotation. Denn die good-design-Initiative war in den USA bereits Ende der 1940er Jahre gezielt für den Wiederaufbau Europas entwickelt worden. Sie war eine kommerzielle Kooperation zwischen Industrie, Politik und dem MoMa unter Leitung des Kurators, Architekten und Kunsthistorikers Edgar Kaufmann. Good design war Teil des Marschallplans zum Wiederaufbau Europas und half der amerikanischen Industrie dort bei der Sicherung großer Marktanteile (Riley/Eigen 1995, S. 151; Demand 2013). Auf Designmessen etablierte sich amerikanisches ‚gutes Design‘ als Normungsinstanz des guten Geschmacks in einem kriegszerstörten Europa. Den Überbau dieser schlichten Raumästhetik des Wohnens bildete das Europa des Visualprimats, das die Wertschätzung des Tactus minimierte und die Linie des Sehens feierte.

10 Vgl. auch den Überblick bei Castillo 2010, S. 16–33; Demand 2013; Zitzlsperger 2021, S. 291f.

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Bildnachweise

Abb. 1, 2: Christiane Lukatis (Hg.): Mein blauer Salon. Zimmerbilder der Biedermeierzeit, Ausst.-Kat., Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, 11.5.–20.8. 1995, Nürnberg: Verlag des Germanischen Nationalmuseums 1995, S. 32, 30. Abb. 3: Muthesius 2009, S. 110. Abb. 4: bpk – Bildportal der Kunstmuseen, Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin. Abb. 5: Frederick Hartt: David by the Hand of Michelangelo, London: Thames & Hudson 1987, S. 124. Abb. 6: Maraike Bückling (Hg.): Schönheit und Revolution. Klassizismus 1770–1820, München: Hirmer 2013, S. 36. Abb. 7: Wikimedia Commons, the free media repository, https://upload.wikimedia.

Philipp Zitzlsperger

org/wikipedia/commons/thumb/4/44/Pier re-Auguste_Renoir_-_Ambroise_Vollard. jpg/2048px-Pierre-Auguste_Renoir_-_Am broise_Vollard.jpg (9.6.2022).

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Folk Traditions in Interiors was a cross-epochal project launched in two socially and historically different phases, but in both cases in connection with state formation (after 1918 and after 1945). To help the project succeed, a program promoting folk art in modern living spaces was carried out during the interwar period. To this end, national and international exhibitions were held, model stores were opened, and a fashion, even a form of snobbery, was cultivated in connection with this type of interior decoration. After the Second World War, these efforts were renewed and the Center for Folk Arts and Crafts was founded. Folk art was elevated to the status of national art, and its use in interiors was regarded as combating both petit-bourgeois tastes and the cosmopolitan aesthetic. Over the decades, the connection between folk tradition and modernity and modernization was emphasized in the context of discussions of the function of interiors and the cultivation of atmospheres in standardized living spaces.

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PIOTR KORDUBA WOHNEN UND VOLKSTÜMLICHKEIT: PROPAGANDISTISCHE BILDSTRATEGIEN FÜR DIE INNENRAUMGESTALTUNG IN POLEN VOR UND NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG Im März 1933 fand in den Räumen der Gesellschaft zur Förderung des volkstümlichen Gewerbes (Towarzystwo Popierania Przemysłu Ludowego, TPPL) in Warschau ein eleganter Cocktailempfang statt. Zu dieser bedeutsamen Veranstaltung notierte Władysław Wincze, ein ehemaliger Mitarbeiter der Gesellschaft (Wincze 1986, S. 15): „Die Volkstümlichkeit kam in Mode. So als ob sich ein Gefäß voller Volkstümlichkeit über Warschau und das ganze Land ergossen hätte. In die abgelegene Tamka-Straße 1 kamen auf einmal viele Besuchergruppen, und das Ladengeschäft verwandelte sich ungewollt in eine Ausstellung ländlichen Kunsthandwerks. Frau Beck, die Gattin des damaligen Außenministers, gab im Geschäft an der Tamka-Straße eine Cocktailparty für Diplomaten und hochrangige Persönlichkeiten aus Finanzwesen und Kunst. […] erlesene Kleider […]. Diener brachten Getränke, Damen trugen volkstümliche Stickereien, Eleganz und ländliche Schlichtheit. […] Der Empfang der Ministergattin war ein einschneidendes Ereignis. Von da an war die Tamka-Straße in Mode. Niemand klagte mehr über geschäftlichen Stillstand, fehlenden Absatz, defizitäre Budgets oder die Schwierigkeit, Subventionen zu erhalten.“1

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Alle polnischen Zitate wurden vom Verfasser ins Deutsche übersetzt.

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Diese vielleicht ein wenig übertriebene Schilderung veranschaulicht eines der wichtigsten Leitmotive des Ratgeberwesens und der staatlichen Propaganda im Bereich der polnischen Innenraumgestaltung sowohl zwischen den Weltkriegen als auch in den Jahrzehnten nach 1945, nämlich die Fokussierung auf Artefakte, die stark von der traditionellen polnischen Volkskunst und ihrem Kunstgewerbe geprägt waren (Korduba 2013; Kordjak 2016; Klekot 2021). Dabei handelte es sich um Erzeugnisse, die aus traditionellen Materialien und mit traditionellen Techniken hergestellt wurden, allerdings unter der Aufsicht der hierfür eingerichteten Stellen, und die für eine städtische, überwiegend großbürgerliche Klientel gedacht waren. Das ihrer Produktion und Distribution zugrunde liegende Prinzip bezeichne ich als „Volkstümlichkeit zum Verkauf“ (Korduba 2013), denn diese Erzeugnisse entstanden mit Blick auf einen institutionalisierten Warenverkehr und in Abhängigkeit von Markterfordernissen, was in ihrer funktionalen und formalen Ausrichtung zutage trat und sie zugleich in ein entsprechendes Verhältnis zur traditionellen Kunst und zum volkstümlichen Kunstgewerbe setzte. Sie wurden zeitgemäß bewor-

ben (durch Kataloge und Werbeanzeigen, auf Ausstellungen und Messen usw.) und waren zugleich Teil eines großen und langjährigen Projekts zur Ästhetisierung polnischer Wohnräume. Institutionell vorangetrieben wurde dieses Projekt bis 1939 vor allem durch die Gesellschaft zur Förderung des volkstümlichen Gewerbes, nach dem Krieg durch deren ideelle Nachfolgerin Cepelia (Zentrale für Volks- und Kunstgewerbe) sowie in gewissem Grade auch durch das Institut für industrielle Gestaltung (Instytut Wzornictwa Przemysłowego, IWP). Trotz der Zäsur des Zweiten Weltkrieges und veränderter politischer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen gab es in diesen Institutionen kaum Wechsel im Führungspersonal, das Beziehungen in die Politik (bis 1939: Volksgewerbereferat im Ministerium für Industrie und Handel), in die universitäre Volkskunde und Kunstgeschichte sowie in die Produktion und Gestaltung (Entwerfer*innen) hatte. Seit der Zwischenkriegszeit hatten wir es also in Polen mit einer institutionell formierten Volkskunst und Volkstümlichkeit zu tun, an der viele Akteur*innen beteiligt waren, die im Allgemeinen aus der gesellschaftlichen Elite stammten und in vielfältigen Abhängigkeits- und Wechselverhältnissen zueinander standen (Beruf, Arbeitsstelle, gesellschaftlicher Verkehr). Volkstümliche Kunst und volkstümliches Kunstgewerbe waren in der polnischen Ikonosphäre und dem künstlerischen Diskurs schon zu-

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vor präsent, besonders ab der Wende zum 20. Jahrhundert, als sie Teil einer Strömung wurden, die nach einem nationalen Stil (dem sogenannten Zakopane-Stil) suchte, und anschließend zur Wiederbelebung des Kunsthandwerks instrumentalisiert wurden (Crowley 1992; Klekot 2021, S. 95–108; Szczerski 2021). Als Aufsehen erregende Präsentation dieser Bemühungen gilt die polnische Teilnahme an der Exposition internationale des Arts décoratifs et industriels modernes 1925 in Paris (Sosnowska 2007), unter anderem deshalb, weil dies die erste Teilnahme Polens als unabhängiger Staat an einer Weltausstellung war. Im polnischen Pavillon wurden Artefakte, Möbel und komplett eingerichtete Innenräume gezeigt, die von den bedeutendsten Künstler*innen der damaligen Zeit entworfen worden und durch volkstümliche Ornamente, Farbgebung oder allgemein volkstümliche Ästhetik inspiriert waren. Die Ausstellung wurde mit Preisen überhäuft, wobei die gezeigten Exponate insbesondere für den hervorragenden Ausgleich zwischen dem modernen internationalen Stil und der Authentizität versprechenden Bodenständigkeit gelobt wurden. In ihrer spezifischen Ästhetik wurde das Potenzial gesehen, eine nationale Marke zu schaffen und zugleich die Nation auf der Ebene der Wohnraumkultur zusammenzuführen (Huml 1978, S. 60f.; Chmielewska 2006a, S. 147–149; dies. 2006b und 2014; Klekot 2021, S. 113–117). Durch hunderte Rezensionen und fotografische Reproduktionen wurde die polnische Ausstellung weithin bekannt, Möbel und Stoffe wurden in Serienproduktion kopiert, die formale oder dekorative Ästhetik der Exponate wurde oberflächlich rezipiert. Ein Beleg für die Rezeption dieser Ausstellung ist die Eingangshalle der Privatvilla der Familie Radajewski in Posen aus dem Jahr 1928. Obwohl die Wandmalereien mehr mit den volkstümlichen Motiven der um die Jahrhundertwende in Krakau verbreiteten Batikmalerei gemeinsam hatten, bezeichneten die Radajewskis die Halle mit Bezug auf Zofia Stryjeńska, eine der profiliertesten Künstler*innen der Pariser Ausstellung, als „à la Stryjeńska“; die Art-déco-Ästhetik der Tischlerarbeiten und der Beleuchtung erinnerte zudem an die Stilistik des dortigen polnischen Pavillons.2 Ungeachtet der überwiegend äußerst positiven Rezeption stieß die Ausstellung gerade wegen der großen Präsenz des „Volkstümlichen“ (Czy sztuka 1925) auch auf Kritik. Kritisiert wurde insbesondere, dass die

2 Diese Information verdanke ich der Tochter des Auftraggebers, Leonia Stobiecka, geb. Radajewska (1919–2021).

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beteiligten Künstler*innen sich der traditionellen Volkskunst ausschließlich als eines Reservoirs von Ornamenten und Materialien bedient hätten, aber auch die Exklusivität der Erzeugnisse. Eine Alternative zu diesen stilisierten Arrangements entstand durch das Wirken der Gesellschaft zur Förderung des volkstümlichen Gewerbes. Doch bevor wir auf diese Alternative zu sprechen kommen, sei daran erinnert, dass die Aufnahme von Volkskunst und volkstümlichem Kunstgewerbe in moderne Wohnräume seit den frühen 1920er Jahren auch im Ratgeberwesen (Presse, Bücher) sowie durch andere Ausstellungen propagiert wurde. Einer der in diesem

Zusammenhang interessanteren und umfassenderen Texte war Maria Morozowicz-Szczepkowskas Ratgeber Wnętrze polskiego domu dawniej a dziś (Das Innere des polnischen Hauses einst und jetzt, Morozowicz-Szczepkowska 1928), der im Geiste Paul Schultze-Naumburgs Das Gesicht des deutschen Hauses (1929) nahestand (vgl. Korduba 2020). Neben Empfehlungen zur Einrichtung des polnischen Hauses enthält der Text allerhand Überlegungen zu dessen Vergangenheit unter besonderer Berücksichtigung der negativen Auswirkungen der Teilungszeit3 sowie eine Diagnose der Gegenwart. Sprachlich übernimmt Morozowicz-Szczepkowska dabei immer wieder den Jargon des Hygienediskurses über Krankheiten und Heilung: „Das alte Polen unter der fremden Patina freilegen und auf dieser Grundlage ein neues Polen bauen: Dies ist eine Aufgabe nicht nur für den Arbeitgeber und Politiker, nicht nur für den Künstler, der polnische Stoffe und Geräte herstellt und das Innere des polnischen Hauses erneuert, welches vom Unrat einer langwierigen Krankheit – der Unterjochung – bedeckt ist, sondern auch für den Bürger, der sich ein Haus baut und ausschmückt. Wir haben den germanisierten und russifizierten polnischen Schulen die polnische Sprache zurückgegeben, haben die uns schändenden Zeichen der Unfreiheit, die orthodoxen Kirchen, die Obelisken, die Denkmäler der Zaren und Kaiser zerstört – nun müssen wir auch aus den Innenräumen unserer Häuser unwiderruflich die Wiener Sezession, den Plüsch, die Berliner Teppiche, den Tand jeglicher Art und Herkunft verbannen, weil sie unsere Häuser verschmutzen, die dadurch keinerlei Charakter haben, die stumm sind, obwohl wir doch eine eigene Sprache besitzen: die polnische dekorative Kunst.“

3 Polen gewann seine Unabhängigkeit erst 1918 zurück, nachdem sein Staatsgebiet zwischen 1772 und 1795 von den drei Teilungsmächten Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt worden war.

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(Morozowicz-Szczepkowska 1928, S. 8) Weiter heißt es, gerade die Volkskunst besitze diese Heilkraft und durch volkstümliche Keramik, regionale Stoffe und Möbelpolster lasse sich unfehlbar der polnische Charakter des Hauses wiederherstellen (ebd., S. 18). Möbelherstellern wurde damals empfohlen, dass sie einen neuen, von der ländlichen Kunst inspirierten Stil vertreten sollten (Kostrzyńska-Miłosz 2005, S. 45f., 80). Dies wurde auch in die Tat umgesetzt, wovon unter anderem die Präsentation der Firma Józef Sroczyński aus Posen auf der dortigen Allgemeinen Landesausstellung 1929 zeugte (ebd., S. 66f.). Diese Ausstellung war eine der wichtigsten zwischen den Kriegen, bei der mit regionalen Stoffen bezogene moderne Möbel gezeigt wurden. Dies wurde als „gelungener Einsatz von Folklore an eleganten Möbeln“ aufgefasst (Przegląd Stolarski 1929, S. 5). Auch wenn die künstlerische Genossenschaft Ład (Schöne Ordnung) keine originalen volkstümlichen Erzeugnisse im Angebot hatte, wurden diese doch aus einheimischen Rohstoffen hergestellt. Zusätzlich erhielten die Produkte durch den Rückgriff auf entsprechende altpolnische Vorbilder „einen Hauch Volkstümlichkeit“, wie der Kunsthistoriker und Kritiker Wacław Husarski in der Zeitschrift Tygodnik Ilustrowany bemerkte (zit. n. Kostrzyńska-Miłosz 1998, S. 63). Somit erschien die Ästhetik der Genossenschaft von traditionellen, ländlich-regionalen Erzeugnissen geprägt (Morozowicz-Szczepkowska 1928, S. 3; Grzegorczyk 1933; Kostrzyńska-Miłosz 2005, S. 216, 218). All diese Entwicklungen reicherten den Diskurs über polnische Innenräume an und konstituierten in verschiedenen Ratgebern, Frauenzeitschriften und Ausstellungen eine Ikonosphäre. Jedoch standen das allgemein zugängliche Angebot der polnischen Hersteller und die Vorbilder aus den Zeitschriften und Austellungen weitgehend getrennt nebeneinander.

DIE GESELLSCHAFT ZUR FÖRDERUNG DES VOLKSTÜMLICHEN GEWERBES: IDEOLOGIE UND HERSTELLUNG Die 1907 gegründete Gesellschaft zur Förderung des volkstümlichen Gewerbes weitete ab 1924 ihre Tätigkeit aus, wobei sie sich unter anderem auf das Gesetz stützen konnte, das die finanzielle Minimalabsicherung ihrer Tätigkeit durch den Staat garantierte. Im Zuge dieser Ausweitung entstanden regionale Niederlassungen mit Verkaufsgeschäften, es wur-

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den Erzeugergenossenschaften gegründet, Schulungen zur Anpassung traditioneller volkstümlicher Erzeugnisse an den Bedarf der modernen Abnehmer*innen und ihrer Wohnung sowie zum Absatz von Stoffen, Keramik, Kunstschmiedearbeiten durchgeführt (ausführlich hierzu Korduba 2013, S. 29–80). Mit umfassender Unterstützung durch die Wissenschaft (vor allem den ethnologischen Lehrstuhl der Stefan-Batory-Universität in Wilna [heute Vilnius]) erarbeitete die Gesellschaft bis 1939 gleichzeitig ein sehr solides theoretisches und methodologisches Fundament zur Begründung ihrer Tätigkeit (Klekot 2021, S. 152–160, 177–189). Ohne an dieser Stelle auf Einzelheiten dieser über Jahre hinweg präzisierten Konzeption einzugehen, kann festgehalten werden, dass dieses vielschichtige Projekt Fragestellungen aus verschiedenen Bereichen umfasste – von der Wirtschaft (Unterstützung der Landbevölkerung) über Kultur (Erhalt der traditionellen Handarbeit durch geschickte Anpassung an moderne Bedürfnisse) und Bildung (Erneuerung der modernen Wohnraumästhetik) bis hin zur Vermarktung (Volkstümlichkeit als polnische Marke). Natürlich verlief die Formulierung dieses Projekts nicht ohne Zwiespalt, stimmten doch manche der Befürchtung des österreichischen Kunsthistorikers Alois Riegl zu, dass die Fürsorge für das volkstümliche Gewerbe zu dessen Niedergang und Degeneration führen könnte (Riegl 1894). Letztlich kam man zu dem Schluss, dass die Erzeugung einer modernen Nachfrage, auch unter Berücksichtigung der notwendigen Änderungen (z.B. der Größe der Erzeugnisse oder neuer Gebrauchsformen), die einzige Chance zur Rettung der vor allem in den ehemaligen Ostprovinzen4 ausgeübten ländlichen Handarbeit darstellte. Dabei sollte das Netz regionaler Gesellschaften und der in ihnen beschäftigten Fachleute dafür sorgen, dass adäquate Maßnahmen für diese Rettung ergriffen wurden. Es wurden sogar genaue Grundsätze der Herstellung bzw. Qualitätsmerkmale der hergestellten Erzeugnisse festgelegt: „1. Getreue Nachbildung alter Motive und Techniken unter Einbeziehung oder ohne Einbeziehung der neuen Verwendungsweise des Gegenstands […]. 2. Rückgriff auf traditionelle Techniken, Materialien und Motive unter Berücksichtigung der individuellen Gestaltung des Herstellers, die bewusst an die neue Verwendung des Gegenstands angepasst wird. 3. Schließlich die Formulierung neuer Aufgaben, die der Bauer innerhalb oder außerhalb traditioneller Tech-

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Heute die westlichen Gebiete Litauens, Belarus’ und der Ukraine.

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niken und Materialien kreativ löst.“ (Orynżyna 1937, S. 255) Die potenziellen Käufer*innen erhielten auch Hinweise aus dem Angebotskatalog, so sollte das Volksgewerbe „eine wichtigere Rolle bei der Dekoration der Wohnräume, Sommerhäuser, Pensionen usw. spielen. Schon jetzt sind viele repräsentative Gebäude, Kirchen, sogar Theater (Vorhänge, Möbel) mit ländlichen Stoffen ausgeschmückt. Sogar die moderne Kleidung kann mit einigen Volkserzeugnissen ein hochkünstlerisches Gepräge erhalten, das nicht mit der Mode wechselt.“ (Orynżyna 1935, S. 8) Bei einigen Produkten wurde eine direkte Empfehlung zur Verwendung gegeben, z. B. bei einem Stoff, der auf dem Land zum Abdecken von Wagen und Betten diente und der in der Stadt als Überwurf für Liegen, Wandbehang, Bezugsstoff, Tischdecke, Portiere, Möbelpolsterung, zur Herstellung von Sitzkissen und Taschen oder gar für Einlegearbeiten genutzt werden sollte (ebd., S. 12). Die weichen Wolldecken wiederum, die auf dem Land zum Wärmen dienten, wurden in den Städten auf Fußböden oder Liegen ausgebreitet. Außer durch den illustrierten, teilweise farbigen Angebotskatalog (Orynżyna 1935) machte die Gesellschaft zur Förderung des volkstümlichen Gewerbes vor allem durch ihre Geschäfte und Vorführungen der Erzeugnisse auf Ausstellungen auf sich aufmerksam. Bis heute überdauert haben Bildquellen der drei wichtigsten Geschäfte in Warschau. Besonders spektakulär war das Geschäft Artystyczne Rękodzieło Wsi (Kunsthandwerk vom Land, Abb. 1), eröffnet 1935 (Korduba 2013, S. 102). Die sorgfältige, moderne und zugleich luxuriös gestaltete Inneneinrichtung war Teil der anschaulichen Werbestrategie des unter Aufsicht der Gesellschaft entstehenden Kunsthandwerks. Die Innenausstattung sollte sowohl modern als auch elegant wirken. Das helle und geräumige zweigeschossige Ladenlokal mit einer modernistisch geschwungenen Galerie und seinen edlen Materialien (Stein, Parkett) erinnerte weniger an ein Geschäft als an die Innenräume moderner Villen, die damals, besonders in Warschau, zahlreich errichtet wurden. Die arrangierten Innenrauminseln führten zugleich vor, wie die angebotenen Waren in der eigenen Wohnung einzusetzen seien. Das Gesamtensemble überzeugte als modische, aber gleichzeitig konventionelle moderne Architektur und verband sich hervorragend mit den zeitgenössischen Erzeugnissen der Volkskunst und des Kunsthandwerks. Bescheidener war das Geschäft Len Wileński (Wilnaer Leinen), doch auch dieses strebte danach, sachlich-moderne, gar asketisch anmutende Innenräume mit den vielfältigen regionalen Stoffen in

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1  Ladengeschäft Kunsthandwerk vom Land , Warschau 1935

Einklang zu bringen (ebd.). „Es besteht kein Zweifel, dass die alte grobe Leinwand, hausgewebtes Linnen und Wolle […] und schwarze und bunte Stickereien sich ausgezeichnet für Kleidung und moderne Innenräume verwenden lassen und, welch Wunder, hinsichtlich des Preises mit den billigsten Fabrikerzeugnissen mithalten können“, hieß es über das Sortiment des Geschäfts (Hryniewiecki 1936). Das dritte Geschäft der Gesellschaft zur Förderung des volkstümlichen Gewerbes schließlich wurde kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs eröffnet. Es verband moderne Verkaufsformen (z. B. Ständer für großformatige Stoffe) mit Einrichtungselementen und veranschaulichte somit, wie die angebotenen Waren in den eigenen Wohnräumen arrangiert werden konnten. Übrigens zeigte das

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2  Ausstellung Das Volksgewerbe in modernen Innenräumen, Lemberg 1936

Geschäft Materialien, die bereits seit einigen Jahren gern in modernen polnischen Innenräumen verwendet wurden, so Stein und Keramikkacheln (wohl huzulischer5 Herkunft). Was das Ausstellungswesen anbelangt, so wurden Bilder von Innenräumen mit volkstümlichen Erzeugnissen auf zahlreichen inländischen Ausstellungen gezeigt, aber auch auf ausländischen, was in Bezug auf das Ansehen Polens als besonders wichtig erachtet wurde. Zu Ersteren gehörte etwa die Warschauer Ausstellung zum preiswerten Bauwesen und zur Werbung für Kleinstwohnungen im Jahr 1935, wo die von der Kritik enthusiastisch aufgenommenen Entwürfe sich indes für Käufer*innen mit kleinem Geldbeutel als nicht erschwinglich erwiesen. Zudem fanden Themenausstellungen statt (Abb. 2), wie z. B. Przemysł ludowy we współ-

5 Es geht um das Handwerk der in den Ostkarpaten ansässigen Huzulen. Ihr Siedlungsgebiet, ihre Kultur, Volkskunst und Hausindustrie erregten seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts großes Interesse bei polnischen Künstler*innen, Sammler*innen und Intellektuellen.

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czesnym wnętrzu (Das Volksgewerbe in modernen Innenräumen) in Lemberg 1936 (Przemysł ludowy 1936). Bei dieser Ausstellung ging es weniger um große Wohnungen als vielmehr um bescheidenere Innenräume, etwa für junge Ehepaare oder Menschen mit geringem Vermögen, wobei die moderne (rustikale oder funktionale) Einrichtung durch Stoffe, Keramik und Glasmalerei bereichert werden sollte. Zwei verschiedene Typen von Innenräumen – zum einen Innenräume mit Möbeln im Stil der Streamline-Moderne, zum anderen Räume mit rustikaler Ausstattung – bewarben die möglichst umfangreiche Nutzung von Volkskunst und -gewerbe. Von den Ausstellungen außerhalb Polens sind vor Kriegsausbruch vor allem die Weltausstellungen in Paris 1937 und New York 1939 hervorzuheben (Sosnowska 2009, 2012). Die Erzeugnisse der Gesellschaft zur Förderung des volkstümlichen Gewerbes wurden dort nicht in einem Pavillon, sondern in vielen verschiedenen Räumlichkeiten gezeigt und dienten auch zur Einrichtung der von Künstler*innen entworfenen Innenräume. Erwähnenswert ist Pokój miłośnika sztuki ludowej (Zimmer des Liebhabers der Volkskunst) in Paris (Katalog oficjalny 1937, S. 48–50; Korduba 2013, S. 107f.), ein ziemlich exzentrischer Raum eines Sammlers mit einem Ofen aus huzulischen Kacheln, wie sie damals in Mode waren. In New York gab es die Ausstellung Łowiectwo i sztuka ludowa (Jagdwesen und Volkskunst) als Teil einer Schau des Verkehrsministeriums, bei der nicht Inneneinrichtungen an sich beworben wurden, sondern die Volkskunst als touristisches Vorzeigeprodukt eingesetzt wurde, um ausländische Gäste zu exklusiven Jagdausflügen nach Polen zu locken (Katalog oficjalny 1939, S. 312; Korduba 2013, S. 109f.). Von der Verwendung volkstümlicher Erzeugnisse in modernen Innenräumen sollten auch zwei prominente Bauvorhaben überzeugen, deren Räume auch häufig fotografisch reproduziert auf Ausstellungen gezeigt wurden. Das erste war die Privatvilla von Bohdan Pniewski (1936/37), einem seinerzeit höchst begehrten Architekten (Piątek 2021), in deren Bibliothek an der Zimmerdecke volkstümlich bemalte Schalen aus verschiedenen Landesteilen angebracht wurden (Hryniewiecki 1938; Korduba 2013, S. 104f.). Diese Installationsform wurde zu einer beliebten Dekoration in Warschauer Villen. Das zweite Bauwerk war das elegante Restaurant auf dem Gubałówka in dem bekannten Winterkurort Zakopane, wo neben Schalen – diesmal an der Wand – volkstümliche Stoffe, Schmiedekunst und Keramik sowie moderne, mit regionalen Stoffen bezogene Möbel zum Einsatz kamen (Korduba 2013, S. 105).

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Festzuhalten ist, dass die Gesellschaft zur Förderung des volkstümlichen Gewerbes im Namen des Staates und unterstützt von Wissenschaftler*innen und Künstler*innen die offizielle Politik zur Förderung des zeitgenössischen volkstümlichen Kunsthandwerks umsetzte und durch vielseitige Mittel deren Ansehen als Bestandteil moderner polnischer Wohnräume durchsetzte. Dieser Gebrauch entsprang auch wirtschaftlichem und kulturellem Denken zur Unterstützung der Landbevölkerung und zum Erhalt im Verschwinden begriffener Traditionen und Fertigkeiten.

NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG MIT CEPELIA ZU HAUSE 1949 wurde die Cepelia ins Leben gerufen: die Zentrale für Volks- und Kunstgewerbe. Diese Produktions- und Vertriebsgesellschaft, die dem Kulturministerium unterstand, sollte in erster Linie die staatliche Kontrolle über Genossenschaften und private Werkstätten übernehmen, aber auch eine Hilfsstruktur für das Volks- und Kunstgewerbe aufbauen (ausführlich dazu Korduba 2013, S. 133–201; vgl. auch Gmurczyk 2014; Klekot 2021, S. 295–302). Wenngleich dies bis in die 1980er Jahre nicht offiziell eingestanden wurde, kann die Cepelia mit ihrem Netz aus regionalen Produktionsgenossenschaften, Ankaufsstellen für fertige Erzeugnisse der Landbevölkerung sowie angeschlossenen Verkaufsstellen als Nachfolgeorganisation der Gesellschaft zur Förderung des volkstümlichen Gewerbes gelten. Letztlich entwickelte die Cepelia die Tätigkeiten der Gesellschaft, die nach dem Krieg nicht weiterexistierte, weiter, wobei auch das Personal weitgehend identisch war. Obgleich zu ihrem Wirkungsfeld auch das künstlerische Schaffen zählte, d.h. Projekte moderner bildender Künstler*innen im Bereich Textilien, Möbel, Keramik, Schmuck usw., stand die Cepelia in der Außenwahrnehmung doch für die Volkskunst. Schon 1952 versammelten sich unter dem Dach der Cepelia über 194 Genossenschaften sowie 128 Geschäfte und 1975 hatte sich die Zahl der Geschäfte auf 322 erhöht. Zwar wurde unter den Führungskräften, den Beschäftigten, den angestellten Ethnograf*innen und Berater*innen – wie schon vor dem Zweiten Weltkrieg – darüber diskutiert, ob und inwieweit das Interesse potenzieller Käufer*innen an Volkskunst und -gewerbe von außen beeinflusst und angeregt werden dürfte, doch wurden Zweifel nicht nur durch die damaligen Erfahrungen ausgeräumt, sondern diesmal auch durch den ideologischen Überbau, also den Imperativ,

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eine polnische Nationalkunst müsse sich auf die Volkskunst stützen. Die Zulassung der Erzeugnisse zur Produktion und/oder zum Verkauf war noch strenger geregelt als vor 1939, so entschieden über die Annahme eines Musters ethnografische Bewertungskommissionen. Erneut wurden Regelwerke erstellt, die den Grad der Volkstümlichkeit festlegten und den Traditionsbezug (Material, Technik, Dekoration) sowie die moderne Verwendbarkeit berücksichtigten. Den weitreichenden Auftrag zum Schutz und zugleich zur Förderung und Popularisierung der Volkskunst und des Kunsthandwerks verwirklichte die Cepelia durch Wettbewerbe und Ausstellungen sowie durch den Einsatz ihrer Erzeugnisse in und an öffentlichen Gebäuden; der Zugang zu volkstümlichen Schmuck- und Gebrauchsgegenständen wurde gewährleistet durch das Netz der Verkaufsstellen und befördert durch ihre öffentliche Präsentation und Bewerbung in Presse und Ratgeberliteratur. Man kann sagen, dass der Umfang und die Reichweite des Unternehmens sowie das vielseitige Angebot – von exklusiven Einzelstücken über kunsthandwerkliche Produkte bis hin zu aus Keramik oder Stroh gefertigten Gebrauchswaren – dazu führten, dass die Cepelia letztlich spürbaren Einfluss auf die Ausstattung polnischer Wohnräume besaß. Von entscheidender Bedeutung war hier das dichte Filialnetz, die Lage der Geschäfte in den Innenstädten in attraktiven Ladenlokalen mit gehobener, oft von Künstler*innen gestalteter und in einer der Cepelia-Genossenschaften angefertigter Ausstattung. In den Geschäften war nicht nur ‚bessere‘ Ware als anderswo zu finden, sondern meist auch professionellere und entgegenkommendere Bedienung. Das Verhältnis von Ladenausstattung zu Warenpräsentation änderte sich im Laufe der Jahrzehnte und veranschaulichte so zugleich das aktuelle Vorgehen des Unternehmens im Bereich der Werbung für die Erzeugnisse und deren Platz in der modernen Wohnung. Auch Themenausstellungen wie Sztuka ludowa i meblościanki (Die Volkskunst und Schrankwände, Warschau 1958) erinnerten an die Schulungen vor 1939, waren jedoch an die neuen Gegebenheiten (nämlich die Schrankwände, die es in Polen zuvor nicht gab) angepasst. Der erste längere Text über die Rolle der Cepelia für die Entwicklung moderner Innenräume, der 1952 erschien, trug den bezeichnenden und eindeutigen Titel Piękno ludowe zamiast kosmopolitycznej tandety (Volkstümliche Schönheit statt kosmopolitischer Tand, Piękno ludowe 1952). Die Mission, alte und als kleinbürgerlich oder neureich verstandene Gewohnheiten der Inneneinrichtung zu verbannen, wurde sowohl in der Presse

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als auch auf den allerersten Ausstellungen des Unternehmens auf einfache und unmissverständliche Weise umgesetzt, indem Beispielen einer ‚schlechten‘ Einrichtung vorbildliche, ‚gute‘ Beispiele gegenübergestellt wurden. In späteren Jahren, als das Argument des Kosmopolitismus an Bedeutung verlor, wurde die Aufgabe der Cepelia darin gesehen, ‚Tand‘ und ‚Kitsch‘ aus dem Alltag insgesamt zu beseitigen (Zjazd 1962, Bl. 7). Eine große Rolle für die Imagepflege und die Bewertung der von der Cepelia angebotenen Einrichtungsgegenstände spielten wie bereits erwähnt die Ladengeschäfte, die seit ihrer Entstehung in den 1950er Jahren einen grundlegenden Wandel durchliefen. Die Läden wurden inszeniert als elegante Verkaufssalons mit noblen Möbeln, deren Design der realsozialistischen Ästhetik folgte (Abb. 3). Das Ambiente und die kompetente Bedienung sollten die Kundschaft von der hohen Qualität der Erzeugnisse überzeugen und vor allem sichtbar machen, dass diese ihren bisherigen ländlichen Charakter zugunsten ihrer neuen Bestim-

3  Ladengeschäft Haus der Volkskunst, Warschau, Altstadt, 1950er Jahre

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4  Cepelia-Laden, Warschau, Stadtmitte, 1960er Jahre

mung als Einrichtungselemente für die moderne Wohnung des ‚neuen Menschen‘ ablegten. Ein deutlicher Wandel sowohl in der Thematik der Einrichtungsratgeber als auch in der Ausstattung der Geschäfte selbst trat in der sogenannten politischen Tauwetter-Periode nach Stalins Tod 1953 ein. Janina Orynżyna, eine der wichtigsten Ideengeber*innen der Cepelia, die bereits vor 1939 im Bereich der Förderung des volkstümlichen Gewerbes tätig gewesen war, schrieb: „Das ländliche Kunsthandwerk sollte polnischen Innenräumen und polnischer Kleidung einen bodenständigen Charakter verleihen. Die Volkskunst passt ausgezeichnet zur Schlichtheit moderner Architektur. Regionale Stoffe bringen im Einklang mit der

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weltweiten Mode lebendige und kontrastreiche Farben in die Wohnung. Keramik und Scherenschnitte […] dienen als malerisches Detail, das die rohe Abstraktheit der Möbelformen aufbricht. Sogar ein regionales Einzelstück, beispielsweise eine bemalte Truhe, kann im Einklang mit den Prinzipien Le Corbusiers einen Blickfang bilden, der mit den modernsten Möbelstücken kontrastiert.“ (Orynżyna 1959b, S. 211; eine ähnliche Ansicht hat auch Królikowska 1962, Bl. 30). An die Stelle des verblassenden Kosmopolitismus trat nun eine gewollte Globalität der modernen, etwa von Le Corbusier verkörperten Architektur. In den 1960er Jahren bediente man sich bereits des Werbespruchs „Cepelia im modernen Wohnraum“ (Protokoły 1963), und auch dies kam wiederum in jenen in den Läden gezeigten Arrangements zum Ausdruck. Eine Vorreiterrolle spielte der Cepelia-Laden in Brüssel (1958), wo man sich zum ersten Mal entschloss, modernistische Einrichtung und volkstümliche Erzeugnisse zusammenzustellen und wo das Ladenlokal selbst wie ein großes Schaufenster des Kunsthandwerks aussah (über die Cepelia-Läden Korduba 2013, S. 245–251). Die leichte Konstruktion der Regale sowie die Beleuchtung bewirkten, dass die ausgestellten Krüge, Skulpturen und anderen Erzeugnisse geradezu in der Luft zu schweben schienen. Auf eine Einteilung in separate Bereiche für Kundenverkehr und Personal wurde ebenfalls völlig verzichtet, sodass ein offener Raum entstand, der den damaligen Vorstellungen moderner Verkaufsräume entsprach.

Der sichtbarste Ausdruck des neuen ästhetischen Konzepts der Cepelia im Inland war seinerseits der 1966 mitten im Stadtzentrum von Warschau errichtete modernistische Verkaufspavillon, zu dem die Kund*innen aus ganz Polen pilgerten. Mit der leichten Erreichbarkeit der Ware und den arrangierten Wohnecken wiederholte er zugleich das Konzept des monumentalen Schaufensters, das auch von außen einen attraktiven Anblick bot (Abb. 4). Als Leistung des Pavillons erachtete man die überzeugende Verbindung zwischen traditioneller Volkskunst, aktueller Architektur und der großstädtischen Umgebung: „Dieselben bunten Stoffe, aber man betrachtet sie vor dem Hintergrund der Türme auf der Ostseite der Marszałkowska-Straße. Dieselbe schwarze Keramik, aber vor einem dahineilenden Strom von Autos auf der Straße Aleje Jerozolimskie. Das verkehrsreiche Stadtzentrum und die in ihrer Schlichtheit äußerst zeitgemäßen Erzeugnisse der Cepelia treten nicht in Konkurrenz zueinander, sondern ergänzen sich vorzüglich“, lesen wir in einer Ausstellungsrezension in der Zeitung Życie Warszawy (zit. n. Stępiński 1984, S. 93).

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Einem ähnlichen Geist folgten auch die regelmäßig in größeren und kleineren Zentren stattfindenden Ausstellungen der Cepelia-Produktpalette. Auf der Internationalen Messe in Posen 1961 benutzte man dazu minimalistische weiße Tische und Schauwände, auf denen die einzelnen Erzeugnisse geometrisch angeordnet wurden. Die Cepelia versuchte also, durch die Reduktion von Effekten im Ausstellungsdisplay einen sachlich-nüchternen, modernen Eindruck zu erwecken, der mit dem Geist der damals bereits im ganzen Land eingeführten modernistischen Architektur im Einklang stand. Die gigantische Ausstellung zum 15-jährigen Bestehen der Cepelia, die um die Jahreswende 1965/66 im Kultur- und Wissenschaftspalast in Warschau stattfand, widmete sich vor allem dem Erfolg des Unternehmens in der umfassenden Thematisierung der Inneneinrichtung, „d.h. des Möbelstücks unter Einbeziehung von Stoffen, Volkskunst und Keramik“ (Rozwój 1965, Bl. 7), wobei „die neue Mode betont wurde, Elemente der Volkskunst mit modernem Kunsthandwerk und Stilkunst zu verbinden“ (Orynżyna 1975, S. 23). Während der Ausstellung war die dem Sozialistischen Klassizismus verpflichtete palastartige Architektur der Räume des Kulturpalasts verhüllt, sodass neutrale Ausstellungsboxen beinahe in der Art eines White Cubes entstanden. Darin wurden ausgewählte Erzeugnisse in einer Anordnung gezeigt, die ihre Vorzüge besonders gut zur Geltung brachte und zugleich veranschaulichte, welch modernes und elegantes Arrangement man mit ihnen erlangen konnte. In den größeren Boxen wurden Musterräume eingerichtet, die wiederum die Möglichkeit ihrer umfassenden Gestaltung mit volkstümlichen Cepelia-Erzeugnissen vorführten.

Vor dem Hintergrund steigender Produktions- und Verkaufszahlen bewarb das Unternehmen in den 1970er Jahren die Verbindung zeitgenössischer Innenräume mit volkstümlich ausgerichtetem Kunsthandwerk noch intensiver, bis diese Ästhetik zu einem solchen Grade in der Gesellschaft verankert war, dass sie den Namen Cepelia-Stil erhielt (Korduba 2013, S. 192–201; Abb. 5). Um sie zu vermarkten, bediente man sich althergebrachter Argumente, generierte jedoch auch neue. So hieß es auf einem Werbeflyer von 1975 mit dem Slogan „Z Cepelią w domu“ („Mit Cepelia zu Hause“), dass es nicht leicht sei, die eigene Wohnung wahrhaft individuell einzurichten, doch „mit ihrem ganzen Reichtum an Volkskunst und Kunsthandwerk kann die Cepelia bei der Verwirklichung unserer Träume helfen“ (Z Cepelią 1975, o. S.). Und weiter: „Schrecken wir nicht zurück vor den grellen Farben der Kelims, Überwürfe […] und allerlei

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5  Musterraum auf einer Cepelia-Austellung, 1970er Jahre

authentischer volkstümlicher Stoffe. In unserem Land dauert der Winter lange genug, um uns das Grau der Umgebung und das Fehlen der Sonne fühlen zu lassen. Mögen uns die bunten Gegenstände aus der Cepelia dabei helfen, unsere Wohnräume heiter und funktional einzurichten“, was durch entsprechende Bildbeigaben unterstrichen wurde. Auch denen, die nach Höherem strebten und zugleich Einrichtungsschwierigkeiten hatten, kam die Firma entgegen: „Wenn Sie gern en vogue sind, wählen Sie volkstümliche Stoffe. Diese sind immer eine gute Wahl, wenn Sie zwischen modernem und gutem Stil schwanken“, riet ein anderer Flyer (Dotknięcie ręki

1977, o. S.). Die Vermarktung und Verwendung von Cepelia-Produkten hatte in den 1970er Jahren einen neuen Wertehorizont und verfolgte eine neue Zielrichtung. Nicht mehr nur die Förderung des volkstümlichen Gewerbes stand im Fokus, darüber hinaus wurde versprochen, dass es ein

Vergnügen sein könne, die eigene Wohnung neu einzurichten und dass mit den Cepelia-Erzeugnissen ein origineller und unnachahmlicher Stil

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kreiert werden könne. Es verschwand nicht nur die Thematik des aufstrebenden Kleinbürgers, sondern auch das Paradigma der Modernität; stattdessen kam die Frage nach Atmosphäre, Funktion und individuellem Stil der Innenräume auf, außerdem der uns vom Narrativ des skandinavischen Designs her vertraute Aspekt eines besonderen Klimas, an dem nicht nur einzelne Materialien sich orientieren sollten, sondern letztlich die gesamte Wohnungseinrichtung. In einer Argumentation, die lediglich um das Motiv der Unternehmenstradition erweitert wurde, verharrte die Marketingstrategie im Inneneinrichtungsbereich bis zur Wende 1989, mit der zugleich der Niedergang der Cepelia begann.

DIE LANGE DAUER DER VOLKSTÜMLICHKEIT Wie dieser Beitrag gezeigt hat, ist der nachhaltige Erfolg der Volkstümlichkeit in polnischen Inneneinrichtungen vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg weder auf eine spontane ‚nationale‘ Vorliebe noch auf ein Defizit anderer Einrichtungsgegenstände noch ausschließlich auf die aufdringliche Propaganda der Werbung zurückzuführen. Ebenso wenig war die Cepelia eine originäre Schöpfung des neuen Regimes oder eine Erfüllung monopolistischer Direktiven der Planwirtschaft. Sondern es handelte sich um ein epochenübergreifendes Projekt, das in zwei gesellschaftlich und historisch verschiedenen Phasen auf den Weg gebracht wurde, allerdings beide Male im Zusammenhang mit einer Staatsgründung (nach 1918 und nach 1945), und das dabei wesentliche Bestandteile der kulturellen und sozialen Integration dieses Staates sowie der Konstruktion seines nach außen deutlich wahrnehmbaren, individuellen Bildes übernahm. Auch wenn, wie dargestellt wurde, Kunsthandwerk und Volkskunst in polnischen Innenräumen schon früher ein Thema waren und zeitgenössische, von der Volkskunst inspirierte Gegenstände vorzugsweise auch im Institut für industrielle Formgebung entworfen wurden, so waren es vor allem die Produkte der Gesellschaft zur Förderung des volkstümlichen Gewerbes und der Cepelia, die in den Wohnräumen allgegenwärtig waren. Beide Institutionen beantworteten sie auf dieselbe Art, indem sie einerseits eine umfassende Argumentation bezüglich der wirtschaftlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und schließlich ästhetischen Vorzüge ihrer Produkte entwickelten und diese andererseits mit diversen bildhaften Strategien durch Geschäfte, Ausstellungen und Werbematerialien als

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gute Vorbilder in Szene setzten. Unabhängig vom historischen Zeitpunkt (vor und nach dem Zweiten Weltkrieg) und abgesehen von Nuancen in der Werbung für ihre Produkte dominierten das Narrativ und die visuelle Botschaft der Modernität, der Aktualität in Bezug auf Zeit, Lebensstil, Wohnbedingungen und Architektur. Es war ein utopisches Projekt, das in seinem Anspruch nie vollends gelingen konnte. Lässt man das offensichtliche Problem der begrenzten Verfügbarkeit derartiger Erzeugnisse für die breite Bevölkerung sowohl im Vor- als auch im Nachkriegspolen beiseite, so war es ein kulturell exklusives Klassenprojekt, das von gesellschaftlich elitären Gruppen geschaffen und in Wirklichkeit an diese gerichtet und auch von diesen konsumiert wurde. Tonkrüge, regionale Stoffe und volkstümliche Holzskulpturen fanden in der aufgestiegenen bäuerlichen oder der Arbeiterschicht keine weitergehende Verwendung, dafür aber das gesamte 20. Jahrhundert über bei den polnischen Gebildeten. Das Bild dieser Innenräume indes, welches die integrierten Strategien ihrer Popularisierung (Ratgeber, Frauenzeitschriften, Ausstellungen, Produktionsgenossenschaften und Läden) erzeugten, ist im polnischen visuellen Gedächtnis universell verankert.

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Literatur

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Piotr Korduba

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Wohnen und Volkstümlichkeit

Bildnachweise

Abb. 1: Arkady, H. 1, Jg. 2, 1936, o. S. Abb. 2: Arkady, H. 5, Jg. 2, 1936, S. 262. Abb. 3–5: Archiwum Cepelii, Pracownia Fotografii i Rysunków Pomiarowych Instytut Sztuki PAN, temporäre Signatur: Cepelia/2018.

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Titled Napoleon in the Front Parlor – The Interior as a Medium of Post-Napoleonic Historical Rhetoric, this paper examines the (re)staging of history in Victorian-era painting. It focuses on Marcus Stone’s painting On the Road from Waterloo to Paris (1863), a historical genre painting in which Napoleon Bonaparte’s devastating military defeat at the Battle of Waterloo is portrayed as his retreat into private life. Stone returns to the Bonapartist pictorial formula of depicting Napoleon I as Napoléon du peuple and recasts it as a piece of anti-Napoleonic British historical rhetoric against the political background of the 1850s. The paper explores the way in which the linking of history, genre painting, and interior depiction not only dismantles Napoleon Bonaparte’s aura as an invincible general, but also references the myth of the British triumph at Waterloo. Here, it is argued, historical memory and the politics of the time overlap – specifically, the awareness of Britain’s historically proven military strength and the fear among some Britons of a ‘new’ Waterloo, triggered by the seizure of power in 1851 by Napoleon III, who styled himself as the ‘new’ Napoleon with reference to his famous relative. The interior in Stone’s painting can thus be read as an echo chamber of contemporary history.

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ASTRID SILVIA SCHÖNHAGEN NAPOLEON IN DER ,GUTEN STUBE‘. DAS INTERIEUR ALS MEDIUM POSTNAPOLEONISCHER GESCHICHTSRHETORIK Im Jahr 1970 kommt mit Waterloo ein Film in die Kinos, der das nahende Ende der Herrschaft Napoleon Bonapartes, auch bekannt als Kaiser Napoleon I., beleuchtet. Im Mittelpunkt des bildgewaltigen zweistündigen Historienepos steht die verheerende Niederlage französischer Truppen bei der Schlacht von Waterloo (1815), in Szene gesetzt und auf Zelluloid gebannt vom russischen Regisseur Sergei Fjodorowitsch Bondartschuk, der der Gemengelage aus militärischen Ränkespielen, Schlachtsequenzen und kämpfenden Massen den Charakter verlebendigter monumentaler Historiengemälde des 19. Jahrhunderts verliehen hat. Bis heute in Erinnerung geblieben ist die italienisch-sowjetische Koproduktion mit internationalem Staraufgebot allerdings aufgrund einer im postnapoleonischen Bilderrepertoire ungewöhnlichen Szene: Kurz vor der alles entscheidenden Schlacht empfängt Napoleon (verkörpert vom US-amerikanischen Schauspieler Rod Steiger) in einer Badewanne liegend Marschall Soult und lässt sich von diesem über gegnerische Truppenbewegungen informieren. Ein reich ausstaffiertes, im style Empire dekoriertes Zimmer wird so zur Bühne strategischer Kriegsführung und nationaler Interessen, der an sich private Akt des Badens zu einem der öffentlichen Inszenierung Napoleons als Feldherr.1 Durch diese geschickte Verknüpfung von Politik,

1 Aufgegriffen wird das Badewannen-Motiv in dem TV-Vierteiler Napoleon aus dem Jahr 2002 (Regie: Yves Simoneau). Hier finden sich sogar zwei Badeszenen: Die eine ist zeitlich nach Napoleons Ägyptenfeldzug (1798–1801) in einem klassi-

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Historie respektive visuellem Geschichtsnarrativ und Interieur gelingt es Bondartschuk, das Bild von Napoleon als Privatmann mit dem des Staatsmannes zu überlagern und das Interieur als Ort des scheinbar Privaten zu politisieren. Eine solche (Re-)Inszenierung von Geschichte im Wohnraum ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Schon in früheren Epochen, etwa im Viktorianischen Zeitalter, wurde das Interieur wirkmächtig als Schauplatz historischer Ereignisse in Szene gesetzt. Ein Beispiel ist das Ölgemälde On the Road from Waterloo to Paris (1863) des britischen Malers Marcus Clayton Stone, das Gegenstand dieses Beitrags ist. Ebenso wie in Bondartschuks filmischem Epos, so die These, wird auch hier das Bild Napoleons I. als ‚Privatmann‘ aufgerufen und im Diskursfeld des Wohnens durch unterschiedliche politische Bezugnahmen re- bzw. dekontextualisiert.

NAPOLEON ALS GAST IN DER WOHNSTUBE. LA CHAMBRE RUSTIQUE ALS SCHAUPLATZ EUROPÄISCHER GESCHICHTE On the Road from Waterloo to Paris (1863) war Stones erster großer Publikumserfolg als Maler (vgl. Knight 1999, S. 20). Für den jungen Mann, der nie eine klassische akademische Ausbildung genossen hatte, bedeutete die positive Aufnahme seines Gemäldes im Rahmen einer Ausstellung der Londoner Royal Academy eine wichtige persönliche Bestätigung2 – zumal Stone in jenen Jahren vor allem als Illustrator literarischer Werke, unter anderem von Charles Dickens, seinen Lebensunterhalt verdiente (vgl. Cohen 1980, S. 203–209). Ebenso wie Luke Fildes zählt Stone damit zu jener jüngeren Generation von Vertreter:innen des Holland Park Circle, die sich zu Beginn ihrer Karriere als Buch- oder Romanillustrator:innen einen Namen machten. Seinen charakteristischen, sentimentalisch-pitto-

zistischen Interieur angesiedelt, die andere zeigt den Feldherrn in einer notdürftig hergerichteten Badewanne in einem schäbigen Gemäuer kurz vor der Schlacht von Waterloo. 2 Stone wurde von seinem Vater, dem Maler Frank Stone, unterrichtet; außerdem nahm er seit 1856 an der informellen Malklasse von Campden Hill teil, der Maler wie William Powell Frith, William Holman Hunt, John Phillip oder William Mulready angehörten (vgl. Dakers 1999, S. 160).

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1  Marcus C. Stone, On the Road from Waterloo to Paris, 1863, Öl auf Leinwand, 112 × 152 cm, Guildhall Art Gallery, London

resken Malstil, der ihm – neben Wohlstand und einer prestigeträchtigen Mitgliedschaft in der Royal Academy – das Label eines ,romantisierenden‘ („romantic“) Genremalers Watteauesker Liebesszenerien einbrachte (Fletcher 2011, S. 2), entwickelte Stone hingegen erst um die Mitte der 1870er Jahre (vgl. Baldry 1896, S. 1–25).3 Ein wichtiger Schritt in diese Richtung waren eine Reihe von Historiengemälden, die zwischen 1861 und 1873 entstanden; zu ihnen gehört das hier betrachtete Bild On the Road from Waterloo to Paris (Abb. 1). Während die anderen Arbeiten der Werkgruppe fast ausnahmslos historische Begebenheiten aus dem England der Tudorzeit schildern, entschied

3 Anders als bei den bekannteren Mitgliedern des Holland Park Circle (z. B. Frederic Leighton, George Frederick Watts oder William Burges) steht eine kunsthistorische Auseinandersetzung mit Stones malerischem Œuvre bisher aus. Alfred Lys Baldrys Abhandlung The Life and Work of Marcus Stone, R.A. aus dem Jahr 1896 stellt daher bis heute das wichtigste Referenzwerk dar (Baldry 1896).

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sich Stone bei diesem Sujet offenbar ganz bewusst – wie später noch darzulegen sein wird – für die Darstellung eines Ereignisses aus der jüngeren Vergangenheit: den schmachvollen Rückzug Napoleon Bonapartes nach der Schlacht von Waterloo am 18. Juni 1815. Letztere markierte nicht nur das europaweit herbeigesehnte Ende der napoleonischen Kriege (1792–1815), sondern auch die endgültige militärische wie politische Entmachtung Napoleons I., der sich nur wenige Monate zuvor, nach seiner Flucht von der Insel Elba bzw. der Rückkehr nach Frankreich, erneut zum Kaiser erhoben hatte. On the Road from Waterloo to Paris visualisiert das unmittelbar bevorstehende Ende dieser als ,Herrschaft der Hundert Tage‘ (1. März–22. Juni 1815) in die Geschichtsbücher eingegangenen historischen Episode. Dabei inszeniert Stone die Geschehnisse um die Schlacht von Waterloo auf eine Art und Weise, die gezielt die Darstellungsmodi der Gattung des repräsentativen, monumentalen Historiengemäldes unterläuft – ja die militärische Niederlage Napoleon Bonapartes gar als einen Rückzug ins ,Private‘ imaginiert. In einem ungewöhnlich kleinen Format (Maße: 112 × 152 cm) sowie in Anlehnung an die intime Bild- und Formensprache des schottischen Genremalers David Wilkie wird der einstige ,Schrecken Europas‘, der sich und die Erfolge der Grande Armée gerne in riesigen Schlachtengemälden verewigen ließ, als im doppelten Sinne gebeugter Feldherr in einem heimeligen, etwas aus den Fugen geratenen kleinbürgerlichen Ambiente dargestellt. In sich versunken und griesgrämig dreinblickend, hat Napoleon auf der Flucht vor den nachrückenden feindlichen Truppen auf einem Hocker vor dem Kamin in der Wohnstube der Familie eines französischen Kriegsveteranen Platz genommen, während ein ihm weiterhin treu ergebener General, Henri-Gatien Bertrand, den kaiserlichen Redingote-Mantel über dem Feuer trocknet.4 Beobachtet wird die Szenerie, die einen scheinbar privaten Moment des ganz offensichtlich auch mental besiegten Feldherrn und Kaisers festhält, von den Bewohner:innen des Hauses: einem einarmigen Kriegsinvaliden mittleren Alters in der Uniform der französischen Armee, einer jungen Frau mit Baby im Arm und phrygischer Mütze auf dem Kopf (ein Hinweis auf ihren

4 Stone schreibt hierzu 1912 in einem Brief an die Guildhall Art Gallery in London, wo das Bild heute aufbewahrt wird: „After the disastrous defeat at Waterloo, Napoleon with a small escort fled to Paris. Resting for a brief space he has entered a cottage & is musing by the fire. It was as you know wet weather. General Bertrand is drying the Emperor’s coat (the immortal Redingote grise). A group of peasants stand aloof and gaze with awe and sympathy at their fallen idol […]“ (zit. n. Knight 1999, S. 20).

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bürgerlichen Stand und/oder ihre politische Nähe zu den Idealen der Französischen Revolution?), einem Jungen und einem Mädchen im Kleinkindalter, einem Greis sowie einer schwarz gekleideten jungen Witwe, die mit ihrem Spaten wie die weibliche Verkörperung des Typus des soldat laboureur (dt. Bauernsoldat) wirkt.5 Die ihnen zugewiesenen Attribute charakterisieren die einzelnen Familienmitglieder als getreue Anhänger:innen Napoleon Bonapartes, ebenso wie auch gewisse Einrichtungsobjekte: An der Wand hängen z.B. zwei aus dem Lot geratene Kupferstiche (eine Druckgrafik nach François Gérards Napoléon Ier im Krönungsornat, 1805, sowie eine nicht näher identifizierbare Reproduktion eines Schlachtengemäldes), die von der längst vergangenen Macht und Größe des Kaisers künden; ein unmittelbar daneben angebrachter Säbel deutet auf die militärische Vergangenheit des vom Krieg gezeichneten einarmigen Hausherrn. Durch diese Objekte erfährt die sonst eher karg möblierte, kleinbürgerlich anmutende Wohnstube der Veteranenfamilie, bei deren Ausstattung (u. a. mit einem rustikalen Buffet) Stone deutliche Anleihen am Stil eines chambre rustique, einer im 19. Jahrhundert verbreiteten wohnräumlichen Bildformel zur Repräsentation des ,einfachen (bäuerlichen) Lebens‘ auf dem Land, genommen hat, eine eindeutige Politisierung.6 Es sind insbesondere die intermedialen Referenzen auf eine glorreiche Vergangenheit, in denen das aus dem Gleichgewicht geratene Welt- und Selbstbild Napoleon Bonapartes sozusagen bildimmanent seinen visuellen Widerhall findet. Stone erschafft somit ein räumliches Ambiente, in dem die militärische Niederlage und anschließende Flucht des Kaisers nach Paris in der Verquickung von politischer Ikonografie, Interieurdarstellung und Genremalerei als ein Rückzug in den privaten Wohnraum zur

5 Beim soldat laboureur handelt es sich um einen ehemaligen Soldaten, der nach dem Vorbild des römischen Adligen und Politikers Lucius Quinctius Cincinnatus mit dem Ende seiner Dienstzeit seine Waffen/Schwerter gegen Pflugscharen eingetauscht hat (vgl. Klier 2014, S. 164–166). So existiert z. B. eine Lithografie Jean-Georges Freys aus dem Jahr 1829, die den exilierten Napoleon als Gärtner mit Spaten und Gießkanne auf der Insel St. Helena zeigt (vgl. Costamagna 2021). Die Mehrzahl der Darstellungen dieses populärkulturellen französischen Bildtypus des 19. Jahrhunderts zeigt jedoch Bauernsoldaten, die über den Totenschädeln oder Gerippen gefallener Kameraden ihre Felder bestellen. 6 Die Möblierung eines chambre rustique, das – wie bei Stone – häufig mit einer (Wohn-)Küche gleichgesetzt wurde, umfasste gewöhnlich folgende Einrichtungsobjekte: einen offenen Kamin, eine Anrichte oder ein Buffet, Kochutensilien, Stühle, einen Tisch sowie einen Alkoven (vgl. Roze 2005).

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2  George Cruikshank, Napoleon Dreaming in his Cell at the Military College, 1814, Radierung, handkoloriert/aquarelliert, 15 × 24 cm, in: William Combe [Doctor Syntax, Pseud.]: The Life of Napoleon: A Hudibrastic Poem in Fifteen Cantos, London: T. Tegg 1815, Tafel 1

Anschauung gebracht wird. George P. Landow führt hierzu treffend aus: „By including Napoleon in the painting, Stone achieves several things, the first of which is to elevate a homely genre, giving it historical importance.“ (Landow 2015) Napoleon I. wird dabei als ,Privatmann‘ oder zumindest als Feldherr, der sich einen Moment der Ruhe gönnt, imaginiert. Ein wichtiger Faktor ist in diesem Kontext seine Einbindung in das räumliche Gefüge bzw. in das familiäre Setting. Nach der Niederlage von Waterloo wendeten sich bekanntermaßen selbst die letzten Getreuen von dem einst als unbezwingbar geltenden Schlachtenlenker ab; wenige Tage später, am 22. Juni 1815, wird Bonaparte gar gezwungen sein, (erneut) abzudanken. Es scheint, als ob sich diese politische Isolation, die schließlich auch zur geografischen auf der Insel St. Helena führen sollte, im Gemälde bereits ankündigt: auf der einen Seite ein melancholischer, einsamer Napoleon, auf der anderen Seite eine Familie, deren Mitglieder sich gegenseitig Trost spenden können.

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Dennoch ist Napoleon nicht so einsam und auf sich zurückgeworfen, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Auffallend ist Stones Darstellung der emotionalen Bewegtheit aller in der Wohnstube versammelten Familienmitglieder, die sich trotz aller von ihrem einstigen Idol verursachten Opfer und persönlichen Verluste weiterhin mit diesem verbunden fühlen – oder zumindest an seiner aussichtslosen Lage Anteil nehmen. Am offenkundigsten tritt dies in den Gesichtern jener Bewohner:innen zutage, die ihre Blicke betreten gen Boden gerichtet haben oder mitleidig in Richtung ihres gefallenen Helden schauen. Selbst das kleine Mädchen, das als Reaktion auf den in sich zusammengesunkenen Feldherrn vor dem Kamin sein Gesicht in der Schürze der Mutter zu verbergen sucht, wirkt verstört angesichts dieser ,fleischgewordenen‘ Verkörperung der Niederlage der Grande Nation. Diese Version Napoleons hat nichts mehr gemein mit dem strahlenden Kaiser im Krönungsornat auf dem Kupferstich an der Wand. Noch weniger gemein hat sie mit den verunglimpfenden, diabolisch überzeichneten Karikaturen aus der Zeit der napoleonischen Kriege, die sich so tief ins kollektive Gedächtnis nicht nur der Brit:innen eingebrannt haben (vgl. Kelley 1991, S. 354–360). 1814 inszenierte etwa der Karikaturist George Cruikshank den jungen Napoleon als schlummernden ,Albtraum Europas‘, der – angelehnt an Johann Heinrich Füsslis Nachtmahr (1790/91) – in seiner Stube in der Militärakademie von Ruhm und grenzenloser Macht träumt (Abb. 2). Marcus Stone hat sich für eine andere Lösung entschieden: An die Stelle eines stereotyp überhöhten oder negativ überzeichneten Napoleon setzt er seine Version eines (an-)geschlagenen Feldherrn und Kaisers, der durch die emotionale Einbindung in ein familiales Gefüge eine Vermenschlichung und damit eine Demystifizierung erfährt. Auf diese Weise erschafft er ein sentimentalisches historical genre painting, in dem Historie und Sentiment/Gefühl eine ungewöhnliche, aber äußerst produktive Verbindung im Medium des Interieurs eingehen.

VON DER INTERIEURISIERUNG WATERLOOS IM HISTORIENGEMÄLDE Ungewöhnlich für ein Gemälde, das thematisch auf eine für die europäische Geschichte und Geschichtsschreibung so bedeutende Schlacht Bezug nimmt, ist die völlige Ausblendung ebendieses Ereignisses. Einzig über den Titel (On the Road from Waterloo to Paris) erschließt sich

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3  David Wilkie, Chelsea Pensioners Reading the Waterloo Despatch, 1822, Öl auf Holz, 97 × 158 cm, English Heritage, The Wellington Collection, Apsley House, London

die wichtige Schlacht unweit von Brüssel als historisches Referenzmoment und damit die Deutung der abgebildeten Wohnstube als Ort der Stone’schen Inszenierung von Napoleons endgültiger Niederlage. Angesichts der nationalen Überhöhung eines Ereignisses, das im kollektiven Gedächtnis der Brit:innen zum Zeitpunkt der Entstehung des Gemäldes bereits seit annähernd fünf Jahrzehnten sowohl bildlich als auch literarisch zu einem Meilenstein, „a landmark in the political and imaginative landscape of English Romanticism“ (Bainbridge 1995, S. 153), stilisiert worden war, mag dies überraschen. Erinnert sei hier etwa an J. M. William Turners Aquarell The Field of Waterloo (1818), in dem das Schlachtfeld als letzte Ruhestätte tausender noch nicht begrabener Soldaten in Szene gesetzt wird. Oder an Dichter wie Walter Scott, Lord Byron und die Lake Poets William Wordsworth und Robert Southey, die dem europäischen Gemetzel nicht nur epische Denkmäler setzten, sondern den Ort des Geschehens – ebenso wie Turner – auch persönlich aufsuchten und damit einem nach

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1815 einsetzenden ,Schlachtfeld-Tourismus‘ Vorschub leisteten (vgl. ebd., S. 153–177).7 Am Leicester Square in London wiederum lud zwischen 1816 und 1853 Robert Barkers Panorama The Battle of Waterloo zu virtuellen Erkundungen des berühmt-berüchtigten Ortes ein. Nicht unerwähnt bleiben soll auch die schiere Menge an Augenzeugenberichten und offiziellen Reports, die den Duke of Wellington als strahlenden Sieger und alleinigen Schlachtenlenker inszenierten und damit nachträglich den Anteil anderer Nationen (darunter Preußen, Hannover, Belgien und die Niederlande) am Sieg gegen Napoleon herunterspielten (vgl. ebd., S. 154) – eine Tendenz, die sich übrigens in den folgenden Jahrzehnten, insbesondere in der nationalen Geschichtsschreibung, fortsetzen sollte und zu einer Stilisierung Waterloos als dem britischen Triumph schlechthin beitrug (hierzu z.B. Heinzen 2012). All diesen bildlichen und literarischen ,Erfindungen‘ zum Trotz (oder gerade in Abgrenzung zu diesen) bedient sich Stone einer völlig anderen Art der Vermittlung dieses historischen Ereignisses. Auf das Schlachtgeschehen wird bei ihm, wie bereits erwähnt, nur indirekt über den Titel sowie die Darstellung des (an-)geschlagenen Napoleon Bezug genommen. Stone kreiert damit, wie George P. Landow in seiner knappen, aber erhellenden Interpretation des Gemäldes ausgeführt hat, „a powerful, if indirect, image of the nation’s great victory at Waterloo“ (Landow 2015). An dieser Stelle zeigt sich ein weiteres Mal die (konzeptuelle) Nähe Stones zum Genremaler David Wilkie. Nicht von ungefähr weckt On the Road from Waterloo to Paris Assoziationen an dessen Gemälde Chelsea Pensioners Reading the Waterloo Despatch (Abb. 3). Auch in diesem Werk, das bereits 1822, also vier Jahrzehnte vor Stones eigenwilliger Waterloo-Adaptation im Auftrag Wellingtons entstand, wird die französische Niederlage indirekt in Szene gesetzt, und zwar in Gestalt feiernder Brit:innen: In Abwandlung des pronapoleonischen Motivs kriegsbegeisterter französischer Zeitungsleser:innen8 ist hier jener Augenblick festgehalten, als die versammelte Menge –

7 Zum Katastrophentourismus sowie sogenannten battlefield tours über das Schlachtfeld von Waterloo siehe Shaw 2002, S. 67–78. 8 Diese Ikonografie hat z.B. Louis-Léopold Boilly in dem Gemälde La lecture du Bulletin de la Grande Armée (1808) umgesetzt. Abgebildet sind unterschiedliche Generationen einer bürgerlichen Familie, die sich um einen Tisch versammelt haben, um den Fortgang der napoleonischen Eroberungszüge anhand einer Landkarte sowie der Berichte im Bulletin de la Grande Armée nachzuvollziehen. Die im Wohnraum versammelten Personen versinnbildlichen hierbei verschiedene Facetten des Patriotismus: Es gibt den gefechtsbereiten Soldaten mittleren Alters, den vom Leben gezeichneten Großvater oder pater familias, den glühen-

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verdiente Kriegsveteranen aus allen Landesteilen Großbritanniens sowie deren Familien und verbündete Offiziere – aus der London Gazette vom für sie positiven Ausgang der Schlacht erfährt. Bezeichnend ist, dass sowohl Wilkie als auch Stone fiktive ,persönliche‘ Momente, die sich so oder in ähnlicher Weise zwischen den Akteur:innen ihrer Bilder zugetragen haben könnten, zur Visualisierung des britischen Sieges bzw. der französischen Niederlage, also an sich abstrakter politischer Ideen, wählen. Alfred Lys Baldry spricht in diesem Zusammenhang vom Abbilden historischer ,Nebenschauplätze‘, vom „by-play of history“ (Baldry 1896, S. 18). Insbesondere im Falle Stones spiegelt sich hierin eine spezifische Form der Auslegung von Historie, die charakteristisch ist für das Geschichtsverständnis des Künstlers. Als Beleg mag ein Zitat aus dem Jahr 1899 dienen, in dem der Maler ausführt: „I had always been a great student of history … but a student with a political bias. I had come to the conclusion that history as written by the historian was a very different thing from that which was written by the people who made it […].“ (Stone zit.n. Fletcher 2011, S. 2) Stones Anliegen war es also nicht, die von meist männlichen Autoren niedergeschriebenen nationalen Geschichtsnarrative zu reproduzieren; vielmehr zielte er auf eine alternative Form der visuellen ,Erzählung‘, in der die Geschichte(n) des Volkes bzw. der ,einfachen Leute‘ in aussagekräftigen ikonografischen Motiven zum Ausdruck kommen sollte(n). In seiner Waterloo-Adaptation On the Road from Waterloo to Paris zeigt sich dies etwa darin, dass die ,einfachen Leute‘, sprich die Familie des Kriegsveteranen, als (stumme) Zeug:innen der Niederlage Napoleon Bonapartes fungieren. Stones Geschichtsverständnis offenbart sich aber auch, wie im vorigen Abschnitt bereits angedeutet, in der Verquickung des räumlichen Settings mit den Emotionen der dargestellten Personen. Anders als Wilkie, der das Geschehen im Freien, nämlich vor dem Gebäude des Royal Hospital Chelsea, einem Wohnheim für betagte Kriegsveteranen und -invaliden, ansiedelt, verortet Stone seine Szenerie in der ,guten Stube‘ des Kleinbürgertums. Diese Verlagerung der Handlung ins Interieur, das seit der Frühen Neuzeit und insbesondere in der viktorianischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts als Gegenpol zur öffentlichen

den Patrioten mit Zweispitz und Trikolore, der die Hand seiner Verlobten liebkost, den wissbegierigen, aber noch nicht wehrfähigen Heranwachsenden sowie die Kleinkinder, die mit Zinnsoldaten spielen.

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4  Henry Holiday, The Burgesses of Calais, 1859, Öl auf Leinwand, 99 × 74 cm, Guildhall Art Gallery, London

Sphäre und damit als privater Ort imaginiert wird (vgl. McKeon 2005, Kap. 4 & 5; Flanders 2003), ermöglicht es ihm, auch die ,innere‘, seelische Verfasstheit der Bildprotagonist:innen in den Blick zu nehmen. Das Interieur wird damit zum geschützten Raum, in dem selbst ein gestrauchelter Kaiser seine Emotionen offen zeigen kann. Oder anders formuliert: Die Koppelung von Sentiment/Gefühl und privatem Wohnraum ist für Stone elementarer Bestandteil seiner Bild- und Geschichtsrhetorik und damit seiner visuellen Aneignung der Niederlage Napoleons im Interieur. Diese Art der sentimentalischen Geschichtsaneignung und -darstellung ist, wie Baldry bereits festgestellt hat, kein Einzelfall im Œuvre des Künstlers (vgl. Baldry 1896, S. 17–19). Auch Stones andere zwischen 1861 und 1873 entstandenen genrehaften Historiengemälde bilden allesamt

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fiktive historische Momente ab, welche die emotionale Bewegtheit des Bildpersonals in historisierenden Interieurs zur Schau stellen.9 Baldry hat hierfür – allerdings ohne explizit auf den jeweiligen wohnlichen Kontext einzugehen – die Metapher vom ,sentimentalen Einkleiden von Geschichte‘, „the clothing of historical personages in a dress of modern sentiment“, geprägt (ebd., S. 18). Aber auch im Kontext der britischen Malerei um 1850 ist diese genrehafte Koppelung von Historie, Sentiment und Interieur, etwa bei den Präraffaelit:innen, nicht ungewöhnlich. Exemplarisch verwiesen sei hier auf Henry Holidays Gemälde The Burgesses of Calais (1859), das ein wichtiges Ereignis aus Jehan Froissarts Chroniken, einem im 14. Jahrhundert erschienenen Prosawerk über den Hundertjährigen Krieg (1337–1453), festhält (Abb. 4): 1347 begaben sich sieben Bürger der Stadt Calais als Geiseln in die Hände König Edwards III., um die seit elf Monaten andauernde Belagerung ihrer Stadt durch englische Truppen zu beenden (vgl. Knight 1999, S. 14). Holiday fängt jenen Moment ein, als sich einer dieser Männer in einem gotisierenden kapellenartigen Interieur von seiner emotional sichtlich mitgenommenen, neben ihm knienden Gattin verabschiedet. Hier wie auch bei Stone wird der Wohn- oder Innenraum, ganz im Sinne der Geschichtsauffassung der beiden Künstler bzw. des Viktorianischen Zeitalters, zu einer emotionalen Echokammer der Geschichte – einer Geschichte, die den Nimbus der ‚großen‘ Männer, Herrscher und Feldherren in Bildern des Privaten konterkariert und bewegende Einzelschicksale oder Erlebnisse der ,einfachen Leute‘ als Ausdruck einer (wenn auch fiktiven) Zeitzeugenschaft in den Mittelpunkt stellt.

9 Zu nennen wäre etwa The Royal Nursery (1871), das einen Besuch Heinrichs VIII. in der Kinderstube seines lang ersehnten, später verstorbenen männlichen Thronerben zeigt. Weitere Beispiele sind Watts Discovering the Condensation of Steam (1864/65), Royalists Seeking Safety (1866), Princess Elizabeth Obliged to Attend Mass by her Sister Mary (1869) oder Henry VIII. and Anne Boleyn Observed by Queen Katherine (1870).

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DIE (WOHNLICHE) UMDEUTUNG EINER FRANZÖSISCHEN BILDFORMEL AUS DER RESTAURATIONSZEIT: NAPOLEON ALS PRIVATMANN UND ANTIHELD DER ,KLEINEN LEUTE‘ Bei der Ikonografie für diese fiktive Zeitzeugenschaft bedient sich Stone, was angesichts der Wahl seines Sujets zumindest auf den ersten Blick irritieren mag, einer französischen, pronapoleonischen Bildrhetorik. Nach dem Ende der Herrschaft Napoleon Bonapartes und insbesondere nach seinem Tod im Jahr 1821 kam es im Frankreich der Restaurationszeit (1815– 1830) zur Popularisierung einer neuen politischen Bildformel, die – wie Barbara Ann Day-Hickman dargelegt hat – als ,Napoleon der kleinen Leute‘ oder Napoléon du peuple Einzug in die Kunstgeschichte gefunden hat (vgl. Day-Hickman 1999).10 Hierbei handelt es sich um Darstellungen Napoleons I. als petit caporal im Kreise einfacher Soldaten oder als ,volksnaher‘ Held, etwa im Gespräch mit meist weiblichen Repräsentant:innen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. Hergestellt wurden solche Illustrationen vor allem von den französischen Druckhäusern Lacour et Cie in Nancy, Dembour et Gangel in Metz, den Gebrüdern Deckherr in Montbéliard sowie der Imagerie d’Épinal; vertrieben wurden sie wiederum über ein weit verzweigtes Netz fahrender Händler:innen und Krämer:innen. Die politische Brisanz dieser kostengünstigen, hauptsächlich in ländlichen Regionen populären Druckgrafiken, die behördlich verboten oder zumindest einer strengen Zensur unterworfen waren,11 bestand darin, dass sie die offizielle postnapoleonische, überwiegend vom Adel oder adeligen Offizieren bestimmte Geschichtsdoktrin der Restaurationszeit wie auch der darauffolgenden Juli-Monarchie (1830–1840) unterliefen. Day-Hickmann schreibt hierzu: „[…] unlike official paintings and rituals that dramatized the heroism of the aristocracy, the Pellerin12 images conveyed a distinctly

10 Les Napoléon du peuple ist auch der Titel einer 1988 erschienenen Monografie des Historikers Bernard Ménager, in der dieser darlegt, inwiefern sich Napoleon Franz Joseph Karl Bonaparte, der Sohn Napoleons I., und Kaiser Napoleon III., also die ,neuen‘ Napoleons, auf ihren berühmten Verwandten bezogen, um ihre Herrschaft politisch zu legitimieren (Ménager 1988). 11 Zu Zensurmaßnahmen im Bereich der bildenden Künste während der Restaurationszeit sowie der Juli-Monarchie siehe allgemein O’Brien 2012. 12 Jean-Charles Pellerin hatte während der Französischen Revolution in Épinal eine Druckerei gegründet, die heute unter dem Namen Imagerie d’Épinal bekannt ist. 1822 übergab er deren Leitung seinem Sohn Nicolas Pellerin sowie Pierre-Germain Vadet, einem Kriegsveteranen und glühenden Napoleonverehrer.

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egalitarian message. By portraying Napoleon as a friend to the common man, often in congenial conversation with soldiers, peasants, and artisans, the Epinal images extended a populist message to Pellerin’s customers. The images also questioned the government’s timid military strategies by pointing out the valor of Napoleon’s armies.“ (Day-Hickman 1999, S. 14) Für die nach der Abdankung Napoleons I. wiedererrichtete Monarchie bestand die politische Sprengkraft dieser druckgrafischen Erzeugnisse also darin, dass sie – vermittelt im Bild des ,volksnahen‘ Nationalhelden Napoleon – auf die Prinzipien der Französischen Revolution, nämlich égalité und fraternité, rekurrierten und damit offensiv die wiedererlangten Privilegien des Adels in Frage stellten.13 Für die republikanisch gesinnten Gegner:innen der Monarchie – Handwerker:innen, liberale Künstler:innen und Schriftsteller:innen, die ländlich-bäuerliche Bevölkerung (sprich die Angehörigen des einstigen Dritten Standes, die durch die Wiedereinführung der Monarchie u.a. ihr erst kürzlich erlangtes Stimmrecht wieder verloren hatten) –, aber auch für viele, häufig in Armut lebende Kriegsveteranen verband sich mit der Napoleonlegende hingegen die Hoffnung auf eine Erneuerung der gesellschaftspolitischen Verhältnisse der Vor-Restaurationszeit (vgl. ebd., S. 26–28). Das Ergebnis war eine posthume Verklärung und Romantisierung Napoleon Bonapartes, die letztlich auch einen wichtigen Anteil an der ideologischen Wegbereitung der Pariser Arbeiteraufstände von 1848 haben sollte. Stone orientierte sich bei seiner Waterloo-Adaptation an einer ganz spezifischen Form der pronapoleonischen, propagandistischen Bildformel des ,Napoleons der kleinen Leute‘: den Souvenirs du peuple (dt. Erinnerungen des Volkes). Bei diesen handelt es sich um die Visualisierung eines populärkulturellen Sujets, das auf den Inhalt und Titel eines gleichnamigen politischen Liedtextes des Napoleonverehrers und poète-chansonnier Pierre-Jean de Béranger zurückgeht und das in den unterschiedlichsten Medien (u.a. als Flugblatt, Lithografie oder Wand-/

13 An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass Napoleon bereits zu seinen Lebzeiten, in einer retrospektiven Auslegung seines Staatsstreichs vom 18. Brumaire VIII (9. November 1799), von konservativ-bürgerlichen Kräften zu einer Art ,Heilsgestalt‘ erhoben worden war, in der sich die politischen und gesellschaftlichen Errungenschaften der Französischen Revolution mit dem Wunsch-/Selbstbild der erfolgreichen nation militaire verbanden (vgl. Leonhard 2007, S. 284). Der Bildtypus des Napoléon du peuple stellt vor diesem Hintergrund eine visuelle Weiterentwicklung und posthume Zuspitzung der Napoleonlegende dar.

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Schauteller) Verbreitung fand. Als ikonografisches Motiv sind die Souvenirs du peuple zudem eine der wenigen, wenn nicht gar die einzige Bildfindung, die Napoleon als ,Helden der kleinen Leute‘ nicht in einer ländlichen oder urbanen Umgebung, sondern in einem Wohnraum zeigt. Dies war sicherlich einer der Gründe, warum sich Stone im Kontext seiner ,Interieurisierung von Geschichte‘ für dieses Sujet als Vorlage für sein Waterloo-Gemälde entschied. Doch was genau ist das Thema der ,Erinnerungen aus dem Volk‘? Und wie nutzte sie Stone für seine eigene künstlerische Intention? In Bérangers Liedtextvorlage aus dem Jahr 1828, einer fiktiven musikalisierten Lebenserinnerung, erzählt eine inzwischen gealterte ,Frau aus dem Volk‘ („[une] pauvre femme“) von ihren Begegnungen mit Napoleon Bonaparte, die zu Spiegelbildern des militärischen wie politischen Auf- und Abstiegs des von ihr auch posthum weiterhin verehrten Kaisers geworden sind. Bei ihrer letzten Begegnung will sie den Imperator sogar in ihrem Zuhause empfangen haben, wie sie stolz ihren Enkelkindern berichtet:

Un soir, tout comme aujourd’hui,

Da hör ich pochen an das Thor –

J’entends frapper à la porte;

Ein Abend war es just wie heute, –

J’ouvre, bon Dieu! c’était lui

Du großer Gott! Er steht davor, –

Suivi d’une faible escorte. […]

Er selbst – ihm folgt ’ne Handvoll Leute. […]

J’ai faim, dit-il; et bien vite

Mich hungert! ruft er. Schnell bediene

Je sers piquette et pain bis;

Ich ihn mit schwarzem Brot und Wein.

Puis il sèche ses habits,

Die Kleider trocknet er, – schläft ein,

Même à dormir le feu l’invite. […]

Und nickt ein Weilchen am Kamine […]. 14

Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass Stone während eines Besuchs bei seinem Freund und Ziehvater Charles Dickens, der ebenso wie der Schriftsteller William Makepeace Thackeray oder die britischen

14 Bérangers Les souvenirs du peuple werden hier wie im Folgenden nach der französischen Gesamtausgabe seiner Werke von 1834 (Béranger 1834, hier S. 218f.) sowie der deutschen Übersetzung von Adelbert von Chamisso und Franz Freiherr von Gaudy (Béranger 1845, hier S. 150f.) zitiert.

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Chartist:innen zu den Verehrer:innen des französischen ,Volkspoeten‘ Béranger gehörte, auf diesen Liedtext gestoßen sei (vgl. Knight 1999, S. 20; Baldry 1896, S. 17).15 In diesem Rahmen könnte Stone, der sich in jenen Jahren – wie eingangs angeführt – vornehmlich als Illustrator literarischer Werke betätigte und daher sicherlich die Arbeiten anderer (Buch-)Illustrator:innen studierte, auch auf eine der zahlreichen Abbildungen aufmerksam geworden sein, die europaweit mit Bérangers Liedtext zirkulierten. Der Brite nimmt allerdings eine deutliche Fokusverschiebung gegenüber dem ursprünglichen, in unterschiedlichen bildlichen Variationen vermittelten Sujet der Souvenirs du peuple vor. Am deutlichsten zeigt sich dies beim Vergleich seines Waterloo-Gemäldes mit einem kolorierten Holzschnitt aus dem Jahr 1837, der zusammen mit dem Liedtext sowie einer Kurzbiografie Napoleons vom Druckhaus Dembour vertrieben wurde (Abb. 5). Stone übernimmt von diesem die bühnenartige Inszenierung der ,guten Stube‘ als chambre rustique ebenso wie die halb geöffnete Tür im Hintergrund und das Motiv Napoleons mit dem regennassen Mantel vor dem Kamin.16 Hinsichtlich der Raumausstattung nimmt er hingegen kleinere, aber entscheidende Variationen vor: So wird beispielsweise das Marienbildchen an der Wand durch die weiter oben erwähnten, historisch verbürgten Druckgrafiken Napoleons I. ersetzt bzw. ,wandert‘ in Gestalt einer Marienstatuette auf den Kaminsims. Auf diese Weise erreicht Stone zweierlei: Einerseits unterstreicht er die tiefe Religiosität der Bevölkerung auf dem Lande, wo der Katholizismus und damit die Heiligen- oder Marienverehrung auch nach den Säkularisierungsmaßnahmen im Zuge der Französischen Revolution weiterhin eine große Rolle spielten. Andererseits verweist er auf die

15 Die britischen Chartist:innen, die unter anderem für ein allgemeines Wahlrecht eintraten und als frühe Wegbereiter:innen der Arbeiterbewegung gelten, schätzten Béranger vor allem wegen seiner volksnahen Themen sowie seiner Kritik an der Monarchie. Im Gegensatz zu den intellektuellen Zirkeln, zu denen auch Stone und Dickens gehörten, rezipierten sie Béranger allerdings nicht im französischen Original, sondern meist in englischen Übersetzungen aus ihnen politisch nahestehenden Zeitungen und Magazinen (vgl. Phelan 2005, bes. S. 14–20). Die Hochphase dieser Béranger-Rezeption sind die 1840er und frühen 1850er Jahre. 16 Bei der Licht- und Schattendramaturgie orientiert er sich hingegen stärker an einer Druckgrafik der Souvenirs du peuple von Achille Désiré Lefèvre, die in den vom Pariser Verlagshaus Perrotin herausgegebenen Œuvres complètes de P.-J. de Béranger von 1834 erschienen ist (vgl. Béranger 1834, Bd. 3, S. 216f.).

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5  Nicolas Wendling (sculp.), Druck- und Verlagshaus Dembour (Metz), LES SOUVENIRS DU PEUPLE (N° 72), 1837, Holzstich, schablonenkoloriert, 39,9 × 63 cm, Musée de l'Image, Épinal

pseudoreligiöse Verehrung Napoleons um 1815, in der die Frömmigkeit der ,einfachen Leute‘ und der (staatlich gelenkte) Personenkult eine äußerst produktive und nachhaltige Verbindung eingingen (vgl. Day-Hickman 1999, S. 84–110).17 Hierauf hat bereits der Second-Empire-Schriftsteller Victor Auger aufmerksam gemacht, der zu Beginn seiner Napoleonbio-

17 Dieser frömmelnde Personenkult war von Napoleon I. im Einvernehmen mit der römisch-katholischen Kirche Frankreichs durch die Einführung eines Feiertags für den Heiligen Napoléon (15. August) sowie den Vertrieb entsprechender Heiligenbilder bereits zu seinen Lebzeiten forciert worden (vgl. Petit 2012). Auch nach dem Tod des Kaisers boten fahrende Händler:innen der vornehmlich ländlichen Bevölkerung weiterhin pronapoleonische ,Fanartikel‘ (wie Napoleonbüsten oder Heiligenbildchen) gemeinsam mit Marienstatuetten oder anderen religiösen Devotionalien zum Verkauf an. Festgehalten hat dies Hippolyte Bellangé in seinem Gemälde Le marchand de plâtres ambulant, colporteur de figurines napoléoniennes (1833).

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grafie von 1853 schreibt: „Dans chaque chaumière de France se trouvent un Christ noirci, une vierge de plâtre, une image de Geneviève de Brabant, […] enfin un grossier portrait de l’Empereur“ (Auger 1853, S. 3). Mit Verweis auf Raumpraktiken der frühen postnapoleonischen Ära, in denen die Wirkmächtigkeit der Verknüpfung von pseudoreligiöser Napoleonverehrung und Interieurausstattung zum Ausdruck kommen, nimmt Stone somit – anders als die Dembour’sche Druckgrafik – auch ausstattungstechnisch auf das Eindringen politischer Ikonografien in den als privat imaginierten Wohnraum im Bild eines historisierenden Interieurs Bezug. Die entscheidende Fokusverschiebung gegenüber den Dembour’schen Souvenirs du peuple betrifft allerdings das Bildpersonal: Steht im Holzschnitt gemäß Liedtextvorlage noch die Bäuerin, die Napoleon Brot und Wasser reicht, als Repräsentantin des Volkes im Mittelpunkt, so wird diese bei Stone auch lichtdramaturgisch als Teil einer Familie und damit, ganz im Sinne der bürgerlichen Geschlechterordnung des Viktorianischen Zeitalters, als fürsorgliche Mutter inszeniert. Diese Einbindung der Frau in das visuell aufgerufene bürgerliche Konzept der Familie ermöglicht es Stone, anders als in einem ,klassischen‘ repräsentativen Historien- oder Schlachtengemälde, neben der bildlichen Darstellung des besiegten Feldherrn auch das Schicksal der Hinterbliebenen eines Krieges bzw. der Zuhausegebliebenen in den Fokus zu nehmen. Als Leidtragende kriegerischer Auseinandersetzungen werden dabei im Wesentlichen die weiblichen Familienmitglieder identifiziert, die nach dem Tod oder während der Abwesenheit der auch bildlich nicht-präsenten Ehemänner entgegen dem zeitgenössischen bürgerlichen Rollenbild des Mannes als Alleinversorger nun für den Lebensunterhalt der Kinder und der Kriegsversehrten aufkommen müssen. Am deutlichsten wird dies in der allegorisierenden Darstellung der Witwe hinter der Mutter mit dem Säugling auf dem Arm. Nachdem sie ihren Gatten mit dem Spaten beerdigt hat, wird sie wohl künftig – ähnlich wie ein aus dem Krieg zurückgekehrter soldat laboureur – mit ebendiesem Utensil ihre Felder bestellen. Stones On the Road from Waterloo to Paris ist folglich mehr als die von Landow konstatierte indirekte Darstellung des großen britischen Sieges bei Waterloo: Es ist auch ein Sinnbild für das Leid und die Opfer der ,kleinen Leute‘, die diese während der napoleonischen Kriege zu erbringen hatten. Im Gemälde überlagern sich damit die in die an- und abwesenden Körper eingeschriebenen souvenirs de guerre d’une famille mit dem ursprünglich pronapoleonischen Motiv der Souvenirs

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du peuple, das Stone im Dienste einer britischen, anti-napoleonischen Bild- und Geschichtsrhetorik gegen den Strich bürstet. Von besonderer Relevanz ist in diesem Zusammenhang die (kon-)textuelle Umdeutung des historischen Bezugsrahmens der literarisierten Lebenserinnerung der ,Frau aus dem Volk‘: In Bérangers Liedtextvorlage stellt die Schlacht um Paris (30. März 1814), in deren Folge Napoleon I. erstmals zur Abdankung gezwungen wurde, das historische Referenzmoment dar (vgl. Caracciolo 2021, S. 299); die neuerliche Machtergreifung des Kaisers während der ,Herrschaft der Hundert Tage‘ steht also noch in den Sternen. Entsprechend kann die Erzählerin von der siegreichen militärischen Rückkehr Napoleon Bonapartes träumen, den sie in quasichristologischer Lesart als eine Art salvator Franciae imaginiert: „Il va paraître. / Par mer il est accouru; / L’étranger va voir son maître.“ (Béranger 1834, Bd. 3, S. 220)18 Béranger nimmt hier Bezug auf die während der frühen Jahre der Restaurationszeit gerade unter republikanisch gesinnten Bonapartist:innen weit verbreitete Hoffnung auf eine Wiederkehr ihres Idols und die damit verbundene Wiedererrichtung der politischen Verhältnisse der napoleonischen Ära. Angesichts derart aufrührerischer Textzeilen verwundert es nicht, dass der Chansonnier – ähnlich wie die Autoren Émile Débraux, Joseph Méry und Marseille Auguste Barthélemy – immer wieder ins Fadenkreuz der bourbonischen Zensur geriet. Anders als Béranger erteilt Stone hoffnungsvollen Auslegungen der Napoleonlegende eine klare Absage: Sein historisches Bezugsmoment, sein terminus post quem ist – wie der Titel seines Gemäldes impliziert – die Schlacht von Waterloo und damit die endgültige Niederlage französischer Truppen gegen die Armeen Wellingtons und Blüchers, gefolgt von der Verbannung Napoleons auf die Insel Elba sowie dessen Tod. Eine erneute Wiederkehr Bonapartes wird aufgrund der historischen Kontextualisierung seines ,Besuchs‘ bei der Veteranenfamilie daher von vornherein ausgeschlossen. Mehr noch: Durch die Einbindung in das räumliche wie familiale Gefüge der Wohnstube wird der einstige ,Schrecken Europas‘ im Medium der Interieurmalerei ,unschädlich gemacht‘ respektive ,domestiziert‘ und unter Bezugnahme auf die populärkulturelle Ikonografie der Souvenirs du peuple als ,Privatmann‘ und Antiheld der ,kleinen Leute‘

18 „Er wird nicht lange säumen, – / Bald kehrt er heimwärts über’s Meer, – / Der Fremde soll das Feld schon räumen.“ (Béranger 1845, S. 151)

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in der Pose eines in sich zusammengesunkenen, besiegten Feldherrn in Szene gesetzt.

DAS INTERIEUR ALS ECHOKAMMER DER ZEITGESCHICHTE? NAPOLEON III. ALS NOUVEAU NAPOLÉON DU PEUPLE UND DIE BRITISCHE ANGST VOR EINEM NEUEN WATERLOO Doch warum greift Stone gerade im Jahr 1863, fast fünf Jahrzehnte nach der Schlacht von Waterloo und dem Ende der napoleonischen Kriege im britischen Kontext auf ein französisches pronapoleonisches Bildsujet zurück, das in der ihm zugrunde liegenden Textversion obendrein die Rückkehr Napoleons in Aussicht stellt? Ein möglicher Grund könnten die aktuellen politischen Entwicklungen in Frankreich gewesen sein, die in Teilen der britischen Öffentlichkeit die Angst vor einem neuerlichen militärischen Erstarken der Grande Nation schürten. Am 10. Dezember 1848 war Louis-Napoléon Bonaparte, ein Neffe Napoleons I., zum französischen Staatspräsidenten gewählt worden. Zur Erreichung dieses Ziels hatte er sich im Wahlkampf ganz bewusst auf seinen berühmten Verwandten bezogen und mit Verweis auf die ,Volksnähe‘ Napoleons I. als représentant du peuple oder ,neuer‘ Napoleon, als Napoléon républicain, inszeniert (vgl. Ménager 1988, S. 91–102; Abb. 6).19 Nach den unruhigen Monaten der Februarrevolution sowie des Pariser Arbeiteraufstands vom Juni 1848 nutzte Louis-Napoléon damit die Gunst der Stunde und stilisierte sich unter Zuhilfenahme der Napoleonlegende nicht nur als Vorkämpfer der sich gerade erst formierenden sozialistischen Arbeiterbewegung Frankreichs, sondern auch als Verfechter der République (vgl. Day-Hickmann 1999, S. 142–144). Dennoch verfügte er nur drei Jahre später im Dezember 1851, unter dem Vorwand, eine neue Verfassung ausarbeiten und über diese in einem Plebiszit abstimmen lassen zu wollen, die Auflösung der Nationalversammlung. Mit diesem von langer Hand geplanten politischen Coup, der einem Staatsstreich

19 Zur enormen Popularität Louis-Napoléons trug auch seine Schrift L’Extinction du paupérisme (1844) bei, in der er seine Vision zur Bekämpfung der Armut sowie zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Fabrikarbeiter niedergelegt hatte (vgl. Wittmann 2013, S. 22f.).

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6  François Georgin (sculp.), Druck- und Verlagshaus Pellerin (Épinal), LOUISNAPOLÉON BONAPARTE, REPRÉSENTANT DU PEUPLE, Président de la République française, 1849, Holzstich, schablonenkoloriert, 62,1 × 41 cm, Musée de l'Image, Épinal, Dauerleihgabe des MUDACC

gleichkam, wurde Louis-Napoléon – ähnlich wie Napoleon Bonaparte bei seinem coup d’état vom 18. Brumaire (1799) – zum faktischen Alleinherrscher; nur ein Jahr später proklamierte er als Napoleon III. das Zweite Kaiserreich, das Second Empire.20 Angesichts eines politisch derart ambitionierten Nachkommen Napoleon Bonapartes keimte in Europa die Angst vor einer weiteren politischen Destabilisierung Frankreichs auf; noch größer war allerdings die

20 Der Vergleich der beiden Staatsstreiche geht auf Karl Marx’ Schrift Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852) zurück. Anhand der historischen Wendepunkte 1799 und 1851 erörtert Marx darin die gesellschaftspolitischen Gründe für das Scheitern der aus der bürgerlichen Februarrevolution hervorgegangenen Zweiten Republik sowie deren Einordnung in (s)ein revolutionäres, von Klassenkämpfen bestimmtes Geschichtsbild (vgl. z.B. Leonhard 2007, bes. S. 277–280; Wittmann 2013, S. 9–12).

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Angst vor einem neuen Krieg. Insbesondere in Großbritannien wurden spätestens seit Mitte der 1840er Jahre die alten antifranzösischen Ressentiments und Feindbilder der napoleonischen Kriege, die seinerzeit vor allem von Karikaturisten wie Cruikshank befeuert worden waren, wieder heraufbeschworen (vgl. Parry 2001). Zudem warnten Politiker wie der britische Außenminister Lord Palmerston oder der Kriegsveteran Lord Wellington eindringlich vor einer möglichen französischen Invasion Englands, die aufgrund der fortschreitenden Industrialisierung insbesondere auf dem Gebiet der dampfbetriebenen Kriegsschifffahrt zu einer realen Bedrohung geworden sei.21 Zusätzlich angeheizt wurden solche Szenarien öffentlicher Panikmache, die bevorzugt vom Satiremagazin Punch ins Lächerliche gezogen wurden (vgl. Heitzman 2016, S. 46–52), durch das Eingreifen Frankreichs in den Sardinischen Krieg (1859), der einer bewusst herbeigeführten militärischen Konfrontation mit Österreich gleichkam. (Napoleonische) Geschichte schien sich, zumindest in den Augen einiger, also zu wiederholen. Um den Zeitgeist jener Jahre einzufangen, lohnt aber auch ein Blick in die zeitgenössische englische Literatur und Geschichtsschreibung. Wie Clare Simmons in ihrer Publikation Eyes Across the Channel. French Revolution, Party History and British Writing, 1830–1882 dargelegt hat, neigte die viktorianische Gesellschaft um die Mitte des 19. Jahrhunderts dazu, aktuelle politische Ereignisse in Frankreich durch die Linse der Geschichte zu betrachten und auf diese Weise in ein historisches Narrativ einzubetten (Simmons 2000, S. 6–9). Teil einer solchen ,Erzählung‘ war die neuerliche Reaktivierung der Erinnerung an die Schlacht von Waterloo, etwa in William Makepeace Thackerays Roman Vanity Fair (1848). Matthew Heitzman deutet die dortigen Referenzen auf die wichtige Schlacht als Ausdruck einer allgemeinen zeithistorischen ,Stimmungslage‘ im England der späten 1840er Jahre. Er betont, dass das tatsächliche Schlachtgeschehen nur „off-stage“ dargestellt wird, d.h. vermittelt über die Reaktionen der in Brüssel zurückgebliebenen englischen Militärangehörigen und Zivilist:innen, die angesichts falscher Gerüchte über die vermeintliche Niederlage der alliierten Truppen in Panik

21 So warnte Palmerston im Juli 1845 in einer Rede vor dem House of Commons: „[…] the Channel is no longer a barrier. Steam Navigation has rendered that which was before impassable by a military force nothing more than a river passable by a steam bridge“ (zit.n. Heitzman 2016, S. 47). Nachhaltig befeuert wurden solche Ängste durch den Stapellauf des weltweit ersten, von französischen Ingenieuren entwickelten Panzerschiffs im Jahr 1859.

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verfallen. Durch diese indirekten Bezugnahmen auf die psychologischen Folgen einer Belagerung werde die belgische Hauptstadt zum Spiegel der abstrakten Invasionsangst der Brit:innen um 1840, zum „continental standin for London“ (Heitzman 2016, S. 52). Thackeray nutze die Schlacht von Waterloo, so Heitzman weiter, also als „metahistorical [event]“ für einen Blick zurück in die Gegenwart, der es ihm zugleich gestatte, die Invasionspanik seiner Zeitgenoss:innen zu kommentieren (ebd., S. 55). Angesichts dessen kommt Heitzman zu der Schlussfolgerung: „Thackeray imagines England and France locked in a continuous cycle of violence and retribution, constantly reliving and remembering history in order to fuel and give meaning to present strife. […] By modernizing Waterloo, he invites his first readers to question their tendency to return to the Napoleonic Wars as a means of understanding the most recent French threat. Thackeray satirizes the invasion panic, but he does so in order to ridicule and lament the ease with which old fears could become new, the facility with which old nationalist postures could be readopted […].“ (Ebd.) Vor dem Hintergrund dieser Interpretation bzw. einer diskursgeschichtlichen Einordnung des Gemäldes könnte man Stones On the Road from Waterloo to Paris somit auch als einen indirekten, metahistorischen Kommentar auf die infolge der Machtergreifung Napoleons III. erneut aufkeimende Invasionsangst mancher Brit:innen deuten. Es scheint fast so, als wolle der Künstler sagen bzw. zeigen: Ebenso wie Napoleon I. in seinem Großmachtstreben in Waterloo glorios gescheitert ist, wird auch Napoleon III., der sich im Rückgriff auf seinen berühmten Vorgänger gerne als ,neuer‘ Napoleon inszeniert, letztlich von den britischen Truppen besiegt werden. In diesem Zusammenhang erhält die bereits erwähnte ,Domestizierung‘ Napoleon Bonapartes in Stones genrehaftem Historiengemälde zusätzliche Relevanz, denn sie unterstützt in der Figur des vermenschlichten, emotional wie militärisch gebeugten Feldherrn und Kaisers als ,Privatmann‘ sinnbildhaft das Argument von der endgültigen Entmachtung und damit der Unmöglichkeit einer Wiederkehr des Napoléon du peuple bzw. potenzieller anderer Napoleons. In diesem Sinne ist das Interieur in Stones Gemälde auch eine visuelle Echokammer der Zeitgeschichte um 1850, in der Waterloo indirekt als Sinnbild des glorreichen, unvergänglichen Sieges des Vereinigten Königreichs über Frankreich inszeniert wird und mit Verweis auf die Historie der Angst vieler Brit:innen vor einer neuerlichen französischen Invasion eine Absage erteilt wird.

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ZUSAMMENFASSUNG Für sein Gemälde On the Road from Waterloo to Paris bedient sich Marcus Stone einer bonapartistischen Bildformel aus der französischen Restaurationszeit und deutet diese vor dem politischen Hintergrund der 1850er Jahre sowie dem Geschichtsverständnis der Viktorianischen Ära in eine antinapoleonische um. Durch seine ganz spezifische Auslegung und Neuinterpretation von Bérangers Souvenirs du peuple wird das Interieur, die ,gute Stube‘ der ,einfachen Leute‘, zum Aushandlungsort der größten militärischen Niederlage Napoleon Bonapartes. Das heißt, in der Verknüpfung von (visueller) Geschichtsschreibung, Genremalerei und Interieur wird der Nimbus Napoleons als unbesiegbarer Feldherr demontiert und stattdessen, sozusagen off-stage, der Mythos von Waterloo als Ort des britischen Triumphs par excellence in Szene gesetzt. Die potenzielle Anschlussfähigkeit von Stones historical genre painting an die aktuellen politischen Ereignisse um Napoleon III. zeigt allerdings auch, dass jede Nation und jede Ära ihr eigenes Napoleonbild entwirft. Darauf hat Richard Whately bereits 1819 in seinem satirischen Pamphlet Historic Doubts Relative to Napoleon Buonaparte aufmerksam gemacht: „[…] if we are disposed to credit all that is told us, we must believe in the existence not only of one, but of two or three Buonapartes; if we admit nothing but what is well-authenticated, we shall be compelled to doubt of the existence of any.“ (Whately 1846, S. 23) On the Road from Waterloo to Paris ist demnach nur eine von vielen möglichen Formen der Historisierung Napoleon Bonapartes – auch und gerade im Medium des Interieurs.

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Napoleon in der ,guten Stube‘

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Bildnachweise

Abb. 1: Photo Credit: City of London Corporation. Abb. 2: © Napoleon Book Collection, Rare Books and Special Collections, McGill University Library. Abb. 3: Tromans, Nicholas (Hg.): David Wilkie. Painter of Everyday Life, London: Dulwich Picture Gallery 2002, S. 91. Abb. 4: Photo Credit: City of London Corporation. Abb. 5: © Musée de l’Image – Ville d’Épinal / cliché H. Rouyer. Abb. 6: © Musée de l’Image – Ville d’Épinal / cliché E. Erfani.

ZU HAUSE: ZEIGESTRA DES SELBST

ATEGIEN

Zu Hause: Zeigestrategien des Selbst

This paper takes the current transformation from the nuclear to the “post-familial family” (Ulrich Beck and Elisabeth Beck-Gernsheim) as an opportunity for comparative analysis of aesthetic orders of dwelling in visual (re)articulations of family representations in arts and media. It focuses on recent photographic portraits by American artist Deana Lawson, which show seemingly dissonant family typologies. Her choice of subjects apparently forms a counterpoint to the convention and tradition conscious model of family that has been assumed since modernity – a model that claims to produce “resonant family relationships” in a correspondingly appropriate “protected interior space” (Hartmut Rosa). Although the artist also cites conventions of bourgeois family photography of Western modernism, she often portrays family members or couples in anything but idyllic living spaces, thus generating a counter-design to common representational conventions of idealized family or mother portraits. Lawson’s portraits stage her protagonists not so much as nuclear or post-familial families inhabiting idyllic interiors, but rather in a collision of different pictorial registers – a collision that lodges opposition and critique to both ethnographic and social documentary modes of representation. According to Zadie Smith, her photographs of African American or Afrodiasporic family constellations represent an imaginary “Africa of the Mind” and at the same time refer to global economic conditions. In the wake of re-conceptualizing family values, including the concept of the “oppositional gaze” (bell hooks), the paper addresses Lawson’s strategy of renegotiating African American or Afrodiasporic subjects in their own living spaces – beyond conventional gaze regimes.

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ELENA ZANICHELLI ZWISCHEN BABY- UND BEISCHLAF. DEANA LAWSONS AFROAMERIKANISCHE FAMILIENPORTRÄTS (2009–2016) Als die US-amerikanische Künstlerin Deana Lawson 2017 einen dollar store in Charleston, South Carolina, betrat, wurde ihre Aufmerksamkeit von einer Frau mit schwarzer Beinprothese samt lackierten Fußnägeln erregt. Prompt fragte Lawson die Frau, ob sie für ein Porträt mit ihrer Tochter, die ebenfalls anwesend war, zur Verfügung stünde.1 Im Zentrum des im Anschluss an diese Begegnung entstandenen Porträts steht die Mutter-Tochter-Beziehung, weshalb die Fotografie entsprechend betitelt ist: Barbara and Mother (Abb. 1). Im Bild stehen beide dicht hintereinander, wobei sie einander zärtlich berühren, sie lachen in die Kamera und die vorne stehende Mutter hebt den schwarzweiß gestreiften Rock hoch, um der Künstlerin den linken Oberschenkel mit der Prothese zu zeigen. Dass diese schwarz ist, war für die Künstlerin von Bedeutung, ebenso wie die Wahl der Räumlichkeiten, in denen sich Mutter und Tochter befinden. Seit den 2000er Jahren realisiert die 1979 in Rochester im Bundesstaat New York geborene Lawson Porträts einer unter anderem über diese fotografische Praxis entstehenden panafrikanischen Community. Lawsons Porträts weisen stets auf eine Übernahme bestimmter autobiografisch ge-

1 Siehe den Begleittext zu Barbara and Mother auf der Website des Institute of Contemporary Art, Boston (2018), das das Bild für seine Sammlung erworben hat, www.icaboston.org/art/deana-lawson/barbara-and-mother (30.11.2021). Die sonst im folgenden Beitrag besprochenen Arbeiten konnte ich in der Einzelausstellung im MoMA PS1, New York, 14.4.–5.9.2022, sehen.

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1  Deana Lawson, Barbara and Mother, 2017, Pigmentdruck, 175,3 × 139,7 cm, Institute of Contemporary Art, Boston

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prägter, familialer Verhältnisse hin und gelten somit als exemplarisch für die Arbeitsweise der inzwischen in Brooklyn lebenden Künstlerin. Lawsons Porträtfotografien sind Gegenstand dieses Beitrags und meiner größeren Untersuchung zum Thema ‚Family Values – zur visuellen (Re-)Artikulation eines konfliktbeladenen Modells‘.2 Im vorliegenden Text befasse ich mich mit der gegenwärtigen Wandlung von der Kernfamilie zur sogenannten „postfamilialen Familie“ (Beck-Gernsheim 1994, Herv. d. Verf.), womit Familienkonstellationen jenseits der ‚klassischen‘ Kernfamilie gemeint sind: Patchwork-, Regenbogen-, globale Familien usw. (vgl. ebd.). Dieser Wandel bringt zwangsläufig, so meine These, visuelle (Re-)Artikulationen von Familie hervor: Im Zuge dessen werden auch neue ästhetische als lebensräumliche Ordnungen des Familiären sichtbar. Die Verwobenheit biografischer und räumlicher Bereiche stellen in Lawsons Porträts Aspekte und Lebensdimensionen jener Bereiche „lokaler Privatheit“ dar, welche als „Zuflucht des Privaten“ gelten und welche die Philosophin Beate Rössler für moderne liberale Gesellschaften weiter fasst als den schlichten „räumlichen […] Bereich“ (Rössler 2001, S. 255): „[I]n geschützten Räumen lebt man anders und anderes als unter den Augen beliebiger anderer“ (ebd.). Betrachtet man „Beziehungen als Lebensform“ (ebd., S. 280), so ist die „räumliche Inszenierung selbst“ neben „der Möglichkeit anderer Verhaltensweisen sich selbst und (intimen) anderen gegenüber“ (ebd., S. 256f.) wesentlicher Teil lokaler Privatheit. Um zu veranschaulichen, dass und inwiefern Lawsons Bilder einen Kontrapunkt zu herkömmlichen Familienporträts darstellen, soll zunächst auf die kontroverse Diskursivierung ihrer Arbeit eingegangen werden, um dann in einem zweiten Schritt exemplarisch auf einige von Lawsons Arbeiten einzugehen. Diese berühren die Kernfrage über ästhetische Ordnungen des Wohnens, weil sie nicht nur Familien-, sondern damit eng zusammenhängend auch Wohnverhältnisse zeigen, vor allem von einer afroamerikanischen bzw. panafrikanischen Community, zu der sich die Künstlerin selber zugehörig fühlt.

2 Vgl. mein aktuelles Forschungsvorhaben ‚Family Values – zur visuellen (Re-)Artikulation eines konfliktbeladenen Modells‘, u.a. vorgestellt im Rahmen der internationalen Tagung Vielfältige Familienformen: Elternschaft und Familie/n jenseits von Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit – Diverse Families: Parenthood and Family beyond Heteronormativity and Gender Binary, Humboldt-Universität zu Berlin, 7.–8.9.2021.

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THE PEOPLE, (NOT) THE ART? LAWSONS SUJETAUSWAHL ALS KONTRAPUNKT ZUM KONVENTIONELLEN PORTRÄTMODELL Lawsons Familienporträts wirken bisweilen so ungewöhnlich, dass in den USA immer wieder die Frage nach ihrer ‚authentischen‘ Repräsentanz gestellt wurde und wird. Positiv beantwortet wurde diese Frage z. B. von der Schwarzen britischen Autorin Zadie Smith; es gab aber auch kritische Stimmen. „Über diese Bilder debattiert Amerika“, schrieb in Deutschland Elke Buhr (Buhr 2018). Buhrs Feststellung bezog sich vor allem auf die vehemente Ablehnung der Darstellungen seitens einer Besucherin von Lawsons Einzelausstellung, die 2018 im Carnegie Museum of Art in Pittsburgh stattfand. Die Besucherin nahm während ihres Ausstellungsbesuchs mit ihrem Mobiltelefon ein Video der Schau auf, kommentierte die Aufnahmen skeptisch und löste dadurch eine heftige Debatte im Internet aus. Das Video, das sie auf Youtube teilte, zeigt Bilder der Ausstellung, die im Vorübergehen – die Besucherin hält sich jeweils nur kurz vor den Exponaten auf – aufgenommen wurden; man hört, wie sie ihrer Empörung über die ausgestellten Arbeiten Luft macht. Vor dem Bild Nation (2017),3 das zwei in die Kamera schauende junge Männer zeigt, von denen einer eine auffällige goldfarbene Zahnklammer trägt, sagt sie in Flüsterton: „… it [is] … kind of creeping me off.“4 Das verwackelt-improvisierte Video streift im weiteren Durchgang unter anderem Woman with Child (2017)5, das Porträt einer auf einem Sofa sitzenden Frau, die ein weinendes und sich offensichtlich unwohl fühlendes Kind auf dem Schoß hält, sowie das schon genannte Bild Barbara and Mother. Bei der Social-Media-Kontroverse, die durch das Video ausgelöst wurde (vgl. Sargent 2018), kam es 2018 zu einer Reihe abschätziger Kommentare in Bezug auf Lawsons Arbeiten, die unter anderem in der irrigen Annahme gipfelten, Lawson müsse offensichtlich weiß sein.6 Auf der

3 Photocollage, Pigmenttintenstrahldruck, 141 × 170,8 cm. 4 Theresa Simons: Deana Lawson exhibit at the Carnegie Museum in pgh,pa., Video, 1 min., auf: Youtube, www.youtube.com/watch?v=S0MIppuF jNo&feature=youtu.be (7.4.2020). 5 Pigmentdruck, 139,7 × 172,7 cm. 6 So Antwaun Sargent: „The video caused a firestorm when it was first uploaded to Facebook. Some commenters assumed that Lawson was white, while defenders of the images, who saw the show as a sign of progress at a museum, pointed out that

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Facebook-Seite des Carnegie Museum schrieb ein Kommentator namens J Cameron Bayne: „The Deana Lawson exhibition is NOT a Representation of African American Life“. Die gesamte Schau sei, so heißt es weiter, „a racist insult“ (zit. n. Sargent 2018). Diese würde in eingeschränkter Weise die persönliche Erfahrung der Künstlerin darstellen, und zwar in einer Form, die jedes Schwarze Kind, das solche „visceral images“ (Lawson zit. n. ebd.) sehe, traumatisieren müsse. Daraufhin bemühte sich das Museum auf seinen Social-Media-Kanälen, die Wogen zu glätten – unter anderem durch die Klarstellung, dass es sich bei Lawson sehr wohl um eine afroamerikanische Künstlerin handele und dass der Ausgangspunkt für ihre fotografischen Porträts gerade der Wunsch nach einer Dokumentation sowie Würdigung Schwarzer wie panafrikanischer Lebensarten weltweit sei. Auch verteidigte Dan Leers, der Kurator der Abteilung Fotografie, die Entscheidung des Museums für Lawson, indem er betonte, dass ihre Arbeit gerade einen Beitrag zur Inklusion bisher vernachlässigter Gruppen und Individuen leiste: „Museums and the art world in general are very sensitive to the fact that certain voices and individuals have been excluded, and there is a desire to correct for that.“ (Zit. n. Lubow 2018) Worum es der Künstlerin ging und geht, hatte sie im März 2014, also schon vor Eröffnung der Carnegie-Ausstellung, in Bezug auf das bereits erwähnte Werk Nation, welches die Besucherin so abstoßend fand, klargestellt: „Rechts oben im Raum ist ein Bild von George Washingtons Gebiss [zu sehen] – es heißt, seine Zähne seien aus den Zähnen von Sklaven und anderen Materialien gemacht gewesen. Mich interessierte diese Geschichte, der ich diese zwei jungen Männer und dieses Mundstück gegenüberstellte. Es handelt sich um eine Zahnklammer, die ich gold[farben] angesprayt habe.“ (Lawson zit.n. Buhr 2018) Diese Aussage Lawsons macht zweierlei deutlich: Zum einen will sie gerade die problematische historische Verflechtung der Kontinente Afrika und Amerika durch die Versklavung von Millionen von Afrikaner*innen seitens der Nachfahr*innen weißer europäischer Siedler*innen in Amerika beleuchten; zum anderen ist es hier Teil der künstlerischen Strategie (wie beispielsweise

Lawson is African-American. […] The criticism echoes the outrage felt when the Whitney Museum showed white artist Dana Schutz’s controversial painting Open Casket, a gruesome depiction of the body of Emmett Till. The African-American artist Parker Bright staged a one-man protest in front of it wearing a t-shirt reading ‚BLACK DEATH SPECTACLE‘.“ (Sargent 2018) Zur Dana-Schutz-Kontroverse vgl. Falkenhausen 2020.

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bei Nation), ihre Sujets bewusst und offensichtlich zu inszenieren und zu verfremden. Das geschieht sowohl durch die grotesk überdimensionale Mundklammer als auch durch das ebenso grotesk wirkende, gleichwohl originale Gebiss des prototypischen US-Amerikaners George Washington (oben rechts collageartig ins Bild eingefügt). Beide Elemente werden von Lawson als Kontrapunkte einander gegenübergestellt und als Überzeichnung der goldaffinen Schwarzen New Yorker Hip-Hop-Kultur à la Public Enemy (‚bling-bling‘) montiert. Die beiden Männer im Bildvordergrund blicken provokativ-stolz in die Kamera; der eine scheint die Tatsache des Fotografiert-Werdens dadurch zu kommentieren, dass er das Halten einer Waffe imitiert. In dieser Geste liegt durchaus eine gewisse Aggressivität, wird hier doch auf den Einsatz der Kamera als Akt der Einmischung reagiert. Seine scheinbare Überraschung und Missbilligung der Situation dürfte jedoch Teil der Bildkomposition selbst sein. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Bericht von Arthur Lubow in der New York Times, wobei er auch die Künstlerin, von ihm als Insider und Outsider zugleich bezeichnet, zu Wort kommen lässt: „‚I was going to go to Mount Vernon and photograph the dentures but I couldn’t get access,‘ she says. ‚And now I’m very glad about that.‘ Instead, she posed the two men in a borrowed apartment on the Lower East Side, and incorporated the mouth guard (which came to her in a dream) and the appropriated image of the first president’s false teeth. ‚It became a metaphor for torture and maybe slavery,‘ she says. ‚There’s this idea of the real – but you scratch it like a record.‘“ (Lubow 2018) Was dürfte also Social-Media-Kommentator*innen wie die erwähnten an dieser Art der Bildgestaltung beunruhigt und zu dem Vorwurf des Rassismus gegenüber der Künstlerin bewogen haben? Geht es um den Titel, Nation? Geht es um eine Missrepräsentation von Afroamerikaner*innen als Angehörige einer nach wie vor gesellschaftlich benachteiligten Community? In dem oben zitierten Kommentar auf Facebook kommt jedenfalls klar zum Ausdruck, dass er Lawsons Darstellungen gerade nicht als angemessene Repräsentation afroamerikanischer Identität und Lebensform gelten lassen will. Die Gegenposition, die im Diskurs zu Lawsons Porträts im musealen und kulturellen Kontext überwiegt, findet sich etwa bei Zadie Smith. Für Smith, die bekannt ist für ihre literarische Auseinandersetzung mit Fragen der Migration vor dem Hintergrund des britischen Alltags, evozieren Lawsons Porträts ein „Africa of the mind“, ein „Kingdom of restored

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Glory“: „Outside a Lawson portrait you might be working three jobs, struggling. But inside her frame you are beautiful, imperious, unbroken, unfallen.“ (Smith 2018) Ob im Mittleren Westen der USA, in Texas oder auf Haiti fotografiert, stellen Lawsons Porträtierte Smith zufolge etwas überhistorisch und ortsübergreifend Afrikanisches dar, mit umfassendem Identifikationspotenzial hinsichtlich eines imaginierten Kollektivs jenseits der Nation (ebd.). Als der Kunstkritiker Antwaun Sargent 2018 im US-Magazin Vice in der kulturpolitischen Kontroverse zur Frage der Dekolonisierung Stellung bezieht, bringt er bereits im Titel seine Position auf den Punkt: „To Fight Racism Within Museums, They Need to Stop Acting Like They’re Neutral“ (Sargent 2018). Angesprochen sind damit die Verantwortlichen innerhalb der Museumslandschaft. In seiner Reflexion von Lawsons Bildern nimmt Sargent eine vorgängige Konfliktlage in den Blick: Die Einstellung der weißen Kuratorin Kristen Windmuller-Luna im Brooklyn Museum hatte kurz zuvor zu einer heftigen Diskussion unter Afroamerikaner*innen geführt. Denn Windmuller-Luna war die Leitung der African-art-Sammlung übertragen worden, was große Skepsis auslöste: Wie, so hieß es, sollte ausgerechnet eine weiße Person afrikanische Objekte betreuen können? Die Lage spitzte sich unter anderem durch die New Yorker Aktivist*innen-Gruppe Decolonize This Place zu. Die Gruppe besetzte den Beaux-Arts Court des Brooklyn Museums, einen prachtvollen Innenhof, und warf den Verantwortlichen in einem offenen Brief „racism and aiding gentrification“ vor. Ein Protestierender hisste an der Galerie im Innenhof ein pinkes Banner mit der Aufschrift „Decolonize this museum“. Insgesamt war der Protest unter das Motto gestellt: „They want the art, not the people.“7 Der Aktivist*innenprotest im Brooklyn Museum sowie die kritischen Posts zu Lawsons Einzelausstellung im Carnegie Museum in den sozialen Medien gaben Sargent Gelegenheit, sich selber eindeutig zu positionieren, wobei er kursorisch auf die seit 2013 in den USA gestartete Black-Lives-Matter-Bewegung Bezug nahm: „For so long, our own images were used against us to call us powerless, ugly, and more recently, to justify the killing of unarmed black men, women, and children. It’s not

7 Why We Need to Decolonize the Brooklyn Museum, Video, 5 min., Youtube-Kanal von NowThis News, 16.5.2018 (28.4.2022).

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hard to imagine why some people do not see ‚self mastery in the midst of chaos, as Zadie Smith has written about Lawson’s photos. They are still living in the eye of the storm of injustice and they would rather, like the protesters in Brooklyn, see both cultural and governmental institutions make real changes around racism.“ (Sargent 2018) Die starke Polarisierung machte deutlich: Das kulturell und kunsthistorisch geprägte Repräsentationssystem war und ist in der Wahrnehmung vor allem der Afroamerikaner*innen zulässigerweise nicht zu trennen von den Forderungen und dem Verlangen nach Sichtbarkeit, kollektiver Identität und vor allem realpolitischen Maßnahmen zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit und Bekämpfung rassistischer Strukturen. Wie sieht aber die Lage spezifisch im Kunstfeld aus? Spätestens seit den 1990er Jahren beschäftigen sich Künstler*innen mit jenen postkolonialen Fragen, die die immer noch virulenten Machtverhältnisse zwischen Kolonialisierenden und Kolonialisierten beleuchten, und betonen dabei die Notwendigkeit, dass Letztere in der Öffentlichkeit zu Wort kommen müssen. Dies berührt zwangsläufig ein weiteres Problem, das der sich mit Postkolonialität beschäftigende britische Kunsthistoriker Kobena Mercer bereits 1990 anlässlich seiner Reflexionen zur Ausstellung The Other Story (Hayward Gallery, London 1989), der ersten retrospektiven Ausstellung zur britisch-afrikanischen, karibischen sowie asiatischen Moderne im europäischen Kontext, treffend mit der Formel Black Art and the Burden of Representation zusammengefasst hat (Mercer 1990). Dieses Problem erscheint heute noch genauso dringlich: In der öffentlichen Diskussion fällt die Last der Repräsentation denjenigen zu, die für ‚ihre Gruppe‘ sprechen bzw. sprechen sollen. Das führt zum einen dazu, dass die Positionen der gesamten bislang ungehörten Gruppe in der öffentlichen Wahrnehmung unzulässig auf Aussagen, Darstellungen und Verhaltensweisen dieser ‚Vertreter*innen‘ reduziert werden. Zum anderen erscheinen plötzlich auch nur noch bestimmte ‚Vertreter*innen‘ als überhaupt berechtigt, zu einem bestimmten Thema valide Aussagen zu treffen. Konkret beschrieb Mercer das Problem, mit dem die Ausstellung konfrontiert war, folgendermaßen: „As a moment of corrective inclusion to counteract the historical exclusion of black artists from the official versions of the modernist narrative, The Other Story had to carry an impossible burden of representation in the sense that a single exhibition had to ‚stand for‘ the totality of everything that could fall within the category of black art.“ (Ebd., S. 62)

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Einen im Kontext der visuellen Verhandlung von Diskriminierung programmatischen Begriff stellt der sogenannte „oppositionelle Blick“ dar, den die feministische und antirassistische Theoretikerin bell hooks 1992 in die Diskussion von Popkultur, Film- und Medienpraktiken eingeführt hat (hooks 2016). hooks knüpft an Franz Fanons Konzept der kolonialen Herrschaft und Gewalt, der damit einhergehenden Aufteilung in soziale Klassen und des Antagonismus von Kolonialisierenden und Kolonisierten an,8 das davon ausgeht, dass Unterordnung nur so lange möglich und wirksam sei, wie die vermeintliche Überlegenheit anerkannt und akzeptiert wird. Dabei geht es ihr insbesondere um jene massenmediale Bilderzirkulation, die herkömmlicherweise sowohl den An-Blick als auch das Gegen- bzw. Zurück-Blicken Schwarzer Protagonist*innen weitestgehend ausgeschlossen hatte. Das Konzept des oppositionellen Blicks enthält das Recht zum Hinsehen als eine Form des Widerstands. Wie es das Attribut ‚oppositionell‘ verspricht, ist bell hooks’ Haltung eine herausfordernd-politische, die sich gegenüber herkömmlichen Blickregimen widerständig zeigt: „Für Schwarze gibt es Handlungsspielräume, in denen wir zum einen den Blick der anderen hinterfragen können. Zum anderen können wir aber auch den Blick erwidern, einander anblicken und das Gesehene benennen. Das ‚Hinsehen‘ war und ist weltweit eine Geste des Widerstands für kolonisierte Schwarze. Menschen, die Machtbeziehungen unterworfen sind, lernen durch Erfahrung, dass es ein kritisches Hinsehen gibt, das ‚sieht‘ um zu dokumentieren, dass es oppositionell ist. Im Widerstandskampf liegt die Macht der Beherrschten darin, ihre Handlungsfreiheit zu behaupten, indem sie ‚Bewusstheit‘ für sich in Anspruch nehmen und pflegen. Das wiederum politisiert die ‚Sichtverhältnisse‘ – wir lernen auf eine bestimmte Art zu sehen, um Widerstand zu leisten.“ (Ebd., S. 93) Der oppositionelle Blick als Geste des Widerstands hat seinen Ursprung sowohl in (auto-)biografischen Episoden aus hooks’ Kindheit während der 1960er Jahre als auch im unabhängigen Schwarzen Kino dieser und der folgenden Jahrzehnte: „Der schwarze oppositionelle Blick reagierte auf diese Zusammenhänge und entwickelte ein unabhängiges schwarzes Kino. Das schwarze Fernseh- und Kinopublikum konnte an

8 Vgl. exemplarisch Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde (Fanon 1981, hier bes. S. 38) sowie Schwarze Haut, weiße Masken (Fanon 1985, orig. Peau noire, masques blancs. Seuil, Paris 1952).

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der Art, wie die Bilder konstruiert wurden, den Fortschritt politischer Bewegungen für ‚Rassen‘-Gleichheit ablesen und tat das auch. In meiner Familie, einer Familie der schwarzen Arbeiterklasse des Südens, die in einem segregierten Wohnviertel lebte, war Fernsehen eine Möglichkeit, kritisches Zuschauen zu entwickeln. Diejenigen, die nicht in der weißen Welt jenseits der Eisenbahngleise zur Arbeit gingen, lernten ‚Weiße ansehen‘, indem sie diese intensiv auf dem Bildschirm betrachteten. Der schwarze Blick, so wie er sich während der sozialen Bewegungen für racial uplift schärfte, prüfte alles.“ (Ebd.) hooks’ Vorschlag lautet, herkömmliche Praktiken unter anderem der Filmindustrie sowohl zu dekonstruieren als auch einen neuen Blick und so eine neue Subjektivität gerade im Bereich des Visuellen einzuüben. Ihre filmwissenschaftliche Sichtweise berührt so jenen Aspekt einer feministischen Kritik an bestehenden Blickregimen im narrativen Kino und an der von ihm evozierten Schaulust, wie sie bekanntlich von der feministischen Filmtheoretikerin Laura Mulvey (1975) formuliert wurde. Zu diesem Zusammenhang schreibt die Kunsthistorikerin und -theoretikerin Susanne von Falkenhausen: „In hooks’ Text werden Gaze, Identität, ein als handlungsfähig gedachtes Subjekt, Geschlecht und Rasse zusammengedacht. Hooks geht es […] darum, dem diskriminierenden Gaze, der sich auf den/auf die Anderen richtet, etwas entgegenzusetzen. Ihre Strategie ist allerdings nicht, das stereotype Bild […], welches dieser Blick produziert, aufzunehmen und in das eigene Begehren zu integrieren, sondern den diskriminierenden Blick zu erwidern – zurückzustarren.“ (Falkenhausen 2015, S. 182) Weiterhin hebt von Falkenhausen die durch den oppositionellen Blick entstehende neue Handlungsfähigkeit des betrachtenden Subjekts hervor: „Hooks’ Lust am kritischen Blick nährt sich aus den beiden gegenläufigen Bewegungen der Entlarvung negativer Identitätsvorlagen und der Konstruktion und Wahrnehmung neuer, positiver Identitätsmuster. Diese Lust formiert sich nicht im individuell-isolierten Sehen, sondern in einem politischen Kontext von Gemeinschaft, Diskussion und Bewusstsein. Während also dieses Sehen selbst, bezogen auf den Gegenstand (Film), kaum als dialogisch bezeichnet werden kann, so ist der Kontext dieses Sehens entschieden dialogisch. Das zeigt sich auch an hooks’ Beschreibungen konkreter, gemeinschaftlicher Momente solcher Seherfahrungen und ihrer Verarbeitung. Der eigentliche Gegenstand der Betrachtung und des Dialogs sind die Identitätsmuster in ihrer filmischen Repräsentation. Sichtbar werden diese in der (filmischen) Narra-

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tion, welche wiederum der Handlungsfähigkeit der Betrachterin Raum bietet.“ (Ebd., S. 186) Für die Arbeit von Lawson ist es wichtig festzuhalten, dass der von hooks begrifflich erfasste Modus des oppositionellen Blicks in ihren Porträts afroamerikanischer Sujets gezielt eingesetzt wird. Wenn zum Beispiel in Nation die beiden jungen Männer direkt in die Kamera blicken, ist dieser Blick eben keineswegs zufällig oder bloßer Ausdruck von Überraschung, sondern Mimik und Gestik flankieren und rahmen den Blick als machtvollen Akt des Widerstands gegen ein Angeschaut-Werden durch die Betrachtenden. Was ist es aber, das die Fotografien von Lawson so kontrovers wirken lässt, und wie trägt die Situierung im Interieur zu den unterschiedlichen Wahrnehmungen bei?

WAHLVERWANDTSCHAFTEN? ZUR GEGENWÄRTIGEN KONJUNKTUR VON (KERN-)FAMILIENBILDERN IM AUSSTELLUNGSRAUM Familienkonstellationen sind in den letzten Jahren immer wieder zum Thema fotografischer und künstlerischer Projekte geworden. Eine zentrale Erkenntnis der neueren soziologischen Forschung zum Thema postfamiliale Familie ist, dass sich in westlichen Gesellschaften seit den 1990er Jahren eine Pluralisierung familialer Formen vollzieht. Manche künstlerischen Arbeiten legen wiederum das Scheitern des Modells der Kernfamilie nahe. In diese Richtung argumentiert etwa David Brooks in seinem Essay The Nuclear Family Was a Mistake, der 2020 in The Atlantic erschien (Brooks 2020). Ist die glücklich zusammenlebende postfamiliale Familie aber Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels des Diversity-Diskurses oder neuer Standard im Sinne einer neoliberalen Flexibilisierungsmaxime?9

9 Illustriert wurde Brooks’ Essay mit einer künstlerischen Arbeit aus der in den 2010er Jahren entstandenen Serie Traces der polnischen Künstlerin Weronika Gęsicka, die auf der Grundlage musterhafter Stockfotos der 1950er Jahre ihre Motive schafft. Durch Manipulationen solcher im Internet gefundenen Bilder entwickelt Gęsicka eine Strategie zur Entschleierung stereotyper US-amerikanischer Familienbilder aus diesem ‚goldenen Zeitalter‘ (vgl. Coontz 1992, S. 23–25) mit seinem Begehren nach einer funktional-idyllischen Familieneinheit.

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Eine Reihe von Ausstellungen verhandeln gegenwärtig die Frage nach der ‚neuen‘ Ordnung des Familiären in westlichen Gesellschaften. Die Arbeitsserie familia der Künstlerin Katharina Meyer, die unter anderem im Rahmen der Ausstellung Family Matters im Dom Museum Wien 2019 zu sehen war (Schwanberg 2019), zeigt verschiedene reale Familienkonstellationen, alle in entsprechend eingerichteten Wohnräumen, alle wirken glücklich, besonders die Promis unter ihnen. Weitere aktuelle Ausstellungen zum Thema sind: Mother!, präsentiert im Louisiana Museum Humlaebaek 2021 sowie in der Kunsthalle Mannheim 2021/22 (Jorgensen et al. 2021), und Family Affairs, Deichtorhallen Hamburg (Taubhorn 2021). Besonders glücklich in dieser Ausstellung sah im Porträt der Künstlerin Jamie Diamond eine Familie namens Western aus: eine (Patchwork-) Familie, harmonisch, frontal lächelnd, mit Körperkontakt. Auch die Familie Season stellt wieder ein klassisches Familienporträt in pyramidaler Anordnung dar; der Teppich farblich abgestimmt, die Orchidee schön blühend. „[F]rontale Anordnung“ und Positionierung „im Halbkreis“ entspricht der bis heute üblichen Norm, die Familie als „Bildgemeinschaft“ anzuordnen, wie die Fotohistorikerin Meike Kröncke ausgehend von historischen Porträts aus dem 19. Jahrhundert festhält (Kröncke 2012, S. 90). Auch in Jamie Diamonds Familienporträts scheint alles in Ordnung zu sein, wie im Bilderbuch stellen sich die Familienmitglieder als geschlossene Gemeinschaft dar, deren Bildzentralität zudem durch die Positionierung bestimmter Objekte sowie durch die Blicklenkung unterstrichen wird. Nur dass sich die Porträtierten erst auf Wunsch der Künstlerin in einem Hotel zusammengefunden haben, also füreinander Fremde sind. Es handelt sich also um fake families und Diamonds Serie heißt dementsprechend Constructed Family Portraits: „The Westerns“, „The Seasons“ (vgl. Taubhorn 2021). Indem Diamond Konventionen der bürgerlichen Familienfotografie in der westlichen Moderne einsetzt, wird die Familieneinheit von einer geschlossenen zu einer kompositorischen Gemeinschaft. Dasselbe gilt auch für Buck Ellisons Weihnachtskarten, die gestellte Porträts jener überreichen Elite der US-amerikanischen Bay Area zeigen, zu deren Milieu auch der Künstler gehört (vgl. Wiley 2021). Das klassische Modell von (Kern-)Familie wird, sozialwissenschaftlich und anthropologisch betrachtet, als traditioneller „Hort von Ruhe, Liebe und Geborgenheit“ aufgefasst (Rössler 2001, S. 280). Es enthält somit eine entschieden räumliche Komponente: „Wenn wir jetzt spezifisch danach fragen, warum für solche intimen, familialen Beziehungen eine

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abgeschlossene Sphäre als konstitutiv begriffen wird: dann kann man sehen, dass wir eben nur in Räumen, Zimmern, Wohnungen oder Häusern Beziehungen als Lebensform leben können, Beziehungen im Sinne der alltäglichen gemeinsamen Organisation des Lebens, Beziehungen im Sinne einer räumlichen Institution.“ (Ebd.) Das Modell der Familie hat laut dem Soziologen Hartmut Rosa ein Versprechen einzulösen: Familie soll „resonante (also harmonische) Familienbeziehungen“ hervorbringen (Rosa 2016, S. 341). Dies setzt allerdings, so Rosa, einen entsprechend „geschützten Innenraum“ für die Familie als „Schicksalsgemeinschaft“ voraus (ebd.). Dieses Ideal werde als „Resonanzhafen in stürmischer See“ imaginiert, als programmatische Antwort auf eine beschleunigte Gegenwart: „Als essentielles Kontrastfeld und unverzichtbarer Ausgleich zur Befriedigung des Resonanzbedürfnisses und -verlangens hat die moderne (zunächst: bürgerliche) Kultur sodann jedoch die eine, zentrale Gegensphäre der Familie etabliert und konzeptualisiert, die den Subjekten als der (vielleicht letzte) ‚Resonanzhafen‘ in einer ansonsten indifferenten oder sogar feindlichen Welt des Kampfes und der Konkurrenz erscheint.“ (Ebd.) Doch nicht immer sind Wohnräume als Fotosettings geeignet, erweist sich doch Wohnen als vielfältig situiert. Über diesen Heterogenitätscharakter des Wohnens schreibt die Kunstwissenschaftlerin Irene Nierhaus: „Wir Weltbewohner_innen wohnen und bewohnen Vieles, viel Verschiedenes und auf verschiedene Weise: die Wohnung, das Zimmer, die Hütte, den Lieblingsplatz, das Auto, das Büro, den Obdachlosenkarton, das Zugabteil, die Parkbank, das Bricolage-Gehäuse der Barackensiedlung […].“ (Nierhaus 2019, S. 133) Nierhaus nennt noch vieles mehr, was wir „be-wohnen“ (ebd.). Wichtig ist dabei, dass „sich das Ein_Gerichtet-Werden und das Sich-Ein_Richten nicht als einfache Opposition, sondern als Changieren zwischen Normierungen, Begehren und porösen Öffnungen dar[stellt]. Es ist ein Sich-Ein_Richten/ Ein_Gerichtet-Werden.“ (Ebd.) Es sei, so Nierhaus weiter, „das Wechselspiel zwischen Ein_Gerichtet-Werden und Sich-Ein_Richten, zwischen Fremd- und Selbstbestimmung“ (ebd., S. 132). Der Raum- als Wohnbezug spielt somit eine entscheidende Rolle für die Subjektivierung und Identitätsbildung der Bewohner*innen: „Es [das Domestische] zeigt kulturelle und soziale Verhäuslichungs- bzw. Häuslichkeitsprozesse, die Angelegenheiten des Wohnens ordnen, anordnen und regulieren und damit bestimmte ortsbezogene Subjekt- und Gemeinschaftsöko-

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nomien herstellen (z. B. Ehe- und Familienverständnis, Gefühlshaushalte etc.).“ (Ebd.) Es wird deutlich, dass sich der visuelle Konsum des häuslichen Familienglücks zwar an solchen – kulturellen wie orts- und gemeinschaftsbezogenen – Regularien orientiert; zugleich aber zeigt sich, dass diese Wohnvorstellungen variieren, auch zwischen Vertreter*innen derselben Generation oder Bewohner*innen desselben Orts (man denke etwa an Phänomene der Gentrifizierung und der Migration, der urbanen Umwandlung etc.); Wohnvorstellungen re-artikulieren sich also stets aufs Neue (oder: immer wieder). Dieser Gedanke soll nun auf eine exemplarische Auswahl von Lawsons Porträts aus den 2000er und 2010er Jahren übertragen werden. Aus Lawsons Subjektauswahl und dem bisher Gesagten wird deutlich, dass sich die Künstlerin für eine Schwarze Community jenseits nationaler Grenzen interessiert. Da es sich meist um ein fotografisches ‚Zeigen‘ familialer Wohnzusammenhänge handelt, wird im Folgenden untersucht, welche Bedeutung das Zusammenspiel zwischen Schwarzsein, Ortsbezogenheit und einem mitunter normativen, meist aber antinormativen Familienverständnis für die Fotografien hat. Ich beziehe mich hier unter anderem auf die Aussagen von Irene Nierhaus über das „Changieren zwischen Normierungen, Begehren und porösen Öffnungen“ (ebd., S. 132f.) innerhalb des Bezugsrahmens von Normativität und Subjektivität im Wohnen.

LAWSONS FAMILIENKONSTELLATIONEN Das Thema familiale Beziehungen beschäftigt die Künstlerin bereits in frühen Arbeiten, als sie – nach ihrem Abschluss in Fotografie an der Pennsylvania State University im Jahr 2001 – an der Rhode Island School of Design studierte. Auch im Zentrum des eingangs erwähnten Porträts Barbara and Mother steht eine familiale, konkret eine Mutter-Tochter-Beziehung. Gerade dieses Porträt lässt deutlich werden, inwiefern die von Nierhaus angesprochene Herstellung von „ortsbezogene[n] Subjekt- und Gemeinschaftsökonomien“ einen „Gefühlshaushalt“ erzeugt (Nierhaus 2019, S. 132). Hervorzuheben sind hier die Objekte, welche die Bewohnerinnen des Raums sichtbar machen – z.B. die Stereoanlage, die mit Malerkrepp ausgebesserte Tapete, die Vase mit Plastikblumen, eine Bibel, der Kastenventilator –, sowie der stolze Blick von Barbara und ihrer Mutter.

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2  James Van Der Zee, Christmas Morning, 1933, Fotografie, Studio Museum Harlem, Schenkung der Sandor Family Collection, Chicago

Im Folgenden möchte ich auf eine Reihe von Lawsons Arbeiten eingehen, um meine Thesen zu ihrem Werk weiterzuentwickeln. In Lawsons Coulson Family 10 von 2008 sieht zunächst alles nach einem harmonischen Weihnachtsfest aus: Die Kinder lächeln in die Kamera, die Mutter hält das jüngere an der Hüfte, das andere Kind legt seine Hand auf die Schulter der Mutter, wodurch die sie verbindende Einheit betont wird. Im ersten Moment werden Konventionen der Familienfotografie aufgerufen, man denke etwa zum Vergleich an einen Klassiker der Harlem

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Pigmenttintenstrahldruck, 19,1 × 25,4 cm.

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Renaissance: James Van Der Zees Christmas Morning aus dem Jahre 1933 mit einem geschmückten Weihnachtsbaum und der bürgerlichen, pyramidalen Komposition und mit Spielzeug auf dem Boden (Abb. 2). Gerade im christlichen Familienfest sieht Rosa ein Moment der Verfestigung des geschützten Innenraums. Ließe sich sagen, dass Rosas Resonanz-Modell im geschützten Innenraum auch in Lawsons Coulson Family zum Ausdruck kommt? Ja, und nein. Denn nach Rosa sind es gerade die im Privaten gefeierten Familienfeste, welche die Schöpfungsgeschichte aufrufen und dadurch eine besondere Tiefenresonanz erzeugen sollen. Doch bei genauerem Hinsehen fällt auf dem Familienporträt eine Unordnung auf, die diese Tiefenresonanz stört, und vor allem stellt sich die Frage: Wo ist der Vater? Bei Lawson bewohnt die – vaterlose – Familie wenig idyllisch wirkende Räume. Man schaue auf die herumliegenden Kabel und verstreuten Dinge, auf die unfertig gestrichene Wand, die durch die Kadrierung geradezu in Szene gesetzt wird. Überhaupt ist es ein bei Lawson wiederkehrendes Muster, dass die Wohnverhältnisse, die sie ablichtet, Identifikationsobjekte der lokalen Privatheit enthalten, die eine schnappschussartige Ästhetik andeuten. Das sind unkontrollierte Details, die man mit Roland Barthes als punctum bezeichnen könnte (Barthes 1985, S. 35f.) – ein Punktum, das die Spekulationslust der Betrachtenden ‚besticht‘ und anregt. Bei Lawson ist Familie nicht nur da, wo es schön ruhig, geborgen und aufgeräumt ist. In Sons of Cush 11 hält ein auf einem Stuhl sitzender junger Mann ein Baby auf dem Arm. Am linken Bildrand sieht man im Anschnitt auf einem Sofa Schulter und Arm eines zweiten Mannes, der ein Bündel Geldscheine in der Hand hält. Die nackten Oberkörper beider Männer sind stark tätowiert, der auf dem Sofa sitzende Mann trägt goldene bzw. vergoldete bling-bling-Ketten und eine Armbanduhr. Auf der rechten Bildseite stehen zwei Tische, auf dem verschiedene Porträts sowie ein Kruzifix arrangiert sind. Sie deuten auf eine gemeinschaftliche Familiengeschichte; Frauen der Familie sind fotografisch ‚anwesend‘. Links an der Wand: eine gerahmte weiße, dicht beschriftete Fläche, auf der sich eine Art Stammbaum und eine Umrisskarte Afrikas überlagern. Der Kontinent ist überschrieben mit den Namen der Nachkommen des Reichs von Kusch, der legendären Vorfahren der black people, die im

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Pigmenttintenstrahldruck, 108 × 136,5 cm.

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späten 8. Jahrhundert v. Chr. im Gebiet des heutigen Sudan gelebt haben sollen. Der Bildtitel legt nahe, dass die zentrale Vater-Kind-Dyade somit als Nachkommenschaft des Reichs von Kusch porträtiert ist. Doch die sicherlich nicht ganz zufällige Ähnlichkeit der Worte ‚Cush‘ aus dem Bildtitel und ‚cash‘ – als Bündel Geldscheine in einer Hand links ins Bild gesetzt – lässt diesen ‚geschützten Innenraum‘ nicht ganz resonant erscheinen. Mitten in ihrer mythischen ‚Schicksalsgemeinschaft‘ wird hier eine weniger auf Normativität als vielmehr auf Geld und Gewalt basierende patriarchale Linie der Sons of Cush suggeriert. In Nicole (2016)12 räkelt sich die Protagonistin im Bildzentrum nackt auf einem gemusterten Teppich. Das Foto erinnert an die erotische Pose eines centrefold – wären da nicht die bunten Kinderspielsachen. Hingedeutet wird somit dem ersten Anschein nach auf eine sexuell aktive Mutter. Doch der Blick der in die Kamera Schauenden lässt sich nicht als eindeutig verführerisch deuten. Hinzu kommen zudem noch ganz andere Assoziationen, etwa zum visuellen Erbe einer Schwarzen Frau im Wohnzimmer, die dieses Motiv wesentlich verkomplizieren. In sklavenhaltenden Haushalten wurden Schwarze Frauen als Ammen eingesetzt, als ‚Besitz‘ in den ‚Privaträumen‘ wurden sie nicht selten auch das Objekt sexualisierter Gewalt. Es sind häusliche Szenen, die auf solche traumatischen Verhältnisse anspielen, sie kommen in verfremdeter Form z.B. auch in der Arbeit von Kara Walker vor (vgl. Joselit 2020, S. 125). In Lawsons Porträt werden sie jedoch durchkreuzt, da Nicole eindeutig nicht als Opfer dargestellt ist. Es liegt in ihrem direkten, festen und diagonal nach oben gerichteten Blick ein Moment von Agency (also Handlungsmacht) – ein Blick, der zwar nicht eindeutig als Akt des Widerstands, aber als oppositioneller Blick im dargelegten Sinne gelten darf. Bei der Protagonistin des Bildes Nicole lässt er sich konsequenterweise als Zurückstarren deuten. Dies ist umso entscheidender, als gerade der Schwarze weibliche Körper es in der Geschichte zudem immer wieder ertragen musste, zum Gegenstand der Zurschaustellung zu werden (vgl. Willis 2010). Im Gegensatz dazu fordert Lawsons fotografische Praxis eher dazu auf, den nackten Körper aus stereotypisierenden Blickregimen – gerade auch aus dem Stereotyp der ‚Black Venus‘ – zu lösen. So simuliert hier die Kameraperspektive den Blick einer zuschauenden Person, die sich ein solches centerfold ‚live‘ daheim anschaut oder selbst fotografiert.

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Pigmenttintenstrahldruck, 109,2 × 137,8 cm.

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Ein weiteres von Lawson in einem Innenraum aufgenommenes Bild ist Baby Sleep 13 von 2009. Eine uns anblickende nackte Frau sitzt rittlings auf dem Schoss eines Mannes mit freiem Oberkörper, der seinerseits auf einem Holz-Klappstuhl sitzt. Unmittelbar daneben schläft ein Baby in einer elektrischen Babyschaukel. Spielzeuge liegen zerstreut auf dem Parkettboden und deuten das Nicht-Gestellte dieser Situation an. Ansonsten ist der Raum leer. Provokativ schaut die Mutter in die Augen der Betrachter*innen, als wolle sie vermitteln, sie wisse sehr wohl, dass sie gerade angeschaut wird. Dadurch stellt sie den latenten Voyeurismus zur Schau – und reguliert ihn, ganz im Sinne von bell hooks. Dies ist umso bemerkenswerter, als die zugezogenen purpurfarbenen Vorhänge eher den Anschein vermitteln, dass das Interieur bewusst vor Blicken von außen abgeschirmt wird. Man wird also eingeladen, einer ausdrücklichen Intimität beizuwohnen. Solche Verfahren der öffentlichen Zurschaustellung eines improvisiert-häuslichen Intimen sind von einer „Rhetorik des Privaten“ gekennzeichnet (Zanichelli 2015). Obwohl Lawson ihre Arbeit nicht autobiografisch versteht, bildet Baby Sleep eine gewisse Ausnahme: „[T]he 2009 image Baby Sleep – in which a young couple is engaged in an erotic moment next to their soundly sleeping young child – is a direct engagement with my own experience as a young mother. This, in its own way, is a kind of family portrait.“ (Lawson 2011) Zwischen dem im Vordergrund zu sehenden Elternpaar (links) und dem Kind im Babystuhl (rechts) hängt mittig darüber an der Wand im Hintergrund ein christliches Kreuz. Dass durch die dreieckige Komposition mit dem silbernen Kreuz an der oberen Spitze in der Mitte auch eine Dreifaltigkeit besonderer Art entsteht – Mutter inklusive –, war der Künstlerin bereits bei der Anfertigung der Skizze für diese Inszenierung wichtig: Ein sakrales Verständnis von Sexualität sei hier im Spiel (vgl. ebd.). Dieses Bild lässt auch Lawsons Vorstellung von Erotik als befreiende Erfahrung nachvollziehbar werden. Sie lehnt sich in ihrer Auffassung an die Schwarze Aktivistin und Theoretikerin Audre Lorde an, die sich selbst als black lesbian feminist mother poet warrior bezeichnete und in ihrem 1978 veröffentlichten Aufsatz Uses of the Erotic: Erotic as Power (Vom Nutzen der Erotik: Erotik als Macht) Erotik als spirituelle Ressource und Mittel des Selbst-Empowerments von (Schwarzen) Frauen deutete (Lorde 2021). Entstanden ist die Aufnahme auf der Grundlage einer entsprechenden Skizze

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Pigenttintenstrahldruck, 50,8 × 63,5 cm.

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im Apartment der Künstlerin, nachdem sie auf den Straßen Brooklyns die junge Mutter mit dem Baby sah und ansprach. Grundsätzlich entsteht Lawsons Praxis in einer Mischung von Konzept, Zufall und Inszenierung. Ihre großformatigen Porträts fasst die Künstlerin im weitesten Sinne gleichzeitig als counter representation wie auch als Repräsentanten einer imaginären panafrikanischen Community. Ihre Protagonist*innen ‚identifiziert‘ sie zufällig, etwa in ihrer Nachbar*innenschaft auf den Straßen Brooklyns, wo sie die Betreffenden anspricht und ihnen ihre Arbeitsweise erklärt. Wenn die Angesprochenen einverstanden sind, verabredet sich Lawson mit ihnen in ausgewählten Wohnräumen, meist jenen der dann Porträtierten. Zum Shooting bringt Lawson Requisiten mit, die sie sorgfältig zusammen mit dem im Wohnraum Vorgefundenen arrangiert. Bei der Aufnahme selbst bittet sie ihre Protagonist*innen, in die Kamera zu schauen. Zurück zu Baby Sleep: Der Mann auf dem Bild ist der Mann der Protagonistin und Vater des Kindes, ein Jazz-Musiker. Die endgültige Fassung gibt dem oppositionellen Blick in gewisser Weise den Vorzug vor einer noch stärkeren Betonung des Sexuellen. Dies wird deutlich, wenn man einen Blick auf eine im Rahmen dieser Session entstandene andere Version wirft. Der dazugehörige Kontaktabzug zeigt einen Blick der Protagonistin, der nicht zur Kamera gerichtet ist, sondern die unkontrollierte, sexuelle Ekstase – als Lacan’sche jouissance (Gallop 1984) – simuliert. Man kann Lawsons Arbeit gewiss in der Tradition afroamerikanischer Künstlerinnen wie Lorna Simpson und Carrie Mae Weems lesen, die in ihren Werken das Empowerment Schwarzer Menschen und insbesondere die Agency Schwarzer Frauen beförderten. Anders als deren strategische textuell-narrative Überspitzung von rassistischen und sexistischen Zuschreibungen zeugt Lawsons Protagonist*innenauswahl von einer aktuellen Verkomplizierung visueller Stereotype – gerade wenn ihre Sujets in ihrer eigenen Alltags- und Wohnumgebung abgebildet und so situiert werden, dass sie zurückstarren. Dadurch und durch die Interaktion mit den Porträtierten, die mit der Künstlerin ihre Geschichte teilen, geht es statt nur um eine Aufdeckung von Stereotypen darum, Schwarze Subjektivitäten, Seins- und Lebensweisen zu feiern. Dies wird besonders in Ausstellungsräumen deutlich, arbeitet sie doch jenseits konventioneller Blickregime sowohl der Familienfotografie als auch der Repräsentation Schwarzer Communitys. Somit setzt Lawson jenen Mechanismus in Gang, den David Joselit als „complex

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condition of metabolizing alterity“ bezeichnet (Joselit 2020a, S. 125). Dessen politisches Potenzial bezeichnet er als „heritage and debt“, „a form of curation, accomplished not only by curators and philosophers but especially by artists, that can re-temporalize heritage in order to imagine new and more just futures“ (Joselit 2020b, S. 141). Zudem stellt Lawsons Praxis eine kritische Taktik im Sinne von Abigail SolomonGodeaus haunting dar, das sie unter anderem mit Bezug auf Weems’ Arbeit ins Spiel bringt: ein haunting als Anspielung und Beschwörung des Gespenstischen der Geschichte, wobei historisches Bewusstsein durchaus neue Artikulationen unter anderem in Arbeiten Schwarzer Künstlerinnen hervorgebracht habe, sowohl heuristisch als auch affektiv (Solomon-Godeau 2006, S. 372f.): „At this historical moment in which we have begun to reckon with the ghosts, a transformative recognition may lay the groundwork for a transformative politics.“ (Ebd., S. 397) Eine werdende Mutter steht im Zentrum von Mama Goma 14, entstanden im Rahmen einer Reise, die Lawson 2013/14 unternahm, um ihren bis dahin auf afroamerikanische Communitys fokussierten Blick zu erweitern. Unter anderem fotografierte sie in Haiti, Jamaika, Südafrika, Äthiopien und in der Demokratischen Republik Kongo, wo auch dieses Bild entstand. Arthur Lubow schreibt über Lawsons Reise in der New York Times: „Searching in Africa for an indigenous culture not deformed by the ongoing legacy of colonialism, she was disappointed. ‚I have this naïve nostalgia for this time period, but it’s impossible to find,‘ she says. ‚European co-option is a higher value system – to wear certain labels, to drive a certain kind of car.‘“ (Lubow 2018) Somit ließe sich fragen: Ist das Porträt Mama Goma ein Zeichen dieser Enttäuschung? Das Shooting hatte einen langen Vorlauf: Lawson berichtet davon, wie sie im Internet ein Bild mit einem prom dress entdeckte, das sie so faszinierte, dass sie es als Grundlage einer späteren Inszenierung abspeicherte. Erst vor Ort ließ sie das Kleid dann schneidern. Sowohl die Pose der kongolesischen Protagonistin in Mama Goma als auch das türkise, die Schwangerschaft herausstellende Kleid erinnert an Darstellungen der schwangeren Madonna, wie diese ab Anfang des 14. Jahrhunderts in der Toskana verbreitet waren. Beispielhaft kann hier die Madonna del Parto von Piero della Francesca genannt

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Pigmenttintenstrahldruck, 88,9 × 114,3 cm.

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werden (Abb. 3): Auch sie trägt ein hellblaues Kleid, dessen Vorderseite ansatzweise den Blick auf den schwangeren Bauch lenkt. Das Kleid der von Lawson Porträtierten wiederum lässt den nackten Bauch durch ein kreisrundes Loch hervortreten. Die Pose der beiden Frauen ist – auch wenn sie sich zueinander spiegelverkehrt verhalten – nahezu identisch, wären da nicht die unterschiedlichen Handhaltungen. Die Madonna der Frührenaissance lässt geradezu erkennen, wie beschwerlich ihr in diesem Moment ihre Leiblichkeit ist: Die linke Hand stützt den unteren Rücken, während die rechte Hand das Kleid aufzuknüpfen scheint. Ihre Pose ist somit erstaunlich diesseitig – ein Eindruck, der noch dadurch verstärkt wird, dass sie, anders als die Madonna in vergleichbareren Darstellungen (wie etwa Antonio Venezianos Madonna aus dem 14. Jahrhundert), kein Buch mehr in der Hand hält – „ein Motiv, das den Darstellungen der Verkündigung an Maria entnommen ist, mit denen der Typ der schwangeren Madonna ikonografisch zusammenhängt“ (Walter 1992, S. 26). Pieros Madonna wird in die Nähe einer weniger göttlichen als menschlichen Schwangeren gerückt. Lawsons Inszenierung der werdenden Mutter in weihevoller Haltung mit erhobenen Händen, einer Muttergottes vom Zeichen15 vergleichbar, erweckt schon eher den Eindruck, als sei ihr in diesem Moment des Abgelichtetwerdens der ‚göttliche‘ Ursprung ihres Kindes gegenwärtig. Den Eindruck der Statuenhaftigkeit wird noch dadurch verstärkt, dass sie vor der Ecke des Wohnraums positioniert ist und die Wände sie somit nischenartig – wie eine Madonnenstaue in einer Kapelle – einzufassen scheinen. Weibliche Gottheiten haben als weibliches Empowerment befördernde role models momentan vor allem in den sozialen Medien Konjunktur. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die schwangere Beyoncé, die als Pastiche unterschiedlicher Gottheiten interpretiert wurde, z. B. im folgenden Tweet (Abb. 4): „Beyonce gave Oshun AND Black Madonna (and

15 Dabei handelt es sich um einen Gnadenbild-Typus byzantinischer Herkunft, auch ‚Maria Platytera‘ oder ‚Blacherniotissa‘ (nach der Blachernenkirche in Byzanz) genannt, bei dem Maria, frontal stehend in Orantenpose, das aufrechte Kind oval eingefasst in ihrem Leib zeigt, vgl. Walter 1992, S. 13–18. In der Kirche S. Maria Antiqua in Rom (8. Jh.) „hält Maria selbst einen solchen ovalen Schild mit dem Kind vor ihre Brust“ (ebd., S. 18). Es galt zu Pieros Zeit eher als volkstümliches Motiv.

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3  Piero della Francesca, Madonna del Parto, 1450/75, Fresko, 260 × 203 cm, Monterchi, Museo della Madonna del Parto

more but I’ll let yellow research).“16 Oshun wird in Nigeria als Flussgöttin verehrt, sie symbolisiert Fruchtbarkeit; in synkretistischen religiösen Ritualen verkörpert sie etwa auch in Südamerika eine Göttin der Liebe und weiblichen Schönheit, Sensualität, Musikalität – eine Art Aphrodite als Schutzgöttin der Schwangeren. Zadie Smith nimmt die Arbeit Mama Goma zum Anlass, über Verwandtschaft nachzudenken: „Kinship in free fall, yes, but still connected, however tenuously, to the thick braid of our African heritage, cut off at the root so long ago.“ (Smith 2018) Smith betont Spuren antiker Pracht

16 Going Back to Black Planet [@Tia_Oso], Twitter, 13.2.2017, https://twit ter.com/tia_oso/status/830977874035290113 (4.5.2022).

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4  Tweet zu Beyoncés Pastiche unterschiedlicher Gottheiten, 2017

und alter Handelswege, die etwa Kongo und die Niederlande miteinander verbanden. So würde in dem Bild das Königreich Loango mit anklingen, das vom 14. bis zum 19. Jahrhundert existierte; doch sei das African heritage zum entfernten Gedächtnis umgewandelt – man beachte die Tischdecke mit dem Blumenmuster und dem Windmühlenmotiv (ebd.). Mama Goma bringt gleichzeitig ein gewisses Unbehagen zum Ausdruck. Die Hände der schwangeren Protagonistin sind nicht ganz erhoben in der Orantenpose wie im Ikonenformular der Muttergottes vom Zeichen. Zu sehen ist hier kein Resonanzhafen der werdenden Familie, sondern vermutlich eine im Werden begriffene ‚illegitime‘ Familie: Das Porträt kann nicht nur affirmativ im Sinne einer Selbstermächtigung gelesen werden, sondern vielmehr auch in Solomon-Godeaus Sinne der künst-

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lerischen Taktik des haunting als historisch informierte Reflexion und visuelle Anspielung, die (gegenwärtiges) Unrecht nicht verbirgt. Lawson gibt ihrer Protagonistin eine neue Würde, die nicht in der Ideologie vom postfamilialen Glück aufgeht. Sie ist vielmehr eine Figur der Demut.

FAZIT: ZWISCHEN BABY- UND BEISCHLAF Abschließend lässt sich festhalten: Lawsons Protagonist*innen sind selbstverständlich Teil eines globalen Wandels im Diversity-Diskurs. Und selbst wenn ihre Subjekte ebenso Teil einer kapitalistisch und postkolonial affizierten Flexibilisierungsmaxime sind, gehen sie in der Familienresonanzideologie nicht auf. Vielmehr habe ich aufgezeigt, wie Lawson den idyllischen Resonanzraum sowohl glücklich-konventioneller als auch erweiterter, postfamilialer Familienporträts auf vielfache Weise sprengt. Lawsons Strategie ist der Kontrast. Sie liebt ihre Protagonist*innen und betont – etwa durch Lichtauswahl, Posen, Kostüme – ihre könig*innengleiche Schönheit: „[T]hey are displaced kings and queens of the diaspora. There’s something beautiful and powerful that hasn’t been taken away.“ (Smith 2018) Zu diesen „displaced kings and queens“, die sie anspricht, fühlt sie sich sowohl hingezogen als auch zugehörig. Basierend auf der Darstellung afroamerikanischer bzw. afrodiasporischer Subjekte in den eigenen Wohnräumen beruht Lawsons Strategie in Zeiten der Re-Konzeptualisierung von Familie auf einer visuellen Neuverhandlung im Zusammenstoßen unterschiedlicher bildlicher Register. Diese bilden einen Widerspruch zu ethnografischen und sozialdokumentarischen Modi der Porträtfotografie (man denke etwa an die Tradition der US-amerikanischen Dokumentarfotografie im Kontext der Hilfsprogramme der Farm Security Administration) oder anderen traditionellen Familiendarstellungen. Vielleicht wurden Lawsons Arbeiten auch wegen dieser visuellen Praxis so kontrovers diskutiert. Zwischen Kinderspielzeugen und centerfold-Blick, zwischen Cush und cash, zwischen Babyschlaf und Beischlaf führt Lawson stets dissonante Elemente jenseits herkömmlicher Blickregime in ihre Porträtfotografien ein. Dies habe ich versucht anhand der behandelten Bildbeispiele zu zeigen, in denen Lawson Beziehungen zwischen meist unaufgeräumten Lebensräumen und den porträtierten Subjekten darstellt, aber auch nicht davor zurückscheut, Beziehungslosigkeit zwischen den

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Porträtierten oder aber zwischen diesen und als Requisiten eingesetzten Dingen in Szene zu setzen: So wird etwa das schlafende Baby in Baby Sleep gewissermaßen selbst zur Requisite. Lawson durchkreuzt den Resonanzraum und damit das Harmonieversprechen konventioneller Familienporträts in dreifacher Hinsicht: Erstens bricht sie die voyeuristische Überwachung der Norm, indem sie den Abgebildeten die Macht zum Zurückschauen zugesteht und sie aus stereotypisierenden Blickregimen – gerade auch aus dem Stereotyp der ‚Black Venus‘ – löst; zweitens bricht sie hegemoniale Geschlechterstereotype Schwarzer Familiendarstellungen auf und verkompliziert somit bestehende Blickregime im Zusammenspiel zwischen Schwarzsein, Ortsbezogenheit und einem meist antinormativen Familienverständnis; drittens (re-)sexualisiert sie die Mutterfigur innerhalb des Bezugsrahmens von Normativität und Subjektivität im Wohnen.

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Elena Zanichelli

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Bildnachweise

Abb. 1: © Deana Lawson. Abb. 2: Thelma Golden: James VanDerZee’s „Christmas Morning“, 1933, in: Aperture, H. 233, Sommer 2016: Vision & Justice, S. 152. Abb. 3: Carlo Bertolli: Piero della Francesca. Leben und Werk des Meisters dr Frührenaissance, Köln: DuMont 1992, S. 207. Abb. 4: Jackson Stan, Rebbie, Tweet, https:// twitter.com/tia_oso/status/83097787403 5290113 (20.2.2022).

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This essay examines and conceptualizes the lifestyle magazine Schöner Wohnen as an archive of dwelling knowledge (Wohnwissen, Nierhaus/Nierhaus 2014) that is realized through various media formations. Through its material character and aesthetic structure, the magazine argues itself as a collecting material to be archived: through the visually conveyed instructions to detach and store certain materials, the magazine configures what is done with it and offers corresponding folder structures in which issues and collection series can be stored collectively by readers. The journal pages, designed as worthy of archiving, assemble a keyworded complex of knowledge about dwelling, which is didactically arranged and communicated – along a popular set of rules of dwelling. The magazine itself forms a contemporary historical archive that, as it were, shapes and assembles socio-political discourses in its display (Nierhaus 2018). Leafing through Schöner Wohnen reveals the carefully curated design of a dwelling history of the present, whose aesthetic-didactic display structures can be read as sociopolitical orders/arrangements: On the magazine’s pages configurations of origin, class, or gender – some of which are linked to each other – intersect and contribute to the production of visual orders/ arrangements of the supposedly ‘right’ way of dwelling.

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ROSANNA UMBACH ÄSTHETISCHE AN/ORDNUNGEN – DIE ZEITSCHRIFT ALS ARCHIV EINES WOHNWISSENS Als populäres Medium begegnen uns Zeitschriften zum Wohnen an Kiosken, auf Toiletten, im Altpapier, als Abonnement allmonatlich im Briefkasten. Aktuell verkünden sie die Hyggisierung1 des Zuhauses, zeigen uns, welche Wandfarben ökologisch und trendy sind, wie Design-Pflanzen die eigenen vier Wände in einen ,Heim-Dschungel‘ verwandeln, oder geben ganz persönliche und bestens ausgeleuchtete Einblicke in das Wohnen von X und Y, deren Wohnzimmer erschreckend sockenlos, aufgeräumt und in einer ,natürlichen‘ Farbskala à la Salbeigrün, Sandgelb oder Terracotta gehalten sind.2 Eine der prominentesten Vertreterinnen der papierenen Wohnlehrmedien ist nach wie vor die Schöner Wohnen, auch wenn sich das Angebot an Zeitschriften zum Wohnen mittlerweile ausdifferenziert und digitalisiert hat. Seit nunmehr 60 Jahren nimmt sie für den deutschsprachigen Raum eine zentrale, diskursprägende Position im Segment der Wohnzeitschriften ein und greift mit ihrem Titel ein geflügeltes Wort der Ratgeberliteratur auf,

1 Der aus dem Dänischen kommende Begriff hygge lässt sich mit Gemütlichkeit übersetzen und bezeichnet laut Duden die Heimeligkeit als Lebensprinzip. Mittlerweile wird auch im deutschsprachigen (Wohn-)Bereich vieles als hygge ausgewiesen. Das Prinzip hygge produziert mit am Diskurs eines (romantisierten) ,skandinavischen‘ Wohn- und Lebenskonzepts – es gibt sogar ein Magazin, das den Begriff im Titel trägt und im Untertitel vom Glück das Leben mit anderen zu teilen kündet. 2 Diese prominenten Diskurse von Nachhaltigkeit lassen sich als Verkaufsstrategie im Sinne kapitalistischer und klassistischer Konsumverantwortung verorten, ebenso wie durch die Bepflanzung des Zuhauses nicht nur exotisierende Verweissysteme bemüht werden, sondern Wohnen erneut als etwas ,Natürliches‘ erscheint.

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Ästhetische An/Ordnungen

verbreitet es weiter und überträgt es in andere Medienformate (Umbach et al. 2021). Auch wenn sie mit ihren Einrichtungstipps und Vorschlägen fürs ,schönere‘ Wohnen als Unterhaltungsmedium daherkommen, schreiben Wohnzeitschriften zwischen den als populärmedial geltenden Zeilen gesellschaftliche Entwicklungen mit fort. Die Wohnung fungiert dabei als gesellschaftliche Bühne, als Schau_Platz (Nierhaus/Nierhaus 2014), an dem sich bestimmte Machtverhältnisse manifestieren und gleichsam neue Formen des Zusammenlebens denkbar werden. Im Blättern lernen wir ein ‚richtiges‘ Wohnen. Dabei erscheint das Wohnen in einer spannenden Dopplung: einerseits als didaktisiertes Lehr- und Lernfeld, das durch Wohnlehrmedien wie die Zeitschrift anleitend gerahmt und choreografiert wird, und andererseits als vermeintlich ,natürlicher‘ Wissenskomplex. „Durch die eigenen Alltagspraktiken meint man selbstverständlich zu wissen, was zum Wohnen gehört, nicht gehört oder gehören könnte.“ (Ebd., S. 12) Wir meinen zu wissen, dass eine aufgeräumte Wohnung Ausdruck psychosozialer Gesundheit und wiederum latente Unordnung Grund zur Besorgnis ist. Wir meinen zu wissen, dass wir unsere Gäste besser in der Küche oder im Esszimmer als im Schlafzimmer zu Kaffee und Kuchen begrüßen sollten, weil das Ganze sonst krümelreich und hochnotpeinlich werden könnte. Wir meinen zu wissen, dass das Schlafzimmer sowieso zu intim ist, um es jeder x-beliebigen Person zu zeigen, außer wir wollen mit ihr Intim-Bereiche erkunden. Wir meinen zu wissen, dass Toiletten immer eine Tür haben müssen, denn geruchsreiche Geschäfte sind schlichtweg mit Lufterfrischerspray zu übertünchende Angelegenheiten des Körpers, die absoluter Abschottung bedürfen (vgl. Padberg 2016). Wir meinen zu wissen, dass jedes Familienmitglied ein eigenes Zimmer haben sollte – außer Liebespartner_innen, bei denen sind getrennte Schlafzimmer Ausdruck existenzieller Beziehungskrisen. Wir meinen zu wissen, wie wir ,modern‘ oder ,trendy‘ wohnen, wie wir ,richtig‘, ja sogar ,schöner‘ wohnen können. Dieses konstruierte Wir ist dabei Ausdruck eines weißen, mittelständigen, meist heteronormativ formierten und familienzentrierten Wohnens und seiner Bewohner_innen, das in der (bürgerlichen) Wohngeschichte ebenso wie über (Wohnlehr-)Medien wie die Schöner Wohnen beständig reproduziert wurde und wird. Das zwischen den Zeilen und Zeiten historisch ausgeprägte „Wohnwissen“ (Nierhaus/Nierhaus 2014) ist dabei eng verknüpft mit der Geschichte eines ,modernen‘ Wohnens als gesellschaftlicher Formation und seinen interdependenten Anordnungen von gender, race und class. Denn „Wohnen im Sinn eines häuslich eingerich-

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teten Seins ist nicht natürlich gegeben, sondern immer diskursiv vermittelt“, es ist „selbst schon Ergebnis eines historisch langen gesellschaftlichen Prozesses, in dem sich heutiges Wohnen als Anordnungsgefüge aus sozialen, gesellschaftspolitischen, kulturellen und ästhetischen Diskurspolitiken und Repräsentationsstrategien formiert hat und weiter formiert“ (ebd., S. 9, 12). Der Artikel Es ist nie zu früh, sich einzurichten, der 1967 in der Schöner Wohnen erscheint, hebt ebenfalls hervor, dass wir „[m]ehr als die Hälfte unseres Lebens ,verwohnen‘“, und gibt dann zu bedenken: „Während andere wichtige Tätigkeiten aber sorgsam erlernt werden müssen, gilt das Wohnen offenbar als Ausdruck narrensicheren Naturtalents, das jedermann in die Wiege gelegt ist. So kann es kaum verwundern, daß junge Leute oft unvorbereitet, oder nur mit Erinnerungen an elterliche Geschmacksdiktate belastet, in das kostspielige Abenteuer ersten eigenen Wohnens stolpern.“ (SW 6/1967, S. 44) Indem das – wohlgemerkt ,richtige‘ – Wohnen als eine zu erlernende Fähigkeit ausgewiesen wird, legitimiert sich die Zeitschrift in ihrer Aufgabe, zum Wohnen ,befähigte‘ Subjekte zu erziehen. Der didaktische Impetus der Schöner Wohnen zeigt sich in den mannigfaltigen Anleitungen, Ratschlägen und Vor/Bildern in Artikeln, Reportagen und Bilderstrecken, die die Leser_innen zum ,schöneren‘ Wohnen ,befähigen‘ sollen, indem ihnen ein spezifisches Wohn- und Architekturwissen vermittelt wird, das sich über verschiedene mediale Formationen realisiert. Diese Prozesse des „Zu-sehen-Gebens“ (Schade/Wenk 2011), die – didaktisch angelegten – Zeigestrukturen des Wohnmagazins und die sich Heft um Heft erblätterten Bilder/Geschichten, sind Teile einer machtvollen An/Ordnung: Auf den WohnSeiten (Nierhaus et al. 2021) überkreuzen sich – teils miteinander verknüpfte – Konfigurationen von Herkunft, Klasse oder Geschlecht. Wohnzeitschriften können über ihr „Display“ (Nierhaus 2018) als soziales Geflecht betrachtet werden, das zugleich Sichtbares und Unsichtbares produziert und an dem sich gesellschaftspolitische Diskursbewegungen historisch ablesen lassen.

„LEHRSTÜCK ÜBERS WOHNEN“ – VON WOHNPROBLEMEN UND WOHNWISSEN „Auch Wohnen will gelernt sein. Aber wie lernt man es? Durch Erfahrung, durch Experimentieren, durch Nutzung von Sachzeitschriften. SCHÖNER WOHNEN ist eine solche Sachzeitschrift und sieht deshalb seine

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Ästhetische An/Ordnungen

Aufgabe darin, Wohnprobleme, vor denen jeder irgendwann einmal steht, darzustellen und lösen zu helfen.“ (Kremerskothen 1977, S. 3) Das Editorial Lehrstück übers Wohnen in der April-Ausgabe 1977 greift das Wohnen als erlernbare Praxis auf und konzipiert die Schöner Wohnen als didaktische ,Sachzeitschrift‘ und damit als Teil medial vermittelter Wohnlehre in historischer Kontinuität. Die Schöner Wohnen macht es sich zur Aufgabe, die Leser_innen selbst zu sogenannten ,Wohn-Expert_innen‘ auszubilden und ihnen über verschiedene Medienformate ein Wohnwissen zu vermitteln. Im zitierten Editorial werden die mannigfaltigen ,Wohnprobleme‘ in den Fokus gerückt, denen die Leser_innen alltäglich begegnen. Mithilfe der Zeitschrift könnten sie diese nun selbsttätig lösen, um ebenfalls schöner zu wohnen – so das Versprechen der Zeitschrift. Es ist jedoch (auch) die Zeitschrift, die markiert und herausstellt, was im Wohnen einer Veränderung bedarf. Im Verschnitt des Vorher/ Nachher von renovierten Fluren und optimierten Küchen wird eine Gegensatzfolie abgebildet, an der ein ,richtiges‘, ein ,schönes‘ Wohnen schablonenhaft vorgeführt und minutiös festgehalten wird. Aufgezeigt wird hier, welche Handlungen die Bewohner_innen beständig vornehmen müssen, um diesem Ideal gerecht zu werden, um es permanent aufrechtzuerhalten. Anna-Katharina Riedel weist darauf hin, dass die vermeintlichen Problemlagen oft erst durch die Zeitschrift selbst als solche ausgewiesen würden und „das Produkt Wohnzeitschrift einen Problemkatalog anbietet“ (Riedel 2018, S. 41), für den sie prompt nach dem Umblättern die richtigen Antworten und Konsumratschläge bereithält. Damit legitimiert sich das Medium Ausgabe für Ausgabe als aktualisierter Entwurf seiner selbst. Strukturiert durch den angesprochenen Optimierungsgedanken eröffnen die Wohnseiten damit ein Panorama, „das darauf beruht und abzielt, dass unser Wohnen vor allem ganz individuell ist, dabei mindestens unvollständig, zugleich erneuerbar, gegebenenfalls renovierungsbedürftig, immer verbesserungswürdig und eigentlich nie vollendet, denn die nächste Ausgabe, die nächste Wohnzeitschrift liegt schon bereit“ (Heinz 2021, S. 78). Wohnen wird von der Zeitschrift als ein nie abgeschlossenes Tätigkeitsfeld umrissen, das vernetzt ist mit einer in die Serialität des Mediums eingeschriebenen Konsumstruktur in doppelter Funktion. Nicht nur die Zeitschrift soll am besten im Abo-Format allmonatlich im Briefkasten landen, auch die inszenierten Wohnwelten verheißen ,Besserung‘ durch neue Möbel und weitere Wohn-Dinge, deren Einkauf die Leser_in bequem

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beim Stöbern durch das beigefügte Hersteller_innenverzeichnis planen kann. Das Wohnmagazin als erweiterter Warenkatalog ist verflochten mit Konsumaufforderungen und -anreizen, die in der Inszenierung von ,Wohnproblemen‘ und der Anleitung zum Tätigwerden immer mitklingen: Häufig geht es bei dem in Bild und Text suggerierten ,richtigen‘ Wohnen um „stetige Veränderung, Erneuerung und Verbesserung“ (Riedel 2018, S. 41), durch die das selbst-tätige Subjekt zwischen Wohn-Handeln und Konsumaufforderung eingefasst wird. ,Hindernisse‘ wie kleine Flure oder wenig Geld würden dabei „positiv umgedeutet […] zu Herausforderungen, zu denen es diverse Lösungen gibt“ (ebd.). Natürlich exklusiv vorgeführt von der Schöner Wohnen, die Wohnverhältnisse eben nicht als Ausdruck gesellschaftlicher Ungleichheit kontextualisiert und problematisiert. Im Lehrstück zum Wohnen (Kremerskothen 1977) werden solche ,Wohnprobleme‘ in Hinblick auf Umzugsfragen oder die Einrichtung der ersten Wohnung formuliert: „SCHÖNER WOHNEN macht für alle diese Fälle Lösungsvorschläge. Ginge man dabei jedoch immer und überall jedem Nebenaspekt bis ins kleinste nach – SCHÖNER WOHNEN würde langweilig werden.“ (Ebd., S. 3) Abhilfe soll die sechzehnteilige Sammeledition Einrichten leichtgemacht (April 1977 bis August 1978) schaffen, ein „Heft im Heft“ (ebd.), welches als herauslösbares Sammelheft das Archiv eines Wohnwissens bildet. „Wenn Sie die sechzehn Ausgaben sammeln, bekommen Sie jedes Wohnproblem bis ins letzte in den Griff, können Sie Dinge verwirklichen, von denen Sie schon lange träumen, ohne Stapel von SCHÖNER WOHNEN-Heften durchforsten zu müssen.“ (Ebd.) Das „Nachschlagewerk“ (ebd.) verspricht „Antwort[en] auf alle praktischen Fragen“ (SW 4/1977, S. 39) des ,modernen‘ Wohnens, von Tipps zum Möbelkauf bis zum verständlich aufbereiteten Expert_innenwissen. Der erste Teil der Sammelserie3 beschäftigt sich unter

3 In den weiteren Ausgaben der Sammelserie wird den Leser_innen beigebracht, „Qualitätsmöbel“ zu erkennen (Gustmann/Röschmann 1978), oder vorgeführt, wie sie ihre „Siebensachen“ ,richtig‘ aufbewahren (Gustmann/ Röschmann 1977a). Es finden sich Diskurse der rationalisierten Kücheneinrichtung zugunsten einer ,Arbeitserleichterung‘ der Haus/Frau – So funktioniert ihre Küche besser (Gustmann/Röschmann 1977b) – ebenso wie pädagogisch argumentierende Wohn- und Einrichtungskonzepte zwischen den Seiten – So wohnen Kinder kindgerecht (Gustmann/Röschmann 1977c). Das Heft zur Küchenoptimierung richtet sich im Text zwar an „Hausfrau“ und „Hausmann“ (Gustmann/Röschmann 1977b, S. 65), verstetigt über die Zeichnungen jedoch weiterhin die Vorstellung der (beschürzten) Frau* als Agentin der Hausarbeit

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Ästhetische An/Ordnungen

1  So sitzen Sie gemütlich und bequem

dem Titel So sitzen Sie gemütlich und bequem (Abb. 1) mit dem Sitzen im Wohnraum, in dem sich „das, was wir eigentlich Wohnen nennen“, abspielt (Gustmann/Röschmann 1977d, S. 1): „Ob in trauter Zweisamkeit oder im Kreise einer großen Familie mit fünf Kindern, Oma und Rauhaardackel.“ (Ebd.) Wohnen wird dabei als Beziehungsanordnung beschrieben, in der das Familiale erneut zum Fixpunkt gewohnten Lebens erklärt wird. Das Wohnzimmer ist dabei das Epizentrum des Geselligen in Form des „häusliche[n] Kommunikationszentrum[s]“ oder des „Treffpunkt[s] en famille“ (ebd.), an dem sich ganz verschiedene Bewohner_innen und ihre

und verdeutlicht damit die ambivalenten Gleichzeitigkeiten, die historisch in den Küchendebatten um (geteilte) Hausarbeit, Technisierung und Rationalisierung präsent sind (vgl. Umbach 2018). Auch der Teil zum Wohnen von und mit Kindern verdeutlicht die gesellschaftliche Grundierung des Nachschlagewerks und des darin angelegten Wissenskomplexes Wohnen, wenn ein intergenerational-egalitäres Zusammenwohnen der Familie (vgl. Umbach 2021) thematisiert und die Wohnbedingungen von Kindern als strukturell prekär kritisiert werden.

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2  Biopolitische Sitz-An/Ordnung 3  Sitz-Streit

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Ästhetische An/Ordnungen

Wohnbedürfnisse versammeln. In detailreichen Zeichnungen werden verschiedene Sesseltypen vorgestellt4 und darüber Themen des familialen Zusammenwohnens verhandelt. Das Sofa, das „traditionsgemäß vom Familienoberhaupt [zum Thronen] in Beschlag genommen“ würde, treffe in seiner Vormachtstellung vermehrt auf familialen „Widerstand gegen solche Pascha-Manieren“ (ebd., S. 7). Der „Wunsch nach ,gleichem Sitzrecht für alle‘“ werde laut (ebd.). Junge Menschen (d. h. hier: zusammenlebende Hetero-Paare) markierten nun mit der Wahl zweier bequemer Ruhesessel ihre symbolische wie praktische Gleichberechtigung auch im Wohnen (ebd.) – Sitz- und Beziehungsweisen erscheinen damit als wechselseitiges Referenzsystem. Im Verschnitt des Hefts versammeln sich ,medizinische‘ Ratschläge zur richtigen Sitzhaltung (Abb. 2), historisches Faktenwissen der Möbel- und Designkunde, es werden überdies platzbedingte Konfliktpotenziale (Abb. 3) adressiert und über ,falsche‘ Wohnraumarrangements begründet. Die über Sessel, Stühle und Sofas verhandelten Veränderungen innerhalb familialer und beziehungstechnischer Machtverhältnisse zeigen auf, wie sich das im Medienverbund angelegte, weit gestreute und vernetzte Wohnwissen um Beziehungsweisen des Zusammenwohnens anordnet und in die Gesellschaft hineinwirkt. Die Oma ist ebenso Teil dieses familialen Gefüges wie das Haustier als nicht-menschlicher Wohnungsgenosse.5 Im Blättern durch die Sammelmappe verwandelt sich der ins Familiale eingeschriebene Rauhaardackel in eine Katze (Abb. 4), die zwischen Sofas und Sesseln herumstreicht, welche der Leser_in verschiedene Polsterungsmöglichkeiten des Wohnraums bildlich vorführen. Die Zeichnungen sind Teil eines kleinen ,Tests‘, wie ihn die Schöner Wohnen gerne zur Orientierungshilfe bei Wohnfragen anbietet. Unter der Überschrift Welche Polstermöbel sind für Sie am besten? werden vier Wohnsituationen geschildert, die verschiedene Möblierung verlangen, wie beispielsweise: „D. Wir haben nicht viel Geld. Aber wir können uns

4 Es begegnet uns hier der Eames’sche Lounge Chair als Designikone in zeichnerischer Übersetzung. 5 Die „Verschaltung von emotionalisiertem Familiendiskurs und Personifizierung bzw. Anthropomorphisierung des Tieres als ‚Ersatz-‘ oder ‚Mitmensch‘“ (Förschler et al. 2019, S. 14) ist ein Prozess der Verhäuslichung nicht nur von Tieren, sondern ebenso von Menschen über die Tierfigur im Bild/Raum. Das Haustier in seiner Funktion der „Emotionalisierung des Familienlebens“ diente historisch als vermittelnde Scharnierfigur zwischen ,Außen‘ und ,Innen‘ und war integral an der Formierung der (bürgerlichen) Familie als abgeschlossene Einheit im 19. Jahrhundert beteiligt (Möhring 2015, S. 396).

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4  Wohntest mit Katze

selbst etwas bauen oder zurechtmachen. Wir finden, Möbel sollten vor allem originell und witzig sein.“ (Ebd., S. 10) Je nachdem, ob Situation A, B, C oder D den eigenen Lebensumständen und Anforderungen am nächsten kommt, wird auf der folgenden Seite die entsprechende Sitzgruppen-Version empfohlen und im Verschnitt aus Wohnraumzeichnung mit Katze und einem daruntergesetzten erklärenden Begleittext als individuelle ,Lösung‘ vorgestellt. Ein in den Alltag zu transferierendes Wohnwissen verstetigt sich zwischen Bild und Text und bindet durch die Methode des ,Tests‘ die Leser_in aktiv ein. Direkt hinter jedem Sammelheft fügt sich dementsprechend eine Neuauflage der Reihe Testen Sie Ihr Wohntalent an, mit dem die Leser_in überprüfen kann, ob sie „sattelfest in Einrichtungsfragen“ ist – sechs Fragen können mit „kritische[m] Wohnverstand und eine[r] Prise Expertenwissen“ beantwortet werden (Thyriot 1977, S. 59). „Wenn Sie diese Tests bestanden haben, fühlen Sie sich noch sicherer in Ihrer täglichen Wohnpraxis.“ (SW 4/1977, S. 41) Bei ,Unsicherheiten‘ hilft indes ein Blick ins beigefügte Sonderheft als medialisierte Versicherungspraxis – so verzahnen sich die Lektüren zwischen Magazin und Sammeledition und es eröffnet sich ein

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Ästhetische An/Ordnungen verwobenes Argumentationsnetzwerk, das in serieller Reihung aufeinander aufbaut und immer wieder als gesellschaftliche An/Ordnung eines ,richtigen‘ Wohnens aufblitzt, dem die Leser_innen entsprechen sollen.

„ORDNUNG HALTEN IM BLÄTTERWALD“6 – SAMMELN NACH /ALS AN/ORDNUNG Der Begriff der An/Ordnung beschreibt die Doppelstruktur der Zeitschrift, die im kompositorischen Aufbau des Zeitschriftendisplays und den darüber verfassten didaktischen An/Ordnungen und gesellschaftlichen Einschreibungen wirksam ist: „WohnSeiten veranschaulichen Vorstellungen von (Un-)Ordnung und das Medium der Zeitschrift ist eine Mitgestalterin dieser Ordnungsvorstellungen.“ (Umbach et al. 2021, S. 89) Dieses Verhältnis zeigt sich in der ästhetischen Struktur der Zeitschrift, die stets als Ordnungssystem konfiguriert ist, das über die Platzierung visueller Elemente im Display der Zeitschrift Ordnungsbehauptungen artikuliert. Die Art des Collagierens und Aneinanderfügens von Bildern, grafischen Elementen, Flächen und Typografien gibt dabei Machtstrukturen zu sehen: In diese sind die Bewohner_innen und Leser_innen als sozial und politisch Agierende – aber auch von den (Konsum-)Vorgaben Betroffene – eingebunden (ebd., S. 86), sei es durch die beständige Amalgamierung von ,weiblich‘ codierten Körpern und Küchen(-geräten) im Bild- und Wohnraum der Zeitschrift oder die Praxis des vergleichenden Sehens (Ochs 2021; Tietenberg 2021), die im Blättern das Vorher und Nachher der ,optimierten‘ Wohnungen kontrastiert und damit die wohnenden Subjekte zum Tätigwerden und Konsumieren anhält.7 Wie Johanna Hartmann unterstreicht, sind die Ein-

6 Es handelt sich hierbei um ein Zitat aus dem Artikel Ein Archiv, das sich bezahlt macht (SW 9/1978). 7 Das Format des Vorher/Nachher als Zeit- und Raum-Sprung zwischen den Seiten begegnet den Leser_innen in den mannigfaltigen Artikeln zu Renovierungsarbeiten, Verschönerungsmaßnahmen und Lösungsvorschlägen für die sogenannten ,Wohnprobleme‘: Im Umblättern erscheinen kleine Flure durch neue Farbpaletten und pfiffige Ordnungsweisen groß wie nie und unpraktische Küchen erstrahlen in neuem (Farb-)Glanz. Das vergleichende Sehen im Sinne der Ergebnispräsentation eines Neu-Machens, Renovierens, Dekorierens und Um/Ordnens des Wohnraums artikuliert nicht nur das Versprechen eines ,schöneren Wohnens‘, das darin vorgeführt wird, sondern eines besseren Lebens, denn die neu gemachten Flure und Küchen verheißen Atmosphäre, Einfachheit, Individualismus, aber insbesondere optimierte Organisation und allumfassende Arbeitserleichterung,

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richtungstipps und Geschmacksleitlinien genauso wenig wie das Wohnen einfach so oder willkürlich, sondern eingebunden in das Argumentationsnetzwerk eines (historisch verstetigten) Wohnwissens, das sich zwischen Tapetenmuster und Sesselbezug mit gesellschaftlichen, politischen und geschlechterbezogenen Implikationen und Normierungen vernähen lässt (Hartmann 2020, S. 16). Dabei werden die Texte, Fotografien, Zeichnungen und Diagramme in der Schichtung der Seiten zusammengefügt, von typografischen Gerüsten gerahmt und in ein ästhetisches Konzept verschachtelt, das es in seinem intermedialen Wechselspiel zu perspektivieren gilt: „Hier werden die Praxen des Bedeutung-Verleihens bereits in Gang gesetzt, werden Mythologisierungen – im Sinne von Roland Barthes oder auch Stuart Hall – aus den Anordnungen und Zuordnungen der Zeitschriften sichtbar. Mit ‚Anordnung‘ ist dabei auch das konkrete SETZEN von Zeichen auf den Seiten gemeint, sodass die Aspekte von Satz und Layout, von (typo-)grafischer Gestaltung und seriellen Markern auf Seiten und an deren Peripherien ein zentrales Anliegen der Erforschung von Wohnzeitschriften bilden.“ (Eck et al. 2018, S. 9) Aus einer kunstwissenschaftlichen Perspektive interessiert bei der Analyse der Wohnzeitschriften besonders die Frage, wie sich die Seiten beim Anschauen und Umblättern gestalten. Welches Sehen wird im Display der Zeitschrift angelegt, was wird uns überhaupt zu sehen gegeben und was bleibt un/sichtbar? Wo wird geclustert, gefaltet, seitenweise angeordnet, eingeschrieben, ausgelassen, vor allem aber auch: wiederholt und fortgesetzt? Die Muster der Zeitschrift sind vielfältig, seien es Tabellen oder Tapeten, Grafiken und Grundrisse, Schritt-für-Schritt-basierte DIY-Anleitungen oder Diagramme. Die einzelnen und doppelten Seiten werden im Layout ordnungsschaffend entlang der Maximen von Lesbarkeit und zeitgenössischer (Gestaltungs-)Ästhetik entworfen, auf ihnen versammeln sich Bausteine von Texten und Bildern, die über ihre Positionierung in Relationen zueinander geordnet werden – Nummerierungen, Buchstaben, Pfeile und Unterschriften eröffnen dabei ein visuelles Verweissystem, in dem Text A im Lesen und Betrachten ordnungsgemäß

die durch Warenkonsum befördert wird. Durch das Vorführen eines optimierten Wohnraums wird das Selber-Tätigwerden zum Credo, wobei das tätige Subjekt als unauffindbare Konstante im Schauen und Suchen des Unterschieds selten tatsächlich vorkommt. Zumeist ist es das Vorher/Nachher-Szenario der (um-)gestalteten Räume, die im Blättern aufeinanderfolgen, ohne dass die Renovierungsarbeit dabei in ihrer Verkörperung sichtbar werden würde.

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Ästhetische An/Ordnungen

als Entsprechung von Bild A begriffen werden soll. Die vorgegebene Leserichtung zwischen den Nummern, von links nach rechts, von vorne nach hinten, schichtet Bildräume im Blättern übereinander, Artikel und Werbung grenzen sich in der vom Inhaltsverzeichnis vorgegebenen Abfolge über ihre Gestaltung voneinander ab oder nähern sich in ihren An/Ordnungsweisen über bildsprachliche Ähnlichkeiten an. Die Leser_in kann sich jedoch darüber hinwegsetzen, kann mal zurückblättern, etwas auslassen oder über etwas hinwegsehen, um ihre (Bild-)Lektüre entgegen der stringenten Blick-An/Ordnung brüchig werden zu lassen. Ordnung oszilliert zwischen Ähnlichkeit und Andersheit, wenn Rubriken und Dossiers durch ihr gleichbleibendes Layout in der Wiederholung erkennbar werden, sich jedoch über die Jahre hinweg entsprechend der An/Ordnungen modischer Trends in Gestaltung und Design verändern, immer wieder neue ästhetische Anknüpfungspunkte ausbilden. Die Wohnräume der Zeitschrift sind zumeist ordentlich arrangiert, zergliedern sich auf der Zeitschriftenseite in Grundrisszeichnungen, Fotografien und Beschreibungen, die als Koordinaten der Raumlektüre die Topografie eines Wohnwissens abstecken und Blickverläufe anordnen. Entlang von Zeigekonventionen wird über die An/Ordnungen der Rubriken und Layouts ein Wohnwissen gerastert, wiedererkennbar ausgezeichnet und systematisiert. Das Inhaltsverzeichnis der Schöner Wohnen als ordnender Grundriss der Zeitschrift, als architektonisches Gerüst aus Buchstaben (und Bildern), das die verschiedenen Etagen des Wohnens nachzeichnet, die es in der Lektüre zu erkunden gilt, steht dabei paradigmatisch für die Um/Ordnungsprozesse im visuellen ,Layout‘ der Zeit(schrift), das punktuell immer mehr Un/ Ordnung wagt: Es verändert sich zwischen 1960 und 1979 beständig, bleibt in der grundlegenden thematischen Bündelung gleich, verschiebt Themen in andere Bereiche, (er-)findet neue Wohn-Komplexe und lässt andere Dossiers fallen, ebenso wie sich die Gestaltung der Titelseiten in immer neuen Mustern und Rasterungen der Bild- und Textelemente präsentiert, denn „nie waren die Kippfiguren von Bild und Buchstabe so experimentierfreudig gestaltet wie in den 1960/70er Jahren“ (Geiger 2018, S. 226). Der Begriff der An/Ordnung lässt sich in seiner ästhetischen Dimension für die Analyse der Zeitschrift konzeptionalisieren und weiterführend verknüpfen mit einer (impliziten) Anordnung an die lesenden und wohnenden Subjekte, sich selbst in das (Ordnungs-)System Wohnen einzufügen: Nicht nur über die didaktischen Aufforderungsmechanismen, die die Zeitschrift prägen, ,richtig‘ zu wohnen, auch über Formate

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wie den (Psycho-)Test, der als interaktives Element die Leser_innen entlang von Typisierungen zu kategorisieren versucht, wird über das Versprechen der ,Ähnlichkeit‘ ein identitätsstiftendes Moment angelegt. Die Leser_innen sollen sich einsortieren in das begrenzte Angebot schematisierter Wohn-Typen von A bis D, sie werden ebenfalls zum Ordnung-Halten und (Neu-)An/Ordnen (mit) der Zeitschrift angehalten, oder genauer: zum Sammeln und Archivieren, aber selbstredend ordentlich und eingeordne(r)t als Archivar_innen eines Wohnwissens. Auf der gegenüberliegenden Seite der ersten Edition der Schöner Wohnen-Sammelserie: Einrichten leichtgemacht (Gustmann/Röschmann 1977d) wird eine großbuchstabige Anzeige des dazu passenden Ordners abgedruckt, der „für wenig Geld […] eine wertvolle Sammlung“ beisammenhält (SW 4/1977, S. 42). Angepriesen wird der Ordner als Erfahrungs-Konservator, der gleichsam als Archiv fungiert: „Erfahrung läßt sich nicht kaufen – aber sammeln. In diesem schönen stabilen Plastik-Hefter. In dem Heft für Heft das ganze Wissen erfahrener Innenarchitekten zu einem unbezahlbaren Nachschlagewerk wächst. Mit dem Sie alle individuellen Wohnprobleme lösen können. Zu diesem Zweck ist der Sammelhefter auch schon mit Millimeterpapier, maßstabgetreuen Möbeln zum Ausschneiden, mit Transparentpapier und einer kurzen Anleitung ausgestattet, nach der Sie lernen, Grundrisse zu lesen und selber zu entwickeln. Außerdem wird die Zeichensprache der Innenarchitekten leicht verständlich erklärt.“ (Ebd.) Das Konglomerat an didaktisierten Materialien zum Wohnen-Lernen setzt die erzieherischen Maßnahmen der Zeitschrift fort und argumentiert über die Strategie der Befähigung nach Rezept. Die Zeitschrift spricht in der Anzeige zu den Leser_innen bzw. lässt sie selbst sprechen: Eine gepunktete Strichlinie formt den Umriss einer rechteckigen Sprechblase, in die hinein eine rot grundierte Postkarte geklebt ist, die sich im Überblättern der Seiten aufgrund der Schwere ihres Papiers unbeugsam nach oben richtet, etwas langsamer umklappt als die dünnen, glatten Zeitschriftenseiten (Abb. 5). Die Karte lässt verlauten: „Ich bin dabei!“ (ebd.), und ruft damit nicht nur die Leser_innen an, sondern verkündet ihre Teilnahme gleich in ihrem Namen. Das „geordnete[ ] Verhältnis zum schöneren Wohnen“ in Form des angeordne(r)ten Sammelns wird durch die Zeitschrift mit dem Begriff des Archivs theoretisiert.8 Das Konzept führt die Schöner Wohnen selbst

8 Das Zitat stammt aus der Anzeige Sammelordner – Einrichten leichtgemacht. Das Handbuch für richtiges Wohnen, in: Schöner Wohnen, H. 9, Jg. 19, 1978, S. 83.

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ein: In der September-Ausgabe 1978 findet sich ein kurzer Verweis auf die Schöner-Wohnen-Sammelmappe als Archivierungsinstrument unter dem Titel Ein Archiv, das sich bezahlt macht (SW 9/1978). Er verspricht ein Sammeln dessen, „was sinnvoll ist“ (ebd., S. 123). Das Credo der praktischen SW-Sammelmappe lautet „Ordnung halten im Blätterwald“, sie dient somit als Ordnungssystem für das lose Blattwerk der Zeitschrift (ebd.).9 Das Blatt, im Alt- und Mittelhochdeutschen blat, ist gleichbedeutend mit dem lateinischen folium, dem „,grün gefärbte[n] Organ höherer Pflanzen‘“ (Maye 2015, S. 137), das in bestimmten Kontexten auch papierene Blätter bezeichnet, die in ihrer Materialität selbst gepresste Pflanzenmasse sind. Der Begriff Blatt, Anfang des 19. Jahrhunderts synonym zu dem der Zeitung verwendet, gründet in den frühneuhochdeutschen Flugblättern oder Fliegenden Blättern, die als mediale Vorläufer der Zeitung bzw. Zeitschrift lesbar sind (ebd.). Das Feuilleton der ,losen Blätter‘ steht dabei „paradigmatisch für eine zerstreute Form der Lektüre“ (ebd.) und zeigt sich als metonymische Vernetzung der französischen Begriffe feuille (Blatt) und feuilleter (blättern). Blatt ist also nicht nur eine alternative Bezeichnung für Zeitschrift, auch die Lese-Technik des Blätterns ist in diesen etymologischen Verknotungen und der materialästhetischen Beschaffenheit der Zeitschrift angelegt: „Die Operation des Blätterns ist der Zeitung eingeschrieben, es ist der ihr adäquate Mediengebrauch“, der „vom ,Aufblättern‘ über das ,Abblättern‘ und ,Verblättern‘ bis zum ,Hin-und-Her-Blättern reicht und

9 Blattwerk Wohnen lautete der Vortragstitel von Kathrin Heinz beim Workshop Seiten des Wohnens. Bild Text Serie (12./13. Mai 2017), der in der Kooperation des Instituts für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen mit dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender an der Universität Bremen stattfand. Heinz konzeptualisiert mit dem Begriffspaar Blattwerk Wohnen den Trend zum kreativen Tätig-Sein der Leser_innen, wie er insbesondere durch aktuelle Wohnmagazine mit ihren mannigfaltigen Anleitungen und dem eingefügten Material zum Selbermachen moderiert und institutionalisiert wird. Die Leser_in soll mit dem Blattwerk, dem Konglomerat an Extras und Einlagen, selbsttätig aktiv werden. Die historischen Kontinuitäten einer Subjektivierung in Bezug auf Wohnbilder und -ideale findet sich in der frühen Wohnlehre, in deren Anleitungen das Ideal einer Selbstbefähigung der Leser_innen mittels Ausbildung eines ‚richtigen‘ Geschmacks und Wohnhandelns angelegt war. Die Schöner Wohnen zeigt hier, wie der Blätterwald des Wohnens einerseits zum Archivmaterial avanciert, das andererseits in ein vorstrukturiertes Ordnungssystem eingefügt werden kann. Die materielle Qualität der Zeitschrift als bedruckter Wald in Pressform wird durch den Begriff des Blätterwaldes ebenfalls hervorgehoben.

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5  Anrufung im Überblättern

dem Durchlesen eines Buchs oder einer Schrift von vorne bis hinten entgegengesetzt ist. Die Kulturtechnik des ,Blätterns‘ ist also nicht nur vom ,Blatt‘ abgeleitet, sondern auch metonymisch mit ihm verbunden.“ (Ebd.) Dabei wird ein (über-)blätterndes Lesen „zu einer individualistischen Tätigkeit […], zu einem Hin und Her zwischen einem Selbst und einer Seite“, „[j]etzt durchblättert der Leser das Buch“ (Illich 1991, S. 86). Dieses disparate Lesen gilt auch für die Lektürewege der Wohnzeitschriften, wie Irene Nierhaus feststellt: „Wohnseiten sind nicht nur ein mediales Format, sondern eher ein mediales Gefüge und Geflecht aus Diskursen, in dem verschiedene Strecken und Anschlussstellen bestehen und entwickelt werden und neue Anforderungen integrierbar sind. Zudem sind Wohnseiten nicht ein auf eine lineare Rezeption ausgerichtetes Mediengefüge (wie z.B. der Roman), sondern die Kombination aus Kolumnen, Berichten, Fotostrecken, Werbung etc. bietet Lektüreinseln, die nicht – oder nur teilweise – in linearer Reihenfolge

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Ästhetische An/Ordnungen rezipiert werden können. Es können manche Bild- und Textteile gelesen, nur Bilder oder Überschriften überflogen, Abschnitte übersprungen werden.“ (Nierhaus 2018, S. 19f.)

PERFORIERT UND EINGEORDNE(R)T – ÄSTHETISCHE STRUKTUREN DES ARCHIVMATERIALS ZUM WOHNEN Die Leser_in blättert die Schriftstücke dabei nicht nur durch, sondern zerblättert sie auch aktiv: „Eine Konjunktur und differenzierte Bewertung erfährt das Blättern als Auslegen, Herausreißen und Sammeln von Stellen in der zweiten Hälfte des 18. Jhs.“ (Maye 2015, S. 140f.) Einerseits ist diese Praxis des Entblätterns eine akzeptierte gelehrte Praxis, die sich jedoch in ihrer Qualität als Fragmentierung nun einem kritischen Diskurs hinsichtlich der vermeintlichen Gefahren einer Bewusstseinszerstreuung und eines Kontrollverlusts in der und durch die blätternde, flüchtige Lektüre ausgesetzt sah (ebd., S. 141). Die Schöner Wohnen verknüpft wiederum das Heraustrennen des Blattwerks mit einem Ideal des Einheitlichen, Abgeschlossenen. Das Ausreißen nach Anleitung erlaubt den Leser_innen bestimmte Seiten aus dem Heft herauszutrennen, da sich in der Sammlung dieser zu lösenden Blätter eine neue Vollständigkeit des lexikalen Wohnwissens ergeben würde. Die Zeitschrift erteilt im Artikel Ein Archiv, das sich bezahlt macht (SW 9/1978) weiterhin die Erlaubnis, auch nicht als sammelwürdig ausgezeichnete Blätter in dieses Archiv mitaufzunehmen: Beiträge, die die Leser_in besonders interessieren, können „konsequent aus dem SCHÖNER WOHNEN-Heft“ herausgelöst werden, um sie „an den markierten Stellen bequem [zu] lochen und nach Themen geordnet in die Mappe [zu] heften. Zu jeder Mappe gehören 12 Registerblätter und ein Inhaltsverzeichnis. Die Titel einiger Rubriken sind bereits aufgedruckt und mit laufenden Nummern versehen. Diese Nummern übertragen Sie auf die Registerbögen. Dann haben Sie immer alles klar geordnet auf der Hand. Natürlich können Sie auch nichtgekennzeichnete Beiträge aus SCHÖNER WOHNEN-Heften, die Sie aufheben möchten, der Mappe einverleiben.“ (Ebd., S. 123) Die Zeitschrift gibt den Leser_innen über den Aufbau der Sammelmappe sowie die Anleitung im Text eine klare Richtlinie des Archivierens an die Hand, die perforiert, gestrichelt und mit einem Scherensymbol versehen ebenfalls die Seiten der Zeitschrift durchzieht und ausweist,

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welche Blätter es herauszutrennen gilt. Im Falle der Sammelserie schiebt sich über die perforierte Linie der Druck: „Schöner Wohnen Sammelserie ,Einrichten leichtgemacht‘. Hier heraustrennen.“ (Gustmann/ Röschmann 1977d, S. 1) Die umkreisten Löcher auf der linken Kante weisen darauf hin, wo das Papier gestanzt werden soll, um korrekt im Ordner zu liegen. Im SWP, dem SW-Praktisch-Teil, mitsamt dem darin als Sammeledition angelegten Heimwerker ABC, ist es nicht die leicht geöffnete Schere (Abb. 6), die als Schneideinstrument den Anschnitt eröffnet, sondern eine Säge, mit der der illustrierte Heimwerker die gepunktete Linie bearbeitet und die Lesenden inspiriert, es ihm gleichzutun (Rasch 1976) (Abb. 7). Die Geschlechterdifferenz im Heim-Werken zeigt sich im Vergleich des ,männlich‘ personifizierten Praxis-Teils der Schöner Wohnen mit der ,humoristisch‘ völlig überzeichneten hand-werkenden Frau*, wie sie in der Schritt-für-Schritt-Anleitung im Bildprogramm des Artikels Lautsprecher (SW 6/1971) als ,nerdige‘ Bastlerin mit Riesenbrille und Pigtails auftaucht (Abb. 8) und aus normierten Entwürfen anerkannter ,Weiblichkeit‘ herausfällt. Das SWP wird immer wieder auf unterschiedlichem Papier gedruckt, mal farbig, mal fest und pappig, in dieser März-Ausgabe 1976 ist es grau unterlegt und fühlt sich beim Darüberfahren mit dem Finger leicht schmirgelig an. Nicht nur visuelle Marker wie der angezeichnete Scherenschnitt und die eingestanzte Perforierung, durch welche die Seiten beim Blättern beinahe von selbst herausgetrennt werden, verweisen darauf, dass es sich um herauslösenswerte Inhalte handelt. Markiert wird dies ebenfalls durch eine bestimmte Materialbeschaffenheit der Seiten, wie die des SWP: Die Porosität des Papiers, vorgestanzte Löcher in brauner Pappe und hineingeriffelte Reißlinien sind haptische Indikatoren für eine Anders-Seitigkeit der Inhalte. Die Leser_in wird eingeladen, die Zeitschrift zu entblättern, die Einlagen herauszutrennen, mit dem und im Druckwerk tätig zu werden. Die besondere Haptik und Farbigkeit des Papiers unterscheidet die Einlagen in ihrer Materialität, das glatte Glanzpapier der bedruckten Seiten wird unterbrochen von rauer Oberfläche – das Durchblättern wird gestört, weil sich das Papier anders verhält, nur widerspenstig umschlägt, wieder hochschnellt. Die Zeitschrift schreibt über diese Materialität ein angeleitetes Handeln mit ihr in sich selbst ein. Nicht nur die Wohnenden werden zum Tun angehalten, auch im Lesen und Betrachten wird ein Handeln eingefordert. Trenn mich heraus! Füll mich aus! Das feste Papier ist unbeugsamer als die dünnen Seiten, die beim hastigen Umschlagen einzurei-

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6  Scherenschnitt

ßen drohen, sich mit etwas Geschick aber raschelnd durchblättern lassen und einem Daumenkino gleich Bilderfolgen aneinanderreihen. In diesem Unwillen des Materials, überblättert zu werden, entsteht eine Schau-Pause, in dieser Lücke liegt die Möglichkeit der Adressierung, wie in den orangenen Seiten des Leser-Service, die gleichsam schrei(b)en: Abonniere mich! Füll mich aus! Schick mich ab! (Abb. 9) Das Herauslösen erfordert jedoch ein neues Hineinfügen – das Sammeln der in Serie erscheinenden Anleitungen und Wohn-(Ding-)Fibeln wird in der Materialität ebenso angelegt wie in der vorgeschriebenen Fortsetzung des Wohnwissens in Reihe und Reihung, die nur als ununterbrochenes Ganzes funktioniert. Die Vorstellung eines enzyklopädischen Wissens-Archivs zeigt sich im Artikel Ein Archiv, das sich bezahlt macht, wenn es darin abschließend heißt: „So besitzen Sie mit der Zeit ein Loseblatt-Archiv, das nach Ihren persönlichen Vorstellungen zu einem wertvollen Nachschlagewerk anwächst.“ (SW 9/1978, S. 123) Das Verspre-

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7  Losgesägt und rausgetrennt

chen eines lückenlosen Wohnwissens10, das die Sammelmappe bereithalten würde, damit die Leser_in jeder Wohnfrage die Stirn bieten kann, gründet in einem Prinzip der Abgeschlossenheit, das durch die Zeitschrift selbst jedoch unterwandert wird, indem sie Monat für Monat neue ,Problemfelder‘ und Wissenslücken eröffnet, die sie zu füllen verspricht. Damit wird die Zeitschrift als serielle Publikationsform ohne Auslaufdatum (bis zu ihrer Einstellung) zu einem (scheinbar) unendlich fortsetzbaren Archiv.

10 Zehn Jahre nach Erscheinungsbeginn, im Januar 1970, zitiert die Schöner Wohnen im Artikel Schöner wohnen heißt schöner leben einige Abonnent_innen der ersten Stunde, so auch einen Unfallchirurgen aus Pforzheim, der „stolz [ist] auf das ,Wohn-Wissen‘, zu dem ihm die 120 Ausgaben SCHÖNER WOHNEN verholfen haben“ (Diem 1970, S. 5). Mit Bindestrich versehen erscheint hier der von Nierhaus theoretisch geprägte Begriff, der in diesem Kontext ebenfalls auf das vielfältig vernetzte Repertoire eines gewohnt wie verweist, das sich in den Ausgaben des Wohnmagazins bündelt.

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8  Gewohnte Geschlechterdifferenz

Die Schöner Wohnen bietet entsprechende Ordner an – zunächst in grauer, später in giftgrüner Ausführung –, in denen sie von den Leser_innen zusammengefasst aufbewahrt werden kann. Die Ordnerstruktur lädt dazu ein, die Hefte nach Jahrgang zu sortieren, zusammenzufügen, zu archivieren: „Sammeln Sie in diesem Ordner das ganze Wissen von SCHÖNER WOHNEN!“, heißt es in einer Werbeanzeige zum Extraordner für die Schöner Wohnen-Sammelserie: Einrichten leichtgemacht11 und verdeutlicht damit, wie sich die Zeitschrift selbst als Wissenskomplex zum Wohnen konzeptionalisiert, den es zu verinnerlichen und bewahren gilt.12

11 O. A.: Anzeige: Sammeln Sie in diesem Ordner das ganze Wissen von SCHÖNER WOHNEN (Anzeige), in: Schöner Wohnen, H. 8, Jg. 18, 1977, S. 51. 12 Ob und in welcher Form es solche privaten Sammlungen tatsächlich gegeben hat, entzieht sich der Nachvollziehbarkeit und steht hier nicht im Fokus der Untersuchung. Vielmehr wird analysiert, wie sich die Zeitschrift selbst als Sammelobjekt kommuniziert.

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9  Perforierte Aufforderung

DIE SCHÖNER WOHNEN ALS ARCHIV – WOHNWISSEN IN SERIE Das Archiv wird in seinem etymologischen Ursprung einerseits als Ort definiert, „an dem relevante historische Objekte aufbewahrt werden“ (Basaldella 2015, S. 56), und trägt in seiner Wortbedeutung andererseits den Verweis auf seine politische Dimension in sich, da es auf das griechische archeĩon (Amtsgebäude) und dieses wiederum auf árchein (regieren, herrschen) zurückgeht (Kluge 2011, S. 58). Die Frage danach, was (historisch) als archivierungswürdig erschien, wer zu welchem Zwecke was archivierte, fundiert das Archiv „in seinem Ursprung als Instrument der Macht und Verwaltung. In diesem physischen Ort lagerten all die – hauptsächlich schriftlichen – Dokumente, Urkunden und Akten, die eine aktuelle Legitimationsfunktion hatten und somit auch als Beweis

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für Macht und Besitz dienten.“ (Basaldella 2015, S. 57)13 Im Kontext der Französischen Revolution wurde es zu einem „Aufbewahrungsort für vermeintlich historische Spuren und Objekte“, wobei der dem Akt des Archivierens vorausgehende Schritt des Auswählens bereits „die Geschichte, die aus dem Archiv gelesen wird, mitbestimmt und vorgibt“ (ebd., S. 58f.). Die Schöner Wohnen konzipiert ihren Archiv-Begriff entlang des Grundrisses historischer Archive als eine materialbasierte Sammlung, die im Sinne eines enzyklopädischen Wissens-Komplexes relevante Informationen bündelt, ordnet, katalogisiert, übersichtlich macht, immer wieder auf- und abrufbar aufbewahrt und (sich selbst) damit dem Ratgeberprinzip entsprechend in ein systemisches ,Nachschlagewerk‘ eines Wohnwissens überführt, das ganz ,privat‘ Ordnerrücken an Ordnerrücken im heimischen Regal stehen kann, so quasi das Zuhause selbst zum Archiv werden lässt. Es ist eine reziprok-räumliche Doppelung: ein Archiv des Zuhauses, das das Zuhause zum Archiv macht. Der Begriff des Archivs und die Praxis des Archivierens „reduzieren sich jedoch nicht nur auf den physischen Ort, an dem die Objekte gelagert werden, sondern beziehen sich auf die nicht-physische Ebene“ (ebd., S. 65). Michel Foucault konzipiert in seiner Archäologie des Wissens (1981) das Archiv als diskursives System, als „Gesamtheit der Regeln, die in einer bestimmten Epoche und für eine bestimmte Gesellschaft die Grenzen und Formen des Sagbaren definieren“ (Foucault 2001, S. 869). In Ergänzung zum materialbasierten Archiv-Begriff, wie ihn die Schöner Wohnen anführt, soll das darin angelegte Wohnwissen mit Foucault ebenfalls als epistemische Struktur des Archivs ausgewertet werden. Das Archiv ist nach Foucault „zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht“ (Foucault 1981, S. 187). Es umfasst die systemische An/Ordnung, die eine Struktur dafür schafft, dass und wie sich die Aussagen als diskursive Elemente in bestimmten Mustern produzieren und zusammengesetzt werden (Basaldella 2015, S. 65). „Diese historisch variablen Faktoren, die für die Formation des Wissens verantwortlich sind, nennt Foucault in der Archäologie des Wissens Archiv.“ (Ebeling 2020, S. 221) Die „Grenzen und Formen der Aufbewahrung“ heißt es dahingehend zu befragen, „welche Äußerungen […] dazu bestimmt [sind], ohne Spuren

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Siehe weiterführend Ebeling/Günzel 2009; Assmann 2009.

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zu vergehen[.] Welche sind im Gegensatz hierzu dazu bestimmt, in das Gedächtnis der Menschen einzugehen (durch rituelles Rezitieren, durch Pädagogik und Unterricht, durch Vergnügen und Feste, durch Werbung)?“ (Foucault 2001, S. 869) Im übertragenen Sinne findet sich all dies in der Zeitschrift, ein ritualisiertes Re-Zitieren, didaktische Anleitungen in vergnüglicher Form, das ‚Alle Jahre wieder‘ der saisonalen Archive mit Weihnachtsschmuck und Osterstrauß und in Form der Werbung als Kondensat des idealisierten Konsums, der als Spachtelmasse alles zusammenhält. Foucault beschreibt weiter, wie sich „die Grenzen und Formen der Reaktivierung definieren: welche aus früheren Epochen oder fremden Kulturen stammenden Diskurse behält man bei, welche wertet man auf, welche importiert man, welche versucht man wieder herzustellen?“ (Ebd., S. 870) Die Schöner Wohnen knüpft an Diskurse klassischer Wohnlehrmedien wie der Ratgeberliteratur an, re-artikuliert sie, führt sie in anderer Medialität fort und tradiert bestimmte Ästhetiken weiter. Das ausgeprägte Wohnwissen ist dabei durchwirkt von Geschlechterdifferenz, Klassismus und Whiteness, es unterscheidet zwischen Expert_innen und Lai_innen, ist hierarchisch angelegt, obwohl die Selbstwirksamkeit zentrales Narrativ bleibt. Die „Grenzen und Formen der Aneignung“ definieren sich demnach über die Frage, „welche Individuen, welche Gruppen, welche Klassen […] Zugang [besitzen] zu diesem Diskurstypus[.] Wie ist das Verhältnis des Diskurses zu dem, der ihn ,hält‘, und dem, der ihn empfängt, institutionalisiert? Wie definiert sich das Verhältnis des Diskurses zu seinem Autor, wodurch zeichnet es sich aus?“ (Ebd.) Die Schöner Wohnen kann insofern als Archiv konzeptionalisiert werden, in dem sich diskursive Wissensformationen und Regeln der An/ Ordnung von Wissen im Wechselspiel aus Bild und Text im Zeigen und Wiederholen verstetigen, verschieben, überschreiben, unterbrechen und fortsetzen. Die Zeitschrift selbst bildet damit ein Archiv des Wohnwissens und seiner (regelmäßigen) An/Ordnungen: Ihre zu einem Heft geschichteten Seiten versammeln Reportagen, Bildstrecken, Leser_innenbriefe und zwischengeschaltete Werbeanzeigen, die zu zeitgeschichtlichen Diskursformationen gebunden sind. Zwischen den Ausgaben werden wiederkehrende Muster sichtbar, aus denen sich wiederum miteinander vernetzte thematische Systeme bilden. Die Zeitschrift lässt sich aufgrund ihres seriellen Erscheinens, ob Monat für Monat, Woche für Woche oder in anderem Rhythmus, sowohl als einzelnes Heft als auch als Teilstück einer Reihung begreifen. Durch das Erscheinen in Serie können Inhalte

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festgeschrieben, weiterentwickelt oder in zukünftigen Ausgaben angedeutet werden, das Konzept der Serialität bedient dabei Bestrebungen nach Vollständigkeit und Lückenlosigkeit. Die aufgerufenen Themenfelder bleiben grundsätzlich bestehen – diese Kontinuität erlaubt so gleichzeitig, kleinste Variationen als etwas Neues zu inszenieren. Aus den wiederkehrenden Inhalten bilden sich im fließenden Prozess miteinander vernetzte thematische Archive, deren Wissen in Wiederholung vermittelt wird. Diese Archivfunktion der Wohnzeitschrift manifestiert bei den Leser_innen über mehrere Ausgaben hinweg ein ausgeprägtes Wissen darüber, was zum Wohnen gehört, wie es umgesetzt wird und welcher Waren es dafür bedarf. Das Wiedererkennen und Einüben bestimmter Muster sorgt beim wohnenden Subjekt für routiniertes Handeln im Wohnen.14 Die Zeitschrift erscheint als doppeltes Archiv: Die Schöner Wohnen bildet im Foucault’schen Sinne ein diskursiv strukturiertes System aus Regeln der Sagbarkeit, ordnet Wissen in gewohnten Diskurslinien an, die als historische Knotenpunkte die Ausgaben und Aussagen verbinden und sie zur Gewohnheit erstarren lassen. Die ästhetischen An/Ordnungen und Spielregeln des Wohnwissens sind als Strukturen des Archivs lesbar, wie es Foucault theoretisiert. Die Schöner Wohnen konzipiert sich gleichzeitig durch ihre materielle Beschaffenheit und ihre ästhetische Struktur selbst als ein zu archivierendes Sammelmaterial, das durch die angebotenen Ordner und Hefter wieder eingebunden wird in ein angeleitetes Archivieren im konservatorischen Sinne. Durch die visuell vermittelten Gebote des Herauslösens und Aufbewahrens konfiguriert die Zeitschrift das Tun mit ihr selbst. Die als archivierungswürdig gestalteten Materialien versammeln einen ver-

14 Die Funktion des Festschreibens bestimmter Darstellungen durch Wiederholungen, aber auch Strukturen der Un/Sichtbarkeit verlaufen anhand gesellschaftspolitischer Maximen und verdeutlichen sich beispielhaft am Raumgefüge der Küche als Ort der doppelten Wiederholung: Die Küche wird einerseits in der Schöner Wohnen fortwährend thematisiert und präsentiert – Heft um Heft gibt es neue Ratschläge und Anleitungen für ihre optimierte Einrichtung. Andererseits ist die Küche als Raum der Hausarbeit in sich ein Ort der Wiederholung. Tag für Tag werden hier dieselben Handgriffe ausgeführt. Die Ungleichheiten im Bereich der Hausarbeit werden im Laufe der 1960er und 1970er Jahre teilweise auch in der Zeitschrift hinterfragt, gleichzeitig wiederholt sich Ausgabe für Ausgabe die Festschreibung der Verantwortlichkeiten für Haushalt, Küche und Kindererziehung als feminisierte Aufgabenbereiche. In der Reihung der Hefte lassen sich so historische Dis/Kontinuitäten um Care-Arbeit und weitere gesellschaftliche Diskurse nachvollziehen und miteinander vernetzen.

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schlagworteten Wissenskomplex zum Wohnen, der didaktisch formiert und kommuniziert wird – gemäß einem populären Regelwerk des Wohnens. Aus heutiger Perspektive eröffnet sich im Blättern durch die Seiten der Schöner Wohnen ein Entwurf des Zeitgenössischen, das sich im Jetzt als Gestern formiert, weniger ein Gewesenes als der sorgsam kuratierte Entwurf einer regel-rechten Wohngeschichte der Gegenwart.

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Literatur

Assmann 2009 Assmann, Aleida: Archive im Wandel der Mediengeschichte, in: Knut Ebeling; Stephan Günzel (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2009, S. 165–175. Basaldella 2015 Basaldella, Dennis: Archivieren, in: Heiko Christians; Matthias Bickenbach; Nikolaus Wegmann (Hg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Köln: Böhlau 2015, S. 55–68. Diem 1970 Diem, Walter: Schöner wohnen heißt schöner leben, in: Schöner Wohnen, H. 1, Jg. 11, 1970, S. 4–9. Ebeling 2020 Ebeling, Knut: Archiv, in: Clemens Kammler; Rolf Parr; Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Berlin: J. B. Metzler 2020, S. 221–222. Ebeling/Günzel 2009 Ebeling, Knut; Stephan Günzel (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2009. Eck et al. 2018 Eck, Katharina; Kathrin Heinz; Irene Nierhaus: Einleitung // Seitenweise Wohnen: Mediale Einschreibungen, in: dies. (Hg.): FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und Visuelle Kultur, H. 64, 2018: Seitenweise Wohnen: Mediale Einschreibungen, S. 5–17. Förschler et al. 2019 Förschler, Silke; Christiane Keim; Astrid Silvia Schönhagen: Wohnen als interspecies relationship, in: dies. (Hg.): Heim/Tier. Tier-Mensch-Beziehungen im Wohnen, Bielefeld: transcript 2019 (wohnen+/− ausstellen, Bd. 6), S. 9–32. Foucault 1981 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens (1969), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981.

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Foucault 2001 Foucault, Michel: Antwort auf eine Frage (1968), in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 1: 1954–1969, hg. v. Daniel Defert; François Ewald, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 859–886. Geiger 2018 Geiger, Annette: Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs, Bielefeld: transcript 2018. Gustmann/Röschmann 1977a Gustmann, Kurt; Heidrun Röschmann: Schöner Wohnen-Sammelserie: Einrichten leichtgemacht, Teil 2: Wohin mit den Siebensachen, in: Schöner Wohnen, H. 5, Jg. 18, 1977, eigene Paginierung: S. 17–32 [entspricht im Heft: S. 43–58]. Gustmann/Röschmann 1977b Gustmann, Kurt; Heidrun Röschmann: Schöner Wohnen-Sammelserie: Einrichten leichtgemacht, Teil 5: So funktioniert Ihre Küche besser, in: Schöner Wohnen, H. 8, Jg. 18, 1977, eigene Paginierung: S. 65–80 [entspricht im Heft: S. 35–50]. Gustmann/Röschmann 1977c Gustmann, Kurt; Heidrun Röschmann: Schöner Wohnen-Sammelserie: Einrichten leichtgemacht, Teil 9: So wohnen Kinder kindgerecht, in: Schöner Wohnen, H. 12, Jg. 18, 1977, eigene Paginierung: S. 129–144 [entspricht im Heft: S. 43–58]. Gustmann/Röschmann 1977d Gustmann, Kurt; Heidrun Röschmann: Schöner Wohnen-Sammelserie: Einrichten leichtgemacht, Teil 1: So sitzen Sie gemütlich und bequem, in: Schöner Wohnen, H. 4, Jg. 18, 1977, eigene Paginierung: S. 1–16 [entspricht im Heft: S. 42–59]. Gustmann/Röschmann 1978 Gustmann, Kurt; Heidrun Röschmann: Schöner Wohnen-Sammelserie: Einrichten leichtgemacht, Teil 12: So erkennt man Qualitätsmöbel, in: Schöner Wohnen, H. 3, Jg. 19, 1978, eigene Paginierung: S. 177–192 [entspricht im Heft: S. 83–98]. Hartmann 2020 Hartmann, Johanna: Richtig wohnen im Wiederaufbau! Ausstellungen, Ratgeber und Filme als Wohnlehrmedien in der frühen

Rosanna Umbach

Bundesrepublik Deutschland, unveröff. Dissertation, Universität Bremen, 2020. Heinz 2021 Heinz, Kathrin: GeWOHNte Seiten: Blättern, Einrichten, Kombinieren. Gestaltung als Wissenspraxis, in: Irene Nierhaus; Kathrin Heinz; Rosanna Umbach (Hg.): WohnSeiten. Visuelle Konstruktionen des Wohnens in Zeitschriften, Bielefeld: transcript 2021 (wohnen+/−ausstellen, Bd. 8), S. 44–82. Illich 1991 Illich, Ivan: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand, Frankfurt a. M.: Luchterhand 1991. Kluge 2011 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 25. Aufl., bearb. v. Elmar Seebold, Berlin: De Gruyter 2011. Kremerskothen 1977 Kremerskothen, Josef: Editorial: Lehrstück übers Wohnen, in: Schöner Wohnen, H. 4, Jg. 18, 1977, S. 3. Maye 2015 Maye, Harun: Blättern, in: Heiko Christians; Matthias Bickenbach; Nikolaus Wegmann (Hg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Köln: Böhlau 2015, S. 135– 148. Möhring 2015 Möhring, Maren: Das Haustier: Vom Nutztier zum Familientier, in: Joachim Eibach; Inken Schmidt-Voges (Hg.): Das Haus in der Geschichte Europas. Ein Handbuch, Berlin/Bosten: De Gruyter/Oldenbourg 2015, S. 389–405. Nierhaus 2018 Nierhaus, Irene: Seiten des Wohnens – Wohnzeitschriften und ihr medialer und gesellschaftspolitischer Display, in: Katharina Eck; Kathrin Heinz; Irene Nierhaus (Hg.): FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und Visuelle Kultur, H. 64, 2018: Seitenweise Wohnen: Mediale Einschreibungen, S. 18–28. Nierhaus et al. 2021 Nierhaus, Irene; Kathrin Heinz; Rosanna Umbach (Hg.): WohnSeiten. Visuelle Konstruktionen des Wohnens in Zeitschriften, Bielefeld: transcript 2021 (wohnen+/−ausstellen, Bd. 8).

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Ästhetische An/Ordnungen

Schöner Wohnen 6/1971 O. A.: Lautsprecher, in: Schöner Wohnen, H. 6, Jg. 12, 1971, S. 84–89. Schöner Wohnen 4/1977 O. A.: Die neue Schöner Wohnen-Sammelserie: Einrichten leichtgemacht. Spielregeln für das moderne Wohnen, in: Schöner Wohnen, H. 4, Jg. 18, 1977, S. 39–42. Schöner Wohnen 9/1978 O. A.: Ein Archiv, das sich bezahlt macht, in: Schöner Wohnen, H. 9, Jg. 19, 1978, S. 123. Thyriot 1977 Thyriot, Maleen: Testen Sie Ihr Wohntalent, in: Schöner Wohnen, H. 4, Jg. 18, 1977, S. 59–61. Tietenberg 2021 Tietenberg, Annette: Die Hausfrau als Richterin über Gut und Böse. Vergleichendes Sehen als ideologisches Instrument in Wohnratgebern der NS-Zeit, in: Irene Nierhaus; Kathrin Heinz; Rosanna Umbach (Hg.): WohnSeiten. Visuelle Konstruktionen des Wohnens in Zeitschriften, Bielefeld: transcript 2021 (wohnen+/–ausstellen, Bd. 8), S. 182–203. Umbach 2018 Umbach, Rosanna: Mutter_schafft. Von un/ sichtbarer Hausarbeit im Schöner Wohnen Magazin der 1970er Jahre, in: Katharina Eck; Kathrin Heinz; Irene Nierhaus (Hg.): FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und Visuelle Kultur, H. 64, 2018: Seitenweise Wohnen: Mediale Einschreibungen, S. 44–57. Umbach 2021 Umbach, Rosanna: „Mehr Demokratie ins Wohnzimmer!“ – Die Umnordnung der Wohnverhältnisse im Schöner-Wohnen-Magazin der 1960er und 1970er Jahre, in: Irene Nierhaus; Kathrin Heinz; Rosanna Umbach (Hg.): WohnSeiten. Visuelle Konstruktionen des Wohnens in Zeitschriften, Bielefeld: transcript 2021 (wohnen+/–ausstellen, Bd. 8), S. 230–259. Umbach et al. 2021 Umbach, Rosanna; Amelie Ochs; Kathrin Heinz; Irene Nierhaus: Zum Buch, in: Irene Nierhaus; Kathrin Heinz; Rosanna Umbach (Hg.): WohnSeiten. Visuelle Konstruktionen des Wohnens in Zeitschriften,

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Bielefeld: transcript 2021 (wohnen+/− ausstellen, Bd. 8), S. 83–99.

Bildnachweise

Abb. 1–4: Gustmann/Röschmann 1977d, S. 1, 14, 12, 11; Illustrationen: John Günther. Abb. 5: Schöner Wohnen 4/1977, S. 42. Abb. 6: Ideal-Standard: Werbung für die Broschüre ,Der Hausfreund Ideal-Standard‘, in: Schöner Wohnen, H. 1, Jg. 15, S. 136–137, hier S. 137. Abb. 7: Rasch 1976, S. 89; Zeichnungen: Horst Sikorra. Abb. 8: Schöner Wohnen 6/1971, S. 84; Fotos: IT T. Abb. 9: O. A.: Leser-Service, in: Schöner Wohnen, H. 6, Jg. 12, 1971, S. 19–20.

David Hockney’s painting Mr and Mrs Clark and Percy from 1971 is part of a series of depictions of the domestic produced by the British artist during the 1960s and 1970s. It is the only image within this group of portraits of Hockney’s relatives and friends that, along with the human figures, the interior, and various domestic objects, includes a non-human resident: a cat, identified in the title by the name Percy. Numerous analyses of this very well-known Hockney work either fail to mention the pet animal completely or refer to it only in passing. Given the very prominent positioning of Percy in the picture, this disregard seems astounding, and in my view it is a symptom, a symptomatic over-sight deriving from the concept of anthropological difference, the binary-hierarchical opposition between human and animal that pervades scholarly discourse, including the discourse around dwelling. This paper fosters a reading of this image that is focused on the critique of anthropocentric viewpoints. Two guiding texts in this context are Jacques Derrida’s The Animal That Therefore I Am (2010), in which Derrida proceeds from a domestic scene involving eye contact with his cat in his apartment to a revision of thinking and speaking about animals, and Roland Barthes’ lecture series How to Live Together (1977/2007), in which Barthes reflects on types of living and dwelling in communities, including in animal societies.

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CHRISTIANE KEIM CATVIEW. EINE KRITISCHE LEKTÜRE VON DAVID HOCKNEYS MR AND MRS CLARK AND PERCY (1971) ALS INTERSPECIES -BEGEGNUNG IM WOHNEN Der vorliegende Text richtet sein Interesse auf ein Objekt zeitgenössischer Malerei, das Bild Mr and Mrs Clark and Percy, das der britische Künstler David Hockney in den Jahren 1970/71 konzipiert und ausgeführt hat (Abb. 1). Der Titel bietet Aufschluss darüber, was bzw. wer den Betrachter*innen zu sehen gegeben wird. Als Mr Clark wäre demnach die sitzende männliche Figur mit Jeans und Pullover vorne rechts im Bild zu identifizieren, als Mrs Clark die stehende weibliche Figur im bodenlangen Kleid in der linken Bildhälfte. Beide sind in einem Innenraum umgeben von verschiedenen Einrichtungsgegenständen dargestellt. Bleibt die Zuordnung des dritten namentlich genannten Protagonisten. Da im Bild kein weiterer Mensch zu sehen ist, muss es sich bei Percy um das einzige Tier im Bild handeln, eine weiße Katze auf dem Schoß des Mannes. Einem Tier, das als Heim-Tier einen Wohnraum mit Menschen teilt, wird stets ein Eigenname zugestanden. Das Bild gilt als die bekannteste Arbeit aus einer Reihe von großformatigen, in Acrylfarben ausgeführten Porträts, die Hockney in den 1960er und 1970er Jahren konzipierte und die oftmals Paare, überwiegend aus dem Freundeskreis oder der Familie des Künstlers, im Interieur oder in Außenwohnräumen zeigen (Livingstone/Heymer 2016, S. 42–69, 70–135). Mr and Mrs Clark and Percy unter diese Paarbilder einzureihen, offenbart allerdings eine Ignoranz gegenüber Titel und Bildanordnung, denn beide

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setzen an die Stelle der Paare in den anderen Arbeiten Hockneys eine Konstellation aus drei Akteur*innen. Tatsächlich ist ein Ausblenden der Katze in den Kommentaren und Deutungen zu dieser Arbeit Hockneys festzustellen. So widmet sich etwa Melanie Pace von der Dulwich Picture Gallery in einem über 5-minütigen Videobeitrag ausführlich der Beschreibung von Mr und Mrs Clark, nennt alle im Raum angeordneten Gegenstände und erwähnt darüber hinaus die beiden Kinder des Ehepaars, auf deren Darstellung Hockney verzichtet. Über die Katze, die vom Künstler im Unterschied dazu sehr prominent ins Bild gesetzt wird, verliert Pace dagegen kein Wort (Pace 2011). Andere Stellungnahmen schenken dem Heim-Tier im Interieur zwar eine gewisse Aufmerksamkeit, verstehen jedoch seine Aufnahme ins Bild eher im Sinne einer symbolischen als einer konkreten, auf ein individuelles Tier Bezug nehmenden Präsenz.1 Ich halte die Ausblendung von Percy – als Percy – für ein Symptom, das für ein sowohl zweiwertig (Mensch versus Tier) wie hierarchisch (Mensch über Tier) angelegtes anthropozentrisches Differenz-Denken steht (Wild 2014, S. 7). Das aus diesem Denken resultierende ‚Über-Sehen‘ von tierlichen Protagonist*innen ließe sich an einer Vielzahl von künstlerischen Darstellungen aufzeigen.2 Mein Interesse an Hockneys Arbeit Mr and Mrs Clark and Percy ergibt sich aus seiner Identifizierung als Wohn-Bild. Hockney zeigt nicht nur einen Innenraum und sich darin Aufhaltende, vielmehr stellt er mit seiner Komposition ein Beziehungsgeflecht zwischen Subjekten, Dingen und Raum her, das (Zusammen-) Wohnen als Konzept und Handeln markiert. Dem symptomatischen ‚Über-Sehen‘ des im Bild dargestellten Tieres möchte ich eine Revision des Blicks entgegensetzen, die dessen Anwesenheit auf eine neue Weise deutet und damit versuchsweise Ansätze für eine veränderte Lesart des Bildes präsentiert. Als Ausgangs- und Orientierungsrahmen hierfür dienen mir zwei jeweils in Buchform ver-

1 So der Text zum Bild auf der Website der Tate Gallery, in deren Besitz sich Mr and Mrs Clark and Percy befindet, www.tate.org.uk/art/artworks/hockney-mrand-mrs-clark-and-percy-t01269 (15.3.2022). Hier wird die Katze als Symbol für Libertinage verstanden. 2 Anders verhält es sich bei Analysen von Darstellungen, die ausschließlich Tiere zum Gegenstand haben. Außerdem nehme ich ausdrücklich diejenigen Kolleg*innen aus, die sich wissenschaftlich mit dem Tier sowie den Beziehungen zwischen Mensch und Tier etwa in den Human-Animal Studies, aber auch in anderen Fachdisziplinen auseinandersetzen.

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Das Bild kann aus urheberrechtlichen Gründen nicht gezeigt werden.

1  David Hockney, Mr and Mrs Clark and Percy, 1970/71, Acryl auf Leinwand, 213,4 cm × 305,1 cm, London, Tate Britain

öffentlichte Texte der jüngeren französischen Kulturtheorie: Jacques Derridas Das Tier, das ich also bin von 2010 (frz. L’animal que donc je suis, 2006), sowie Roland Barthes’ Wie zusammen leben von 2007 (frz. Comment vivre ensemble, 2002). Beide Texte gehen auf Vorträge zurück, die für die jeweils posthum herausgegebenen Schriftfassungen überarbeitet, ergänzt sowie mit Anmerkungen versehen wurden. Das Tier, das ich also bin beruht auf einem mehrstündigen, eher einem Seminar gleichkommenden Vortrag, den Derrida 1997 auf einem Kolloquium in Cerisy-la-Salle gehalten hatte. Der Vortrag enthielt viele der Gedanken über das Verhältnis zum Tier, die der Dekonstruktivist Derrida in seinen kritischen Einlassungen zum Logo- und Anthropozentrismus über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelt hatte. Das Buchprojekt, das er selbst auf diesen Überlegungen aufbauend plante, konnte er nicht mehr verwirklichen. Die Publikation von 2006 versammelt neben bereits veröffentlichten Teilen des

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Vortrags auch bisher unveröffentlichte Passagen (Mallet 2016, S. 11–16). Inzwischen gilt die Schrift als einer der „zentralen Referenztexte für die aktuelle Tiertheorie“ (Köhring 2015, S. 261). Barthes’ Wie zusammen leben hat seinen Ursprung in einer Vorlesung vor Studierenden des Collège de France im Winter und Frühjahr 1977, kurz nachdem Barthes an die Pariser Institution berufen worden war.3 Der Herausgeber des Buchs, Éric Marty, stützte sich für seine Arbeit auf Vorlesungsnotizen, das Archiv von Barthes sowie auf Tonbandaufzeichnungen der Vorlesungsstunden.4 Während also die Entstehungsgeschichte beider Texte durchaus vergleichbar ist, nicht zuletzt was den Medienwechsel von der mündlichen Rede zur schriftlichen Form betrifft, differieren sie in ihrer inhaltlichen Schwerpunktsetzung. Während Barthes nach Modalitäten des Zusammenlebens und damit auch Zusammenwohnens fragt, zeichnet Derrida weite Teile des philosophischen Diskurses über Mensch und Tier nach und richtet seine kritischen Kommentierungen an Aussagen von Descartes, Kant, Levinas sowie Heidegger und Lacan. In Derridas Text ist das Wohnen, insbesondere das Wohnen von Mensch und Tier, zwar kein Thema, das ausführlicher behandelt wird, das gesamte, dort entwickelte Gedankengebäude nimmt seinen Ausgang jedoch von einer als Wohnszene angelegten Begegnung zwischen Mensch und Tier; ich werde gleich im Anschluss darauf zurückkommen. Für Barthes’ Überlegungen zum Zusammenleben wiederum stehen die Beziehungen zwischen Mensch und Tier nicht im Mittelpunkt, dennoch wird menschlich-tierliche Kohabitation an mehreren Stellen in die Argumentationsführung miteinbezogen. Für mein Vorgehen, bei dem ich ausgewählte Textstellen aus den genannten Büchern und Elemente von Mr and Mrs Clark and Percy miteinander in Beziehung setzen werde, möchte ich eine semantische Figur Derridas aufnehmen. Im Text verweist er mehrfach darauf, dass er mit seinem Tun Fährten oder Spuren verfolge, an anderen Stellen wiederum ist vom Fährtenlegen die Rede. Mit den Bildern des Fährtenlegens und

3 In ihrer Gesamtlänge stellen sowohl der französische wie der deutsche Buchtitel diesen Bezug her: Comment vivre ensemble. Simulations romanesques de quelques espaces quotiens. Note de cours et de séminaires au Collège de France, 1976– 1977; in der deutschen Fassung: Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France 1976–1977. 4 Die Entstehungsgeschichte des Buchs und die editorischen Entscheidungen stellt Marty selbst ausführlich dar, vgl. Marty 2007, S. 11–21.

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Fährtenverfolgens5 wird tierliches Handeln evoziert, gleichzeitig könnte damit auch eine (nonverbale) Beziehung zwischen Mensch und Tier angezeigt sein, die sich in aufeinander folgendem und aufeinander bezogenem Handeln – Fährtenlegen/Fährtenfolgen – darstellt. Sollen (Inter-)Aktionen wie diese erfolgreich sein, müssen Zeichen oder Markierungen gelegt werden, die Hinweise für die Deutung der Spur/en liefern. Für die Interpretation von Mr and Mrs Clark and Percy sollen im Folgenden drei Markierungen gesetzt bzw. diese verfolgt werden: Sehen/Blickbeziehungen, Domestizierung/Domestikation und Name/Benennungen.

SEHEN/BLICKBEZIEHUNGEN Derridas Reflexionen zum Denken über das Tier und die Beziehungen zwischen Mensch und Tier werden, wie bereits angedeutet, von einer Wohnsituation in Gang gesetzt. Zu Beginn seiner Ausführungen schildert er eine Begegnung zwischen einem Menschen und einer Katze, die sich im Badezimmer abspielt. Dabei lässt Derrida den Menschen in der Ich-Form auftreten und legt damit nahe, dass es sich um eine Situation aus dem eigenen Erleben handeln könnte. Die Katze, hält er fest, folgt dem Menschen ins Badezimmer. Dort steht er, der Mensch, aus der Dusche kommend, ihr, der Katze, nackt gegenüber. Sie blickt ihn an, er spürt ihren Blick auf sich ruhen. Dies sei keine Urszene, bekräftigt der Autor, sondern ein immer wiederkehrendes Geschehen. Für Aufbau und Argumentationslogik des Textes gewinnt dieses alltägliche Ereignis jedoch entscheidende Bedeutung. Die Szene fungiert nämlich als ein auslösendes Moment, als eine Art Trigger, das dem ‚Denken‘ notwendig vorausgeht, es überhaupt erst ermöglicht: „Das Tier blickt/geht uns an und wir stehen nackt vor ihm. Denken beginnt vielleicht da.“ (Derrida 2016, S. 55) Gemeint ist das Denken über Tier und Mensch, das im Folgenden vorgeführt wird und das Derrida mit Blick auf den philosophischen Diskurs als Ausdruck einer „gewaltigen Verleugnung“ versteht, „deren Logik die gesamte Menschheitsgeschichte durchzieht“ (ebd., S. 35). Sein scharfes Urteil bezieht sich auf die Nicht-Anerkennung der engen Ver-

5 Dass der Begriff des Folgens/Nachfolgens für Derrida weitreichendere Bedeutung hat, zeigt die Doppeldeutigkeit des Wortes ‚suis‘ im französischen Titel. Das ‚suis‘ in ‚que donc je suis‘ kann sowohl als Hilfsverb, abgeleitet von ‚être‘ (sein), aufgefasst werden wie als Vollverb, dann abgeleitet von ‚suivre‘ (folgen).

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wandtschaft zwischen Mensch und Tier in der Philosophiegeschichte, die sich im Beharren auf unverrückbaren Grenzziehungen zwischen Tierlichem und Menschlichem äußert. Die einschlägigen Referenzen, bei denen Derrida Hauptvertreter der westlichen Philosophie zitiert, dienen ihm als Beweismittel für diese seine grundlegende These. Die Szene des Blickens und Angeblickt-Werdens im häuslichen Badezimmer wird im Laufe des Texts wie zur Erinnerung an den Ausgangspunkt mehrfach wieder aufgerufen und erhält somit neben ihrer initialen Funktion auch leitmotivischen Charakter. Das Ehepaar Clark und die Katze Percy werden nicht im Badezimmer, sondern in einem Wohnraum gezeigt. Die um die Menschen und das Tier versammelten Dinge des Wohnens lassen das erkennen: Am rechten Bildrand stehen ein Telefon und eine Lampe auf dem Boden, links in Raum ist ein nach vorn gerückter kleiner Tisch mit einem Buch und einer Vase mit weißen Lilien zu sehen. An der linken Wand hängt ein gerahmtes Bild, ein flauschiger Wollteppich bedeckt den Fußboden. Insgesamt eine spärliche Ausstattung, die Innenraumbefindlichkeit eher vorführt denn atmosphärisch gestaltet. Durch ihre dunkle Kleidung und den kontrastverstärkenden Effekt der Lichtführung in contre-jour-Technik werden die Menschen in ihrem Da-Sein nahezu überbetont. Dennoch oder gerade weil ihnen innerhalb der Komposition so große, bis in die Details des Habitus und der Gestik gehende Aufmerksamkeit zuteilwird, wirken sie erstarrt und leblos, wie in gezwungenen Posen eingefroren.6 Die auf dem Oberschenkel des Mannes sitzende Katze, durch ihr weißes Fell viel stärker in den lichtdurchfluteten Innenraum integriert, wendet den Kopf von den Menschen im Bild wie auch von den Betrachter*innen weg in Richtung der geöffneten Balkontür. Auch die Katze verharrt in einer Pose; der allzu kompakte, wenig differenziert ausgeführte Tierkörper lässt den Eindruck von Lebendigkeit vermissen und die Katze eher wie ein ausgestopftes Tier, ein Tierpräparat wirken. Zum Eindruck der Erstarrung der Akteur*innen, die auf eine eigentümliche Unvertrautheit mit dem (eigenen) Wohnraum schließen ließe, trägt die Steuerung der Blicke bei. Während in Derridas Text der Blick der Katze auf den Menschen das richtungsweisende Moment ist, organisieren in Mr and Mrs Clark and Percy die Blicke der Figuren die bildräumliche Ordnung, indem sie Innen- und Außenraum innerhalb des Bildes

6 Dafür wird der Umstand verantwortlich gemacht, dass Hockney sich auf eine Fotografie stützte (vgl. Schuhmacher 2003, S. 38). Mir erscheint diese Begründung allerdings nicht ausreichend.

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sowie Bildraum und Betrachter*innenraum vor dem Bild verschränken. Die Blicklinien von Mr und Mrs Clark laufen aus dem Bild heraus zu den Betrachter*innen, die der Katze in die entgegengesetzte Richtung zum Bildhintergrund. Anders als bei der Kernszene in Das Tier, das ich also bin, für die eine Kreuzung der Blicke ausschlaggebend ist, gibt es im Bild keinerlei Blickkontakt. Allein das Schauen der Katze bleibt dem Bildraum verhaftet, indem es einen bildimmanenten Raum ins Visier nimmt. An diesem als Teil des Bilds imaginierten ‚Draußen‘ fällt die Flächigkeit der Darstellung auf; die Bildebenen von Balustrade, Garten und dahinterliegender Hausfassade werden optisch nahezu ineinandergeschoben, einer Tiefenentwicklung wird damit konsequent Einhalt geboten. In ihrer Dissertation über die Bildstrategien Hockneys stellt Alexandra Schuhmacher fest, dass „die Katze aus dem gemalten Fenster blickt“ (Schuhmacher 2003, S. 43). Diese Formulierung mutet zunächst eigenartig an, sind doch selbstredend alle Elemente des Bildes ‚gemalt‘, einschließlich der Katze selbst. Dennoch bringt Schuhmacher die Eigenart des Außenraums im Bild sehr gut auf den Punkt. Das Gemalt-Sein, die Fiktionalität des Bildes wird an dieser Stelle durch die Malweise geradezu ostentativ zur Schau gestellt; das Rahmen des Ausblicks durch die hohe Türschwelle verstärkt diesen Eindruck. Die Ansicht hinter der Tür, der einen Blick durchs Fenster in die Weite simuliert, repräsentiert tatsächlich ein Bild im Bild. Das Motiv des Fensters ist ein bekannter Topos, über den Realitätsbezug und Selbstreferentialität der Malerei verhandelt werden. Erwin Panofsky hat die Technik der Zentralperspektive (unter Berufung auf Alberti) als symbolische Form gedeutet, mithilfe derer in der Kunst die Illusion eines wirklichen Raums erzeugt werde. Der Malgrund, die Leinwand werde negiert und das Bild „in ein ‚Fenster‘ verwandelt, durch das wir in den Raum hindurchzublicken glauben sollen“ (Panofsky 1980, S. 99). Irene Nierhaus hat das Fenster im Bild mit Ordnungen des Sehens in Verbindung gebracht. Am Gegenstand der Interieurbilder Georg Wilhelm Kerstings hat sie in einem Vortrag genau und anschaulich herausgearbeitet, dass und wie Innenraumdarstellungen des 19. Jahrhunderts Wissens- und Geschlechterordnungen visualisieren.7 Hockney

7 Irene Nierhaus: Am Fenster: Künstlerschaft, Geschlecht, Raum, Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe Forschungsmethoden Kunst – Medien – Ästhetische Bildung: Diskurse, Dispositive, Displays (ForstAintegriert Projekt), Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik, Universität Bremen, 2.12.2019.

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wiederum steht der Analogisierung von Fenster und Leinwand und der Zentralperspektive als künstlerischem Ordnungsmechanismus offenbar skeptisch gegenüber: „No actual person – literally, no body – ever saw the world that way“ (Hockney/Gayford 2016, S. 103). Die Augen seien vielmehr immer in Bewegung, der Blickpunkt verschiebe sich also permanent (ebd.). „Alberti’s window is a prison really.“ (Ebd., S. 107) Die Künstler*innen hätten das freilich erkannt und darauf reagiert: „[T]hey realized you could bent it.“ (Ebd.) Künstler*innen verbiegen also diesen Grundsatz, oder auch: Sie biegen ihn sich zurecht. In Mr and Mrs Clark and Percy tut Hockney genau dies, er (ver-)biegt die Prinzipien von Perspektive und Illusionsraum, indem er die Blickpositionen divergieren lässt und damit die Illusion realräumlicher Integrität zumindest in Teilen aufkündigt. Die Katze, so ist festzuhalten, erhält in diesem kompositorischen Konzept eine durchaus besondere Position. Allein die Katze nimmt das Bild im Bild in den Blick. Von den dreien ist gleichsam nur das Heim-Tier, hier als Rückenfigur und damit in der Position der Betrachter*innen gezeigt, im Bilde über die Bildlichkeit des Bildes.

DOMESTIZIERUNG/DOMESTIKATION In Wie zusammen leben widmet sich Roland Barthes Vorstellungen von einem idealen Zusammenleben. Sein Ausgangpunkt ist ein affektiv besetztes, von Begehrensstrukturen angetriebenes Interesse, das sich für ihn in Phantasmen oder „Bildern, die in uns herumschleichen und die wir nicht loswerden“, äußert (Barthes 2007, S. 42). Damit man diesen Phänomenen weiter nachgehen, ihnen einen sicheren Boden bereiten kann, müssen sie sich in einer Idee kristallisieren und schließlich in einem Begriff konkretisieren (lassen). Für die Bilder, die seinen eigenen Worten zufolge in Barthes selbst ‚herumschleichen‘ und sich zur Idee, hier der Idee einer harmonischen Lebensführung, kristallisiert haben, findet er – nach eigenen Angaben eher zufällig – den Begriff der Idiorrhythmie (ebd., S. 47f.). Im Kontext des Klosterwesens steht er für eine Lebensweise, in der Mönche sowohl unabhängig-autonom wie als Teil einer von Regeln bestimmten Gemeinschaft leben; bei einer idorrhythmischen Lebensweise stehen Für-sich-Sein und Mit-anderen-Sein in einem austarierten Verhältnis zueinander. Manifestationen und Möglichkeiten der Idiorrhythmie geht Barthes anhand von Materialrecherchen in der

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Romanliteratur nach. Der literarische Korpus, aus dem er in den Vorlesungsstunden zitiert, umfasst Textauszüge aus Romanen von André Gide, Émile Zola, Daniel Defoe oder Thomas Mann, aufgerufen werden aber auch Artikel aus Sach- und Wörterbüchern oder Lexika. In ihrem formalen Aufbau setzt sich die Vorlesungsreihe aus „diskontinuierlichen Einheiten“ zusammen, die Barthes auch „Merkmale“ oder „Züge“ nennt (ebd., S. 59f.). Man könnte in diesen Einheiten auch Diskursfiguren sehen, die als fragmentarische Versatzstücke zu einer Gedankenkette verknüpft werden. Die Beweislage wird damit immer dichter, ohne auf ein Erkenntnisziel zuzulaufen. Das strebt Barthes auch gar nicht an. Sein Vortrag, so erklärt er den Zuhörer*innen, solle nicht als Lektion verstanden werden. Was er ihnen präsentiere, sei vielmehr „Forschung, die noch unterwegs ist“ (ebd., S. 62). Auch Barthes’ Unternehmen lässt sich also als Spurensuche auffassen, die im Kontext der Unterrichtssituation, so der didaktische Anspruch, in einem transparenten Verfahren kommuniziert werden soll. Bereits in der ersten Stunde erteilt Barthes dem Wohnen als bürgerlichem, auf einem familialen Zusammenleben basierendem Projekt eine klare Absage. „Die Wohnung kann nicht […] idiorrhythmisch sein“, denn das Familiensystem blockiere „jede Erfahrung von Anachorese8 oder Idiorrhythmie“ (ebd., S. 46). Die Familie bietet für Barthes keinerlei Basis für ein harmonisches Zusammenleben. Das gilt vor allem für die herkömmlichen Paarkonstellationen, die in den Überlegungen als zum Scheitern verurteiltes repressives Konstrukt ausgewiesen werden. So charakterisiert Barthes die Ehe als Folie à deux, bei der beide Partner*innen „in wechselseitigem Wahn wie mit Zement aneinander gebunden sind“ (ebd., S. 124). Bezeichnenderweise ist in Barthes’ Vortrag immer wieder von Räumen oder Typen des Domestischen wie etwa dem Hotel oder Sanatorium die Rede; die bürgerliche Familienwohnung hat einen völlig untergeordneten Stellenwert. In Hockneys Paardarstellungen erkennen Interpret*innen eine skeptische Haltung gegenüber dem Funktionieren von – heteronormativen ebenso wie queeren – Paarbeziehungen, die in der Distanziertheit der einzelnen Figuren zum Ausdruck gelange. „There seems to be a question mark hanging over the commitment of these men to each other“, heißt

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Anachorese: Eremitentum, Rückzug von der Welt.

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es zum Bild Henry Geldzahler and Christopher Scott (Livingstone/Heymer 2016, S. 101), das die Lebenspartner zusammen in einem Raum, aber sehr weit voneinander abgerückt zeigt. Bei dieser Darstellung wären sicherlich noch andere Beobachtungen wie die Adaption des Verkündigungsmotivs zu berücksichtigen,9 dennoch sind die bildräumlichen Anordnungen von Figuren in Hockneys Arbeiten grundsätzlich von Relevanz. So auch bei Mr and Mrs Clark and Percy. Hockney teilt hier den Bildraum in den Bereich von Mr Clark (rechte Bildhälfte) und den von Mrs Clark (linke Bildhälfte) auf; dadurch dass beide Figuren leicht zur Bildmitte hin- und damit aufeinander zugerückt werden, der Mann zudem den nackten Fuß in Richtung der Frau vorstreckt, als suche er tastend den Kontakt, bleibt das Verhältnis von Nähe und Distanz unbestimmt, wie in der Schwebe gehalten. Eindeutiger als die Artikulation der räumlichen Beziehungen fällt Hockneys Kennzeichnung der Clarks als unkonventionelles Paar aus. Der Maler zeigt Mrs Clark stehend, Mr Clark dagegen auf einem Freischwinger sitzend. Damit kehrt er das Anordnungsprinzip im konventionellen Paarporträt um, die dem männlichen Part die stehende Position reserviert, während die weibliche Figur eine sitzende Haltung einnimmt. Anders als zwischen den Menschen stellt Hockney zwischen Mensch und Tier einen körperlichen Kontakt her. Die körperliche Verbindung von Mr Clark und dem auf seinem Oberschenkel hockenden Percy stiftet dennoch keine (emotionale) Verbundenheit, denn beider Aufmerksamkeit gilt, wie oben erwähnt, nicht einander, sondern richtet sich auf etwas außerhalb Liegendes. Barthes thematisiert das Zusammenleben von Mensch und Tier im Zusammenhang von Domestikation. Sein literarisches Material schöpft er aus Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe von 1719. Nach seinem Schiffbruch, erläutert Barthes, lebte der gestrandete Robinson zunächst in einem Naturzustand. „Alle Brücken zur Welt [sind] abgebrochen“ (Barthes 2007, S. 68), sein Dasein gleicht dem eines Tieres. Seine (Wieder-)Menschwerdung erreiche Robinson, indem er mehrere Stufen der Kultur durchlaufe: Werkzeuge herstelle, eine Hütte baue und die systematische Domestikation von Tieren betreibe (ebd., S. 69f.). „Der Weg zum Mensch“ führe über „den Prozeß der Bemächtigung der Dinge (Werkzeuge), der Tiere (Domestikation)“ (ebd., S. 70). An ihren Schluss-

9 Zur Bedeutung des Verkündigungsmotivs bei Hockney vgl. Schuhmacher 2003, S. 45.

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punkt gelange die Hominisierung aber erst durch die Einwirkung des Affektiven. Der Mensch übernehme beim Domestizierungsprozess eine Machtposition, soll aber eine Bindung zwischen Mensch und Tier entstehen, müssen Mensch wie Tier Affekte auslösen und empfangen (können). Bei wilden Tieren, die zu Haustieren werden sollen, bedürfe es „einer Prädisposition zur Anthropophilie“ (ebd., S. 71), also der Liebe zum Menschen. Der Mensch wiederum wird überhaupt erst durch die Liebe zum Tier zum Menschen. „Erst mit dem Ziegenlamm wird Robinson Crusoe wirklich zum Menschen.“ (Ebd., S. 70) Animalität und Humanität sind für Barthes kein Gegensatz, der einer strikten Trennung von Mensch und Tier entspräche, sondern vielmehr ein „zirkuläres Thema“ (ebd., S. 74), das um Gefühle und Liebe kreist. Wäre der Mensch-Tier-Beziehung eine günstigere Prognose für ein idiorrhythmisches Leben zu stellen als dem menschlichen Paar oder der aus menschlichen Mitgliedern bestehenden Familie, bei denen nach Barthes wechselseitige Ansprüche und erotische Anziehung ein harmonisches Zusammenleben verhindern? Darauf gibt er in Wie zusammen leben keine klare Antwort. Entscheidende Voraussetzung für ein harmonisches Zusammenleben ist für Barthes, voneinander Abstand halten zu können, die Möglichkeit zur Distanzierung nennt er „das Grundproblem des Zusammenlebens“ (ebd., S. 131). Dem Paar sei wegen der diese Beziehungskonstellation grundsätzlich bestimmenden erotischen Verstrickung diese Möglichkeit verwehrt. Für eine funktionierende Gruppe bedürfe es neben der Möglichkeit, neue Mitglieder aufzunehmen oder zu verlieren – das wiederum schließt die Gruppe der Familie aus –, mindestens dreier Mitglieder. Dann könnten interpersonale an die Stelle von sexuell-intimen Beziehungen treten, die den (temporären) Rückzug erlaubten (ebd., S. 212). Die numerische Voraussetzung erfüllt die Wohngruppe auf Hockneys Bild: Sie sind zu dritt. Der Wunsch, Abstand voneinander halten zu können, scheint ebenfalls vorhanden. Aber wie und wohin sollen sich die Protagonist*innen des Bildes zurückziehen? Für Barthes wäre die Zelle als „anpassungsfähige, topologische Konstellation“ (ebd., S. 105) der ideale Rückzugsort. Kennzeichen der Zelle sind ihre funktionalen Orte sowie ihre Ordnung: „Bett, Arbeitstisch, die individuelle Ordnung der Dinge im aufgeräumten Raum“ (ebd.). Oder ein Refugium wie Robinsons Hütte als subjektiver Raum, ausgestattet mit „Zentralobjekten, mit denen sich das Subjekt tendenziell identifiziert“ und die in seiner unmittelbarer Reichweite verteilt sind (ebd., S. 185). Aus dem

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gemeinsamen Wohnzimmer müssten die Clarks also ausziehen oder – jede*r für sich – zumindest zeitweilig in einen anderen Raum wechseln. Denn das im Bild repräsentierte Zimmer lässt sich mit Barthes’ Vorstellungen kaum in Einklang bringen. Von einer Funktionalität der Orte kann keine Rede sein. Es gibt zwar einen Stuhl, aber keinen dazu passenden (Schreib-)Tisch, ein niedriges Tischchen, aber keine entsprechende Sitzgelegenheit, die Lampe steht unpraktisch auf dem Boden und ist viel zu klein, um am Abend ausreichend Licht zu spenden. Dem Telefon fehlt das Verbindungskabel, es wird damit zur funktionslosen Attrappe. Ein Identifikation anzeigendes Näheverhältnis der Figuren zu den sie umgebenden Dingen ist ebenfalls nicht auszumachen. Für die Identifizierung der Dargestellten haben die Dinge jedoch, wie ich im Folgenden zeige, durchaus Relevanz.

NAMEN/BENENNUNGEN Der dritte und letzte Teil meines Beitrags widmet sich einem Aspekt, der in Besprechungen von Mr and Mrs Clark and Percy meist an den Anfang gesetzt wird: die Frage nach der Identität der dargestellten Figuren. Hockneys Paarporträts zeigen überwiegend Freund*innen des Künstlers, oft mit Prominentenstatus. Der erwähnte Henry Geldzahler etwa war in den 1960er Jahren einer der bekanntesten Kunstkritiker der USA. Die ebenfalls mit Hockney befreundeten Eheleute Raymond ‚Ossie‘ Clark und Celia Birtwell waren zur Entstehungszeit des Bilds bekannte und äußerst renommierte Mode- und Textildesigner*innen, die ähnlich wie Mary Quant die Ära der Swinging Sixties in London prägten. Zu ihren illustren Kund*innen zählten Elizabeth Taylor oder Mick Jagger (Schuhmacher 2003, S. 37). Auf die professionelle Tätigkeit und Expertise von Birtwell und Clark weisen einige Elemente des Bilds hin: So trägt sie ein Kleid, das Ossie für sie entworfen hatte, die auf dem Boden stehende Lampe wiederum geht auf einen ihrer Entwürfe zurück (ebd.). Nicht nur dem Kleid und der Lampe ist der Stempel ihrer Zeit aufgeprägt, auch der Flokati-Teppich gehörte zum nahezu unerlässlichen Requisit von Künstler*innen- und Student*innenwohnungen der 1960er und 1970er Jahre. Das Bild an der Wand, eine Arbeit aus Hockneys Grafikzyklus The Rake’s Progress (1961–1963), schreibt zudem den Maler sozusagen als vierten Hausgenossen ein, in der Bezugnahme auf William Hogarth zusätzlich

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auf die Britishness nicht nur seiner Kunst, sondern auch der Arbeiten und des Lebens von Birtwell und Clark abhebend (Schuhmacher 2003, S. 49ff.). Der Ehename des von 1969 bis 1974 verheirateten Paares spielte weder für Birtwell und Clark selbst noch für den Freundes- und Bekanntenkreis eine größere Rolle. Celia Birtwell verwendete ihren Geburtsnamen, Ossie Clark war unter seinem – selbstgewählten – Spitznamen bekannt. Das förmliche ‚Mr‘ und ‚Mrs‘ wäre im Umgang mit den libertären Zirkeln, in denen sie verkehrten, geradezu lächerlich konventionell gewesen. Genau darauf spielt Hockney mit seiner Titelfindung an. Indem er sich an die Betitelungen bekannter englischer Paarporträts des 18. Jahrhunderts, wie Thomas Gainsboroughs Mr and Mrs Andrews von 1748/49, orientiert, erinnert er an den mit Ehe- und Familiennamen verbundenen Repräsentationsgestus; für ein Paar der Londoner Nachkriegsbohème lässt sich ein solcher Gestus nur als Persiflage lesen. Roland Barthes sieht in der Verwendung von Nachnamen eine Form der Bürokratisierung, des Einwirkens von Machtdiskursen auf das soziale Gefüge. Während der Vorname situationsabhängig sei und etwa im familiären Gebrauch Pertinenz, d. h. Zugehörigkeit zum Ausdruck bringe, werde, „wenn wir zu den Familiennamen übergehen“, diese Qualität verdrängt (Barthes 2007, S. 166). Paradoxerweise ließe damit die Nennung des Paar- und Familiennamens die Clarks aus dem Rahmen familialer Häuslichkeit herausfallen. Allein die nur mit einem Eigennamen bezeichnete Katze verbliebe im von Zugehörigkeit geprägten Konnex von Heim und Familie. Die Kennzeichnung von Tieren mit einem Eigennamen lasse sich allerdings grundsätzlich als machtvoller Akt auffassen. So definiert es Michael Rosenberger in dem mit Georg Winkler herausgegebenen Tagungsband Jedem Tier (s)einen Namen geben?, in dem nach dem Einfluss von Namensgebungen auf die Wahrnehmung tierlicher Individualität geforscht wird, wie folgt: „Natürlich ist der initiale Akt der (Eigen-)Namensgebung immer zugleich ein Akt der Machtausübung und die Konstituierung von Zugehörigkeit.“ (Rosenberger 2014, S. 2) Für Jacques Derrida ist die Namensgebung nicht auch, sondern in erster Linie ein Akt der Machtausübung des Menschen über das Tier. Während sowohl Mensch wie Tier den Namen empfangen (können), so Derrida mit Berufung auf Walter Benjamin, könnten allein Menschen einen Namen geben (Derrida 2016, S. 41ff.). Tieren sei das dagegen nicht möglich. Das eigentlich Skandalöse dieses einseitigen Vorgangs sieht

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Derrida nicht nur in der menschlichen Verfügungsgewalt über das HeimTier durch das Namensoktroi, sondern noch viel grundsätzlicher in der Subsumierung der Vielheit des Tierlichen in der unterschiedslosen Zusammenfassung in einem Namen, dem Gattungsbegriff: das Tier. „Tier, das ist ein Wort, das zu geben Menschen (hommes) sich das Recht gegeben haben. […] Sie haben sich das Wort gegeben, um eine Vielzahl an Lebenden unter diesem einen Begriff zusammenzupferchen: Das Tier (L’Animal), sagen sie.“ (Ebd., S. 59) Dem gewaltsam aufgeprägten Begriff ‚Tier‘ bzw. ‚Tiere‘ (animaux) stellt Derrida die Neuschöpfung animot gegenüber, die das Wort als – bloßes – Wort erkennen lässt (ebd., S. 68ff.).10 Hat eigentlich die Katze in der initialen Szene von Das Tier, das ich also bin einen Namen? Vermutlich ist das der Fall, den Leser*innen wird er aber vorenthalten. Es ist eine Katze, so ist dagegen zu erfahren, und nicht seine Katze, denn eine Katze gehört „niemals irgendjemandem“ (ebd., S. 25). Wenn man Derrida hier folgen will, dann müsste das Tier freilich namenlos sein und bleiben. Die Katze in Hockneys Bild hat vom Künstler einen Namen erhalten. Allerdings ist es der Erinnerung Celia Birtwells zufolge ein falscher Name. Percy sei ein sehr dicker Kater gewesen, den der Maler zu wenig attraktiv fand, um ihn ins Bild mit aufzunehmen. Anziehender schien ihm dagegen ein weiteres Heim-Tier der Clarks, eine Katze mit weißem Fell und dem dazu passenden Namen Blanche (Scott 2005). Der Name im Titel hat damit kein Pendant im Bild, die Katze im Bild keinen oder eben einen falschen Namen. Die Katze, von der er spreche, sei eine reale Katze, stellt Derrida in Das Tier, das ich also bin mit Nachdruck fest. Kein Tier, das wie etwa in Fabeln als Bedeutungsträger dient, ohne als es selbst gemeint zu sein, sondern ein Tier in seiner „unersetzliche[n] Einzigartigkeit“ (Derrida 2016, S. 28). Die Katze auf Hockneys Bild ist die bildliche Darstellung eines Tiers, die sich auf ein reales Tier bezieht, mag dieses nun den Namen Percy oder Blanche tragen. Birtwells Hinweis bringt auch diese vermeintliche Gewissheit ins Wanken. Blanche, so Birtwell, sei zwar das Vorbild für die Darstellung, nicht aber Hockneys Modell gewesen. Hockney habe dafür ein ausgestopftes Tier verwendet, „a stuffed white cat from a taxidermist, which was brilliantly funny“ (Birtwell zit. n. Sykes 2012, S. 236).

10 Das Sprachspiel, das auf dem phonetischen Gleichlaut von Pluralform und Neologismus basiert, funktioniert nur im Französischen.

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Ob man es nun spaßig findet, mit einem toten Tierkörper zu arbeiten, oder nicht, das (Ver-)Wechselspiel mit Namen und Identitäten zeugt von der Volatilität ihrer Beziehungen in Bezug auf das Bild oder generell von der Unstetigkeit einer Beziehung, die Namen mit Identitäten verbindet. CATview nennen seine Entwickler*innen das computergestützte Verfahren, das sie in Kollaboration mehrerer Fachrichtungen an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) zur Textanalyse und Textbearbeitung konfiguriert haben.11 Mit CATview wird eine Methode vorgestellt, die voneinander abweichende Passagen in Manuskriptvarianten visualisiert und dadurch z.B. kenntlich macht, was den verschiedenen Versionen eines Textes jeweils hinzugefügt oder was gestrichen wurde. CATview verspricht den potenziellen Nutzer*innen, dass es ihnen dabei hilft, während der oft von mehreren Beteiligten geleisteten Arbeit an Texten den Überblick über deren stetiges Fortschreiben zu bewahren. Mit Derrida argumentiert, machen sich die Wissenschaftler*innen zwar der Zwangsmaßnahme schuldig, das Tier, das sie im Titel aufrufen, ins Korsett der Spezies zu pressen. Indem sie aber auf ein rein physiologisches und tatsächlich für die Spezies charakteristisches Merkmal, die konzentrierte Sehkraft von Katzen, rekurrieren, scheint mir ein solches Vorgehen durchaus vertretbar. Für den Titel meines Beitrags habe ich mich aus zwei Gründen an der Bezeichnung orientiert: zum einen, weil es im Beitrag sowohl um das Sehen – und damit auch um das Sehen und Gesehen-Werden von Mensch und Katze – wie um Namensgebungen geht. Zum anderen, weil sich mein Verfahren dem in Halle-Wittenberg konzipierten insoweit nähert, als ich verschiedene Textsorten (das Bild eingeschlossen) vergleiche, etwas hinzufüge bzw. Übersehenes (wieder) sichtbar mache.

11 CATview. the Coloured and Alligned Texts view, inhaltlich verantwortlich: Paul Molitor; Jörg Ritter, catview.uzi.uni-halle.de/ (21.12.2021).

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Literatur

Barthes 2007 Barthes, Roland: Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France 1976–1977, hg.v. Eric Marty, übers. v. Horst Brühmann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. Derrida 2016 Derrida, Jacques: Das Tier, das ich also bin, hg. v. Peter Engelmann, übers. v. Markus Sedlaczek, Wien: Passagen 2016. Köhring 2015 Köhring, Esther: Jacques Derrida, in: Roland Borgards; Esther Köhring; Alexander Kling (Hg.): Texte zur Tiertheorie, Stuttgart: Reclam 2015, S. 260–287. Livingstone/Heymer 2016 Livingstone, Marco; Kay Heymer: Hockney’s Portraits and People, London: Thames & Hudson 2016. Mallet 2016 Mallet, Marie-Louise: Vorwort, in: Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin, hg. v. Peter Engelmann, übers. v. Markus Sedlaczek, Wien: Passagen 2016, S. 11–16. Marty, Éric 2007 Marty, Éric: Editorisches Vorwort, in: Roland Barthes: Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France 1976–1977, hg.v. Eric Marty, übers. v. Horst Brühmann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 11–21. Pace 2011 Pace, Melanie: Melanie Pace discusses November’s Masterpiece at Dulwich Picture Gallery – David Hockney’s Mr and Mrs Clark and Percy (Masterpiece a Month – November), in: Youtube-Kanal der Dulwich Picture Gallery, 14.11.2011, https://www. youtube.com/watch?v=8vGMYoeDcbU (21.12.2021). Panofsky 1980 Panofsky, Erwin: Die Perspektive als „symbolische Form“, in: ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. v. Ha-

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riolf Oberer; Egon Verheyen, Berlin: Spies 1980, S. 99–167. Rosenberger 2014 Rosenberger, Michael: Jedem Tier (s)einen Namen geben? Eine Einführung, in: ders.; Georg Winkler (Hg.): Jedem Tier (s)einen Namen geben? Die Individualität des Tieres und ihre Relevanz für die Wissenschaften, Linz: Katholische Privatuniversität Linz 2014, S. 1–8, ku-linz.at/ fileadmin/user_upload/Publikationen/ LiWiRei/liwirei-band_7.pdf (1.4.2022). Schuhmacher 2003 Schuhmacher, Angela: David Hockney. Zitate als Bildstrategie, Berlin: Reimer 2003. Scott 2005 Scott, Kristy: Hockney makes the greatest painting shortlist, with the wrong cat, in: The Guardian, 19.8.2005, www.theguardian.com/uk/2005/aug/19/arts. artsnews (21.12.2021). Sykes 2012 Sykes, Christopher Simon: David Hockney. The biography, 1937–1975, New York: Nan H. Talese 2012. Wild 2014 Wild, Markus: Das Tier als ein Anderer? Zu Jacques Derridas Tierphilosophie, Vortrag an der Universität Basel 2014, Manuskript auf www.academia.edu/6047035/Derri das_Tierphilosophie_2014 (21.12.2021).

Bildnachweise

Abb. 1: Helen Little (Hg.): David Hockney. Moving Focus. Works from the Tate Collection, Tate Publishing: London 2021, S. 131.

Photographer Lina Scheynius documents the most intimate moments of her partnerships: naked bodies, (hetero)sexual desire, sexual intercourse. What appear to be personally furnished bathrooms and bedrooms point to private dwelling spaces as the locations of these atmospheric studies of the body. Scheynius (re)produces an imagination of the domestic as a site of common body images and hetero-normative sexuality. Concrete analyses of the objects also reveal references to image compositions shaped by sexism that tie in with theories of “pornotopian seeing” (Hentschel 2001). Nevertheless, a pop-cultural reception of Scheynius’ photographs attributes to them potential as a feminist image critique. This paper asks whether, and if so how, the photographer is able to visualize feminist empowerment. The author posits that Scheynius articulates this precisely with the help of the domestic – both within and with the image\space.

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UNTITLED (MY BED). ZUM DOMESTISCHEN ALS FEMINISTISCHER BILDSTRATEGIE BEI LINA SCHEYNIUS Seit Anfang der 2000er Jahre dokumentiert die Fotografin Lina Scheynius intimste, aber auch alltäglichste Momente ihrer Sexualität und ihrer Partnerschaften: Lust und sexuelles Begehren, (heterosexuellen) Geschlechtsverkehr, nackte und ineinander verschlungene Körper.1 Häufig gibt die Künstlerin in ihren mal schwarzweißen, mal in Farbe aufgenommenen Fotografien Hinweise auf die räumliche Situierung dieser zwischenmenschlichen Beziehungen. Vermeintlich persönlich eingerichtete Küchen, Bade- oder Schlafzimmer verweisen auf private Wohnräume als Orte jener körperlichen Interaktionen: So zeigt untitled (diary) (2001–2006) (Abb. 1) das verschwommene Bild eines Paares beim Geschlechtsverkehr. Die junge Frau steht nach vorne gebeugt am offenen Fenster, als würde sie nach draußen schauen. Der unbekleidete Mann, der sich an ihren Hüften festhält, steht hinter ihr und hebt ihren Rock.2 Zunächst scheinen solche Bilder an ein eher konventionelles Verständnis des Domestischen anzuknüpfen: Augenscheinlich reproduziert Scheynius

1 Der folgende Aufsatz basiert auf meiner im Juli 2015 an der LudwigMaximilians-Universität München im Fach Kunstgeschichte eingereichten Masterarbeit mit dem Titel: REAL SEX: Zum fotografischen Blick auf den Körper und der medialen Verräumlichung von Geschlechterkonzepten im künstlerischen Werk der Fotografin Lina Scheynius. Betreut wurde diese Abschlussarbeit von Prof. Dr. Burcu Dogramaci. Ihr – sowie allen damaligen Korrekturleser*innen und Gesprächspartner*innen – gilt mein herzlicher Dank. 2 Vgl. für einen Überblick die Webseite der Fotografin: https://www.lina scheynius.com/.

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1  Lina Scheynius: untitled (diary), 2001–2006

mit und in ihren Aufnahmen eine bürgerliche Vorstellungswelt des Domestischen als Ort heteronormativer Sexualität und binärer Geschlechterkonstrukte. Mit wenigen Ausnahmen – etwa jene, in denen sich die Fotografin dem Tod ihres Großvaters oder der Sexualität eines älteren Paares widmet, das sie bei der Produktion eines Aufklärungsbuchs für Erwachsene kennenlernte – schreiben gerade ihre frühen Fotografien, die hier im Zentrum stehen sollen, gängige Körperideale und Schönheitsvorstellungen fort: Scheynius’ Bildwelten, mit denen die Fotografin in den frühen 2000er Jahren bekannt wurde, zeigen vornehmlich sehr schlanke, trainierte und junge Körper nicht behinderter, weißer Menschen. Dieser Eindruck einer auf den ersten Blick wenig diversen Reproduktion hegemonialer Körper- und normativer Geschlechterbilder verstärkt sich dadurch, dass wir zu keinem Zeitpunkt Bilder einer vermeintlich geschlechtlichen oder auch sexuellen Devianz von einer bürgerlichen Norm sehen. Auf den ersten Blick werden weder etablierte (weiße) Körpernormen dekonstruiert noch Erscheinungsweisen eines besonderen sexuellen Fetischs, Ausdrucksformen eines queeren Begehrens, gleich-

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geschlechtliche Sexualität oder auch Geschlechtsverkehr jenseits einer konventionellen Zweierbeziehung ins Bild gesetzt. Dennoch schreibt eine bisher fast ausschließlich popkulturelle Rezeption Scheynius’ Fotografien das Potenzial einer feministischen Bildkritik zu (vgl. Doyle 2017; Dietzel 2019; Perdue 2020). Dies scheinbar, obgleich – oder vielleicht auch gerade weil – konkrete Gegenstandsanalysen (kunsthistorische) Referenzen auf tradiert männliche und sexistisch geprägte Bildkompositionen zu erkennen geben, die das Begehren außerhalb des Bildraums ansiedeln und an Theorien eines pornotopischen Sehens (Hentschel 2001) anknüpfen. Im Folgenden soll daher geprüft werden, ob und wenn ja wie Lina Scheynius eine künstlerische Kritik an traditionellen Beziehungsund Geschlechterkonstrukten gerade mithilfe des Domestischen fotografisch zu verbildlichen vermag. Im Vordergrund stehen dabei folgende Fragen: Welche visuellen (Bild-)Strategien entwerfen dieses Domestische? Auf welche tradierten Semantiken von Privatheit und Wohnen referiert Scheynius in ihren Bildern sowie in deren Anordnung zueinander? Und wie kann dieses als traditionell weiblich codierter Ort geltende Domestische als ein Raum feministischer Kritik gelesen werden?

DER FEED ALS HYPERIMAGE Früh entschied sich Lina Scheynius dazu, ihre schnappschuss- und tagebuchartigen Aufnahmen über das Internet zu teilen. Bereits Mitte der 2000er Jahre etablierte sich die Autodidaktin als eine Art frühes Online-Phänomen über erste Fotografie-Plattformen wie Flickr und Tumblr, die 2004 bzw. 2007 gelauncht wurden. Schnell gingen die Aufnahmen ihrer vermeintlichen Fototagebücher viral: Sie profitierten von einer neuen Praxis des digitalen Bilder-Verteilens (vgl. Gerling et al. 2018) und einer augenscheinlichen „Shareability“ (Brantner et al. 2020, S. 9). Vielfach wurden die Bilder gelikt, kommentiert und auf unzähligen weiteren Profilen geteilt. In einem Text über Scheynius’ bildnerisches Schaffen heißt es in einem Fashion- und Kulturjournal daher auch: „At the dawn of photo-sharing online platforms, anyone looking for artistic inspiration has stumbled upon a Lina Scheynius photograph on Tumblr or Flickr.“ (Stamouli 2021) Mit teils verträumten, teils höchst intimen Bildwelten schien Scheynius dem Zeitgeist zu entsprechen und erreichte so sukzessive eine breite mediale Öffentlichkeit. Ähnlich der gegenwärtig

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dominierenden Bild-App Instagram betonten bereits die personalisierten Feeds dieser ersten Fotosharing-Plattformen weniger die Einzelbilder selbst als vielmehr ihre plurale Anordnung untereinander. Abbildung 2 vermag das zu verdeutlichen: Es ist ein im Frühsommer 2015 während erster Forschungen zu Dokumentationszwecken entstandener Screenshot des tumblr-Profils der Künstlerin, das heute nicht mehr online ist. Obwohl es sich dabei nur um einen kleinen Ausschnitt desselben handelt, zeigt dieser, wie sich die charakteristischen Fotografien der Künstlerin vor dem vermeintlich zurückgenommenen und cleanen Hintergrund eines virtuellen White Cubes in unregelmäßigen Abständen und wie zufällig arrangiert über den Bildschirm verteilen. Die Fotografin indiziert damit die ästhetische Erscheinungsform algorithmisch vernetzter Bilder, die sich in den vergangenen Jahren zu einem zentralen Topos fotografischer Praktiken in der digitalen Bildkultur entwickelt haben (vgl. Gerling et al. 2018; Rothöhler 2018; Gunthert 2019; Brantner et al. 2020). Die online potenziell endlosen Bildensembles eines solchen Feeds wiederholen sich in der Hängung ihrer gerahmten Prints im Ausstellungsraum und in den reduziert gestalteten Fotobüchern, die Scheynius seit 2008 im Selbstverlag herausbringt.3 Die Rezeptionsumgebungen beider Displays folgen in ihrer kuratorischen und publizistischen Gestaltung dem Online-Auftritt der Fotografin, dessen Anordnungsweisen sich damit als zentrales Element der Bildrezeption erweisen. Da Scheynius ihr Frühwerk zunächst ausschließlich über diese virtuellen Plattformen etablierte, so mein Ausgangspunkt, muss es vor allem in der Summe der Einzelbilder gedacht und stets in seiner seriellen Vielfalt als hyperimage (vgl. Thürlemann 2013) einer zwar primär digitalen, aber zugleich auch analogen Displaykultur der Fotografie analysiert werden. Das äußert sich nicht zuletzt darin, dass Scheynius ihre frühen Fotografien erst im Nachhinein – und zudem nur teilweise – zu übergreifenden Serien ordnete oder überhaupt mit Bildtiteln versah. Mit einer rhizomatischen Präsentationsform knüpft die Künstlerin aber an ein prinzipiell bereits seit Mitte der 1980er Jahre beliebtes Ausstellungsformat einer Generation von Fotograf*innen an, deren Werke sich auch inhaltlich durch ein spezifisches Authentizitäts- und Partizipationsversprechen auszeichnen (vgl. Becker 2002 und 2010; Thürlemann 2013; Schürmann

3 In einer Auflage von 1.000 Stück erschien 2019 bei Jean Boîte Éditiones eine Editions-Box mit den elf bis dato produzierten Fotobüchern der Künstlerin (Scheynius 2019).

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2  Ausschnitt aus dem tumblr-Profil von Lina Scheynius, 2015; die Seite ist heute nicht mehr aktiv

2020). In der Kunst- und Medienlandschaft der 1990er Jahre erleben vermeintlich intime und private Szenen im Allgemeinen eine Konjunktur (vgl. Zanichelli 2015). Elena Zanichelli bezeichnet diese umfassende inhaltliche sowie formale Ausbreitung von detailreichen Geständnissen aus Privat- und Intimleben als „Privatismen“ und skizziert sie unter Bezugnahme auf den Filmkritiker Georg Seeßlen als eine „Dramatisierung von banalem Alltagsgeschehen“ (ebd., S. 91, S. 325; Seeßlen 2000, S. 104f.). Sie betont damit auch das intentionale Moment hinter nur scheinbar zufällig angeordneten Einzelbildern. Im fotografischen Werk von Lina Scheynius, die ich als Teil einer in jenen Semantiken des Privaten unmittelbar sozialisierten Folgegeneration begreife, artikuliert sich diese Dramatisierung über das Bildsujet vermeintlich intimer Schnappschüsse in wohnlicher Umgebung sowie über die räumliche Form ihrer medialen Präsentation. Beide Elemente, so meine These, müssen in einer Analyse des Domestischen in den Fotografien von Scheynius unter Bezugnahme aufeinander untersucht werden. Im Folgenden werden daher zunächst die räumlichen Präsentationsweisen ihrer Aufnahmen und sodann die Bildsujets selbst analysiert.

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VISUELLES TEILHABEVERSPRECHEN Einerseits vermittelt also bereits die räumliche Anordnung der Bilder zueinander eine visuelle und affektive Teilhabe der Rezipient*innen an der beziehungsräumlichen Umwelt der Künstlerin: Betrachter*innen werden mit ihr zu Partizipierenden intimer Atmosphären, durch die User*innen selbstbestimmt scrollen, swipen, zoomen – also: navigieren – können. Die Erfahrung des abgebildeten Augenblicks scheint über dessen visuelle Rezeption selbst nachvollzogen werden zu können. Dies umso mehr, als gerade Fotografien in den sozialen Medien vornehmlich der Kommunikation und Vermittlung von Erfahrungen dienen und nicht zuletzt über Möglichkeiten der digitalen Interaktion (liken, sharen, kommentieren etc.) suggerieren, die Betrachter*innen könnten am vermeintlichen Alltag selbst unbekannter Personen teilnehmen: „The social photo“, schreibt Nathan Juergenson zu diesem ästhetischen Teilhabeversprechen, „finds its purpose not in the image object itself but in the transmission of the movement as it presents itself. Circulation is the content and experience is what is offered and shared. […] For a documentary consciousness, photographs are not just representations of movement of life; life itself becomes shaped by the logic of documentation.“ (Juergenson 2019, S. 23–28) Ilka Becker betont angesichts einer Zunahme partizipatorischer Projekte sowie einer evidenten Politik der Erfahrung in den Jugend- und Subkulturtopoi künstlerischer Produktionen der Jahrtausendwende, dass in solch stimmungsvoll-affektiven Bildarrangements, wie es auch die frühen Flickr- und Tumblr-Feeds von Scheynius waren, weniger das Einzelbild eine repräsentative Funktion übernimmt, sondern vielmehr „die Art und Weise des Umgangs mit und der Einsatz von Bildern, das Milieu, in dem sie zirkulieren und signifikant werden“ (Becker 2002, S. 211). Zwar würden die Einzelbilder angesichts einer solchen Vielheit von Bildern keinesfalls unwichtig, denn letztlich eröffnet das Zusammentreffen spezifischer Bildsujets in ihrer Kombinatorik einen bestimmten Assoziationsraum. Die Zusammenstellung der Einzelaufnahmen bilde jedoch die spezifische Situation eines sozialen und bildtheoretischen Zusammenseins ab, die das Desiderat aufrufe, so Becker weiter, mit dem atmosphärischen wie auch dem abgebildeten Bildraum „mimetisch verschmelzen zu wollen, sich ihren symbolischen Raum, ihren Kontext anzueignen und zum Teil des eigenen biografischen Entwurfs zu machen“ (ebd., S. 213). In den „dezentralisierten Ensembles“ (vgl. Becker 2010, S. 127–157) wird auf diese

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Weise auch ein interessierter Blick erzeugt. Im etymologischen Wortsinn von ‚interessiert‘ als „inter-esse, Dazwischen-Sein“ und damit als „,teilnehmen‘ oder ,teilnehmen an‘“, kann der interessierte Blick mit Kerstin Brandes auch als teilnehmender Blick verstanden werden (Brandes 2010, S. 48). Mit Becker lässt sich noch einmal hinzufügen, dass stimmungsvoll-intime und ins Räumliche auslappende Dekore diesen interessierten auch als einen unprivilegierten Blick kennzeichnen. Er ziele darauf ab, Subjekte auch „jenseits hierarchisierender Regimes zu inszenieren, Männern und Frauen als Partner entlang beweglicher, diversifizierter Momente von Begehren, Lust und freundschaftlicher Liebe zu verorten“ (Becker 2002, S. 212). Jener vermeintlich ,unprivilegierte‘ Blick, wie ihn auch die Bildanordnung bei Scheynius evoziert, suggeriert somit eine Form von Egalität und Nähe zwischen den abgebildeten Subjekten im Bild ebenso wie zwischen diesen und den Rezipient*innen der Bilder. Andererseits potenziert sich jenes Identifikationsangebot nicht alleine über atmosphärische Bildensembles, sondern auch über die bildinterne Reproduktion einer konventionellen Vorstellungswelt des Domestischen: In den Aufnahmen von Scheynius artikuliert sich diese über die Rahmung ihrer expliziten Körperdarstellungen in traditionell als privat codierten Räumen wie Schlaf- oder Badezimmern. Die Fotografin zeigt vornehmlich ihren und den nackten Körper ihrer Partner unter der Dusche, in der Badewanne oder inmitten von weißbezogenen Decken und Kissen in durchwühlten Matratzenlandschaften. Neben bisweilen starken Unter- oder Aufsichten auf die unbekleideten Körper, die ebenso wie leichte Unschärfen eine innerbildliche Dynamik und teilnehmende Perspektive evozieren, dienen Fenster im Bildhintergrund oder angeschnittene Türrahmen und Duschvorhänge im Bildvordergrund häufig als Visualisierungen einer konventionellen Innen-Außen-Struktur, die das Eindringen der Kamera und damit auch das Eintreten der Rezipient*innen in das Innere von (Bild-)Räumen, in Leben, Beziehungen und letztendlich auch in Körper impliziert (Abb. 1). Irene Nierhaus beschreibt solche innerbildlichen Raumgrenzen, als die etwa Fenster, Türrahmen oder Duschvorhänge verstanden werden können, als „Verkreuzungen von Innen und Außen, die historisch als aufeinander bezogene Gegensätze und letztendlich als zu Natur gewordenen Zeichen der Geschlechterdifferenz organisiert werden“ (Nierhaus 1999, S. 36).

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DER BEZIEHUNGSRAUM IM BILD UND DAS BILD ALS BEZIEHUNGSRAUM Mit der Situierung ihrer Modelle in Bett oder Badezimmer referiert Scheynius augenscheinlich auf eine Präsenz dieser pseudoprivaten Topoi in der zeitgenössischen Kunst. Dort fungieren diese meist als „Authentisierungsmaschinen“ (Sabine Kampmann zit. n. Zanichelli 2015, S. 183) und werden so auch als biografische Bekenntnisse der jeweiligen Künstler*innen begriffen. Zugleich knüpft Scheynius mit diesen Bildsujets an berühmte Vor-Bilder einer kanonisierten Geschichte dokumentarischer Fotografie an, als deren bekannteste Vertreter*innen unter anderem Nan Goldin oder Diane Arbus gelten. Beide Fotografinnen bilden vor allem vermeintliche Außenseiter*innen der US-amerikanischen Gesellschaft in deren privaten Umfeld ab. Matratze, Bett und Badewanne treten bei ihnen, so schreibt es Angelika Bartl zum dokumentarischen Blick ins Wohnen der Anderen, als Bühne für ungewöhnliche Lebensentwürfe in Erscheinung, auf der die Körper in ihrer soziopolitischen, aber auch ganz individuellen Vulnerabilität inszeniert werden (vgl. Bartl 2016, S. 298). Wenngleich zeithistorische, mediale und soziopolitische Differenzen Scheynius von den beiden Fotografinnen trennen, hat sie mit ihnen gemein, dass die Vorstellung des Privatraums als „intimer Rückzugsort“ (ebd.) trotz seiner stets neu verhandelten Trennlinien grundsätzlich nicht aufgegeben wird, sondern, so betont Bartl, weiterhin als geschützter Entfaltungsraum für verschiedene Lebensformen, für offenherzige Nacktheit und ungehemmte Sexualität verstanden wird. Dies, obgleich gerade Goldins berühmte Serie Ballad of Sexual Dependency (1985) mit visuellen Zeugnissen häuslicher Gewalt eindrücklich zu verdeutlichen vermag, wie schnell jener geschützte Entfaltungsraum zum Gefahrenraum werden kann. Gleichzeitig grenzt sich Scheynius insofern von beiden Vor-Bildern ab, als das Domestische in ihren Fotografien eine weniger eindeutige Rebellion gegen die heteronormative, „bürgerliche Zurichtung des Privaten“ sichtbar macht (ebd.), wie sie Bartl für die Bildwelten von Arbus und Goldin noch als konstitutiv beschreibt. Auch bleibt Scheynius nie alleine Beobachterin jener intimen Szenen, die sie dokumentiert, sondern ist stets Teil derselben. Meist kreist die Kamera um ihren eigenen schlanken Körper und dessen Interaktion mit dem jeweiligen Partner. Das mag auch daran liegen, dass eine

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Vielzahl der Aufnahmen, die Scheynius unter ihrem Namen ausstellt, vielmehr als Gemeinschaftsproduktionen zu begreifen sind: Vielfach lassen Kamerapositionen oder Blickwinkel darauf schließen, dass für Paaraufnahmen etwa Selbstauslöser zum Einsatz kommen (Abb. 1). Ohne eine Ontologisierung von Bild und Maschine zu re-aktivieren, schreibt das der Kamera eine spezifische Form der Teilhabe zu: Stellvertretend für die Rezipient*innen beobachtet und dokumentiert sie die Beziehungen der Fotografin. Zugleich scheinen viele jener Bilder der sich unter der Bettdecke räkelnden oder in der Badewanne liegenden Künstlerin vom jeweiligen Partner geschossen worden zu sein. Etwa dann, wenn eine Fotografie seinem Blick am eigenen unbekleideten Körper hinunter auf sein steifes Glied folgt, vor dem die Künstlerin sich positioniert hat. Obwohl Scheynius auch diese Bilder unter ihrem eigenen Namen vertreibt, unterstreicht das deren Status als Verdinglichung eines Beziehungsraums, als ein semantischer Konnex, in dem und mit dem sich soziale Relationen verdichten. Auch in Bildkompositionen, bei denen die Fotografin scheinbar eindeutig selbst hinter der Kamera steht, bringt sie sich regelmäßig in das erotische Bildgeschehen ein. Hier schmiegt sich die Wange des Partners an ihre von außerhalb des fotografischen Rahmens in das Bild hineinragende Hand, dort umgreift selbige (s)einen erigierten Penis, der aus dem weit geöffneten Reißverschluss einer Jeans herausragt. Mehrmals lässt sich zudem ein Bildmotiv entdecken, in dem die Fotografin eines ihrer langen Beine in den Ausschnitt des Suchers und in Richtung des männlichen Körpers streckt, der im dampfenden Wasser der Badewanne liegt oder, wie in Abbildung 3, unbekleidet auf dem weiß bezogenen Bett. Hier fallen zudem lange blonde Haarsträhnen in den Bildausschnitt. Sie rahmen die Bildkomposition, in der sich der Blick der Fotografin mit den Blicken der Rezipient*innen überlagert. Auf diese Weise schafft sie eine Art Brücke zwischen der außerhalb und der innerhalb des Bild- und Wohnraums verankerten Begierde. Scheynius macht sich so explizit zum Teil des Dargestellten. Sie formuliert ihre aktive Teilnahme am Bildgeschehen und ihre Begierde am Abgebildeten, aber auch ihre Besitzansprüche an diesen. In unzähligen solcher Paar- und Selbst-Porträts markiert sie zwar offensiv ihre Rolle als Bildschaffende, doch stets wird deutlich, dass diese Porträts zugleich als Inter-Aktion zwischen verschiedenen Akteur*innen begriffen werden müssen.

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PRODUKTIVE ZERSTÖRUNG, PORNOTOPISCHES SEHEN, CIRCLUSION Bisweilen übernimmt Scheynius unverkennbar maskulinistisch geprägte Blicklogiken. Ihre eigene Position changiert stets zwischen der Rolle als fotografiertem Objekt und fotografierendem Subjekt. Klassischen Apparatusmetaphern wie jener der phallischen Kamera setzt sie feministische Konzepte des Fotoapparats entgegen, um dessen kulturell tradierte, sexistische Determinanten sichtbar zu machen, zu befragen und herauszufordern. Dies wird insbesondere in der Gegenüberstellung zweier Selbstporträts deutlich: Mit engem Ausschnitt zeigt die Aufnahme untitled (diary) von 2013 einen auf ebener Fläche sitzenden Unterkörper, dessen gespreizte Schenkel den Blick der Betrachter*innen in Richtung der angedeuteten Vulva leiten (Abb. 4). Ein vertikaler, spektralfarbener Lichtstrahl, der sich deutlich auf der weißen Unterhose der Abgebildeten abzeichnet, antizipiert affektiv die nicht-sichtbare Öffnung des Geschlechts. Wie der Taglio (Schnitt) durch die Leinwand in den berühmten Concetti Spaziali (Raumkonzepten) des italienischen Avantgardekünstlers Lucio Fontana evoziert dieser angedeutete Schnitt durch den Bildraum das physische Eindringen in diesen ebenso wie eine kunsthistorische und soziopolitische Praxis der produktiven Zerstörung: Die zentralperspektivisch organisierte Bildraumordnung impliziert eine Inversion von illusionistischem Tiefenraum und Vagina und damit die Lust der Betrachter*innen, in diesen Bildraum einzudringen. Folgen wir der Theorie Linda Hentschels zu den Techniken eines pornotopischen Sehens, wird die implizite Tiefe des Bildes zum Zentrum einer Aktion bzw. Narration und damit zu einem Synonym für Penetration (vgl. Hentschel 2001, S. 27). Es scheint nahezuliegen, die Fotografin demnach als „phallische Frau“ zu begreifen, wie sie etwa die Kulturhistorikerin Angela McRobbie in ihrer Streitschrift Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes (2010) skizziert. In deren These eines ökonomisch vereinnahmten ,Postfeminismus‘ erscheinen Motive der Selbstbestimmung oder der bewussten Verwendung kritisierter Darstellungsformen nur oberflächlich als feministisch, denn das Ziel der Ausstattung junger Frauen mit phallischen Merkmalen sei es, „ein neues Regime sexueller Bedeutungen, das sich auf weibliche Zustimmung, Gleichgültigkeit, Teilhabe und Lusterfüllung stützt, dabei aber unpolitisch ist“ (ebd., S. 40), zu etablieren. Diese von McRobbie als eine Form des ,Antifeminismus‘ beschriebene Affirmation patriarchaler Blickstrukturen vermag sich im Gesamtwerk von Scheynius zwar über die

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Nutzung neoliberaler Online-Plattformen zu äußern, die auf eine Privatisierung des Öffentlichen statt auf eine Veröffentlichung des Privaten zielen. Sie ließe sich auch angesichts der zahlreichen schonungslosen Präsentationen entindividualisierter Liebhaber in lustvoller Erregung oder postkoitaler Erschöpfung konstatieren. Letztere schließen an eine kunsthistorische Tradition vornehmlich weiblicher Aktdarstellungen an und erinnern in ihren räumlichen Rahmungen an die „Bildtradition der künstlerischen Darstellung von Frauen bei der Toilette, die“, so schreibt etwa Lars Spengler, „vielfach als Vorwand zur voyeuristischen Feier der Sinnlichkeit nackter weiblicher Körper diente“ (Spengler 2011, S. 214). So wichtig eine materialistische Kritik wie diejenige McRobbies ist, so reduktionistisch wirkt sie doch angesichts der Lebenswirklichkeit vieler junger Frauen*4, für deren digitale Körperperformances auch andere Interpretationen denkbar sind. In den Selbstporträts von Lina Scheynius jedenfalls, so die These, blitzen Momente fotografischer Handlungsmacht auf, die mittels verschiedener Bildstrategien behauptet wird: Die Künstlerin formuliert diese etwa insofern, als sie sich einer starren Zuschreibung als passivem Objekt oder handelndem Subjekt entzieht und damit eine „krisenhafte Doppelposition“ einnimmt (Matern 2023), wie es Melinda Matern im Anschluss an Silvia Eiblmayrs bekanntes Statut der „Frau als Bild“ (Eiblmayr 1993) für viele Selbstporträts feministischer Fotograf*innen in den sozialen Medien formuliert. Denn im Unterschied zu Gustave Courbets berühmtem Gemälde L’Origine du monde (1866), zu dem sich offensichtliche bildkompositorische Referenzen ziehen lassen – entindividualisierter weiblicher Unterkörper, zentralperspektivischer Fokus auf die Öffnung des Geschlechts etc. –, lässt Scheynius den Blick der Betrachter*innen in der Fotografie des weiblichen Torsos am Stoff der Unterhose als einer sowohl materiellen wie auch illusionistischen Grenze abprallen. Mit dieser Ambivalenz, so die Argumentation, weist Scheynius tradierte Rollenzuschreibungen und Erwartungshaltungen subtil, aber vehement zurück und bringt eine traditionelle Blickhierarchie ins Wanken. Das wiederholt sich auch in einem etwas jüngeren Selbstporträt der Künstlerin. Es zeigt die Fotografin scheinbar unbekleidet und aufrecht sitzend auf einem mit dunklen und

4 Diese Schreibweise soll auf den Aspekt der sozialen Konstruktion von Geschlecht aufmerksam machen. Ohne das politische Subjekt Frau zu negieren, grenzt sie sich von einer biologischen Lesart von Geschlecht ab und meint hier alle Personen, die als Frauen wahrgenommen werden.

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3  Lina Scheynius: untitled (diary), 2001–2006

schweren Bezügen ausgestatteten Bett. Der abgebildete Raum vermittelt weniger den Eindruck eines privaten Wohnraums denn den eines unpersönlichen Hotelzimmers. Über das Interieur dieses Settings, etwa die zugezogenen schweren Vorhänge im Bildhintergrund, wird zwar der Ausschluss einer außerhalb des Zimmers gewähnten Öffentlichkeit, aber zugleich der Einschluss der Betrachter*innen im Bildraum vollzogen. Anstatt den pornotopischen Wunsch abzuweisen, „dort drin zu sein wie in einem anderen, weiblichen Körper“ (Hentschel 2001, S. 12), intimisiert dieser Ein- bzw. Ausschluss den Bildraum zusätzlich. Mit grellem Blitzlicht und aufrechtem, die Betrachter*in konfrontierendem Blick fotografiert Scheynius ihr nacktes Spiegelbild, das von einer floralen Wandtapete gerahmt wird und den Blick auf einen weiteren Spiegel im Hintergrund des Zimmers freigibt. Das Motiv des Spiegels, das den nackten Körper hier rahmt, kann eine Metapher für die Funktionsweise analoger Fotografie sein, indiziert Spengler zufolge aber immer auch – oder: gerade deshalb – rationale Selbstbefragung.

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Scheynius hält die Kamera vertikal zwischen ihren gespreizten Beinen und vor ihrem Intimbereich, den der große Apparat gänzlich verdeckt. In der Gegenüberstellung beider Aufnahmen kann die Vagina als Ort der aktiven, aber auch der passiven Penetration beschrieben werden. Die Kamera selbst wird dabei zum Apparat dieser visuellen Penetration und gleichzeitig zum Gegenstand ihrer expliziten Abwehr. Noch in der vermeintlich intimsten Situation ermöglicht er der Fotografin eine Kontrolle über das, was letztendlich bewusst zu sehen gegeben wird. Die runde Linse des geöffneten Objekts, die sich den Betrachter*innen anstelle der Geschlechtsöffnung darbietet, ist dabei auch derjenige Ort, an dem das einfallende Licht gebündelt und von den Sensoren zur Bilddatei gewandelt wird. Anstatt diesen Vorgang jedoch als Akt des Eindringens in den (Maschinen-)Körper und damit als Form der (fotografischen) Reproduktion zu biologisieren, soll er hier vor der Folie einer feministischen Bildpolitik in Anlehnung an den Begriff der Circlusion verstanden werden. Von Bini Adamczak prominent in den deutschsprachigen Diskurs und eine feministische Sprache über Sexualität eingeführt, impliziert er die explizite Abkehr von einer Rede der sexuellen Penetration,

4  Lina Scheynius: untitled (diary), 2013

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5  Lina Scheynius: untitled (diary), 2014

die „noch immer das heteronormative Imaginäre regiert und […] das queere […] noch dazu“ (Adamczak 2016). Denn Circlusion meint den Akt des aktiven Umschließens (von Penis, Dildo, Finger etc.) durch verschiedene (Körper-)Öffnungen und wird deshalb als gegenhegemoniales Konzept des Widerstands gegen binäre Geschlechter gefeiert, weil es nur noch (Körper-) Öffnungen und deren Potenzial kennt, Objekte aktiv zu umschließen.

REAL SEX Die vermeintlich schnappschussartigen Fotografien von Lina Scheynius müssen in ihrer Pluralität wie auch im Einzelbild als wohlüberlegte Kompositionen begriffen werden, in denen das Domestische und der Körper einer „Kodierung des residual Realen“ dienen (Frohne 2002, S. 404). Bei Scheynius kann diese Repräsentationspolitik als Artikulation einer fotografischen Handlungsmacht und damit auch als Form eines feminis-

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tischen Empowerments gelesen werden, dem nicht zuletzt eine subtile Intervention in die gängige Vorstellung dessen attestiert werden kann, was vom weiblichen* Körper normalerweise zu sehen gegeben werden darf: Denn ungeachtet einer Omnipräsenz von Bildern sexualisierter Frauenkörper scheinen Bilder selbstbestimmter weiblicher* Sexualität bis heute unterrepräsentiert. Der Versuch, dieses Ungleichgewicht mittels einer oberflächlichen Affirmation traditioneller Weiblichkeitsbilder zu unterlaufen, manifestiert sich in einer weiteren Reihe von Fotografien. Spezifische Fragmente stören hier den visuellen Genuss des pornotopischen Sehens, um andere Bilder weiblicher* Sexualität zu sehen zu geben. So zeigt die Fotografin in Abbildung 5 etwa einen behaarten Venushügel, freigelegt durch eine in das Bild eingreifende Hand, die eine rosafarbene Spitzenunterwäsche vom Körper wegzieht. Interessant ist hier zweierlei: Bereits eine Andeutung von weiblicher* Intimbehaarung wird in sozialen Medien wie Instagram oder TikTok oftmals als Verstoß gegen die Community-Guidelines gewertet und führt vielfach zum sogenannten shadow banning, bei dem User*innen für die Missachtung dieser Guidelines bestraft werden sollen. Ihre Profile sind dann für eine gewisse Zeit nicht mehr über die Such-Funktion zu finden.5 Für Influencer*innen oder Künstler*innen bedeutet das meist eine spürbar geringere Reichweite und damit auch erhebliche Einnahmeeinbußen. Den Betrachter*innen dieses behaarten Intimbereichs nun, deren Perspektive sich mit der des abgebildeten Körpers überlagert, wird eine helle gallertartige Körperflüssigkeit präsentiert, die sich deutlich auf dem transparenten Innenstoff der Unterwäsche abzeichnet. Der (rosa) Spitzenslip selbst ist ein wiederkehrendes Motiv bei Scheynius. Seine Körperlichkeit evoziert Taktilität und Sexualität. Stets in Pastellfarben, zitiert die Künstlerin mit ihm auch die betont verspielte Ästhetik eines gegenwärtigen Popfeminismus. Materialikonografisch greift das Textil Spitze die Ambivalenzen zwischen Innen und Außen auf. Seine materiellen Eigenschaften und sozialen Bedeutungszuschreibungen bewegen sich zwischen verspielt, bieder und erotisch, zwischen ver- und enthüllen,

5 2016 entwickelten die Künstler*innen und Influencer*innen Arvida Byström und Molly Soda ein Buch- und Ausstellungsprojekt, das eine Vielzahl von Instagram-Fotografien versammelt, die zensiert wurden, weil sie etwa weibliche* Intimbehaarung, Menstruationsblut oder weibliche* Brustwarzen abbildeten oder auch nur andeuteten (Byström/Soda 2016). Vgl. zu solchen Maßnahmen von Content Moderation Müller-Helle 2022.

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zwischen zeigen und verbergen. Bis heute ist Spitze ein gängiges Textil, um als Gardine oder Vorhang den Blick zwischen Innen und Außen zu regulieren. Das semi-transparente Material, das „auf die alte Funktion des Textils, Raum zu definieren und zu verwandeln“ (Tammen 2002, S. 220), referiert, dient so dazu, den Übergang zwischen der Sphäre des Privaten und der Öffentlichkeit zu markieren. Das manifestiert sich auch am Beispiel des aus Tüll oder Spitze angefertigten Witwenschleiers, der traditionell sowohl Zeichen für Trauer und Enthaltsamkeit als auch Hinweis auf die erneute sexuelle Verfügbarkeit der verwitweten Frau ist. Stellen wir das Bild der befleckten Spitzenunterwäsche in Relation zu weiteren Aufnahmen, die von dreckigen Bettlacken erzählen, benutzte Kondome präsentieren oder blutverschmierte Penisse zeigen, lassen sich diese als Bilder des Abjekten lesen. Begreifen wir architektonische Elemente des Domestischen wie Fenster und Türen etc. mit Nierhaus als räumliche Zeichen der Geschlechterdifferenz, so lässt sich diese Verkreuzung von Innen und Außen auch auf die, so schreibt es Laura Mulvey über Arbeiten Cindy Shermans, „Benutzung des weiblichen Körpers als Metapher für die Grenzlinie zwischen verlockender Oberfläche und verborgenem Verfall“ übertragen, „als ob das Zeug, das so lange in einem mythischen Ort ,hinter‘ die Maske der Feminität projiziert worden ist, plötzlich durch den fein gemalten Schleier gebrochen sei“ (Mulvey zit. n. Kubitza 1993, S. 48). Mit einer Verbildlichung dieses Abjekten stört Scheynius eine traditionell patriarchale Reglementierung weiblicher Körperausscheidungen und schafft in einem etablierten Konzept von „Reinheit und Gefährdung“ (Douglas 1988), wie es Mary Douglas prominent beschreibt, einen Anschein von Unordnung.

FAZIT ODER: VORREITERIN EINES NETZFEMINISMUS? Mit solchen Bilddokumenten einer demonstrativen (Online-)Präsentation von Intimbehaarung oder Körperflüssigkeiten wie Menstruationsblut in Räumen des Domestischen knüpft Scheynius an mehrere Generationen feministischer Künstlerinnen seit den 1960er Jahren an. Zugleich lässt sie sich als frühe Vertreterin eines sogenannten „Netzfeminismus“ (Kohout 2019) fassen, der sich vornehmlich über vermeintlich private Social-Media-Kanäle konstituiert. Zu nennen sind hier vor allem Arvida Byström,

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Mayan Toledano, Molly Soda oder Juno Calypso. Zwar fotografiert Scheynius bis heute vor allem analog und digitalisiert ihre Aufnahmen anschließend. Das Smartphone als entscheidende (Selbst-)Technologie eines gegenwärtigen Netzfeminismus spielt bei ihr somit keine Rolle. Vielmehr scheint die Präsentation ihrer Fotografien in den sozialen Medien für Scheynius vor allem ein Zwischenschritt zu ihrer Etablierung in der Kunstwelt darzustellen. Ihre Online-Präsenz nahm in den vergangenen Jahren umso mehr ab, je häufiger sie in Ausstellungen vertreten war. Dies mag auch mit den erwähnten Community Guidelines der gegenwärtig dominierenden Foto-App Instagram zusammenhängen, die es Scheynius verbieten, einen Großteil ihrer Aufnahmen zu zeigen. Anders als eine Vielzahl von Netzfeminist*innen, die in den vergangenen Jahren in musealen Kontexten zu sehen waren, zeigt Scheynius ihre Fotografien in diesen zudem losgelöst von den charakteristischen Bildrahmen einschlägiger Plattformen. Und während sich einige jener Netzfeminist*innen offensiv an der weiteren Vermarktung ihrer Körperbilder beteiligen – beispielsweise als Testimonials für Adidas (Byström) –, profitiert Scheynius vornehmlich von Werbeaufträgen, bei denen sie hinter der Kamera steht: Mehrmals fotografierte sie bisher beispielsweise Kollektionen für Jil Sander.6 Dennoch zeigen sich ihre digital distribuierten Fotografien anschlussfähig an jenen Konnex aus Popfeminismus und Selfie-Kultur, der seine Authentizität häufig über die Offenlegung seiner Situierung im Domestischen zu generieren sucht und mit dieser Intimisierung der Öffentlichkeit anstrebt, vermeintlich Privates im politischen Diskurs zu verankern. Scheynius demonstriert ihre Handlungsmacht nicht nur in den Bild-Räumen, sondern auch über die Fotografien selbst. Stets markiert sie sich als Fotografin, als autonome und doch im Kollektiv wirkende Bildschaffende, als begehrende Frau. So kreiert sie gerade mithilfe der augenscheinlichen Reproduktion sexistischer Blicklogiken Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten und schafft damit das Potenzial für Interpretationsspielräume und Bedeutungsverschiebungen. Subtil bricht sie mit gesellschaftlichen Körpernormen und -vorstellungen und verbildlicht

6 Freilich folgt auch das einer Vermarktung vermeintlicher Authentizität: Bei Jil Sander etwa wird die Kooperation als eine ,Dokumentation‘ der Kollektionen durch Scheynius beschrieben. Vgl. hierzu die Ankündigung auf der Webseite des Modelabels: www.jilsander.com/de-de/das-spring-project%2C-do kumentiert-von-lina-scheynius/project-26.html (28.2.2022).

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eine selbstbestimmte weibliche* Sexualität. Die Souveränität über das Bildmaterial korrespodiert mit einer Souveränität über ihr Begehren und einer Souveränität innerhalb des Domestischen. Die Künstlerin versteht es, beziehungsräumliche Traditionen des Domestischen zu unterwandern, indem sie an den tradierten Slogan des Privaten als Politisches anknüpft und geschlechtsspezifische Codes für ihre Gegenwart in Frage stellt. Bewusst nimmt sie Sexualität und Geschlecht auf, sieht und zeigt den männlichen Körper wie sich selbst, verfügt autonom über ihr Handeln und lässt uns das sehen, was sie sich und uns erlaubt.

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Literatur

Adamczak 2016 Adamczak, Bini: Come on. Über die Erfindung eines neuen Wortes, das sich aufdrängt – und unser Sprechen über Sex revolutionieren wird, in: Missy Magazine, 8.3.2016, missy-magazine.de/blog/2016/03/08/ come-on/ (09.06.2022). Bartl 2016 Bartl, Angelika: Beweisstück Matratze. Dokumentarische Blicke ins Wohnen der Anderen, in: Irene Nierhaus; Kathrin Heinz (Hg.): Matratze/Matrize. Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur, Bielefeld: transcript 2016 (wohnen+/−ausstellen, Bd. 3), S. 291–307. Becker 2002 Becker, Ilka: Die Zukunft fand gestern statt. Überlegungen zu Gender und Adoleszenz in der zeitgenössischen Fotografie, in: Marie-Luise Angerer; Kathrin Peters; Zoë Sofoulis (Hg.): Future bodies. Zur Visualisierung von Körpern in Science und Fiction, Wien: Springer 2002, S. 205–222. Becker 2010 Becker, Ilka: Fotografische Atmosphären. Rhetoriken des Unbestimmten in der zeitgenössischen Kunst, München: Fink 2010. Brandes 2010 Brandes, Kerstin: Fotografie und ,Identität‘. Visuelle Repräsentationspolitiken in künstlerischen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre, Bielefeld: transcript 2010. Brantner et al. 2020 Brantner, Cornelia; Gerit Götzenbrucker; Katharina Lobinger; Maria Schreiber (Hg.): Vernetzte Bilder. Visuelle Kommunikation in Sozialen Medien, Köln: Herbert von Halem 2020. Byström/Soda 2016 Byström, Arvida; Molly Soda (Hg.): Pics or It Didn’t Happen. Images Banned from Instagram, München u. a.: Prestl 2016. Dietzel 2019 Dietzel, Stefanie Regina: Lina Scheynius – The Female Gaze in Photography, in: The Devi, 15.4.2019, www.the-devi.com/post/

lina-scheynius-the-female-gaze-in-photo graphy (9.6.2022). Douglas 1988 Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988. Doyle 2017 Doyle, India: The Unseen, The in-between: Lina Scheynius, 09, in: Twin, 29.1.2017, www. twinfactory.co.uk/the-unseen-the-in-be tween-lina-scheynius-09/ (9.6.2022). Eiblmayr 1993 Eiblmayr, Silvia: Die Frau als Bild. Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin: Reimer 1993. Frohne 2002 Frohne, Ursula: Berührung mit der Wirklichkeit. Körper und Kontingenz als Signaturen des Realen in der Gegenwartskunst, in: Hans Belting; Dietmar Kamper; Martin Schulz (Hg.): Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, München: Fink 2002, S. 401–426. Gerling et al. 2018 Gerling, Winfried; Susanne Holschbach; Petra Löffler (Hg.): Bilder verteilen. Fotografische Praktiken in der digitalen Kultur, Bielefeld: transcript 2018. Gunthert 2019 Gunthert, André: Das geteilte Bild. Essays zur digitalen Fotografie, Konstanz: Konstanz University Press 2019. Hentschel 2001 Hentschel, Linda: Pornotopische Techniken des Betrachters. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne, Marburg: Jonas Verlag 2001. Kampmann 2006 Kampmann, Sabine: Some Girls Are Bigger Than Others. Körper, Biographie und Sexualität in der Künstlerinnenauthentizitätsmaschine, in: Sexy Mythos. Selbstund Fremdbilder von Künstler/innen, Ausst.-Kat., Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin, 8.4.–21.5.2006, Berlin: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst 2006, S. 109–122.

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Kohout 2019 Kohout, Annekathrin: Netzfeminismus. Strategien weiblicher Bildpolitik, Berlin: Wagenbach 2019. Kubitza 1993 Kubitza, Anette: Die Macht des Ekels: Zu einer neuen Topographie des Frauenkörpers, in: kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, H. 1, Jg. 21, 1993, S. 43–56. Matern 2023 Matern, Melinda: Weibliche Subjektivität und künstlerische Praxis. Künstlerinnen* im fotografischen Selbstporträt in der Gegenwart, unveröff. Dissertation, Folkwang Universität der Künste, 2023. McRobbie 2010 McRobbie, Angela: Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des liberalen Geschlechterregimes, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaft 2010. Müller-Helle 2022 Müller-Helle, Katja: Bildzensur. Infrastrukturen der Löschung, Berlin: Wagenbach 2022. Nierhaus 1999 Nierhaus, Irene: Arch6. Raum, Geschlecht, Architektur, Wien: Sonderzahl 1999. Perdue 2020 Perdue, Ben: Celebrating Female Sexuality: Inside Lina Scheynius’ Raw, Personal New Book, in: AnOther Magazine, 25.2.2020, www.anothermag.com/art-photography/ 12297/lina-scheynius-my-photobooksinterview-2020 (9.6.2022). Rothöhler 2018 Rothöhler, Simon: Das verteilte Bild. Stream – Archive – Ambiente, München: Fink 2018. Scheynius 2019 Scheynius, Lina: My Photo Books, Paris: JBE Books 2019. Schürmann 2020 Schürmann, Anja: InDesign als Methode? Wahrnehmungstheoretische Überlegungen zu analogen und digitalen Displaykulturen der Fotografie, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, H. 22, Jg. 12, 2020, S. 53–66.

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Seeßlen 2000 Seeßlen, Georg: Mediopoly II – Die Sex-Variante. Wie und warum das Medium das Private öffentlich macht, in: ders.: Orgasmus und Alltag. Kreuz- und Querzüge durch den medialen Mainstream, Hamburg: konkret 2000, S. 91–115. Spengler 2011 Spengler, Lars: Bilder des Privaten. Das fotografische Interieur in der Gegenwartskunst, Bielefeld: transcript 2011. Stamouli 2021 Stamouli, Natassa: Lina Scheynius: The Photographer That Digitised the Personal. A Pioneer of „Raw“ Photography Who Never Wandered Off Her Own Patch Talks About Her Journey of Sharing Her Work Online, in: 1 Granary, 24.2.2021, 1granary.com/ fashion-image/lina-scheynius-the-pho tographer-that-digitised-the-personal/ (9.6.2022). Tammen 2002 Tammen, Silke: Textilien, in: Monika Wagner; Dietmar Rübel; Sebastian Hackenschmidt (Hg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, München: C.H. Beck 2002, S. 217–224. Thürlemann 2013 Thürlemann, Felix: Mehr als ein Bild. Für eine Kunstgeschichte des hyperimage, München: Fink 2013. Zanichelli 2015 Zanichelli, Elena: Privat – bitte eintreten! Rhetoriken des Privaten in der Kunst der 1990er Jahre, Bielefeld: transcript 2015.

Bildnachweise

Abb. 1, 3–5: Scheynius 2019 (o.S.). Abb. 2: Screenshot: MAN. linascheyniusdiary. tumblr.com (23.6.2015).

At the intersection of art and fame, Pablo Picasso used photography, as well as various other means, to portray the demiurgic male figure that he had carefully constructed during his career. The result was a large number of photographs documenting both his private life and his artistic activities. Many of these images focus on the more intimate side of the artist’s life, and use the domestic space as a setting to stage a simple and easily accessible personality. It is here that the codes of family life and the simple rhythms of everyday existence are skilfully juxtaposed with those of artistic creativity and the post-war star system. Today, decades after Picasso’s death, the photos from his very large family album continue to be used and reused to represent the genius in his most ordinary condition. This domestic symbolism becomes a sign of the authenticity of the billionaire painter who thereby seems never to have been corrupted by his success.

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PIERRE-EMMANUEL PERRIER DE LA BÂTHIE THE DOMESTIC SPACE AS AN ARTISTIC STRATEGY: THE INTIMATE PHOTOGRAPHIC ALBUM OF PABLO PICASSO Monumental buildings that dominate neighborhoods and entire cities do not bring out our humanity; on the contrary, they quash it. Instead, we need modest museums that honor the neighborhoods and streets and the homes and shops nearby, and turn them into elements of their exhibitions. Orhan Pamuk, A Modest Manifesto for Museums, 2012. In the wake of the Second World War, Pablo Picasso (b.1881, Málaga; d.1973, Mougins) became a popular and international star, not least because of the worldwide success of his Guernica (1937). Illustrated magazines from all over the world – especially American and French ones such as Life Magazine, Vogue, Paris Match, etc. – soon sent photojournalists to write about the world’s most famous painter, aiming to shed light on his personality rather than his art. Among the many photographs of the artist from this period, the one taken by David Douglas Duncan on the porch of the Château de Vauvenargues in 1962 particularly sums up the Picasso of the decades following the war (fig. 1). Standing in his underwear in front of the grandiose door of his palace with his Afghan greyhound Kabul, the painter proudly exhibits his manly nudity by adopting the attitude of a sculpture from ancient Greece. “Doesn’t he combine, for the duration of a

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1  David Douglas Duncan, Pablo Picasso and Kabul, his greyhound, at the front door of the Château de Vauvenargues, summer 1962

photo, the aristocratic genre (fancy dog, rococo door, imperial gestures), with the petit-bourgeois/worker genre (dangling pants, slippers, cigarette)?” (Guibault 2005, p. 37) This is an essential element of the Picasso myth: the tireless male creative genius who, despite his success – artistic, economic and social – is able to retain the authenticity of his early days, unaffected by the corrupting forces of the high bourgeoisie, of which he is now a member. In this intertwined iconography of the innate genius and the male demiurge, the domestic space provides the ideal setting for staging his natural simplicity by way of the supposed banality of his daily and family life.

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Pierre-Emmanuel Perrier de la Bâthie

Like other artists in the 20th century – Salvador Dalí, Frida Kahlo and Andy Warhol, to give only the most famous examples – Picasso knew how to use his own personal image to mediate his artistic creativity, thereby influencing the reception of his work. Over the course of his career, he himself actively contributed to the meticulous elaboration of an artistic persona that ensured the authenticity of his discourse and unified his entire oeuvre. From his beginnings in bohemian Paris in the early 1900s onwards, he used various means, written and visual, to portray a persona naturally gifted for creation, which no force could stop because it was part of his demiurgic being. Photography in particular, as a mobile and adaptable form of imagery with a strong capacity for remediation – i. e. reproducibility in a wide range of new media – greatly contributed to the staging of his artistic persona, and continues to do so today, several decades after his death. Indeed, over the last century, the many advances in the development of information and communication technologies, especially in the field of visual reproduction (Freund 1974, pp. 97f.; Gervais 2015, pp. 131f.), have given photography a high degree of historiographic significance in the writing of the lives of artists. In his study Art as Existence, Gabriele Guercio notes that the monographic model of life-and-work fashioned in the 19th century remains essential in the 20th century as a source of legitimacy, both artistic and commercial, for both living and dead artists (Guercio 2005, p. 227). Perpetuating principles such as the paradigm of the work as a unitary vision of an artist’s production, creativity as a mark of individuality, or even the construction of an image as the fulfillment of the artist’s self-definition, this model is symptomatic of an existential understanding of art (ibid., p. 3). As a visual translation of the dialectic of life and work, photography illustrates the potential predominance of the biographical aspect over an artist’s actual production. In the longer term, it materializes a pact of singularity between him/her and his/ her work, sometimes even giving visible expression to ongoing creative processes. Its impact is all the stronger because its verisimilitude and fluidity enable it to make a wider and more instantaneous impression on the public, whatever the context of presentation – exhibition, book, advertising, digital media, etc. –, whatever the destination – scientific, enlightened amateur, general public – and whatever the aim of the person producing the image – photojournalist, exhibition curator, critic, and even the artist himself/herself.

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“Alfred J. Barr [...] observed in the 1950s that the Spanish artist was the most photographed artist of all time. His many studios were immortalized by Cecil Beaton, Brassaï, Henri Cartier-Bresson, Robert Capa, Denise Colomb, Robert Doisneau, Arnold Newman, Man Ray... great names to which must be added the ‘court photographers’ who had their access to the master such as David Douglas Duncan, Roberto Otero, Edward Quinn or Lucien Clergue.” (Gállego Cuesta 2016, p. 275) The many photographs that Picasso left to posterity show both his artistic activities – views of his studio, portraits of himself creating, etc. – and his private life – views of his homes, group portraits with his wives and partners or his relatives, etc. Mostly taken by others, these photographs complement the written and/or oral legend of his persona. Perfectly combining public and private life – the stage and the backstage of creation – they provide a vivid picture of the demiurgic male figure, an image that he constructed carefully during his career and which precedes any analysis of his work. Specifically emphasizing the artist’s more intimate side, a large number of these photographs take the domestic space as a setting for the staging of an easily accessible personality. Here, the codes of family life and the simple rhythms of daily life are skillfully melded with the codes of artistic creation and the star system – the effect of which was to make Picasso even more popular. A large proportion of the enormous number of photographs of Picasso can be seen as constituting an intimate album in which the domestic space is symbolically used to show the genius in his most ordinary condition. When we consider the different stages of his career, three main periods emerge, which are relatively homogeneous in terms of the mythological narrative they tend to trace of Picasso’s domestic life. First, there are the photos of Picasso taken by him or by others before 1940 that track his steps towards artistic accomplishment. Then, from the end of the 1930s until the beginning of the 1950s, particularly under the influence of Dora Maar, we see an aestheticization of the artist’s daily life. Finally, the second half of the 1950s sees the rise of the ‘court photographers,’ who present the simple life of the billionaire painter to the world in accordance with the codes of the tabloid magazines.

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PRELIMINARY REMARKS ON THE UNITY OF THE PICASSO MYTH Before proceeding with this periodization, it is necessary to underline a few essential points in order to understand the unity of Picasso’s persona throughout his career, despite the numerous artistic and social evolutions it entailed. In his critical monograph The Success and Failure of Picasso, John Berger attempts to deconstruct the myth of the Spanish master. He emphasizes the ideal to which Picasso wanted to adhere, that of a profoundly creative nature, but confronts it with the contradictions inherent in the codes of the haute-bourgeoisie of which Picasso became a member. “But within himself he was, at one and the same time, a ‘noble savage’ and a bourgeois ‘revolutionary.’ And within himself the latter has idealized the former.” (Berger 1968, p. 129) However, as paradoxical as it may seem, this duality of Picasso’s persona is the cornerstone of its unity; its authenticity challenges any mythological construction because it is supposedly real. Indeed, Picasso’s demiurgic nature stems from the full materiality of his creation. His exceptional capacity to constantly renew himself artistically, to ‘metamorphose’ himself, does not give the impression of a fragmented personality in search of an intangible ideal. Rather, it is the expression of a creative and resolutely conquering energy the motto for which becomes “I do not seek, I find” (Picasso 1923, p. 315). And visually, this exceptional nature stands out all the more because it is embedded in an everyday life that never ceases to assert its banality. Picasso technically fits into a historical continuity of art, and more particularly of painting, stretching back to antiquity. Although he was the main reformer of painting in the 20th century, he remained the heir of a centuries-old tradition. The consequences are twofold. On the one hand, the artistic narrative of the artist’s life and work becomes clearer. It physically separates the life from the work – painting, sculpture, ceramics, etc. – in order to emphasize the imbrication of the latter into the former. Visually, this clear separation constitutes an authentication of Picasso’s persona. His remarkable creativity, which extends beyond the confines of his studio, underpins the image of the permanent demiurge, suggesting that every photograph of him should be seen from the perspective of a creation in progress. His artistic activity is materially easy to identify and it is therefore simple to determine when he is creating and when he is not, and thus to note that even when he is not creating – when he is not in

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front of an easel with his brushes – his creative nature is fully expressed in his daily life. Paradoxically, since the creative act is physically distinct from other activities performed by the artist, the continuity from one to the other seems more obvious, or at least more credible at first sight. On the other hand, because of his ‘traditional’ technique, Picasso appears to follow very directly in the footsteps of his illustrious predecessors, such as Velazquez, Goya, Ingres or Delacroix. He appropriates their legendary dimension, whose representations he knows, and assumes their topoï (Kris/Kurz 1979, pp. 10f.) in order to better aggregate them to his persona: that of the child prodigy who was admired by his father, himself a painter, that of the magician-artist who so easily transforms everything he touches, the instinctive creator who turns his desires into masterpieces. He thus embodies the male creator in its most absolute version. In her bibliographical study of the Picasso myth, Brigitte Léal argues that much of the varied writing on Picasso “easily [falls] into the trap of totally identifying the work with its biography, suffocating, as it were, the former under the weight of the charismatic personality of the creator” (Léal 2005, p. 245). This fascination with the man often means that the latter overflows into his work, further emphasizing its existential nature. An illustration of this is Pierre Daix’s suggestion that the best periodization of Picasso’s work would be based on the stages of his private life, and more particularly his love life (Daix 1987, p. XI). Picasso appears to have been aware of this from the beginning of his career. In Cahiers d’art, Christian Zervos insists a number of times on the existential dimension of Picasso’s work, taking up the painter’s formula: “It is not what the artist does that counts, but what he is.” (Zervos 1935, p. 176) There is no such thing as a Picasso persona, since Picasso plays no role. He is as he is and cannot, nor does he want to, deny it. This argument of nature, of the ‘noble savage,’ indefectibly links his work to his life. But above all, Picasso understood that he himself had to take an active part in writing his own history, anticipating the reception of his work by annotating and documenting his slightest actions. On the one hand, he started very early to archive everything concerning his creative activity, as well as his personal life. “Why do you think I date everything I do? It is not enough to know the works of an artist. It is also necessary to know when he made them, why, how and under what circumstances.” (Brassaï 1964, p. 150) On the other hand, a very large proportion of the publications about Picasso during his lifetime, and sometimes also after

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his death, were written as testimonies by those who had known him (Léal 2005, p. 247). It is important here to appreciate the extraordinary inclination of popular culture to appropriate such ‘reported remarks’ – as it has with other figures such as Albert Einstein – and to rediffuse them in a reduced and distorted form. As biographical anecdotes, they compose by accumulation and iteration the Picasso myth, which becomes all the more real as it reaches us through the intermediary of direct witnesses (Marcadé 2005, pp. 229–231). From the beginning of his career, and more particularly his first steps in Paris, Picasso showed a tendency to use all types of media – photography in particular – to document his practice and disseminate his image. Acceding willingly to the many requests made to him, Picasso perfectly controlled his image, which became for him an indicator of his artistic success: “[He] perfectly understood the stakes of marketing, even before the world knew that such stakes existed. [...] He always understood, and each stage of his life confirmed, the elementary relationship that existed between the amount of money earned by a painting and the legend built around the painter. And money, for Picasso, was not so much a medium of exchange, as an unequivocal barometer of his success.” (Stassinopoulos Huffington 1988, p. 47) His artistic persona was based on natural photogenic predispositions and a strong taste for photographic staging, which the bibliography and exhibitions dedicated to him were quick to exploit. Finally, it is important to define what domestic space meant for Picasso. The word ‘intimate’ is often used in this essay. It suggests the idea of a place protected from the public eye in which the artist can act naturally – or so it seems. Symbolically, it corresponds to the backstage of art and creation, or, perhaps more accurately, the backstage of the backstage of the creative studio. Access to this space gives us the impression that we are catching a glimpse of the real person behind the public figure, an insight that seems all the more real because it makes us feel privileged to be seeing what is normally hidden. Photographs reinforce this impression because they give us visual access to Picasso’s intimate sphere, and all the more so because it is those close to him who are behind the camera: his friend Brassaï, his partner Dora Maar or even his ‘court photographer’ Duncan. Picasso lived in many houses with very different styles and atmospheres: from the studios of Montmartre, during his bohemian period, to the Château de Vauvenargues and the villas of

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the French Riviera such as La Californie. Yet in the portrayal of these different locations the theme of the domestic sphere remains unchanged. The organization of the living area is conceived in a way that highlights the dialectic of work and life: moments of daily life – eating, sleeping, having fun with his children – the close and not so close surroundings, even animals, and the way he dresses or simply remains shirtless intersect with the way in which he inhabits the space as a creator, with a keen eye and an active hand, always ready to transform the most banal materials of daily life into works of art. All these elements allow the viewer to identify Picasso and to become aware of the exceptionality of this daily life, because it is Picasso’s life... Or rather, ‘just’ Picasso’s life, to use a colloquial formulation!

THE ICONOGRAPHY OF THE “RAGS-TO-RICHES” ARTIST Photographs taken of Picasso up until the 1940s present the stages of his artistic success. They offer a relatively classical iconography of the “rags-to-riches” artist, to quote Johannes Gaertner, an iconography that illustrates both the harshness of bohemian life and the comforts offered by a bourgeois lifestyle (Gaertner 1970, p. 28). The photographs from the years 1900–1910 evoke Picasso’s heroic period. They take the master back to his early years as a painter, the period that saw him revolutionize the history of painting prior to his meteoric success at the end of the 1910s. The staging of the artist living in the place where he creates, i.e. his studio, is a recurrent composition from this period. Some of the photos seem to have been taken by Picasso himself (Baldassari 1994, pp. 39f.), revealing his intention to present himself to the world as a painter like his glorious elders. For example, a group portrait from 1901 shows him sitting at his easel, brushes and palette in hand, surrounded by a few friends admiring his work (ibid., p. 40). An annotation in his own hand on the back of the photograph indicates that he is painting a Holy Family. The photograph also shows part of the studio/living room in a messy state, with bottles and a glass on a table where he seems to have had a snack with his assembled friends. By emphasizing the lack of differentiation between living and creative spaces, the painter inscribes himself into the Parisian bohemian circles of which he had recently become a member.

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2  Unknown photographer (Pablo Picasso?), Picasso on a sofa with a cat in his studio at 11 Boulevard de Clichy, December 1910

In the following years, he repeated this studio iconography with some added nuances. Standing in front of his works or sitting in an armchair – like the many visitors to his studio, such as George Braque, Guillaume Apollinaire and Daniel-Henry Kahnweiler – he poses with a proud attitude and exhibits his body as that of a creator. These pictures inaugurated a long series of studio photographs, which was continued in the 1960s in his many residences in the south of France (fig. 1). Particularly representative of this early period is the series in the studio on the rue Schoelcher taken in 1915/1916. Picasso is seen in boxer shorts, shirtless,

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then in overalls and even in a suit (ibid., pp. 73–77) in front of several paintings which are in progress or have just been achieved. It is the disorder of the studio that stands out, with open paint pots, brushes and numerous pieces of debris on the floor. Taken at a time when he is beginning to enjoy success, this sequence of photographs ideally illustrates the ambiguity of his character: the suit attests to a social accomplishment that symbolizes for him the recognition of his work, while the overalls and the naked torso bring us back to his demiurgic ambition, which is rooted in an assumed virility. Other photographs, in which the artist’s attitudes seem more natural, reveal a living space in which references to his work are merged. For example, a photo taken soon after he had moved into his studio on the Boulevard de Clichy shows him sitting on a sofa caressing a kitten (fig. 2). A few papers are spread out beside him, a mandolin leans against the wall, and around him we can see drawings and canvases. It is no longer the artist at work that is presented, but the artist taking a break and surrounded by all the elements that will make up his paintings: furniture, musical instruments, sketches, etc. Like a mise en abîme of the Cubist painter who multiplies the points of view, this photograph of his studio is an intrusion into his daily creative life, an intrusion that is all the more realistic because it is far from the symbolic staging previously mentioned. The naturalness of his attitude adds to the authenticity of the moment captured. Picasso’s subsequent collaborations with the Ballets Russes constituted a turning point in his biography, as well as in his work. His Cubist period was over, and Picasso’s marriage to his first wife Olga Kokhlova in 1918 marked the beginning of a new social life. He was photographed by the great names of the Parisian artistic scene, who gradually became part of his entourage: Man Ray, Beaton, Brassaï and, later, Dora Maar, to give just a few examples. These collaborations highlighted Picasso’s entry into Parisian intellectual circles and they led him to meet writers, actors, scientists and artists in Parisian salons and cafés, but also in his studio. Many photographs were taken in the painter’s different studios: in Boisgeloup, rue de la Boétie, rue d’Astorg, and then Quai des Grands Augustins. However, these images rarely show the artist at work, but rather present him as a member of the Parisian bourgeoisie. The series of photographs taken by Cecil Beaton and Brassaï in the flat on rue de la Boétie in the early 1930s, which were commissioned by publishers, shows that this social ascent was synonymous with genuine artistic success. Even if

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3  Brassaï, Pablo Picasso’s reflection in the mirror above the fireplace in his apartment on rue de la Boétie, 1932

the primitive chaos of his studio is still sometimes in evidence, Picasso is now portrayed as a Parisian property owner. His distant portrait in the fireplace mirror by Brassaï (fig. 3), for example, presents him in costume in the sophisticated setting that his artistic success now enabled him to afford, far from the disorder and roughness of the studios of previous decades. The simple and coarse furniture contrasts with the heights and mouldings of the Haussmanian ceilings. Canvases without frames hung directly from nails are replaced by carefully framed works. A massive marble fireplace topped by a mirror has taken the place of the old stove that appears in some of the pictures from his Montmartre period. The stained overalls have been replaced by an elegant suit.

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AESTHETICIZING EVERYDAY LIFE However, in the mid-1930s, Picasso seems to have taken a step backwards, as if to deny the overly formal codes of a bourgeoisie with which he did not really identify. He returned to a certain degree of insouciance with regard to his domestic space. In 1937, he moved into a large flat in the attic of a building on the Quai des Grands-Augustins. Although the size of the apartment and its location on the banks of the Seine had nothing to do with the studio of his youth, the heavy wooden beams framing the space and the somewhat dilapidated walls evoked the disorder full of life that expressed his creative nature. Photos taken in the attic studio show Picasso with works he has just completed by working through the night. The painter’s gaze is often at the heart of the photographs, which symbolically reinforce the relationship of the creator to his creation. Other photographs are tightly framed, focusing on the master’s characterful face. The meetings that took place in his flat demonstrate the position that he had now acquired in Parisian intellectual circles. The famous group portrait taken on 19 March 1944 at the reading of the play he had written, Le diable attrapé par la queue, is a perfect illustration (Brassaï 1964, fig. 40). The photograph is the trace of a historical micro-event involving the participation of Simone de Beauvoir, Albert Camus, Michel Leiris, Jean-Paul Sartre and Jacques Lacan, among others. Other, more trivial photographs are just as much part of the image of the Picasso clown that he would come to embody in the 1960s. This is the case with the photograph in which Picasso, wearing slippers and with his hair disheveled, parodies the gestures of an academic painter, pretending to paint Jean Marais in the pose of a beautiful ‘dormeuse’ (ibid., fig. 28). In 1935, Picasso met the photographer Dora Maar, with whom he began an extra-marital affair. Due to privileged access to the more intimate side of Picasso’s life, whether in the studio on the Quai des Grands-Augustins or during their summer stays in the south of France, she was able to offer another vision of the painter. Capturing him in the naturalness of his daily life, she depicts scenes of domestic space with a minimalist aesthetic. The series of photographs documenting the making of Guernica in 1937 is a good example: the creative act is staged at the heart of a photographic narrative that celebrates the singular relation between the man and his work in progress (Andres 2018, pp. 148f.). Dora Maar photographed the painter in the most banal moments of his everyday

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4  Dora Maar, Pablo Picasso in the bathroom of the Grands-Augustins studio, circa 1936

life, definitively breaking with the prevailing codes of haute bourgeois representation. We see Picasso sleeping in his bedroom, slumped in an armchair in his living room, bathing in a swimming costume on the Côte d’Azur, and having lunch with his friends Paul Eluard and Man Ray. The intimate spaces of the artist’s home are now the humble setting of a man who is no longer shown creating, but simply posing as himself in front of his partner’s lens. The portrait of Picasso sitting on the edge of his bathtub with a cigarette in his hand is one of many examples of a rediscovered naturalness expressed by an unadorned domestic space (fig. 4). Like a return to the simplicity of the heroic years, to a “recovered bohemia,” these photographs by Dora Maar prefigure the pictures published in the post-war illustrated press (Guégan 2015, p. 206).

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5  Robert Doisneau, Les pains de Picasso [Picasso’s breads] – Pablo Picasso having lunch (with Françoise Gilot) at the villa La Galloise in Vallauris, 1951

After becoming the painter of peace – notably thanks to Guernica and the Massacre de Corée – Picasso was very quickly placed in the spotlight by magazines such as Life and Paris Match, which noticed his great popularity. Many photojournalists who been on the battlefields came to photograph

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him, including Capa, Gjon Mili and Duncan. After the end of the Second World War, he was one of the new subjects of interest (Guibault 2005, p. 35). The end of the 1940s saw a definitive shift to an intimist iconography in photographs of Picasso. Now, pictures of him became less about his studio or his friendships than about his family routine, his exaggeratedly ordinary life. Two series of photographs that were often reproduced in magazines and mainstream publications illustrate this trend. Far from being trivial presentations to a curious public of the painter’s intimate side, they are in keeping with the Humanist Photography in the 1940s and 1950s. First, in 1948 and then in 1951, Capa was sent by the Magnum agency to photograph Picasso and Françoise Gilot. The resulting pictures show the Spanish painter with his family, enjoying the simple activities of seaside life. Then, the series shot by Doisneau in 1951 shows the couple in the simplicity of the small villa La Galloise in Vallauris. Picasso and Françoise no longer appear as the painter and his muse – and it is unclear whether this was a role she had ever accepted. Without any parody, the seemingly ordinary everyday space becomes the stage for a psychological exploration of genius. Having lunch with Françoise at a simple kitchen table, Picasso shows the face of a carefree genius, without falling into too much triviality. In the minimalist images from the villa, we find the Picasso we all know: a mature man wearing a now iconic sailor’s jacket, with a bald head, but with the mischievous look of a child, taking advantage of the simple objects of his environment to invent a new trick. As Doisneau comments, “He was one of the best models I have ever had, elegantly taking a position in the space and enthusiastically putting himself on stage.” (Doisneau 1991, p. 59) The photograph Les Pains de Picasso (fig. 5) – literally Picasso’s breads, a pun on the French word for hands (pains/mains) – is an iconic image from this series, underlining the artist’s creative nature. Describing his arrival at the villa, Doisneau notes the general atmosphere as well as a sense of astonishment that may well be shared by the viewer of these photographs: “The man whose name was synonymous with painting was simply having lunch with Françoise Gilot. A genius in the kitchen. I was amazed.” (ibid., p. 59)

THE ‘NOBLE SAVAGE’ AND HIS COURT As repeatedly stressed in this essay, for Picasso the post-war period was synonymous with international renown. It was a time when he became

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an internationally recognized star, and opened his homes to the public via a very demanding press (Guégan 2015, p. 206). Popular celebrity generated massive, collective interest in this man with an exceptional destiny: his success, his wealth, his social and amorous life, but also the apparent simplicity of his lifestyle. “He lives in his houses and studios, where paintings accumulate before the dealers come to buy them [...]. Another of his lives is the one chronicled in photographs and rumors in magazines: Picasso at the bullfights with Cocteau, Picasso in a swimsuit on the beach, Picasso with Jacqueline in a summer dress.” (Dagen 2005, p. 73) Picasso was seen more and more in the intimate setting of his home. He played the photojournalist game, knowing that, rather than harming him, his celebrity could reinforce the image of a simple nature that supposed gentrification had in no way corrupted – unlike, for example, Dalí, who retained the image of a venal artist seeking celebrity. Nevertheless, the simplicity being depicted was no longer that of the attic of the Grands-Augustins studio, a walk on the beach with Françoise or a day in the small villa of La Galloise in Vallauris. Now Picasso was living in sumptuous and impressive residences: La Californie in Cannes, the Château de Vauvenargues, the Mas Notre-Dame-de-Vie in Mougins. Of course, he seems to have done everything he could to avoid respecting the codes of a bourgeois life, in contrast to his initial phase of success during the inter-war period. He expressed this visually by exhibiting the creative chaos of his beginnings. But the combination of genres sometimes fails to convince and creates an impression of overplayed simplicity in an unsuitable setting: the gap becomes almost caricatural. In photographic terms, while the painter’s established iconography is repeated in the 1950s, it takes on a much more prosaic aspect, substituting the brightness of the south for the mystique of dark studios, clownish attitudes for the mystery of the creator’s gaze, bullfights for intellectual discussions. There is a transition from the photographers who come to photograph Picasso for specific series to his ‘court photographers’ who stand next to him during his latter decades, insinuating themselves into the smallest moments of his private and public life. Particularly noteworthy among them are Edward Quinn, André Villers and Duncan, who portrayed the painter in 1956 for Life Magazine. Despite their different stylistic approaches, all three photographers used almost the same recurring themes. They also published their photographs both in the press and in books specifically dedicated to Picasso’s persona. The thematic typologies involved are

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6  David Douglas Duncan, After a lunch with his children, double-page spread from The Private World of Pablo Picasso, pp. 164–165, 1958

exemplified by the categories listed in Edward Quinn’s book: Picasso and Jacqueline, Picasso and his studios, friends and visitors, Picasso and his children, Toros y Toreros, models and poses (Quinn 1977, p. 5). Duncan produced six volumes, among which his Private World of Picasso (1958) stands out. Like each of the volumes, it uses the juxtaposition of photographs to stage the intimate side of life as much as the creative act. A great deal of emphasis is placed on Picasso’s natural and spontaneous character, starting with the meeting between the painter and the photographer. Duncan offers a visual narrative (Duncan 1958, pp. 10f.), which he introduces with a long description. The text reiterates the paradox inherent in the photographs of Picasso: the solemnity of the location and the magnificence of the artist’s works constantly contrast with a supposedly spontaneous disorder evoked by such incongruous

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moments as the presence of a goat upstairs or the painter playing in his bathtub like a child (ibid., p. 8). In these images, the artist seems to be insisting that this economic ascent has no value for him, except as recognition of his artistic success. Picasso denies the codes of the Parisian bourgeoisie and returns to a primitive state that is illustrated by what is for the general public his astonishing way of living in such places. Other series also give the impression of inadvertently entering a space where only Picasso’s free spirit reigns. His vast studio, where large canvases accumulate, has become a living space in which he receives his friends, eats with his family and plays with his children and grandchildren. Duncan relates the micro-legend of “the fishbone that became ceramic” (ibid., pp. 36–39) which illustrates the master’s creative instinct. With all the banality of the end of a lunch, Picasso is seen licking a fish bone and then, via several stages, using it to make a mould. And all this happens in the same room. Likewise, Duncan shows us the simplicity of a family summer meal where Picasso and his children eat shirtless, still in the studio-dining room where paintings are accumulating (fig. 6). And then the table, still covered by the remains of the meal, becomes the playground on which he teaches his children to draw while working on a sculpture himself. All the boundaries between the creative act and everyday life are broken down, contributing to the image of Picasso as a ‘noble savage’ who turns everything he touches into a masterpiece.

CONCLUSION Although there is no declared staging of a persona, Picasso’s remarkable creativity, which extended beyond the walls of his studio, is at the root of the image of the permanent demiurge he always intended to be. The domestic space, with all its distinctive features, becomes the ideal setting for a staging that is all the more credible because it appears spontaneous and the viewer feels privileged to have access to such a degree of intimacy. How can one doubt the sincerity of Picasso opening the doors of his bathroom? And the effect is perfectly achieved: the myth is so pervasive that it constantly leads the viewer to over-interpretation: his simple name, his simple presence encourage anyone to see each shot of him from the angle of a creation in progress. However, numerous accounts reveal that this staging was thought out in detail by the master.

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Duncan, for example, tells us that he only had to follow one rule: “Don’t touch anything” – as if he were in a museum (ibid., p. 6). Françoise Gilot in Living with Picasso (1964) and Marina Picasso in Grand-père (2001) tell the story behind the scenes in less glorious terms, presenting an anguished personality, ever more concerned with his image as his popularity increased. Nevertheless, by opening his houses to photographers, Picasso was merely following a fashion that became more prevalent following the Second World War among artists of all kinds, starting with the younger generation. “In the Paris of the 1950s and 1960s or the New York of the following years [...], it was time for naturalness: people were interested in the figure of the artist, in his ‘humanity.’ The photographer’s studio was gradually abandoned for the studio or the home of the artist, and a minimum of retouching was done to reveal the essence.” (Jones 2019, p. 452) Yet, carried along by a life dedicated entirely to creation, of which an immeasurable body of work constantly and visually attests, Picasso manages to evoke a profound impression of naturalness. His artistic practice is materially easy to identify: it is simpler to determine when he is creating and when he is not, and thus to see that even when he is not creating – when he is not in front of an easel with his brushes, but eating in his dining room – his creative nature is fully expressed in an everyday life that is so banal as to become paradoxically exceptional.

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Henri Matisse’s Red Studio (1911) is the artist’s most comprehensive statement on creativity before World War I. Its bold color and perspective have been seen as a watershed in his oeuvre. As I will argue, the painting is also a manifesto in which Matisse reaffirms his understanding of creativity as rooted in the domestic and the feminine. Furnished with a comfortable chair, curtains, a chest of drawers, and even a houseplant, Matisse’s studio space is fashioned as intimate and welcoming. Though never described as such, his domesticated studio is also an enveloping and fluid womb-like space, highlighted by the brilliant red that saturates almost every surface, softening edges and erasing boundaries. This profoundly symbolic color choice on Matisse’s part is historically tied to the body and, in the case of Red Studio, I would argue, more specifically, associated with the life-giving blood accompanying birth. Unlike Matisse, most male artists during this period coupled creativity with masculinity, male sexuality, and/or the public spaces roamed by the flâneur. Artists from Renoir to Kandinsky claimed the primacy of the penis. The idea that creativity was based in the feminine – and the female body – was, however, not unique or novel. References to the womb, even womb envy, have a long history in Western culture going back to the creation of Eve from Adam’s rib, and can be traced through Greek culture onwards. Male authors contemporary with Matisse relied on womb imagery as well as the rituals of domestic life to describe the creative process, including Emile Zola, James Joyce, and Marcel Proust.

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TEMMA BALDUCCI DOMESTICITY, CREATIVITY, AND THE FEMALE BODY: MATISSE’S RED STUDIO Linda Nochlin describes the artwork on the walls of Henri Matisse’s 1911 Red Studio (fig. 1) as follows: “It is no accident that eight of the artworks represented concern themselves with the female nude. Although the artist himself is not present, maleness as a controlling principle of artistic creation is subtly asserted: an alter ego, the Young Sailor of 1906, is given the place of honor at the center, guarding over his two-dimensional harem.” (Nochlin 1983, p. 143)1 Nochlin’s reading of Red Studio accords with other feminist reassessments of canonical works of modern art in the 1970s and 1980s. In Carol Duncan’s 1989 The MoMA’s Hot Mamas, for example, Duncan’s scholarly purpose is to draw attention to the importance of the female nude both as a creative catalyst for male artists and as an influence on how modern works continued to be interpreted and displayed (Duncan 1989). While I agree with these scholars that the female nude was central to modern art in profound and numerous ways, in this essay I will focus on other aspects of Red Studio that prompt a very different interpretation of this pivotal work in Matisse’s oeuvre. There is scholarly agreement about the importance of Red Studio in Matisse’s development as an artist. The bold color and perspective, in particular, have been seen as a watershed in his artistic trajectory (Elderfield 1978, p. 88; Boehm 2005, p. 281; Labrusse 2005, pp. 301f.). As this essay will show, Red Studio was also Matisse’s most comprehensive statement on creativity before World War I. The theme of creativity and its relation to both domesticity and femininity

1

This idea is reiterated by Duncan 1973.

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Domesticity, Creativity, and the Female Body

1  Henri Matisse, The Red Studio. Issy-les-Moulineaux, 1911, oil on canvas, 181 × 219.1 cm, Mrs. Simon Guggenheim Fund, Museum of Modern Art, New York

is one that Matisse returned to frequently at least beginning with his 1897 The Dinner Table. In that painting, which I have written about previously, Matisse focuses on a woman arranging a floral centerpiece before a table that is set for a meal at a time when the domestic realm remained strongly associated with women (Balducci 2011, pp. 219f.). The woman as the creator of/in a domestic scene is a stand-in for Matisse, and it is frankly unusual for a male artist at the time to imagine himself creatively as a

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woman.2 Nevertheless, these twin themes of domesticity and femininity as an impetus for creativity show up repeatedly throughout his work. In Red Studio, unlike The Dinner Table, Matisse depicts a space – the artist’s studio – that is NOT conventionally gendered female, in fact quite the opposite given that studio spaces have traditionally been seen as male enclaves. Arrayed on the walls and other surfaces are (mostly) recognizable and widely varied examples of Matisse’s work that include paintings of lounging women, landscapes, and multi-figured compositions in addition to sculptural pieces. Despite the studio setting, I will argue that Matisse posits creativity at its most basic as something feminine rather than masculine, making this painting specifically about the maternal body, in effect equating artistic creativity with pregnancy and birth. Red Studio was part of a series of works commissioned by the Russian businessman, Sergei Shchukin that included The Painter’s Family, Interior with Eggplants, and Pink Studio all from 1911. In Red Studio, Matisse presents the viewer with a domesticated studio space. In fact, because there is no easel present, it could be argued that the room is read more readily as a domestic space rather than as a work space per se. Furnished with at least one comfortable chair, a chest of drawers, perhaps curtains on the left, and even a houseplant or two, the studio is fashioned as familiar and welcoming. I have previously discussed the importance of chairs for Matisse (Balducci 2011, pp. 217f.). Beyond his famous quote about artworks being like comfortable armchairs for the tired businessman, I think the inclusion of chairs in so many of his paintings is a way for the artist to symbolically invite the viewer into the space – to encourage contemplation and to provide hospitality, so to speak. In Red Studio, there are in fact two chairs, further suggesting intimacy and conversation. In the background, the chest of drawers is laden with various small pots and vases while in the left foreground there is a wine glass on the table, all further signifying a space conducive to domesticity and entertainment, much like his earlier The Dinner Table. Despite the absence of an easel and the overall domestic feel of the space, at a fundamental level art studios are spaces of production and creativity. And, historically, representations of studios have provided an opportunity for self-portraiture, with the artist conventionally shown in

2 John Elderfield discusses this aspect of Matisse’s work in Pleasuring Painting, arguing that Matisse often identified with his models (Ederfield 1996, pp. 13, 37).

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the process of creating. Matisse, however, does not include a self-portrait in Red Studio, preferring to represent himself, as he frequently did, indirectly through the inclusion of several of his own artworks on the walls and tables. As I noted, Nochlin, for instance, reads The Young Sailor, which is almost directly centered in the upper portion of the canvas, as Matisse’s alter ego – overlooking his harem, as Nochlin describes it. It is interesting to observe, however, that The Young Sailor (or a work quite similar to it) does not get the same prominence in Pink Studio, which was painted earlier in the same year. In this case, The Young Sailor is on the floor, partially hidden behind a screen and another canvas (fig. 2). Of course, the inclusion by Matisse of so many of his own artworks in a painting of his studio is clever and, as I will show, fits with his ambition to equate the process of creativity with pregnancy and birth. Matisse’s use of color, as I indicated earlier, has been one of the most discussed aspects of Red Studio. This scholarly focus on the formal elements of the painting fits with the general surge of interest in Matisse during his reclamation as a modernist master rather than as an artist interested ‘just’ in the decorative (Reiff 1970–71, p. 144). The mat, uniform red color that covers almost every surface of the studio is also what challenges traditional three-dimensional illusion in the painting. No volumes are depicted: everything is either flat and/or defined in the negative by the surrounding area. At the same time, the depth of the room itself can be perceived to some extent because of Matisse’s use of several orthogonals. Closely related to the all-over color of the space is the configuration of the room itself. It is very different again from Pink Studio, which includes an obvious and prominent window in the center of the wall, much like Matisse’s actual studio. Pink Studio also presents a more traditionally ‘readable’ space that includes easily identifiable walls and floors with a discernable horizon line. In contrast, the space in Red Studio refuses to be straightforwardly square so that only one corner – that in the back left – can be perceived. The space is instead fluid, all-enveloping, and almost circular. The lack of windows contributes to this feeling of an enclosed space. Given that Matisse’s actual studio had an abundance of windows, and that the artist is well known for including windows in many of his paintings of interiors, the fact that windows are all but absent here, is significant. The interiority and fluidity of the window-less space is highlighted by the red that saturates almost every surface, further softening edges and erasing boundaries. In addition to contributing to the sense of

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2  Henri Matisse, The Pink Studio (Studio of the Painter), 1911, oil on canvas, 181 cm x 221 cm, Pushkin Museum of Fine Arts, Moscow

insularity, this color choice on Matisse’s part is also profoundly symbolic. The color red is historically tied to the body and, in the case of Red Studio, I would argue, it is more specifically associated with the life-giving blood accompanying pregnancy and birth. So, what is remarkable about the work and what I am positing here is that Matisse presents his studio as a womb-like space, boldly suggesting a relationship between artistic creativity and female reproduction by presenting a domesticated studio space in which his art has gestated or is gestating. Further indications of the link between artistic creativity and the maternal body are found in the foreground. Here the viewer’s eye is guided into the studio through an opening between the table and the chair, which, in my reading of the space as a womb, could be interpreted as the birth

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canal, but also a place for the artist/phallus to enter. This sense of an entryway is reinforced by the orthogonals of the pencils on the table and the column on the back wall that visually draw the viewer into the room. There is also at least one figure that is arranged in what could be read as a fetal position, adding to the impression of a womb-like space. In the lower left corner of the canvas there is a small figure lying on a circular plate, resembling a miniature womb within the larger womb of the studio. This idea that Matisse’s works reference not just the female as creator, as in The Dinner Table, but the maternal female body tied to creativity in more profound ways has been noted by scholars in discussions of Matisse’s other works, in particular Bonheur de Vivre of 1906 (fig. 3). In describing that painting, Margaret Werth has this to say about the two figures in the lower right: “The ‘two becoming one’ – the founding myth of love – entails both a blissful (re)union of male and female and a threatening loss of individuation. The fetal, infantilized posture of the male evokes the intrauterine body while his head issuing from her embrace, born of her body, evokes the newborn. He suckles like a child at the breast [...] Child in the womb, emerging from it, or at the breast, he is part of the maternal body at the same time that he enacts the fantasized Oedipal union.” (Werth 2002, p. 177) John Elderfield similarly calls Bonheur de Vivre an image of the rebirth of nature (Elderfield 1992, p. 56). He also twice describes the painting in terms of the female body, calling it a “picture of the maternal body” and, in reference to the unheimlich, Elderfield further elaborates: “Viewed in these terms, Matisse’s fantasy of the historical and biological past becomes primarily a picture of the maternal body, “the former home of all human beings” (ibid., p. 76, fn 238).3 Thus, even if Bonheur de Vivre is not seen specifically as a womb-like space, it has been read on several levels as representing the maternal body. The representation of a womb-like space in Red Studio, painted roughly five years after Bonheur de Vivre, can thus be seen as the fruition of many years of thinking on the part of Matisse, which led him to posit more blatantly the maternal female body as the source of creativity. Matisse’s imagining of creativity as female and, more specifically, the artist’s studio as a domesticated womb-like space is, needless to say, an

3 Indeed, the joke that Freud referred to when discussing intrauterine experience – “love is homesickness” – would thus become an appropriate subtitle for Le bonheur de vivre according to Elderfield.

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3  Henri Matisse, The Joy of Life, 1905–06, oil on canvas, 176.5 cm × 240.7 cm, Barnes Foundation, Philadelphia

unusual interpretation of the sources of creativity during this period, certainly for visual artists. As I have noted, however, the germ of this idea is present in Matisse’s art at least from the beginning of the century. In addition to The Dinner Table, Matisse also presents a female creator in Red Room: Harmony in Red (1908–09; fig. 4), where a woman again presides over a table. In fact, I would argue that Harmony in Red is in some ways a more obvious precursor to Red Studio. Clearly in both, the artist’s theme is creativity; there’s also the all-over, corner-eliminating, enveloping red color; the presence of the two chairs; the ‘image within the image’; and, depending on how one reads the ‘image within the image,’ there’s also the elision of windows. All of these elements would return in Red Studio along with the general domestic feel of the space. Another example of how Matisse plays with the relation among creativity, domesticity, and the female body is a study for Interior with Eggplants, titled Still Life with Aubergines, which was completed a few months before he finished Red

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4  Henri Matisse, Red Room (Harmony in Red), 1908, oil on canvas, 180.5 × 221 cm, The State Hermitage, St. Petersburg (Inv.no. GE-9660)

Studio in October 1911 (fig. 5). Like Pink Studio, Still Life with Aubergines can be seen as a dramatic reconsideration of the still life genre, where the artist is in effect dismantling the various elements of a still life and experimentally rearranging them. The domesticity of the space in Still Life with Aubergines remains largely intact, as does the all-over patterning of the decorative fabric that covers the background and flattens the space. Matisse, however, has eliminated the female creator of The Dinner Table and Harmony in Red and replaced her with examples of his own artwork, producing something that more directly compares creativity to pregnancy and childbirth. In the foreground is a table with a red cloth on the right side of which stands a small sculpture in a pose that can be interpreted as fetus-like. This miniature figure is surrounded by strokes of red paint

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5  Henri Matisse, Still Life with Aubergines, 1911, oil on canvas, 116.2 cm × 89.2 cm, Louise Reinhardt Smith Bequest, Museum of Modern Art, New York

that serve to outline it, creating what can again be read as a miniature womb. All of this is placed before an elongated, pale-colored vase that itself could be likened in shape to a womb or birth canal. The work thus shares various elements with Red Studio – the womb-like scenario, the use of figures in a fetal position, the use of the color red – making it consistent with the themes and issues that occupied the artist during this period. Historically, creativity had been associated with masculinity, male sexuality, and/or the public spaces roamed by the flâneur. The assumption that women were not creative in the same way as men has been around for millennia, but for my purposes it was especially true beginning with the Romantic movement in the eighteenth century, as can be seen in the writings of Jean-Jacques Rousseau. The philosopher declared

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in The Letter to M. d’Alembert on the Theatre (1758) that “Women, in general, possess no artistic sensibility [...] nor genius [...] the celestial fire that emblazons and ignites the soul, the inspiration that consumes and devours [...] are always lacking in women’s writing.” (Rousseau 1758, p. 198) The association of creativity not only with men but even more specifically with male sexuality and/or the male body is also notable during this period, as Duncan maintains in her work on the early twentieth century. She argues that male artists of the period were obsessed with their own sexuality as the defining element and catalyst of their creativity (Duncan 1973). This understanding of creativity is evident in comments made by the artists themselves. Vasily Kandinsky, for example, compared the blank canvas to a virgin: “Thus I learned to battle the canvas, to come to know it as a being resisting my wish, and to bend it forcibly to this wish. At first it stands there like a pure chaste virgin [...] and then comes the willful brush which first here, then there, gradually conquers it.” (Kandinsky in Kozloff 1974, p. 46) The paintbrush is here imagined as a stand-in for the penis in its probing and conquering of the canvas. This way of thinking continued well into the twentieth century. In Civilization and its Discontents (1930), Sigmund Freud cautioned that “Since a man does not have unlimited quantities of psychical energy at his disposal, he has to accomplish his tasks by making an expedient distribution of his libido. What he employs for cultural aims he to a great extent withdraws from women and sexual life.” (Freud 1962, p. 59) It is precisely because of this historical context that Red Studio, with its connections among domesticity, creativity and the female body, seems so anomalous. The idea that creativity was based in the female body and even the maternal body was not, however, unique or novel in some circles. It was something that was admitted obliquely in descriptions of creativity by male artists, especially novelists. Indeed, references to the womb, even womb envy, have a long history in Western culture going back to the creation of Eve from Adam’s body. The theme can also be traced through Greek culture beginning with Plato’s famous description, in the Symposium, of thought as a metaphorical form of “giving birth.” Another, perhaps better-known, example is Athena’s motherless birth from the head of Zeus.4 Womb envy can also be found in various cultures around

4 David Leitao argues that the myth is even older than Plato in Greek culture (Leitao 2012).

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the world. Margaret Mead, for example, explored womb envy among the various tribes of Papua New Guinea. She noted a common theme in the belief that men can only attain their masculinity through a ritualized rebirth that is staged by other men; thus, women make humans but only men can make men (Bayne 2011, p. 154f.). For these cultures, a masculinized rebirth supersedes the original birth from a female body. The idea of womb envy is first mentioned in the literature by Karen Horney in 1926, but the notion was also discussed by others at the time, including Melanie Klein (ibid., p. 152). Horney theorized womb envy based on discussions with her male patients. As a result of these sessions, she even suggested that the theorization by men of penis envy might stem from a male desire to be the envied gender rather than from a female desire to be male. Horney went so far as to theorize that womb envy actually led men to produce creatively in the cultural arena as a form of overcompensation since their bodies were not equipped to give birth to children (ibid., pp. 157f.). In the modern period, references to creativity that involve the female body are present alongside references to the male body, though typically this is more evident in fiction than it is in the visual arts. Raymond Stephanson, for example, traces the theme of womb envy in eighteenth-century British literature by authors such as Alexander Pope and Laurence Sterne. Stephanson argues that while the idea of a male author giving birth through his writing was ancient, in the 1700s it was more likely tied to both the commodification and professionalization of the arts (Stephanson 2004). Male authors more contemporary with Matisse also relied on womb imagery as well as the rituals of domestic life to describe the creative process, including Emile Zola, James Joyce, and Marcel Proust.5 Zola is an interesting example because the author consistently follows the conventions of his time in the way he denigrates women, their lack of creative genius, and the distraction they provide as the lovers of creative men. These ideas are found particularly in Zola’s His Masterpiece (1885), which focuses on the painter Claude Lantier, whose significant other, Christine, is repeatedly framed as having a negative impact on Claude’s art. The only female creative in the novel is a fan painter, which

5

On Marcel Proust and domesticity/creativity, see Balducci 2011, pp. 223–224.

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is a type of miniature painting that was considered a lesser form of art and thus an appropriate creative outlet for women.6 Despite maligning Christine as a woman, Zola nevertheless consistently likens Claude’s process of creating a painting to the experience of pregnancy and childbirth.7 There are repeated references throughout the novel to bellies, to the nausea of bringing a work to life, and to the pain of creation. The descriptions are sometimes quite literal. Zola portrays the creative process thus: “What an effort of creation it was, an effort of blood and tears, filling Claude with agony in his attempt to beget flesh and instill life! [...] he became exhausted at last with the pains which racked his muscles without ever being able to bring his genius to fruition [...] What was lacking in his power that he could not endow them (them being his female nudes) with life?” (Zola 2009, n.p.) He also tellingly refers to a failed painting as a “miscarried picture” and in reference to a fellow washed-up artist, he says “He would never more give birth to living, palpitating works.” (Ibid., n.p.) This tendency to equate male creativity with the process of childbirth is also evident in Joyce’s Ulysses (1922), where the male artist’s ability to create characters from his imagination is likened to a woman’s ability to birth children out of her body. In a letter he wrote to his wife in 1912, a decade prior to the publication of Ulysses, Joyce described his creative process in the following manner: “I went then into the backroom of the office and sitting at the table, thinking of the book I have written, the child which I have carried for years and years in the womb of the imagination as you carried in your womb the children you love, and of how I had fed it day after day out of my brain and my memory.” (Joyce in Stanford Friedman 1987, p. 57) While this essay is not meant to suggest that Matisse was in any way influenced by these authors, these various examples of womb envy in the late nineteenth and early twentieth centuries show that Matisse was not the only artist thinking in these terms. As I have shown, Red Studio was the culmination of more than a decade of persistence by Matisse on the topic of creativity. As the artist moved gradually from imagining creativity as a woman arranging flowers or fruits in 1897 to his presentation

6 Though, of course, Degas did fan paintings as well. 7 On this topic, see also the chapter “Creativity and Procreation in Zola’s L’Oeuvre” in Jefferson 2015, pp. 146–158. Zola also makes gendered remarks about creativity in some of his salon reviews. For example, Zola 1893, p. 277.

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of his studio space as a womb in 1911, what remains consistent through these iterations is Matisse’s focus on the sources of creativity in the domestic – the windows, chairs, plants, and fabrics included across the various spaces – and the feminine. Red Studio, as his boldest statement on creativity, brings together both domesticity and the female body, underscoring the importance of these two elements as a creative stimulus for him throughout his career.

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Temma Balducci

Credits

Fig. 1, 5: © The Museum of Modern Art/Licensed by SCALA / Art Resource, NY / © VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Fig. 2: Scala / Art Resource, NY / © VG BildKunst, Bonn 2023. Fig. 3: © Succession H. Matisse/ DACS 2022 / Photo: © The Barnes Foundation / Bridgeman Images / © VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Fig. 4: The State Hermitage Museum, St. Petersburg; Photograph © The State Hermitage Museum. Photo by Vladimir Terebenin / © VG Bild-Kunst, Bonn 2023.

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GRUNDRISS: AUSSTELL POLITIKEN DES WOHNEN

LUNGSN NS Grundriss: Ausstellungspolitiken des Wohnens

The film series Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? (How to live healthily and economically) is an important historical document which has not only been screened at countless exhibitions but is also discussed in many print publications, because it is the only surviving historical film material that shows the Bauhaus with its buildings. Despite its conventional visual language, the concept and structure of the overall project, which is informed more by architectural than cinematic expertise, is innovative. Walter Gropius exerted an important influence on the project and had his own work presented in two of the surviving films. Viewed impartially, the film reveals not so much innovation as a very conservative understanding of gender roles and class structures: the husband pursues his profession outside the home, while the wife, together with female servants and a female friend, devotes herself to the house and household and conveys her husband’s great achievements to the audience. And while upperclass influencers avant lettre exemplify to the public how the modern individual should live, in the case of the social housing estate it is not the everyday life of the inhabitants that is relevant, but only the construction process conceived by the architect. Unintentionally, the films reveal the conceptual weaknesses of the Gropius Bauhaus and its compulsion for PR and marketing.

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PHILIPP OSWALT DER FILM WIE WOHNEN WIR GESUND UND WIRTSCHAFTLICH? KONSTRUKTION UND FIKTION DER MARKE BAUHAUS Der neunteilige Film Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? (1926–1928) ist ein wichtiges historisches Zeitdokument, das nicht nur auf unzähligen Ausstellungen immer wieder gezeigt, sondern auch in vielen Druckpublikationen behandelt wird.1 Filmisch eher konventionell – im Vergleich etwa zu den zur gleichen Zeit entstandenen Filmen über das Neue Bauen von Hans Richter und Man Ray – wird dieses Werk vor allem deswegen so stark rezipiert, weil es sich bei ihm um das einzige überlieferte historische Filmmaterial handelt, welche das Bauhaus mit seinen Bauten zeigt. Dabei stand das Bauhaus keineswegs im Zentrum der Filmserie, sondern wurde vielmehr im Rahmen einer größeren Gesamtschau behandelt, die auch zahlreiche Beispiele von anderen Architekten zeigte. Während aber infolge von Firmeninsolvenzen, Migration und Krieg ein größerer Teil des Films verschollen ist, haben sich die Teile zum Bauhaus im Nachlass von Walter Gropius größtenteils erhalten, sodass allein schon aufgrund der heutigen Quellenlage die Rezeption das Bauhaus fokussiert. So konventionell die Bildsprache auch sein mag, so innovativ sind Konzept und Struktur des Gesamtprojektes, die weniger aus einer filmischen denn aus einer architektonischen Expertise heraus entwickelt wurden. Im Sommer 1926 gründete sich offenbar auf Initiative der Humboldt-Film

1 Zuletzt insbesondere Goergen 2012 und Stiftung Bauhaus Dessau 2017, S. 55–68.

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1  Cover des von Richard Paulick verfassten Begleitbuches zum Film von 1927

G.m.b.H. der Filmausschuss für Bau- und Siedlungswesen,2 in dem über 40 Institutionen und Organisationen vertreten waren, unter ihnen Ministerien, Kommunen, Gewerkschaften, Mietervereine, Siedlungsgesellschaften, Architektenverbände, Unternehmen der Bauindustrie sowie Industrie- und Wirtschaftsverbände. Der Ausschuss gab sich einen Sachverständigenrat, dem die führenden Vertreter des Neuen Bauens im Bereich des Wohnungsund Siedlungsbaus angehörten: der Architekturpublizist und Hochschullehrer Adolf Behne, der Bauhausdirektor Walter Gropius, der Frankfurter Stadtbaurat Ernst May, der Landschaftsarchitekt Leberecht Migge, der

2 Vgl. Filmausschuss 1926: Der Ausschuss war zunächst am Kronprinzenufer 19 (Berlin NW 40) ansässig, bald jedoch unter eigener Adresse in Berlin Wilmersdorf, Brandenburgische Str. 53.

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Essener Stadtbaurat und Gründungsdirektor des Siedlungsverbands Ruhrkohlenbezirk Robert Schmidt sowie aus Berlin der Architekt Bruno Taut und der Stadtbaurat Martin Wagner.3 Als Geschäftsführer fungierte der 22-jährige Dessauer Architekt Richard Paulick, den die Humboldt-Film G.m.b.H. auf Vorschlag von Walter Gropius hierfür einstellte.4 Ursprünglich geplant war, Paulick einen Filmfachmann zur Seite zu stellen, was aber in dieser Form offenkundig nicht geschah.5 Wie Paulick später berichtete, bereitete der Beirat die Stoffauswahl vor, legte den „Standpunkt“6 für das Filmprojekt Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? fest und formulierte so dessen Grundkonzeption. Paulick war dann mit Recherchen, finaler Stoffauswahl, Drehbuch, Aufnahmeleitung7, Schnitt und Untertiteln befasst und schrieb auch die erläuternden Texte für den Verleih sowie eine Begleitpublikation (Abb. 1). Die von ihm entwickelten Szenarien stellte er dem Beirat vor, der diese dann diskutierte und beriet (Müller 1975, S. 51). Die Konzeption des im Rahmen der Humboldt Lehr- und Werbe-Filmserie Fortschritte der Bautechnik produzierten Filmprojekts war nicht von den Ideen der cinematografischen Avantgarde jener Jahre geprägt, son-

3 Siehe Nachlass Richard Paulick, Architekturmuseum der TU München [592/671]: Infoblatt zur Filmserie Wie bauen wir gesund und wirtschaftlich? im Fotoalbum eingeklebt. 4 Paulicks Vater, der SPD-Politiker Richard Paulick senior, war als Abgeordneter des Anhaltischen Landtags und Dessauer Stadtrat wesentlich daran beteiligt, dass die Stadt Dessau 1925 das Bauhaus übernahm. Den Sommer 1925 über hatte Paulick junior als freier Mitarbeiter am Bauhaus gearbeitet und realisierte 1925/26 gemeinsam mit Bauhausmeister Georg Muche ein Stahlmusterhaus in Dessau-Törten. Paulick hatte damals sein Studium noch nicht abgeschlossen, aber die Berufsbezeichnung Architekt war auch noch nicht geschützt. 5 Siehe dazu Filmausschuss 1926. Der Kameramann der Filme, Rolf von Botescu, wird aber anders als Paulick in den Printprodukten zur Filmserie nicht genannt. 6 Eigenhändiger Lebenslauf von Richard Paulick, Architekturmuseum der TU München [496/671]. 7 Abweichend von Paulicks Selbstdarstellung ist bezüglich der Aufnahmeleitung in der Zensurkarte Ernest Jahn genannt (Q: Zensurkarte vom 1.11.1928 [Nr. B20638], Bundesarchiv-Filmarchiv). Plausibel ist, dass die Aufnahmeleitung für die verschiedenen Filmteile unterschiedlich geregelt war. Während bei Teil 4 (Neues Wohnen – Haus Gropius) Paulick nach eigenen Angaben bei den Aufnahmen nicht zugegen war und hier von einer Aufnahmeleitung von Ernest Jahn auszugehen ist, auf die Ise Gropius nach eigener Darstellung mit ihren Vorschlägen maßgeblich Einfluss nahm, wird unter anderem für Teil 6 (Das Bauhaus und seine Bauweise) Paulicks Kenntnis der Bauprozesse für die Aufnahmeleitung unverzichtbar gewesen sein. Für Teil 1 (Wohnungsnot) finden sich Fotos der Motive in Paulicks Nachlass, sodass auch hier eine Mitwirkung wahrscheinlich ist.

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dern von den Ideen der Architektur-Avantgarde, und zwar nicht nur in Hinsicht auf die Inhalte, sondern auch bezüglich Aufbau und Struktur. Analog zu den Ideen für ein modularisiertes Bauen und den darauf aufbauenden Ideen für wachsende Häuser konzipierte man das Vorhaben in Teilmodulen, die jeweils in sich abgeschlossen waren und unterschiedlich kombiniert oder auch einzeln gezeigt werden konnten. Die Modulstruktur erlaubte zudem auch eine schrittweise Weiterentwicklung des Projektes,8 wie sie dann auch umgesetzt wurde. Bis Anfang 1927 waren vier Teile von Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? in einer ersten Fassung fertiggestellt, im nächsten Jahr folgten fünf weitere Module. Neben der Entwicklung des Filmprojekts selbst verfolgte der Filmausschuss noch einige weitere Ziele, von der Sammlung bereits vorhandenen in- und ausländischen Filmmaterials über den Aufbau eines Filmarchivs für Bau- und Siedlungswesen, dessen allen Interessenten kauf- oder leihweise zur Verfügung stehen sollten, die Produktion eines abendfüllenden Unterhaltungsfilms zum Thema sowie generell die Beratung neuer Filme bis hin zur Unterstützung der Verbreitung der Bau- und Siedlungsfilme. Durch die Bündelung aller Kräfte, so Paulick im Begleitbuch zu dem Projekt, sollte „Doppelarbeit und Kräftezersplitterung vermieden, Erfahrungsaustausch und zweckvolle Zusammenarbeit angestrebt und fachmännische Arbeit geleistet“ werden. „Bei der Verbreitung dieser Filme [soll zugleich] durch Zusammenwirken der Behörden, Fachorganisationen und der Fachpresse ein größtmöglicher Wirkungsgrad erreicht“ werden (Paulick 1927, S. 32). Dieses sachfremde Zentralisierungskonzept entsprach genau den Ambitionen für die Wohnungsbauproduktion, wie sie Walter Gropius 1927 exemplarisch formulierte: „es bedeutet verschwendung an arbeitskraft und zeit, wenn die umfangreichen versuche auf dem gebiete des hausbaues einzelnen […] überlassen bleiben. sie müssen vielmehr an wenigen punkten zentralisiert, den schwierigkeiten des alltags entzogen und von unabhängigen zentralen stellen der allgemeinheit zugänglich gemacht werden.“ (Gropius 1927, S. 909f.) Gropius fordert die Bündelung aller Kräfte und „systematisches einheitliches vorgehen auf der ganzen linie“ (Gropius 1928, S. 1313f.). Die vom Sachverständigenrat 1925/26 entwickelte Grundkonzeption sah für das Werk, das zunächst den Titel Wie bauen wir gesund und wirt-

8 Hierzu schreibt Richard Paulick im Begleitbuch: „Es ist beabsichtigt, sowohl den Film wie diese Schrift laufend weiter auszubauen.“ (Paulick 1927, S. 4)

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schaftlich? tragen sollte, eine streng logische vierteilige Struktur vor. Teil 1 sollte unter dem Titel Wohnungsnot das Problem und den Handlungsbedarf darstellen. Teil 2, Neues Bauen, sollte dem Bauprozess gewidmet sein, Teil 3, Das neue Haus, den Gebäudetypen, der Architektur und dem Städtebau und Teil 4, Neues Wohnen, dem Wohnen selbst, den Fragen der Möblierung und Ausstattung. Beabsichtigt war, neben deutschen auch französische und niederländische Beispiele für modernes Bauen und Wohnen in die Dokumentation einzubeziehen, worauf dann aber bei der Umsetzung verzichtet wurde. Auch sonst war die Konzeption einzelner Teile umfassender als die realisierten Filme. So wurde bei Teil 3, Das neue Haus, nur der zweite Abschnitt „Wohnsiedlungen“ umgesetzt, während die ursprünglich vorgesehene Behandlung von „Übergangs- und Erwerbssiedlern“ und damit die Darstellung von anbaufähigen Häusern, Kleinstwohnungen im Flachbau, Erwerbslosengärten, technisierten Gärten usw. unterblieb. Bei der Erweiterung des Werkes von vier auf neun Filme wurde die eigentlich allumfassende Kapitelstruktur verlassen. Statt die bestehenden Kapitel mit weiteren Filmmodulen auszubauen, fügte man die neuen ohne erkennbare Logik den bestehenden hinzu. Dies mag daran liegen, dass die Filme nicht neu produziert wurden, sondern ursprünglich zu anderen Konvoluten gehörten (den Großfilmen Neue Bautechnik und Neues Wohnen) und man sie dann Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? zuordnete. Weitere vom Filmarchiv für Bau- und Siedlungswesen angebotene Kurzfilme, die thematisch passend waren und zum Teil auch noch fehlenden Inhalten der Ursprungskonzeption entsprachen (wie etwa Moderne Gartenkultur, bearbeitet von Leberecht Migge) sind dem Konvolut Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? aber nicht zugordnet worden, vermutlich nicht zuletzt, weil die Rechte für sie nicht bei der Humboldt-Film G.m.b.H. lagen.9

9 Nicht eingegliedert wurden aber auch einzelne thematisch passende Kurzfilme, die seitens der Humboldt-Film G.m.b.H. angeboten wurden, wie Beton im neuzeitlichen Wohnungsbau (1927) oder Magdeburg (1926). Paulick hatte bereits mit seinem 1927 erschienenen Begleitbuch Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? eine analoge Erweiterung der noch vierteilig präsentierten Filmserie vorgenommen. In dem Buch folgen auf die Darstellung der vier Teile neun weitere Kapitel, von denen eins wiederum mit einem der noch zu realisierenden Teile (Die Elektrizität im Haushalt) korrespondiert; weiterhin werden mit Wohnungsbauten in Magdeburg (1926) ein anderer Kurzfilm der Humboldt-Film G.m.b.H. vorgestellt sowie mehrere Themen behandelt, zu denen offenkundig keine Filme produziert wurden.

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Mit der Realisierung der Filmserie bekam die Behandlung der Bauhausbauten mehr und mehr Gewicht, obgleich diese zu Beginn der Konzeption keine besondere Berücksichtigung erfahren hatten und die Leistungen des Bauhauses für das Bau- und Wohnungswesen gegenüber den kommunalen Bauprogrammen in Berlin, Magdeburg, Frankfurt am Main, Wien, Rotterdam usw. weit zurückstanden. Doch der Direktor der Humboldt-Film Hermann Beck war von einem Vortrag von Walter Gropius in Berlin im März 1926 so begeistert gewesen, dass er ihm wenige Wochen später die Produktion eines Bauhausfilms anbot, dessen Erstellung Gropius auch leiten sollte. Dieser Film über die Siedlung Dessau-Törten wurde 1927 unter dem Titel Das Bauhaus und seine Bauweise produziert. Zunächst ein Teil des Großfilmkonvoluts Neue Bautechnik, wurde er 1928 Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? zugeordnet. Doch bereits in dessen vierteiliger Erstfassung war das Bauhaus prominent vertreten: Teil 4, Neues Wohnen, präsentierte allein das Dessauer Direktorenhaus, während alle anderen in der Filmserie vorgestellten Bauvorhaben sich mit kurzen Einstellungen begnügen mussten. Und Teil 3, Das neue Haus, der an sich den Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus gewidmet war, endete etwas unvermittelt mit Außenaufnahmen der Meisterhaussiedlung des Bauhauses, da sich angeblich die neuen Formen naturgemäß am besten „im Bau größerer Eigenheime aus[wirken], etwa bei den Professorenhäuser in Dessau“, so die erläuternde Texttafel im Film. Dass bei der Umsetzung des Films das Bauhaus mehr und mehr in den Vordergrund rückte, lag offenkundig darin, dass mit Paulick ein mit dem Bauhaus eng verbundener Architekt mit der Produktion der Filme beauftragt worden war. Anders als die nicht immer ganz zuverlässigen Angaben von Ise Gropius nahelegen, hatte Beck die Leitung des Projekts nicht Walter Gropius übertragen, sondern ihn als eines der sieben Mitglieder des Sachverständigenrats gewonnen. Dessen Grundkonzeption trug nicht die (alleinige) Handschrift Gropius’, sondern ließ unter anderem deutlich die Einflüsse von Leberecht Migge und Martin Wagner erkennen. Doch durch Paulicks Anbindung ans Bauhaus war dieses in den Filmen überproportional präsent. Wie aber wurde es präsentiert?

ARCHITEKTUR ALS FILMISCHES MEDIUM Seit dem Aufkommen der visuellen Massenmedien Fotografie und Film wird Architektur mit diesen kommuniziert. Doch die Medien haben hier

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keine rein dienende, nachgeordnete Funktion. In dem Moment, in dem Bauten zu Argumenten in den medialen Diskursen werden, beginnen Architekten, sie auch mit Blick auf ebendiese zu konzipieren und zu entwerfen. Neben die Wirkung der Bauten im physischen Raum tritt ihre Wirkung im medialen Raum. Und je nach Projekt kann Letzteres sogar zum wichtigeren oder gar einzigen Kriterium werden. Die Architekturtheoretikerin Beatriz Colomina hat dies 1994 in ihrem legendären Buch Privacy and Publicity. Modern Architecture as Mass Media exemplarisch anhand der Arbeitsweise von Le Corbusier und Adolf Loos aufgezeigt. Aber einen bewussten und gezielten Umgang mit den Möglichkeiten moderner Massenkommunikation verfolgten auch Walter Gropius und das Bauhaus. Architektur im sich entfaltenden Konsumkapitalismus auf ihre kommunikative Funktion und Reklamewirkung hin zu konzipieren, stellt eine wesentliche und bislang zumeist übersehene Innovation dar. Zugleich steht dies aber im Widerspruch zur Selbstdarstellung der Protagonisten des Bauhauses, die ihre Arbeit stets mit Funktionalität, Wirtschaftlichkeit und Sachlichkeit begründeten und ihr auch eine hohe soziale und alltagsweltliche Intention zuschrieben. Diese Paradoxien lassen sich wohl an keinem anderen Artefakt besser aufzeigen als an den Teilen 4 und 6 von Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich?. Dafür ist es allerdings nötig, nicht nur das eigentliche Filmmaterial in Augenschein zu nehmen, sondern sich auch mit den Bauten in ihrer alltagsweltlichen Realität jenseits des Medialen zu befassen.

REKLAMEBAUTEN Es ist symptomatisch, dass die ersten Bauten von Walter Gropius selbst – die Faguswerke (1911–14) und die Musterfabrik in Köln (1914) – wie auch des Bauhauses – das Haus Am Horn und das Direktorenzimmer (1923) in Weimar – Reklamearchitekturen waren. Das Haus Am Horn wie auch das Direktorenzimmer wurden als Showrooms des Bauhauses für die große Bauhausausstellung in Weimar 1923 realisiert (Abb. 2a).10 Das Haus wurde später zu Wohnzwecken nachgenutzt, während das Direktorenzimmer bis zu seiner Beseitigung im Jahr 1925 allein Präsentationszwecken

10 Was hier nur angedeutet ist, analysiere ich ausführlich in Oswalt 2020, S. 14–16, 20–23.

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diente. Beide Showrooms spielten – neben anderen Maßnahmen – eine wichtige Rolle dabei, die Marke Bauhaus zu etablieren. Aber auch in Dessau, wohin das Bauhaus 1925 von Weimar umsiedelte, waren das Bauhausgebäude und die Meisterhäuser nicht allein Nutzbauten zum Unterrichten und Wohnen, sondern ebenso Demonstrationsbauten, welche die Leistungen des Bauhauses öffentlichkeitswirksam ausstellen sollten (Abb. 2b).11 Vor allem das Direktorenhaus wird zu einem Musterhaus, das international in Zeitschriften, Büchern und in einem Lehrfilm publiziert und bereits in den ersten Jahren von vielen Tausenden besichtigt wird. So berichtet Nina Kandinsky von Besucherschlangen, die auf Einlass warten (Stiftung Bauhaus Dessau 2017, S. 29, s. a. S. 55–85). Das Ehepaar Gropius hat quasi kein Privatleben, sondern wird zu Influencer*innen avant la lettre, also zu Personen, „die aufgrund ihrer starken Präsenz und ihres hohen Ansehens in einem oder mehreren sozialen Netzwerken als Träger für Werbung und Vermarktung in Frage kommen“.12 Walter und Ise Gropius wohnen in einem Schaukasten. Der Direktor des Bauhauses und seine Gattin demonstrieren als gesellschaftliche Elite ebenso live wie medial, wie der moderne Mensch wohnen soll.13 Allerdings besteht eine große Diskrepanz zwischen diesem Repräsentationsbau und dem sozialen Anspruch des Bauhauses, guten Wohnraum für alle zu schaffen, wie ihn Gropius selbst propagiert hatte. Das Direktorenpaar lebt auf 250 m² Wohnfläche inklusive Gästewohnung und Dienstmädchenzimmer, im Souterrain ist auf weiteren 190 m² neben dem Weinkeller auch eine Hausmeisterwohnung untergebracht. Besorgt schreibt Oskar Schlemmer an seine Frau: „Ich bin erschrocken, wie ich die Häuser […] gesehen habe! Hatte die Vorstellung, hier stehen eines Tages die Wohnungslosen, während sich die Herren Künstler auf dem Dach ihrer Villa sonnen.“14 Das Direktorenhaus ist eine ästhetisch modernisierte Form der herrschaftlichen Villa mit Dienstpersonal, womit

11 Die folgende Textpassage ist mit Ausnahme des Postskriptums ein leicht modifizierter Reprint aus Oswalt 2020, S. 35–42. 12 Diese Definition fand sich so in einer früheren Version des deutschsprachigen Wikipedia-Artikels, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Influencer (9.2.2019). 13 Exemplarisch z.B. der Artikel „Wie wohnen wir heute?“ in der Illustrierten Die neue Linie (Die neue Linie 1931). 14 Brief an Tut Schlemmer, 8.10.1926 (Schlemmer 1990, S. 139f.).

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2a  Direktorenzimmer des Bauhauses im Vande-Velde-Bau in Weimar; das Foto von 2019 offenbart den Showroomcharakter. 2b  Touristen im Bauhaus Dessau, 1929

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3  Aus dem Buch Bauhausbauten von Walter Gropius (München 1930) mit Filmstills aus Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich?

Gropius, der aus großbürgerlichen Verhältnissen kam, seine gewohnte Lebensweise in modernem Stil fortsetzt. Das Erdgeschoss, unter dem sich das Souterrain für Dienstpersonal befindet, ist um anderthalb Meter zur Beletage angehoben, sodass man zum Betreten des Hauses eine Reihe von Stufen emporsteigen muss. Auch die zwei Meter hohe Mauer, die vor öffentlichen Einblicken in den 4.000 m² großen Garten schützt, unterstreicht den feudalen Duktus. Die Opulenz des Badezimmers ist selbst Gropius unangenehm, denn er lässt den Marmor der Waschbecken auf den Abbildungen für seine Publikationen wegretuschieren.15 Auch die tradierten Geschlechterrollen sind in dieses Wohnmodell eingeschrieben.

15 Vgl. hierzu die Originalaufnahme von Lucia Moholy (BHA Inv.-Nr. 6289/3) mit der Abbildung in Gropius’ Buch Bauhausbauten Dessau (Gropius 1930, S. 132).

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4  Bericht der Zeitschrift Vogue über die Villa Noailles in Hyeres an der Côte d'Azur mit Möbeln von Marcel Breuer, 1929

Erwerbsarbeit ist männlich, Hausarbeit weiblich (Keim 2018). In der Filmserie Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? zeigt die Direktorengattin Ise, nachdem ihr Gatte Walter morgens zur Arbeit aufgebrochen ist, gemeinsam mit einer Freundin und assistiert von einem Dienstmädchen die Vorzüge einer modernen, technisierten Haushaltsführung (Abb. 3). Die Meisterhäuser basieren gestalterisch auf einer Weiterführung von Gropius’ Konzept des ‚Baukastens im Großen‘ von 1923. Dieses ist zunächst darauf ausgerichtet, durch Standardisierung und Vorfertigung den Wohnungsbau zu verbilligen und damit Wohnraum auch für einkommensschwächere Schichten erschwinglich zu machen (Kieren 1999, S. 198). Hier ist das Konzept jedoch ästhetisch angewendet, wobei großbürgerliche Wohnhäuser im Grünen in konventioneller Bauweise als skulpturale Kompositionen abstrakter Kuben realisiert werden. Auch in dieser Architektur ist die visuelle Wirkung weitaus wichtiger als Funktionalität und Wirtschaftlichkeit.

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So wenig dieser snobistische Modus dem sozialen Anspruch des Bauhauses entspricht, so hilfreich erweist er sich, das Bauhaus als Marke weiter zu profilieren. Die Anzahl der verkauften Möbel und Gebrauchsgegenstände ist zwar gering, aber durch ihre Platzierung in der Kulturelite wirken sie strategisch in die Öffentlichkeit. Der Theaterdirektor Erwin Piscator lässt sich vom Bauhausmeister Marcel Breuer 1927 seine Wohnung einrichten; die legendäre Bankierstochter und Mäzenin Marie-Laure de Noailles ebenso wie der Filmregisseur Fritz Lang kaufen zur Ausstattung ihrer avantgardistischen Villen und Wohnungen Breuer-Möbel; und der vermögende Anwaltssohn und spätere Architekt Philip Johnson lässt sich sein Appartement in Manhattan 1930 von Mies van der Rohe gestalten (Abb. 4). Als Figuren des öffentlichen Lebens inszenieren sich all diese Akteure dabei als Avantgardisten am Puls der Zeit. Unverzüglich werden ihre modern eingerichteten und zugleich unglaublich luxuriösen Interieurs in den großen Magazinen und Illustrierten der Zeit wie Vogue, Arts & Decoration, Die Dame und Uhu veröffentlicht – unter Titeln à la „Wie ein moderner Mensch wohnt“.16 Hier dient das Bauhausinterieur nicht dem Massenbedarf, sondern ganz im Gegenteil der sozialen Distinktion (vgl. auch Schuldenfrei 2018). Die Bilder sind bis heute beeindruckend, aber es bleibt unverständlich, wie ein Luxusbau wie die Dessauer Direktorenvilla der Öffentlichkeit unter dem Motto „Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich?“ angepriesen werden kann.

DAS VERSPRECHEN DES SOZIALEN WOHNUNGSBAUS Seit 1910 hatte Walter Gropius in zahlreichen Texten, Vorträgen und Projektvorschlägen eine Industrialisierung des Wohnungsbaus propagiert,17 um mit Vorfertigung hohe Qualität zu geringen Kosten möglich zu ma-

16 Vogue, August 1929, S. 70/71, und September 1929, S. 74/75, zeigt die Interieurs der Villa Noailles in Hyères. Ich danke Frank Werner für diese und weitere Informationen. Unter dem Titel „The selected review of the year’s best modern“ veröffentlicht die Zeitschrift Arts & Decoration, Januar 1935, S. 16–19, das von Mies van der Rohe eingerichtete Appartement von Philip Johnson. Das Heim Piscators, in: Die Dame, H. 14, Jg. 55, 1928, S. 10 –12. Ich danke Patrick Rössler für diese Information. Fritz Langs Wohnung, in: Die Dame, H. 7, Jg. 60, 1933; Wie ein moderner Mensch wohnt, in: Uhu, Mai 1929, S. 10–14. 17 Siehe insbesondere das Programm zur Gründung einer allgemeinen Hausbaugesellschaft auf künstlerischer einheitlicher Grundlage m.b.H. (1910), Wohnhaus-Industrie (1925), Der große Baukasten (1926), alle wiederveröffentlicht in Gropius 1988a.

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chen und damit das ‚Recht auf Wohnen‘ für alle einzulösen. Und nicht nur das: In seinem programmatischen Text Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses von 1923 adressiert er die herrschende Wohnungsnot jener Zeit und formuliert als zentrale Aufgabe des Bauhauses, „eine Versuchszentrale zu schaffen, die in Verbindung der Arbeit des Technikers, des Kaufmannes und des Künstlers alle Errungenschaften der Wirtschaft, der Technik und der Form für den Wohnbau einheitlich zu sammeln strebt. Das Ziel dieser Arbeit liegt in der Durchführung der Forderung nach größtmöglicher Typisierung und größtmöglicher Variabilität der Wohngebäude.“ (Gropius 1988b, S. 91) Er spricht von der industriellen Herstellung typischer Bauteile und von der wirtschaftlichen Ausnutzung von Raum und Material, um das herrschende Wohnungsproblem mit modernen technischen und gestalterischen Mitteln zu lösen. Diesen Gedanken entwickelt er weiter und veröffentlicht zu Beginn seiner Dessauer Zeit Aufsätze wie Wie bauen wir gute, schöne, billige Wohnungen (Gropius 1926) oder Wohnhaus-Industrie (Gropius 1925). Anders als die profilierten Wohnbauarchitekten seiner Zeit – Bruno Taut, Ernst May oder J. J. P. Oud – hatte Gropius bis dato keine Wohnsiedlungen, sondern fast nur Villen gebaut. In Dessau will er endlich die von ihm seit anderthalb Jahrzehnten formulierten Ideen in die Praxis umsetzen. Der Dessauer Sozialdemokrat Heinrich Pëus, Mitglied des Anhaltischen Landtags und wiederholt Mitglied des Reichstags, hatte 1916 die Gründung des Dessauer Gartenstadtvereins und 1923 des Anhaltischen Siedlerverbandes initiiert und sich frühzeitig Gedanken über den „Weg zur billigsten Wohnung“ gemacht (Scheiffele 2003, S. 88–90, 226f.). Das gemeinsame Ziel eines modernen, preiswerten Wohnungsbaus war für die sozialdemokratischen Politiker der wesentliche Grund, die Ansiedlung des Bauhauses in Dessau zu unterstützen und dafür in wirtschaftlich schwierigen Zeiten erhebliche staatliche Mittel zu investieren. Pëus schrieb im Juni 1926 in der sozialdemokratischen Zeitung Volksblatt: „Wir Sozialdemokraten haben das Bauhaus mit hierher geholt“, und zwar in der Überzeugung, „daß man auch den Hausbau den modernen Produktionsmitteln, der modernen Herstellung von Massenartikeln […] anpassen muß. Es muß dahin kommen, daß man das Haus in all seinen Teilen in der Fabrik massenweise herstellt.“ (Pëus zit. n. ebd., S. 247, 250) In einem weiteren Artikel bekräftigte er: „Das Bauhaus bedeutet die Bejahung des Rechtes des ganzen Volkes auf eine menschenwürdige Wohnung. Das Bauhaus macht das den Wohnzweck erfüllende Wohnhaus für das ganze

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Volk möglich, […] weil es den Hausbau so zweckmäßig und so billig wie möglich machen will.“ (Pëus zit. n. ebd., S. 262f.) Auch aus Sicht des liberalen Oberbürgermeisters Fritz Hesse spielte es bei den Überlegungen, das Bauhaus nach Dessau zu überführen, eine wichtige Rolle, „daß durch die mit dem Bauhaus der Stadt zugeführten schöpferischen Kräfte auch der Wohnungsbau neue Impulse erhalten könne. […] Von einer Bewährung auf diesem Gebiete durfte auch eine Festigung seiner [des Bauhauses] Stellung und seines Ansehen namentlich bei der arbeitenden Bevölkerung erwartet werden.“ (Hesse 1963, S. 218) Am 24. Juni 1926 beschließt der Stadtrat, Gropius mit dem ersten Bauabschnitt für die städtische Wohnsiedlung Törten zu beauftragen (Schwarting 2010, S. 23), dem später zwei weitere Aufträge für insgesamt 316 Reihenhäuser folgen. Im Stadtrat wird durchaus Kritik an Gropius’ Ideen vorgebracht, die sich im Nachhinein als zutreffend erweist, aber bei der Mehrheit der Stadträte genießt Gropius „blindes Vertrauen“, wie der frühere Bauhäusler Siegfried Ebeling kritisch anmerkt (Ebeling zit. n. Scheiffele 2003, S. 265). Den Bauauftrag will die Stadt eigentlich an das Bauhaus vergeben, aber Gropius überredet die Verantwortlichen mit fadenscheinigen Gründen, ihn persönlich zu beauftragen. So sehr Gropius alles dafür tut, die Marke Bauhaus zu befördern: Mit diesem Bauvorhaben will er sich selbst profilieren und so setzt er durch, dass die entsprechenden Einzelaufträge privat an sein Atelier gehen. Eine Praxis, die eigentlich gegen den Kollektivgedanken des Bauhauses verstößt und dort sonst auch nicht geduldet wird. Gropius aber nimmt Kritik und Missstimmung in Kauf. De facto entstehen die Entwürfe, wie in Architekturbüros üblich, gleichwohl im Kollektiv unter Beteiligung von mehreren Bauhäuslern; Gropius kann ohnehin nicht zeichnen.

DIE TÖRTEN-KRISE Gropius verspricht, die Baukosten durch die Verwendung von Betonfertigteilen und eine rationelle Baustellenorganisation signifikant zu reduzieren. Anfang Januar 1928 stellt sich jedoch heraus, dass die realen Kosten höher liegen als geplant und die Häuser des ersten Bauabschnitts zum Schaden der Stadt zu billig verkauft worden sind. Der Verkaufspreis für hundert Häuser des zweiten Bauabschnitts muss um 14 Prozent erhöht werden, was sie für viele Interessenten unerschwinglich macht,

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5   Schadensdokumentation aus dem Bericht der Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen von 1929

zumal die monatliche Belastung bei gleicher Anzahlung um 60 Prozent steigt (Schwarting 2010, S. 258).18 Ein Sturm der Entrüstung bricht los. Eine „Notgemeinde der Gropiussiedler“ formiert sich und lädt zu einer Versammlung ins sozialdemokratische Volkshaus Tivoli. Am 9. Januar 1928 finden sich dort über tausend Menschen ein. Sie kritisieren nicht nur die gestiegenen Kosten, sondern ebenso die im ersten Bauabschnitt deutlich gewordenen baulichen Mängel (Abb. 5). Pëus sieht sich von Gropius getäuscht. Nach seiner Berechnung sind die in konventioneller Ziegelbauweise realisierten Siedlungsbauten des Anhaltischen Siedlerverbandes mit einem Verkaufspreis von rund 500 Mark 5 Prozent billiger

18 Die Angebots- und Verkaufspreise für die Bauten des ersten Bauabschnitts wurden unter anderem aufgrund fehlerhafter Kalkulationen fast 10 Prozent zu niedrig angesetzt, Schwarting 2010, S. 258, 262.

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als die Betonbauten in Törten (Scheiffele 2003, S. 150f.). Die zu gleicher Zeit in Dessau als Ziegelbauten errichteten Wohnungen des Projekts Hohe Lache/Fichtenbreite sind bezogen auf den Quadratmeterpreis der Wohnfläche sogar um 25 Prozent billiger (Schwarting 2010, S. 163). Eine dem Bauhaus kritisch gegenüberstehende Lokalzeitung resümiert, die Veranstaltung „besiegelte die erste große Niederlage des Bauhauses und seines Leiters, sie wirkte vernichtender als alle Federkriege, die in den letzten Jahren in der Fachpresse um das Bauhaus geführt worden sind“ (Central-Anzeiger zit. n. ebd., S. 258). Erst durch die Umwidmung von Fördergeldern der Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen, die ursprünglich für Bauten von Marcel Breuer und Hannes Meyer vorgesehen waren, kann die Situation politisch befriedet und der Verkaufspreis der Wohnhäuser in der Siedlung Törten wieder reduziert werden (Schwarting 2010, S. 261, 405). Bürgermeister Hesse verhindert eine im Stadtrat verlangte vergleichende Analyse zu anderen Siedlungsbauten in Dessau (Central-Anzeiger 1929). Untersuchungen der Reichsforschungsgesellschaft aus den Jahren 1929 und 1932 (Reichsforschungsgesellschaft 1929; Deutsches Handwerksinstitut 1932; Hotz 1932, S. 125–154) wie auch aktuelle Forschungen (Schwarting 2010, S. 257–268) bestätigen das Fiasko der Gropius’schen Siedlung bezüglich sowohl der Wirtschaftlichkeit der Bauweise als auch ihrer funktionalen Gestaltung. Dabei stellt sich heraus, dass schon die Montage der vorgefertigten Bauteile teilweise ein Vielfaches der Arbeitszeit in Anspruch genommen hatte, die für die Erstellung vor Ort nötig gewesen wäre.19 Daher resümiert die Reichsforschungsgesellschaft bereits Anfang 1929: „Sehr häufig läßt sich durch Handarbeit schneller und billiger das Bauvorhaben herstellen. Mehr Maschinen, wie es im Umfang des Bauabschnittes 1928 geschehen ist, dürften für ein derartiges Siedlungsvorhaben nicht rentabel sein.“ (Reichsforschungsgesellschaft zit. n. ebd., S. 247)

19 Das Versetzen einer 7,63 m² großen Bimsbetongroßeinheit durch 14 Maurer, Zimmerleute und Arbeiter nahm sieben Stunden in Anspruch, insgesamt 98 Personenarbeitsstunden. Ein Maurer konnte die gleiche Wand mit Schlackeund Bimsbetonsteinen in nur zwei Stunden und zehn Minuten errichten, also annähernd einem Fünfzigstel des Arbeitsaufwandes (Schwarting 2010, S. 250).

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DIE BAUSTELLE ALS FILMSET Die zahlreichen Widersprüche in der Konzeption und Umsetzung des Projekts erwecken den Eindruck, dass es Gropius nicht vordringlich darum geht, die Baukosten zu senken und damit bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, sondern vor allem darum, sich öffentlichkeitswirksam als ‚Ford des Wohnungsbaus‘ in Deutschland hervorzutun. Dafür spricht auch, dass er mit der Humboldt-Film die Erstellung der Filmserie hierzu bereits im März 1926 vereinbart hatte, noch bevor die Stadt den Auftrag zum Siedlungsbau überhaupt erteilt hatte. Zu einer ähnlichen Bewertung kommt auch der Architekturhistoriker Andreas Schwarting in seiner Studie über das Projekt in Törten: „Die Übernahme fordistischer und tayloristischer Methoden erweist sich daher ebenso wie die publikumswirksame Baustellenorganisation entlang der Doppelreihe oder die Bauversuche des letzten Bauabschnitts letztendlich als Inszenierung.“ (Schwarting 2010, S. 271) Der ehemalige Bauhausstudent und Mitarbeiter der Junkers Flugzeugwerke Siegfried Ebeling kritisierte 1928 im Anhalter Anzeiger, dass Gropius mit der Siedlung Törten eher den Kitzel gesucht habe, „sich möglichst bald in der ‚Berliner Illustrierten‘ oder irgendeinem Großstadtmagazin abgebildet zu sehen“, als die Dinge solide und gewissenhaft anzugehen. „Der Kran macht’s nicht, sondern das, was man mit ihm aufzieht.“ (Ebeling zit. n. Scheiffele 2003, S. 265f.) Aus einer ein Jahr vor Baubeginn publizierten Studie ist bekannt, dass sich bei einem Siedlungsbau in der Größe von Törten der Einsatz größerer Baumaschinen nicht lohnt – dennoch kommt schließlich ein Kran zum Einsatz (Nerdinger 1985, S. 18).20 Zum einen erzeugt der Kran eindrucksvolle Bilder für die Inszenierung der Baustelle. Er fungiert als ikonisches Bildzeichen, das Fortschritt und Mechanisierung symbolisiert. So unsinnig die Kranbahn für die angeblich beabsichtigte Verbilligung des Wohnbaus ist, so nützlich ist sie bei der medialen Verwertung des Projekts. Bei den Aufnahmen des besagten Lehrfilms werden die Schienen der Kranbahn zugleich für Kamerafahrten benutzt. Insofern ist die Baustelle Törten eher ein Filmset, als dass sie auf eine möglichst effiziente Realisierung von Wohnungen ausgelegt ist.

20 Nerdinger bezieht sich hier auf O. Rode, „Die Maschine in rationell betriebenen Baubetrieben“, Soziale Bauwirtschaft (1925), S. 83–88.

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6   Filmstill aus Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich?, Teil 6, 1928, Regie: Richard Paulick

Publizistisch ist die Siedlung gleichwohl ein enormer Erfolg, und Gropius gelingt es damit, trotz all ihrer Mängel, die allerdings außerhalb der Region kaum wahrgenommen werden, sich bis heute in die Architekturgeschichte einzuschreiben. Der Film Das Bauhaus und seine Bauweise/ Siedlung Dessau Törten, Teil 6 von Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich?, spricht gegen alle Fakten von „äußerst billigen Wohnungen“, Gropius im Buch Bauhausbauten 1930 vom Erreichen „billiger mieten“ (Gropius 1930, S. 153), ein Mythos, der sich jedoch bis heute gehalten hat (Abb. 6).21 Die Darstellung der Siedlung Törten in Film und Buch ist gerade in der Gegenüberstellung zum Direktorenhaus des Bauhauses aufschlussreich. Während die großbürgerlichen Influencer die Vorzüge einer mo-

21 So etwa in den Äußerungen von Claudia Perren, Direktorin der Stiftung Bauhaus Dessau, am 27.9.2018 im Rahmen der Podiumsdiskussion 100 Jahre Bauhaus – Ein kritischer Diskurs in der Akademie der Künste Berlin.

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7a+b   Filmstills aus Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich?, Teil 6, 1928, Regie: Richard Paulick 7c    Filmstills aus Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich?, Teil 4, 1926, Regie: Richard Paulick

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dernen Wohnung vorführen, interessiert im Massenwohnungsbau nur dessen vermeintlich billige Herstellung. Die Nutzung der Wohnungen von Törten wird weder im Film noch im Buch dargestellt. Der bei den Meisterhäusern gern und oft gezeigte Blick von den Wohnräumen in den Garten – ein klassischer Topos des modernen, befreiten Wohnens – ist in der Siedlung Törten gar nicht möglich; die Wohnzimmerfenster sind zu hoch eingebaut, als dass die Bewohner direkt nach draußen hätten schauen können. Dass dies nicht sonderlich attraktiv wirkt, ist Gropius offenkundig bewusst, denn es hat sich keine einzige Aufnahme überliefert, die ein Wohnzimmerfenster eines der Siedlungshäuser aus dem Innenraum zeigt. So unterschiedlich die Präsentation der Meisterhäuser und der Wohnsiedlung ist, ihre visuelle Dokumentation zelebriert das Mechanische, das Serielle und die fordistischen Arbeitsprozesse – ob in Form von Kran, Ventilator oder Klappsofa, Geschirr- oder Bauteilstapel, Betonierung oder Geschirrwäsche (Abb. 7a–c).

REKLAMEARCHITEKTUR STATT FUNKTIONALISMUS Dass Gropius sein Rationalisierungsziel nicht erreicht, liegt nicht zuletzt an seiner Fixierung auf die moderne Stahlbetonkonstruktion und an seinem stets bestrittenen, aber sehr wohl ausgeprägten Stilwollen. Gropius hat in Weimar über Jahre erfolgreich Ideen einer neuen Welt und eines neuen Alltagslebens propagiert. Doch mit dem Umzug des Bauhauses nach Dessau müssen diese Ideen einem Realitätscheck standhalten, und sie entpuppen sich nicht selten als maßlose Übertreibungen oder gar leere Versprechungen. Mit der Qualität und Funktionalität der Wohnungen in Törten ist es nicht weit her. Nach einer Führung durch die Siedlung mit dem Bauhausdozenten Hans Wittwer notiert der Bauhausstudent Konrad Püschel am 15. Januar 1928: „bei der nähe gesehen weisen sie eine beträchtliche menge mängel auf. die siedlungsfrage, eine frage der zeit ist doch auf diese art und weise noch nicht gelöst. fremde architekten würde ich mich scheuen durch die siedlung zu führen.“ (Püschel zit. n. Schwarting 2010, S. 259) Zu den Mängeln zählen nicht nur eine Reihe von Bauschäden wie Risse, abplatzender Putz oder mangelhafte Heizungsanlagen, die bei experimentellen Bauten vielleicht zu erwarten sind, sondern grundlegende Mängel in der Entwurfskonzeption (ebd., S. 242–246). Die von

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Gropius geplante, extrem schmale und lang gestreckte Parzellenform im Seitenverhältnis 1:10 verhindert weitgehend die Erweiterbarkeit der Häuser und die Nutzbarkeit des Gartens, wie Pëus schon frühzeitig kritisiert. Die Häuser des ersten Bauabschnitts verfügen statt über ein Bad nur über eine Waschmöglichkeit in der Küche, was den längst üblichen Wohnstandards nicht mehr entspricht. Im dritten Bauabschnitt ist durch eine Split-Level-Lösung der Raumbedarf für Treppen zwar reduziert, allerdings beträgt die Durchgangshöhe zwischen den Etagen lediglich 1,70 Meter. Aus ästhetischen Gründen hat Gropius die schmalen Horizontalfenster der Vorderfassade ohne Sturz direkt unter der Decke einbauen lassen, wodurch große Teile der Zimmer verschattet und Kindern und Sitzenden der Ausblick genommen wird, wie die Reichsforschungsgesellschaft bemängelt (ebd., S. 144). Weil es wegen der einfach verglasten – und gegenüber Holzfenstern überteuerten – Stahlfenster enorm zieht, müssen sich „viele Einwohner durch aufgehängte Decken“ schützen (ebd.). Die Fassaden sind zu dünn und damit nicht ausreichend wärmegedämmt. So werden bereits kurz nach Fertigstellung umfangreiche Umbauten wie etwa der Umbau der Fenster und die Errichtung einer zusätzlichen Mauerschale notwendig, um die gravierendsten Mängel zu beheben. Die Probleme mit der Siedlung Törten erschüttern das Vertrauen der Politik in das Bauhaus nachhaltig. Der einstige Unterstützer Pëus wendet sich enttäuscht von der Schule ab, und innerhalb der SPD entsteht eine Opposition zum Bauhaus, die sich in den städtischen Etatberatungen 1929 existenzbedrohlich auswirkt.22 Auch das Verhältnis zu Bürgermeister Fritz Hesse verschlechtert sich rapide. Gropius und Hesse geraten nun öfter in Streit, der Politiker wird gegenüber Gropius übellaunig, und Ise Gropius gewinnt den Eindruck, „dass der bürgermeister im grunde

22 Die Beratungen fanden am 24. Mai 1929 im Rahmen der Stadtratssitzung statt, dazu der Artikel Die Haushaltsberatungen im Dessauer Stadtparlament von H. Jericke (BHA, Hannes Meyer, Mappe 28): „Innerhalb der Sozialdemokratie hatte sich eine starke Opposition gegen das Bauhaus gebildet. Diese Opposition ist noch verstärkt worden durch das klägliche Ergebnis der Törtener Siedlungsbauten.“ Der Bodenreformer Sasse war aus der SPD ausgetreten und hatte mit zwei weiteren Stadträten eine eigene Partei gegründet, die sich gegen das Bauhaus positionierte. In der SPD war die Anwendung des Fraktionszwangs notwendig, zudem auch die Zustimmung seitens der beiden kommunistischen Stadträte, um die Weiterexistenz des Bauhauses zu sichern, die Abstimmung war mit 22 zu 19 denkbar knapp.

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8   Doppelseite mit Zeitreihenfotografien aus dem Bericht der Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen von 1929

seines herzens ganz froh wäre, gr.[opius] fortgehen zu sehen“.23 Auch László Moholy-Nagy fällt bei Hesse, der ihn am liebsten aus der Schule entfernt sehen würde, in Ungnade (Isaacs 1985, S. 420). Anders als seinen Kollegen Bruno Taut, Ernst May, Hans Scharoun, J. J. P. Oud, Mart Stam, Anton Brenner, Martin Wagner, Alexander Klein, Adolf Loos, Paul Schmitthenner und vielen anderen gelingt es Gropius und dem Bauhaus unter seiner Leitung nicht, einen relevanten Beitrag zum sozialen Wohnungsbau der Zeit zu leisten. Gropius verfolgt fixe Ideen in Hinsicht auf eine elementare Gestaltung und technologische

23 Tagebuch von Ise Gropis, BHA, Mappe 10, Inventar-Nr. 1998/55, 21.12.1927.

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Innovation und hält auch dann noch unbeirrt an diesen fest, wenn die von ihm behauptete Funktionalität und Wirtschaftlichkeit der Bauten längst widerlegt ist. Insofern zeigt er sich bemerkenswert erfahrungsresistent und kaum als der Funktionalist, als der er sich selbst gerne ausgibt. Zu wesentlichen Teilen bleibt seine Architektur einem Reklamecharakter verhaftet und primär auf die äußere Wirkung bedacht, der Fragen einer alltäglichen Benutzbarkeit und erschwinglichen Herstellbarkeit untergeordnet werden. Sein innovativer Beitrag zur Architektur der Moderne entpuppt sich als anders geartet als bisher gemeinhin angenommen und harrt noch der Untersuchung. Mit seiner Reklamearchitektur hat Gropius dem Fetischcharakter der Waren im kapitalistischen System Rechnung getragen, der den Gebrauchswert dem symbolischen Wert der Dinge unterordnet. Die umfassende Propaganda und Werbung schreibt den Objekten ideelle Werte ein und lädt ihre Formen diskursiv auf. Während beim Direktorenhaus die Fotografie das primäre Medium ist, ist es in der Siedlung Törten der Film. Denn die zentrale Botschaft ist hier die vermeintlich wirtschaftliche Herstellung auf Basis fordistischer Prinzipien. Deren Inszenierung anhand von Bauprozessen lässt sich am besten mit dem zeitbasierten Medium des Films darstellen, welches hier zum Leitmedium wird. Und so sind es auch Serien von Filmstills (z. B. in Gropius 1930) oder Zeitreihenfotografien (z.B. in Reichsforschungsgesellschaft 1929), mit denen diesen Bauten in Druckpublikationen präsentiert werden (Abb. 8).

POSTSKRIPTUM: DIE POLITIK DES ARCHIVS (ODER: DER KALTE KRIEG UM DIE RECHTE) Obwohl seit 2012 mit der Veröffentlichung der Forschung von Jeanpaul Goergen wichtige Fakten zur Entstehungsgeschichte der Filmserie Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? und zur Rolle Richard Paulicks hierbei bekannt sind und bereist seit 2011 von einem der anerkanntesten Urheberechtsanwälte in Deutschland, Christian Czychowski von der Kanzlei Boehmert & Boehmert, ein Gutachten vorliegt,24 laut dem Paulick als ein

24 Christian Czychowski: Urheberrecht nach Richard Paulick. STIB 60018 385/11. Schreiben an die Stiftung Bauhaus Dessau vom 16.3.2011, 8 Seiten, 16.3.2011.

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wichtiger Miturheber, wenn nicht gar als Alleinurheber des neunteiligen Films im rechtlichen Sinne anzusehen ist, wird in Veröffentlichungen zum Thema sein Name stets unterschlagen. Der Fall ist symptomatisch dafür, wie über den Besitz an Kunstgut die Zugänglichkeit zu Werken und deren Vertrieb und Rezeption gesteuert wird. Anlass für das Gutachten war eine Film-DVD-Editionsreihe zum Bauhaus, welche die Stiftung Bauhaus Dessau unter meiner damaligen Leitung bei absolut media herausgab. Es lag nahe, hierin auch Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? aufzunehmen. Die Stiftung holte dafür die nötigen Rechte und Vollmachten der Erben Paulicks ein und stellte beim Bundesfilmarchiv einen Antrag auf Ausleihe zur Digitalisierung des Werks. Das Bauhausarchiv Berlin als Eigentümer des Deposits legte hiergegen ein Veto ein, obwohl nach deutschem Urheberrecht die Rechteinhaber einen Anspruch auf Zugang zu den Werken haben. Das Bauhausarchiv war nicht bereit, das Recht auf Zugang anzuerkennen oder mit der Stiftung gemeinsam die Rechtslage zu klären oder die DVD herauszugeben, sondern schaltete das Kulturstaatsministerium ein und verhinderte so das Publikationsvorhaben der Stiftung erfolgreich auf politischem Wege.25 Die Rechte der Erben werden weiterhin ignoriert und Paulicks Name wird bei den Veröffentlichungen der Filmserie in Ausstellungen, in Publikationen und im Internet bis heute unterschlagen. Allein die Filmdatenbank filmportal.de hat vor Kurzem auf Initiative des Herausgebers Thomas Tode in seiner Filmografie die Rolle Paulicks als Regisseur der Filmserie eingetragen. Für das Bauhausarchiv hat dieses Vorgehen zwei Vorteile: So kann es bei Verleih, Vorführung oder Erteilung von Abdruckrechten Gebühren alleine für sich in Anspruch nehmen. Wichtiger als dieser finanzielle Vorteil ist aber sicherlich, den Vertrieb des Werks kontrollieren zu können und ein Mitspracherecht der Paulick-Erben zu verhindern. Hier schreiben sich Auswirkungen der deutschen Teilung und des Kalten Kriegs fort, wenn das westdeutsche Bauhausarchiv der ostdeutschen Stiftung Bauhaus Dessau die Werknutzung für eine DVD-Publikation untersagt und die Urheberrechte der ostdeutschen Erben Paulicks, eines wichtigen Architekten der DDR-Nachkriegsmoderne, ignoriert.

25 Der Vorgang erstreckte sich von September 2009 bis August 2011 und umfasst Korrespondenzen und Besprechungen, an denen die Stiftung Bauhaus Dessau, das Bauhausarchiv, das Bundesfilmarchiv und das Kulturstaatsministerium beteiligt waren.

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Literatur

Central-Anzeiger 1929 o. A.: Die unvergleichbaren Gropiushäuser, in: Central-Anzeiger, 12.1.1929. Colomina 1994 Colomina, Beatriz: Privacy and Publicity. Modern Architecture as Mass Media, Cambridge: MIT Press 1994. Deutsches Handwerksinstitut 1932 Deutsches Handwerksinstitut: Schlußbericht über die Versuchssiedlung in Dessau Törten, aufgestellt vom Deutschen Handwerksinstitut, in: Edgar Hotz (Hg.): Kostensenkung durch Bauforschungen, Ergebnisse zur wirtschaftlichen Gestaltung des Baubetriebs, Berlin: Beuth Verlag 1932, S. 125–154. Die neue Linie 1931 o. A.: Wie wohnen wir heute?, in: Die neue Linie, Januar 1931, S. 18–27. Filmausschuss 1926 o. A.: Filmausschuss für Bau- und Siedlungswesen, in: Deutsche Bauzeitung, H. 71, Jg. 60, 4.9.1926, S. 584. Goergen 2012 Goergen, Jeanpaul: „wirklich alles wurde unseren wünschen entsprechend gemacht“. Das Bauhaus in Dessau im Film der zwanziger Jahre, in: Maske und Kothurn, H. 1/2, Jg. 57, 2012: Bauhaus & Film, hg. v. Thomas Tode, S. 109–122. Gropius 1925 Gropius, Walter: Wohnhausindustrie, in: Adolf Meyer (Hg.): Ein Versuchshaus des Bauhauses in Weimar, Müngen/Langen 1925 (Bauhausbücher, Bd. 3). Gropius 1926 Gropius, Walter: Wie bauen wir gute, schöne, billige Wohnungen, in: Offset, Jg. 3, 1926, S. 267–270. Gropius 1927 Gropius, Walter: geistige und technische voraussetzungen der neuen baukunst, in: Die Umschau, H. 45, Jg. 31, 1927, S. 909–910. Gropius 1928 Gropius, Walter: bauen und wohnen, in: Die Baugilde, H. 17, Jg. 10, 1928, S. 1313–1314.

Gropius 1930 Gropius, Walter: Bauhausbauten Dessau, München: Langen 1930 (Bauhausbücher, Bd. 12). Gropius 1988a Gropius, Walter: Ausgewählte Schriften, Bd. 3, hg. v. Hartmut Probst; Christian Schädlich, Berlin: Verlag für Bauwesen 1988. Gropius 1988b Gropius, Walter: Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses (1923), in: ders.: Ausgewählte Schriften, Bd. 3, hg. v. Hartmut Probst; Christian Schädlich, Berlin: Verlag für Bauwesen 1988, S. 83–92. Hesse 1963 Hesse, Fritz: Von der Residenz zur Bauhausstadt: Erinnerungen an Dessau, Bad Pyrmont: Selbstverl. [Hannover: Schmorl & von Seefeld, Nachf. in Komm.] 1963. Hotz 1932 Hotz, Edgar: Kostensenkung durch Bauforschungen. Ergebnisse zur wirtschaftlichen Gestaltung des Baubetriebs, Berlin: Beuth Verlag 1932. Isaacs 1985 Isaacs, Reginald R.: Walter Gropius. Der Mensch und sein Werk, Bd. 1, Frankfurt a. M./Berlin: Ullstein 1985. Keim 2018 Keim, Christiane: Meisterhäuser – Musterwohnungen. Zur medialen Inszenierung von Architektenhäusern in den 1920er Jahren, in: Dietrich Boschung; Julian Jachmann (Hg.): Das Architektenhaus von der Renaissance bis zur Gegenwart, München: Fink 2018, S. 117–142. Kieren 1999 Kieren, Martin: Das eigene Leben und Werk im Visier – der Architekt und Erfinder des Bauhauses Walter Gropius, in: Jeannine Fiedler; Ute Ackermann (Hg.): Bauhaus, Köln: Könemann 1999, S. 188–203. Müller 1975 Müller, Manfred: Das Leben eines Architekten. Porträt Richard Paulick, Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 1975. Nerdinger 1985 Nerdinger, Winfried: Der Architekt Walter Gropius. Zeichnungen, Pläne, Fotos, Werkverzeichnis, Berlin: Mann 1985.

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Oswalt 2020 Oswalt, Philipp: Marke Bauhaus 1919–2019. Der Sieg der ikonischen Form über den Gebrauch, Zürich: Scheidegger & Spiess 2020. Paulick 1927 Paulick, Richard: Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? Nach dem gleichnamigen Kulturfilm der Humboldt-Film G.m.b.H.-Berlin, Berlin-Wilmersdorf: Filmausschuss für Bau- u. Siedlungswesen 1927. Reichsforschungsgesellschaft 1929 Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen e. V. (Hg.): Bericht über die Versuchssiedlung in Dessau, Sonderheft 7, Berlin: Beuth-Verlag 1929. Scheiffele 2003 Scheiffele, Walter: Bauhaus, Junkers, Sozialdemokratie. Ein Kraftfeld der Moderne, Berlin: Form + Zweck 2003. Schlemmer 1990 Schlemmer, Oskar: Idealist der Form. Briefe, Tagebücher, Schriften. 1912–1943, hg. v. Andreas Hüneke, Leipzig: Reclam 1990. Schuldenfrei 2018 Schuldenfrei, Robin: Luxury and Modernism. Architecture and the Object in Germany 1900–1933, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2018. Schwarting 2010 Schwarting, Andreas: Die Siedlung DessauTörten. Rationalität als ästhetisches Programm, Dresden: Thelem 2010. Stiftung Bauhaus Dessau 2017 Stiftung Bauhaus Dessau (Hg.): Neue Meisterhäuser in Dessau, 1925–2014. Debatten. Positionen. Kontexte, Leipzig: Spector Books 2017 (Edition Bauhaus, Bd. 46).

Bildnachweise

Abb. 1: Stiftung Bauhaus Dessau (I 19265 L) / © (Paulick, Richard) Paulick, Gabriele. Abb. 2a: Foto: Candy Welz.

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Abb. 2b: Foto: Johannes Jacobus van der Linden, Bauhausarchiv. Abb. 3: Gropius 1930, S. 110–111. Abb. 4: Vogue, September 1929, S. 74–75. Abb. 5: Reichsforschungsgesellschaft 1929, S. 32. Abb. 6–7b: Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? Teil 6: Das Bauhaus und seine Bauweise (Richard Paulick, D 1928), 0:03:15, 0:06:29, 0:09:56. Abb. 7c: Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? Teil 4: Neues Wohnen (Haus Gropius) (Richard Paulick, D 1926), 0:03:50. Abb. 8: Reichsforschungsgesellschaft 1929, S. 112–113.

Lilly Reich began her career by training in crank embroidery with the designer Else Oppler-Legband. In the 1910s, Reich, together with OpplerLegband and the fashion and interior designer Anna Muthesius, became identified with the dress reform movement, which attempted to free the female body from the limitations of the corset by means of a loose-fitting, flowing clothing style. Reich’s work as a trade-fair, exhibition and interior designer, which she began in 1912, produced the constitutive elements of the open floor plan and the fluid space: light, non-bearing, movable, transparent partition walls or room dividers – shelf systems, folding screens, curtains, counters and boards – which simultaneously bring the movement and the physical perception of the body in the space into focus in both the domestic sphere and the public context of an exhibition. In this open yet strictly choreographed design concept the visual and tactile significance of the textile takes on a fundamental role: a paradigmatic case being Café Samt & Seide, in which textile panels are used as elements constituting the space. But it is also in the domestic context that textiles play a primary role as design elements in Reich’s work.

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ELIANA PEROTTI NAH AM KÖRPER – VON DER UNTERWÄSCHE ZUM RAUM. ZUR AUSSTELLUNGS- UND WOHNRAUMGESTALTUNG VON LILLY REICH ZEICHNEN MIT DER NÄHMASCHINE Lilly Reich (1885–1947) beginnt ihre Karriere mit der Ausbildung zur Kurbelstickerin.1 Bei der Kurbelstickmaschine wird die Naht durch eine Spezialnadel erzeugt, die ähnlich einer Häkelnadel einen Haken hat. Der Faden kommt von unten und wird mit der Nadel nach oben geholt, wo dann ein Kettenstich gebildet wird. Es wird nicht wie bei einer normalen Nähmaschine der Stoff bewegt, sondern die Nadel in die Richtung gedreht, in die man näht. Das geschieht mit einer Kurbel, die mit der rechten Hand unter dem Tisch bedient wird; dieses Vorgehen entspricht einer Art Zeichnen mit der Nähmaschine. In die Lehre geht Reich 1910 zu Else Oppler-Legband, die sich als Pionierin ein breites Spektrum künstlerisch-gestalterischer Tätigkeiten erschlossen hat und außer als Kostümbildnerin und Modedesignerin auch

1 Die Kurbelstickerei war in den Jahren des Jugendstils eine beliebte Stoffdekorationstechnik und galt als die modernste Form traditioneller weiblicher Handarbeit. Biografie und Werk von Lilly Reich sind in zwei monografischen Studien rekonstruiert, vgl. Günther 1988 und McQuaid 1996. Zum Ausstellungsdesign-Kurrikulum von Reich erschien bereits 1981 ein Aufsatz von Dietsch, für spätere wissenschaftliche Auseinandersetzungen vgl. Costa-Meyer 1999; Dörhöfer 2004, S. 105–115; James-Chakraborty 2015.

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als Architektin, Innenarchitektin und Entwerferin von Filmarchitekturen arbeitet. Von 1903 bis 1904 ist Oppler-Legband künstlerische Leiterin der kunstgewerblichen Abteilung des Kaufhauses Wertheim in Berlin, wo auch Reich, nachdem sie für viele der elegantesten Berliner Warenhäuser gearbeitet hatte, 1911 Schaufenster und Modearrangements gestaltet. Ihre Wege kreuzen sich verschiedene Male, zu Beginn des Jahrhunderts im Studio von Henry van de Velde in Berlin, dann 1908 bei Josef Hoffmann an der Wiener Werkstätte, später auch in Zusammenhang mit den Tätigkeiten des Deutschen Werkbundes, von dem Oppler-Legband seit 1913 eines der wenigen weiblichen Mitglieder ist.2 Es ist anzunehmen, dass Oppler-Legbands fluides kreatives und professionelles Schaffen, ihr interdisziplinärer Zugriff auf verschiedene Ausdrucksbereiche der Gestaltung wie auch ihre Kennerschaft und Affinität zum Textilen, das sie in der Innenraumgestaltung betont einsetzt, für Reich eine nicht unwesentliche Inspirationsquelle darstellt. In Berlin eröffnet Reich 1911 ein eigenes Innendekorations- und Modegeschäft, erhält verschiedene Aufträge, unter anderem als Schaufensterdekorateurin, schließt sich 1912 dem Deutschen Werkbund an und entwirft in seinem Auftrag eine Muster-Arbeiterwohnung im Berliner Gewerkschaftshaus wie auch eine solche für die Berliner Ausstellung Die Frau in Haus und Beruf, die 1912 vom Lyceum Club veranstaltet wird und der interessierten Öffentlichkeit einen Überblick über die Tätigkeit der 9,5 Millionen arbeitenden Frauen in Deutschland präsentiert.3

DER DEUTSCHE WERKBUND UND DIE MODE Bei der ersten Werkbundausstellung, die in Köln 1914 dem Publikum dargeboten wird, sind auch die weiblichen Mitglieder aufgerufen, sich daran zu

2 Zur Vita und zur Arbeit von Else Oppler-Legband vgl. Pese 2019; Wieber 2021, S. 165–167. Zur Stellung und Rolle der Frauen im Deutschen Werkbund vgl. Lange 2019; McQuaid 1996, S. 48; Stratigakos 2003 und 2007. 3 Zu Reichs Arbeiterwohnungen, aufgrund derer sie in den Deutschen Werkbund aufgenommen wurde, vgl. Günther 1988, S. 16f.; McQuaid 1996, S. 10, 48. Zu ihrem Entwurf vgl. Ricon Baldessarini 2001, S. 50–52. Die von Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung organisierte Berliner Ausstellung Die Frau in Haus und Beruf von 1912 bot auch der Reformkleidung – ein Ausstellungsbereich, der von Oppler-Legband und Fia Wille kuratiert wurde – eine prominente Bühne (Ober 2005, S. 74f.).

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beteiligen. Anna Muthesius und Else Oppler-Legband leiten das Organisationskomitee, das die Beiträge im sogenannten Haus der Frau zusammenführen soll; Lilly Reich wirkt dabei als Koordinatorin. Das Komitee will die intellektuelle Dimension weiblichen Schaffens hervorheben und um jeden Preis vermeiden, einen dilettantischen Eindruck zu vermitteln. Der von der Berliner Architektin Margarete Knuppelholz-Roeser entworfene Ausstellungspavillon versucht sich mit einem nüchternen, funktionalen und dekorationsarmen Sezessionsstil dem latenten Vorwurf weiblicher Unsachlichkeit zu entziehen. Im Inneren, wo auch von Künstlerinnen entworfene Kleider und Accessoires ausgestellt werden, gestaltet Reich die Schaufenstergalerie der Geschäfte beim Haupteingang und innerhalb der Ausstellung, in der Abteilung Raumkunst, steuert sie ein kleines Wohnzimmer bei.4 Ebenfalls 1914 gründet der Deutsche Werkbund einen Ausschuss für Mode-Industrie, der für eine vom Ausland unabhängige deutsche Mode lobbyiert und bei dem Reich und der Poly-Designer und Architekt Lucian Bernhard die künstlerische Leitung und Gesamtorganisation innehaben. Die Abschlussveranstaltung im März 1915 findet in Berlin im Festsaal des Preußischen Abgeordnetenhauses statt und gestaltet sich, unter der Schirmherrschaft von Kronprinzessin Cecilie, als große, nicht-kommerzielle Modeschau, die 100 verschiedene Modelle vorführt.5 Eine Modeschau mit sich bewegenden Mannequins, noch dazu auf einem beleuchteten Laufsteg, bedeutete eine noch unverbrauchte Novität, hatte doch ein solches Experiment der Verschränkung von Mode und Bewegung zum ersten Mal um 1910 in Paris stattgefunden. Artifex dieser Performance war der Franzose Paul Poiret gewesen, einer der Gründerväter der Haute Couture, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Lauf der Modegeschichte sowohl durch seine frühen Experimente mit Modeschauen als auch durch seine revolutionären korsettlosen Silhouetten nachhaltig prägte. Auch in Wien und in Berlin zeigte er die ersten Modeschauen mit Mannequins, die die Kleider in Bewegung brachten, sozusagen zum Leben erweckten.6

4 Zu Reichs Beitrag an der Kölner Werkbundausstellung von 1914 und zu Margarete Knuppelholz-Roesers Haus der Frau vgl. McQuaid 1986, S. 13; OpplerLegband 1914; Stojanik 1996a; Stratigakos 2005, S. 150–152. 5 Zur Modeschau des Deutschen Werkbunds in Berlin von 1915 vgl. McQuaid 1986, S. 13f.; Rasche 1995, S. 80. 6 Zu Paul Poiret und der Erfindung der bewegten Modeschauen vgl. Troy 2006 und Vilaseca 2010, S. 32–35. Institutionen der Mode, Modekultur und ihr Verhältnis zum Deutschen Werkbund sind in Rasche 1995 (S. 75–82) dargestellt.

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DAS EMANZIPATORISCHE REFORMKLEID Durch ihre Tätigkeit im Deutschen Werkbund vertiefen sich Reichs Beziehungen zu Oppler-Legband und Anna Muthesius, Ehefrau von Hermann Muthesius und selbstbewusste Autodidaktin der Innendekoration und des Modedesigns. Sowohl Oppler-Legband wie auch Anna Muthesius zählen zu den Pionierinnen der Reformkleid-Bewegung, die in den 1910er und 1920er Jahren den Diskurs um die Frauenmode emanzipatorisch aufladen.7 Bereits 1896 war in Berlin der Verein zur Verbesserung der Frauenkleidung gegründet und ein Jahr danach die erste Ausstellung zur Reformkleidung eröffnet worden, zu der zahlreiche Hersteller Vorschläge eingereicht hatten. Wenn auch das Kleidungsstück ,Hose‘ für Frauen innerhalb des Vereins mit größtem Argwohn betrachtet wurde, so war man im Sektor Unterwäsche sehr reformfreudig. Fünf Pfund Unterwäsche trug die elegante Frau von damals am Körper: Beinkleid, Hemd, Anstandsrock, Korsett, Halbunterrock, Untertaille. Das im Schritt offene Beinkleid und der Anstandsrock wurden schon ab den späten 1870er Jahren durch das geschlossene Reformbeinkleid und das Hemdbeinkleid abgelöst und die Zahl der Unterröcke auf einen reduziert.8 Die Reformkleid-Bewegung versprach praktikable Kleidung für sportliche wie berufliche Tätigkeiten, aber auch für den Alltag von Hausfrauen und Müttern. Bekannt sind die kleiderreformerischen Vorschläge von Paul Schultze-Naumburg, der seine Erneuerungskonzepte im 1901 erschienenen Buch Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung darlegte (Schultze-Naumburg 1901), und die Entwürfe von Henry van de Velde, der ein Jahr später Das neue Kunst-Prinzip in der modernen Frauen-Kleidung veröffentlichte (van de Velde 1902). Bequeme, bewegungstaugliche, körperumspielende Kleidung, luftige, fließende Schnitte sollten – wenn auch immer wieder die Kritik an den ‚Reformsäcken‘ ohne Taille aufflammte – das einengende und gesundheitsschädigende Korsett ablösen, was jedoch bis weit ins

7 Vgl. zu Anna Muthesius’ Eigenkleid Ewers-Schulz 2018 und zu den Pionierinnen der Reformkleidung Ober 2005; Stratigakos 2003; Wieber 2021. 8 Zum Verein zur Verbesserung der Frauenkleidung und seinen Nachfolgeorganisationen vgl. Ober 2005, S. 29–50; zur Reform der Unterkleidung für Frauen vgl. ebd., S. 129–133.

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20. Jahrhundert nicht gelang. Selbst als die Amerikanerin Mary Phelps Jacobs 1914 ein Patent auf den Büstenhalter anmeldete, um Abhilfe zu schaffen, wurde das neue Kleidungsstück paradoxerweise zusätzlich unter dem Korsett getragen.9 Anna Muthesius, die zehn Jahre lang in London gelebt hatte und von den englischen Reformbewegungen angeregt worden war – schon 1881 wurde die Rational Dress Society gegründet –, bezieht mit ihrem Konzept des Eigenkleids eine modekritische Position, die im Architekturdiskurs schon länger, etwa von Gottfried Semper, Heinrich Hübsch und Adolf Loos, als moderne, emanzipierte wie auch kulturethisch adäquate Geisteshaltung propagiert worden war.10 Muthesius fordert nun speziell die Frauen auf, mit dem individuell in Auftrag gegebenen Eigenkleid kreativ zu werden, ihren eigenständigen Stil zu gestalten und somit eine persönliche ästhetische Stellungnahme zu formulieren (vgl. Muthesius 1903, S. 80–82). Aber nicht nur der Körper der Gesellschaftsdamen soll dabei befreit werden, in einem 1904 in der Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration veröffentlichten Artikel schreibt sie: „Könnte man erst gute Farben und Stoffe in jedem Laden als deutsches Fabrikat preiswert kaufen, so würde damit nicht nur den großen Toiletten der reichen Frauen, sondern auch dem im engen Hinterstübchen mit der kleinen Schneiderin im Hause gearbeiteten Eigenkleide ein sehr großer Dienst geleistet sein.“ (Muthesius 1904, S. 443) Interessanterweise tritt hier die befreiende Funktion des Eigenkleids vor dem Hintergrund der beengten räumlichen Verhältnisse des Hinterstübchens auf, in dem es entsteht. Die Kräfte, die hinter der zur Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende zählenden Kleiderreform wirkten, speisten sich aus verschiedenen emanzipatorischen Quellen, wie der anwachsenden Frauenbewegung oder dem Fortschritt medizinisch-gesundheitlichen Wissens. Die idealisierende Befreiungstheologie des Körpers aber, wie sie der gestalterischen Moderne – und auch der Kleiderreformbewegung – inhärent

9 Zur flamboyanten Figur Mary Phelps Jacobs alias Caresse Crosby (1891– 1970), die als feministische Aktivistin, Verlegerin und Publizistin in die Geschichte einging, vgl. Hamalian 2005; zur Geschichte des Korsetts Böth 1994. 10 Im Einklang mit Georg Simmels Kritik der kapitalistischen Warenproduktion standen der Werkbund und seine Architekten dem Phänomen der schnelllebigen, beliebigen und individualistischen Mode ablehnend gegenüber, der sie die Argumente von Kultur, Stil und Qualität entgegenhielten. Vgl. Kinney 1999; Schwartz 1996, S. 13–43, und 1995, S. 128–153.

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war, sollte auch sozialhistorisch, nämlich als Konsequenz wirtschaftspolitischer Kontingenzzwänge gelesen werden. In den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts, vor allem in Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen, wurden immer mehr Frauen, besonders ihre Körper, als Arbeitskräfte benötigt, was unweigerlich arbeitstaugliche und bewegungsförderliche Bekleidung erforderte.11

MODE ALS THEORIE, PRAXIS UND AUSSTELLUNGSGEGENSTAND Im Ersten Weltkrieg gestaltet Lilly Reich ihr renommiertes Berliner Atelier aufgrund der sinkenden Nachfrage nach eleganten Toiletten, Accessoires, Schaufensterdekorationen, Möbeln und Innendekorationen notgedrungen zu einer Schneiderei um. Als sie 1920 als erste Frau in den Vorstand des Deutschen Werkbunds berufen wird, setzt mit der ersten selbstständig erarbeiteten Ausstellung Kunsthandwerk in der Mode für den Verband der deutschen Modeindustrie im Berliner Kunstgewerbemuseum auch ihre kuratorische Tätigkeit ein. Ihre Ausstellungsinszenierung arbeitet mit reduzierten Mitteln – ein rundes Podium, Stellwände, Stellvitrinen aus Holz und Glas und vereinzelte Möbelstücke –, Protagonisten sind die Gewänder, die Stoffe und Hüte, die in fließend bewegter Pose gewissermaßen eine Lebendigkeit der Ware suggerieren (Abb. 1).12 Der Entwurf von Kleidung nimmt in den Nachkriegsjahren in Reichs Produktionspalette eine wichtige Stellung ein und entwickelt sich auch zum theoretischen Untersuchungsfeld. In der Themennummer Die Mode der Zeitschrift Die Form veröffentlicht sie 1922 einen Artikel mit dem Titel Modefragen, in dem sie die Leserschaft über die neusten Entwicklungen im Modedesign unterrichtet, den engen Zusammenhang mit den ebenso rasanten Veränderungen im Bereich der industriellen Produktion, der Wirtschaft und Gesellschaft hervorhebt und eine ästhetisch wie auch wirtschaftlich autarke ‚deutsche Mode‘ postuliert. Qualitätswerte

11 Zur Kleiderreform als einer arbeitspolitischen Forderung, im Sinne der Maximierung der Leistungsfähigkeit des weiblichen Körpers, vgl. Ober 2005, S. 170–177. 12 Zu Reichs Beitrag an der Berliner Ausstellung Kunsthandwerk in der Mode von 1920 vgl. McQuaid 1996, S. 14.

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1  Lilly Reichs Ausstellungsdesign Kunsthandwerk in der Mode für den Verband der deutschen Modeindustrie im Berliner Kunstgewerbemuseum, 1920

in Bezug auf Material, Verarbeitung und Design sowie das Verständnis von Form als organisches, authentisches Produkt handwerklichen Könnens sind die Parameter dieser ‚deutschen Mode‘, die Reich in ihrem Text artikuliert. Sie sind das theoretische Erbe der frühen Reformbewegungen des späten 19. Jahrhunderts, aber gleichzeitig öffnet sich Reich in ihrem Text durchaus auch den Bedürfnissen der maschinellen Massenherstellung. Ihr Verständnis von Kleidung lässt einen durchaus utilitaristischen Standpunkt erkennen – Kleider sind in ihren Augen Gebrauchsgegenstände –, sie schreibt: „Die Arbeit, die der Mode dient, muß den Vorbedingungen der Lebensform folgen, den Anforderungen der Zeit

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entsprechen.“ (Reich 1988, S. 85)13 Die von ihr entworfene Unterwäsche, die sie als Illustration für ihren Artikel präsentiert, spricht diese Sprache der richtigen Form, die mit minimalistischem Duktus ihrem funktionalen Zweck entspricht, nämlich der Befreiung des Körpers in seiner Beweglichkeit und in seiner Selbstwahrnehmung; keine Nähte, Verschnürungen, Gummizüge beengen das Fleisch, keine steifen Elemente rücken es in Pose, weite, lockere Ausschnitte, zarte Baumwollvolants umspielen den Körper und lassen ihn atmen (Abb. 2). Reich, die sich von der Schnelllebigkeit der Mode und ihrem Konsumcharakter distanziert, entwirft im Verlauf ihrer Karriere weniger Haute Couture, sondern vornehmlich Alltagsmode und -wäsche für Frauen und Kinder, wobei die Hochwertigkeit von Materialien und Verarbeitung die handgefertigten Stücke zu eigentlichen Luxusartikeln veredelt. Gleichzeitig vertraut sie der Mode nicht nur eine bedeutende Rolle als individuelle Ausdrucksform an – das Kleidungsstück solle mit seiner Trägerin verschmelzen –, sondern auch als soziale Kommunikationssprache; somit sei Modedesign die lebendigste Form der Kreativität, die sich in ihrer Lebendigkeit Gesetzen und Normen erfolgreich zu widersetzen vermag (ebd.). Auf verschiedenen Fotos aus der Zeit erkennt man den entspannten, alltagstauglichen, aber eleganten Stil, den Reich selbst in den 1920er Jahren pflegte, häufig mit Barett als unisex Kopfbedeckung. In Frankfurt am Main, wo Reich von 1924 bis 1926 lebt, arbeitet sie als Ausstellungsgestalterin der Werkbund-Kommission des Frankfurter Messeamtes und führt daneben eine Nähstube für Wäsche, Blusen und Kleider, in der sie auch private Lehrkurse anbietet. In Frankfurt begegnet sie auch Ludwig Mies van der Rohe, Vize-Präsident des Werkbundes, und nimmt die Arbeit mit ihm auf. Die Ausstellungstätigkeit, die Inszenierung von Exponaten in großen Messehallen, rückt nun in den Fokus ihrer Gestaltung. 1926 konzipiert sie für die kommerzielle Ausstellung Von der Faser zum Gewebe im Rahmen der Internationalen Frankfurter Messe die von der Kritik lobend hervorgehobene Sektion der Woll- und Baumwollindustrie

13 Vgl. dazu McQuaid 1996, S. 17f.; Schuldenfrei 2014. Reichs Definition des Kleidungsstücks als Gebrauchsgegenstand korrespondiert mit zeitgenössischen Architekturkonzepten, wie Le Corbusiers Begriff der Wohnmaschine (1921) oder auch Ludwigs Hilbersheimer Wohnung als Gebrauchsgegenstand an der Stuttgarter Werkbundausstellung von 1927.

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2  Lilly Reichs Unterwäschedesign, als Illustration zu ihrem Artikel Modefragen von 1922 präsentiert

in der Festhalle. Den offenen hallenartigen Raum bespielt sie mit einer abstrakten Struktur aus streng vereinheitlichten Elementen, die sich im gestalterischen Ausdruck stark zurücknehmen und einzig ein funktionales, übersichtliches Ordnungsschema vorgeben, während die gewölbte Glasarchitektur der Festhalle mit den filigranen Gusseisenelementen ihre Wirkung entfalten kann. Im Fokus steht nicht das fertige Produkt, sondern das Material und der Herstellungsprozess, eine Idee, die damals neu und außergewöhnlich ist; die klare, orientierungsfreundliche, aber auch attraktive Präsentation des eher spröden Inhalts ließ die Frankfurter Schau zu einem langlebigen Prototyp für weitläufige Ausstellungsmessen werden (McQuaid 1996, S. 214).

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AUSSTELLUNGEN UND MUSTERWOHNUNGEN Im Rahmen der Stuttgarter Werkbundausstellung Die Wohnung von 1927 übernimmt Lilly Reich nicht nur die Innenausstattung mehrerer Wohnungen in Mies van der Rohes Wohnblock. Neben der Neubausiedlung sind in zwei ausgedehnten Hallenkomplexen am Gewerbehallenplatz im Zentrum der Stadt Pläne, Modelle, Dokumente, Bautechnologien, Ausstattungsentwürfe und -materialien ausgestellt; als Raumgestalterin verantwortet Reich die Ausstellungskonzeption, bei der in nüchterner Ordnung die verschiedenen Sachbereiche wie Sanitäranlagen, Küchen, Möbel, Tapeten und Vorhänge abgetrennt in unterschiedlichen Hallen und Kojen gezeigt werden. Die Halle 4, die der Glasindustrie gewidmet ist, wie auch die Halle 5, von den Deutschen Linoleumwerken bespielt, entwirft sie gemeinsam mit Mies van der Rohe. Von Reich allein konzipiert sind die Abteilung Tapeten und Gardinen sowie die Stoffhalle, die einem ähnlichen Ordnungsschema folgen wie ihre Sektion auf der Ausstellung Von der Faser zum Gewebe ein Jahr zuvor in Frankfurt. Die Hallenräume werden rhythmisiert durch eine synkopale Folge größerer und kleinerer kaskadierender Stoffwände. Im Kontext der Ausstellung entsteht in Zusammenarbeit mit Mies van der Rohe auch der Wohnraum in Spiegelglas, der aus drei ineinandergreifenden Räumen gebildet wird, die die abstrakte Silhouette und Vorstellung eines Wohnhauses skizzieren: Ein Studienzimmer, ein Esszimmer und ein Wohnzimmer ergeben das reduzierte und sublimierte Wohnprogramm. Die Besuchenden zirkulieren durch die Räume in einem pendelartigen Bewegungsmuster, wobei die Glaswände weniger eine Raumgrenze anzeigen, als dass sie den Ausblick auf Struktur und Umgebung ermöglichen. Die zentrale Zwischenwand zwischen Speise- und Wohnzimmer besteht aus zwei großen Milchglaspaneelen, die weiteren Glasscheiben sind kleiner, farblos oder mausgrau und olivgrün; allesamt sind von denselben Metallprofilen eingefasst.14 Im Jahr 1927 erhält Mies van der Rohe vom Verein deutscher Seidenwebereien den Auftrag, einen Repräsentationsstand für die deutsche Seidenindustrie im Rahmen der Messe Die Mode der Dame in der frisch

14 Zu Reichs Beitrag zur Stuttgarter Werkbundausstellung Die Wohnung von 1927 vgl. Günther 1988, S. 18–24; McQuaid 1996, S. 22–25; Ricon Balderassini 2004, S. 53f.; Stojanik 1996b.

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3  Das von Lilly Reich und Mies van der Rohe als Repräsentationsstand für die deutsche Seidenindustrie entworfene Café Samt & Seide, im Rahmen der Messe Die Mode der Dame  in der Messehalle am Berliner Funkturm 1927

fertiggestellten Messehalle am Berliner Funkturm zu entwerfen. Mies van der Rohe und Reich, die als Partnerin an diesem Projekt mitarbeitet, entwickeln den Messestand als freie Fläche, die ausschließlich durch Stoffbahnen räumlich gegliedert wird: Von unterschiedlicher Höhe hängen Seiden- und Samtstoffe wie Vorhänge an Stahlrohren und gestalten unterschiedliche Zonen, wobei in raffinierter Weise das Exponat selbst als raumkonstituierendes Element eingesetzt wird. Der Stand, als Café Samt & Seide vorgestellt, nimmt eine ca. 300 m² große Fläche am Ende der Messehalle ein, während sich unter den umlaufenden Emporen Einzelkojen zur Präsentation der Stoffe befinden. Die stoffliche Materialität der Wand entfaltet eine weiche, transluzente Qualität, die dem sich bewegenden Körper im Raum nicht entgegensetzt ist, sondern ihn sanft

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(ver-)führt und in kokonartigen Rundungen aufnimmt – eine Art abstrahiertes großmaßstäbiges Boudoir-Modell, im Jargon des Neuen Bauens entworfen (Abb. 3).15 Tatsächlich erfährt in den folgenden Jahren diese Raumführung durch Rundungen eine Übersetzung in den Kontext des Wohnraums und auch einen Materialtransfer, der den primären Ausdruck des Stoffes – nämlich seine Weichheit und Nachgiebigkeit – in eine solide, unverrückbare Kontur überführt. Ein evidentes Beispiel hierfür ist die Speisezimmernische von Mies van der Rohes Haus Tugendhat in Brünn (1929/30), bei der die Rundnischen aus edlem Makassar-Ebenholz Raumstruktur und Raumklang bestimmen.16 „Ich habe enorm viel bei ihr gelernt“, erinnerte sich Beate Feith Kramer, die bei Reich eine Ausbildung zur Modeentwerferin in Berlin absolviert hatte und dann in deren Frankfurter Atelier arbeitete. „Vor allen Dingen das Drapieren“ sei eine Spezialität von Reich gewesen, „d.h. die Methode, die Stoffe als Meterware zu nehmen und sie direkt an der Figur darzustellen. Lilly Reich konnte dies mit großer Sicherheit.“ (Feith Kramer zit. n. Lichtenstein 1991, S. 12) Textilien in jeder Form – Kleider, Teppiche, Vorhänge, Bezüge, Stoffbahnen – gehören zum Metier und zur gestalterischen Strategie Lilly Reichs. Der neuartige Einsatz von Vorhängen in der Raumplanung zählt zu ihren unbestrittenen Verdiensten. An dieser Stelle sei an die nur langsam verblassende Realität zahlreicher betont gewebefreudiger Wohnstuben der wilhelminischen Bourgeoisie erinnert, an die dicken Teppiche, die Läufer, samtenen Vorhänge, Polsterungen und Bezüge, an die bestickten Tischdecken, seidenen Paravents, Gobelins und Untersetzer, die bei Reich in gewandelter, gleichsam purifizierter Form und Funktion in Erscheinung treten.17 1928 übernimmt Reich gemeinsam mit Mies van der Rohe die künstlerische Leitung für den deutschen Beitrag an der Weltausstellung von Barcelona im Folgejahr. Sie gestalten auch hier einige Ausstellungsbereiche gemeinsam, wie den Innenraum des ikonischen Deutschen Pavillons, andere entwirft Reich in Eigenregie, wie die Bereiche Grafik, Landwirtschaft, Elektrizität und Chemie. Auch die Präsentation der Textilausstellung ist Reichs Werk, bei der sie den Raum mit wenigen Struktur-

15 Zum Café Samt & Seide vgl. Lange 2011, S. 70–81. 16 Für diesen weiterführenden Hinweis zur Villa Tugendhat danke ich Irene Nierhaus, die das Zusammenspiel von Architektur und Interieur der Villa sehr ertragreich und scharfsinnig untersucht hat. Vgl. Nierhaus 2009. 17 Zur textilen Wohnkultur des Kaiserreichs vgl. Fünderich 2019, S. 60–62, 73.

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4  Lilly Reichs Raum der Deutschen Textilausstellung an der Weltausstellung von 1929 in Barcelona, in der sie die Raumordnung mit minimalistischen Strukturelementen bespielt

elementen organisiert und gestaltet: gläserne Stellwände, transparente, diaphane Tischvitrinen, sich ergießende Stoffbahnen und Licht. Ein sinnlich abstrahierter, offener Raum, in dem die Körper der Besuchenden widerstandslos fluten und dennoch durch eine informativ-wahrnehmungsästhetisch geleitete Struktur geführt werden (Abb. 4).18 Der Deutsche Pavillon von Mies van der Rohe, in dessen Innerem der Raum der Grundrisserdung enthoben und frei zu fließen scheint, arbeitet mit denselben gliedernden Elementen, wie sie auch bei der Ausstellungsarchitektur von Reichs Textilausstellung zum Einsatz kommen: so die Paneele, die hier zu Marmorscheiben mutieren, die textilen Trennvorrichtungen, die zu Vorhängen, und die Glaswände, die zu Fenstern werden, und zuletzt die schlanken Stützpfeiler des Hallenbaus, die als edelstahlverkleidete Kreuzpfeiler neu auferstehen.

18 Die Arbeit von Lilly Reich an der Weltausstellung von Barcelona 1929 wurde materialreich untersucht in Costa Meyer 1999, S. 161–189; Günther 1988, S. 24f.; Lange 2011, S. 82–97; Matthewson 1994 und 2002; McQuaid 1996, S. 25f.; Ricon Balderassini 2004, S. 55; wenig von diesen Studien scheint die neueste Erscheinung zum Pavillon von Neumann (2020) rezipiert zu haben.

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5  Der fließende Innenraum in der essentiellen Ledigenwohnung von Lilly Reich im Boardinghouse von Mies van der Rohe an der Deutschen Bauausstellung in Berlin von 1931

BEFREITER KÖRPER, BE(F)REITER RAUM? Auf der Deutschen Bauausstellung von 1931 in Berlin präsentiert Reich ein eigenes Erdgeschosshaus, das als ihr einziger gesicherter Architekturentwurf gilt; zudem richtet sie in der Sonderschau Die Wohnung unserer Zeit zwei der Wohnungen im sogenannten Boardinghaus ein und gestaltet die Materialienschau. Die beiden Boardinghaus-Wohnungen von Reich gestatten es – durch die geschickte Anordnung auf engem Raum der Einrichtungselemente, die in ihrer Querstellung im längsorientierten Raum-

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kontinuum jede einzelne Funktion subtil definieren und abgrenzen – dem offenen Grundriss sich zu entfalten, ohne den räumlichen Gesamtfluss zu hemmen. In der 35 m² großen Ledigenwohnung separieren Ankleide und Kochschrank das Bad, ein quer gestelltes Bett, im Tagesmodus eine Chaiselongue, unterteilt Arbeits-, Wohn- und Essbereich (Abb. 5). Die Möblierung folgt einer essentialistischen Logik und setzt auf Durchlässigkeit, Leichtigkeit und Zurückhaltung im Ausdruck von Masse und Volumen: zwei Stühle, ein Ess- und ein Arbeitstisch, ein Bett/Chaiselongue, eine Bücherwand und die Deckenlampe des dänischen Designers Poul Henningsen, das 1925 prämierte Louise-Poulsen-Lampenmodell PH. Für die Ledigenwohnungen entwirft Reich außerdem einen Kochschrank mit Geschirrspüle, Kochherd, Regalen, Ablageschränken, Schubfächern und ausfaltbarem Tisch, der die Lehren von Erna Meyer, Hilde Zimmermann und Margarethe Schütte-Lihotzky im Hinblick auf die rationale Haushaltsführung zu rezipieren scheint. Mit den tayloristischen Bewegungsstudien dieser Reformerinnen zum sparsamen Körpereinsatz in der Küche war Reich bereits an der Stuttgarter Werkbundausstellung von 1927 in Kontakt gekommen, an der diese in Bezug auf die Küchenproblematik eine ausschlaggebende Rolle innehatten.19 Der solchermaßen von allem überflüssigen Ballast radikal befreite, effizient eingerichtete Raum empfängt den neuen Menschen – die neue Frau? –, einen großstädtischen Nomaden, der die Bewegungen seines Körpers rational, aber selbstbestimmt steuert. Ganz ähnlich hatte der Reformkleid-Diskurs die Beziehung zwischen (Frauen-)Körper und Bekleidung thematisiert und eine vergleichbare Befreiungsideologie mit

19 Zu Reichs Wohnungen im Boardinghaus und zu ihrem Beitrag als MöbelDesignerin, Innenraumplanerin und Ausstellungsgestalterin zur Berliner Bauausstellung von 1931 vgl. Eisen 2018; Günther 1988, S. 26–55; McQuaid 1996, S. 26–29; Stojanik 1996c. Der offene Grundriss von Reichs Innenraumgestaltung im privaten Wohnbereich arbeitet mit denselben Strategien, wie sie ihr öffentlicher Ausstellungsraum vorführt: leichte, nichttragende, verschiebbare, transparente Trennwände oder Raumteiler – Regalsysteme, Stellwände, Paravents, Vorhänge, Theken und Boards – bespielen gleichermaßen eine abstrakte Gestaltungsebene wie auch eine praktische, häusliche Dimension, die die Bewegung und das Wohlbefinden des Körpers im Raum als Richtmaß begreift. Zu Reichs Innenraumgestaltung in Zusammenarbeit mit Mies van der Rohe vgl. Lange 2006, S. 97–108, und zum Einsatz von Stoff im Haus Tugendhat (Brünn) vgl. Eggler 2009. Von Interesse ist hierbei die feministische These von Victoria Rosner (2008), nach der der modernistische Einsatz von textilen Trennelementen einer Demontage des traditionellen Heims gleichkommt.

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sich geführt, die Mobilität und Rationalität propagierte.20 Die Bewegung des physiologisch und geistig befreiten Menschen formt nun den Raum, so wie die wechselnden Perspektiven ihn erst entstehen lassen; seine Sinne kontrollieren ihn optisch und akustisch, seine Tätigkeit ‚benutzt‘ ihn. Die Raumbenutzenden werden zu funktionalen Nutznießenden und sind gleichzeitig körperbefreite Dei ex Machina des Raumes. Wilhelm Lotz bemerkte zu den Entwurfsbeiträgen von Reich und Mies van der Rohe zur Deutschen Bauausstellung in Berlin – die ansonsten auf heftige Kritik stießen –, dass der „[neue] Mensch im geistigen Sinne zum Maßstab des Räumlichen geworden [ist]“ (Lotz 1931, S. 247). Ein Wandlungsprozess des räumlichen Verständnisses, der eng am Körper zu beginnen scheint und der mit dem Bild des Eigenkleids von Anna Muthesius als Vehikel, um aus der Enge des Hinterstübchens auszubrechen, wie auch mit Lilly Reichs den Körper sanft umspielender Unterwäsche auf seinen körpernahen Ursprung hinweist. Dieser Prozess beginnt mit der weichen, biegsamen, körpernahen Materie Stoff, entfaltet sich in der kalkulierten Inszenierung großer Ausstellungsräume und erfasst schließlich auch den Wohnraum, in dem der Stoff immer noch eine wichtige Rolle in der Partitur des szenischen Wohnens der Moderne übernimmt.

20 Paul Renner schrieb 1929 den Möbeln von Ferdinand Kramer zu, vom selben „modernen Stilgefühl beseelt [zu sein], mit dem die Bewohner dieser Häuser ihre trainierten Körper kleiden“ (Renner 1982, S. 220).

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Literatur

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Eliana Perotti

Stojanik 1996b Stojanik, Petra: Lilly Reich und die Werkbundausstellung Die Wohnung in Stuttgart 1927, in: Dorothee Huber; Sabine Plakolm-Fortshuber; Flora Ruchat-Roncati; Petra Stojanik (Hg.): Ausstellungen, Darstellungen. Beiträge zum Diplomwahlfach Frauen in der Geschichte des Bauens, Bd. 3, Zürich 1996: ETH Zürich, S. 73–99. Stojanik 1996c Stojanik, Petra: Lilly Reich und die Deutsche Bauausstellung in Berlin 1931, in: Dorothee Huber; Sabine Plakolm-Fortshuber; Flora Ruchat-Roncati; Petra Stojanik (Hg.): Ausstellungen, Darstellungen. Beiträge zum Diplomwahlfach Frauen in der Geschichte des Bauens, Bd. 3, Zürich 1996: ETH Zürich, S. 101–127. Stratigakos 2003 Stratigakos, Despina: Women and the Werkbund. Gender Politics and German Design Reform, 1907–1914, in: Journal of the Society of Architectural Historians, H. 4, Jg. 62, 2003, S. 490–511. Stratigakos 2005 Stratigakos, Despina: The Uncanny Architect. Fears of Lesbian Builders and Deviant Homes in Modern Germany, in: Hilde Heynen; Gülsüm Baydar (Hg.): Negotiating Domesticity. Spacial Production of Gender in Modern Architecture, New York/London: Routledge 2005, S. 145–161. Stratigakos 2007 Stratigakos, Despina: Masculine Reason or Feminine Spirit. Gender Battles in the Werkbund’s Canonization of National Style, in: Anna Brzyski (Hg.): Partisan Canons, Durham/London: Duke University Press 2007, S. 135–155. Troy 2006 Troy, Nancy J.: Le théâtre du defile de mode. Le style ‚Minaret‘ de Paul Poiret, in: Catherine Join-Diéterle (Hg.): Showtime. Le defile de mode, Paris: Ed. Musée de Paris 2006, S. 87–96. Van de Velde 1902 Van de Velde, Henry: Das neue Kunst-Prinzip in der modernen Frauen-Kleidung, in:

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Bildnachweise

Abb. 1, 3: McQuaid 1996, S. 11, 24; Mies van der Rohe Archive, The Museum of Modern Art, New York. Abb. 2: Lilly Reich: Modefragen, in: Die Form. Monatsschrift für gestaltende Arbeit, H. 5, Jg. 1, 1922, S. 7–9, Abb. 25. Abb. 4: McQuaid 1996, S. 27; Berliner Bild-Bericht, Mies van der Rohe Archive, The Museum of Modern Art, New York. Abb. 5: H. H.: ,Die Wohnung unserer Zeit‘ auf der Deutschen Bauausstellung Berlin 1931, in: Moderne Bauformen, H. 7, Jg. 30, 1931, S. 329–347, hier S. 334.

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How dwelling might look in the future was a question repeatedly revisited by West Germany’s most successful shelter magazine, Schöner Wohnen. At the beginning of the 1960s, the domestic everyday future was planned and subtly linked with socio-political goals. In the mid-sixties, major designs presented architectural ‘solutions’ for the equally major challenges of the future. And in the early 1970s, the magazine increasingly questioned the autonomy of architecture and placed more responsibility for planning the dwelling space in the hands of readers. “We have planned for the future” explores lines of connection between architectural perspectives on the future in Schöner Wohnen and the respective contexts in which they appeared, and analyzes how not only the vision of the future but also the role ascribed to the architectural discipline in shaping it changed.

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JAN ENGELKE WIR HABEN IN DIE ZUKUNFT GEPLANT. ARCHITEKTONISCHE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN IN DER SCHÖNER WOHNEN DER 1960ER UND 70ER JAHRE1 Hat das traute Heim noch Zukunft? Bauen wir morgen so? Wie werden wir morgen wohnen? Das Wohnen der Zukunft war oft Thema in Schöner Wohnen, der populärsten Wohnzeitschrift der Bundesrepublik.2 Zu Beginn der 1960er Jahre wurden Heft für Heft Einfamilienhäuser ‚in die Zukunft geplant‘, Mitte der 1960er Jahre feierten architektonische Utopien eine blühende Zukunft in Hightech-Heimen und ‚Trichterstädten‘, bis Anfang der 1970er Jahre der ‚Zukunftsschock‘ die Autonomie der Architektur in Frage stellte. Im Folgenden werde ich Schöner Wohnen als populäre Architekturzeitschrift lesen und herausarbeiten, wie sich die Architektur der dargestellten Zukünfte mit der historischen Gegenwart, der sie

1 Dieser Text basiert auf gemeinsam mit Rosanna Umbach im Kontext des Seminars „Wohnrakete 2000 – un/gewohnte Zukünfte in Schöner Wohnen und visueller Kultur der 60er und 70er-Jahre“ (IKFK der Universität Bremen 2021) entwickelten Gedanken. Ich danke Rosanna und den Studierenden für den anregenden Austausch. 2 Die Fragen entstammen Überschriften der Schöner Wohnen (SW) in der zweiten Hälfte der 60er Jahre, vgl. SW 10/1966, S. 134; SW 9/1967, S. 176; SW 3/1968, S. 102. (Auf Texte, die ohne Autor*in in der Zeitschrift erschienen sind, wird lediglich über Angabe von Heftnummer, Erscheinungsjahr und Seitenzahl verwiesen.) Schöner Wohnen. Journal für Haus, Garten und Gastlichkeit erschien seit Januar 1960 monatlich als Spin-off der ‚Frauenzeitschrift‘ Constanze im gleichnamigen Verlag und erreichte im hier betrachteten Zeitraum bis zu fünf Millionen Leser*innen (Möller 1981, S. 221).

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entsprangen, veränderte. So unterschiedlich die architektonischen Zukunftsentwürfe jener drei Phasen scheinen mögen – sie stehen stets in Beziehung zu der Wohnform, die das Journal für Haus, Garten und Gastlichkeit besonders propagierte: Schöner wohnen ließ sich in jeder denkbaren Zukunft am besten im Eigenheim. Anfang der 1960er Jahre schien die Richtung der Entwicklungen in der jungen Bundesrepublik klar: Es ging aufwärts. Die Reallöhne hatten sich innerhalb eines Jahrzehnts verdoppelt, noch stärker erhöhte sich die Zahl der fertiggestellten Wohnungen und auch die Geburtenziffer stieg konstant.3 Zukunft war vor diesem Hintergrund kein Thema, schließlich hatte Schöner Wohnen genug mit der Gegenwart zu tun, in der es allerhand Wohnprobleme zu lösen und im Anschluss an die Wohnlehren der 1950er Jahre ein ‚schöneres Wohnen‘ zu vermitteln galt4 – und zwar wie schon gesagt möglichst im Eigenheim, wie die Zeitschrift in zahlreichen Gebäudeporträts deutlich machte. In der programmatischen ersten Reportage Das große Ziel: ein kleines Haus, die im Januar 1960 in der ersten Nummer der Schöner Wohnen erschien, erzählte Bauherr und Architekt Klaus L. von seinem neuen Eigenheim: „Teuer durfte das Haus nicht werden, denn wir sind nicht reich. Doch wir haben in die Zukunft geplant. Das Atelier ist so angelegt, daß es notfalls zur Einliegerwohnung werden könnte.“ (SW 1/1960, S. 7) Die mögliche Aufteilung des Souterrain-Grundrisses in zwei Einliegerwohnungen wird in der Zeitschrift prominent neben der großformatigen Fotografie des Hauses mit im Garten spielenden Kindern im Vordergrund dargestellt, als sei es diese Absicherung im Untergeschoss, die dem ganzen Idyll zugrunde läge (Abb. 1). Wie hier ‚notfalls‘ eine gemeinsame Nutzung des Einfamilienhauses vorgesehen wird, macht deutlich, dass das Eigenheim trotz politischer Förderungen und steuerlicher Abschreibungsmöglichkeiten auch für Besserverdienende bedeutete, dass sie ihr hohes Einkommen auf längere Sicht aufrechterhalten mussten.

3 Zwischen 1950 und 1960 stieg das reale BIP pro Kopf von umgerechnet ca. 4.750 auf 9.500 € (Rahlf 2015, S. 148), die Zahl der pro Jahr fertiggestellten Wohnungen von ca. 220.000 auf 575.000 (Statistisches Bundesamt 2000, S. 49), die sogenannte ‚Fertilitätsrate‘ legte bis zum ‚Pillenknick‘ Mitte der 1960er Jahre bis auf ca. 2,5 stetig zu (Rahlf 2015, S. 34). 4 Zu Wohndidaktiken in der BRD der 1950er Jahre sei auf die umfassenden Arbeiten Johanna Hartmanns verwiesen, insbesondere auf ihre 2020 an der Universität Bremen vorgelegte Dissertation Richtig wohnen im Wiederaufbau! Ausstellungen, Ratgeber und Filme als Wohnlehrmedien in der frühen Bundesrepublik Deutschland (Hartmann 2020).

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1  Das große Ziel: ein kleines Haus – die erste Reportage in Schöner Wohnen 1/1960, S. 10–11, Foto: Friedhelm Thomas

Ein weiteres hinsichtlich seiner Zukunftsplanung interessantes Haus erschien im Februar-Heft 1962 unter dem Titel Ein Haus für Vier – 26.000 Mark (Abb. 2). Die günstigen Baukosten wurden nicht nur dadurch erreicht, dass der Bau dem Artikel zufolge weitgehend in Eigenleistung durch den Bauherrn, einen Schreinermeister, realisiert wurde. Der junge Architekt Josef Peter Treitz hatte das Haus wegen des knappen Budgets auch so konzipiert, dass zunächst nur die zwei Räume im Erdgeschoss nebst Keller ausgebaut werden sollten. Später sollte dann das Dachgeschoss folgen. Die im Voraus geplante sukzessive Erweiterung nach Bedarfen und Möglichkeiten der Bewohner*innen erinnert an Konzepte ‚wachsender Häuser‘ aus der Siedler*innenbewegung der 1920er Jahre. So hatte die Wiener Architektin Margarete Lihotzky 1922 einen minimalen „Kernbau“ von 10 m² entworfen, der etappenweise zu einem Siedlerhaus mit 57 m² erweiterbar war (Hochhäusl 2019, S. 79). Während hier mit dem

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2  Ein Haus für Vier – 26.000 Mark in Schöner Wohnen 2/1961, S. 12–13, Foto: Peter Brüchmann

‚Wachsen‘ die Zahl nicht eindeutig bezeichneter Räume und Schlafstätten zunahm, hatte Treitz sein ‚wachsendes‘ Haus genau vorprogrammiert: Obwohl Herr und Frau S. zu diesem Zeitpunkt erst ein Kind hatten (vgl. SW 2/1962, S. 14), waren im Baugesuch vom 2. Juni 1955 für das später auszubauende Dachgeschoss neben dem Elternschlafzimmer vorsorglich zwei Kinderzimmer vorgesehen.5 Alle Pläne gingen in Erfüllung: Wie wir

5 Siehe das Baugesuch vom 2.6.1955 im Archiv der Gemeinde EggensteinLeopoldshafen, Lagebuchnummer 4833.

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im Text der Homestory erfahren, wurde nach einigen Jahren, als das Haus fertiggestellt war, auch das zweite Kind geboren. Mit ‚in die Zukunft planen‘ scheint hier ein architektonisches Antizipieren künftiger Veränderungen, ein Entwerfen als „forecasting of future development“ (Giedion 1958, S. 139) gemeint zu sein. Das englische to cast bezeichnet nicht nur das Gießen von Beton, sondern wird auch im Zusammenhang mit Akten der Hellseherei verwendet. Im forecasting of future development ist also das Vorhersehen mit dem Zementieren zukünftiger Entwicklungen verbunden. Verlangt eine Architektur, die einen bestimmten Lebensentwurf in die Zukunft projiziert, nach dessen Erfüllung? Die damalige Bundesregierung hatte auf diese Frage jedenfalls eine eindeutige Antwort, sah sie doch im Eigenheim ein architektonisches Werkzeug, um die gesellschaftliche Zukunft in ihrem Sinne zu gestalten. Für Paul Lücke (CDU), von 1957 bis 1965 Bundesminister für Wohnungsbau, war das Eigenheim Instrument konservativer Biopolitik (Hartmann 2020, S. 112) und entscheidender Wirtschaftsfaktor – würden die Leute doch „Tag und Nacht arbeiten, also volkswirtschaftlich gesehen eine zusätzliche Arbeitsleistung vollbringen“, um ihre „Häuschen bald schuldenfrei zu bekommen“ (Lücke 1951, S. 25).

TECHNISIERTE EUPHORIE Mitte der 1960er Jahre rückte eine andere Zukunft in den Fokus der Schöner Wohnen. Mit dem anhaltenden Bauboom war auch eine Entspannung des Wohnungsmarkts einhergegangen. Die Entwicklungen in der Vorfabrikation und neue Materialien stellten ein immer schnelleres und effizienteres Bauen in Aussicht (Langenberg 2006, S. 12f.). Der anhaltende ökonomische Erfolg schien in Verbindung mit technischen Fortschritten Grundlage für eine Woge überschwänglicher Euphorie, die sich in Schöner Wohnen nicht nur in fotogenen Interieurs des space age niederschlug: Mit neuen Materialien und Produktionsweisen ging neues Mobiliar einher, das in Form durchsichtiger Aufblas-Sofas, bunter Kunststoffstühle oder flauschiger ‚Wohnlandschaften‘ die Doppelseiten der Zeitschrift füllte und ein ebenso von räumlichen Beschränkungen wie vom Ballast der Vergangenheit befreites, schwereloses Wohnen versprach. Und auch in architektonischer und städtebaulicher Hinsicht – so gab sich

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die Schöner-Wohnen-Redaktion überzeugt – würden sich durch neue Produktionsverfahren, Materialien und Technologien die Fragen der Zukunft lösen lassen. So träumte man von preiswerten Kunststoff-Kapselhäusern vom Fließband, in denen die häusliche Arbeit von einem Roboter erledigt würde, und wenn das Entertainment-System die Ödnis der Vorstadt nicht vergessen machte, wäre das Stadtzentrum nur einen Flugtaxitrip entfernt. Viele der euphorisch besprochenen Möglichkeiten stützten in erster Linie das Eigenheim. Auf ökonomischer Ebene sah Schöner Wohnen in vorfabrizierten Häusern eine Lösung, um das Einfamilienhaus erschwinglicher zu machen. So bewarb sie ab 1963 in großen Kampagnen die anfangs unpopulären, aber günstigen Fertighäuser verschiedener Anbieter und schwärmte von großen Satellitenstädten voller „am Fabrik-Fließband“ hergestellter „billiger Eigenheime“ (Carter 1966, S. 80) – ganz im Sinne des im Zweiten Wohnungsbaugesetz von 1956 proklamierten politischen Ziels, „weite Kreise des Volkes durch die Bildung von Einzeleigentum, besonders in der Form von Familienheimen, mit dem Grund und Boden zu verbinden“ (§ 1 Abs. 2 II. WoBauG). Doch insofern nicht auch die Idee des (teuren) privaten Grundeigentums in Frage gestellt wurde, blieb das Eigenheim trotz zunehmender Popularität von Fertighäusern stets eine Architektur für Wohlhabende.6 Eigenheim-Architekturen sind nicht nur Räume zwischenmenschlicher Care-Arbeit (Dogma/Realism Working Group 2018, S. 155). Um ein Schöner-Wohnen-konformes Bild aufrechtzuerhalten, sind die Gebäude durch ihre schiere Größe und die Vielzahl an zu unterhaltenden architektonischen Features selbst auf ein hohes Maß ständiger Fürsorge angewiesen.7 Das Haus muss repariert, die Fenster geputzt, die Gardinen gewaschen, die mit der Zeit größer und größer werdende Wohn- gleich Fußbodenfläche gereinigt und die Hecke geschnitten werden.8 Ohne die

6 Eine ausführliche Untersuchung deutscher Fertighaus-Architekturen seit der Nachkriegszeit nimmt Julia Gill in Individualisierung als Standard. Über das Unbehagen an der Fertighausarchitektur vor (Gill 2010). 7 Einfamilienhäuser weisen im Vergleich zu Geschosswohnungen eine größere Wohnfläche pro Person auf (Statistisches Bundesamt 2000, S. 69). Häufig haben Einfamilienhäuser zudem einen höheren Anteil an Nebenflächen. Dabei liegen im Eigenheim sämtliche Instandhaltungsarbeiten in der Verantwortung der Bewohner*innen. 8 Die Wohnfläche pro Kopf verdoppelte sich in der Bundesrepublik von ca. 22 m² Mitte der 1960er Jahre auf über 40 m² Ende der 1990er Jahre (nur alte Bundesländer) (ebd.).

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zunehmende Technisierung der Hausarbeit und ohne Personal – in der Geschichte der bürgerlichen Typologie des Einfamilienhauses zuerst Hausangestellte, später den gegenderten ‚Beruf‘ der ‚Hausfrau‘ – ist das Eigenheim architekturhistorisch undenkbar (Hayden 1982, S. 23). Doch statt diese Architektur in Frage zu stellen, publizierte Schöner Wohnen Zukunftsvisionen, die versuchten, diesem Umstand durch weitere Technik zu begegnen: Im Oktober-Heft 1966 präsentierte die Zeitschrift unter dem Titel Unsere Welt 1985 eine Reihe von Zukunftsvorstellungen, darunter einen „Elektronenhausknecht […] mit einem großen Auge, zwei Armen, drei Händen sowie stelzenartigen Füßen“ (Thring 1966, S. 78).9 Gesteuert vom „Rechenautomat[en] im Eigenheim unter der Treppe“ würde die häusliche Arbeit robotisch erledigt werden, um die „Bürde der Hausfrau zu erleichtern“ (ebd., S. 76, 78). Doch wer für diese „neue Ära in der Kulturgeschichte der Menschheit“ auf ein Aufbrechen stereotyper Rollenzuschreibungen hoffte, wurde enttäuscht: Die „größere Freiheit und Freizeit der Hausfrau“ wird verwendet auf eine „stärkere Zuwendung zu gemeinsamen unterhaltenden und schöpferischen Freizeitbeschäftigungen“ wie dem „Anlegen von Sammlungen verschiedenster Art“ (Carter 1966, S. 84). Auch auf der Ebene der Stadtplanung hoffte man in Schöner Wohnen, für die durch neue Einfamilienhaus-Wohngebiete am Stadtrand entstehenden neuen Probleme technische Lösungen zu finden. Die für die Bewohner*innen anfallenden langen „Begleit- und Servicewege“ (Krause 2001, S. 11) und das zeitraubende Pendeln zur Arbeit sollten etwa durch neue Kommunikationstechniken gänzlich überflüssig werden: „Einkäufe und Geschäfte können fernsehtelefonisch erledigt werden, geschäftliche Konferenzen können durchgeführt werden, ohne daß man einen Schritt aus dem Haus zu tun braucht.“ (Carter 1966, S. 82) Bemerkenswert ist, dass in diesem Zuge lediglich auf Ebene des Komforts argumentiert wird, nicht etwa mit der Vermeidung von Emissionen durch den zunehmenden Individualverkehr – obwohl sich schon in den 1960er Jahren abzeichnete, dass ganz auf das Auto ausgerichtete Eigenheim-Siedlungen katastropha-

9 Unsere Welt 1985 umfasste auch einige Auszüge aus dem 1965 von Robert Jungk herausgegebenen gleichnamigen Buch, in dem zahlreiche Zukunftsvorstellungen versammelt waren. In der Einleitung des Buchs tritt Jungk für die Etablierung der „Futurologie“ als neuer wissenschaftlicher Disziplin ein (Jungk 1965, S. 13–16).

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le Folgen für die Umwelt haben würden.10 Für die Zukunft sah man darin dank technischer Entwicklungen kein Problem, sondern war überzeugt: Die Möglichkeit, „das Klima innerhalb der eigenen vier Wände selbst zu gestalten“, würde „auch der großen Masse die Vorzüge reiner Luft, wohliger Wärme und Abschirmung gegen Lärm bieten“ (Carter 1966, S. 82). Konsequenterweise wird kurz darauf in Das Haus unter der Erde eine Einfamilienhaus-Planung des texanischen Militär-Ausbilders Jay Swayze vorgestellt, die in einer fünf Meter tief eingegrabenen Betonröhre projektiert ist (Abb. 3). Für das Wohnen in der „bombensicheren Untergrund-Villa“ werden eine ganze Reihe an Argumenten angeführt: „Es gibt keine Nachbarschaft, keine häßlichen Nebengebäude, keine Licht- und Telefonmasten, keine Insekten, keinen Regen, keinen Schnee, keine heiße Sonne. Man selbst ist unabhängig von Wind und Wetter, und Haus und Garten bleiben vor Verwitterung verschont.“ (Weisskamp 1968, S. 70) „Der Triumph der Technik dieses Hauses“, dessen hochtechnisiertes Interieur durch „blau- und goldtönige Röhrenbeleuchtung mit stufenloser Regelung […] Morgen-, Mittag-, Abendstimmung vorgaukelt“ (ebd., S. 72), begeistert die Autorin Doris Weisskamp derart, dass der Grund der zu dieser Zeit nicht ungewöhnlichen Planung, der drohende Atomkrieg, nur beiläufig in einem Nebensatz erwähnt wird.11 Die Eigenheime der Zukunft wurden nicht nur durch Technik für die Unwägbarkeiten gerüstet, aus diesen wurde auch neue Legitimation für das Eigenheim abgeleitet. Im März-Heft 1968 gab Horst Wagenführ, Ökonom und Leiter des von ihm begründeten Instituts für wirtschaftliche Zukunftsforschung, in Schöner Wohnen eine Antwort auf die Titelfrage seines Artikels Hat das traute Heim noch Zukunft? und stellte am Ende

10 Die Zersiedelung der Landschaft durch Einfamilienhäuser und der damit einhergehende Individualverkehr per Auto führten schon weit vor dem Beginn der Umweltbewegung in den 1970er Jahren zu Kritik. Siehe etwa die 1955 von Max Frisch, Lucius Burckhardt und anderen publizierte Streitschrift achtung: die Schweiz! (Burckhardt et al. 1955, S. 28). Eine der frühen und in der Summe wenigen kritischen Positionen zu den räumlichen Folgen des Eigenheims in Schöner Wohnen vertritt der Stadtplaner Ernst May in einem Interview im Oktober-Heft 1962. Doch obwohl er moniert, dass „die Randgebiete unserer Städte im schlimmsten Sinne zersiedelt“ seien – „Ein Unding!“ –, und vorhersieht, dass es „mit der Fahrt im eigenen Auto […] eines Tages ohnehin zu Ende sein“ wird, erklärt er: „Ich möchte nie anders wohnen als in einem Einfamilienhaus.“ (May 1962, S. 49) 11 Für weitere Informationen zum ‚Haus unter der Erde‘ siehe auch Beatriz Colominas Publikation Domesticity at War (Colomina 2006, S. 279–281).

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3  Das Haus unter der Erde, Entwurf des ehemaligen texanischen Militärausbilders Jay Swayze in Schöner Wohnen 4/1968, S. 70

seiner Ausführungen zu Instant-Essen, Apparaten für jeden Zweck und Atomstrom klar: „Der Gesamteindruck, den wir von unserer Wohnung der Zukunft gewinnen, ist gewiß außerordentlich günstig. Sie wird vor allem behaglich sein, damit sie zum ‚Zuhause‘, zum ‚castle‘, zum ‚Heim‘ wird. ‚Behaglich‘ […] hängt wohl mit ‚Hag‘ zusammen, auch mit Hecke – die Grundbedeutung ist ‚umschließen, schützen‘. […] Niemand – das ist sicher – braucht das mehr als der Mensch der nächsten Zukunft.“ (Wagenführ 1968, S. 105) Kein Wunder also, dass selbst die futuristischsten Architekturperspektiven, die Schöner Wohnen in dieser Zeit publizierte, dem Eigenheim nur oberflächlich eine andere Zukunft entgegensetzten, dabei aber wesentliche architektonische Strukturen weiterführten – wie der folgende Blick auf den vom Zürcher Künstler Walter Jonas ab 1960 entwickelten städtebaulichen Vorschlag einer Trichterstadt zeigt.12

12 Architektonische Zukunftsperspektiven wurden in Schöner Wohnen, seit mit Josef Kremerskothen im Juli 1968 ein ausgebildeter Architekt zum stellvertretenden Chefredakteur aufgestiegen war, verstärkt behandelt und sogar zum Gegenstand zweier ständiger Rubriken: „Architekturperspektiven“ berichtete seit Oktober 1969 über Wettbewerbe und Neuerungen im Feld der Architektur, „Gebaut und geplant für morgen und heute“ behandelte bereits ab März 1969 Architekturutopien wie schwimmende Theater, Terrassenstädte und bewohnbare Kunststoffkapseln.

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DIE TRICHTERSTADT „Wie werden wir morgen wohnen?“, fragt Schöner Wohnen im Oktober-Heft 1966 und präsentiert sechs städtebauliche Utopien, die allesamt davon ausgehen, dass die wachsende Bevölkerung „auf herkömmliche Weise nicht mehr zu behausen sein wird“ (SW 10/1966, S. 134). Zwar stellt die Zeitschrift in Frage, „ob die Gestaltung unserer Zukunft eine Angelegenheit vornehmlich der Stadtplaner und Architekten ist“, würde sie doch „vor allem und im weitesten Umfang von der Politik bestimmt! […] Dennoch verdienen sie [die Stadtplaner und Architekten] […] unsere Bewunderung.“ (Ebd.) In feierlicher Aufmachung mit breitem Goldrand werden vorgestellt: die Schwebende Stadt Neu-Babylon des niederländischen Malers Constant Nieuwenhuys, in der „auf schlanken Pfeilern […] eine von Menschenhand geschaffene zweite Welt jedermann Raum für Spiele und Abenteuer bietet“ (ebd.);13 die Unterseestadt des Architekten Kiyonori Kikutake, bestehend aus „Wohninseln in Form von Betonzylindern, die etwa 30 Meter in die Meerestiefe ragen“, darin Wohnungen, die „vollklimatisiert“ und mit „Fenster in eine Tiefseelandschaft“ ausgestattet sind (ebd., S. 136); ein gigantisches Hochhaus des Berliner Architekten Robert Gabriel, sowie ein hub aller erdenklicher Verkehrsmittel, der als „Monstrum, für das es noch keinen Namen gibt“, bezeichnet wird (ebd., S. 139). Die Pyramidenstadt Habitat 67, die unter anderem der Architekt Moshe Safdie zur Weltausstellung in Montreal geplant hatte, wurde als einziges Projekt aus der Reihe realisiert und war zum Zeitpunkt der Publikation des Artikels bereits im Bau (ebd., S. 138). An prominenter Stelle, auf derselben Doppelseite wie die Einleitung, wird die Trichterstadt des Architekten und Malers Walter Jonas präsentiert (Abb. 4). Wie gigantische Betonpfifferlinge stehen gut zwei Dutzend trichterförmige Strukturen locker gruppiert in einer pittoresken Landschaft mit spiegelglatten Gewässern. Die Szenerie ist von Fahrbahnen durchzogen, auf denen Autos zwischen den Trichtern umherfahren, links im Vordergrund ist ein Autobahnkreuz angeschnitten. Im Text wird erläutert: „Jedes Trichterhaus ist 100 m hoch, hat einen oberen Durchmesser von 200 m und auf dem Boden eine zentrale Grünfläche von 100 m Durchmesser. […] Die Wohnungen sind treppenartig im Arenateil angeordnet.

13 Nieuwenhuys begann 1956 mit Entwürfen zu Neu-Babylon und entwickelte diese bis 1974 immer weiter.

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Jede Wohnung hat einen kleinen Garten, der zum Teil das Dach der darunterliegenden Wohnung bildet. […] Zugang bzw. Zufahrt befinden sich im Sockel. Autorampen führen zu jeder Wohnung.“ (Ebd., S. 135) Statt von einer Trichterstadt sprach Jonas teilweise auch von einer Intrastadt (vgl. Jonas 1962, S. 26), da die Wohneinheiten alle ‚intravertiert‘ auf ein Stück künstlicher Natur am Boden des Trichters ausgerichtet waren, während die Außenfläche des Trichters geschlossen blieb. „[F]ür den Menschen der Zukunft“, so Jonas in seinem 1962 veröffentlichten Buch Das Intra-Haus, solle die Wohnung wieder ein „Ort der Sammlung und der Selbstfindung“ sein (ebd., S. 20). Der Idylle im Trichter stellt er ein dystopisches Bild der modernen Stadt gegenüber: Diese gleiche einem „Krebsgeschwulst“, bedroht von „Vermassung“, „giftigen Abgasen“ und „andauernden Bodenerschütterungen“ (ebd., S. 13–15). In einer zeitgenössischen TV-Reportage, in der Jonas seine Idee erläutert, spricht er vom „Kampf aller gegen alle“ in vom „Erstickungstod“ bedrohten

4  Walter Jonas' Trichterstadt in Wie werden wir morgen wohnen?, Schöner Wohnen 10/1966, S. 135

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Großstädten als „gefährlichen Labyrinthen“.14 In Jonas’ anti-urbanem Trichter wohnen dagegen nur 2000 Menschen, gesittet wie in einer Vorstadtsiedlung. Bei seiner städtebaulichen Abkehr vom urbanen Raum und seiner Hinwendung zum Inneren eines Trichters bezog sich Jonas auf den Patio der „römischen und spanischen Villa“ (ebd., S. 18), den er als Ort des „Friedens und der Ruhe“ verstand und mittels der Intrastadt „auf den Hochhausbau zu übertragen“ versuchte.15 Die Trichterstadt ist also letztlich die direkte Übersetzung eines Eigenheimtypus – des Atriumhauses – in den städtebaulichen Maßstab.16 Auch „dass jede Familie mit ihrem Auto bis zu der zu der eigenen Wohnung gehörenden Garage fahren könnte“ (ebd., S. 24), erinnert wie der „Vorgarten“17 auf dem Dach der darunterliegenden Einheit an wesentliche Attribute des Eigenheims.18 In Jonas’ Entwurf sieht die Architektin und Denkmaltheoretikerin Uta Hassler ein exemplarisches Beispiel der Architekturutopien der Boomjahre19, „die ein letztes Mal die Hoffnungen der Moderne verwirklichen wollten, noch wachstumseuphorisch, fortschrittsoptimistisch, auf Technik, Steuerung und Beherrschbarkeit der Systeme vertrauend“ (Hassler 2009, S. 8). Von den Architekt*innen dieser Zeit, so der Soziologe Lucius Burckhardt, „erwartete man weit mehr als den bloßen Wiederaufbau des Zerstörten: Mit besseren Wohnungen, schönerem Gerät, modernen, durchgrünten Städten sollte auch eine neue Gesellschaft gebildet werden.“ (Burckhardt 1985a, S. 375)

14 Intrapolis – Walter Jonas erläutert seine Idee (1964, Ausschnitt aus TV-Reportage), in: Youtube-Kanal von Roy Oppenheimer, 23.11.2011, www.youtube. com/watch?v=jpvQ9dPjEX0 (3.11.2021). 15 Siehe Anm. 14. 16 Während der Titel des Buchs, in dem Jonas seine Idee präsentiert, Das Intra-Haus lautet, bezeichnet er seine Vision im selbigen als „Intra-Stadt“ oder „Intra-Siedlung“ (Jonas 1962, S. 26, S. 21), als sei nicht ganz klar, in welchem Maßstab die Vision eigentlich angelegt ist. Spätere Varianten des Entwurfs sind mit Galerien stärker nach außen geöffnet. Zu biografischen Hintergründen und zur Entwicklung des Entwurfs siehe auch Howald 2011, S. 214–225. Jonas’ Begriff „Intra-Stadt“ wird oben zur Vereinheitlichung zusammengeschrieben. 17 Siehe Anm. 14. 18 Jonas bewirbt seine Utopie als Alternative zum „Häuschen mit Garten“ in der Fläche (Jonas 1962, S. 16). 19 Hierbei handelte es sich gemäß der Tagung Bauten der Boomjahre – Paradoxien der Erhaltung am 28. und 29. Februar 2008 an der ETH Zürich um die 1960er und 70er Jahre.

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Dieses Denken drückte sich in den Wohnutopien aus, die Schöner Wohnen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre präsentierte. Die Trichterstadt steht exemplarisch für das Selbstverständnis der Architekturdisziplin dieser Zeit: Durch den richtigen Entwurf, die richtige ‚Lösung‘ ließe sich die Zukunft auf die eine oder andere Art zumindest für diejenigen, für die in den neuen Zukunftsstädten ein Platz vorgesehen war, sorgenfrei und angenehm gestalten. „[J]eder Vorschlag“, so heißt es im Lead zu Wie werden wir morgen wohnen?, basiere „auf dem Wunsche und der Hoffnung, die Menschen glücklicher zu machen, als sie sind“ (SW 10/1966, S. 134). Doch durch Design, das die Fehlstellen der „unsichtbaren Teile des Systems“ (Burckhardt 1985b, S. 42) durch technische Lösungen erträglicher zu machen versucht, würde wirklicher Veränderung entgegengewirkt (ebd., S. 44): Der ‚Elektronenhausknecht‘ stützt eine Architektur, die auf der Unsichtbarmachung häuslicher Arbeit und der Ausbeutung der ‚Hausfrau‘ basiert. ‚Das Haus unter der Erde‘ befreit nicht nur von lästigen Insekten und Nachbar*innen, sein Überdrucksystem lässt seine Bewohner*innen sogar einem Atomkrieg entspannt entgegensehen. Die Trichterstadt sollte Jonas zufolge den „entscheidenden Beitrag zum Leben von morgen […] leisten“, indem sie den Menschen eine Flucht vor den Zumutungen der Stadt in die von ihm entworfenen Betontrichter ermöglichte, die einem „in einer Talmulde gelegenen Dorfe“ ähneln (Jonas 1962, S. 33). Statt für grundsätzliche, strukturelle Veränderungen einzutreten, sorgten diese Entwürfe im Sinne Burckhardts nur dafür, „daß mit neuen Mitteln alles beim Alten bleibt“ (Burckhardt 1985b, S. 44).

ZUKUNFTSSCHOCK „Sicher hätten auch in der Bundesrepublik viele Bürger nichts dagegen einzuwenden, wenn man unter ihre sogenannte moderne Wohnsiedlung eine Ladung Dynamit legen und zünden würde“, steht unter der Schlagzeile „36 Millionen Dollar verpulvert – Wird man auch bei uns Wohnblocks in die Luft jagen, die kaum 20 Jahre alt sind?“ (SW 8/1974, S. 43), mit der Schöner Wohnen im August-Heft 1974 über ein Ereignis berichtete, das in der Architekturgeschichte nicht nur für das groteske Scheitern großmaßstäblicher Top-down-Planung, sondern darüber hinaus sinnbildlich für das Ende der architektonischen Moderne steht:

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Wir haben in die Zukunft geplant

die Sprengung der Großsiedlung Pruitt-Igoe in St. Louis im Jahr 1972. Diese radikale Maßnahme wurde als der Moment bezeichnet, an dem das „auf Vorschuss errichtete Denkmal“ für den modernen Architekten „von seinem Sockel stürzte“ (Burckhardt 1985a, S. 375), oder gar als „Tod der modernen Architektur“ (Jencks 1980, S. 9). Zu diesem Zeitpunkt war der Zukunftsoptimismus der 1960er Jahre von der Erkenntnis über die 1972 vom Club of Rome verkündeten „Grenzen des Wachstums“ abgelöst worden, die sich durch technische Lösungen nicht beliebig ins Unendliche verschieben lassen würden.20 Mit der Ölpreiskrise 1973 ging die erste tiefere Rezession der Nachkriegszeit einher, die auch den Höhenflug der Baubranche abrupt kollabieren ließ.21 Die Zukunftseuphorie schlug zu dieser Zeit auch in Schöner Wohnen in tiefe Skepsis um: Neben einer Werbeanzeige – „Krülland-Schwimmbecken bringen neues Leben in den Alltag!“ – titelte die Zeitschrift im Mai 1971: „Die Zukunft macht uns alle krank“ (SW 5/1971, S. 264).22 Dazu hieß es: „Da schreibt zum erstenmal ein Futurologe, der nicht mit glänzenden blauen Augen in die Welt von morgen blickt […], der die dunklen Gefahren erkennt, die in der Zukunft liegen. Alvin Toffler, der Autor, nennt das neue Übel beim Namen: Zukunftsschock.“ (Ebd.) Die Symptome des „Zukunftsschocks“ seien unterschiedlich: „Sie reichen von Angst, Feindseligkeiten gegenüber wohlwollenden Autoritäten und scheinbar sinnloser Gewalttätigkeit bis zu körperlicher Krankheit, Depression und Apathie.“ (Ebd., S. 265f.) Unter Titeln wie Die Zukunft mit Hochhäusern verbaut (SW 7/1973, S. 20) oder Müssen Großstädter früher sterben? (SW 5/1971, S. 39) erschienen laufend Artikel über Stadtplanung, die Großsiedlungen kritisierten, Umweltverschmutzung oder Verkehrsprobleme erörterten und dabei das Vertrauen des letzten Jahrzehnts in technische Lösungen und großmaß-

20 Unter dem Titel Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit erschien 1972 jene vielbeachtete Studie, die davor warnte, dass ein ungebremstes Wachstum in den fünf Bereichen Bevölkerung, Nahrungsmittelproduktion, Industrialisierung, Umweltverschmutzung und Ausbeutung von Rohstoffen in absehbarer Zeit die globalen Ressourcen erschöpfen würde. 21 Die Zahl der in der Bundesrepublik fertiggestellten Wohnungen stürzte von einem Allzeithoch im Jahr 1973 (über 700.000) binnen zwei Jahren auf den tiefsten Stand seit 20 Jahren, bis Ende der 1970er Jahre hatte sie sich halbiert (Statistisches Bundesamt 2000, S. 49). 22 Unter diesem Titel wurde das 1970 im Wilhelm Goldmann Verlag erschienene Buch Tofflers Der Zukunftsschock – Strategien für die Welt von morgen besprochen.

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stäbliche Planung in Frage stellten. Auch die Zersiedelung der Landschaft, die Versiegelung immer weiterer Flächen und die Zunahme des Autoverkehrs, also die bekannten Probleme der vorstädtischen Einfamilienhausgebiete, die mit der Ausweisung immer weiterer Siedlungsflächen einhergingen, wurden thematisiert – etwa in einem groß aufgemachten Artikel, der im September-Heft 1973 mit der doppelseitigen Fotografie einer malerischen Voralpenlandschaft mit Bergkulisse eröffnete, über der in großen Lettern drohend das Wort „Erinnerungsfoto“ prangte (Wolf 1973, S. 280).

DAS BAUERNHAUS Konsequenterweise hätte die Redaktion vor diesem Hintergrund die eigene Verantwortung für den Einfamilienhaus-Boom erkennen und ihr Eigenheim-Faible überdenken müssen. Doch statt diese Wohnform in Frage zu stellen, überführte sie Schöner Wohnen in ein Narrativ, das die Flucht aufs Land geschickt mit reparierender Sinnhaftigkeit erfüllte und mit den Diskursen der Zeit kompatibel machte: Der heiße Eigenheim-Trend war jetzt der Ausbau von Bauernhäusern, die Anfang der 1970er Jahre in einer Vielzahl von Homestorys porträtiert wurden. So wird in Ein altes Bauernhaus wird wieder jung davon berichtet, wie ein „Malerehepaar“ ein heruntergekommenes Fachwerkhaus „unweit Göttingen“, günstig für nur 12.500 D-Mark erworben, in Eigenregie saniert habe (SW 5/1972, S. 198f.). Wenngleich frisch renoviert, scheint äußerlich alles beim Alten geblieben zu sein (Abb. 5). Das räumliche Gefüge im Inneren ist dagegen komplett verändert. Das Erdgeschoss wird als geteilter Atelierraum genutzt. Zwischen Ober- und Dachgeschoss wurde die Decke weitgehend entfernt, sodass ein überhoher Wohnbereich mit offener Küche im Erdgeschoss mit zwei schmalen Hochebenen zum Schlafen und Lesen zu einem großzügigen Raumgefüge verbunden werden konnte. Das versöhnliche Miteinander von Alt und Neu wird in der Zeitschrift begeistert inszeniert: ein gegenwärtiger Grundriss im historischen Gebäude, neue vertikale Blickbezüge ergeben sich durch die alte Balkenlage, auf altem Holz steht moderne Unterhaltungselektronik. Der Text der Homestory beschreibt ein Wohnen, das wie das Haus ‚wieder jung‘ und frei zu sein scheint, wenn man zum Bedienen des Fernsehers „einfach über die Balken turnt“, wenn ein „einfacher […] Beton-

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estrich“ als Boden genügt und wenn „der selbstgemauerte offene Kamin“ aus Teilen besteht, die „auf dem Schutt gefunden und wieder neu zusammengesetzt“ wurden (ebd., S. 200, 202). Doch so unkonventionell, wie sich das im Vergleich zu den bis dahin üblichen Eigenheimdarstellungen in Schöner Wohnen liest, geht es ‚unweit Göttingen‘ bei Weitem nicht zu. Wie gewohnt ist alles sorgsam aufgeräumt und eingerichtet, das „junge Ehepaar“ scheint zwar kinderlos zu sein, was aber immerhin kaschiert wird durch die „Familienbibliothek“ auf der Empore, und das dort fehlende Geländer wurde in einer erläuternden Perspektivzeichnung kurzerhand redaktionell ergänzt (ebd., S. 200f.). Eine weitere Leerstelle bleibt allerdings offen: Im Gegensatz zu den meisten Homestorys spielen ausgebildete Architekt*innen hier keine Rolle – denn: „So einen Kamin kann jeder mauern.“ (Ebd., S. 204) Hatte Schöner Wohnen wenige Jahre zuvor mit einem Zitat des Architekten Egon Eiermann proklamiert: „Das Detail ist das einzig Noble“ (SW 7/1965, S. 58), so folgte hier die Kehrtwende: „Auf ausgefeilte Details wurde im ganzen Haus kein Wert gelegt.“ (SW 5/1972, S. 204) Dieses Beispiel steht exemplarisch für eine neue Bewertung des Verhältnisses von Architektur und Benutzer*innen, die Schöner Wohnen in dieser Zeit vornahm und auch in Bildern zum Ausdruck brachte. Durch die Vermittlung architektonischen Wissens hatte Schöner Wohnen die Leser*innen schon seit dem ersten Heft eingeladen, mit über Architektur nachzudenken und nach dem Motto „Häuserbauen ist eine zu wichtige Sache, als daß die Allgemeinheit sie allein den Architekten überlassen kann“ (Halding-Hoppenheit 1969, S. 198) die Autonomie der Disziplin immer wieder in Frage gestellt. Anfang der 1970er Jahre scheint es, als wolle die Zeitschrift ihre Leser*innen dazu anleiten, in der Regie über ihr Wohnen eine so starke Position einzunehmen, dass in einem gewissen Rahmen auf ausgebildete Architekt*innen völlig verzichtet werden könnte. Schon Mitte der 1960er Jahre hatte mit der Reihe „Wir bauen um“ das Heimwerken als „Aneignungspraxis des Einfamilienhauses“ (Voges 2017) vom Hobbykeller auf die architektonische Struktur des Hauses übergegriffen. In der dreiteiligen Reihe „Planen und Bauen“ ermutigte Schöner Wohnen die Leser*innen jetzt zum DIY im Entwurf: Der erste Teil der Serie – So teilt man sein Grundstück ein – vermittelte die städtebauliche Setzung eines Einfamilienhauses samt zugehöriger Abstandsregeln und Feuerwehrzufahrt (Holschneider 1971a, S. 104). In So entwerfen Sie Ihr Haus wurde aus den Bedürfnissen der Bewohner*innen ein Raumprogramm entwickelt und dessen

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5  Ein altes Bauernhaus wird wieder jung in Schöner Wohnen 5/1972, S. 198, Foto: Dorothee Brandi-Effenberg

Übersetzung in einen Grundriss angeleitet: „[E]in Zentimeter auf dem Papier bedeutet dann einen Meter in Wirklichkeit. […] Gliedern Sie den Grundriss in störungsfreie Funktionsgruppen: Wohnen, Kochen, Schlafen. Beachten Sie unsere Windrose, sie zeigt die beste Himmelsrichtung für die einzelnen Räume des Hauses. Denken Sie bei der Planung auch an die Zukunft. Ihre Familie kann sich verkleinern oder vergrößern. […] Äußern Sie keine unsinnigen Ideen, die den Wiederverkaufswert schmälern könnten.“ (Holschneider 1971b, S. 163) Erneut wurde in die Zukunft geplant. Erneut fand diese im Eigenheim statt. Erneut waren Wachstum und ökonomische Absicherung der heteronormativen Kernfamilie grundlegend. Neu war immerhin, dass den Bewohner*innen nun eine bestimmende Rolle bei dieser Planung zukam.

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Literatur

Burckhardt 1985a Burckhardt, Lucius: Das Menschenbild des Architekten (1981), in: ders.: Die Kinder fressen ihre Revolution. Wohnen, Planen, Bauen, Grünen, hg. v. Bazon Brock, Köln: DuMont 1985, S. 375–382. Burckhardt 1985b Burckhardt, Lucius: Design ist unsichtbar (1980), in: ders.: Die Kinder fressen ihre Revolution: Wohnen, Planen, Bauen, Grünen, hg. v. Bazon Brock, Köln: DuMont 1985, S. 42–48. Burckhardt et al. 1955 Burckhardt, Lucius; Max Frisch; Markus Kutter: achtung: die Schweiz. Ein Gespräch über unsere Lage und ein Vorschlag zur Tat, Basel: Verlag F. Handschin 1955. Carter 1966 Carter, E. Finley: Haus und Wohnung der Zukunft, in: Schöner Wohnen, H. 10, Jg. 7, 1966, S. 78–84. Colomina 2006 Colomina, Beatriz: Domesticity at War, Barcelona: Actar 2006. Dogma/Realism Working Group 2018 Dogma; Realism Working Group: Produktion, Reproduktion, Kooperation. Die Villa von der negativen Utopie zum Gemeinschaftshaus, in: Arch+, H. 231, Jg. 51, 2018, S. 154– 173. Giedion 1958 Giedion, Siegfried: The New Regionalism (1954), in: ders.: architecture you and me – The diary of a development, Cambridge (MA): Harvard University Press 1958, S. 138–151. Gill 2010 Gill, Julia: Individualisierung als Standard. Über das Unbehagen an der Fertighausarchitektur, Bielefeld: transcript 2010. Halding-Hoppenheit 1969 Halding-Hoppenheit, Hiltram Roman F.: Architektur nach 45: Besser als ihr Ruf?, in: Schöner Wohnen, H. 11, Jg. 10, 1969, S. 186–198.

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Bildnachweise

Die Bilder entstammen den folgenden Schöner-Wohnen-Heften: Abb. 1: SW 1/1960, S. 10–11. Abb. 2: SW 2/1961, S. 12–13. Abb. 3: SW 4/1968, S. 70. Abb. 4: SW 10/1966, S. 135. Abb. 5: SW 5/1972, S. 198–199.

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The visual worlds of dwelling that constantly confront us in magazines and journals, in popular everyday media, and especially on digital platforms such as Instagram and Airbnb have become familiar aspects of everyday life. On our smartphones we now carry with us digital images of dwelling that can be called up at any time. Through their permanent reproduction on different platforms, visual hegemonies of dwelling inscribe themselves into our concepts of dwelling as ideals to be achieved. But how is dwelling represented and exhibited on platforms, and how does this representation alter our understanding of dwelling and the built environment? Can platforms also provide a (digital) space of possibilities for counter-hegemonic imageries of dwelling? This paper uses selected home and interior accounts from the photo-sharing platform Instagram to explore these and other questions.

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BERNADETTE KREJS INSTA(GRAM)-WOHNEN. HOW WE FELL FOR (OR IN LOVE WITH) DIGITAL IMAGE WORLDS. ÜBER DIE REPRODUKTION NEUER WOHNIDEALE … classic home décor, rustic pieces and contemporary spaces, timeless lifestyle, bright – fresh interiors, sweet details, touch of bohemian influence, chic décor and glamorous materials, stunning exteriors and stylish interior spaces, bold patterns and clean designs, exposed brick walls, white colour palette, natural wooden elements, bright and lively with a contemporary feel, a soft blush palette with the millennial pink, … Die Bildwelten des Wohnens, die uns in Magazinen und Zeitschriften, in der täglichen Werbung und vor allem auf digitalen Plattformen wie Instagram oder Airbnb ständig umspülen, sind vertraute Begleiter des Alltags geworden. Durch die permanente Reproduktion digitaler Bildwelten auf unterschiedlichen Plattformen werden Printformate immer unbedeutender, und das nicht erst mit der Einstellung des bekannten Ikea-Katalogs als Druckwerk Ende 2020. Auf unseren Smartphones tragen wir die jederzeit abrufbaren digitalen Bilder des Wohnens ständig mit uns, sie sind bewusst oder unbewusst fixer Bestandteil unseres täglichen Lebens geworden. Auch ihre Betrachter*innen sind immer verfügbar, um nichts zu verpassen und up to date zu sein. Den digitalen Bildwelten des Wohnens verfallen, schreiben sich die visuellen Hegemonien des Wohnens als zu erreichende Ideale in unsere Wohnvorstellungen ein. Aber wie wird Wohnen auf digitalen Plattformen sichtbar, wie wird es dargestellt, ausgestellt und was zeigt es vor? Verändert das ständige Abbilden normierter Wohnideale unser Verständnis von Wohnen und somit auch un-

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sere gebaute Umwelt? Können Plattformen nicht auch einen (digitalen) Möglichkeitsraum von gegen-hegemonialen Bildwelten des Wohnens aufzeigen? Anhand ausgewählter Home- und Interior-Accounts der Social-Media-Plattform Instagram wird diesen und weiteren Fragen nachgegangen.

DIE PLATTFORM ALS PRODUKTION VISUELLER IKONOGRAFIE Durch die Covid-19-Pandemie wurde der Gebrauch von Plattformtechnologien in unserem alltäglichen Leben verstärkt wahrnehmbar. Wir wohnen mittels Airbnb, bewegen uns mit Uber und Lime-E-Scootern durch die Stadt, verabreden uns zum Sex über Tinder und Grindr, kaufen bei Amazon, spielen live auf Twitch, streamen über Netflix und arbeiten oder tauschen Wissen über Zoom aus, um nur einige der großen Plattformriesen zu nennen. Kommunikation erleben wir in den sozialen Medien wie Facebook, Instagram, Twitter, TikTok und vielen anderen. Wir teilen uns also mit, indem wir präsentieren und uns inszenieren, als Respons wird kommentiert, geteilt, gelikt oder blockiert. Plattformen haben die Art und Weise, wie wir zueinander und zu unserer Umwelt in Beziehung stehen, radikal verändert. Sowohl in soziokultureller wie politisch-ökonomischer Hinsicht ist ein Paradigmenwechsel erkennbar, bei dem bestehende Ordnungssysteme grundlegend in Frage gestellt und neu sortiert werden. Die damit einhergehende Verschiebung von Macht durch Plattformen skizziert Andrés Jaque in seinem Text Grindr Archiurbanism (Jaque 2017). Er beschreibt, wie neue Plattform-Architekturen das Gesellschaftliche bestimmen, was es bedeutet, Zutritt zu einem Raum zu haben, Teil einer Gemeinschaft zu werden, eine gemeinsame Ästhetik zu vertreten oder eben nicht Teil dieser Räume, Gemeinschaften und Werte zu sein. Auch der von den beiden Kuratoren Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer für den österreichischen Beitrag zur Biennale Architettura 2021 gewählte Slogan „Access Is The New Capital“ betont die Problematik der geregelten Teilhabe an Gemeinschaft durch die Auslagerung von unterschiedlichen Infrastrukturen in den privatisierten, digitalen Raum.1

1 „Access is the new Capital“ ist eines der sieben Kapitel, die Mörtenböck und Mooshammer für den österreichischen Pavillon entwickelt haben, um die Welt des Plattform-Urbanismus zu erforschen, https://www.platform-austria.org (25.10.2021).

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Da Plattformen meist nicht physisch erfahrbar sind, sind sie auf visuelle Repräsentationsformen angewiesen. Bilder spielen daher eine wesentliche Rolle in der Sichtbarkeit von Plattformen. Ihren Einfluss auf eine globale visuelle Kultur beschreiben Mörtenböck und Mooshammer so: „Due to their ability to level certain restrictions of space and time, these devices of connectivity have opened the door to a collectively produced visual iconography of hitherto unknown dimension.“ (Mörtenböck/ Mooshammer 2020, S. 21) Gerade auf der Plattform Instagram ist das Bild Mittel der Kommunikation und Mitteilung. Instagram wurde 2010 als Social-Media-Plattform entwickelt und bereits 2012 zu einem damals unglaublichen Preis von einer Milliarde US-Dollar von Facebook übernommen. Möchte man die Instagram-App genauer beschreiben und definieren, ist das kein einfaches Unterfangen, denn ein wesentliches Merkmal sozialer Plattformen ist es, sich ständig neu zu erfinden und zu verändern. Diese Eigenschaft verlangt auch von ihren User*innen, sich permanent zu aktualisieren, also immer verfügbar zu sein und nichts zu verpassen, um die neuesten Entwicklungen und Trends zu beherrschen. Features wie Filter, Insights, Storys und Archive sowie neue Werbemöglichkeiten transformieren die Plattform Instagram immer wieder. Mittlerweile sind die Reichweite und die daraus resultierende Ausdehnung der Plattform Instagram enorm. Mit einer Milliarde monatlicher aktiver Nutzer*innen weltweit ist Instagram eine der populärsten Foto-Sharing-Plattformen mit einer stark ansteigenden Wachstumsprognose.2 Die werbefinanzierte Social-Media-Plattform ist vor allem bei jungen Erwachsenen sehr populär, 70 Prozent der weltweiten Instagram-Nutzer*innen sind jünger als 35 Jahre.3 Die kaufkräftige Altersgruppe und die hohe Interaktion durch ständiges Re-Posten, Sharen, Taggen und Crossposten von Bildinhalten macht die Plattform Instagram auch als Markt besonders attraktiv (Abb. 1).

2 Stand 2018, siehe L. Rabe: Statistiken auf Instagram, in: Statista, 21.7.2021, https://de.statista.com/themen/2506/instagram/#dossierKeyfigures (22.10.2021). 3 Stand 2021, Distribution of Instagram users worldwide as of October 2021, by age group, in: Statista, 28.1.2022, https://www.statista.com/statistics/ 325587/instagram-global-age-group/ (2.2.2022).

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1  Instagram Living, Collage von Bernadette Krejs & Maria Groiss

INSTAGRAM AESTHETICS ABOVE ALL Instagram ist eine der größten Bilddatenbanken des 21. Jahrhunderts. Bereits kurz nach der Gründung der Plattform 2010 wurde die Grenze von 100 Millionen hochgeladenen Fotos überschritten. Für Theorie und Forschung ist dieses Bildarchiv überaus interessant, da es durch die Normierung in Größe und Form (das Instagram-Quadrat) ein gut vergleichbares Bildmaterial zur Verfügung stellt. Es handelt sich bei den Bildern um nutzer*innengenerierte Inhalte, d. h., die Bilder sind von Seiten der Plattform nicht redaktionell kuratiert und wurden keiner Selektion unterzogen. Die technischen Limitierungen durch die Plattform sowie die

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angebotenen Filteroptionen, aber auch die dominante Instagram-Ästhetik wirken sich jedoch auf die präsentierten Bilder aus. Die umfangreiche Bildersammlung auf Instagram ist ein überaus spannendes Archiv zeitgenössischer Bildproduktion, das die eingeschränkte und stichprobenartige Selektion herkömmlicher Medien und Publikationsformen sowie die damit oft einhergehende kanonisierte Geschichtsschreibung in Frage stellt. Trotz der nutzer*innengenerierten Bilder weisen diese bei genauerer Betrachtung gemeinsame visuelle Eigenschaften auf. Der Medientheoretiker Lev Manovich bezeichnet dieses Phänomen als instagramism. Er versteht darunter eine spezifische visuelle Sprache, die eine eigene Vision der Welt bietet. Instagramism visualisiert einen Lifestyle, der sich durch Atmosphären und Stimmungen in überästhetisierten Bildern wiederfindet. Die Kombination von kommerziellen und künstlerischen Elementen sowie die Inszenierung alltäglicher und zugleich außergewöhnlicher Momente sind Motive von instagramism. Millionen von Autor*innen formen diese visuelle Welt mit, indem sie sich mittels Bildern austauschen und sich gegenseitig beeinflussen, alle verbunden über das Medium Instagram. Auch der Begriff instagram aesthetics weist eine hohe Popularität auf, bei einer Google-Suche fanden sich für den Begriff ca. 2 Millionen Ergebnisse und unzählige Videobeiträge.4 Manovich weist auf die Bedeutung des Begriffs ‚Ästhetik‘ im Zusammenhang mit Instagram hin: „I think that the popularity of the word ‚aesthetic‘ in Instagram discourse reflects the key role aesthetic now plays on this platform. The creation of beauty – rather than information – is what successful Instagram accounts aim at.“ (Manovich 2020, S. 194) Das Prinzip, nur ästhetisch ansprechende Fotos zu posten, findet man in den designed Fotos wieder, auf denen instagramism beruht. Instagram-Ästhetik beschreibt einen visuellen Idealzustand, der in abgestimmten, strahlenden Farben einen perfekt inszenierten, einzigartigen Moment zeigt. Manovich unterscheidet allgemein drei Arten von Bildern, die uns auf Instagram begegnen: Als casual bezeichnet er Alltagsfotos der home photography, als professional Fotos solche, deren Autor*innen mit den Konventionen der Bildproduktion vertraut sind und diese womöglich auch professionell erlernt haben, und designed nennt er Fotos, die Raum als flachen,

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Google-Suche vom 4.2.2022.

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2  Instagram-Account @mytexashouse, 784.000 Abonnent*innen

zweidimensionalen Rhythmus wiedergeben und daher abstrakt und entworfen wirken. Auf erfolgreichen, also follower*innenstarken Instagram-Accounts werden Bilder nie isoliert und einzeln, sondern immer als Serie begriffen und wahrgenommen. Bilder sind auf Instagram stets in einer Sequenz sichtbar, die App zeigt jeweils drei Bilder nebeneinander im Raster. Die Fotos sind dabei chronologisch (nach dem Upload) geordnet und las-

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sen sich durch Anklicken in einer vergrößerten Version mit Infos und Kommentaren anzeigen, die Sequenz bleibt jedoch auch im Hintergrund immer sichtbar. Seit 2015 hat sich der Begriff der themes auf Instagram etabliert, der eine Kombination aus ausgewählten Farbpaletten mit bestimmten Kontrasten bezeichnet, die in allen Bildern wiederzufinden sind. Ein theme bedeutet nicht, dass alle Fotos gleich sind, Variationen sind erwünscht, aber es muss ein erkennbares Muster oder einen Rhythmus im Feed geben. Die Bedeutung der Sequenz steht immer über dem einzelnen Bild und macht den Account so unique (Abb. 2). Um dieser Instagram-Ästhetik gerecht zu werden, bedarf es gewisser skills, zu denen die Beherrschung von bestimmter Software genauso dazugehört wie das Inszenieren von Stimmungen und Atmosphären. Der bloße Zugang zur Plattform und ein Mobiltelefon alleine reichen hier nicht aus. Die sogenannten aesthetic workers (Instagramer*innen) folgen in einer aesthetic society5 gewissen Regeln und Strategien, um auf der Plattform erfolgreich zu sein. Das ästhetische Erscheinungsbild wird zum Schlüsselelement, um Waren und Serviceleistungen anzupreisen. Damit Content auf Instagram erfolgreich ist, muss er promotet, kommuniziert und muss ihm gefolgt werden, wobei eine gewisse Sehnsucht nach dem Gezeigten erzeugt wird. Damit all das gelingt, muss dieser Instagram-Content visuell ansprechend sein und dem Ideal einer Instagram-Ästhetik folgen. Die Produktion und Präsentation von ästhetisierten Bildern ist also die Voraussetzung für sozialen und ökonomischen Erfolg. Man kann zu der Schlussfolgerung kommen, dass aesthetic workers durch ihre Fähigkeit kulturelles Kapital kreieren, das in Follower*innen gemessen wird und sich gegebenenfalls in ökonomisches Kapital verwandeln kann.

INSTAGRAM-WOHNEN – DAS PRIVATE ALS SCHAUPLATZ Aber wie sehen nun die ästhetisierten Bildwelten des Wohnens auf Instagram aus? Wohnen begegnet uns auf Plattformen oft zufällig als Hintergrund von Selfies und Profilbildern oder bei Zoom-Meetings. Die Bildwelten des Wohnens auf Instagram zeigen jedoch das genaue Gegenteil, hier wird nichts dem Zufall überlassen. Wohnen wird als einstu-

5 Beide Begriffe (aesthetic workers, aesthetic society) verwendet Lev Manovich in seinem Text The aesthetic society (Manovich 2020).

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diertes, inszeniertes und arrangiertes Erlebnis präsentiert. Die Plattform Instagram bietet mit ihren ästhetisierten Bildwelten eine perfekte Bühne für dieses Spektakel des Zeigens und Betrachtens. Dass Wohnen weit mehr ist als ein Dach über dem Kopf oder die funktionale Aufteilung von Tätigkeiten auf Räume, beschreibt 1970 Lucius Burckhard in seinem Aufsatz Wohnbedürfnisse, in dem er die Wohnung wie eine Bühne der Gesellschaft beschreibt: „Wir sprechen hier von den Wohnbedürfnissen des Menschen und müssen sogleich präzisieren, dass damit nicht der Schutz vor den Unbilden der Witterung gemeint sein kann, sondern die Inszenierung des Menschen bei seinem Auftritt im Leben. […] die Wohnung als Szenerie, vor welcher der gesellschaftliche Auftritt stattfindet.“ (Burckhard 2004, S. 260) Bei diesem Auftritt im Leben, dem Inszenieren und Vorführen, lösen sich auch die starren Grenzen zwischen dem vermeintlich privaten und dem öffentlichen Leben auf. So wird der Wohnraum auf Instagram zu einer Bühne und das Wohnen zu einer eingeübten Szenerie, die Geschichten von Konsum und Lifestyle erzählt. Der scheinbar private Wohnraum wird zum Gegenstand des öffentlichen Interesses: „The private is […] now more public than the public.“ (Colomina 1996, S. 8) Die Bilder des Privaten handeln also nicht vom Sichtbarmachen des privaten, individuellen Wohnens, sondern sie verwandeln das Private in einen Schauplatz. Ein Schauplatz, der laut Irene Nierhaus „Varianten individualisierter Normalisierung“ zeigt, „denn das veröffentlicht Zu-sehen-Gegebene des Persönlichen geht kaum über das Zugelassene und Erwünschte hinaus“ (Nierhaus 2018, S. 21). „Wohnen ist ein Schau_Platz, an dem sich das Subjekt zeigt und an dem ihm gezeigt wird.“ (Nierhaus/ Nierhaus 2014, S. 9) Der überaus populäre Instagram-Account @mytexashouse der home-décor-Instagramerin Erin Vogelpohl, der von mehr als 600.000 Personen abonniert ist, zeigt Unmengen an Bildern der fast 500 m² großen Villa der 5-köpfigen Familie (Abb. 3). „The house is the star“, schreibt Ronda Kaysen über den Account in der New York Times (Kaysen 2019). Um genügend Follower*innen zu halten, müssen die Wohnräume immer wieder umgestylt und Objekte und Gegenstände neu arrangiert werden und mit ausreichend Familienfotos im Feed aufgemischt werden. Instagramerin als Fulltime-Job, bei dem die Spuren der tatsächlichen Bewohner*innen – wie Schmutz, Unordnung oder Reproduktionsarbeit – entfernt und unsichtbar gemacht werden. Es ist daher nicht

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3  Erin Vogelpohl betreibt den InstagramAccount @mytexashouse

verwunderlich, dass einige der erfolgreichsten Instagram-Häuser gar nicht mehr bewohnt werden, ihre Bewohner*innen haben die öffentlichen Schauplätze des Wohnens verlassen, um die kuratierten Bildsujets nicht durch das aktive Bewohnen zu stören. So erzählt Erin Vogelpohl in der New York Times: „The house does feel a little less like my own because many people know it. So many people have seen inside every space.“ (Ebd.) Verstehen wir Wohnen auf Instagram als Repräsentationsform, dann müssen auch alle Spuren des unkontrollierten, zufälligen Bewohnens beseitigt werden. Unordnung, Schmutz, Arbeit, Krankheit usw. sind unsichtbar und nicht Teil der Wohnbildwelten. Denn auf Instagram ist Wohnen vor allem ästhetisierter Lifestyle.

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SHOP MY INSTAGRAM POST Die digitalen Wohnbildwelten auf Instagram evozieren Sehnsucht nach immer neuen lifestyle experiences. Wohnen ist hier kein Grundbedürfnis, sondern wird als Erlebnis visualisiert. Die Verschränkung zwischen Wohnen und Lifestyle ermöglicht die Expansion in immer neue Märkte wie Mode, Unterhaltung, Kunst, Kulinarik, um nur einige zu nennen. Auch die Warenförmigkeit des Wohnens, mit all seinen konsumierbaren Möbeln und Gegenständen, ist ein weiterer Grund, warum Wohnen und Instagram ein perfect match sind. Den Instagram-Account @studiomcgee von Shea McGee, die sich selbst als die erste Design-Influencerin auf Instagram bezeichnet, und ihrem Ehemann Syd haben 3,1 Millionen Menschen abonniert. Neben Unmengen an Kooperationen mit Unternehmen gründete das Paar 2016 die E-Commerce-Marke McGee & Co. Nach dem Online-Shop, in dem einfach alles von Möblierung bis zur Haarspange gekauft werden kann, folgte 2020 die eigene Netflix-Show Dream Home Makeover, alles unter dem Motto „Make Life Beautiful“. Erfolgreiche Geschäftsbeziehungen zwischen Instagramer*innen und Unternehmen sind keine Seltenheit. Dabei beziehen die Account-Betreiber*innen Provisionen, wenn die von ihnen präsentierten Waren von den User*innen gekauft werden. Unternehmen kooperieren direkt mit erfolgreichen Instagramer*innen, indem Produkte in den geposteten Bildern platziert werden und über shop my instagram post im verlinkten Online-Shop gekauft werden können. Auch Erin Vogelpohl von @mytexashouse kooperiert mit Teppichfirmen oder dem global aufgestellten Walmart-Konzern. Mit einem Klick in den Shop der Account-Betreiber*innen können so fast alle Produkte, die auf den Wohnbildwelten auf Instagram drapiert sind, gekauft werden. Die Konsumbereitschaft von User*innen verspricht auch das Gefühl der Teilhabe an einer gemeinsamen Werte- oder Ästhetikgemeinschaft. Doch die Konsumation von Waren oder Serviceleistungen ist eine Ersatzhandlung, die zwar den Anschein von Teilhabe erzeugen kann, jedoch keine reale Gemeinschaft hervorbringt, vielmehr steht eine ökonomische Transaktion im Vordergrund. Die Verschränkung von Wohnen und Waren ist keine Neuentdeckung durch Plattformtechnologien. Doch die Konsumation ist in den Wohnbildern auf Instagram vorherrschend und scheint alle anderen

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4  Screenshot der Netflix-Show Dream Home Makeover von Shea und Syd McGee, Betreiber*innen des Instagram-Accounts @studiomcgee, der 3,3 Millionen Abonnent*innen hat

Erzählungen und Daseinsweisen von Wohnen auszulassen. Alles, was Wohnen auch sein könnte, wird dem Narrativ der Konsumation untergeordnet. Denn wie oft kann Erin Vogelpohl ihr Wohnzimmer fotografieren, bis es den Follower*innen zu langweilig wird und sie zum nächsten Account wechseln? Nur durch das ständige Neuerfinden von weiteren und anderen Objekten und Waren bleibt die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren aufrechterhalten. Shea und Syd McGee von @studiomcgee haben ihre Abonnent*innen durch das Expandieren auf weitere Plattformen und Formate multipliziert. Die Wohnbildwelten von @studiomcgee reproduzieren sich nicht nur auf Instagram, sondern auf der Plattform Netflix, im McGee-Blog, im Webshop und in der 2020 erschienenen Pu-

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blikation Make Life Beautiful. Das Wohnen, das die Bilder der McGees zeigen, offenbart jedoch wenig Neues über den Schauplatz Wohnen (Abb. 4).

A ROOM OF ONE’S OWN? Wenn das Wohnen auf Konsumation von Objekten reduziert wird und Wohnräume zu einem inszenierten öffentlichen Schauplatz werden, dann stellt sich die Frage, wo der eigene Raum der Selbstbestimmung, in dem das Individuum wächst und Erfahrungen sammelt, zu finden ist? Virginia Woolf schreibt in ihrem Essay A Room of One’s Own von 1919: „A woman must have money and a room of her own if she is to write fiction.“ (Woolf 1929, S. 5) Dieser eigene Raum der Selbstbestimmung und Erfahrung wird in den Wohnbildwelten auf Instagram zurückgedrängt und aufgelöst und an seine Stelle tritt ein idealisiertes, öffentliches Normbild von Raum und Wohnen, in dem Erfahrungen auf einige wenige Tätigkeiten – wie das Konsumieren – limitiert werden. Während sich die User*innen durch luxuriöse, bis ins Detail inszenierte Wohnräume klicken – von aufgeräumten Küchen über weiße Wohnzimmer bis hin zu drapierten Schlafzimmern –, ist ihre eigene Wohnerfahrung oft von beengten Raumverhältnissen, teuren Mieten und der Abwesenheit von Gemeinschaft geprägt. Der Körper der Instagramer*innen selbst ist jedoch wichtiger Bestandteil der Bildinszenierung. Auf designten Instagram-Fotos ist die Präsenz des Köpers, des Subjekts, wesentlich. Dabei wird der Körper meist nicht in klassischen Porträtformaten gezeigt, sondern es werden Körperteile wie Hände und Füße ins Bild gesetzt. Aus der Bildmitte verbannt, wird der Körper in unterschiedlichen Situationen gezeigt, beim Aufwachen oder beim Entspannen mit Kaffee, jedoch immer eng verbunden mit Objekten und Waren des Wohnens (Abb. 5). Wie der Wohnraum ist auch der Körper ein sorgfältig kuratiertes und inszeniertes Objekt. Auch er muss sich ständig optimieren, sich neu konstruieren und verbesserte Versionen von sich selbst erschaffen. Erst durch das Folgen, Liken, Favorisieren und Bewerten durch andere wird das eigene Selbst Bestandteil der Plattform-Gemeinschaft. Vor allem der Frauenkörper ist in den Bildern des Wohnens auf Instagram auffallend präsent. Die erfolgreichsten Home- und InteriorAccounts auf Instagram werden fast ausschließlich von Frauen betrieben.

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5  Der Körper der Instagramer*innen ist Bestandteil der Bildinszenierung, in scheinbar einzigartigen Alltagsmomenten wird dieser eng verschmolzen mit Objekten des Wohnens gezeigt.

Die Themen des Häuslichen, des Einrichtens und des Gebrauchs der Wohnräume sind auch im digitalen Zeitalter eng mit Weiblichkeit verwoben. Dabei wird der Körper der Frau auf Instagram bei ähnlichen Tätigkeiten in Szene gesetzt wie schon in den Ratgebern und Wohnfibeln der 1950er Jahre: Ordnung herstellen, sortieren und aufräumen, dekorieren (Kindergeburtstag, Weihnachten, Halloween) oder das Muttersein sind klassische Sujets der Präsentation und Inszenierung von Frauen in Wohnbildwelten. Der weibliche Körper ist ein weiteres Objekt zwischen Teppichen, Vasen und Blumen, der die Begierde auf die zu konsumierenden Güter steigern soll.

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VON INSTAGRAMABLEN RÄUMEN Dass die realen Wohnsituationen wenig mit den unerreichbaren Idealen auf den Home- und Interior-Accounts auf Instagram zu tun haben, steht außer Frage. Und so klicken wir uns durch luxuriöse, bessere Bildwelten des Wohnens, während wir selbst zwischen Lieferkartons in beengten Wohnungen sitzen. Denn die digitalen Bilder des Wohnens verfolgen vor allem ein Ziel: das Begehren nach mehr immer weiter zu schüren. Irene Nierhaus schreibt über dieses Begehren: „Das nie erreich- und erfüllbare ‚Bessere‘ hält das Begehren am Laufen bzw. bringt es mit hervor […]. So dient in diesem Zusammenhang das Bessere und Schönere dem Anheizen des Begehrens und zugleich seiner Normalisierung.“ (Nierhaus 2018, S. 20) Die Limitierung des Wohnens auf einige wenige Zustände in den Bildwelten auf Instagram reduziert auch das tatsächliche Bewohnen unserer Wohnräume auf wenige räumliche und ästhetische Möglichkeiten. Die Einschränkungen von Erfahrungen beobachtet auch der Architekt und Theoretiker Juhani Pallasmaa in seinem Text Die Augen der Haut. Architektur und die Sinne (2013). Pallasmaa kritisiert vor allem eine starr festgelegte und ausgerichtete Sehweise von Raum oder Architektur, wie wir sie auch in den designten Wohnbildern auf Instagram wiederfinden. Diese Sehweise eliminiert alle anderen Erscheinungs- und damit auch Möglichkeitsformen von Wohnen. Pallasmaa stellt dieser Form von Visualität eine periphere Sehweise gegenüber und beschreibt diese wie folgt: „Eine periphere Sehweise umgibt uns immer mit Raum, während eine streng ausgerichtete, fokussierte Sehweise uns aus ihm hinausdrängt und zu bloßen Zuschauer*innen macht. […] der Verlust des Fokus wird uns endlich vom eigenen Wunsch des Auges nach Kontrolle und patriarchalischer Macht befreien.“ (Ebd., S. 17) Doch in der räumlichen Konfiguration der Wohnbildwelten auf Instagram ist eine fokussierte, gerichtete visuelle Wahrnehmung vorherrschend. Auch der etablierte Begriff instagramable beschreibt (Innen- wie Außen-)Räume, die sich besonders gut für das Ablichten und Präsentieren im digitalen Raum eignen. Die Präsentierbarkeit eines Raums als Bild ist eine Anforderung, die neben der Grundfläche und dem Raumprogramm zu einem weiteren geforderten Kriterium bei der Errichtung eines Gebäudes werden kann. Durch die Limitierung des Wohnens auf einige wenige Zustände oder Ideale generiert Instagram auch eine Uniformität in der Bildsprache. Die weißen Oberflächen der Küchenarbeitsplatten, die aufgeräumten

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Wohnzimmer und überladenen Esstische erzählen die immer gleichen Geschichten über das Wohnen. Die Auswirkung dieser präsenten, mehr oder weniger identischen Wohnräume manifestiert sich auch in der tatsächlich gebauten Umwelt. So handelt es sich bei den als Airspaces bezeichneten Cafés, Apartments, Co-Living- und -Working-Spaces um einheitliche, uniforme Räume, die als gebaute Materialisierung der vertrauten Bildwelten auf Instagram (und anderen Plattformen) in Erscheinung treten: Raw wood, exposed brick und minimalist furniture oder andere symbols of comfort gehören zur weltweit gleichen optischen Ausstattung dieser austauschbaren Räume. Die Erfinder*innen dieser Airspaces sind wir alle, als Konsument*innen eines immer wiederkehrenden Stils, der durch digitale Plattformen wie Instagram reproduziert wird und eine ästhetische Homogenität forciert.

DRAWING HOUSING OTHERWISE Der fokussierte Blick und die daraus resultierende Uniformität des Wohnens, dem sich alles andere unterordnet, vom Entwurf bis zur Benutzung der Wohnräume, sowie die gleichzeitige Einschränkung selbstbestimmter Körperlichkeit sind ein Defizit von Plattformen wie Instagram. Die Frage nach dem körperlichen oder, wie Pallasmaa es bezeichnet, dem In-der-Welt-Sein bleibt unbeantwortet, die User*innen bleiben als passive Zuschauer*innen zurück. Die visuellen Hegemonien des Wohnens in den Bildwelten auf Instagram limitieren räumliche und ästhetische Möglichkeiten des Wohnens auf einige wenige Optionen. Das Wohnen selbst ist kein Akt der Selbstermächtigung und Entscheidung, vielmehr wird Wohnen auf Instagram als eine Handlungsanweisung gezeigt, die vor allem einer ökonomischen Logik folgt. Da Plattformen an sich jedoch auch kollaborative, verbindende Momente in sich tragen, können sich auch gegen-normative Kulturen entwickeln, indem sie gegen-hegemoniale Bilder des Wohnens produzieren und reproduzieren. Die Idee der Plattform als ein Raum für öffentliche Debatten und Konflikte kann auch Möglichkeiten für neue Formen der Bildproduktion eröffnen. Bilder können andere, diverse, alternative Vorstellungen von Wohnen, Gemeinschaft und Zusammenleben aufzeigen. Dafür ist es notwendig, die Perfektion der Bilder aufzugeben und das Wohnen auch mit Begriffen wie Politik, Unordnung oder Experiment

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zu verbinden. Ein drawing otherwise6 erschafft gegen-hegemoniale Bilder, die Systeme und Strukturen in Frage stellen und Begrifflichkeiten wie Optimierung, Effizienz oder die Kapitalisierung von Tätigkeiten und Objekten zur Verhandlung stellen. Bilder, welche die Komplexität von Gesellschaft, Stadt und Wohnen aufzeigen und die aus ihr hervorgehenden Konflikte visualisieren, sind politisch und intervenieren in bestehende (Wohn-)Prozesse. Wir werden auch unsere Sehgewohnheiten ändern müssen, die Dichte an Komplexität, die Überlagerung an Erzählungen oder das Fehlen von Eindeutigkeit müssen erst erkannt und die entsprechenden Fähigkeiten, diese wahrzunehmen, neu erlernt werden. Jedoch macht diese Auseinandersetzung mit Bildern des Wohnens aus bloßen Bildkonsument*innen auch aktive Teilnehmer*innen, die ihre eigenen Erzählungen auswählen oder erkennen. Wenn wir das Wohnen nicht auf das Einrichten, Organisieren und Konsumieren beschränken, so wie es auf Plattformen wie Instagram vorgeführt wird, sondern stattdessen Wohnen als etwas zu Verhandelndes und zu Entscheidendes verstehen, an dem viele beteiligt sind, dann kann daraus Diversität und räumliche Vielfalt entstehen. Die digitalen Wohnbildwelten auf Plattformen wie Instagram sind keine weit entfernten Pixelbilder, sie sind Teil unseres realen Lebens. Das Digitale und das Analoge (oder das Physische) sind beides Realitäten einer globalisierten Welt und beeinflussen unser Zusammenleben, unsere gebaute Umwelt und somit auch, wie wir wohnen. Denn „[d]ie monumentale Kraft der Architektur beruht auf ihren immateriellsten Mitteln“ (Colomina 2011, S. 31) und wir bewohnen durch Bilder auch unsere Umwelt.

6 Der Begriff drawing otherwise beschreibt die Handlungsfähigkeit und Selbstermächtigung einer gegenhegemonialen Bildproduktion.

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Literatur

Berkes 2016 Berkes, Christian (Hg.): Welcome to Airspace, Berlin: botopress 2016. Burckhard 2004 Burckhard, Lucius: Wohnbedürfnisse (1970), in: Jesko Fezer; Martin Schmitz (Hg.): Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, Berlin: Martin Schmitz Verlag 2004, S. 260–269. Colomina 1996 Colomina, Beatriz: Privacy and Publicity. Modern Architecture as Mass Media, Cambridge u .a.: MIT Press 1996. Colomina 2011 Colomina, Beatriz: Medienarchitektur oder Von der Architektur des Bildes, in: ARCH+, H. 204, 2011: Krise der Repräsentation, S. 26–31. Jaque 2017 Jaque, Andrés: Grindr Archiurbanism, in: Log. Observations on architecture and the contemporary city, H. 41, 2017, S. 74–84. Kaysen 2019 Kaysen, Ronda: Could Your House Be an Instagram Start?, in: The New York Times, 9.8.2019, nytimes.com/2019/08/09/real estate/could-your-house-be-an-insta gram-star.html (23.10.2021). Manovich 2016 Manovich, Lev: Instagram and Contemporary Image, 2016, manovich.net/index. php/projects/instagram-and-contempo rary-image (25.10.2021). Manovich 2020 Manovich, Lev: The aesthetic society: or how I edit my Instagram, in: Peter Mörtenböck; Helge Mooshammer (Hg.): Data Publics. Public Plurality in an Era of Data Determinacy, London: Routledge 2020, S. 192–210. McGee/McGee 2020 McGee, Syd; Shea McGee: Make Life Beautiful, Nashville: Harper Horizon 2020. Mörtenböck/Mooshammer 2020 Mörtenböck, Peter; Helge Mooshammer (Hg.): Data Publics. Public Plurality in an Era of Data Determinacy, London: Routledge 2020.

Mörtenböck/Mooshammer 2021 Mörtenböck, Peter; Helge Moshammer (Hg.): Platform Urbanism and Its Discontents. Austrian 2021 Biennale, Rotterdam: NAI Publishers 2021. Nierhaus 2018 Nierhaus, Irene: Seiten des Wohnens. Wohnzeitschriften und ihr medialer und gesellschaftspolitischer Display, in: Katharina Eck; Kathrin Heinz; Irene Nierhaus (Hg.): FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und Visuelle Kultur, H. 64, 2018: Seitenweise Wohnen: Mediale Einschreibungen, S. 18–28. Nierhaus/Nierhaus 2014 Nierhaus, Irene; Andreas Nierhaus: Wohnen Zeigen. Schau_Plätze des Wohnwissens, in: dies. (Hg.): Wohnen Zeigen. Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur, Bielefeld: transcript 2014 (wohnen+/−ausstellen, Bd. 1), S. 9–35. Pallasmaa 2013 Pallasmaa, Juhani: Die Augen der Haut. Architektur und die Sinne (2005), Los Angeles: Atara Press 2013. Woolf 1929 Woolf, Virginia: A Room of One’s Own, London: Hogarth Press 1929.

Bildnachweise

Abb. 1: Bildrecht Bernadette Krejs. Abb. 2, 3: Screenshots von https://www.ins tagram.com/mytexashouse/ (9.6.2022). Abb. 4: Screenshot von https://www.netflix. com/watch/81143474?trackId=254743534 (9.6.2022). Abb. 5: Screenshot von https://www.instagram. com/lydiamillenhome (9.6.2022).

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The topic of how artists were housed in the GDR is not generally discussed in current literature on artists’ residences. Today, a map of such residences in Germany shows many white spots to the east – as if the inner-German border still existed more than thirty years after the fall of the Wall. This paper discusses two housing estates built for the “creative intelligentsia” in the Berlin district of Pankow in 1950/51, which became a home for artists such as Ruthild Hahne, Fritz Cremer, Heinrich Ehmsen and Max Lingner. In its sponsorship of such housing construction the East German Communist Party aimed to provide the intelligentsia with a home and, against the backdrop of massive illegal emigration, reasons to remain in the GDR. The paper examines how artists were housed in the early phase of the GDR and what insights can be offered by concrete examples for further research around the topic of artists’ housing in the GDR.

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ALEXIA POOTH PRIVILEGIERTES KÜNSTLERWOHNEN IM KALTEN KRIEG: EIGENHEIME FÜR DIE SCHAFFENDE INTELLIGENZ, OST-BERLIN 1950/51 „VOM FELD AUS, WO DAS ‚GEZEICHNETE ICH‘ SEINE BEHAUSUNG HAT …“1 Beim Blick in die gängige Künstlerhausliteratur vermisst man in der Regel ein Thema: das Wohnen von Künstler*innen in der DDR. Als gäbe es auch mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall immer noch die innerdeutsche Grenze, weist die Forschung zu Künstlerhäusern im Osten viele weiße Flecken auf. Deutlich wird dies etwa beim Durchblättern des Coffee Table Books Künstlerhäuser. Ateliers und Lebensräume berühmter Maler und Bildhauer (Plachta 2014). Vom heimischen Sofa aus lässt sich anhand der Fotografien und Texte zwar ein Einblick in die Häuser berühmter Akteur*innen der Kunstgeschichte der letzten Jahrhunderte und Epochen erhaschen, doch immer entlang der bekannten, das Fach konstituierenden Koordinaten Kanon, Künstler, Künstlerhaus. Künstlerhäuser, so lässt sich bei aller Schwierigkeit, den Gegenstand zu definieren, festhalten,2 sind „topografische Fixpunkte“, ja häufig nationale Denkmäler, in denen sich das Leben der (westlichen) Hero*innen der Kunstgeschichte

1 Gerhard Altenbourg zit. n. Lang 1967, S. 2. 2 Als Künstlerhäuser werden in der Regel nicht nur Häuser, sondern auch Etagenwohnungen oder Zimmer etc. bezeichnet. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass in dem Genre auch die Typen ‚Architektenhäuser‘ oder ‚Literatenhäuser‘ eingeordnet werden und es zum Teil – wie etwa im Fall der Dessauer Meisterhäuser von Walter Gropius, die von Künstlern wie Paul Klee oder Oskar Schlemmer bewohnt wurden – zu spannungsreichen Überlappungen der Gattungen kommen kann.

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räumlich materialisiert und die das künstlerische Tun biografisch verorten (ebd., S. 6). Wenn dabei Künstlerhäuser oder -wohnungen aus Ostdeutschland oder einem osteuropäischen Land in den deutschsprachigen Kompendien auftauchen, dann meist nur bis in die 1920er Jahre – wie sich an den Meisterhäusern in Dessau oder dem Haus des russischen Architekten und Malers Konstantin Melnikow in Moskau beispielhaft zeigt (Brandlhuber/Buhrs 2013). Jene weißen Flecken, also das Desinteresse am Künstlerwohnen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR, lässt sich vermutlich aus der Rezeptionsgeschichte der ostdeutschen Kunst zwischen 1945 und 1990 erklären. Zwar haben mittlerweile viele ostdeutsche Künstler*innen ihren Platz im vereinigten bundesdeutschen Gedächtnis gefunden. Doch der langjährige, hitzige ‚Bilderstreit‘, d. h. das Ringen um die Frage, welche Rolle die in der DDR entstandene Kunst nach der Wiedervereinigung einnehmen soll und wie es um die Wechselbeziehung von Kunstdiktat und Staatshörigkeit versus künstlerische Individualität steht (Rehberg/Kaiser 2013), hat offenbar lange Zeit ‚Ressourcen‘ gebunden: Bei allem Kontextverständnis (die Abrechnung mit der in der DDR entstandenen Kunstproduktion ist schließlich ein Versuch der Vergangenheitsbewältigung) verwundert das Aussparen der Wohn-, Lebens-, Atelier- und Ortsfrage im kunsthistorischen Künstlerhausdiskurs allerdings doch. Es irritiert, da mittlerweile hinreichend belegt ist, wie wichtig unter den Vorzeichen der DDR-Diktatur der Rückzug ins Private und die Konzentration auf das Örtliche für die künstlerische Produktion sowie die Betrachtung und Distribution von Kunst war.3 Zudem macht das Ausklammern des Wohnens stutzig, da die Rezeption und der kontinuierliche Rückbau der ‚Ostmoderne‘ von der Wohnscheibe über den Palast der Republik bis hin zur Kunst am Bau aktuell in aller Munde ist (vgl. Chibidziura et al. 2020). Es sind in der Regel die Felder der Architektur-, Rechts- oder Designgeschichte, die Denkmalpflege, die Geschichts- und Archivwissenschaft oder die Soziologie und nicht die Kunstgeschichte, die sich hiermit sowie mit weiteren für die Zeit der DDR wesentlichen Wohnthemen, wie der Bodenreform, dem Materialund Wohnraummangel, der Wohnpädagogik, den Überwachungsmethoden

3 Siehe hierzu beispielsweise den Künstler Gerhard Altenbourg, dessen künstlerische Produktion untrennbar mit seinem Wohnhaus in Altenburg verbunden ist, oder die private Galerielandschaft in der DDR, vgl. Griesebach 2016; Fiedler 2013.

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der Staatssicherheit und dem (illegalen) ‚Erwohnen‘ von Gestaltungsspielräumen, auseinandersetzen. Forschungen in diesen Feldern haben viele – theoretisch auch für die Kunst- und Künstlergeschichte wichtige – Fenster geöffnet, etwa zur komplexen Thematik des ‚Schwarzwohnens‘4 in den 1980er Jahren (vgl. Grashoff 2011) oder in Richtung Provenienzforschung: Die Erforschung des (erzwungenen) Verkaufs von ‚Wohndingen‘ durch den Staatlichen Kunst- und Antiquitätenhandel der DDR und der damit einhergehenden Erwirtschaftung von Devisen sowie der Verlust von Besitztümern durch ‚Republikflucht‘ steht noch ganz am Anfang (Sachse 2020).

AM INTELLIGENZBERG UND RUND UM DIE STRASSE 201 Angesichts des dargestellten Forschungsdesiderats erscheint es sinnvoll, aus der weiten Landschaft der ostdeutschen Künstlerhäuser eines exemplarisch herauszugreifen und genauer zu untersuchen: um abzuklären, wie Wohnen definiert wurde und welchen Stellenwert es zwischen privatem Freiraum und kollektivem Gemeinschaftsbild in der DDR hatte bzw. haben sollte. Beim Versuch, ein prägnantes Wohnbeispiel herauszugreifen, zeigt sich allerdings, wie vielfältig das Wohnen von Künstler*innen zwischen der Gründung der DDR 1949 und der Wendezeit 1989/90 war. Zur Diskussion geeignet wären also viele Beispiele: etwa das hausgemeinschaftliche Wohnen von Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke in den 1960er und 1970er Jahren in der Leipziger Hauptmannstraße, das Sommerhaus von John Heartfield im Brandenburgischen Waldsieversdorf oder die Wohnsituationen des ‚Dissidenten‘ A. R. Penck bis zu seiner Ausbürgerung 1980. In der nachfolgenden Erörterung sollen indes zwei Intelligenzsiedlungen betrachtet werden, die 1950/51 in Berlin-Niederschönhausen im Verwaltungsbezirk Pankow errichtet und von Künstler*innen, Schriftsteller*innen, Wissenschaftler*innen, Mediziner*innen etc. in den folgenden Jahren bezogen wurden.5 Situiert rund um den sogenannten Intelligenzberg,

4 Unter ‚Schwarzwohnen‘ wurde in der DDR die Unterwanderung der staatlichen Wohnraumlenkung verstanden. Es waren zumeist eher jüngere Menschen, die baufällige Häuser bezogen, um sich so – quasi als Mittel zur Selbsthilfe – ein ‚unabhängiges‘ Wohnen zu ermöglichen. 5 Zeitgleich wurde noch eine weitere Siedlung in Berlin-Grünau errichtet, in der allerdings keine Künstler*innen wohnten. Sie wird daher hier nicht weiter berücksichtigt.

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einem Hügelchen am Fritz-Erpenbeck-Ring und im Karree der ehemaligen Straße 201 (heute Beatrice-Zweig-Straße), handelte es sich um 68 geplante (aber nicht durchweg bebaute) Wohnparzellen, auf denen auf Anraten der sowjetischen Besatzungsmacht Eigenheime für die sogenannte Intelligenz6 – die dritte Säule im Arbeiter- und Bauernstaat – gebaut wurden. Ab 1951/52 wohnten hier wichtige Akteur*innen der Ost-Berliner Künstlerschaft, etwa die Bildhauer*innen Fritz Cremer, Ruthild Hahne und Theo Balden, die Maler Heinrich Ehmsen und Max Lingner, der Grafiker Klaus Wittkugel und die Schriftsteller*innen Erich Weinert, Fritz Erpenbeck und Hedda Zinner. Seit 1990 stehen die beiden Siedlungen, von denen die eine offiziell nach Erich Weinert benannt ist und die andere mangels eines eigenen Namens hier Erpenbeck-Siedlung genannt werden soll, auf der Berliner Landesdenkmalliste – zu Recht, denn in den Siedlungen überlappen sich unterschiedlichste Themen: Es geht nicht nur um Künstlerhäuser, sondern, wie nachfolgend aufgezeigt werden soll, um die architektonische Entwicklung von Typenhäusern, den künstlerisch-gesellschaftlichen Aufbau der DDR sowie die Privilegierung der Intelligenz durch die SED.

„WIR WOLLEN BAUMEISTER SEIN AN UNSEREM NEUEN HAUS …“7 Es gibt viele Möglichkeiten, sich den „Eigenheimen für die schaffende Intelligenz“, wie sie offiziell hießen, zu nähern.8 Ein Weg ist die Suche nach Bildern, und dieser führt zunächst ins Internet. Unter den Stichwörtern ‚Intelligenzsiedlung‘, ‚Erich-Weinert-Siedlung‘ oder auch ‚Max Lingner‘

6 Der Begriff Intelligenz wurde von der DDR-Führung verwendet, im Kontext der Siedlungen aber nicht weiter ausdifferenziert. Dass es sich hierbei um einen facettenreichen, schwierig fassbaren Begriff handelt, wurde etwa 1995 in der Zeitschrift Hochschule Ost diskutiert, vgl. Hochschule Ost 1995. Unter den „Intelligenzbegriff“ fallen soziologisch gesehen zunächst alle, die einen Hochoder Fachhochschulabschluss haben. Je nach Standpunkt konnte mit Intelligenz aber auch die intellektuelle Elite gemeint sein. Hier wird unter dem Begriff Intelligenz auch die in den Intelligenzsiedlungen wohnende Künstlerschaft verstanden. 7 Erich Honecker anlässlich der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949, zit. n. Wolle 2013, S. 26. 8 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch) DH/2/PLAN 5144, Plan 375.

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1  Das Haus von Max Lingner in der ErichWeinert-Siedlung, Berlin-Niederschönhausen, Haustyp 1a

erscheint hier ein Sammelsurium an unterschiedlichen Fotografien, die Satteldachhäuser in verschiedenen Ausprägungen (Abb. 1), Madenputz, Straßenschilder, einige Möbel aus dem Haus von Max Lingner oder das bis heute spektakuläre Atelier der Bildhauerin Ruthild Hahne zeigen. Auch 20 Jahre nach ihrem Tod fasziniert ihre Werkstatt, denn die darin nach wie vor aufgestellten monumentalen Gipsstatuen von Ernst Thälmann oder die Porträtbüsten von Walter Ulbricht katapultieren die Betrachter*innen nicht nur in eine vergangene kunstpolitische Zeit, sondern lassen erahnen, wie Hahnes Nachfahr*innen auch heute noch in dem Haus leben (Abb. 2): Das Atelier in der Beatrice-Zweig-Straße befindet sich in Privatbesitz und ist lediglich am Tag des offenen Denkmals geöffnet. Dazu figuriert sich auf Google Maps ein weiteres, topografisches Bild: Die Erich-Weinert- und die Erpenbeck-Siedlung wurden in fußläu-

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2  Atelier von Ruthild Hahne mit Gipsmodellen zum Thälmann-Denkmal, Erich-WeinertSiedlung, Beatrice-Zweig-Straße Nr. 1

figer Entfernung (ca. 1,6 km) voneinander errichtet. Fußläufig entfernt war ebenfalls das sogenannte Städtchen, d. h. die Villen der DDR-Führungsriege um Otto Grotewohl und Walter Ulbricht, die bis 1960 hier residierten. Nach außen zwar abgeriegelt, bildete ihr Wohnviertel am Majakowskiring doch gemeinsam mit den beiden ‚Intelligenz-Inseln‘ das neue Zentrum Ost-Berlins – in Nachbarschaft zum Schloss Schönhausen, in dem bis 1960 Wilhelm Pieck als Präsident amtierte und bis 1964 der Staatsrat der DDR tagte. Konkreter werden die Bilder durch einen Blick ins Bundesarchiv. In den Akten der Bauakademie der DDR finden sich heute noch diverse Grundrisse, Aufrisse und Lagepläne, die viel über das Bauvorhaben und die beteiligten Akteur*innen verraten. Mit Blick auf den Plan der ErichWeinert-Siedlung zeigt sich zunächst, wie großzügig und komfortabel

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3  Eigenheime für die schaffende Intelligenz, Haustyp 4a, errichtet im Auftrag des Förderungsausschusses für die deutsche Intelligenz, Heinrich-Mann-Straße, Berlin-Niederschönhausen

die „Eigenheime für die schaffende Intelligenz“ projektiert waren.9 In der Regel handelte es sich um Baugrundstücke von 700 bis maximal 1.000 m², auf die verschiedene Häusertypen gesetzt werden konnten. Grundrisse und Vermessungspläne für vier Typen liegen vor, alle zweistöckig angelegt mit Garten, Terrasse und zum Teil auch Garage und Keller. Zwar unterscheiden sich die Typen, wie der kürzlich erschienene Band Die Intelligenzsiedlungen in Ost-Berlin (Asmus/Asmus 2021) deutlich macht, in Kubatur, Zimmeraufteilung und in der Wohn- bzw. Arbeitsfläche, jedoch weisen sie auch Gemeinsamkeiten auf: Wie Abbildung 3 erahnen lässt, waren für alle Häuser Satteldächer vorgesehen und zumindest in der ErichWeinert-Siedlung war die traufständige Ausrichtung Pflicht. Zudem, so zeigen die Pläne, war für alle Typen eine Ausstattung mit Anhydrit, Die-

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len oder Steinholzplatten vorgesehen. Die Wohnflächen variierten zwischen 124 und 136 m²; Sonderwünsche konnten realisiert werden, je nachdem welcher Profession die Bewohner*innen nachgingen (ebd., S. 57–71). Unter diesen Voraussetzungen und vor dem Hintergrund, dass bis Mitte der 1950er Jahre viele Künstler*innen in der DDR keine oder nur unzureichende Arbeits- und Wohnräume hatten, unter Materialmangel und in Bezug auf Aufträge unter der Zonengrenze litten, erschienen die Eigenheime wie ein Paradies (Lüdecke 1948; Sonntag 1955). Sie ließen die sonst allgegenwärtigen Kriegsschäden im Stadtbild vergessen.10 Verantwortlich für die Planungen der Häuser war das Ministerium für Aufbau, konkret das ihm zugeordnete Institut für Städtebau und Hochbau. Wie die verschiedenen Unterschriften auf den Plänen zeigen, gingen die Ausführungszeichnungen der Typen 1a bis 4a durch mehrere Hände. Die endgültige Absegnung lag bei dem Architekten Hanns Hopp, der seit Januar 1950 die Leitung der Abteilung Hochbau im Institut für Städtebau und Hochbau innehatte. Wie Gabriele Wiesmann in ihrer Hopp-Biografie ausführt, hatte das Institut mit ihm einen fähigen und loyalen Mann an der Spitze: Schon vor dem Krieg war der 1890 in Lübeck geborene Architekt in Königsberg im Einfamilienhausbau tätig gewesen; 1945 beteiligte er sich an den Wiederaufbauplänen für Dresden und übernahm, nun Mitglied der SED, zwischen 1946 und 1949 die Leitung der Kunstschule Burg Giebichenstein in Halle (Wiesmann 2000). Die vordringlichste Aufgabe in der Abteilung Hochbau war die Entwicklung von Typenprojekten, insbesondere im Wohnbaubereich. Die „Eigenheime für die schaffende Intelligenz“ standen, neben dem Ausbau des DDR-Regierungssitzes Schloss Schönhausen, an allererster Stelle – nicht nur, weil hier zentral Modellpläne entwickelt wurden, die dann landesweite Gültigkeit haben sollten (die Standortplanungen für das Jahr 1951 sahen Intelligenzsiedlungen in 40 Städten zwischen Rostock, Magdeburg, Potsdam und Dresden vor),11 sondern weil die in Niederschönhausen gebauten Häuser auch eine weitere, für die SED ‚lebensnotwendige‘ Funktion erfüllten: Sie sollten die Intelligenz häuslich binden und so die DDR als ‚Heimat‘ attraktiv machen. Die massive Abwanderung von

10 Verdrängt wurde zudem, dass die Erich-Weinert-Siedlung in der Nähe eines ehemaligen NS-Zwangsarbeiterlagers im angrenzenden Erholungsareal Schönholzer Heide lag. 11 BArch DC 3/112.

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Künstler*innen und Fachkräften aller Sparten Richtung Westdeutschland sollte gestoppt werden (vgl. Asmus/Asmus 2021, S. 12–14). Bereits am 31. März 1949 hatte die Deutsche Wirtschaftskommission der SBZ eine „Verordnung über die Erhaltung und Entwicklung der deutschen Wissenschaft und Kultur, die weitere Verbesserung der Lage der Intelligenz und die Steigerung ihrer Rolle in der Produktion und im öffentlichen Leben“ vorgelegt. Dahinter steckte Kalkül: der wissenschaftlich-technischen, pädagogischen und kulturschaffenden Intelligenz handfeste Gründe für das Bleiben im Ostsektor zu geben und sie gleichzeitig in den materiellen, geistigen und visuellen Aufbau des Sozialismus einzubinden. Wie das idealerweise aussehen sollte, zeigt sich bis heute an Max Lingners 1953 geschaffenem Wandgemälde Aufbau der Republik am Haus der Ministerien12: Nicht mehr als intellektuelle oder bürgerliche Elite, sondern im Handschlag mit den Arbeitern und Bauern war es der Intelligenz zugedacht, den „großen Plan“ der SED (Stefan Wolle) mit zu verwirklichen. Damit erhielten Hopps sogenannte IN-Häuser (ebd., S. 97) von Anfang an eine staatstragende Funktion, die in Niederschönhausen durch die geschilderte Nähe zum Majakowskiring auch topografisch sinnfällig wurde. Der enge Zeitplan, die wenigen Mittel und begrenzten Materialien rächten sich jedoch im Bau: 1951 kam es zu einer im Radio gesendeten Diskussionsrunde, in der die Planung des Instituts für Städtebau und Hochbau und die vom VEB-Wohnungsbau vorgenommene Umsetzung scharf kritisiert wurden.13

ZWISCHEN EIGENHEIM UND MIETOBJEKT Die Finanzierung des groß angelegten Bauprojektes oblag dem Förderausschuss für die schaffende Intelligenz, der im Falle Berlins direkt beim Ministerpräsidenten der DDR angesiedelt war und sonst in Länder- bzw. ab 1952 in Bezirkshand lag. Wie aus der Kulturverordnung vom 16. März 1950 hervorgeht, wurde für den Bau der Eigenheime im gesamten Gebiet der DDR ein Fonds „von 10 Millionen Mark und zusätzlich von 1 Million Mark bei der Deutschen Investitionsbank gebildet“, über dessen Verwendung der Förderausschuss und die Akademie der Wissenschaften

12 13

Heute Detlev-Rohwedder-Haus. BArch DH/20048.

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gemeinsam entscheiden konnten (ebd., S. 26f.). Bis 1950 sollten von diesem Geld 250 bezugsfertige Bauten realisiert werden, was sich jedoch als utopisch herausstellte: Die Mehrzahl der Eigenheime wurde erst 1951 oder später fertiggestellt. Bei dem Fonds handelte es sich zunächst um einen Kreditfonds. Zu günstigen Zinsbedingungen wurde mit dem Darlehen ausgewählten ‚Intelligenzler*innen‘ die Möglichkeit zur Errichtung bzw. zum Bezug eines Typenheims gegeben. Bei einer anfangs pauschal angenommenen Bausumme von 40.000 DM14 sollten sich auf der Basis einer moderaten Rückzahlrate die Kosten nach 30 Jahren amortisieren und die IN-Häuser in den Besitz der Kreditnehmer*innen übergehen. Doch auch diese Planung erwies sich als unrealistisch: weil die Baukosten das Volumen von 40.000 DM weit überstiegen, weil das hohe Alter und der zumeist schlechte Gesundheitszustand der Erstbewohner*innen dem Amortisierungsansatz entgegenstand und letztlich auch weil „nach geltendem dt. Recht [in der DDR], ein besonderes Eigentum an Bauwerken auf volkseigenem Grund und Boden nicht möglich war“.15 Daher wurden 1952 Mietverträge geschlossen, die das Wohn- und Eigentümerverhältnis neu regelten. Die Bewohner*innen, die, wie etwa Heinrich Ehmsen oder Ruthild Hahne, zum Teil vorher als Bauherr*innen galten,16 hatten nun Miete an die Volkseigene Wohnungsverwaltung zu entrichten, dafür aber ein lebenslanges Wohnrecht, das sich unter festgeschriebenen Konditionen auch auf ihre Angehörigen übertrug.17 Der Unmut bei den Bewohner*innen war groß, auch weil die Überführung des Kreditfonds in einen Investitionsfonds zu Problemen führte: Ehmsen etwa konnte seine privat vorgestreckten Bauausgaben nach der Umwandlung seines Hauses in ein Mietobjekt offenbar nicht mehr beim Förderausschuss geltend machen.18

14 Unter ‚DM‘ wird in diesem Zusammenhang die Deutsche Mark der Deutschen Notenbank verstanden, die von 1948 bis 1964 in der SBZ/DDR das Zahlungsmittel darstellte. 15 Akademie der Künste, Berlin (AdK), Heinrich-Drake-Archiv 301, Brief vom Förderungsausschuss für die Deutsche Intelligenz an Drake, 31.5.1952. 16 Wer im Fall der Intelligenzsiedlungen als Bauherr*in galt, geht aus den Akten nicht eindeutig hervor. Mal wurde die*der Kreditnehmer*in genannt, mal der Förderausschuss bzw. eine andere juristische Person. 17 Im Fall Hahnes und Lingners wurden die Häuser später von den Künstler*innen bzw. ihren Familien zurückgekauft. 18 AdK, AdK-O OM 4, Brief von Ehmsen vom 8.11.1954.

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Welche Naturwissenschaftler*innen, Ingenieur*innen, Schauspieler*innen oder Redakteur*innen etc. ein Heim beziehen konnten, entschied allein der Förderausschuss. Die Intelligenzler*innen mussten sich bewerben. Wer nicht bereits durch die Kulturverordnungen von den Fördermaßnahmen wusste, konnte sich in den Klubs der Intelligenz oder beim Kulturbund19 informieren. Auch wurde eine Broschüre herausgegeben, welche die Intelligenzhäuser als „feste Grundlage“ für das Aufblühen des „deutschen Kulturlebens“ bewarb (ebd., S. 208–211); die Modelle der Typenhäuser wurden in der Akademie der Künste öffentlich diskutiert und das Neue Deutschland berichtete. Inwieweit auch die vielen anderen Intelligenzler*innen, die kein Heim in den Siedlungen zugeteilt bekamen, von dem Förderausschuss profitierten, muss an anderer Stelle erörtert werden. Sicher ist jedoch, dass der Ausschuss viele allgemeingültige Regularien etwa zur Erhöhung der Gehälter und der Rentenbezüge oder zu Sanatoriumsaufenthalten zur Verbesserung der akuten Lebenssituation aufstellte und großzügig Bezugsscheine für Hausrat, Möbel und, wie im Fall Lingner, Daunendecken ausstellte. Auch individuelle Lösungen wurden mithilfe des Förderausschusses gefunden: Nachdem Ehmsen 1949 nach einem Eklat an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin-Charlottenburg von seinem dortigen Posten entbunden worden war und 1950 ein Meisteratelier an der Akademie der Künste übernommen hatte, wurde ihm vom Ausschuss die Hälfte seiner Bezüge in Westgeld ausgezahlt, um seine nach wie vor laufenden Kosten in West-Berlin zu decken.20

DIE SCHAFFENDE INTELLIGENZ Der Bezug der Häuser in der Erich-Weinert- und der Erpenbeck-Siedlung fand zwischen 1951 und 1953 statt, wobei durch Wegzüge oder Todesfälle von Anfang an Wechsel in der Bewohnerschaft zu verzeichnen waren. Die Erstbewohner*innen, also diejenigen, die vom Förderausschuss

19 Der Kulturbund war eine Massenorganisation, die ab 1949 von der SED zur Schaffung einer sozialistischen Kultur genutzt wurde. Der Vereinigung gehörten zahlreiche Intellektuelle an. 20 AdK, AdK-O OM 4, Schreiben der Akademie der Künste an den Förderausschuss, 5.7.1950.

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als Bauherr*innen oder als Erstmieter*innen festgelegt worden waren, waren überwiegend männlich; vertreten waren verschiedenste Professionen, sodass das Leben in der Siedlung von vielfältigem beruflichem Know-how geprägt war. Aber nicht nur: Wie Bettina und Hans Asmus darlegen, trafen in den Typenhäusern unterschiedlichste Biografien aufeinander – schon allein hinsichtlich der politischen Orientierung vor 1945. In Niederschönhausen lebten nun ehemalige Mitglieder nicht nur der KPD und der SPD, sondern etwa auch der NSDAP beisammen, von denen wiederum eine Vielzahl nach 1946 der SED beigetreten waren (Asmus/Asmus 2021, S. 136). Die heterogenen Erfahrungswelten während der NS-Zeit umfassten, wie sich exemplarisch an den Künstler*innen Hahne, Cremer, Lingner und Balden zeigt, Berufsbeschränkungen, Zuchthaus, aktiven Widerstand, Flucht, Exil wie auch den Einsatz an der Front. Hahne, die in Berlin unter anderem bei Arno Breker studiert hatte, wurde 1942 aufgrund ihrer Nähe zum Widerstand zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und ihr Lebensgefährte hingerichtet (Fidorra/ Müller 1995); Fritz Cremer, der ebenfalls an der Berliner Hochschule für Künste studiert hatte und Kontakte zur Roten Kapelle unterhielt, diente jahrelang als Soldat; Theo Balden, Mitglied der Assoziation revolutionärer bildender Künstler (ASSO), emigrierte nach mehrmonatiger Gestapo-Haft über Prag nach England, wo er – wie auch der seit 1928 in Frankreich lebende Max Lingner – die Erfahrung der Internierung als ‚feindlicher Ausländer‘ machen musste. 1940 wurde er nach Kanada ausgewiesen, konnte aber 1941 nach England zurückkehren. Anders als Lingner, der sich in Paris einen Ruf als Maler und Pressegrafiker erarbeitet hatte und als Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs schon in den 1930er Jahren unter anderem lockere Kontakte zu Walter Ulbricht unterhielt, konnte der Bauhausschüler Balden erst kurz vor seiner Remigration nach Deutschland in England künstlerisch Fuß fassen. Als Balden 1947 nach Deutschland zurückkehrte, bedeutete dies für ihn eine schwierige Phase der künstlerischen und wohntechnischen ‚Neueinrichtung‘: Bis zu seinem Einzug in die Intelligenzsiedlung erlebte er eine Wohn-Odyssee durch das geteilte Berlin (Feist 1983, S. 51). Lingner hingegen, dessen in Paris geschaffenes Werk auch den Genoss*innen in Berlin bekannt war, erhielt nach seiner Rückkehr 1949 einen Platz im Gästehaus der SED und Aufträge, etwa die Festdekoration am Haus der Deutschen Wirtschaftskommission 1949 oder die Maidekoration Unter den Linden 1950 (Köpping/Semrau 2013, S. 18–25).

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Die zunächst einzige Gemeinsamkeit der genannten Künstler*innen lag darin, dass sie sich für ein Haus in Ost-Berlin beworben hatten und nun mit ihrer alten Habe oder neuem Mobiliar in der Homeyer-, Heinrich-Mann- oder der Straße 201 wohnten. Der Entschluss, in der ‚Sowjetzone‘ zu siedeln, wie die DDR auch nach ihrer Gründung 1949 in Westdeutschland genannt wurde, ging im Falle der Künstler*innen mehrheitlich mit dem Wunsch einher, ihre Schaffenskraft in den Dienst des Kommunismus zu stellen. Bei vielen von ihnen herrschte Euphorie, war doch endlich der Augenblick gekommen, den Traum von einer neuen Gesellschaft in die Wirklichkeit umzusetzen. Das programmatische Statement in der oben bereits erwähnten Werbebroschüre, die Häuser seien eine „feste Grundlage für eine stürmische Entwicklung im Aufbau einer neuen […] Kultur“ (zit. n. Asmus/Asmus 2021, S. 208), war ernst gemeint. Evident wird dies auch an den wenigen heute noch vorhandenen Atelieraufnahmen (vgl. Abb. 2). Ersichtlich wird an diesen Atelierbildern allerdings auch, dass die Ästhetiken, die zum Aufbau des neuen Deutschlands eingesetzt wurden, genauso plural wie die Gestaltungsaufgaben und die Lebensläufe der Künstler*innen waren. Lingners Festdekorationen oder sein ikonisches Wandbild Aufbau der Republik, Cremers Opfer-des-Faschismus-Denkmäler in Wien und später für das KZ Buchenwald oder Hahnes jahrelang bearbeitetes und doch nie verwirklichtes Thälmann-Denkmal, dessen Überreste heute noch im Atelier stehen, machen diese Bandbreite deutlich. Unterschiedlichste Kunsttraditionen aus Frankreich, England, aber eben auch aus der Berliner Bildhauerschule trafen hier aufeinander. Einhalt bekam dieser Pluralismus allerdings durch den Formalismusstreit. Als staatlich initiierte Kampagne, in der es neben dem Einschwören der Künstler*innen auf den sozialistischen Realismus und vor allem um den Kampf gegen den westlichen Formalismus ging, nahm dieser zeitgleich mit baulicher Fertigstellung der Häuser Fahrt auf (vgl. Gillen 2009, S. 144–146). Ernüchtert sahen sich Lingner, Balden oder auch Cremer bald mit dem Vorwurf konfrontiert, zu kosmopolitisch zu sein. Balden wurde 1958 von seinem Posten an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee entlassen; Lingner zeigte sich gegenüber der Partei reumütig.21 Der Erhalt von Wohnprivilegien ging indirekt mit der Einforderung einer Vorbildfunktion einher; wer das nicht erfüllte, wurde sanktioniert.

21

Vgl. AdK, Max-Lingner-Archiv 45, undat. Manuskript von Lingner.

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Trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen war unter den Intelligenzler*innen eine hohe Organisierungsquote zu verzeichnen. Bereits vor ihrem Einzug in die Siedlungen waren die allermeisten von ihnen Mitglied in der SED, im Kulturbund und ab 1950 auch im Verband Bildender Künstler (VBK). Hinzu kam für einige die Mitgliedschaft in der Akademie der Künste in Ost-Berlin oder in der Akademie der Wissenschaften. Man lebte also nicht nur zusammen, sondern traf sich auch beruflich täglich: Ehmsen, Lingner und Cremer etwa in der Akademie der Künste, Balden, Wittkugel, Lingner und Hahne in der Kunsthochschule Weißensee und alle gemeinsam im VBK, in dem Mitglied sein musste, wer in der DDR als Künstler*in berufstätig sein wollte. Folglich bedeutete die Organisationsquote, dass man sich zusammen in der und für die DDR als Künstlerelite etablierte: Man stellte gemeinsam aus, schlug sich für Preise vor und saß in Jurys, in denen man sich wechselweise bewertete. Außerdem wurde die Künstlerschaft so zum ‚schaffenden‘ Träger und Garanten der Organisationsstrukturen, die sich durch einen hohen Grad an wechselseitiger Kontrolle und Disziplinierung auszeichneten.

SONDERTYPEN Vor diesem kulturpolitischen Hintergrund figurieren die Häuser als mehrschichtiges Bild: Architektonische Typisierung und gesellschaftliche Normierung trafen im Wohnen auf eine pluralistische Elite. Wie sehr sich die künstlerische Intelligenz ihrer Besonderheit bewusst war, zeigt sich daran, dass für viele die von Hopp vorgelegten Haustypen nicht ‚ausreichten‘ und in der Folge ‚Sondertypen‘ entstanden. Ehmsen, Lingner oder Cremer etwa ließen ihre IN-Häuser durch großzügige Atelieranbauten erweitern; andere, wie der Schriftsteller Kurt Barthel oder Ruthild Hahne, ließen sich sogar typenunabhängige, auf individuellen Entwürfen basierende Häuser von eigens bestellten Architektenbüros bauen. Diese Möglichkeit blieb allerdings nur wenigen vorbehalten, da die Kostendeckelung von 40.000 DM vorgegeben war und es letztlich zu Hopps Vorstellungen gehörte, die Typensiedlungen lediglich durch wenige „Solitäre“ aufzulockern (Wiesemann 2000, S. 153). Wie weit gebaute Realität und Wohnwünsche zum Teil auseinanderlagen, zeigt sich beispielhaft an einer Skizze, die Max Lingner um 1949 anfertigte (Abb. 4). Seine Vorstellungen eines Atelierwohnhauses waren

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4  Max Lingner, Skizze Atelier- und Wohnhaus, um 1949

deutlich von der vom Bauhaus und Le Corbusier geprägten internationalen Architekturmoderne der 1920er Jahre inspiriert und hatten – so zeigt der Vergleich mit dem realen Lingner-Haus – wenig mit Hopps rechteckigen Baukörpern zu tun (Abb. 1). Die Gründe, warum Lingner seine Hausvision nicht realisieren konnte, ergeben sich aus den kalkulierten Kosten und dem Entwurf. Seit 1949 dominierte die Formalismusdebatte das Kulturleben der DDR; der Kalte Krieg und die Abgrenzung zum imperialistischen Nachbarn hinter der Zonengrenze erreichte spätestens 1950 mit den „16 Grundsätzen des Städtebaus“ (vgl. Scheffler 2019, S. 38) auch das Wohnen. Obwohl sich in der DDR führende Bauhausschüler*innen wie Selman Selmanagić für den (Wieder-)Aufbau des neuen Staates einsetzten, wurde der sogenannte Bauhaus-Stil vor diesem Hintergrund zum imperialistisch-dekadenten Ausdruck von „Primitivität und Unmenschlichkeit“ (Walter Ulbricht) – zumal sich die „luftig-leichte

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Nachkriegsmoderne“, wie Tanja Scheffler betont, in der Bundesrepublik als „Gegenfolie“ zu den Bauten des Nationalsozialismus etabliert hatte (ebd., S. 39). Im Falle von Lingners Atelierhausskizze kam hinzu, dass sein Entwurf einen umbauten Raum von 950 m³ auswies und damit weitaus höher angesetzt war als Hopps 600 m³ umfassende Typen. Dennoch zog mit Lingner Anfang 1951 die Moderne ins Haus ein (Abb. 5). Wie der Designhistoriker Walter Scheiffele konstatiert, stammte das heute noch erhaltene Mobiliar von der holländischen Gestalterin Ida Liefrinck alias Liv Falkenberg (Scheiffele 2019, S. 234–239). Vor dem Krieg unter anderem in den Deutschen Werkstätten Hellerau ausgebildet und beruflich bestens vernetzt mit J. P. Oud, Mart Stam oder den Bauhäuslern Franz Ehrlich und Selman Selmanagić, gehörte sie nach dem Krieg zu den Designer*innen, die die moderne Möbeltradition (zurück) in die SBZ/DDR brachten. Zugleich war Falkenberg, wie auch Hanns Hopp, persönlich eng mit dem Aufbau der DDR verbunden – nicht nur, weil sie ab 1947 Möbelentwürfe für führende staatliche Bauaufgaben wie die Einrichtung der Parteihochschule ‚Karl Marx‘ in Kleinmachnow oder die Verwaltungsakademie ‚Walter Ulbricht‘ in Forst Zinna lieferte, die dann in den Deutschen Werkstätten Hellerau produziert wurden, sondern auch weil sie mit dem Ingenieur und Politiker Otto Falkenberg verheiratet war. Dieser zeichnete sich zunächst in Sachsen für die Neuordnung der Betriebe verantwortlich, fungierte ab 1948 als Wirtschaftsminister in Brandenburg und ab 1950 als diplomatischer Vertreter der DDR in Prag (Kühnel 2006, S. 115–130). Warum sich Lingner für Falkenbergs Mobiliar entschied, ist unklar. Möglich ist, dass beide, da sie in den gleichen kulturpolitischen Kreisen verkehrten, sich auch persönlich begegnet sind, zumal beide Ulbricht und Grotewohl kannten. Vielleicht hatte Lingner auch von Falkenbergs Privataufträgen gehört: 1948 richtete sie z. B. das Haus des Schriftstellers Friedrich Wolf in Lehnitz bei Oranienburg ein (Scheiffele 2019, S. 73). Denkbar wäre aber auch, dass Lingner vom Förderausschuss einfach Bezugsscheine für Mobiliar erhalten hatte und sich aus dem Möbelsortiment der Deutschen Werkstätten Hellerau Falkenbergs Entwürfe herausgesucht hatte; im Sächsischen Hauptstaatsarchiv sind zahlreiche solcher Bezugsgenehmigungen und Auftragserteilungen an die Werkstätten erhalten, die eine solche Vermutung stützen könnten.22 Zugleich unterhiel-

22 Vgl. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SächsStA-D), 1176, Fa. Deutsche Werkstätten Hellerau, Nr. 3080.

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5  Max Lingner und seine Frau Erika in ihrem Berliner Heim, mit Möbeln von Liv Falkenberg

ten der VEB Deutsche Werkstätten am Ost-Berliner Spittelmarkt einen ‚Industrieladen‘, den Lingner vermutlich kannte. Wie und warum auch immer die Möbel ins Haus kamen, sie fungieren bis heute als Kristallisationspunkte. Nicht nur weil sie gute Sitzgelegenheiten sind, sondern weil sie – gemeinsam mit Hopps Typenentwurf und Lingners künstlerischer Produktion – ein politisch-kulturelles und damit domestisches Bild der Zeit liefern. Zum einen unterstreichen sie erneut, wie kulturell vielfältig die frühe DDR in der Phase der „Elitenrekrutierung“ (Wiesemann 2000, S. 9) und vor dem „Kampf gegen den Formalismus“ (Lauter 1951) war; zum anderen wird an der Trias aus Intelligenzhaus, Bewohnerschaft und Einrichtung deutlich, dass das Künstlerwohnen – jenseits aller kalkulierten politischen Privilegierung bzw. der aktiven Nutzung dieser Privilegien

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durch die Intelligenz – nicht ohne die Berücksichtigung von persönlichen Wünschen und vor allem architektonischen, designtechnischen, künstlerischen und biografischen Vorerfahrungen gedacht werden kann. Das Bauhaus und die Architekturmoderne der Zwischenkriegszeit, Hopps Erfahrungen im Einfamilienhausbau bis 1939 oder Lingners langjährige Arbeit in Frankreich verweben sich in seinem Haus beispielhaft zu einer komplexen Struktur.

DENKMAL IM WOHNGEBIET Möchte man abschließend die Diskussion der Eigenheime für die schaffende Intelligenz, die auch als „Vorratsbauten“, d. h. ohne schon konkret gewählte*n Erstmieter*in errichtet wurden,23 noch einmal im Hinblick auf das Konzept des Künstlerhauses betrachten, so bleibt Folgendes festzuhalten: Da die SED-Führung die Verstaatlichung aller Lebensbereiche und damit die politische ‚Domestizierung‘ der Bevölkerung anstrebte, sind Künstlerhäuser in Ostdeutschland zwischen 1945 und 1989 nicht ohne die politischen Rahmenbedingungen zu denken. Nur so lässt sich die Verbindungslinie zwischen programmatischem Ideal und realer Umsetzung verstehen und der Ort bemessen, an dem die Künstlerschaft im Klassensystem der DDR platziert wurde bzw. an dem sie sich selbst verortete. Im vorliegenden Fall der Eigenheime zeigt sich, wie sich Förderpolitik, Stadtplanung, Architektur, volkseigene Bau- und Einrichtungsbranche und Bewohnerschaft in der Bauaufgabe der Intelligenzheime gegenseitig bedingten. Als Führungselite, Kader und gemeinsam verortet in der heterogenen Gruppe der Intelligenz gelang es Auftraggeber*innen, Produzent*innen und Nutzer*innen politische Strukturen zu schaffen, die im Hausbau materialisiert, im Wohnen ausdifferenziert und durch das gemeinsame Leben und Arbeiten verstetigt wurden. Dass in der Realität eine ausgesuchte Gruppe von Intelligenzler*innen wohnpolitisch privilegiert wurde, schien der sozialistischen Programmatik – zumal vor dem Hintergrund des Kalten Krieges – nicht entgegenzustehen. Dass Künstler*innen, die – anders als etwa Ruthild Hahne – mit ihrer Arbeit

23 Vgl. AdK, Heinrich-Drake-Archiv 301, Brief vom Förderungsausschuss für die Deutsche Intelligenz an Drake, 9.12.1951.

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nicht den Idealen des sozialistischen Realismus entsprachen, Maßregelung erfuhren, wurde mitgetragen, auch wenn sich einige, wie etwa Theo Balden, zumindest zeitweise ins Private zurückzogen. Wandert man heute durch die Beatrice-Zweig-Straße oder den Fritz-Erpenbeck-Ring, um durch die Zäune und zum Teil hohen Hecken zu lugen, so ergibt sich in der Betrachtung der IN-Häuser aber noch etwas ganz anderes: Die Besucher*innen treffen, wie bei allen anderen Künstlerhäusern in Westeuropa und den USA auch, auf Häuser ‚eigener Art‘: Lässt man sich auf den Ort und seine politische Indienstnahme ein, dann werden die Intelligenzsiedlungen zu Diskursschauplätzen, in denen es zum Nachdenken über vergangene Künstlerexistenzen, Kunstproduktion, Räumlichkeit und Rezeption kommt (vgl. Autsch 2005). Gelistet im Berliner Denkmalkatalog, sind es zwar heute nicht mehr Jugendweihegruppen oder Brigaden der sozialistischen Arbeit, die das Wohngebiet besuchen, doch nach wie vor kommen Interessierte aus aller Welt, um etwas über die Bewohnerschaft zu lernen und etwas von der Atmosphäre der Häuser bzw. der Siedlungen zu spüren.24 Und da am Tag des offenen Denkmals nach wie vor das Atelier von Ruthild Hahne Zutritt gewährt und die seit 2007 vor Ort ansässige Max-Lingner-Stiftung über die Häuser, die Lage, Lingner und die DDR informiert, bieten die Erich-Weinert- und Erpenbeck-Siedlung fortwährend die Möglichkeit, ‚Verständigungsarbeit‘ zu leisten.

24 Die Zitate stammen aus einem Brief, den Erika Lingner am 26.2.1988 an Kurt Hager, Mitglied des Zentralkomitees der SED, sendete, BArch, DY30/27501. In dem Brief geht es um Möglichkeiten der zukünftigen Nutzung des Lingner-Hauses als Gedächtnisstätte für den Künstler. Mein Dank geht an die Max-Lingner-Stiftung und insbesondere an Martin Groh.

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Literatur

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lenkung in der DDR, Göttingen: V&R Unipress 2011. Griesebach 2016 Griesebach, Lucius: Das Gehäuse, in: Roland Krischke (Hg.): Altenbourg in Altenburg. Die Stiftung Gerhard Altenbourg, Altenburg: Lindenau Museum 2016. Hochschule Ost 1995 Hochschule Ost. Politisch-akademisches Journal aus Ostdeutschland, Nr. 3, Jg. 4, 1995: Sozialistische Intelligenz. Köpping/Semrau 2013 Köpping, Katharina; Jens Semrau: Max Lingners Berliner Jahre 1949–1959. Eine Chronik, in: Thomas Flierl (Hg.): Max Lingner. Das Spätwerk, 1949–1959, MaxLingner-Stiftung, Berlin: Lukas Verlag 2013, S. 16–41. Kühnel 2006 Kühnel, Klaus: Der Mensch ist ein sehr seltsames Möbelstück. Biographie der Innenarchitektin Liv Falkenberg-Liefrinck, Berlin: trafo 2006. Lang 1967 Lang, Lothar (Hg.): Die Handzeichnung, Ausst.-Kat., Kunstkabinett für Lehrerweiterbildung Berlin-Pankow, 14.1.– 25.2.1967, Berlin: Kunstkabinett 1967. Lauter 1951 Lauter, Hans: Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur, Referat, Diskussion u. Entschließung von d. 5. Tagung d. Zentralkomitees d. Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vom 15.–17.3.1951, Berlin: Dietz Verlag 1951. Lüdecke 1948 Lüdecke, Edith: Wie leben die Berliner Künstler?, in: bildende Kunst, Nr. 5, 1948, S. 18–22. Plachta 2014 Plachta, Bodo: Künstlerhäuser. Ateliers und Lebensräume berühmter Maler und Bildhauer, Stuttgart: Reclam 2014. Rehberg/Kaiser 2013 Rehberg, Karl-Siegbert; Paul Kaiser (Hg.): Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch. Die Debatten um die Kunst aus der DDR im Prozess der deutschen Wiedervereini-

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gung, Berlin/Kassel: R & S Siebenhaar Verlag 2013. Sachse 2020 Sachse, Alexander: Provenienz „Republikflucht“. Kritische Sammlungszugänge zwischen 1949 und 1989, in: Museumskunde, H. 2, Bd. 85, 2020, S. 60–63. Scheffler 2019 Scheffler, Tanja: Auf der Suche nach einer ‚sozialistischen Wohnkultur‘. Möbelgestaltung in der SBZ und frühen DDR, in: Florentine Nadolni (Hg.): Alltag formen! Bauhaus-Moderne in der DDR, Ausst.-Kat., Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR Eisenhüttenstadt, 9.4.2019–5.1.2020, Weimar: M BOOKS 2019, S. 26–48. Scheiffele 2019 Scheiffele, Walter: Ostmoderne – Westmoderne. Mart Stam, Selman Selmanagić, Liv Falkenberg, Hans Gugelot, Herbert Hirche, Franz Ehrlich, Rudolf Horn, Leipzig: Spector Books 2019. Sonntag 1955 O. A.: Probleme des künstlerischen Schaffens. Atelierbesuche in Berlin und Dresden (Rudolf Bergander, Heinrich Drake, Hans Grundig, Waldemar Grzimek, Ernst Hassebrauk, Bert Heller, Werner Klemke, Bernhard Kretzschmar und Otto Nagel), in: Sonntag, 30.1.1955, S. 3 und 6. Wiesemann 2000 Wiesemann, Gabriele: Hanns Hopp, 1890–1971. Königsberg, Dresden, Halle, Ost-Berlin. Eine biographische Studie zur modernen Architektur, Schwerin: Thomas Helms Verlag 2000. Wolle 2013 Wolle, Stefan: Der große Plan. Alltag und Herrschaft in der DDR 1949–1961, Sonderdruck für die Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt, Berlin: Ch. Links Verlag 2013.

Bildnachweise

Abb. 1: Foto: Alexia Pooth, 2020. Abb. 2: Foto: Alexia Pooth, 2020, mit freundlicher Genehmigung der Familie. Abb. 3: BArch Bild 183-10983-0003, Foto: Heinz Junge, 13.6.1951. Abb. 4: © Max-Lingner-Stiftung Berlin. Abb. 5: BArch Bild 183-16385-0003, Foto: Eva Kemlein, 19.9.1952, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023.

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A vast number of post-postmodern cabinet walls and patterned surfaces overlay the modern white cube in Henrike Naumann’s exhibition 2000. Mensch. Natur. Twipsy., which was installed at the Kunstverein Hannover in 2019. This field of tension between living room and art space is explored in three steps. First, a historical excursus recalls the removal of furniture from the emerging white cube in the 1920s. This is followed by an examination of a room in Naumann’s exhibition. Against this background, some critical reflections are formulated on Jacques Rancière’s influential theory of an enduring aesthetic regime of modernity – and its inextricable links between the design of everyday surroundings and art spaces.

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BURKHARD MELTZER POST-POSTMODERNES SCHAUDERN. EINRICHTUNGEN VON HENRIKE NAUMANN ZWISCHEN INTERIEUR UND WHITE CUBE Schrankwände, Spiegel und Couchtische. Was zuerst auffällt, ist die opulente Vielfalt von Formen, Oberflächen und Mustern, die Böden und Wände überzieht. So ragt ein schwarz-rot-gelb gemusterter Teppich an weißen Wänden empor, ein Tapetenmuster mit silbern geprägten Quasi-Signaturen setzt sich scheinbar in Wellen-Wandhaken oder Wolken-Spiegeln fort. Auch ein Publikum, das die 1990er Jahre nicht selbst erlebt hat, dürfte hier kaum an der historischen Einordnung zweifeln: Es handelt sich ausschließlich um Interieur-Relikte aus jener Zeit. Wie Henrike Naumann den Kunstverein Hannover im Rahmen der Ausstellung 2000. Mensch. Natur. Twipsy. (2019) eingerichtet hat, erinnert teilweise an Ausstellungsflächen damaliger Möbelgeschäfte. Allerdings wird diese Kontinuität immer wieder durch eingebettete Videoarbeiten, Leihgaben aus dem örtlichen Museum der Expo 2000 (Exposeeum) oder überzeichnende skulpturale Gesten unterbrochen. Wobei die vorhandenen Artefakte wohl kaum überzeichnet werden können – sie sind es bereits. Jene visuelle Provokation, die sich nach dem Eindruck eines Rezensenten in „schmerzlich hässlich und sentimental wirkenden Designsünden“ zeigt (Briegleb 2019), ist immer wieder auf ihre Zugehörigkeit zur materiellen Kultur einer Post-Postmoderne zurückgeführt worden. Das, was in gesamtdeutschen Möbelhäusern der 1990er Jahre zur Ausstellung kam – und danach in zahllose Haushalte sowie über Ebay-Kleinanzeigen oder

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Gebrauchtwarenläden in Naumanns Ausstellungen gelangt ist –, kann zwar kaum als programmatische Postmoderne1 gelten. Dennoch scheinen sich die auftürmenden „Designsünden“ noch immer gegen moderne Rationalitätsgebote zu wehren und haben offensichtlich nichts an provokativem Potenzial eingebüßt. Dies könnte auch mit dem Charakter der Kunstvereinsräume zusammenhängen, die nach wie vor dem modernen Standard des White Cube verpflichtet sind. Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die sorgfältig geweißte Leere sich ihren Platz in Naumanns Ausstellung mit Wohn- und Schlafzimmermöbeln teilen muss. Mit dieser provozierenden Konstellation wird Einrichten in zweifacher Hinsicht adressiert: Zum einen geht es hier durchaus um Elemente einer alltäglichen Lebensumgebung, die aus Wohnräumen bekannt sind. Zum anderen suchen die Installationen einen Umgang mit dem seit der Moderne möglichst von allen Interieur-Elementen befreiten White Cube. Anders gesagt: Es geht in diesen Einrichtungen der zeitgenössischen Kunst um Einräumen und Ausräumen zugleich. Diese Ambivalenz betrifft jedoch nicht nur zwei gegenläufige Handlungen, sondern auch zwei Perspektiven auf das Einrichten, die mit der Etablierung des White Cube zumindest rhetorisch einmal strikt voneinander abgegrenzt wurden: das Alltagsleben und eine davon geschiedene Sphäre der Kunst. In Naumanns Installationen wird jene Trennung keineswegs aufgehoben (der White Cube des Kunstvereins ist neben den Interieur-Elementen immer noch sichtbar), wohl aber einer Kritik ausgesetzt, in der beide Sphären miteinander verwoben sind. Die Interieurs einer verspäteten Postmoderne verschärfen diese Ambivalenz und damit auch den Tonfall möglicher Kritik. Denn der White Cube ist seit der Postmoderne nicht nur durch die massenhafte Verbreitung anti-rationalistischer Möbel im Alltagsleben des Publikums unter Druck geraten, sondern auch durch künstlerische Interventionen mithilfe des Designs (Meltzer 2020, S. 119–160). Darüber hinaus tragen die Ausstattungsdetails von Kommoden oder Schrankwänden im Kunstverein Hannover nicht zur Entspannung der Lage bei. Und in verschiedenen Videos werden gleichsam die politischen Antipoden zu postmoderner Pluralität vorgeführt – natürlich auf zeittypischen

1 Zu einer programmatischen Postmoderne, die sich vor allem gegen eindimensionale Rationalität sowie Funktionalität wendete, zählen etwa das italienische Radical Design (vgl. Sparke 1989) oder das Neue Deutsche Design (vgl. Albus/Borngräber 1993).

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Röhrenmonitoren. Die kritische Ambivalenz des Einrichtens zielt hier keineswegs nur auf bestimmte Ausstellungskonventionen, sondern auch darauf, wie man sich in einem Alltagsleben einrichtet. Ob nun Reichsbürger Manifeste verlesen oder jugendliche Neonazis Übergriffe proben – das Überdauern eines modernen Reinheitsdenkens wird hier ebenso spürbar wie durch die räumliche Rahmung des modernen White Cube. Was sich in modernen Tendenzen des Ausräumens, der Ablehnung jeder Abweichung sowie der strikten Trennungen auf gestalterischer Ebene gezeigt hat, zeitigte parallel in politischen Bewegungen der Moderne – namentlich im Nationalismus und Nationalsozialismus – eine mörderische Konsequenz. Letztlich begegnet man in jener von Helligkeit, Ordnung und Reinheit durchdrungenen Atmosphäre modernistischer Räume zugleich einer kulturellen Bedingung für die Katastrophe des Holocausts (Bauman 2012, S. 46ff.). Der folgende Text erkundet das gesellschaftlich-ästhetische Spannungsfeld zwischen Wohnraum und Kunstraum in drei Schritten: Zunächst soll ein historischer Exkurs an die Entfernung von Mobiliar aus dem sich etablierenden White Cube erinnern, bevor ich mich mit einem Raum (von insgesamt sieben) in Henrike Naumanns oben genannter Ausstellung genauer auseinandersetzen möchte. Vor diesem Hintergrund werde ich abschließend einige kritische Überlegungen zu Jacques Rancières einflussreicher Theorie eines andauernden ästhetischen Regimes der Moderne formulieren, die unaufhebbare Verbindungen zwischen der Gestaltung von Alltags- und Kunsträumen beobachtet hat. Was Naumanns Werkgruppe 2000 betrifft, auf die sich meine Auseinandersetzung hier konzentriert, so fokussiere ich damit vor allem auf einen Schauplatz: die Überlagerungen von Moderne und Postmoderne während der 1990er Jahre in Ostdeutschland2 – auf weitere Räume und Themen der Ausstellung kann ich an dieser Stelle nur verweisen, da deren ausführliche Besprechung den gegebenen Rahmen sprengen würde.

2 Meine Recherche dazu basiert auf einschlägigem Dokumentationsmaterial, Publikationen und Rezensionen zur Ausstellung. Darüber hinaus gewinnt man durch Filmaufnahmen auf Naumanns Website einen guten räumlichen Eindruck der Werkgruppe 2000, hier ausgestellt vom 11.3. bis zum 10.6.2018 im Museum Abteiberg Mönchengladbach; siehe den virtuellen Rundgang durch die Ausstellung auf Naumanns Website, henrikenaumann.com/02zweitausend. html (21.10.2021).

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AUSRÄUMEN. ZUR ETABLIERUNG DES WHITE CUBE IN DEN 1920ER JAHREN Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschwinden ausladende Polstermöbel oder ornamentale Wandtapeten aus den Museen. So wie sich der Ausstellungsraum zunehmend selbst als weiße Zelle ausstellt, wandelt sich zugleich auch das Ideal des Einrichtens in privaten Interieurs. In der modernistischen Ratgeberliteratur der 1920er Jahre von Bruno Taut (2001 [1924]) über Sigfried Giedion (1929) bis zu Hans Eckstein (1931) ist vielfach von einer Befreiung des Raumes die Rede. Abbildungen modernistisch eingerichteter Wohnungen liefern darin nicht nur modellhafte Prototypen, wie ein modernes Leben eingerichtet werden soll, sondern ähneln auch dem neuen, ausgeräumten Typ des Ausstellungsraums. Dabei klingt nicht zuletzt das gesellschaftspolitische Ziel an, eine neue Umgebung zu schaffen, die der modernen Lebensweise entspricht. Mit dem Blick auf das Zweckmäßige, Leichte und Durchlässige soll einer beschleunigten Dynamik moderner Lebensweisen Rechnung getragen werden. Damit ist vor allem eine Befreiung von allem gemeint, was nicht ständig genutzt wird – auch Wohnungseinrichtungen sollen nun möglichst einem industriellen Effizienzgebot genügen. Vieles wird mobil, Konstruktionen erscheinen transparent oder verschmelzen in Einbauschränken gleichsam mit den angrenzenden weißen Wänden. Jacques Rancières Konzept einer Aufteilung des Sinnlichen, wo Kunst – so autonom sie auch verstanden werden mag – grundsätzlich einen gemeinsamen Raum mit einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung teilt, hat besonders die gleichzeitigen modernen Tendenzen zur Abgrenzung von und Bezogenheit auf eine Alltagsumgebung thematisiert. Das Ausräumen von Ausstellungsinstitutionen und die parallel entwickelten reduzierten Formensprachen für Wohnungseinrichtungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts lassen sich insofern auch „als Idee eines […] ,Mobiliars‘ der neuen Gemeinschaft“ verstehen (Rancière 2008, S. 29). Auf die programmatische Relevanz des modernen Designs sowie die zunehmende Konkurrenz durch Massenmedien antworten Ausstellungsinstitutionen in der Weimarer Republik auf unterschiedliche Weise: einerseits durch das Bestreben, Kunstwerke möglichst aus einem Zusammenhang zu lösen und auf diese Weise eine Erfahrung ihres autonomen Charakters zu ermöglichen, andererseits durch die Annäherung an die neuesten Raum- und Displaykonzepte für den modernen Lebensalltag.

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Ein Publikum mit attraktiven räumlichen Angeboten zu gewinnen, wird für Kuratoren wie Ludwig Justi zum entscheidenden Argument für eine radikale Umgestaltung von Ausstellungsräumen. Auf dem Weg vom möblierten Ausstellungssalon des 19. Jahrhunderts zum White Cube des 20. Jahrhunderts orientieren sich museale Einrichtungskonzepte ab den 1920er Jahren auch am Neuen Bauen bzw. der veränderten Einrichtung modernistischer Wohnräume.3 1928 lässt Justi die Wände im Obergeschoss der Neuen Abteilung der Berliner Nationalgalerie im ehemaligen Kronprinzenpalais strahlend weiß streichen (Klonk 2009, S. 99f.), wodurch ein auffallender Kontrast zu den ersten beiden Geschossen des Palais entsteht, die 1919 als zusätzliche Ausstellungsflächen der Nationalgalerie eröffnet worden waren. Dort ist durch prächtige Kamine, Stuckaturen und reich dekorierte Stofftapeten noch die repräsentative aristokratische Atmosphäre der vormaligen Bewohner zu spüren – auch wenn Justi einen Großteil der Möbel im Laufe der Jahre entfernen lässt (Joachimides 2001, S. 208). Dagegen wird in den beiden geweißten Räumen Malerei von Max Beckmann und Lyonel Feininger völlig schmucklos und gänzlich ohne Mobiliar präsentiert. Dies laut Justi einerseits mit dem Ziel, dem „neu-sachlichen“ Charakter der ausgestellten Werke einen entsprechenden Rahmen zu geben (Justi zit. n. ebd.), und andererseits, um den modernistischen Interieurs seiner Zeit zu entsprechen (Klonk 2009, S. 100). Auch international geht die Verbreitung des Neuen Bauens ab den 1920er Jahren mit einer bis heute andauernden Popularisierung des White Cube einher. 1929 öffnet das Museum of Modern Art in New York als weltweit erstes Museum seine Türen, das für alle Abteilungen auf den White Cube als Ausstellungsprinzip vertraut und darüber hinaus von Beginn an über eine auf Design spezialisierte Abteilung verfügt.4

3 Eine Entwicklung, die Charlotte Klonk unter anderem parallel zu Interieurs von Marcel Breuer beschrieben hat. Diese Verbindungen lassen sich auch durch persönliche Beziehungen in Justis Umfeld nachvollziehen: So ließ Eduard von der Heydt, der zum Gönnerkreis der Neuen Abteilung der Berliner Nationalgalerie im Kronprinzenpalais gehörte, 1929 von Breuer das Interieur seines Berliner Domizils gestalten (Klonk 2009, S. 103ff.). 4 Gründungsdirektor Alfred J. Barr hatte im Vorfeld bei Reisen nach Deutschland unter anderem das Bauhaus in Dessau ebenso wie Justis Umgestaltung des Berliner Kronprinzenpalais besucht und zeigte sich dabei ausdrücklich an den Verbindungen zwischen Kunst- und Wohnraumgestaltung interessiert (ebd., S. 135).

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Im Rückblick zeigt sich: Das modernistische Ausräumen birgt ein doppeltes Versprechen. Einerseits werden Spuren des Alltags – etwa in Gestalt gepolsterter Fauteuils – aus institutionellen Räumen des Ausstellens getilgt, andererseits wirken moderne Wohnungseinrichtungen immer mehr wie Ausstellungsräume. Wenn nun in begleitenden Programmen des Modernismus vielfach von Befreiung gesprochen wird, ist dies mehr oder weniger explizit mit gesellschaftlichen Hoffnungen auf ein neues Menschenbild verbunden. Mit der geweißten Zelle daheim oder im Museum präsentiert man gewissermaßen auch den fortschrittlichen, reinigenden, transparenten Charakter einer politischen Gesinnung. So versprechen Taut und Giedion eine Befreiung vom aufwendigen und letztlich versklavenden Unterhalt (Taut 2001, S. 95; Giedion 1929, S. 5) sowie von den „dicken Mauern“ der nach außen abgeschirmten Behausungen. Stattdessen soll das „geöffnete Haus“ der Moderne zulassen, dass die „Dinge [sich] durchdringen“ (Giedion 1929, S. 7). Aus ökonomischen und ästhetischen Gründen wird dabei für Reduktion und weiße Wände plädiert; zugleich setzt man in transparenten Konstruktionen, mobilen Elementen sowie der Materialwahl auch verstärkt auf Beziehungen zu anderen Räumen. Selbst im Modernismus sind Interieur und Ausstellungsraum keineswegs so kategorisch voneinander geschieden, wie es die spätere Etablierung des White Cube nahegelegt haben mag (vgl. O’Doherty 1996, S. 24ff.). Vielmehr bleiben beide Sphären trotz rhetorischer Abgrenzung eng miteinander verbunden. Die Freiheit der Kunst ist insofern verknüpft mit der Freiheit, sich ein (anderes) Leben einzurichten. Allerdings galt die Befreiung im Namen einer effizient organisierten und fortschrittlichen Moderne nicht für alle Menschen gleichermaßen: So werden Frauen etwa bei Giedion und Taut nicht als eigenständige Protagonistinnen, sondern nur als einer Behausung zugeordnete und davon abhängige Wesen erwähnt, die erst durch die Interventionen der Architekten befreit werden können. Darüber hinaus bekommen die weißen Wände mit ihrer bemerkenswerten Verbreitung während des Nationalsozialismus, wo man trotz Ablehnung der künstlerischen Modernebewegungen deren reinigenden und standardisierenden Charakter schätzt (Klonk 2009, S. 125), eine ethisch äußerst fragwürdige Grundierung. Ebenso wenig wie der White Cube als politisch neutral gelten kann, so wenig lässt er sich von den gestalteten Interieurs seiner Entstehungszeit trennen.

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EINRÄUMEN. BEZIEHUNGEN ZWISCHEN INTERIEUR UND WHITE CUBE BEI HENRIKE NAUMANN Allen diskursiven Abgrenzungsmanövern um den White Cube zum Trotz bleiben nicht nur die fortdauernden Beziehungen zwischen Kunstraum und Interieur spannend, sie weisen auch generell auf eine gewachsene Bedeutung des räumlichen Rahmens hin. So hat sich das Konzept eines künstlerisch umfassend gestalteten Raumes – oder in der heutigen Terminologie: der Installation – zum Standardformat zeitgenössischer Kunstpräsentationen entwickelt (vgl. Rebentisch 2013). Der White Cube als ein Format, das gleichsam den Raum selbst zur Ausstellung bringt, dürfte dies begünstigt haben. Zugleich ist das Interieur als Material und Thema künstlerischer Arbeiten während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Ausstellungsräume zurückgekehrt. In gesellschaftlicher Hinsicht war damit sowohl eine Kritik an der sozialen Rolle der Kunst wie auch an zeitgenössischen Formen des Einrichtens verbunden. So haben Tendenzen von Pop Art in den 1960er Jahren bis hin zu Institutioneller Kritik in den 1970er/1980er Jahren und Relationaler Ästhetik um 2000 durch Einrichtungs-Interventionen immer wieder kritische Fragen zu räumlichen Abgrenzungen, aber auch Bezugnahmen aufgeworfen. Interieur kommt dabei weniger als privater Raum zur Ausstellung, sondern vor allem als gesellschaftliche Vorstellung, sich ein Leben einzurichten. Umgekehrt erscheint der Ausstellungsraum nicht nur als öffentlicher Raum, sondern als Einflusssphäre unterschiedlicher – auch privater – Interessen und persönlicher Obsessionen. Zwischen institutionellem und alltäglichem Einrichten durchdringen Interieurs in der zeitgenössischen Kunst diese Grenzziehungen auf ambivalente Weise. Angesichts des großen medialen Interesses an Henrike Naumanns ausgestellten Möbel-Elementen scheint es, als habe das Interieur in der Gegenwartskunst weder an Beliebtheit noch an kritischem Potenzial verloren. In der Vielzahl der Stimmen fällt besonders das wiederholte Schaudern angesichts post-postmoderner Zumutungen auf, das von Monumentalität, Sentimentalität oder „humoristischen Unverwendbarkeiten“ (Stakemeier 2018, S. 215) ausgelöst wird. Darüber hinaus wird durch Naumanns Videoarbeiten, die auf diversen TV-Geräten laufen, eine untote deutsch-deutsche Moderne gleichsam wieder lebendig. Es öffnet sich ein Blick in zeitliche Untiefen, die sich in der Nachwendezeit der 1990er

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1  Henrike Naumann, 2000. Mensch. Natur. Twipsy., Installationsansicht 2019

Jahre überlagern. So beobachtet man etwa ein jugendliches Trio beim gemeinsamen Austesten von Grenzen – von Hass und Gewalt (Terror, Triangular Stories, 2012), aber auch durch Drogenkonsum und Partys (Amnesia, Triangular Stories, 2012). Jemand ist immer mit der Kamera dabei, wenn einer zusammengeschlagen wird oder Passanten angepöbelt werden, sich die beiden anderen gegenseitig anfeuern oder provozieren. Der Zeitstempel in den Videobildern zeigt „1992“ an, auch das Mobiliar scheint aus jener Zeit zu stammen. Im Plattenbau-Zimmer der Terror-Protagonistin begegnet man etwa einem bunt gemusterten Futon-Sofa, zahlreichen Kuscheltieren (u. a. einem rosaroten Panther) oder einem an das Empire State Building erinnernden CD-Regal. Vor Boygroup-Postern und der Reichskriegsflagge wird der Hitlergruß geübt. Die Konstellation erinnert nicht von ungefähr an jenes Trio des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), das sich zwischen Jena, Chemnitz und Zwickau in den 1990er Jahren als rechte Terrorgruppe radikalisierte – auch die

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Anrede „Uwe“ fällt gelegentlich.5 Ausgestattet mit einem verchromt glänzenden Baseballschläger, trainieren die drei in leeren Fabrikhallen und aufgegebenen Schulen, bedrohen jemanden im Vorbeigehen oder beginnen eine Schlägerei. Die pluralistische Popkultur des Einrichtens – zusammengesetzt aus billigem Glamour, Comic-Motiven und diversen postmodernen Zitaten – tritt hier begleitet von einer gewalttätigen modernen Reinheitsideologie auf, die sich auf den deutschen Nationalismus des 19. und den Nationalsozialismus des 20. Jahrhunderts beruft. Daran, dass die entsprechende Ikonografie nicht nur als besonders krasses modisches Element zum Einsatz kommt, erinnern sowohl die brutalen Attacken des jugendlichen Trios in Naumanns Terror als auch die Mordserie des NSU – deren Bekennervideos ebenfalls mit ihrer zynischen Überlagerung von Popkultur (Verwendung von Serien-Clips aus Der rosarote Panther) und Nazi-Propaganda schockierten. Terror und Amnesia, die beiden Videos über das jugendliche Trio, laufen im Kunstverein Hannover auf zwei baugleichen Fernsehmonitoren – einander zugewandt, als würden sie sich gegenseitig beobachten (Abb. 1). Beide sind in einer gewissen Distanz zueinander auf blattgemusterten Beistellkommoden platziert, die als Podeste für die Fernsehgeräte dienen. Deren Kunststoffgehäuse sind – ebenso wie die der Kommoden – auffällig abgerundet. Rückblickend scheint es, als habe das Design jener Dekade durch abgerundete Ecken, wellenförmige Diagonalen oder sorgfältig inszenierte Unregelmäßigkeiten versucht, beinahe jede orthogonale Form zu vermeiden. So begegnet man in unmittelbarer Nachbarschaft eines Monitors zwei von einem Couchtisch emporschlängelnden silber-blauen Lämpchen – eine als überdimensionale Glühbirne, die andere in Herzform –, während sich gegenüber eine Schlaf-Wohnkombination anschließt. Dort schlängeln sich ebenfalls wellenförmige Griffe wie auch ein entsprechend gestaltetes Spiegelelement an der holz- und anthrazitfarben laminierten Schrankwand empor. Das anti-orthogonale Programm findet seinen Höhepunkt in einem ikonoklastischen Anschlag auf die ostdeutsche Moderne gleich nebenan: Inmitten eines Wohnzimmer-Arrangements lässt sich auf einem digitalen Bilderrahmen die

5 Nationalsozialistischer Untergrund nannte sich eine rechtsterroristische Gruppe, die gegen Ende der 1990er Jahre um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Thüringen und Sachsen entstand und bis 2011 dort aktiv war.

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Sprengung eines Plattenbaukomplexes verfolgen (Hundertwasser, 2018). Während mehrere Hauseingänge ebenso seriell in sich zusammensacken, wie sie einst zusammengesetzt worden waren, kommentiert ein Nachrichtensprecher erleichtert: „Die Stadt befreit sich allmählich von der seelenlosen Fassade der DDR-Wohnblocks […]“. Befreiung meint hier offensichtlich nicht Befreiung zur Moderne, sondern von der Moderne. Auf eine Anfrage der Stadt Magdeburg zur Umgestaltung des im Video gezeigten Hochhauses hatte der Künstler Friedensreich Hundertwasser letztlich einen Abriss empfohlen, um dort frei von vorhandenen Strukturen den Gebäudekomplex Grüne Zitadelle (eröffnet 2005) zu entwerfen. In ähnlich ikonoklastischen Bildern von Hochhaus-Sprengungen wurde 1972 das Ende der Hochhaussiedlung in Pruitt-Igoe besiegelt – für Charles Jencks damals ein Anlass, die Kapitulation der Moderne und den definitiven Beginn der Postmoderne festzustellen (Jencks 1977, S. 9). Was einmal als Leuchtturmprojekt der Nachkriegsmoderne in St. Louis, Missouri, erbaut worden war, galt zu diesem Zeitpunkt schon als Problemquartier, das von grassierendem Leerstand sowie von sozialer und baulicher Vernachlässigung geprägt war. Doch die mediale Symbolik einstürzender Moderne-Bauten nutzten in der Nixon-Ära nicht nur Fürsprecher einer postmodernen Architektur wie Jencks, sondern auch neoliberale Stimmen als unüberbietbares visuelles Argument gegen Stadtplanung, Sozialwohnungen oder Gemeinschaftseinrichtungen (Harvey 1990). In den gerade der BRD beigetretenen neuen Bundesländern sanken während der 1990er Jahre die Einwohnerzahlen besonders in den Wohneinheiten der sozialistischen Moderne rapide – teilweise aufgrund signifikanter Abwanderungsbewegungen in den westlichen Teil Deutschlands,6 aber auch infolge neuer Möglichkeiten zum Erwerb von Einfamilienhäusern im suburbanen Umland. Neben zunehmender sozialer Segregation wurden teils gänzlich unbewohnte Straßenzüge zur Herausforderung für ostdeutsche Städte und Gemeinden. Darüber hinaus kam es häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen antifaschistischen Jugendgruppen und Neonazis, aber auch zu gezielten rechtsextremen Angriffen auf ausländische Anwohner – etwa mit Pogromen in den Plattenbausiedlungen von Hoyerswerda (1991) und Rostock (1992), die dort unter dem Beifall der örtlichen Bevölkerung verübt wurden.

6 Die Abwanderung Richtung Westen war bereits zu DDR-Zeiten ein großes Problem, verstärkte sich jedoch um 1989/90 massiv (Martens 2020).

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Abgesehen von Leerstand und Neonazi-Gewalt zog nun parallel das gestalterische Erbe der Postmoderne in die Plattenbauten der ehemaligen DDR ein. Jene Möbel, die in neu gegründeten Niederlassungen westdeutscher Einrichtungshäuser plötzlich in großen Mengen verfügbar waren, strahlten mit ihrem Variantenreichtum den heiteren Optimismus schier unbegrenzter Optionen, sich individuell einzurichten, aus. Damit formulierte das gegen die standardisierte Ästhetik der industriellen Moderne gerichtete Formenprogramm gewissermaßen einen neoliberalen Imperativ, nach dem man für die möglichst individuelle Einrichtung nicht nur selbst sorgen kann, sondern auch muss.7 Betont organische Wellenbewegungen sorgten zudem für eine diffus-natürliche Anmutung der Einrichtungsangebote. Eine Fotografie des zu Beginn der 1990er Jahre eröffneten Wiener Hundertwasser-Hauses – titelgebend in die Wohnsituation des Abriss-Videos (Hundertwasser, 2018) integriert – führt diese Tendenz mit ihrem kunstfellbesetzten Kunststoffrahmen auf ambivalente Weise fort. Mit seiner unregelmäßigen Kubatur, der reich verzierten Fassade sowie zahlreichen Türmchen und Balkönchen gilt der Bau auch als rückwärtsgewandtes Manifest gegen modernen Rationalismus und zugleich als öffentliches Zeichen von Hundertwassers Popularität – nicht zuletzt aufgrund eines äußerst erfolgreichen Vertriebs entsprechend dekorierter Papeterie-Artikel. Während derlei Organik an vielen Stellen einen Verniedlichungseffekt mit sich bringt, lässt sich in anderen Teilen des Interieur-Ensembles auch das Gegenteil beobachten. So sind Hundertwasser-Fotografie und Abriss-Video in eine Wohnsituation eingebettet, zu der auch eine grotesk vergrößerte Sessel-Hand8 sowie ein monumentales Uhren-Regal gehören (Abb. 2). Die überzeichnenden Maßstabsverzerrungen rufen Comic-artige Effekte hervor – unterstützt von zahlreichen tanzenden Figuren im Kleinformat, die den Ausstellungsparcours bevölkern und an beliebte Clipart-Illustrationselemente damaliger PC-Software erinnern. Ähnlich dynamisch bewegen sich auch silbern glänzende Fantasie-Signaturen über die Tapeten der in den White Cube temporär eingebauten Zwischenwände – ein tanzender Reigen handschriftlich

7 Andreas Reckwitz hat diese Aufforderung zu individueller Kreativität als „gesellschaftlichen Imperativ“ beschrieben (Reckwitz 2012, S. 181). 8 Die Sessel-Hand bezieht sich in leicht veränderter Form deutlich auf den postmodernen Designklassiker Joe, 1970 entworfen von Jonathan De Pas, Donato D’Urbino und Paolo Lomazzi für den italienischen Hersteller Poltronova, der das Möbel bis heute im Sortiment führt.

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anmutender Zeichen als Hintergrund der erwähnten Einrichtungsvorschläge. Einige ähneln Buchstaben, andere wirken eher unbestimmt und zugleich wie selbstbewusste Gesten eines individuellen Ausdrucks, den man als Tapete erwerben und beliebig zusammensetzen konnte. Im Gegensatz zu den massiven weißen Wänden des Oberlichtsaals erwecken die tapetentragenden Zwischenwände in ihrer schmalen Materialstärke einen geradezu fragilen Eindruck. Überdies ist deren freistehend-diagonale Lage inmitten des Raumes auf diskrete Stabilisierungen zur Decke hin angewiesen. Der vorhandene White Cube wird auf diese Weise in mehrere Sektoren unterteilt, in denen unterschiedliche Wohn- und Schlafinterieurs angedeutet, jedoch nie vollständig möbliert sind. Im Gegenteil: Schrankwände und Sideboards wirken – abgesehen von einzelnen Dekorationselementen – fast ausgeräumt. In einer lockeren Anordnung werden verschiedene Perspektiven quer durch den Raum gewährt, manchmal sind Möbel oder Accessoires auch singulär hervorgehoben.

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Während funktionale Zusammenhänge sowie einige sorgsam platzierte Dekorationsobjekte durchaus Ausstellungspraktiken von Möbelhäusern aufnehmen, weisen sowohl die extreme Preisspanne der präsentierten Interieurs zwischen anonymer Massenware und teuren Markenanbietern als auch das eigentümliche Verhältnis zwischen Ein- und Ausräumen eher in Richtung institutionskritischer Diskurse. Dabei kommen immer Konventionen des Ausstellens – ob nun von Waren- oder Kunstpräsentationen – zum Einsatz; nie wird dagegen ein tatsächliches Bewohnen oder eine alltägliche Nutzung inszeniert. Stattdessen wird etwa der Kontrast zwischen tapezierten, temporären Wandelementen und den perfekt geweißten Wänden des Oberlichtsaals betont, stellenweise sogar durch überlappende Ausläufer eines schwarz-rot-gelb gemusterten Spannteppichs. Die graue Auslegware überschreitet mit den einzelnen Farbbalken der Deutschlandflagge punktuell Grenzziehungen zwischen Interieur-Elementen und White Cube, Installation und Kunstvereinsarchitektur; entlang der Zwischenwände übernimmt ein schmaler Teppichstreifen dagegen die Funktion einer Scheuerleiste. Darüber hinaus deutet die unregelmäßig gezackte Form des Teppichbodens eine Kartografie an: Tatsächlich handelt es sich dabei um die Grenzen des wiedervereinigten Deutschlands, das entlang der beiden temporären Zwischenwände nun wieder in zwei Hälften geteilt wurde.9 Von welcher Seite her man sich auch nähert: Permanent überschneiden sich bei Naumann ästhetische, gesellschaftliche und zeitliche Codierungen. Den besonderen Blick auf gesellschaftliche Fragen des Ein- und Ausräumens teilt Naumanns Arbeit durchaus mit den oben bereits exemplarisch genannten Positionen von Pop Art, Institutioneller Kritik und Relationaler Ästhetik. Allerdings tendieren diese im Allgemeinen zur zeitlichen Parallelität mit ihrer Gegenwart – ob nun in Gestalt von Surrogaten sowie ikonischer Überzeichnung in der Pop Art, Aufklärung über gesellschaftliche Machtverhältnisse in institutionskritischen Praktiken oder der Verwirklichung bestimmter sozialer Orte in der Relationalen Ästhetik. Dagegen überlagern sich bei Naumann vor allem diverse Ungleichzeitigkeiten des Einrichtens, etwa moderne und postmoderne Formen, ein auf das Jahr 2000 gerichteter Futurismus der 1990er Jahre mit Fragmenten nationalsozialistischer Ideologie und nicht zuletzt der Blick darauf aus der zeitgenössischen Perspektive des Jahres 2019.

9 Naumanns Installation greift hier auf eine nicht realisierte Projektidee für die Ausstellungsgestaltung der Expo 2000 zurück.

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Jener provokative Charakter, den einige Stimmen dem postmodernen Mobiliar im Kunstverein Hannover zugeschrieben haben, wird nicht nur von einem bestimmten – und aus heutiger Sicht als geschmacklich fragwürdig beurteilten – Formenvokabular hervorgerufen. Vielmehr wiederholt sich jener verzögerte und auf verschiedene Weisen unzeitgemäße Einbruch der Postmoderne in das Gebiet der ehemaligen DDR zu Beginn der 1990er Jahre gleichsam an unzähligen Stellen der Installation, unter anderem durch die erwähnten raum-zeitlichen Überlagerungen. Es ist der zeitliche, ästhetische und gesellschaftliche Schockmoment nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks, der in dieser Gemengelage wieder zu erfahren ist – ein Schock des Unzeitgemäßen, von dem bis heute etwa als Nachholbedarf im Sinne eines Nachahmens und letztlich als andauernde Verspätung des Ostens zu hören ist (Krastev/Holmes 2019). Mit dem Beitritt der DDR zur BRD, der 1990 im Berliner Kronprinzenpalais durch die Unterzeichnung des Einigungsvertrags besiegelt wurde, fand zugleich auch ein Beitritt zur postmodernen Alltagskultur statt, die systembedingt in Jena, Chemnitz und Zwickau vor 1990 nur in Nischen existiert hatte. Ein Beitritt, der als historischer Nachrichten-Clip auch in Naumanns Video Das Reich (2017) auftaucht – gerahmt von einem monströsen Sideboard-Tor im prähistorischen Stein-Look.

POST-POSTMODERNE UNGLEICHZEITIGKEITEN. EINE NACHBEMERKUNG MIT JACQUES RANCIÈRE Im wiedervereinigten Deutschland treffen 1990 zwei völlig unterschiedliche Auffassungen aufeinander, wie sich Ästhetik und Gesellschaft zueinander verhalten. Man könnte in dieser Hinsicht von zwei Regimes sprechen: von einem modernen im Sinne eindimensionaler historischer Linearität sowie von einem, das auf postmoderner Pluralität beruht. Durch die Moderne ist nach Rancière jenes fortdauernde ästhetische Regime der Künste entstanden, das eine Aufhebung der Kunst weder im politischen Aktivismus noch in einer hermetischen Abgeschiedenheit zulässt. Auch wenn man Rancières Erinnerung an das unkündbare Wechselverhältnis von Kunst und Gesellschaft in geteilten Räumen als unverzichtbar beurteilen mag, erscheint – insbesondere vor dem Hintergrund von Naumanns Arbeit – sein eindimensionales Verständnis moderner Ästhetik ebenso wie seine Unterschätzung postmoderner Ästhetik als problematisch. Dass die beiden letztgenannten Sichtweisen in Kunstdiskursen noch immer häufig anzutreffen sind, haben

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nicht zuletzt die Reaktionen auf Naumanns Ausstellung im Kunstverein Hannover gezeigt: wenn etwa das moderne Erbe der DDR kaum Erwähnung findet oder postmodernes Design lediglich als ‚schmerzliche Designsünde‘ abqualifiziert wird. Im Gegensatz zu Rancières Verständnis eines modernen ästhetischen Regimes der Künste, das statt repräsentierender Festlegungen ein dynamisches Wechselverhältnis bevorzugt, tauchen bei Naumann unter anderem zwei Perioden einer deutschen Moderne auf, die im Interesse einer totalitären Agenda jeweils nur einen bestimmten Kanon repräsentierender Gestaltung duldeten: der Nationalsozialismus und die DDR. Auch wenn während dieser Zeiten durchaus widersprüchliche Formen nebeneinander existierten, war ein ästhetischer Kanon im Dienst der jeweiligen Teleologie offiziell festgelegt. Damit kommen auch die totalitären Kehrseiten jenes Strebens nach Gleichheit zum Vorschein, das Rancière als Kern des ästhetischen Regimes der Moderne formuliert hat. Es handelt sich dabei um eine Gleichheit, die in der totalitären Bevorzugung eines historischen Ziels anderes kategorisch ausschließt und damit letztlich Ungleichheiten schafft. Ausgeräumte White Cubes zeugen auch heute noch von jenem anderen Gesicht moderner ‚Befreiung‘. So bestimmend Rancière den Einfluss des ästhetischen Regimes der Moderne bis zur Gegenwart einschätzt, so wenig spielt Postmoderne als mögliche Zäsur für Beziehungen zwischen Ästhetik und Gesellschaft eine Rolle. Wenn überhaupt, so werden programmatische Positionen postmoderner Kunst im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit einer „simplen Teleologie“ der Moderne geschätzt – gewissermaßen als retrospektives Bewusstwerden der Moderne, als „verspätete Anerkennung einer grundlegenden Gegebenheit“ (Rancière 2008, S. 47). Ansonsten betrachtet Rancière postmoderne Tendenzen eher als Risiko, das Feld des Ästhetischen zugunsten von gesellschaftlicher Aufklärung oder eines Verschmelzens mit dem Alltäglichen völlig zu verlassen (Rancière 2007, S. 11). Jene universelle Gleichheit, auf die sich Rancière als andauernde Bedingung eines ästhetischen Regimes beruft,10 lässt sich in Naumanns

10 Rancières Festhalten am modernen Paradigma prinzipieller Gleichheit wurde bereits vielfach kritisiert (vgl. Kastner 2012, S. 72), aber auch immer wieder gegen Kritik verteidigt (vgl. Kleesattel 2016, S. 35–40). Ruth Sonderegger hat die Kontroverse um Rancières Gleichheitsparadigma für eine postkoloniale Dezentrierung des Kritik-Begriffs wieder aufgegriffen (vgl. Sonderegger 2019, S. 223).

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Post-postmodernes Schaudern

Installationen nur an einzelnen Stellen finden – und dort nicht ohne die Schaffung neuer Ungleichheit. Eine wuchernde Vielfalt post-postmoderner Schrankwände und gemusterter Oberflächen überlagern den rahmenden White Cube. Die verspätete, nachträgliche Postmoderne, wie sie in den 1990er Jahren in Filialen westdeutscher Möbelhäuser ausgestellt wurde, war auf dem Gebiet der ehemaligen DDR quasi über Nacht zum gesellschaftlich-ästhetischen Gebot geworden, das nicht zuletzt durch entsprechend gestaltete Angebote erlernt werden sollte. Insofern spielte jene nachträgliche Postmoderne, wie sie 1990 in den sogenannten neuen Bundesländern ankam, dort eine völlig andere Rolle als die postmoderne Alltagskultur des Westens zur selben Zeit. Doch geht es hier nicht nur um Nachträglichkeit im Osten. Immer wieder geraten – unter anderem in Das Reich (2017) – westliche Fragmente nationalistischer Phantasmen einer längst vergangen geglaubten deutschen Moderne in den Blick: etwa in Manifesten sogenannter Reichsbürger, der Symbolik des Berliner Kronprinzenpalais als medial vermittelter Ort des Einigungsvertrages oder in Bemerkungen führender Politiker, wie etwa Wolfgang Schäubles Kommentar über die Zumutung einer finalen Anerkennung der deutschen Ostgrenze zu Polen im Rahmen der Einheit.11 So finden sich in Naumanns Arbeit zusätzlich zu den genannten Überlagerungen weitere zeitliche Komplikationen in Gestalt unterschiedlicher Moderne- und PostmoderneAuffassungen, die sich nicht auf übliche historische Chronologien westlicher Provenienz festlegen lassen.12 Zwischen Videoclips und Teppichboden, Schrankwand und White Cube, Ein- und Ausräumen reißen nicht nur ästhetische und zeitliche Gräben auf; es geraten auch übliche Zuordnungen vermeintlich universeller Moderne- und Postmoderne-Konzeptionen ins Wanken. Dies wirft nicht zuletzt kritische Fragen an Kunstkritik und Ästhetik auf, die sich nach wie vor an einer westlich geprägten

11 „Wir mußten uns mit der Oder-Neiße-Grenze abfinden“ –, so Schäuble in einer Rede vor Vertriebenen-Verbänden am 9.7.1995, damals als Vorsitzender der Regierungsparteien CDU/CSU, zit. n. Die Welt 1995. 12 Damit möchte ich auch einen Widerspruch zur von Susanne Titz formulierten Position einlegen, in Naumanns Arbeit gehe es überhaupt nicht spezifisch um die Situation Ostdeutschlands (Titz 2019). Obwohl ich jenem Teil ihres Arguments uneingeschränkt zustimme, dass hier die gesamtdeutsche Postmoderne der 1990er Jahre (und auf diese Weise auch die entsprechende Alltagskultur des Westens) thematisiert wird, spielen die besonderen Umstände der 1990er Jahre im Osten durchaus eine Schlüsselrolle, was auf eindrückliche Weise etwa im Werkkomplex 2000 zu beobachten ist.

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Teleologie von Moderne und Postmoderne orientieren. Vielleicht kann das zu Beginn erwähnte Schaudern angesichts post-postmoderner Zumutungen auch als Symptom zeitlich-räumlicher Komplikationen verstanden werden – hervorgerufen von diversen simultanen Bewegungen moderner Gleichheit und postmoderner Pluralität zwischen Interieur und White Cube.

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Post-postmodernes Schaudern

Literatur

Albus/Borngräber 1993 Albus, Volker; Christian Borngräber (Hg.): Design Bilanz. Neues deutsches Design der 80er Jahre in Objekten, Bildern, Daten und Texten, Köln: DuMont 1993. Bauman 2012 Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg: Hamburger Edition 2012. Briegleb 2019 Briegleb, Till: Wie sich Geschichte in Möbeln spiegelt, in: Süddeutsche Zeitung, 10.7.2019. Die Welt 1995 O. A.: Polen soll Minderheitenrechte achten, in: Die Welt, 10.7.1995. Eckstein 1931 Eckstein, Hans: Die schöne Wohnung, München: F. Bruckmann 1931. Giedion 1929 Giedion, Sigfried: Befreites Wohnen, Zürich: Orell Füssli 1929. Harvey 1990 Harvey, David: Flexible Accumulation through Urbanization: Reflections on „Post-Modernism“ in the American City, in: Perspecta, Bd. 26, 1990, S. 251–272. Jencks 1977 Jencks, Charles: The Language of Post-modern Architecture, London: Academy Editions 1977. Joachimides 2001 Joachimides, Alexis: Die Museumsreformbewegung in Deutschland und die Entstehung des modernen Museums 1880–1940, Dresden: Verlag der Kunst 2001. Kastner 2012 Kastner, Jens: Der Streit um den ästhetischen Blick. Kunst und Politik zwischen Pierre Bourdieu und Jacques Rancière, Wien/ Berlin: Turia + Kant 2012. Kleesattel 2016 Kleesattel, Ines: Politische Kunst-Kritik. Zwischen Rancière und Adorno, Wien: Turia + Kant 2016.

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Klonk 2009 Klonk, Charlotte: Spaces of experience. Art gallery interiors from 1800 to 2000, New Haven (CT): Yale University Press 2009. Krastev/Holmes 2019 Krastev, Ivan; Steven Holmes: Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung, Berlin: Ullstein 2019. Martens 2020 Martens, Bernd: Der Zug nach Westen – Jahrzehntelange Abwanderung, die allmählich nachlässt, in: Bundeszentrale für politische Aufklärung (Website), 7.5.2020, www.bpb.de/geschichte/deutsche-ein heit/lange-wege-der-deutschen-ein heit/47253/zug-nach-westen (21.10.2021). Meltzer 2020 Meltzer, Burkhard: Das ausgestellte Leben. Design in Kunstdiskursen nach den Avantgarden, Berlin: Kadmos 2020. O’Doherty 1996 O’Doherty, Brian: In der weißen Zelle/Inside the White Cube (1986), hg. v. Wolfgang Kemp, Berlin: Merve 1996. Rancière 2007 Rancière, Jacques: Das Unbehagen in der Ästhetik, hg. v. Peter Engelmann, Wien: Passagen 2007. Rancière 2008 Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen, hg. v. Maria Muhle, Berlin: b_books 2008. Rebentisch 2013 Rebentisch, Juliane: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg: Junius 2013. Reckwitz 2012 Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp 2012. Sonderegger 2019 Sonderegger, Ruth: Vom Leben der Kritik. Kritische Praktiken – und die Notwendigkeit ihrer geopolitischen Situierung, Wien: Zaglossus 2019. Sparke 1989 Sparke, Penny: Anti-Design, in: dies. (Hg.): Die Krise des Objekts. Italienisches Design von 1870 bis heute, Braunschweig: Westermann 1989, S. 182–197.

Burkhard Meltzer

Stakemeier 2018 Stakemeier, Kerstin: Ausschusskriterien. Kerstin Stakemeier über Henrike Naumann im Museum Abteiberg, Mönchengladbach, in: Texte zur Kunst, H. 111, 2018, S. 214–217. Taut 2001 Taut, Bruno: Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin (1924), Berlin: Gebrüder Mann Verlag 2001. Titz 2019 Titz, Susanne: Den Osten gibt’s nicht, in: Leipziger Volkszeitung; Museum Abteiberg Mönchengladbach; Kunstverein Hannover (Hg.): Henrike Naumann: 2000, Ausst.-Kat., Kunstverein Hannover, 13.7.–25.8.2019, Leipzig: Spector Books 2019, S. 24–34.

Bildnachweise

Abb. 1, 2: Installationsansicht der Ausstellung im Kunstverein Hannover vom 13.7.–25.8.2019, Foto: Raimund Zakowski.

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To counter the fairy tale that documenta rose innocently from the ruins of World War II, this chapter takes a look at the socially reproductive or even reparative function of the exhibition series’ early editions. It analyses the ways in which the deployment of domesticity in documenta’s discourse and display contributed to whitewashing German (art) history, by assembling fragments of the völkisch-nationalist past and cleaning them up to reconstruct the Federal Republic’s image as a cultured nation, supposedly discontinuous with the Nazi regime. Providing a spiritual home for the alienated ‘unhoused man,’ where German art, its history and actors were rhetorically victimized, purified and domesticated, documenta arguably played a role similar to that of the Trümmerfrauen, who were ideologically functionalized to clean the country’s conscience by shifting attention away from its Nazi necropolitics to the biopolitics of survival. This uncanny repression of responsibility in the name of domestic harmony turned documenta into a haunted house, haunted not just by German guilt for the mass murder of millions but also by ambivalent epistemological continuities that haunt the institution to this day.

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NANNE BUURMAN D IS FOR DOMESTICITY? BIOPOLITICS OF DOMESTICITY IN THE EARLY HISTORY OF DOCUMENTA One of the official aims of the first documenta (1955) was to rehabilitate the modern art that had been defamed by the Nazis in the so-called exhibitions of degenerate art. To counter the fairy tale that documenta rose innocently from the ruins of World War II, a story underlined by staging its first edition in the only partially reconstructed Museum Friedericianum, this essay considers the socially reproductive or even reparative functions which the early documenta editions assumed in the young Federal Republic. More precisely, it analyzes the ways in which notions of domesticity were deployed to whitewash German (art) history by assembling fragments of the völkisch-nationalist past and cleaning them up for new political uses. Thus, I argue, documenta played a role similar to that of the Trümmerfrauen, whose biopolitical function has been described as a whitewashing of the country’s conscience. The myth of the rubble women was created to “victimize the vanquished” by feminizing the German population as being occupied with reproductive labors of cleaning and reconstructing, homemaking and child-rearing, thus displacing memories of the ‘virile’ military fascism of murder and destruction with an image of passive vulnerable femininity in ruined landscapes (see Rogoff 1994). This shift of attention, from the necropolitics of war to the biopolitics of survival, was promoted in the genre of rubble film showing idealized rubble women, who were heroically taking care of the country, curing its war-inflicted wounds by not just rebuilding the ruined houses but also re-erecting its people’s confidence. (figs. 1a–c)

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1a  Ruin of Museum Fridericianum 1943

1b  German Rubble Women

The introduction to the catalog of the first documenta likewise factors out Nazi necropolitics in favor of stressing the recreation of a national cultural identity addressed to the youth and aimed at the future. Starting from this observation, the aim of this chapter is to analyze the ways in which the deployment of naturalizing, dehistoricizing, privatizing and feminizing discourses in the context of documenta activated their biopolitical function of victimization within what Irit Rogoff calls a “culture of survival,” often located in the “supposedly timeless and ahistorical arena of women’s lives” (Rogoff 1994, pp. 231, 247). Staging modern artists as civilized heroes of modernity in black-and-white photos, as was done as a prologue to the first documenta, can be seen as another example of such a domesticating whitewashing of history on the level of display. As Walter Grasskamp (1994) noted, many of the artists were shown wearing immaculate suits and ties, so as to re-establish their respectability by juxtaposing these ideal types of modern citizens with the earlier delegitimatizing representation of their art by the Nazis in the Degenerate Art shows. Shown as a plurality of individualized civilians, rather than uni-

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1c  Rotunda of Museum Fridericianum during the first documenta (1955) with Wilhelm Lehmbruck’s Die Kniende

formed soldiers, moreover, the artists were exhibited in their ‘white vests’ as personifications of democracy, even though some of them were not as politically innocent as the curatorial story would have it, and works by artists who had been persecuted and killed by the Nazis for other than stylistic reasons, i.e. for being Jewish or left-leaning, were largely missing. The fact that there were very few portraits of women artists can also be read as a double disenfranchisement in the context of a general 1950s backlash in which women were again confined to the kitchen. In the following, however, I will not count female representations at documenta but discuss how tropes of femininity and domesticity contributed to documenta’s biopolitics of denial. documenta’s domestication of modern art, in other words, provided the anxiety-ridden, spiritually and materially “unhoused man” (Holthusen 1951) of ‘post-Nazi’ Germany with a place to feel at home, clearing away his sorrows by cleaning up the record of his story.

CLEANING UP THE CHAOS, OR A BOUQUET OF FLOWERS documenta was a good occasion to bury the dark past. It was founded as a satellite to the Federal Garden Exhibition, organized by Herman

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Mattern, a former NSDAP member and member of the documenta organizing committee, who had earlier been responsible for the 1939 Reich Garden Show in Stuttgart. Covering over the rubble of the city’s bombing with beautiful flowers, the show’s decoration of debris could be read as a metaphorical backdrop for documenta’s depoliticizing take on abstract art: just as the flower beds on Kassel’s rose hill (a pile of rubble) helped to elegantly camouflage not so honorable military memories of the city’s arms production that were the reason for its bombing, the art show’s blooming fields of color allowed its makers to conceal their former Nazi entanglements behind the thorny blossoms of modern art. Several of documenta’s ‘founding fathers’ had been not only party members or members of the SA (see Redmann 2020) but also involved in the Nationalist-Socialist Student Union, which initiated the journal Kunst der Nation (Art of the Nation) to “nationalize the avant-garde” (Germer 1990). They advocated for abstraction as an expression of German and Nordic character, thereby antagonizing Alfred Rosenberg and his Kampfbund für Deutsche Kultur (Batallion for German Culture) which was dedicated to völkisch realism. This controversy, in turn, triggered heated discussions over Expressionism’s political legitimacy among German communists in exile, climaxing in 1937/38 in the Moscow-based journal Das Wort (The Word). As we know today, all attempts to have expressionism recognized by the Nazi state failed in 1935 and in each of the debates, the advocates of abstraction had to surrender to realism becoming the official art form, both within the ‘Third Reich’ and the Soviet Union, thereby turning the defendants of expressionism on the left and on the right into an involuntary Querfront (cross-front) of modern art. Besides contributions by propaganda minister Joseph Goebbels and Nazi art history professor Wilhelm Pinder, the journal Kunst der Nation also featured articles by the later documenta co-curators Alfred Hentzen and Werner Haftmann. Haftmann’s contributions, such as Geography and our Conscious Art Situation or On the Diversity of Modern Art (both 1934), directly paraphrase Pinder’s concepts of geography, diversity within unity and the specific destiny of the German Volk, all of which were quite useful at the time when it came to defending modern art against Hitler's criticism of its chaotic character. In On the Diversity of Modern Art, for example, Haftmann’s discussion of the polarity between artists like Emil Nolde and Karl Hofer (both later documenta participants) is directly taken from Pinder’s generational explanation that “Liebermann, Nolde, Carl Hofer have to create in

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different ways because even though they live at the same time (gleichzeitig), they were not born at the same time (nicht gleichzeitig).” (Pinder 1949, p. 44)1 In The Problem of Generation (orig. 1926), Pinder had thus problematized the false impression of “chaos” as a misconception arising from the “polyphony of different generations” (ibid., pp. 27f., 40, 93). Because there is no “monophonic contemporaneity,” according to Pinder, the appearance of stylistic homogeneity is “a judgment of value, no historical image, no representation of the historical contemporaneity of those times” (ibid., pp. 97, 103). Following Pinder’s argument faithfully, Haftmann claims in his 1934 article that the impression of “chaos” in contemporary art can be explained by the fact that only in hindsight does art history construct a false stylistic homogeneity, claiming that “Homogeneity of a historical period is mere fiction” (Haftmann 1934, pp. 1f.). In the introductions to the documenta catalogs, written some twenty years later, Haftmann still rehearses Pinder’s tropes, including the non-synchronicity of the synchronous that appears like chaos to contemporaries but may be put to order/cleaned up by referring to geography and generation, place and date of birth.2 Haftmann’s 1955 discussion of how a perception of chaos in the present comes from the lack (or impossibility) of hindsight echoes his own Pinderian arguments from 1934. By stressing that what appears as “chaos” is in fact the “multidimensionality” of contemporaneity, Haftmann takes up Pinder’s juxtaposition of perceived “chaos” and generational “polyphony” of contemporary positions once again (Haftmann 1955a, pp. 16, 21). He also seems to cater to the democratic virtue of plurality by comparing documenta’s “diversity” of international abstraction to “a bouquet of flowers, in which each flower keeps its own scent and color while harmonizing within a larger universality” (Haftmann 1955a, p. 25). The notion of abstraction articulated in this metaphor, however, has a more ambivalent historical genealogy, the roots of which were deliberately cut off in Haftmann’s discourse in order to evoke a domestic image of democratic harmony within European unity. Haftmann’s domesticating harmonization of the heterogenous in the documenta catalog introductions also obscures the völkisch-nationalist gene-

1 All quotes from German sources here and in the following translated by the author. 2 For a broader discussion and contextualization of Pinder’s generation theories and its critique by the sociologist Karl Mannheim, see Buurman 2023.

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alogies behind his “ethnopluralist” ideas of cultural and national character – ideas that he, in 1955, chooses to attribute to Jean Jaurès as a politically less besmirched referee (ibid). Although heavily indebted to Pinder, Haftmann does not seem to cite the Nazi art history professor in his writing, nor have I come across any reference to his own Kunst der Nation articles after the war, even though he does mention the journal as a positive example of resistance against the Nazi regime in his 1986 book on Degenerate Art, commissioned by the German chancellor Helmut Kohl. By emphasizing that among the journal’s contributors were “authors of integrity, such as A. Hentzen, P.F. Schmidt, H.v. Einem” (Haftmann 1986, pp. 22, 222), Haftmann also implicitly claims integrity for himself. Yet, taking into account von Einem’s career as a völkisch art history professor and the memberships of the documenta co-founders Haftmann and Hentzen in the NSDAP and other Nazi organizations, as well as Haftmann’s reported participation in the torture of partisans in Italy (Gentile 2021), these claims to integrity become as questionable as Haftmann’s unbrokenly patriotic idealization of those artists who did not leave Germany but remained in so-called ‘inner emigration’.

PRIVATIZED PAINTING, OR LILIES OF THE FIELD The most famous perhaps was Emil Nolde, whom Haftmann actively supported before and after World War II. He featured the artist not only in his 1934 Kunst der Nation articles and the first three documentas (1955, 1959, 1964), but also wrote several books about the artist which deliberately factored out Nolde’s racism, antisemitism and Nazi affiliations. Perpetuating the myth of the Ungemalte Bilder (unpainted pictures) – allegedly made by Nolde in ‘inner emigration’ – both the biography (1958) and the illustrated monograph Ungemalte Bilder (1963) depict the artist as having suffered from the Nazi professional ban that allegedly prohibited him from painting.3 A selection of the artist’s ‘unpainted pictures’ was included in documenta III (1964) as the only monographic ‘cabinet’ in the survey of modern drawing presented on the ground floor of the Alte Galerie (today’s Neue Galerie). As Haftmann wrote in the catalog: “We furnish it just for Nolde, in order to show, in a space of their own, the small

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For a deconstruction of the myth, see Fulda 2019.

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late watercolors, sketches of never painted pictures, that he made in the dark years of war and ostracization. They are the poignant last words of a great German painter from the darkest times of German history.” (Haftmann 1964, n. p.) In contrast to this celebration of the German painter’s heroic suffering, the Holocaust and art by victims of the Shoah remained the exhibition’s unacknowledged blind spot. Instead of taking issue with Nolde’s antisemitism, Haftmann defended the artist against such charges when they were raised in the catalog of Nolde’s 1963 exhibition at the Museum of Modern Art in New York by claiming that the artist was “by no means antisemitic” (Haftmann 1963, p. 16). Haftmann thus portrayed the highly antisemitic artist, who was one of the first to become a member of the Nazi party and used to have admirers among the Nazis’ higher ranks, as one of the main victims of the regime. Despite these exculpating whitewashings, Haftmann’s own writings about Nolde remained saturated with Blut und Boden semantics long after the end of the Nazi regime (see also Buurman 2020a and id. 2020b). In an argument with social Darwinist undertones, the art historian explains that the professional ban only emphasized Nolde’s characteristically Nordic introversion and seriousness, helping his “ideas to ripen without compromise,” so that he could present these images as witnesses to “the force of German art” (Haftmann 1963, pp. 9, 7). Haftmann’s naturalizing framing of Nolde’s Nordic character and the quasi-biological realization of his inborn fate resonates with Pinder’s geographical approach to “artistic entelechies”. Although Haftmann later officially distanced himself from Pinder, traces of völkisch jargon remained present in Haftmann’s writings. Reading Haftmann’s documenta catalog introductions, moreover, it seems as if, for him, the main problem with Nazism was not so much its racist and political genocides but specific agendas of its cultural policy – i.e. the ostracization of modern and contemporary abstraction. Defending contemporary art once again, he maintains that its “great freedom” and the “moment that we celebrate as our contemporaneity,” is not the result of “arbitrary chance” but had to be “bred up” (heraufgezüchtet) in a “continual development of humankind” (Haftmann 1955a, pp. 22f.). Notably, the German expression ‘heraufzüchten’ means improving and ennobling by breeding. The term is redolent of the eugenics and euthanasia programs run by the Nazi regime, whose goal, only a couple of years earlier, had been to ‘ennoble’ and ‘purify’ the so-called Aryan race

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by killing and ‘breeding out’ everyone deemed unworthy of life. Moreover, Haftmann explicitly evokes the “German spirit” (ibid., p. 15) and repeats the words ‘German’ and ‘Germany’ in a way that leaves little doubt as to the importance he attributes to national identity (ibid., p. 16). Rather than explicitly referring to the Holocaust or other Nazi crimes, he only obliquely mentions a “fit of iconoclasm” as a somewhat unauthored “stepping outside” of the European development of modern art (ibid.). By avoiding explicit attribution of the iconoclasm to the Nazis and using the passive voice,4 he likens it to a natural catastrophe that interfered with the ‘natural’ order of artistic evolution. Nevertheless, he maintains that the “outlawry” or “ostracization” (Verfemung) could not do much damage to the artists themselves (ibid.). Instead, according to him, “The damage was rather done to the nation, its understanding of contemporary culture, its passive will to art/culture” (ibid., pp. 16f.). Here, Haftmann explicitly victimizes the German nation, whose wounds and losses – he claims – documenta has come to cure by bringing back to light those male heroes of modernity who had gone “underground, painted in wash houses, modeled in ruinous factory halls and nurtured themselves like the lilies of the field” (ibid., p. 16). Besides once again drawing on biological metaphors of artistic self-sustenance under divine guidance, Haftmann forgets to mention those Jewish and other victims and casualties of Nazism – among them artists – who were tortured and killed, thus conflating two incomparable modes of suffering.5 He symbolically domesticates the surviving German artists by using imagery that situates them in the mundane and feminized realm of reproductive labor (washing & nurture), in which painting appears like a humble, privatized household activity. These feminized mundane artistic labors are furthermore situated in a landscape of ruined factories, i.e. prototypical places of male (war) production rendered dysfunctional, thus allegorically emasculating the artists and – by stressing their impotence – rendering

4 He nebulously speaks of “proponents of (…) long forgotten positions,” “national, social and ideological doctrines”, and “orders of political clans” (ibid., p. 16–22) and does not even explicitly mention the so-called Degenerate Art exhibitions. 5 In the documenta II catalog, Haftmann calls 1945 a “fateful year” because after the war Germany, Italy and Japan “had to find a new beginning after their almost complete destruction” (Haftmann 1959, p.16, my translations), thus rhetorically turning the aggressor countries into victims.

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them innocent “like the lilies of the field.” Painting is here portrayed as a domesticated, civilian, yet also heroic, reproductive activity of survival during times of political Berufsverbot (professional ban). documenta’s highly selective display of some of the modern art that the Nazis had declared degenerate is implicitly conceptualized by Haftmann as a curatorial extension of its earlier unseen functions of nursing the existential “will to art/culture” – presented by him as a basic need of which the German population, including the show’s visitors, was deprived for too long. Thus, the curator presents documenta not just as an instrument of care for the artists but “for the spiritual welfare of the nation.” (Ibid., p. 18) The image of the ‘lilies of the field,’ which Haftmann once again uses in 1986 to make the quasi-Darwinist argument that the social isolation supposedly endured by survivors of ‘inner emigration’ pushed them towards introspection and made them better artists, may not be so innocent at all. It may also be interpreted as a legacy of his nationalist socialization as a young art historian during the NS regime.6 Both the linking of art making to a botanical process of growth and vegetation, and the notions of interiority and domesticity that Haftmann keeps evoking in this context were dominant tropes in Nazi art discourses, as Christina Schedlmayer (2010) points out. According to her, introversion and withdrawal into the home were understood as characteristics of Nordic and Germanic people as opposed to the Southern (Italian) preference for the public (ibid., pp. 72–76). In his book on Wesenszüge deutscher Kunst (Essential Traits of German Art, 1940), Pinder, for example, had linked this Germanic introversion to a “secret graphic character of German art” (cit. in Schedlmayer 2010, p. 93) due to the fact that it could be produced and received within the domestic realm,7 a narrative that Haftmann seems to continue whenever he praises Nolde’s introverted self-isolation and the hidden production of his small scale ‘unpainted pictures’ as a sign of stubborn adherence to the artist’s Nordic character.

6 The highly antisemitic, völkisch Julius Langbehn refers to this biblical metaphor, praising Christ’s superior artistic sensibilities for recognizing the artistic dimension of conceptualizing the human body as an organism, concluding that Darwin should have paid more attention to him (Langbehn 1922, p. 56f.). 7 Likewise, Wölfflin praised German interiority in Italien und das Deutsche Formgefühl (1931), cit. in Schedlmayer, p. 96.

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CLEAR CLEAN COMFORT, OR DIALECTICS OF DOMESTICATION While Haftmann discursively domesticated German abstraction as an individualist turn towards inner realities, not only depriving the art of its political significance and ideological functions, but also prohibiting any attempts to dig deeper into the dark brown völkisch soil that fertilized some of these ideas, the exhibition designs by documenta initiator Arnold Bode perfectly complemented this discursive privatization of art on the level of display, turning the Museum Fridericianum into a homestead for the meditation and contemplation of modern art’s spiritual inwardness. The design of documenta was influenced by Bode’s job as an interior designer of furniture and textiles. The graphic patterns abstracta 54 and diversa 54, designed by Bode just one year before ‘documenta 55’ for a collection of artificial textiles by göppinger plastics, in turn, look like they were inspired by modern abstract art. At the same time, they cater to the 1950s new domesticity of “clear clean comfort (gemütlichkeit), from which all musty obduration and all social pomp of representation is washed away,” as a contemporary advertisement declared (Fischer 1954, n. p.). The ad furthermore informs readers about the exciting new method of printing “art of our time” on the göppinger plastics homeware, with documenta artist Willi Baumeister having agreed to contribute designs to be silk-screened on these innovative plastic fabrics for home decoration. The language of the advertisement almost literally echoes Haftmann’s formula of how realism’s “reproductive image” is increasingly replaced by the “evocative image” of abstract tendencies (Haftmann 1955b, p. 22, and id. 1959, p. 17), abstraction thus figuring as the design du jour to signal democratic discontinuity with the past. The domesticated idea of diversified abstraction as the telos of a continuous emancipation of art from representations of outer reality remained informative for the first three documenta exhibitions until Haftmann left after the third edition to become founding director of the Neue Nationalgalerie in West Berlin in 1967. The glass and steel building of this new museum of modern art, erected between 1965 and 1968, was designed by Mies van der Rohe, who, in 1929, had also worked on a never realized commission by Nolde for a city house in Berlin (see Reuters/Berting 2012). Both Mies and his frequent collaborator Lilly Reich, who was in correspondence with Nolde about his house, also served the Nazi regime with their work for

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several commercial fairs of textiles and modern living. Together, they contributed display designs not just to the famous Velvet and Silk Café Berlin (1927) and the German Textile Exhibit at the world’s fair in Barcelona (1929), but also to the 1937 Reichsausstellung der Deutschen Textil- und Bekleidungswirtschaft in Berlin and for the textile section of the Exposition internationale des arts et techniques appliqués de la vie moderne that took place in Paris the same year. As Charlotte Klonk (2009, p. 187) points out, it is very likely that Bode’s designs for documenta were inspired by the displays that Reich had contributed to these exhibitions. During his time in Berlin (1930–1934), “he would have encountered Lilly Reich’s beautiful arrangements of materials such as marble, wood, textiles and glass sheets within a free-flowing space. Her way of contrasting the soft folds of fabric with the rough surfaces of raw building materials was echoed in the contrast between brick walls and milky plastic curtains in Bode’s Documenta installation thirty-four years later.” (Ibid., p. 187) Indeed, his pleated, ceiling-high curtain backdrops at documenta very much resemble not just Reich’s pleated/fluted curtain displays in the textile section at the international exhibition in Paris 1937, which Bode visited, or her joint brick display with Mies at the 1934 Nazi show Deutsches Volk, Deutsche Arbeit (German Nation, German Work) in Berlin, but also the pleated backdrops used in several other sections of Deutsches Volk, Deutsche Arbeit (figs. 2a–3b).8 Heiner Mühlmann claims Nazi curators appreciated such backdrops for their monumentalizing effect, wondering if the fact that Bode still used such displays during the Cold War meant that he was a “secret Nazi” (Mühlmann 2014, p. 63). While further research on Bode is needed to learn more about his actual relationship to the Nazi regime, these correspondences with Nazi display design are interesting for several reasons. They not only undermine the ongoing heroization of Bode as an innovative creator ex-nihilo but also challenge the post-war fairy tale of a ‘clear clean’ cut between good form and bad form, with its ethical judgment of aesthetic terms insinuating that the supposedly new ‘clear clean comfort’ in interior and exhibition design performs a ‘clear clean’ cut with the past. The moralizing promotion of a Protestant work aesthetic in the guise of

8 For Lilly Reich’s manifold use of fabrics see Eliana Perotti’s text in this book. For the German Textile Section of the International Exposition of Arts and Techniques Applied to Modern Life, Paris, 1937 see McQuaid 1996, p. 42.

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Gute Form, which documenta co-founders like Bode and Stephan Hirzel contrasted with the aesthetic ‘evils’ of Nazi design,9 seems hollow in light of Hirzel’s promotion of pure and clear designs throughout his work as an editor of the Deutsche Warenkunde during and after the Nazi regime (see Riemann 2006). The resignification of art and design’s formal qualities, from essentially German to democratic, allowed for aesthetic continuities as long as they were politically reframed. This is interesting to keep in mind with regard to the following reading of Ernst Bloch’s speech Über bildende Kunst im Maschinenzeitalter (On Fine Arts in the Age of Machines), delivered at the third documenta in 1964. Only one year before the building of the Neue Nationalgalerie in Berlin started, he argued that ornament-free modern glass and steel architectures dialectically correspond with modern abstraction. In his speech, Marxist philosopher Bloch critically interpreted the declaration that the new painting and sculpture was the “end of art” as a “war cry of standstill of those whose own mind stands still” (Bloch 1985, p. 571). Without explicitly mentioning Haftmann, Bloch here takes issue with the essentializing cliché of subjective interiority that Haftmann had described just one year earlier in his Ungemalte Bilder (1963) as the prime characteristic of contemporary art, i. e. that it expresses the “innerworld of the subject” or “the reality hidden within the human” (ibid., p. 39). Even if art has figurative tendencies, like Nolde’s paintings, according to Haftmann these contents are “turned into a timeless universality” in the same way that the artist’s entire life is comprised in his work’s formal qualities, thus “standing on the ground of the timeless-anonymous world of art” (ibid.). Bloch’s observation that – due to the “creative subject’s withdrawal into the musical inwardness of the domestic living room” – these “objects appear as inhabitants of their own inner landscape”, or even as “mummified ornaments of our innermost Gestalt”, “which even denaturalizes the outside as an appearance of the inside” (Bloch 1985, p. 573) sounds like a direct response to Haftmann’s depoliticizing and dehistoricizing domestication of contemporary art.

9 Amelie Ochs highlighted this contrasting practice in her presentation Eine gute Gegenwart für die bundesdeutsche Jugend. Bildpolitik und Formpädagogik des Deutschen Werkbundes in den 1950er Jahren at the study day of the Draiflessen Foundation on December 3/4, 2020.

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2a  Ceiling high göppinger plastics curtains in Museum Fridericianum during the first documenta (1955)

2b  Ceiling high curtains at Deutsches Volk, Deutsche Arbeit (1934)

If I understand him correctly, Bloch likens the “enigmatic encrypting of objects” – which appear as “purely ornamental beings without luxury in frames and on plinths” (ibid., p. 569) – to the fake plush and décor of the 19th century and their function to cover up, beautify and lie: “The muses are not just silent during the war, but even more silent in the lie.” (Ibid., p. 568) Against this false appeasing appearance of a plurality, which “pulverizes the antagonistic” (ibid., p. 569), he calls to mind the ways in which montage was developed out of technological developments and may give rise to a simultaneous perception of “things miles apart”, thus countering Haftmann’s suggestions of “timelessness” with his own dialectic understanding of “Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen” (synchronicity of the non-synchronuos, p. 574). The confrontation of Bloch’s and Haftmann’s positions at documenta III in 1964 may be read as a postscript to the previously mentioned 1930s debates, with a former right wing and a left wing proponent of expressionism meeting again thirty years later. In

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3a  Cafeteria with Picasso prints on pleated wall curtains in the rotunda of the Fridericianum during the first documenta (1955)

this new ‘Cold War’ context, expressionism now finally prevailed as the official art of West Germany, severed from the politically charged, rotten roots of its historical völkisch interpretation and ideologically domesticated as a bouquet of flowers within documenta as an ‘uprooted’ universal expression of freedom.

COLLAPSE OF THE BOURGEOIS HOUSE, OR ALIENATION AND ABSTRACTION Perhaps the commonalities in how expressionism was appreciated by German nationalists and communists from the 1930s to the 1960s can be explained by their shared indebtedness to Wilhelm Worringer’s writings on Abstraktion und Einfühlung (Abstraction and Empathy, orig. 1907) and Formprobleme der Gotik (Form Problems of the Gothic, orig. 1912).

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3b  Pleated wall curtain behind the Reich eagle in the exhibition Deutsches Volk, Deutsche Arbeit (1934)

Worringer saw the co-presence of emphatic naturalism and abstraction in medieval Gothic sculpture as an expression of the Northern people’s inner conflicts. For Worringer, the “Germanic idiom”, is not “a synthesis” of oppositions but a “hybrid appearance” (Worringer 1912, p. 30). It is not a “harmonic fusion of opposing tendencies” but an “unclean [unreinlich] and in a way uncanny [unheimlich] combination of them” (ibid., p. 31). While Haftmann, with Pinder, presented a harmonized “Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ (Non-Synchronicity of the Synchronous) that resolves its tensions in a totalizing peaceful co-existence of different generational and national traits, Bloch’s concept of the “Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen,” developed in Heritage of Our Time (1936/1962), has an affinity with the emphasis Worringer places on the tensions generated by Gothic sculpture’s “unmediated side-by-side” of more realistic and more abstract features (Worringer 1912, p. 74f. and id. 1907, p. 114).

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In fact, it seems that Bloch adopted and applied Worringer’s ideas on abstraction not just to questions of aesthetic form but also to an analysis of social relations, mapping them onto his dialectic Marxist understanding of the ‘unmediated’ neighborhood of different classes. According to him, they are crisscrossed within contemporaneity by different social temporalities which facilitated the rise of Nazi fascism because they could not be harmonized. “The crisis is the divergence of the ever more independent moments, and if the crisis, according to this great Marx definition, also equally ‘manifests the unity of the moments rendered independent against each other’, then in no way as previous bourgeois classicism and its reproducibility, indeed exemplariness, just as if in time and content nothing had happened. The Marx quotation points to the fact that the dialectic as unity of the unity and the contradictions can never be mocked, but this of course does not mean to say that the crisis is a paragon of order and uniformity.” (Bloch 1991, p. 251) Since “there was no objectlessness per se” in expressionism (Bloch refers to Klee, Chagall, Marc), but a “de-reification of objects” as he explained in the chapter Expressionisms, Seen Now (ibid., p. 238), Bloch explicitly elaborates on problems of mediation in the chapter The Problem of Expressionism Once Again (ibid., pp. 251–253). For Bloch, true expressionism with its disharmonious “mediation through abruptness” expresses the crisis of capitalism with its different classes out of synch. Hence, he links the tensions created by the “Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen,” both in art and society, to the uncanny “collapse of the bourgeois house” and the “collapse of an old society” (ibid., p. 251f.): “An essential relationship behaves in an abruptly mediated way above all in those times when as a consequence of unsecured conditions holes and hollow spaces open up in the previously smooth context; about this and about that which appears in them the – one might say – irregular artists give information in their own way. Openings-up of this kind have appeared time and again since the end of the Middle Ages, i.e. in the hollow spaces which arise as a consequence of the long-lasting collapse of an old society, but above all as a result of the excavation of a newly rising one, just as in the early twilight night and morning are mixed together. Of course only the shapes of the predominating, in fact ruling morning glance are important, despite all the peculiarity which indeed characterizes these still unordered crack-creations. Thus in painting a mixed, but nevertheless not unrelated series extends from Baldung Grien, from the mock-humorously-gruesome Hieronymus Bosch

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to the indignantly-real grotesques of Goya, to dismantlingly-shocking strangenesses of Franz Marc, Chagall, Picasso.” (ibid., p. 251) Worringer already explicitly elaborated on the spooky and the uncanny dimensions of abstraction (Worringer 1912, pp. 53–57) and its relation to an alienating ‘spiritual homelessness’ some forty years before Bloch. He not only identifies a ‘drive towards abstraction’ in Gothic art and architecture, which he explains by the Northern people’s alienation from the unwelcoming nature that surrounds them, but also frames tendencies towards abstraction in northern Europe as expressions of Nordic religiosity and its metaphysical disposition to regard visible reality with anxious suspicion. Such a reading of the ‘unhomely’ in art, as a specifically Germanic way of coping with anxiety through creativity, was adopted after the war by Haftmann in his writings about Nolde.10 He also explicitly pays tribute to Worringer in the first volume of Malerei des 20. Jahrhunderts (1954), where he cites the elder art historian’s assertion that the “feeling of anxiety can be taken as the root of artistic creation” (Worringer 1907, p.15) as a “salutary shock” (Haftmann 1954, p. 105). While Worringer wrote primarily with an eye to the Gothic denaturalization of the middle ages, and Bloch with reference to the haunting contradictions of capitalist modernity, Haftmann reconfigures this argument after the war to advocate for abstract art as a means of coping with the alienating effects of the Nazi regime, which he linguistically frames as a defamiliarizing (super)natural catastrophe. The idea that the Gothic, according to Worringer, “is not tied to one period of style” but “manifests itself throughout all centuries in ever new disguises” and thus “is not a temporal phenomenon but a deeply grounded timeless race-appearance that is rooted in the innermost constitution of Nordic humankind” (Worringer 1912, p. 126), seems to be compatible not only with Pinder’s völkisch idea of “polyvocality” and Haftmann’s ethnopluralist stress on “multiplicity,” “diversity,” and “polarity” of simultaneously co-existing takes on abstraction but also with his insistence on its timelessness as the unfolding of art’s entelechy. In fact, Haftmann’s conceptualization of Nazi realism as an alien interruption of art’s organic development

10 To my knowledge, Worringer did not write explicitly about Nolde himself. He developed his theories of abstraction with regard to historical art and only spoke about modern abstraction in a number of articles in 1911, 1921, 1925 after the expressionists of the Blaue Reiter group had shown interest in his writings.

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towards its fate of abstraction reads like an echo of Worringer’s diagnosis that Renaissance “naturalism” was “an experiment of the court,” unearthed from the “native soil” of the motherland and thus “unable to find ground to anchor in the people’s consciousness” (Worringer 1912, p. 75). While Bloch departs from Worringer by focusing on class rather than cultural difference, he concurs with him in the ‘populist’ attribution of significance to affective dispositions of “the people’s consciousness”, regretting that communism did not achieve an emotional grounding and missed the opportunity to give the people a spiritual home, a failure that the Nazis managed to capitalize on, as Bloch pointed out, by providing the unhoused modern man with a Heimat.

A HEIMAT FOR THE UNHOUSED MAN, OR DOCUMENTA AS A HAUNTED EXHIBITION The notion of Angst also played an important role in German existential philosophy and these ideas seem to have informed Haftmann, who pays credit to Sigmund Freud, Martin Heidegger and Jean-Paul Sartre in his Malerei im 20. Jahrhundert (Painting in the 20th Century, two volumes, orig. 1954/55). In Sein und Zeit (1927), Heidegger, another Nazi professor and NSDAP member (1933–45), differentiated between Angst (anxiety) and Furcht (fear) by explaining that, as opposed to Furcht, which is focused on concrete things, Angst is an undefined form of dread, which is not caused by any concrete object but rather characterized by the perception of an abstract “indefinite” threat, which cannot be located “within the world [innerweltlich]” (Heidegger 2001, pp. 186, 187). Instead, Angst is about the possibilities of “being-in-the-world” and thus an expression of the “uncanny,” the “not-being-at-home,” the “collapse of mundane familiarity” (ibid., pp. 188f.). According to Heidegger, “Anxiety individualizes and thus unravels the being-there [Dasein] as ‘solus ipse’” (ibid., p. 188). The fact that Haftmann co-curated a show titled Zeugnisse der Angst (Testimonies of Anxiety), in the context of the Darmstädter Gespräche 1963, is just another hint at the importance of the role of anxiety in post-war German art and Haftmann’s take on it in particular (see also Buurman 2020b). In his book Der Unbehauste Mensch (The Unhoused Man, 1951), literary scholar Hans Egon Holthusen, who would become head of the

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Goethe House in New York (1961–1964) and head of literature at the Berlin Academy of Arts despite his voluntary SS-, Wehrmacht- and NSDAP-memberships, argued that “ironically, ideas that had moved into the world from Germany once, now re-entered the country declared as a ‘dernier cri’ of modern and advanced spirituality” (Holthusen 1951, p. 141). While his polemic is primarily referring to French existentialism, American psychology and Russian Communism as originally German, this argument could be extended to American abstraction in the artistic realm, where abstract art was ‘Americanized’ because many of its famous US representatives either were European emigrants or had been taught by exiled European artists. Like the ‘Christian existentialist’ Holthusen, whose Nazi past did not prevent his remarkably successful post-war career, including the directorship of the NYC predecessor of the Goethe Institute, Haftmann would eventually participate in this transatlantic cultural exchange when it became geopolitically opportune to acknowledge the cultural importance of America. Two years after the first documenta (1955) and one year after the inauguration of the International Council of MoMA (1956), Haftmann finally traveled to the US: first in 1957 to attend the MoMA show German Art in the Twentieth Century (for which he had served as a curatorial advisor and catalog author) and a second time in 1959 (the year of the second documenta) to study American art in the library of the MoMA, assisted by Alfred H. Barr. On the occasion of the show he co-curated in 1957, Haftmann gave a lecture at the Goethe House New York titled “Die Angst verlieren” (Losing one’s Fear), thus once again linking Germany and Angst. In retrospect, one may wonder if this obsession with anxiety may not be also read as a fear of the return of the repressed Nazi past or a sort of castration anxiety, the worry that Germany might be disempowered by the United States.11 From the spiritual and material homelessness (Heimatlosigkeit) also underlined by the roofless ruin sceneries of the first documentas, it is not far to the uncanniness (Unheimlichkeit) of the haunted exhibition, haunted – as documenta was – by the Gothic ghosts of German abstraction that Worringer attributed to the Nordic people’s anxiety due to the lack

11 With regard to the show German Art in the Twentieth Century, financially supported by the German foreign office, such fears appear ungrounded. The German side managed to enforce their conceptual agendas and choices against the preferences of the MoMA curator (see Buurman 2021).

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of homeliness (Heimeligkeit) in the sensual world. These would be joined during documenta II by their kindred spirits of American abstraction, suffering from alienation in the consumerist capital of capitalism.12 Interpreting documenta as an “unhoused exhibition”, Harald Kimpel adopts the concept of the ‘unhoused man,’ elaborated by Holthusen, albeit without mentioning Holthusen’s well-known Nazi background: “The interior structure of the Fridericianum […] reflects the sense of disorientation for which Hans Egon Holthusen in 1948 had found the term ‘Unbehaustheit,’ the state of being unhoused. In a way, Bode’s approach to the exhibition appears to illustrate this diagnosis of the intellectual, material and existential condition of the individual at the beginning of the second half of the twentieth century. Holthusen’s analysis of the ‘radical emancipation and displacement, the vertiginous insecurity of humankind in modernity’ is objectified in the relationship between art and architecture. The experience of displacement and rootlessness in the transitional postwar period was accommodated within the ‘leprous walls’ (Erich Kuby) of the former museum. The derelict building proved itself capable of providing adequate living space for ‘wounded humankind in a wounded world’ (Werner Haftmann).” (Kimpel 2005, p. 68) The fact that Kimpel argued that the ruined Fridericianum provided “living space” (in the original German version the expression is Lebensraum) is rather noteworthy, as the term ‘Lebensraum’ served the Nazis to legitimate their crimes against humanity by claiming they needed to make space for the settlement of the ‘Aryan’ race. While Kimpel here slips into the jargon of the historical sources he cites, what this slip of pen reveals is that documenta and its historiography are haunted by the inheritance of a complex history of thought that was highly compatible with Nazi ideology, even if it did not necessarily originate during the Nazi regime but was adopted by the Nazis from earlier traditions like German idealism and romanticism. Kimpel’s account of the post-war yearning for a place to make oneself at home and documenta as an ‘unhoused house’ for the ‘unhoused man’ resembles Haftmann’s narrative of artists working in washing kitchens and derelict buildings in the 1955 documenta catalog, and thus in a way reproduces the ‘feminizing’ focus on survival by presenting documenta as a domes-

12 Clement Greenberg ascribes the Gothic in Pollock’s work to his alienation from American consumer culture (Greenberg 1948, pp. 82).

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tic place of re-creation and healing. This uncanny continuity of coping with unhoused states of emasculation from war to post-war times, represented by artists like Nolde and curators like Haftmann laboring on the ‘timeless’ project of abstraction, had an apologetic effect that was reinforced during the second documenta by the arrival of unexpectedly large American paintings.

DISPLACEMENT AND DOMINANCE, OR CARE AND CASTRATION ANXIETIES While Nordic abstraction used to be associated with the small scale of domestic spaces in Nationalist Socialist art history, and Haftmann continued to associate at least Nolde’s ‘unpainted pictures’ with a small scale caringly cultivated by the artist in private withdrawal, American abstraction displayed its ‘virility’ not just by the sheer size of its paintings but also – at least in Pollock’s case – by the mode of drip painting that has been analyzed as violent and as a competitive phallic gesture of automatic ejaculation, urination or domination in the modernist project of “defeating the image” (Krauss 1993, p. 284). Whereas Nolde was pictured by Haftmann as a caring father, carefully nurturing his paintings in private, he later describes Pollock as a desperately active, violent and (self-)destructive character, thereby invoking associations of a modern version of Hamlet driven by toxic masculinity: “He attacked the canvas with separate aggressive gestures, as though to compel the adversary hidden behind it to appear. Monstrous figures emerge, faces, spectral hybrid beings brought forth by the cruel line that cuts like a knife into the psychic tissues. These pictures flow from psychic wounds. They show mounting unrest, self-torment, and self-doubt. They write finis to the fantastic drama of this life which came to a tragic end in a car accident on August 11, 1956.” (Haftmann 1960, p. 349) Stressing how the paintings are imprints of Pollock’s tragic fate, registering “the artist’s inner life” and thus permitting him “to be literally ‘in the painting’” (ibid., p. 348), his canvases become holy shrouds of another unhoused martyr of abstraction killed in a car crash. Haftmann repeatedly comments on the “gigantic formats” (ibid.) of American expressionism, and Friedrich Bayl, a contemporary critic of documenta II, associates their size with a process of competition with and displacement of European works

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(Kimpel 1999, p. 276).13 Haftmann seems to retrospectively back this kind of interpretation when he comments in 1960 that “The clear superiority of the European painting in the Armory Show gave many American painters an unpleasant feeling of inferiority, and the consequence was an attitude of defiance with chauvinistic overtones. This reaction was of considerable importance for subsequent artistic development in America.” (Haftmann 1960, p. 163) In Other Criteria (1972), Leo Steinberg analyzed how American artists were at pains to frame their art as masculine hard work because they felt “suspicious and uneasy” about the “snob appeal” and “artificiality” (p. 58) of high culture, therefore displacing all “facture and cuisine” associated with French art by “tough he-man talk” of “manliness” (p. 60, emphasis in original). Quoting how Harold Rosenberg, in his article The American Action Painters (1952), described the canvas as “an arena in which to act” and painting as an “event” that did not produce an object but was an act of “livening on the canvas” (Steinberg 1972, p. 61), Steinberg stresses “the American disdain for art conceived as something too carefully plotted, too cosmetic, too French” (ibid., p. 62), thus crediting Rosenberg for having “armed a generation of artists with a vocabulary of self-respect” (ibid.).14 While this masculinization of American art as work, action or activism in Steinberg’s elaboration takes a feminizing vision of French art as its foil, it seems Haftmann’s slightly condescending account of American art as amateurish and brute serves as a backdrop to stage European art and especially German abstraction as cultured, passive innocent victim – not just of Nazi and Soviet totalitarianism but also of American dominance.15 While he sees the principles of automatism and meditation at work in both Pollock’s and Nolde’s work, remarkably, Haftmann’s description of Nolde’s artistic work oscillates between a feminization as caring, domestic, small-scale labor that requires continuous effort and a masculinization as effortless automatic painting “that gave him the masculine pleasure to be

13 Kimpel cites Friedrich Bayl: Die II. Documenta, in: Art International, no. 3, vol. 77, 1959, p. 37–42 as follows: “The brutal elbowing, with which the American formats displace the European from the walls and take up their space and light” can be perceived particularly in the Fridericianum’s top floor.” 14 Note that Haftmann’s ideas of Pollock being ‘in’ his painting may also be an echo of H. Rosenberg’s theory of these artists ‘living on the canvas,’ although Haftmann does not cite him. 15 This might be an echo of his former anti-Western sentiments, cultivated, for example, in Geography and our Conscious Art Situation (1934).

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and to be at work. Whenever he dressed himself in the king’s coat of his artistry all of his fears and all threats disappeared and he once again became the strong painter, who knew himself in front of a strong work.” (Haftmann 1963, p. 19)16 Moreover, Haftmann repeatedly mentions that Nolde and his wife did not have any children of their own. According to the art historian, the paintings were like children that the artist “wished to protect like bodily progeny” (ibid., p. 13, see also p. 37). This simile suggests a transfer of biological infertility to political impotence and virginity, climaxing in Haftmann’s excusing of Nolde’s early Nazi sympathies as politically naïve (ibid., p. 15). Framing the small-formatted “unpainted pictures” as embryos of real, large-size paintings,17 Haftmann links artistic creation with procreation and restrained masculinity, whose realization of full creative potency had to be postponed until the paintings would see public light after the breaking of the Nazi ban/spell.18 Haftmann’s portrait is characterized by a constant shifting between stress on Nolde’s innocent impotence (old age, political naiveté, professional ban, tied hands) and the creative sublimation of unrealized fatherhood or lack of recognition by the Nazis in a heroically stubborn dedication to painting against all odds. In contrast to documenta, where Haftmann victimized Nazi artists like Nolde by portraying them in a feminizing way, describing their passive endurance in castrated buildings, surviving innocently like “lilies in the field” (Haftmann 1955a, p. 16), the first German movie produced after the war, the rubble film titled The Murderers are Amongst Us (1946), still called for denazification by staging a confrontation of its traumatized male protagonist with a turncoat Nazi war criminal in a dark neorealist shadow play. Produced by Wolfgang Staudtke for the newly founded DEFA in East Germany, it brings into the frame shattered and painful memories, for instance, by having its female protagonist look into a broken mirror, reflecting only a shattered image of the self, impossible to integrate as a whole. The

16 He also cites Nolde’s joy at “taking out of nothing that which was not there before – a wonderful bliss of godly creative power” (Haftmann 1963, p. 21). 17 Furthermore, he speaks about “small unpainted pictures” and several pages later, on p. 25, quotes Nolde about his vision that “they should become ‘great, real painting’” (Haftmann 1963, p. 22). 18 In his chapter on the Degenerate Art exhibitions, “Jugglers Fair beneath the Gallows,” Ernst Bloch also links artistic confinement during the NS regime to castration. He remarks that under Nazism artists were “openly threatened with castration or prison” (Bloch 1991, p. 75).

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fragmented perception of reality is emphasized not just by the presence of rubble and ruins but also by hard/sharp cuts, with views through broken windows adding another layer of alienation. In contrast to the shattered optics of the movie, which explicitly deal with German perpetrators and the unhealable horrors of the Shoah and other Nazi crimes shortly after the war, documenta’s domesticating denial of politics a decade later, which turns a blind eye to its own continuities and contradictions, is clearly informed by the project of reconstruction and repair, restored order and repression of guilt and responsibility that would soon also become the dominant feature of apologetic rubble and Heimat films in the West. (figs. 4a–c)

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4a–c  Filmstills from the movie The Murderers are Amongst Us (1946)

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Nanne Buurman

tieth Century, trans. by Ralph Mannheim, New York: Frederick A. Praeger 1960, p. 9. Haftmann 1963 Haftmann, Werner: Emil Nolde – Ungemalte Bilder, ed. by Ada und Emil Nolde Foundation Seebüll, Cologne: Dumont 1963. Haftmann 1964 Haftmann, Werner: Einführung, in: documenta III, exhibition catalogue, vol. 2 (“Handzeichnungen”), DuMont Schaumberg 1964. Haftmann 1986 Haftmann, Werner: Verfemte Kunst: Bildende Künstler der inneren und äußeren Emigration in der Zeit des Nationalsozialismus, Cologne: DuMont 1986. Heidegger 2001 Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927), Tübingen: Max Niemeyer 2001. Holthusen 1951 Holthusen, Hans Egon: Der Unbehauste Mensch, Munich: Pieper und Co 1951. Kimpel 1999 Kimpel, Harald: documenta. Mythos und Wirklichkeit, Cologne: Dumont 1999. Kimpel 2005 Kimpel, Harald: The Unhoused Exhibition. Documenta in Search of Its Own Architecture, in: Michael Glasmeier; Karin Stengel (eds.): archive in motion. documenta-Handbuch, Göttingen: Steidel 2005, pp. 68–76. Klonk 2009 Klonk, Charlotte: Spaces of Experience. Art Gallery Interiors from 1800 to 2000, New Haven/London: Yale University press 2009. Krauss 1993 Krauss, Rosalind E.: The Optical Unconscious, Cambridge: MIT Press 1993. McQuaid 1996 McQuaid, Mathilda (ed.): Lilly Reich. Designer and Architect, ex. cat., Museum of Modern Art, February 8 – May 7, 1996, New York, Museum of Modern Art 1996. Mühlmann 2014 Mühlmann, Heiner: Der Kunstkrieg. Das Haus der Deutschen Kunst, die Documenta und

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d is for domesticity?

Credits

Fig. 1a: https://regiowiki.hna.de/images/ thumb/b/b8/1340881014318.jpg/200px1340881014318.jpg (2021-12-15, meanwhile website has been deactivated), photographer unknown. Fig. 1b: https://www.br.de/radio/bayern2/ sendungen/radiowissen/geschichte/truem merfrauen-nachkriegszeit-104.html (2015-1201), photographer unknown. Fig. 1c, 2a, 3a: Photos: Günther Becker, Copyright: documenta archive / © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Fig. 2b: Bundesarchiv, Bild 102-15751 / CCBY-SA 3. Fig. 3b: Bundesarchiv, Bild 102-15756 / CCBY-SA 3.0. Fig. 4a–4c: Die Mörder sind unter uns (D 1946, directed by Wolfang Staudtke, Camera: Eugen Klagemann), 0:35:55; 0:22:09, 0:10:48.

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BIOGRAFIEN

Te m m a B a l d u c c i is Professor of Art History and Chair of the Department of Art + Design at Arkansas State University. Her research and publications focus on the intersection of gender and visual culture in French art of the modern period and in feminist art of the 1970s. She is a contributor to and co-editor, along with Heather Belnap Jensen and Pamela J. Warner, of Interior Portraiture and Masculine Identity in France, 1789–1914 (Ashgate, 2011) and its companion volume, Women, Femininity, and Public Space in European Visual Culture, 1789–1914 (Ashgate, 2014). Her book Gender, Space, and the Gaze in Post-Haussmann Visual Culture: Beyond the Flâneur was published by Routledge in 2017. Her current research project focuses on women and dining culture in late nineteenth-century Paris. N a n n e B u u r m a n is an author, editor, curator and educator working as a researcher and lecturer in documenta and exhibition studies at the Kunsthochschule Kassel, where she has been part of the team building the documenta Institut since 2018. After graduating from Leipzig University, she was a member of the International Research Training Group InterArt at the Freie Universität Berlin and a visiting scholar at Goldsmiths College in London, supported by a DFG scholarship for her doctoral research on the gendered economies of curating. Buurman taught as an adjunct lecturer at the universities/art academies of Leipzig, Hildesheim, Bremen and Frankfurt/Main. Her research and publications focus on exhibition studies, the politics, economies and epistemologies of curating, the past and present of documenta, the shifting roles of race, class and gender in artistic and curatorial practice, as well as the transcultural conditions of cultural production in a global context. She co-edited documenta: Curating the History of the Present (with Dorothee Richter, 2017), Situating Global Art: Temporalities – Topologies – Trajectories (with Sarah Dornhof, Birgit Hopfener and Barbara Lutz, 2018) and serves as an editor of the research platform documenta studies, which she co-founded with Nora Sternfeld, Carina Herring, and Ina Wudtke in October 2018. B u rc u D o g r a m a c i ist Professorin für Kunstgeschichte an der LudwigMaximilians-Universität München. Sie forscht und publiziert zur Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart mit einem Schwerpunkt auf Exil und Migration, Fotografie und Fotobuch, textile Moderne, Architektur, Stadt, Skulptur der Weimarer Republik und Nachkriegszeit, Live Art. Im Jahr 2016

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zeichnete der Europäische Forschungsrat sie mit dem ERC Consolidator Grant aus. In ihrem Forschungsprojekt befasst sie sich mit sechs globalen Metropolen als Ankunftsstädten für geflüchtete Künstlerinnen und Künstler der Moderne. Publikationen (Auswahl): Arrival Cities. Migrating Artists and New Metropolitan Topographies in the 20th Century, hg. mit Mareike Hetschold, Leuven 2020; Handbook of Art and Global Migration. Theories, Practices, and Challenges, hg. mit Birgit Mersmann, Berlin/Boston 2019; Design Dispersed. Forms of Migration and Flight, hg. mit Kerstin Pinther, Bielefeld 2019; Heimat. Eine künstlerische Spurensuche, Köln 2016. Ja n E n g e l ke studierte Architektur an der ETH Zürich und der Bauhaus Universität Weimar. Daraufhin arbeitete er in Berlin an Publikationen, Architektur- und Ausstellungsprojekten. Seit 2019 promoviert er an der TU München bei Benedikt Boucsein zum Eigenheim in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte und der Zeitschrift Schöner Wohnen. Jan Engelke ist Stipendiat der Gerda-Henkel-Stiftung und assoziierter Kollegiat des DFG-Graduiertenkollegs 2227 Identität und Erbe. K a t h ri n H e i n z (Dr. phil.) ist Kunstwissenschaftlerin. Sie ist Leiterin und Geschäftsführerin des Mariann Steegmann Instituts. Kunst & Gender (MSI) sowie Leiterin des Forschungsfeldes wohnen+/–ausstellen in Kooperation mit dem Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik (IKFK) an der Universität Bremen. Gemeinsam mit Irene Nierhaus gibt sie die Schriftenreihe wohnen+/–ausstellen (transcript) heraus. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre beziehen sich auf die Kunst- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Konzeptionen von Künstler_innenschaft in der Moderne, Wohn- und Geschlechterforschung. Seit 2005 ist sie Mitherausgeberin der Fachzeitschrift FKW// Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur. Publikationen (Auswahl): Heldische Konstruktionen. Von Wassily Kandinskys Reitern, Rittern und heiligem Georg, Bielefeld 2015; Matratze/Matrize. Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur, hg. mit Irene Nierhaus, Bielefeld 2016 (wohnen+/−ausstellen, Bd. 3); FKW// Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, Nr. 64, 2018: Seitenweise Wohnen: Mediale Einschreibungen, hg. mit Katharina Eck und Irene Nierhaus; Zeichen/Momente. Vergegenwärtigungen in Kunst und Kulturanalyse, hg. mit Sigrid Adorf, Bielefeld 2019; Unbehaust Wohnen. Konflikthafte Räume in Kunst – Architektur – Visueller Kultur, hg. mit Irene Nierhaus, Bielefeld

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Biografien

2020 (wohnen+/–ausstellen, Bd. 7); Wohn/Raum/Denken. Politiken des Häuslichen in Kunst, Architektur und visueller Kultur, hg. mit Katharina Eck, Johanna Hartmann und Christiane Keim, Bielefeld 2021 (wohnen+/– ausstellen, Bd. 5); WohnSeiten. Visuelle Konstruktionen des Wohnens in Zeitschriften, hg. mit Irene Nierhaus und Rosanna Umbach, Bielefeld 2021 (wohnen+/–ausstellen, Bd. 8). C h r i s t i a n e Ke i m war bis 2021 Lektorin am Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen und ist Assoziierte Wissenschaftlerin am Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender. Studium der Kunstgeschichte und Germanistik an der Philipps-Universität Marburg. 1987 Promotion im Fach Kunstgeschichte mit einer Arbeit zur Stadtbauplanung im Klassizismus. 2004 Habilitation an der TU München mit einer Arbeit zu Geschlechterverhältnissen im Wohnungsbau der 1920er Jahre. 1994–2005 Redaktionsmitglied von FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur. Lehrt, schreibt und forscht zur Kunst- und Architekturgeschichte der Neuzeit (Schwerpunkt 18.–20. Jahrhundert), Wohnen, Erinnerungskultur/en, Geschlecht und Raum, Mode, Mensch-Tier-Beziehungen in der visuellen Kultur. Publikationen (Auswahl): „Betten und Matratzen an die Sonne“. Die Neue Wohnung und der Normalisierungs- und Sexualisierungsdiskurs in der Weimarer Republik, in: Irene Nierhaus, Kathrin Heinz (Hg.): Matratze/Matrize. Möblierung von Subjekt und Gesellschaft. Konzepte in Kunst und Architektur, Bielefeld 2016 (wohnen+/–ausstellen, Bd. 3), S. 205–221; Heim/Tier. Tier-Mensch-Beziehungen im Wohnen, hg. mit Silke Förschler und Astrid Silvia Schönhagen, Bielefeld 2019 (wohnen+/–ausstellen Bd. 6). P i o t r Ko rd u b a , Prof. Dr. habil., Kunsthistoriker. Seit 2004 wissenschaftlicher Assistent im Institut für Kunstgeschichte der Adam-Mickiewicz-Universität Posen, seit 2016 Direktor des Instituts. Arbeitsschwerpunkte: frühneuzeitliche Wohnkultur, Wohnkultur des 19. und 20. Jahrhunderts, Stadtforschung, Kunstgewerbe, Designgeschichte, deutsch-polnische Beziehungsgeschichte. Aktuelles Forschungsprojekt: Möbelherstellung in Posen 1945–1989. Bildung, Gestaltung, Produktion. Publikationen (Auswahl): Ludowość na sprzedaż [Volkstümlichkeit zum Verkauf], Warschau 2013; Ernst Stewner – ein deutscher Fotograf in Polen, hg. mit Dietmar Popp, Marburg 2014; Re-Konstruktionen. Stadt, Raum, Museum, hg. mit Dietmar Popp, Warschau 2019.

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B e r n a d e t t e K re j s ist Architektin und Forscherin am Forschungsbereich Wohnbau und Entwerfen der TU Wien. Ihre Arbeiten bewegen sich in einem transdisziplinären Forschungsfeld zwischen Architektur, Wohnbau und Visueller Kultur. In ihrem 2022 mit Auszeichnung abgeschlossenen Dissertationsprojekt beschäftigte sie sich mit der medialen Repräsentation von Wohnen durch digitale Plattformen und einer gegenhegemonialen Bildproduktion im Feld der Architektur. Sie ist Mitherausgeberin und Autorin der Bücher Cartography of Smallness (Wien 2018) und Mapping the Croatian Coast (Berlin 2020). Ihre Arbeit Ideals of the Home wurde auf der Biennale Architettura 2021 ausgestellt und in Platform Urbanism and Its Discontents (2021) publiziert. Sie war Mitglied der Arch+-Gastredaktion für die Ausgabe 244: Wien. Das Ende des Wohnbaus (als Typologie) (2021). Mit dem Claiming*Spaces-Kollektiv arbeitet sie zu feministischen Perspektiven in Architektur und Raumplanung. B u r k h a rd M e l t z e r , geboren 1979 in Halle/Saale, lebt in Zürich. Nach dem Studium der Fotografie in Dortmund und Zürich arbeitete er von 2003 bis 2007 im kuratorischen Team der Kunsthalle St. Gallen. Ab 2007 als freier Kurator tätig, zuletzt mit Projekten wie A chair, projected (2019). Als Autor veröffentlichte er in Magazinen wie artforum, form, frieze magazine sowie in Büchern zu Themen der Gegenwartskunst und des Designs. Er ist Co-Herausgeber u.a. von It’s not a Garden Table. Kunst und Design im erweiterten Feld (Zürich 2011), Ausstellen. Zur Kritik der Wirksamkeit in den Künsten (Zürich 2016). Seit 2006 ist Burkhard Meltzer zudem als Gastdozent und Forscher – hauptsächlich zur Rolle des Designs sowie transkulturellen Diskursen in der Gegenwartskunst – an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) tätig. Aktuell ist in diesem Zusammenhang die Monografie Das ausgestellte Leben. Design in Kunstdiskursen nach den Avantgarden (Berlin 2020, zugleich Dissertation Uni Wuppertal 2019) erschienen. M i r a A n n e l i Na ß , M.A., studierte Kunstgeschichte, Literatur- und Theaterwissenschaft in München und Florenz sowie Theorie und Geschichte der Fotografie an der Folkwang Universität der Künste. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeitet sie seit 2019 im Fachgebiet Kunstwissenschaft und Ästhetische Theorie an der Universität Bremen. Ihr Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit künstlerischer Überwachungskritik seit 9/11. Ihre Forschungsschwerpunkte sind zeitgenössische Kunst, insbesondere

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Biografien

Fotografie und zeitbasierte Medien, politische Ikonografie und Ästhetik der Überwachung sowie queerfeministische Kunsttheorie. Publikationen (Auswahl): Hito Steyerls How Not to Be Seen. Zur (künstlerischen) Kritik visueller (Selbst-)Kontrolle, in: Thorsten Erdbrügger, Werner Jung, Liane Schüller (Hg.): Mediale Signaturen von Überwachung und Selbstkontrolle, Bern 2021, S. 37–60; Architektur von unten? Eine Kritik komplexitätsreduzierender Praktiken bei Forensic Architecture, in: kritische berichte, H. 3, 2021, S. 124–138. Mira Anneli Naß ist zudem als Kunstkritikerin tätig und schreibt u.a. regelmäßig für Camera Austria und die taz. I re n e N i e r h a u s , bis 2021 Professorin für Kunstwissenschaft und ästhetische Theorie an der Universität Bremen und Leiterin des Mariann Steegmann Instituts. Kunst & Gender in Kooperation mit der Universität Bremen. Gründungsprofessorin des Forschungsfeldes wohnen+/–ausstellen und der gleichnamigen Schriftenreihe mit Kathrin Heinz. Seit 2012 im Beirat der FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur. Mitglied des Wohnprojektes Gleis 21 Wien. Forschungen zur visuellen und räumlichen Kultur, insbesondere zu Beziehungen zwischen Kunst, Architektur und bildnerischen Medien des 19. und 20. Jahrhunderts wie der Gegenwart. Wohnen wird als zentrale Kategorie gesellschaftlicher Raumbildung und entsprechendes Prozessgefüge von Bild, Raum und Subjekten untersucht. Der Fokus liegt auf Geschichte, Gesellschaftspolitik und dem Konzeptiven des Wohnens in verschiedenen Formen und Formaten des Visuellen. Publikationen zuletzt u.a.: Unbehaust Wohnen. Konflikthafte Räume in Kunst – Architektur – Visueller Kultur, hg. mit Kathrin Heinz, Bielefeld 2020 (wohnen+/–ausstellen, Bd. 7); WohnSeiten: Visuelle Konstruktionen des Wohnens, hg. mit Kathrin Heinz und Rosanna Umbach, Bielefeld 2021 (wohnen+/–ausstellen, Bd. 8); Wohnwissen − Wohnsubjekte − Wohnkritik: Vom 20. ins 19. Jahrhundert und zurück, in: figurationen. gender literatur kultur: Themenheft: ‚Sich einrichten‘, H. 2, 2021, S. 43−58; Das eingerichtete Leben: Zu Zeige- und Bildpolitiken des Wohnens im Roten Wien, in: Arch+ Zeitschrift für Architektur und Urbanismus, H. 244, 2021: Wien. Das Ende des Wohnbaus (als Typologie), S. 78−83. A m e l i e O c h s studierte Kunst- und Bildgeschichte, Geschichte und Humanities in Berlin, Paris und Dresden. Sie ist seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen in Kooperation mit dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender. Hier ist sie Mitglied

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Ästhetische Ordnungen und Politiken des Wohnens

der Forschungsgruppe wohnen+/–ausstellen sowie des internationalen Forscher_innennetzwerks [wohn]zeitschriften. Außerdem ist sie Redaktionsmitglied der ArtHist-Mailinglist. In ihrer Dissertation untersucht sie den Zusammenhang von Zeigestrategien und Bildkonsum in Bezug auf Stillleben und Sachfotografien am Beginn des 20. Jahrhunderts. Publikationen (Auswahl): gemeinsam mit Rosanna Umbach: Wohnseiten. The interior(s) of home journals, in: Sequitur, H. 1, Jg. 7, 2021: Interiors, hg. von İkbal Dursunoğlu, http://www.bu.edu/sequitur/2021/01/11/ wohnseiten-the-interiors-of-home-journals; Einrichtung einer guten Gegenwart. Zeigestrategie und Ordnungsbehauptung im Bilderbuch des Deutschen Werkbundes für junge Leute (1958), in: Irene Nierhaus, Kathrin Heinz, Rosanna Umbach (Hg.): WohnSeiten. Visuelle Konstruktionen des Wohnens in Zeitschriften, Bielefeld 2021 (wohnen+/–ausstellen, Bd. 8), S. 204–227. P h i l i p p O s w a l t ist seit 2006 Professor für Architekturtheorie und Entwurf an der Universität Kassel und hat seit 1999 ein Projektbüro, in dem er Studien, Ausstellungen und Projekte realisiert. 1988–1994 Redakteur der Architekturzeitschrift Arch+; 1996/97 Mitarbeiter im Büro OMA/ Rem Koolhaas; Co-Leiter des Europäischen Forschungsprojektes Urban Catalyst (2001–2003); Mitinitiator der kulturellen Zwischennutzung des Palasts der Republik ZwischenPalastNutzung/Volkspalast (2004); Leiter des Projektes Schrumpfende Städte der Kulturstiftung des Bundes (2002–2008); 2009–2014 Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau; Mitinitiator von projekt bauhaus (2015); Mitglied des Projektbeirats für die Gründung des documenta Instituts Kassel (seit 2016). E l i a n a Pe ro t t i (Dr. phil.) ist Kunst-, Architektur- und Städtebauhistorikerin und arbeitet in der Schweiz als Forscherin und Publizistin. Aktuell leitet sie das Forschungsprojekt Saffa 1958. Eine nationale Bühne für Schweizer Architektinnen und Gestalterinnen des schweizerischen Nationalfonds (SNF, https://www.saffa1958-snf.ch). Seit 1991 konzipiert und führt sie an verschiedenen Universitäten und Hochschulen Forschungsprojekte zu architektur- und städtebauhistorischen wie auch zu theoretischen und kulturhistorischen Fragestellungen. Ihr aktueller Fokus liegt im Bereich der Genderstudien auf einer erneuerte Architektur- und Städtebaugeschichte. Publikationen (Auswahl): Frauen blicken auf die Stadt. Architektinnen, Planerinnen, Reformerinnen. Theoretikerinnen des Städtebaus II, hg. mit

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Biografien

Katia Frey, Berlin 2018; Theoretikerinnen des Städtebaus. Texte und Projekte für die Stadt, hg. mit Katia Frey, Berlin 2015; Anthologie zum Städtebau, 3 Bde., hg. mit Vittorio Magnago Lampugnani und Katia Frey, Berlin 2005, 2008, 2014. P i e r re - E m m a n u e l Pe r ri e r d e l a B â t h i e (b. 1984, Vienna) has been a program director and teacher at the Catholic University of Paris since 2010. A former student at the École Normale Supérieure in Paris, he is completing his PhD at the École du Louvre and the University of Poitiers. He works on photographic strategies developed by artists of the 20th century (Pablo Picasso, Marcel Duchamp, Salvador Dalí, Joseph Beuys, Andy Warhol and Yves Klein) to stage their own artistic mythologies. He is particularly interested in the reception and remediation of “photo-biographical” stories by the public, whether experts or amateurs. His research combines semiology, mediology and narratology, and highlights the concepts of creative act and photogenic construction. Since 2012, he has co-directed the annual cycle of conferences Jeudis de l’Art at the Catholic University of Paris. A l e x i a Po o t h (Dr. phil.) ist Kunst- und Kulturhistorikerin. Nach einem Studium in Berlin und Madrid promovierte sie 2012 an der Universität Bremen. Neben spanischer und US-amerikanischer Kunst- und Kulturgeschichte sind ihre Forschungsschwerpunkte in Sammlungspolitiken, Museumsgeschichte, Wohnmoderne sowie Raum- und Autorschaftstheorien. Nach beruflichen Stationen bei den Staatlichen Museen zu Berlin/Neuen Nationalgalerie und der Stiftung Bauhaus Dessau arbeitete sie von 2019 bis 2021 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Historischen Museum Berlin. Im Anschluss an die Sonderausstellung documenta. Politik und Kunst (2021), in der sie den Bereich Die documenta und der Osten kuratierte, erarbeitet sie derzeit die Publikation Exhibition politics. Die documenta und die DDR (AT) in Kooperation mit dem documenta-archiv. Gemeinsam mit Raphael Gross und Julia Voss et al. gab sie 2021 den Katalog documenta. Politik und Kunst heraus, mit Claudia Perren editierte sie 2019 den Katalog Haus Gropius // Zeitgenössische. Bauhaus Residenz-Programm 2016–2018. 2014 erschien ihre Dissertation Kunst. Raum. Autorschaft über den Nachlass des US-amerikanischen self-taught-Künstler C.H. Phillips und das Konzept der Autorgeografie.

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Ästhetische Ordnungen und Politiken des Wohnens

A s t ri d S i lv i a S c h ö n h ag e n , M.A., ist Kunst- und Medienwissenschaftlerin und als freie Lektorin, Kuratorin und Kunstvermittlerin tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die politische Ikonografie des Interieurs, die materielle Alltagskultur der Moderne (insbes. exotistische Bildtapeten um 1800), Verschränkungen von Architektur-, Mode- und Bekleidungsdiskursen in der zeitgenössischen Kunst sowie Tier-Mensch-Beziehungen im Wohnen. Sie ist Mitinitiatorin und -leiterin des Projekts c/o Habitat Tier im Forschungsfeld wohnen+/–ausstellen an der Universität Bremen. Publikationen (Auswahl): Habitate der Mobilität – Mary Mattinglys Wearable (Portable) Homes für eine postapokalyptische Ära, in: Irene Nierhaus, Kathrin Heinz (Hg.): Unbehaust Wohnen. Konflikthafte Räume in Kunst – Architektur – Visueller Kultur, Bielefeld 2020 (wohnen+/–ausstellen, Bd. 7), S. 271–291; Heim/Tier. Tier-Mensch-Beziehungen im Wohnen, hg. mit Silke Förschler und Christiane Keim, Bielefeld 2019; Das Interieur als Bühne. Dufours tapeziertes Südsee-Arkadien und die Verinnerlichung naturalisierter ,Geschlechtscharaktere‘ im Wohnen, in: Gerald Schröder, Christina Threuter (Hg.): Wilde Dinge in Kunst und Design. Aspekte der Alterität seit 1800, Bielefeld 2017, S. 30–59; Interieur und Bildtapete. Narrative des Wohnens um 1800, hg. mit Katharina Eck, Bielefeld 2014. Su s a n S i d l a u s ka s is Chair of the Department of Art History at Rutgers University, New Brunswick. She moved to Rutgers in 2005 after spending 12 years teaching at the University of Pennsylvania. Since 2005 she has been affiliated with the Department of Women’s and Gender Studies at Rutgers University. She received her PhD in 1989 with a dissertation on A “Perspective of Feeling”: The Expressive Interior in Nineteenth Century Realist Painting. She has been awarded several fellowships and honors, including the Athenaeum Literary Award for Non-Fiction for Body, Place and Self in Nineteenth-Century Painting (Cambridge University Press, 2000) in 2002, and the Dedalus Foundation’s Robert Motherwell Book Award for Cézanne’s Other: The Portraits of Hortense (University of California Press, 2009) in 2010. The main focus of her work is on questions of gender, and her research interests include modernism and the ‘long nineteenth-century’. Publications (selected): Resisting Narrative: The Problem of Edgar Degas’s Interior, in: The Art Bulletin, December 1993, pp. 671–696; Contesting Femininity: Vuillard’s Family Pictures, in: The Art Bulletin, March 1997, pp. 85–111; “Psyche and Sympathy: Staging Interiority in the Early Modern Home,” in: Christopher Reed (ed.): Not at Home: Resisting Domesticity in Early

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Biografien

Modernism, London 1996, pp. 65–80; Not Beautiful: A Counter-Theme in the History of Women’s Portraiture, in: Susan Shifrin (ed.): Re-Framing Representations of Women, London 2008, pp. 183–198; Inside Out: Cézanne’s Perforated Wall, in: Ewa Lajer-Burcharth, Beate Söntgen (eds.): Interiors and Interiority, Berlin/Boston 2016; John Singer Sargent and the Physics of Touch (publication in progress). A n n e t t e T i e t e n b e rg ist Professorin für Kunstwissenschaft mit dem Schwerpunkt 19./20. Jahrhundert an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. 2017 Curator in Residence am Belvedere Museum Wien. 2014 Senior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald. Sie studierte Kunstwissenschaft und Neuere deutsche Philologie in Bonn und Berlin. 2003 wurde sie mit der diskursanalytischen Untersuchung Konstruktionen des Weiblichen. Eva Hesse: ein Künstlerinnenmythos des 20. Jahrhunderts (Berlin 2005) an der TU Berlin promoviert. Sie forscht und publiziert vorrangig zur Geschichte der Kunstausstellung, zum Status von Ausstellungskopien und zu Bildern des Wohnens. Publikationen (Auswahl): Was heißt ‚kuratieren‘ heute? Potenziale für transnationale Kooperationen, Stuttgart 2021 (ifa-Edition Kultur und Außenpolitik); Künstlerische Selbstdarstellungen auf Websites als Post-Studio-Praxis, in: Matthias Krüger, Léa Kuhn, Ulrich Pfisterer (Hg.): Pro domo. Kunstgeschichte in eigener Sache, Paderborn 2021, S. 349–378; Die Hausfrau als Richterin über Gut und Böse. Vergleichendes Sehen als ideologisches Instrument in Wohnratgebern der NS-Zeit, in: Irene Nierhaus, Kathrin Heinz, Rosanna Umbach (Hg.): WohnSeiten. Visuelle Konstruktionen des Wohnens in Zeitschriften, Bielefeld 2021 (wohnen+/–ausstellen, Bd. 8), S. 182–203. Näheres unter http://annettetietenberg.weebly.com/ Ro s a n n a Um b a c h , Kunstwissenschaftlerin aus Bremen, forscht zu Un:Gewohntem und Queer:Feministischem in Kunst, Architektur und Gesellschaft. Sie promoviert als Mariann-Steegmann-Stipendiatin zu visuellen Politiken von Wohnen, Gender und Familie im Display der Zeitschrift Schöner Wohnen (1960–1979). Ihr Dissertationsprojekt Un/Gewohnte Beziehungsweisen untersucht Wohnkonzepte und die darüber angelegten Beziehungsweisen, die im Display der Wohnzeitschrift ins Bild gesetzt und eingerichtet wurden. Seit 2015 ist sie Mitarbeiterin am Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender und Mitglied der dort angesiedelten Forschungsgruppe wohnen+/–ausstellen sowie des internationalen

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Ästhetische Ordnungen und Politiken des Wohnens

Forscher_innennetzwerks [wohn]zeitschriften. Publikationen (Auswahl): „Mehr Demokratie ins Wohnzimmer!“ Die Umnordnung der Wohnverhältnisse im Schöner-Wohnen-Magazin der 1960er und 1970er Jahre, in: Irene Nierhaus, Kathrin Heinz, Rosanna Umbach (Hg.): WohnSeiten. Visuelle Konstruktionen des Wohnens in Zeitschriften, Bielefeld 2021 (wohnen+/– ausstellen, Bd. 8), S. 231–259; (gemeinsam mit Amelie Ochs) Wohnseiten. The interior(s) of home journals, in: Sequitur, H. 1, Jg. 7, 2021: Interiors, hg. von İkbal Dursunoğlu, http://www.bu.edu/sequitur/2021/01/11/ wohnseiten-the-interiors-of-home-journals. E l e n a Z a n i c h e l l i , italienische Kunsthistorikerin und Kuratorin, studierte an den Universitäten Parma, Bonn und Zürich und promovierte 2012 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2018 ist sie Juniorprofessorin für Kunstwissenschaft und Ästhetische Theorie an der Universität Bremen, seit 2021 Leiterin des Mariann Steegmann Instituts. Kunst & Gender. Zudem ist sie Mitglied des Kuratoriums der Kulturstiftung der Länder. Ihr Buch Privat – bitte eintreten! Rhetoriken des Privaten in der Kunst der 1990er Jahre erschien 2015. Derzeit arbeitet sie an einem Forschungsprojekt zum Thema Family Values – zur visuellen Re-Artikulation eines konfliktbeladenen Modells. Im Frühjahr 2022 ist sie Gerda Henkel Visiting Professor am Department of German Studies der Stanford University. P h i l i p p Z i t z l s p e rge r (Prof. Dr.) studierte Kunstgeschichte (Archäologie und Neuere Geschichte) in München und Rom, promovierte über die Papst- und Herrscherporträts des Gianlorenzo Bernini. 2002–2010 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunstgeschichtlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin. Zusammen mit Arne Karsten rief er das Forschungsprojekt REQUIEM – Die römischen Papst- und Kardinalsgrabmäler der Frühneuzeit ins Leben; Habilitation im Sommersemester 2007 an der Humboldt-Universität zu Berlin zum Thema Kleider sprechen Bände. Kostümkunde als Methode der Kunstgeschichte erläutert an Beispielen von Crivelli, Dürer, Giorgione, Tizian, Raffael und Bernini; maßgebliche Publikation hierzu Dürers Pelz und das Recht im Bild. Kleiderkunde als Methode der Kunstgeschichte (Berlin 2008). 2010–2021 Professor für Kunst- und Designgeschichte an der Hochschule Fresenius, Fachbereich Design in Berlin. Seit 2022 Professor für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte am Institut für Kunstgeschichte der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunk-

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Biografien

te: Kunst- und Designgeschichte der Frühneuzeit und Moderne. Publikationen (Auswahl): Über die Hierarchie der Sinne. Das Begreifen des Designs als Stigmatisation, in: kritische berichte, H. 4, 2019, S. 8–19; Das Design-Dilemma zwischen Kunst und Problemlösungsdesign, Berlin 2021.

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Kunst- und Bildwissenschaft Cathrin Klingsöhr-Leroy

Buch und Bild – Schrift und Zeichnung Schreiben und Lesen in der Kunst des 20. Jahrhunderts Juni 2022, 108 S., Klappbroschur, 1 SW-Abbildung, 21 Farbabbildungen 15,00 € (DE), 978-3-8376-6123-1 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6123-5

Ingrid Hoelzl, Rémi Marie

Common Image Towards a Larger Than Human Communism 2021, 156 p., pb., ill. 29,50 € (DE), 978-3-8376-5939-9 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5939-3

Ivana Piliã, Anne Wiederhold-Daryanavard (Hg.)

Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft Transkulturelle Handlungsstrategien der Brunnenpassage Wien 2021, 244 S., kart. 29,00 € (DE), 978-3-8376-5546-9 E-Book: PDF: 25,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5546-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kunst- und Bildwissenschaft Birgit Eusterschulte, Christian Krüger (Hg.)

Involvierte Autonomie Künstlerische Praxis zwischen Engagement und Eigenlogik August 2022, 230 S., kart., 10 SW-Abbildungen 35,00 € (DE), 978-3-8376-5223-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5223-3

Marlene Bart, Johannes Breuer, Alex Leo Freier (Hg.)

Atlas der Datenkörper 1 Körperbilder in Kunst, Design und Wissenschaft im Zeitalter digitaler Medien März 2022, 172 S., kart. 34,00 € (DE), 978-3-8376-6178-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-6178-5

Petra Lange-Berndt, Isabelle Lindermann (Hg.)

Dreizehn Beiträge zu 1968 Von künstlerischen Praktiken und vertrackten Utopien Februar 2022, 338 S., kart. 32,00 € (DE), 978-3-8376-6002-9 E-Book: PDF: 31,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6002-3

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