Grenzen des Streikrechts in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge: Schutz der Bürger vor gezielter Schädigung durch Streiks [1 ed.] 9783428498765, 9783428098767

Gegenstand der Untersuchung ist die Frage, inwieweit die Bürger arbeitskampfbedingte Eingriffe einer kampfführenden Part

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German Pages 176 Year 2000

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Grenzen des Streikrechts in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge: Schutz der Bürger vor gezielter Schädigung durch Streiks [1 ed.]
 9783428498765, 9783428098767

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INGE SCHERER

Grenzen des Streikrechts in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge

Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 175

Grenzen des Streikrechts in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge Schutz der Bürger vor gezielter Schädigung durch Streiks

Von

Prof. Dr. Inge Scherer

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Scherer, loge: Grenzen des Streikrechts in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge : Schutz der Bürger vor gezielter Schädigung durch Streiks / von Inge Scherer. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht; Bd. 175) ISBN 3-428-09876-5

Alle Rechte vorbehalten

© 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 3-428-09876-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069

Vorwort Bei Diskussionen über das vorliegende Thema bin ich scharfen persönlichen Angriffen und Anfeindungen ausgesetzt gewesen. Dennoch wage ich die Veröffentlichung dieser Untersuchung. Zum einen möchte ich ganz einfach von meiner verfassungsrechtlich garantierten Wissenschafts- und Meinungsfreiheit Gebrauch machen; zum anderen vertraue ich - trotz gegenteiliger Erfahrungen - darauf, daß eine sachliche Auseinandersetzung mit abweichenden Meinungen noch nicht außer Übung gekommen ist. Für sachliche Kritik bin ich jederzeit offen. Wenn es mir gelingen sollte, mit der vorliegenden Untersuchung eine Diskussion auszulösen, würde mich dies aufrichtig freuen. Begonnen habe ich die Arbeit nach meiner Ernennung zur Professorin an der Universität Würzburg im Februar 1997; beendet habe ich das Manuskript im Oktober 1998. Rechtsprechung und Literatur befinden sich auf dem Stand von August 1999. Hinsichtlich der Literatur habe ich bewußt keinen Wert auf die vollständige Verwertung sämtlicher existierender literarischen Äußerungen zu dem hier behandelten Problembereich gelegt. Für freundliche Unterstützung danke ich Herrn Dr. Hartmut Simon vom Archiv der ÖTV-Hauptverwaltung in Stuttgart und der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände in Köln, die mir empirisches Material zur Verfügung gestellt haben; meinem Mitarbeiter, Herrn Gerrit Hölzle, danke ich für eine umfangreiche Recherche via Internet. Frau Marlene Wallmann und Frau Angelika Straß-Klingauf sage ich Dank für die sorgfliltige Betreuung des Manuskripts.

Inge Scherer

"Ich kann beim besten Willen nicht sehen - und da brauche ich gar nicht erst im Krankenhaus gelegen zu haben zu diesem Zeitpunkt -, warum jemand auf meine Kosten, also dadurch, daß ich da nun unversorgt liegen bleibe, die Öffentlichkeit auf seine Streikbedürfnisse und seine tariflichen Ziele soll aufmerksam machen dürfen." Eduard Picker (in: Lieb u.a., S. 87)

Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel Einleitung 13 I. Der Gegenstand der Untersuchung ......................................................................... 13 11. Der Gang der Untersuchung ................................................................................... 18 2. Kapitel Empirische Daten und Fakten 21 I. Überblick ................................................................................................................ 21 11. Auswirkungen der Streiks ...................................................................................... 25 111. Resümee ................................................................................................................. 30 3. Kapitel Die faktische Konstellation beim Streik 32 I. Problemstellung ...................................................................................................... 32 11. Unterschiede bei der Betroffenheit unbeteiligter Dritter ........................................ 34 l. Die Arbeitsbereiche außerhalb der Daseinsvorsorge ......................................... 34 2. Die Arbeitsbereiche der Daseinsvorsorge .......................................................... 36 111. Resümee ................................................................................................................. 38

I. 11.

III.

IV. V.

4. Kapitel 40 Stellung und Funktion des Streikrechts Gegenstand und Gang der Untersuchung .............................................................. .40 Materialien zum Grundgesetz................................................................................. 40 I. Beratungen im Parlamentarischen Rat ............................................................... 40 2. Folgerungen ............................................................................................ " ......... 44 3. Einführung des Art. 9 III 3 GG .......................................................................... 45 Die Beurteilung des Streikrechts durch Rechtsprechung und Literatur ................ .47 1. Die Rechtsprechung ........................................................................................... 47 2. Die Literatur. ...................................................................................................... 48 3. Folgerungen ....................................................................................................... 50 Konsequenzen für die Stellung des Streikrechts .................................................... 52 Die ökonomische Funktion des Streikrechts .......................................................... 52 I. Äußerungen in den Materialien zum Grundgesetz, in der Rechtsprechung und der Literatur ................................................................................................ 52 2. Die Problematik einseitiger Sichtweise .............................................................. 53

10

I. 11. III. IV. V. VI. VII.

Inhaltsverzeichnis 5. Kapitel Generelle Schranken des Streikrechts 57 Gegenstand der Untersuchung ............................................................................... 57 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Schranke des Streikrechts ........................ 59 Die Bindung an das Gemeinwohl als Schranke des Streikrechts ........................... 60 Herstellung praktischer Konkordanz als Schranke des Streikrechts ...................... 63 Keine Schrankenlosigkeit eines Rechts .................................................................. 64 Maßgebliche generelle Schranken des Streikrechts ............................................... 65 Ergebnis ................................................................................................................. 66

6. Kapitel Streikverbot für Beamte 67 I. Einleitung .............................................................................................................. 67 11. Gesichtspunkte zur Lösung 68 I. Die Funktion des Streikrechts ........................................................................... 69 2. Gesamtrechtsstatusvergleich .......... .. ................................................................. 71 111. Ergebnis ................................................................................................................. 73

I. 11.

III. IV.

I. 11.

III.

IV. V.

7. Kapitel Streikverbot für Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst? 75 Einleitung .............................................................................................................. 75 Gewährleistung des Streikrechts ............................................................................ 76 I. Einfachgesetzliche Rechtslage ........................................................................... 76 2. Verfassungsrechtliche Bestimmungen ............................................................... 76 Ausschluß des Streikrechts?................................................................................... 78 Ergebnis ................................................................................................................. 80 8. Kapitel 81 Eingriffsbefugnisse in fremde Rechtskreise Problemskizzierung ............................................................................................... 81 Zivilrechtliche Regelungen ................................................................................... 82 I. § 904 BGB ........................................................................................................ 82 2. Andere zivilrechtliche Regelungen ................................................................... 85 3. Ergebnis ............................................................................................................ 87 Strafrechtliche Regelungen .................................................................................... 88 I. § 34 StGB .......................................................................................................... 88 2. Ergebnis ............................................................................................................. 91 Gesamtergebnis ...................................................................................................... 91 Folgerungen .......................................................................................................... 92

Inhaltsverzeichnis

I. 11.

111.

IV.

I. 11.

III.

IV.

11

9. Kapitel Rechtsprechung und Literatur zum Streikrecht in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge 94 Gegenstand der Darstellung ................................................................................... 94 Die Rechtsprechung .............................................................................................. 95 1. Das Bundesarbeitsgericht. ................................................................................. 95 2. Der Bundesgerichtshof.~ .................................................................................... 97 3. Das Bundesverfassungsgericht ......................................................................... 98 Die Literatur ........................................................................................................... 99 1. Umfassende Uneinigkeit .................................................................................... 99 2. Die Auffassungen im einzelnen ......................................................................... 99 Ergebnis ............................................................................................................... 103 10. Kapitel Zulässigkeitsgrenzen eines Streiks in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge 105 Einleitung ............................................................................................................ 105 Generelle Kriterien flir die Unzulässigkeit eines Streiks ...................................... 106 1. Systemimmanente Gesichtspunkte der Koalitionsfreiheit.. .............................. 106 2. Systemimmanente Gesichtspunkte der Verfassung .......................................... 108 a) Höherrangige Rechte ................................................................................... 109 b) Gleichrangige Rechte .................................................................................. 110 3. Kongruenz der systemimmanenten Lösungsgesichtspunkte ............................ I13 4. Kongruenz allgemeiner Rechtsprinzipien und systemirnrnantener Lösungsgesichtspunkte .................................................................................... 114 Konkrete Kriterien flir die Unzulässigkeit einer Arbeitskampfrnaßnahrne .......... 115 1. Gefährdung höherrangiger Rechte ................................................................... 116 2. Gezielte Drittschädigung ................................................................................. 117 Zusammenfassung ............................................................................................... 118

11. Kapitel 119 Unzulässigkeit konkreter Streiks I. Unzulässigkeit eines Streiks wegen Gefährdung höherrangiger Rechtsgüter ...... 119 1. Wasserversorgung ........................................................................................... 119 2. Fernwärme ...................................................................................................... 120 3. Gas und Elektrizität ........................................................................................ 120 4. Ärztliche und pflegerische Versorgung .......................................................... 120 5. Feuerwehr ....................................................................................................... 121 6. Polizei und Organisationen der Notfallhilfe ................................................... 122 7. Kommunikationsdienste ................................................................................. 122 8. Abwasserentsorgung ....................................................................................... 123 9. Müllabfuhr ...................................................................................................... 123 10. Bestattungswesen ............................................................................................ 124 11. Öffentliche Verkehrsmittel ............................................................................. 124

12

Inhaltsverzeichnis

12. Zulässigkeit von an sich unzulässigen Streiks bei Vorhandensein eines Notdienstes? .................................................................................................... 125 II. Unzulässigkeit eines Streiks wegen gezielter Drittschädigung ............................ 126 1. Öffentliche Verkehrsmittel .............................................................................. 127 2. Schulwesen ...................................................................................................... 128 3. Kindergärten, Kinder- und Altentagesstätten ................................................... 129 4. Sozialämter ...................................................................................................... 130 5. Finanzämter und Baubehörden ........................................................................ 130 6. Krankenkassen ................................................................................................. 131 7. Zulässigkeit von an sich unzulässigen Streiks bei Vorhandensein eines Notdienstes? ..................................................................................................... 131 III. Verfassungskonformität ....................................................................................... 132 IV. Ökonomische Rechtfertigung .............................................................................. 134

1. II.

IlI.

IV.

12. Kapitel Individualansprüche der betroffenen Bürger 138 Problemstellung ................................................................................................... 138 Ansprüche aus § 823 I BGB ................................................................................. 139 1. Allgemeines ..................................................................................................... 139 2. Schadensersatzansprüche ................................................................................. 140 3. Unterlassungsansprüche ................................................................................... 141 Ansprüche aus § 826 BGB ................................................................................... 143 1. Allgemeines ..................................................................................................... 143 2. Schadensersatzansprüche ................................................................................. 143 3. Unterlassungsansprüche ................................................................................... 147 Ansprüche aus § 823 II BGB ............................................................................... 148 1. Arbeitskampfgrenzen als Schutzgesetze .................... ...................................... 148 2. Literatur und Rechtsprechung .......................................................................... 149 3. Gesichtspunkte zur Lösung .............................................................................. 151 4. Schadensersatzansprüche und Unterlassungsansprüche................................... 153

13. Kapitel Durchsetzung der Ansprüche 157 1. Faktische Klagebereitschaft ................................................................................. 157 II. Einstweiliger Rechtsschutz ................................................................................... 158 III. Unterlassungs- und Schadensersatzklagen ........................................................... 162 14. Kapitel Zusammenfassung

163

Literaturverzeichnis ................................................................................................... 169

Sachregister ................................................................................................................ 173

1. Kapitel:

Einleitung I. Der Gegenstand der Untersuchung "Durch die fortschreitende wirtschaftliche Verflechtung und das Erstarken der Verbände ist ein neuer Typ des Arbeitskampfes möglich geworden, der die Idylle der Privatfehde verlassen hat und in ganz andere Dimensionen ausgreift. Die Besonderheit ... liegt darin, daß zu dem Interessengegensatz zwischen den sozialen Gegenspielern ein neuer hinzukommt: Der Interessengegensatz zwischen eben diesen Gegenspielern auf der einen Seite und den Dritten bzw. der Allgemeinheit auf der anderen Seite. Die neue Frontstellung zeigt sich darin, daß es für die Drittbetroffenen keinen Unterschied macht, ob etwa der Ausfall der Stromversorgung auf einen Streik oder einer Aussperrung beruht oder eine Folge beidseitiger Kampfrnaßnahmen ist." Diese Feststellung, die Hugo Seiter bereits 1975 1 traf, war damals angesichts von mehr als fünf Jahrzehnten Erfahrung mit Arbeitskämpfen im Bereich der Daseinsvorsorge evident. Bereits in der Weimarer Republik fanden Arbeitskämpfe in lebensnotwendigen Versorgungsbetrieben statt; so urteilte Bruno Borchardt schon 1922 2 : "Aber gerade der letzte Berliner Kommunalstreik mit seiner brutalen Gefiihrdung des Lebens und der Gesundheit der gesamten Bevölkerung durch die Absperrung des Wassers hat die Arbeiter zum Nachdenken veraniaßt und ihnen klargemacht, daß die städtischen Betriebe zum Wohl der Gesamtheit funktionieren müssen, und daß sie nicht der Willkür der in ihnen tätigen Arbeiter, Angestellten und Beamten überlassen bleiben dürfen." Angesichts der Tatsache, daß fast 50 Jahre später Wolfgang Däubler ungeachtet aller dieser Erfahrungen konstatiert, die Absperrung der Wasser- und Stromversorgung für einen Tag sei akzeptabel, wenn durch vorherige Bekanntgabe des Termins die Betroffenen in die Lage versetzt würden, die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen (wobei allerdings offen bleibt, wie dies für sie möglich sein soll), und daß bei Gas- und Fernheizwerken sogar eine noch längere Unterbrechung zulässig seP könnte man fast resigniert feststellen, daß eine Streikrecht und Aussperrungsrecht, 1975, S. 542. SozMH 58 (1922), 203 ff., 205. 3 Däubler, S. 232 f. I

2

14

1. Kap.: Einleitung

juristische Untersuchung über die Zulässigkeit dieser Streiks im Bereich der Daseinsvorsorge von vorne herein auf Ablehnung und Desinteresse stoßen wird. Da es jedoch eine der wesentlichen Aufgaben der Rechtswissenschaft ist, Konflikte, die in der Rechtswirklichkeit existieren, juristisch zu erfassen und eine tragfähige Konfliktlösung zu erarbeiten, soll diese Untersuchung allen Widrigkeiten zum Trotz hier unternommen werden. In unserer modemen, hochkomplexen Industriegesellschaft, in der der Staat immer weitere Bereiche der Daseinsvorsorge mit der Versorgung mit lebenswichtigen Gütern über die Entsorgung von Schad- und Reststoffen bis hin zur täglichen Gewährleistung der alleine schon zur Berufsausübung unerläßlichen Mobilität von Millionen von Pendlern an sich gezogen hat, bedeuten selbst kleine Unregelmäßigkeiten und Einschnitte in dieses "Netz" der Daseinsvorsorge empfindliche Nachteile für die betroffenen Bürger: Autark in dem Sinne, daß jeder Bürger für seinen eigenen täglichen Lebensbedarf vollständig selbst sorgen kann, ist spätestens seit der flächendeckenden Einführung der öffentlichen Wasserversorgung niemand mehr. Jedoch ist das Angewiesensein auf die Wasserversorgung hierbei nur die berühmte "Spitze des Eisberges". Auch in vielen anderen Bereichen berührt die mangelnde Fähigkeit des einzelnen, für sich selbst zu sorgen, seine physische Existenzgrundlage: Die ständige Einsatzbereitschaft der Feuerwehr ist bei jedem Brand von lebensentscheidender Bedeutung; Ähnliches gilt von der Einsatzbereitschaft der Polizei, des Technischen Hilfswerks und anderer Organisationen der Katastrophen- und Notfallhilfe. Das Angewiesensein auf Strom, Gas und Fernwärme kann - je nach der Person des Betroffenen und den Umständen - gleichfalls existenznotwendig sein (Kleinkinder oder Kranke im Winter) oder zumindest erhebliche Bedeutung für die Gesunderhaltung haben. Welche Konsequenzen eine flächendekkend unterbliebene Müllbeseitigung hat, ist hinlänglich bekannt; entsprechendes gilt für das Bestattungswesen. Auf den erstgenannten Bereich wird zurückzukommen sein. 4 Die Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen in Krankenhäusern und Pflegeheimen ist zur Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit erforderlich, in manchen Fällen ist sofortige ärztliche bzw. pflegerische Versorgung lebensnotwendig. Etwas anders gelagert sind die Konsequenzen von ausbleibenden Versorgungsleistungen im öffentlichen Verkehr: Zwar kann ein durch eine Arbeitseinstellung in den Betrieben der öffentlichen Verkehrsmittel ausgelöstes Verkehrschaos im Zweifel zu Gesundheits- oder Lebensbedrohungen führen, etwa dann wenn Rettungs- oder Einsatzwagen nicht rechtzeitig zu Unflillen oder sonstigen Notfällen gelangen können; typischerweise führt das Unterbleiben einer Versorgung in diesem Bereich jedoch "nur" zu einem drastischen Anstieg des Individualverkehrs und dadurch zu einer Vervielfachung der Fahrtzeit zum • Vgl. 2. Kapitel H.

I. Der Gegenstand der Untersuchung

15

Arbeitsplatz, oft gefolgt von Verdienstausfall der Erwerbstätigen; hierauf wird zurückzukommen sein. 5 Schließen Schulen oder Kindergärten, so hat dies erhebliche Konsequenzen für die betroffenen Kinder und ihre Eltern. Ähnlich liegen auch die Konsequenzen einer unterbliebenen Versorgung im Fernmelde- und Postwesen: Die Einschnitte sind nur in seltenen Fällen gesundheits- und lebensbedrohend, typischerweise führen sie zu weniger gravierenden, oft aber finanziell spürbaren Folgen. Dieser flüchtige Rundblick über die Bereiche der Daseinsvorsorge zeigt, daß keineswegs nur die berüchtigte Absperrung des Trinkwassers das Problem bildet: Mit fortschreitender Komplexität und Vernetzung der Lebensverhältnisse sind immer mehr Dienstleistungen in den Bereich der nötigen Grundversorgung gelangt, ohne die ein Leben in den hochkomplexen westlichen IndustriegeseIlschaften, zumal in Ballungsräumen, nicht mehr zu bewältigen ist. Um so problematischer ist eine Arbeitsniederlegung in diesen Tätigkeitsfeldern. Das Recht zum Streik wird jedoch - auch und gerade in diesen Arbeitsbereichen - von den Gewerkschaften selbst als schrankenlos und unbeschränkbar angesehen: Sogar ihre Pflicht zu Notstands- und Erhaltungsarbeiten wird von ihnen ausschließlich als freiwillige Selbstbeschränkung ihres an sich bestehenden Streikrechts verstanden; so heißt es etwa in § 8 der Arbeitskampfrichtlinien des DGB vom 5.5.19746 : ,,1. Die arbeitskampfführende Gewerkschaft hat Regelungen zu treffen, ob und wie zur Erhaltung der Arbeitsplätze erforderliche Notstandsarbeiten zu verrichten sind. 2. Die Satzungen oder Arbeitskampfrichtlinien sollen die Gewerkschaftsmitglieder verpflichten, von den Gewerkschaften gebilligte Notstandsarbeiten durchzuführen. 3. Sie sollen Bestimmungen darüber enthalten, daß Notstandsarbeiten für den Fall von Aussperrungen nicht geleistet werden. Dies gilt nicht, wenn schwerwiegende und nicht wieder gutzumachende Schäden für die Allgemeinheit verhindert werden müssen. 4. Bei Arbeitskämpfen im Bereich der Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern ist dafür Sorge zu tragen, daß eine Notversorgung aufrechterhalten bleibt." In dem "Organisatorischen Leitfaden für den Arbeitskampf der ÖTV"7 heißt es: "Der geschäftsführende Hauptvorstand entscheidet für jeden Arbeitskampf gesondert, ob und gegebenenfalls in welchen Betrieben Notdienstvereinbarungen abzuschließen sind/abgeschlossen werden dürfen ... Dabei ist ein strenger Maßstab anzulegen, der den Erfolg des Arbeitskampfes nicht gefährdet."

Vgl. 2. Kapiteill. 1974, 306 f. 7 OLA-ÖTV, Abschnitt IV, 3.2.

5

o RdA

16

1. Kap.: Einleitung

Eine freiwillige Selbstbeschränkung (die zudem jederzeit frei rücknehmbar ist) kann jedoch keine Lösung eines rechtlichen Konflikts von derartig gravierender Bedeutung für die gesamte Bevölkerung sein. 8 Zudem wird typischerweise eine "Notversorgung" nur in den Bereichen der berüchtigten Troika "Wasser, Elektrizität und ärztliche Versorgung" von der Gewerkschaft für nötig gehalten; in sämtlichen anderen Bereichen der Daseinsvorsorge wird eben gerade keinerlei Notdienst bereitgestellt, sondern im Gegenteil die Arbeitsniederlegung gerade zu solchen Zeiten durchgeführt, in denen sie der Bevölkerung "weh tut": Bekanntlich finden die "Warnstreiks" der ÖTV typischerweise in den Spitzenzeiten des Berufsverkehrs statt, "morgens von 6 bis 8 Uhr, wenn die Leute frierend an den Wartestellen stehen"9. Auch müssen bereits bei einem eintägigen Streik in den medizinischen Einrichtungen einer Universitätsklinik Patienten wieder nach Hause geschickt werden, die zum Teil monatelang auf einen Termin für eine Untersuchung gewartet haben. 10 Eine rechtliche Konfliktlösung steht jedoch bis heute aus. Beschäftigt sich die Rechtsprechung oder die Rechtswissenschaft mit dem Problem, so äußert sie sich allenfalls "im Vorbeigehen" dazu, quasi als "Annex" zu den Erörterungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Arbeitskampfrecht. Beispielhaft seien hier die Ausführungen des BAG in seiner Entscheidung vom 21.4.1971 11 erwähnt: "In unserer verflochtenen und wechselseitig abhängigen Gesellschaft berühren der Streik und die Aussperrung nicht nur die am Arbeitskampf unmittelbar Beteiligten, sondern auch Nichtstreikende und sonstige Dritte, sowie die Allgemeinheit vielfach nachhaltig. Arbeitskämpfe müssen deshalb unter dem obersten Gebot der Verhältnismäßigkeit stehen. Dabei sind die wirtschaftlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen und das Gemeinwohl darf nicht offensichtlich verletzt werden." Von einer tragfähigen Lösung dieses Konflikts zwischen den Rechtsgütern und Rechtspositionen der betroffenen Bürger und den Rechtspositionen der arbeitskampfführenden Parteien sind diese allgemeinen Ausführungen weit entfernt. Der aufgezeigte Konflikt ist jedoch von grundlegender Bedeutung, nicht nur für die betroffenen Bürger und die Arbeitskampfparteien, sondern für die gesamte Rechtsordnung. Es stellt sich nämlich die zentrale Frage, inwieweit das Recht einer Person die Befugnis·gibt, in Rechte anderer Personen einzugreifen, anders gewendet: Inwieweit muß sich ein Rechtsträger Eingriffe in seine Rechte aufgrund der Rechte eines anderen gefallen lassen? Das Arbeitskampfrecht hat diese Fragestellung bisher weder

• Ebenso Seiter, S. 546. • Lieb, in: Lieb u.a., S. 99. 10 Otto, in: Handbuch des ArbR, § 278, Rz. 146. 11 AP Nr. 43 Art. 9 GG Arbeitskampf.

1. Der Gegenstand der Untersuchung

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als solche aufgegriffen noch gar eine grundlegende Untersuchung mit einem tragflihigen Lösungsansatz hierzu hervorgebracht. 12 Diese überfällige Untersuchung soll hier unternommen werden. Dabei muß von vorne herein Klarheit darüber bestehen, daß es sich hierbei nicht um eine herkömmliche Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der arbeitskampfrechtlichen Polarität - hier Arbeitgeber, dort Arbeitnehmer - handeln kann, sondern daß aufgrund des oben beschriebenen Konflikts die "Frontstellung" , die der Untersuchung zugrunde liegt, eine völlig andere ist, nämlich: hier die betroffenen Bürger, dort die arbeitskarnpfftihrenden Parteien. Es geht daher hier nicht um die Frage, inwieweit das Streikrecht aus dem Gesichtspunkt der Geeignetheit und Erforderlichkeit zur Durchsetzung des Arbeitskampfziels bzw. der Rücksichtnahme gegenüber Rechtsgütern der gegnerischen Arbeitskampfparteien beschränkt werden kann; diese Überlegung, die bereits Gegenstand zahlreicher Untersuchungen war 13 , spielt vorliegend keine Rolle; Gegenstand dieser Untersuchung ist all eine die Frage, ob das Streikrecht (und damit implizit auch das Aussperrungsrecht) in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge wegen der Eingriffe der arbeitskarnpfftihrenden Parteien in die Rechtsgüter und Rechtspositionen der Bürger eingeschränkt ist. Es ist evident, daß dieses Thema ein äußerst "heißes Eisen" ist, und lebhafte Emotionen sowohl auf seiten der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer, als auch der Arbeitgeber und ohnehin der betroffenen Bürger hervorruft. Dieser emotionalen Aufladung wird von seiten der Rechtswissenschaft jedoch arn besten begegnet, indem man die objektiven Fakten ohne "ideologische Sichtblende" der Untersuchung zugrunde legt und einen tragfähigen Lösungsansatz aus den systemimmanenten Gegebenheiten der Rechtsordnung gewinnt. Daß trotz dieses sachlich-rationalen Ansatzes sogar der "Professoren-Entwurf' eines Gesetzes zur Regelung kollektiver Arbeitskonflikte l4 mit schärfster Polemik überzogen wurdelS, läßt zwar auf eine rationale und sachliche Aufnahme der vorzunehmenden Untersuchung in den betroffenen Kreisen wenig hoffen. Dies darf jedoch die Rechtswissenschaft nicht beirren: Nach wie vor bleibt sie - gerade in den emotional aufgeladenen Konfliktbereichen - zu einer sachlichen, rationalen und unparteiischen Lösung grundlegender Konflikte aufgerufen.

Dies beklagt bereits Seiter, S. 542. Vgl. hierzu ausftihrlich in jüngerer Zeit: Cerweny von Ariand, Die Arbeitskampfmittel der Gewerkschaften und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, 1993; Mösch, Gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Arbeitskampfrecht?, 1991; Kreuz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Arbeitskampfrecht, 1988. 14 BirkiKonzen/Löwisch/Raiser/Seiter, Gesetz zur Regelung kollektiver Arbeitskonflikte, 1988. " Vgl. Raiser, JZ 1989, 405. 12 13

2 Scherer

18

I. Kap.: Einleitung

11. Der Gang der Untersuchung Die Untersuchung wird sich daher zunächst um einige Fakten zu jüngsten Streikaktionen in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge und den dadurch hervorgerufenen Folgen bemühen. Hierbei wird nicht nur rein statistisches Material, etwa über Zahl der Streiktage, Anzahl der beteiligten Arbeitnehmer, Höhe der Forderungen, Art der bestreikten Betriebe etc. dargestellt werden, sondern es soll auch versucht werden, die konkreten Folgen für die betroffenen Bürger aufzuzeigen; dies wird nötig sein, um Faktenmaterial zu besitzen, anhand dessen die gelegentlich aufgestellte Behauptung zu überprüfen ist, im Hinblick auf Arbeitskämpfe bestünden keine überindividuellen Allgemeininteressen 16 und subjektive Rechte am Arbeitskampfunbeteiligter Dritter könnten nicht durch den Arbeitskampf verletzt werden. 17 Sodann wird die typischerweise bei einem Streik außerhalb der Arbeitsbereiche der Daseinsvorsorge bestehende Konfliktkonstellation mit der Konstellation bei einem Streik innerhalb dieser Tätigkeitsfelder verglichen werden. Hierbei wird gezeigt werden, daß aufgrund der Arbeitskampftaktik der kampfführenden Parteien in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge beim Streik eine signifikant andere Konfliktkonstellation angestrebt wird, als beim "normalen" Streik: Die zentrale Stoßrichtung des Streiks ist hier charakteristischerweise eine völlig andere als beim sonstigen Arbeitskampf. Die rechtlichen Konsequenzen dieser tatsächlichen Untersuchungen werden anhand systemimmanenter Gesichtspunkte der Rechtsordnung gezogen werden müssen: Zunächst wird Sinn und Zweck des Streikrechts zu klären sein; die verfassungsrechtliche Bestimmung des Art. 9 III GG wird dabei eine zentrale Rolle spielen, desgleichen verfassungshistorische Aspekte. Sodann wird zu überprüfen sein, ob überhaupt generell Schranken für das Streikrecht bestehen und unter welchen Aspekten diese zu ziehen sind. Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß bereits hier klargestellt werden, daß es dabei vorliegend nicht um eine weitere Untersuchung zur Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Arbeitskampfrecht gehen kann und auch nicht gehen wird; diese lebhafte und ausgreifende Diskussion um den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Arbeitskampfrecht, zu dem die Diskussionsbeiträge mittlerweile Legion sind 18 , soll hier weder nachgezeichnet noch weitergeführt werden. Auf die Frage nach der Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Arbeitskampfrecht wird nur insoweit einzugehen sein, als sie das Problem des Bestehens genereller So Mösch, S. 13 ff. So Mösch, S. 83. I" Vgl. Cerweny von Arland, Die Arbeitskampfmittel der Gewerkschaften und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, 1993, mit umfassenden Nachweisen. 16

17

11. Der Gang der Untersuchung

19

Schranken fUr das Streikrecht betrifft - denn wesentlich ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht die konkrete Ausprägung der jeweiligen einzelnen Schranke, sondern die Frage, ob es überhaupt solche gibt. In diesem Rahmen werden die Materialien zum Grundgesetz eine wesentliche Rolle spielen. Sodann wird das Streikverbot rur Beamte zu überprüfen sein. Anschließend wird ein generelles Streikverbot rur sonstige Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst untersucht werden; dieses gelegentlich diskutierte Streikverbot wird an den verfassungsrechtlichen Vorgaben und an der tatsächlichen Bedeutung der Arbeitsniederlegung von öffentlichen Bediensteten und ihrer Wirkung auf die Bürger gemessen werden müssen. Hierbei wird zu zeigen sein, daß sich bereits aufgrund der faktischen Gegebenheiten generalisierende Betrachtungen verbieten. Für die zentrale Frage der Untersuchung, inwieweit sich die betroffenen Bürger Eingriffe in ihre Rechtsgüter und Rechtspositionen aufgrund des Streikrechts - und implizit auch des Aussperrungsrechts - der Arbeitskampfparteien gefallen lassen müssen, wird zunächst zu untersuchen sein, ob allgemein derartige Konfliktkonstellationen rechtliche Regelungen gefunden haben: Die generelle Situation einer Auseinandersetzung zwischen zwei Parteien, die einen Eingriff in Rechte Dritter mit sich bringt, ist dem Recht durchaus nicht unbekannt und hat gesetzliche Regelungen erhalten: Paradebeispiel ist § 904 BGB. Diese und andere entsprechenden Normen werden daraufhin zu untersuchen sein, inwieweit das Recht allgemein in dieser Situation eine Kollision von widerstreitenden Interessen zweier Parteien Eingriffe in Rechtskreise Dritter zuläßt. Hier wird gezeigt werden, daß unbeteiligten Dritten zwar auferlegt wird, Eingriffe in ihren Rechtskreis zu dulden, jedoch nur unter engen Voraussetzungen; zudem wird die Duldungspflicht wie etwa in § 904 BGB, häufig durch Schadensersatzansprüche des unbeteiligten Dritten gegen den Eingreifer kompensiert. Ausgehend von den Überlegungen über die signifikant andere Konfliktkonstellation und die charakteristischerweise völlig andere Stoßrichtung eines Streiks in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge sowie den Feststellungen zu der Frage eines schrankenlosen Streikrechts wird schließlich gezeigt werden, daß fiir das Streikrecht in den Tätigkeitsfeldern der Daseinsvorsorge ein völlig anderer Ansatz und eine völlig andere Betrachtungsweise als bisher üblich, notwendig ist: Die gänzlich andere Sach- und Rechtslage als beim Arbeitskampf außerhalb des Bereichs der Daseinsvorsorge zwingt dazu, mit der bequemen Auffassung von der "umfassenden Duldungspflicht" der Bürger gegenüber derartigen Arbeitskämpfen zu brechen. Als Konsequenz dieser Feststellung werden im folgenden schließlich Individualansprüche der betroffenen Bürger und ihre Durchsetzung gegen die ar-

20

I. Kap.: Einleitung

beitskampfflihrende Partei auf Unterlassung ganz konkreter Streikaktionen sowie Schadensersatzansprüche untersucht. Festgehalten werden kann somit bereits nach diesen einleitenden Überlegungen, daß - zumindest in den hier zu untersuchenden Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge - das "Idyll der Privatfehde"19 beim Arbeitskampf in der Tat schon lange nicht mehr existiert.

19

Seiter, S. 542.

2. Kapitel:

Empirische Daten und Fakten I. Überblick Um zunächst eine Vorstellung davon zu bekommen, worum es sich bei den Streiks in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge tatsächlich handelt, sollen zu Beginn der Untersuchung empirische Daten und Fakten über Streiks in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge vorgestellt werden. Im Mittelpunkt sollen dabei die in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg durchgeführten Streiks stehen, und zwar zunächst die bundesweiten Streiks in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge; regionale Streiks werden am Rande Erwähnung fmden. Auch Streiks im benachbarten Ausland werden nur "schlaglichtartig" dargestellt werden, um die Geschehnisse - sofern sich in Deutschland Ähnliches noch nicht ereignete - nachzuzeichnen. Um eingangs einen Überblick über die großen Streiks in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge zu geben, sei auf die folgende tabellarische Übersicht über die bundesweiten Streiks im öffentlichen Dienst, die von den Gewerkschaften öffentliche Dienste, Transport, Verkehr (ÖTV), der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG), der Deutschen Post-Gewerkschaft (DPG), der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED), der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und der Gewerkschaft der Polizei (GdP) geruhrt wurden, verwiesen.

22

Zeitraum Oktober 1950

2. Kap.: Empirische Daten und Fakten

Streikübersicht 1 WerlWieviel wie lange Streikende Wasserstraßenlu. Schiffahrtsverwaltungen

14000 Streikende (Geschäftsbericht S.50)

März 1958

Februar 1974

AprillMai 1992

6.1 0.-12.1 0.1950

Forderung Arbeiter 15 Pfg. mehr Stundenlohn

Arbeiter 9 Pfg. mehr

Angestellte 35 DMmtl.

Angestellte 20 DM mehr auf Grundgehalt 350 DM ohne Zulagen Beamte: Wegfall der 6%igen Gehaltskürzung Der Ecklohn wird in der Ortslohnklasse 11 (Ortslohnklasse A) um 14 Pfg. erhöht. Das Ergebnis ist so zu werten, daß zu Punkt 1 der ÖTV-Lohnforderung 6 Pfg. und zu Punkt 2 8 Pfg. erreicht wurden. In Berlin beträgt die Ecklohnerhöhung 15 Pfg.

Beamte 35 DM mehr Zulage

24stündiger Pro- I. Schaffung einer gerechten teststreik am Relation zwi8. März sehen dem Einkommen des 225.000 (ÖTVHandwerkers als Presse 5/1958, S Ecklohn zu dem Einkommen der vergleichbaren Angestellten und Beamten. 2. Ausgleich der inzwischen eingetretenen oder bis zum Verhandlungsschluß noch etwa eintretenden Teuerung. 3. Beseitigung der Bruttobarlöhne. Öffentlicher 10.-13.2.1974 15%, Dienst über mindestens 200.000 185 DM (Tarifnachrichten 7/74) Öffentlicher 25.4.-7.5.1992 9,5% Dienst viele Hunderttausende (Tarifnachrichten 10/92) Kommunalbetriebe

Ergebnis

11 Prozent mindestens 170 DM

in etwa mit Schlichtungsergebnis von 5,4% identisch (Staffelung)

I Freundlicherweise zur Verfugung gestellt von Herrn Dr. Hartmut Simon, Archivder ÖTV-Hauptverwaltung, Stuttgart.

I. Überblick

23

Die folgende Übersicht betrifft nicht alleine die Streiks in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge, sondern sämtliche Arbeitskämpfe:

Verlorene Arbeitstage je 1000 abhängige Beschäftigte2 Durchschnitt

höchster Wert

niedrigster Wert

1970/1988

Italien

1123

2001 (1979)

218 (1988)

Großbritannien

467

1308 (1979)

89 (1986)

USA

237

717 (1970)

44 (1988)

Frankreich

147

295 (1976)

29 (1987)

Japan

70

279 (1974)

4 (1988)

BR Deutschland

43

262 (1984)

1 (1982/86/87)

Schweiz

1,4

10 (1976)

o(1973/84-88)

Auffällig ist zunächst bei der letzteren Tabelle, daß in Deutschland im internationalen Vergleich deutlich weniger Arbeitstage durch Streiks verloren gehen, als in den meisten anderen Industriestaaten. Zwar betrifft die Übersicht nicht nur die hier zu untersuchenden Streiks in den Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge, sondern sämtliche Arbeitskämpfe, jedoch lassen sich aus dieser Gesamtübersicht auch Rückschlüsse hierauf ziehen: Naheliegend ist - ausweislieh dieser Gesamtübersicht - der Rückschluß, daß auch in den Bereichen der Daseinsvorsorge in Deutschland im internationalen Vergleich relativ wenig gestreikt wird. Die Übersicht über die bundesweiten Streiks in den Bereichen der Daseinsvorsorge seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland zeigt - neben den beiden Streiks in den 50er Jahren - den Streik vom Februar 1974 und den Streik von April und Mai 1992, die - weil beide aus jüngerer Zeit und zudem gut dokumentiert - hier im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen sollen. Zwar gab es zahlreiche kleinere, regional begrenzte Streiks, wie eine Auswertung von Regionalzeitungen deutlich macht; eine Übersicht über die regional begrenzten Streiks - ähnlich wie die Übersicht über die bundesweiten Streiks - existiert jedoch nicht. Mit Sicherheit läßt sich jedoch aufgrund einer Auswertung regionaler Zeitungen sagen, daß regional begrenzt häufiger in der Daseinsvorsorge gestreikt wurde als bundesweit. Kurze Einblicke in regional

2

Otto, in: Handbuch des ArbR, § 275, Rz. 41.

24

2. Kap.: Empirische Daten und Fakten

begrenzte Arbeitsniederlegungen werden daher nur ergänzend im Anschluß an die Darstellung der beiden letzten bundesweiten Streiks gegeben werden. Dem Streik vom 10.-13.2.1974, an dem in nahezu allen Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge über 200 000 Arbeitnehmer beteiligt waren, lag eine Lohnforderung der Arbeitnehmerseite von 15%, mindestens aber 185,- DM zugrunde; nach einer starken Beteiligung der Arbeitnehmer bei der Urabstimmung über den Streik lag die Zustimmung - regional unterschiedlich - zwischen 80% und 91 %. 3 Die öffentlichen Arbeitgeber, die zunächst unter 10% Lohnerhöhung angeboten hatten, erhöhten ihr Angebot auf 10,5% - mindestens aber 140,- DM4, schließlich auf 11 % - mindestens aber 170,- DM. 5 Dieses Angebot wurde schließlich als Komprorniß angenommen. 6 Kurz nach der Tarifeinigung wurde bekannt, daß der damalige Bundeskanzler Brandt, der immer vor einem zweistelligen Tarifabschluß gewarnt hatte, angesichts der gewerkschaftlichen Pressionen und angesichts der 11 %igen Erhöhung der Arbeitsentgelte der öffentlichen Bediensteten seinen Rücktritt erwogen habe. 7 Die durch den Tarifabschluß verursachten Mehrausgaben rur die öffentlichen Haushalte wurden mit 14,5-15 Milliarden DM veranschlagt. 8 An dem Streik von 1992, der von Ende April bis Anfang Mai knapp zwei Wochen dauerte, beteiligten sich in allen Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge mehrere hunderttausend Arbeitnehmer. Dem Streikaufrufhatte eine Lohnforderung von 9,5% zugrunde gelegen. Das Angebot der öffentlichen Arbeitgeber hatte zuletzt bei 4,8% gelegen; ein Schlichterspruch hatte als Komprorniß 5,4% Lohnerhöhung vorgeschlagen, dies war aber von der Arbeitgeberseite abgelehnt worden. 9 Die Urabstimmung ergab bei der ÖTV eine Zustimmung von 88,9%; danach erklärte die ÖTV-Vorsitzende Wulf-Mathies, der von der Arbeitgeberseite abgelehnte Schlichterspruch sei rur die Gewerkschaft nun keine Orientierungsmarke mehr - es gehe jetzt nicht mehr um die Differenz zwischen dem letzten Arbeitgeberangebot und dem Schlichterspruch, sondern um mehr. 10 Eine Einigung kam dann aber trotzdem schließlich nach fast zweiwöchigem Streik auf der Prozentzahl des Schlichterspruchs (5,4%) zustande; die Mehrheit der ÖTV-Mitglieder lehnte jedoch mit 55,9% die Tarifeinigung ab, lediglich

] FAZ v. 9.2.1974, D II Politik. FAZ v. 13.2.1974, D II Politik. 5 FAZ v. 14.2.1974, D II Politik. "FAZ v. 15.2.1974, D II Politik. 7FAZv.15.2.1974,DIIPolitik. 8FAZv.15.2.1974,DIIPolitik. " FAZ v. 14.4 .1992, R Politik, D II Wirtschaft. )0 FAZ v. 27.4.1992, D II Politik. 4

11. Auswirkungen des Streiks

25

44,1% stimmten fUr die Annahme. lI Die ÖTV-Vorsitzende Wulf-Mathies sagte, daß die Gewerkschaft damit die erforderliche Mehrheit deutlich verfehlt habe, was sie "auch ganz persönlich bedrücke"; mit dieser Stimmung habe sie nicht gerechne.tI 2 An der Basis der ÖTV-Mitglieder bestand nach Aussage der Gewerkschaftsvorsitzenden Enttäuschung und Wut über das Ergebnis des Tarifkompromisses; fUr eine Fortsetzung des Streiks gebe es jedoch keine Grundlage, da mit dem erzielten Komprorniß "das Ende der Fahnenstange" erreicht sei; auch hätte die Öffentlichkeit fUr die Wiederaufnahme des Streiks kein Verständnis - so die ÖTV-Vorsitzende Wulf-Mathies. 13 Mit der Annahme des Tarifkompromisses durch den Geschäftsführenden Hauptvorstand der ÖTV machte dieser am 25.5.1992 von seinem Recht Gebrauch, sich über das Mitgliedervotum hinwegzusetzen; der Streik war damit nach einem Monat endgültig beendet. 14 Die durch den Tarifabschluß verursachten Mehrkosten fUr die öffentliche Hand einschließlich Bahn und Post wurden mit annähernd 19 Milliarden DM veranschlagt. 15

11. Auswirkungen des Streiks

Bei dem knapp zweiwöchigen Streik Ende ApriVAnfang Mai 1992 wurde in nahezu sämtlichen Arbeitsbereichen der Daseinsvorsorge gestreikt; zu Beginn des Streiks kündigte die ÖTV-Vorsitzende Wulf-Mathies an, der Streik werde Belastungen fUr die Bürger mit sich bringen und fUgte ausdrücklich hinzu, er werde einige auch "besonders hart treffen": Lebenswichtige Dienste sollten allerdings gewährleistet werden. 16 Die Arbeit ruhte ganz oder teilweise im öffentlichen Nahverkehr, bei Schleusen- und Hafenanlagen, bei der Müllabfuhr, bei Mülldeponien und Müllverbrennungsanlagen, bei Verwaltungen der Kommunen, der Länder und des Bundes, bei Einrichtungen der Bundeswehr, in Freizeiteinrichtungen der Städte und Gemeinden, Rechenzentren, statistischen Ämtern, Universitäten, im Gesundheitswesen, in Kindertagesstätten und Schulen, auf Flughäfen, bei Sozialversicherungsträgern und Einrichtungen der Bun-

FAZ v. FAZ v. 11 FAZ v. 14FAZ v. 15 FAZ v. 16 F AZ v. 11

12

15.5.1992,011 Politik. 15.5.1992, DIIPolitik. 15.5.1992,011 Politik. 26.5.1992, o 11 Wirtschaft. 9.5.1992, o 11 Politik. 25.4.1992, DIIPolitik.

26

2. Kap.: Empirische Daten und Fakten

desanstalt rur Arbeit, ebenso in der Krankenpflege, in Energieversorgungsbetrieben, bei Postdienst und Telekom sowie im Fernverkehr der Bahn. 17 Die streikführenden Gewerkschaften verfolgten bei diesem Streik eine Taktik der "Flexibilität"; mit Streikaktionen an zentralen Stellen sollte eine möglichst große "Hebelwirkung" erzielt werden: So wurde der gesamte ICEVerkehr bundesweit fast ausschließlich dadurch lahmgelegt, daß das Bahnbetriebswerk Eidelstedt bei Hamburg, in dem Wartungs- und Sicherungsarbeiten ausgeführt werden, von 180 Eisenbahnern bestreikt wurde; da derartige Wartungsarbeiten je nach Zugtyp alle 8000-12000 km vorgeschrieben sind, war es ausschließlich eine Frage der Zeit, bis auch die letzten Wagen stillstanden. 18 Im übrigen setzte die streikführende Gewerkschaft auf eine "Automatik des Stillstandes": Je mehr Züge in den einzelnen Bahnhöfen feststanden, desto weniger Bewegungsfreiheit blieb für eventuell technisch noch einsatzbereite Garnituren. 19 Auf den Flughäfen Berlin-Tegel, Berlin-Tempelhof und Hannover brach allein durch den Streik der Flughafenfeuerwehren der gesamte Flugbetrieb zusammen und die Flughäfen mußten geschlossen werden: Selbst wenn die Berufsfeuerwehren und die freiwilligen Feuerwehren bereit gewesen wären, die Dienste der Flughafenfeuerwehren zu übernehmen, wäre eine Aufrechterhaltung des Flugbetriebes nicht möglich gewesen, da diesen Wehrleuten die Spezialausbildung fehlte und zudem bei diesen Feuerwehren auch die entsprechenden Einsatzfahrzeuge nicht vorhanden waren - ganz abgesehen davon, daß der Einsatz der "Stadtfeuerwehr" auf dem Flughafen nicht erlaubt ist. 20 In den Ballungsräumen an Rhein und Ruhr legten gleich zu Beginn des Arbeitskampfes die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe schon mit Beginn der Frühschicht die Arbeit nieder; die Depots von Bussen und Bahnen blieben geschlossen. 21 Viele Bürger kamen zu spät zur Arbeit22 und es setzte ein Ansturm auf Auto- und Fahrradvermietungen ein. 23 Allein im Bereich der Stadtwerke FrankfurtlMain war eine halbe Million Fahrgäste vom Streik betroffen. 24 Neben den Unkosten für die Anmietung von Pkw oder Fahrrad bedeutete das Zuspätkommen zur Arbeit zusätzlich einen Verdienstausfall für die Arbeitnehmer: In den Arbeitskampfrichtlinien der Arbeitgeberverbände - hier exemFAZ v. 27.4.1992 und 5.5.1992, D II Politik. FAZ v. 6.5.1992, D II Wirtschaft. I' FAZ v. 6.5.1992, D II Wirtschaft. 2() FAZ v. 5.5.1992, D II Wirtschaft. 21 F AZ v. 23.4.1992, D II Politik. 22 F AZ v. 23.4.1992 und 30.4.1992, D II Politik. 2J FAZ v. 5.5.1992, D II Politik. 24 FAZ v. 30.4.1992, R Lokales. 17

IR

II. Auswirkungen des Streiks

27

plarisch den Arbeitskampfrichtlinien der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände - ist nämlich typischerweise festgelegt, daß bei Zuspätkommen der Arbeitnehmer infolge eines Arbeitskampfes kein Anspruch auf Arbeitsentgelt besteht und insoweit alle Möglichkeiten des Arbeitgebers auszuschöpfen sind, die Zahlung von Arbeitsentgelt filr diese Zeiträume auszuschließen25 • Ein Ersatz ftlr zusätzliche Fahrtkosten infolge eines Arbeitskampfes wird ebenfalls ausgeschlossen. 26 Sehr früh wurden auch die Müllabfuhr, die Mülldeponien und die Müllverbrennungsanlagen in den Streik einbezogen; nach knapp einwöchigem Streik bei der Müllabfuhr sagte der Geschäftsfilhrer der ÖTV Frankfurt, Werner Röhre, daß eine Aufuahme der Arbeit jetzt noch keinesfalls wieder in Frage komme: "Wenn die Müllautos jetzt wieder fahren würden, hätten wir gar nicht erst anzufangen brauchen.'