Grenzen des Vorrangs der ambulanten vor der stationären Pflege in der sozialen Pflegeversicherung [1 ed.] 9783428551170, 9783428151172

Die Arbeit untersucht den Grundsatz des Vorrangs der ambulanten vor der stationären Pflege in der sozialen Pflegeversich

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German Pages 213 Year 2017

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Grenzen des Vorrangs der ambulanten vor der stationären Pflege in der sozialen Pflegeversicherung [1 ed.]
 9783428551170, 9783428151172

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Schriften zum Gesundheitsrecht Band 44

Grenzen des Vorrangs der ambulanten vor der stationären Pflege in der sozialen Pflegeversicherung Von Katrin von Mielecki

Duncker & Humblot · Berlin

KATRIN VON MIELECKI

Grenzen des Vorrangs der ambulanten vor der stationären Pflege in der sozialen Pflegeversicherung

Schriften zum Gesundheitsrecht Band 44 Herausgegeben von Professor Dr. Helge Sodan, Freie Universität Berlin, Direktor des Deutschen Instituts für Gesundheitsrecht (DIGR) Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin a.D.

Grenzen des Vorrangs der ambulanten vor der stationären Pflege in der sozialen Pflegeversicherung

Von Katrin von Mielecki

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. hat diese Arbeit im Jahr 2016 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: CPI buch.bücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 1614-1385 ISBN 978-3-428-15117-2 (Print) ISBN 978-3-428-55117-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-85117-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2016 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Die Arbeit befindet sich auf dem Stand von Januar 2016. Änderungen durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz, die zum 01. 01. 2017 in Kraft treten, werden in Ausblicken berücksichtigt. Mein besonderer Dank gilt meiner Doktormutter, Frau Prof. Dr. Katharina von Koppenfels-Spies, die mit wesentlichen Impulsen zum Entstehen der Arbeit beigetragen hat und mich auf dem Weg mit fachlichem und persönlichem Rat begleitet hat. Bedanken möchte ich mich auch für die Ermöglichung der interessanten und vielfältigen Tätigkeit als Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialrecht. Ich denke an diese Zeit gerne und mit Freude zurück. Herrn Prof. Dr. Sebastian Krebber danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Dem Verlag und den Herausgebern danke ich für die Aufnahme in diese Schriftenreihe. Darüber hinaus möchte ich mich bei allen, die mich während dieser Zeit begleitet haben, ganz herzlich bedanken. Ohne die Unterstützung meiner Freunde, darunter Lisa Fern und Johanna Rausch, wäre das Gelingen dieser Arbeit um ein Vielfaches schwieriger gewesen. Dies gilt besonders für Sarah Tarantino, die mir über die gesamte Zeit hinweg eine treue Weggefährtin war und mir stets mit Rat und Ermutigung zur Seite gestanden hat. Mehr als Dank schulde ich meiner Familie. Meinen Eltern und meiner Schwester bin ich sehr dankbar für die Bestärkung, die Geduld und den stetigen Rückhalt. Ohne ihre unermüdliche Unterstützung durch alle Phasen der Arbeit hindurch wäre diese nicht möglich gewesen. Bedanken möchte ich mich außerdem bei meinem Schwager für die großartige technische Hilfe. Berlin, im Oktober 2016

Katrin von Mielecki

Inhaltsverzeichnis Erster Teil Einleitung

19

Erstes Kapitel Thematische Hinführung

19

Zweites Kapitel Gang der Arbeit

20

Drittes Kapitel Einführung in die soziale Pflegeversicherung

22

Zweiter Teil Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

23

Erstes Kapitel Grundlagen des Vorranggrundsatzes

23

A. Begriffsbestimmung des Vorranggrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 B. Hintergründe des Vorranggrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 I. Normalisierungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 II. Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 C. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Zweites Kapitel Rechtliche Entwicklung des Vorranggrundsatzes

27

A. Vorgänger des Vorranggrundsatzes im Bundessozialhilfegesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 B. Gedanklicher Vorgänger des Vorranggrundsatzes im Krankenversicherungsrecht . . . . 29 C. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

8

Inhaltsverzeichnis Drittes Kapitel Der Vorranggrundsatz im SGB XI

30

A. Vorranggrundsatz als Programmsatz in § 3 SGB XI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 B. Ausprägung des Vorranggrundsatzes im Leistungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I. Allgemeine Leistungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 II. Leistungen bei ambulanter, professioneller Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1. Pflegesachleistung als Grundpflegeleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2. Medizinische Behandlungspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3. Ergänzende Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 a) Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen . . . . . . . . . . . . 35 b) Zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 c) Tages- und Nachtpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 d) Kurzzeitpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4. Zusätzliche Leistungen beim Vorliegen besonderer Voraussetzungen . . . . . . . . 37 a) Leistungen für gemeinsam gepflegte Pflegebedürftige . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 b) Leistungen für Personen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf 38 5. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 III. Leistungen bei ambulanter, informeller Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1. Pflegegeld als Grundpflegeleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2. Ergänzende Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 a) Verhinderungspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 b) Sonstige ergänzende Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3. Zusätzliche Leistungen beim Vorliegen besonderer Voraussetzungen . . . . . . . . 41 4. Leistungen für die Pflegeperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 a) Regelungen in der Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 aa) Leistungen der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 bb) Pflegekurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 b) Regelungen zugunsten informeller Pflegepersonen in anderen Rechtsgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 aa) Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 (1) Pflegezeitgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 (2) Familienpflegezeitgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 (3) Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 bb) Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 (1) Voraussetzungen des Ausgleichungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 (2) Umfang des Ausgleichungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 (3) Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 cc) Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 (1) Begünstigungen bei der Einkommenssteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

Inhaltsverzeichnis

9

(2) Begünstigungen bei der Erbschafts- und Schenkungssteuer . . . . . . . 52 (3) Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 5. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 IV. Leistungen bei ambulanter, kombinierter Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 V. Leistungen bei vollstationärer Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 C. Berücksichtigung des Vorranggrundsatzes im Rahmen des Beratungsangebotes . . . . . 56 D. Bedeutung des Vorranggrundsatzes für das Leistungserbringungsrecht . . . . . . . . . . . . 58 E. Betonung des Vorranggrundsatzes durch die Reformen der Pflegeversicherung . . . . . 59 F. Änderungen durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 I. Neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff und das neue Begutachtungsassessment . . . . . 61 II. Änderungen im Leistungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Leistungen bei ambulanter, professioneller Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Leistungen bei ambulanter, informeller Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 a) Leistungen für den Pflegebedürftigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 b) Leistungen für die Pflegeperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3. Leistungen bei ambulanter, kombinierter Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 4. Leistungen bei vollstationärer Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 5. Leistungen für Pflegebedürftige des Pflegegrades 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 III. Bedeutung für den Vorranggrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 G. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

Dritter Teil Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

68

Erstes Kapitel Tatsächliche Inanspruchnahme ambulanter Pflege

68

A. Statistische Erhebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 B. Entwicklungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 C. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Zweites Kapitel Verbindlichkeit der gesetzlichen Ausgestaltung des Vorranggrundsatzes

72

A. Verbindlichkeit des Programmsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

10

Inhaltsverzeichnis

B. Verbindlichkeit der Umsetzung in den (teil)stationären Leistungsnormen . . . . . . . . . . 72 I. Verbindlichkeit des Nachrangs teilstationärer Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 II. Verbindlichkeit des Nachrangs der Kurzzeitpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 III. Verbindlichkeit des Nachrangs vollstationärer Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 C. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Drittes Kapitel Anreize im Leistungssystem zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

76

A. Anreize für die ausschließlich ambulante, informelle Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 I. Anreize für den Pflegebedürftigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1. Anreize des Pflegegeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 a) Umfang der Pflege und Eigenkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 b) Weitere Aspekte des Bezugs von Pflegegeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 aa) Verbleib in häuslicher Umgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 bb) Pflegequalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 (1) Qualitätskontrolle bei informeller Pflege in Form von Pflegeberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 (2) Qualitätskontrolle bei professioneller Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 (3) Niveau der Qualitätssicherungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2. Anreize der weiteren Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 II. Anreize für die Pflegeperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 1. Anreize des Pflegegeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2. Anreize der weiteren Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3. Anreize der originären Leistungen für die Pflegeperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 a) Anreize durch die arbeitsrechtlichen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 b) Anreize durch die sozialversicherungsrechtliche Absicherung . . . . . . . . . . . 87 aa) Keine Ausübung einer Erwerbstätigkeit vor der Pflege . . . . . . . . . . . . . 88 bb) Freistellung von der Arbeitsleistung während der Pflegezeit . . . . . . . . . 89 cc) Reduzierung der Arbeitsleistung während der Pflege- oder Familienpflegezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 dd) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 c) Anreize durch die erbrechtliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 d) Anreize durch die steuerrechtlichen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 B. Anreize für die ausschließlich ambulante, professionelle Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 I. Anreize der Pflegesachleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1. Höhe der Pflegesachleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

Inhaltsverzeichnis

11

2. Eigenanteil des Pflegebedürftigen im Vergleich zur vollstationären Pflege . . . 96 a) Statistische Anhaltspunkte zu den Eigenkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 b) Tatsächlich mögliche Eigenkosten im Vergleich zur vollstationären Pflege 98 aa) Vergütung ambulanter Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 (1) Vergütung am Beispiel der Pflegekomplexleistungsvergütung in Baden-Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (2) Vergütung am Beispiel der Zeitvergütung in Bremen . . . . . . . . . . . . 101 bb) Vergütung stationärer Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 (1) Allgemeine Vergütungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 (2) Vergütungsbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 cc) Vergleich zwischen den Eigenkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 II. Anreize der weiteren Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 C. Anreize für die ambulante, kombinierte Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 I. Anreize für den Pflegebedürftigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 II. Anreize für die Pflegeperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 D. Veränderungen durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 I. Anreize der Leistungen für die ausschließlich ambulante, informelle Pflege . . . . 110 1. Verbesserte Anreize für den Pflegebedürftigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 2. Verbesserte Anreize für die Pflegeperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Pflegegeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 b) Sozialversicherungsrechtliche Absicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 II. Anreize der Leistungen für die ausschließlich ambulante, professionelle Pflege

113

1. Eigenkosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2. Ergänzende und zusätzliche Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 III. Anreize der Leistungen für die ambulante, kombinierte Pflege . . . . . . . . . . . . . . . 115 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 E. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

12

Inhaltsverzeichnis Viertes Kapitel Beeinflussung der Inanspruchnahme ambulanter Pflege durch die Infrastruktur

117

Fünftes Kapitel Heutige Rechtfertigung des Vorranggrundsatzes

119

A. Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 I. Kosten der Pflegeversicherung für die ambulante und die stationäre Pflege . . . . . 120 1. Kosten für die ambulanten Grundleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2. Kosten für die ergänzenden und zusätzlichen Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3. Besondere Kosten für die ambulante, informelle Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 4. Kosten für die stationäre Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 II. Kostenvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 III. Finanzierbarkeit unter Einbeziehung des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes . . . . . 128 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 B. Normalisierungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Sechstes Kapitel Verfassungsrechtliche Grenzen

131

A. Abstrakte verfassungsrechtliche Grenzen eines Vorranggrundsatzes der Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 I. Wunschrecht des Pflegebedürftigen und der Vorranggrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . 131 1. Wunschrecht des Pflegebedürftigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Verfassungsmäßigkeit einer Einschränkung des Wunschrechts . . . . . . . . . . . . . 132 a) Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 133 aa) Eröffnung des Schutzbereichs und Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 bb) Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 b) Vereinbarkeit mit der Menschenwürde, der allgemeinen Handlungsfreiheit und dem allgemeinen Gleichheitssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 II. Pflegebereitschaft der informellen Pflegeperson und der Vorranggrundsatz . . . . . 137 1. Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 B. Konkrete Bedeutung der verfassungsrechtlichen Grenzen für den Vorranggrundsatz der Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 I. Bedeutung der Grundrechte des Pflegebedürftigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 II. Bedeutung der Grundrechte der informellen Pflegeperson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

Inhaltsverzeichnis

13

C. Auswirkungen auf den Vorranggrundsatz der Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 I. Leistungen der Hilfe zur Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2. Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 II. Vorranggrundsatz der Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Gesetzliche Normierung des allgemeinen Vorranggrundsatzes in § 13 Abs. 1 SGB XII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 2. Vorranggrundsatz für die Leistungen der Hilfe zur Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3. Bedeutung des Wunschrechts des Hilfeempfängers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 III. Bedeutung der verfassungsrechtlichen Grenzen für die ergänzende Hilfe zur Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 1. Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 2. Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Gleichbehandlungsgebot . . . . . . . . . . . . . . 151 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 D. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Siebtes Kapitel Der Vorranggrundsatz vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung

154

A. Veränderte Gesellschaftsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 B. Belastung der informellen Pflegepersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 C. Besondere Belastung von Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 D. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

Vierter Teil Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung – Hindernisse und Chancen

160

Erstes Kapitel Fortgeltung des Vorranggrundsatzes als allgemeiner Grundsatz des Sozialrechts

160

A. Vorranggrundsatz in den allgemeinen Vorschriften des Sozialrechts . . . . . . . . . . . . . . 160 B. Verallgemeinerbarer Vorranggrundsatz in anderen Sozialrechtsgebieten . . . . . . . . . . . 161 I. Vorranggrundsatz in der Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 1. Vorrang ambulanter Leistungen zur Verhütung von Krankheiten . . . . . . . . . . . 162 2. Vorrang ambulanter Leistungen bei Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 a) Häusliche Krankenpflege, Soziotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

14

Inhaltsverzeichnis b) Krankenhausbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 c) Hospizleistungen, medizinische Rehabilitation, Fahrkosten . . . . . . . . . . . . . 165 3. Umsetzung des Vorrangs ambulanter Leistungen im Leistungserbringungsrecht 166 4. Verallgemeinerbarkeit des Vorranggrundsatzes der Krankenversicherung . . . . . 167 II. Vorranggrundsatz in der Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 III. Vorranggrundsatz in der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen . . . . 169 IV. Vorranggrundsatz in der Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 1. Vorrang ambulanter Leistungen in einzelnen Leistungsbereichen . . . . . . . . . . . 171 2. Ausprägung des Vorrangs ambulanter Leistungen beim Einsatz von Einkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3. Umsetzung des Vorrangs ambulanter Leistungen im Leistungserbringungsrecht 172 4. Verallgemeinerbarkeit des Vorranggrundsatzes der Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . 173

C. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Zweites Kapitel Fortgeltende Stufenfolge zwischen den Pflegeformen aufgrund des Familienrechts

174

A. Pflicht des Ehegatten zur informellen, ambulanten Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 B. Pflicht der Kinder zur informellen, ambulanten Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 I. Pflicht gem. §§ 1601 ff. BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 II. Pflicht gem. § 1618a BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 C. Pflicht der Eltern zur informellen, ambulanten Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 I. Pflicht zur informellen Pflege volljähriger Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 II. Pflicht zur informellen Pflege minderjähriger Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 D. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Drittes Kapitel Pflegebudget als mögliches neues Leistungskonzept

183

A. Persönliches Budget im SGB IX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 B. Bekannte Formen des persönlichen Budgets in der Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . 184 I. Pflegeleistungen als Teil des trägerübergreifenden, persönlichen Budgets . . . . . . 184 II. Pflegebudget und das integrierte Budget . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 C. „Einheitliches Pflegebudget“ als mögliches neues Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 I. Skizzierung des „einheitlichen Pflegebudgets“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 II. Herausforderungen des „einheitlichen Pflegebudgets“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 D. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

Inhaltsverzeichnis

15

Fünfter Teil Zusammenfassung

191

Literatur- und Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Abkürzungsverzeichnis a.A. a.F. Abs. Art. BGB bspw. bzgl. bzw. d. h. EP ErbStG EStG FPfZG gem. GG ggf. grds. Hs. i. d. F. i.H.v. i.S. i.S.d. i.V.m. KITA LPartG LPflG BW m.W.v. max. MdK Mio. Mrd. n.F. NBA Nr. PflEG PflegeZG PQsG S. SGB sog. u.

andere Ansicht alte Fassung Absatz Artikel Bürgerliches Gesetzbuch beispielsweise bezüglich beziehungsweise das heißt Entgeltpunkte Erbschaftssteuer- und Schenkungssteuergesetz Einkommenssteuergesetz Familienpflegezeitgesetz gemäß Grundgesetz gegebenenfalls grundsätzlich Halbsatz in der Fassung in Höhe von im Sinne im Sinne des/der in Verbindung mit Kindertagesstätte Lebenspartnerschaftsgesetz Landespflegegesetz Baden-Württemberg mit Wirkung vom maximal Medizinischer Dienst der Krankenkassen Millionen Milliarden neue Fassung neues Begutachtungsassessement Nummer Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz Pflegezeitgesetz Pflege-Qualitätssicherungsgesetz Satz Sozialgesetzbuch sogenannt und

Abkürzungsverzeichnis u. a. UN vgl. WG z. B. Ziff.

unter anderem United Nations vergleiche Wohngemeinschaft zum Beispiel Ziffer

17

Erster Teil

Einleitung Erstes Kapitel

Thematische Hinführung Aufgrund der Demographieentwicklung in Deutschland steigt der Anteil der pflegebedürftigen Menschen in den nächsten Jahrzehnten weiter an; ein Anstieg, der gravierende Veränderungen in der Pflege notwendig machen wird. Bis zum Jahr 2030 wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen von derzeit 2,7 Millionen auf etwa 3,5 Millionen erhöhen, in den darauf folgenden zwei Jahrzehnten auf über 4 Millionen.1 Damit ist ein immer größerer Anteil der Bevölkerung von Pflegebedürftigkeit betroffen. Das Risiko der Pflegebedürftigkeit abzusichern, ist Aufgabe der Pflegeversicherung. Wenn diese auch in der Vergangenheit bereits zahlreichen Reformen unterzogen wurde, sind künftig weitere Veränderungen unausweichlich. Zusätzliche Schritte sind notwendig, um die Pflegeversicherung demographiefest zu machen. Kernelement ist dabei, neben der quantitativen Bewältigung des Pflegeaufkommens, die stete Anpassung und Weiterentwicklung der qualitativen Versorgungssituation Pflegebedürftiger. Die meisten pflegebedürftigen Menschen werden heutzutage von ihren Angehörigen, teilweise unter Zuhilfenahme Dritter wie ambulanter Pflegedienste oder unausgebildeter Zeitkräfte aus Mittel- oder Osteuropa, betreut.2 Diese Form der Pflege führt oftmals zu einer außergewöhnlichen Belastung der Angehörigen, kann notwendige Qualitätsansprüche nicht erfüllen und fördert Schwarzarbeit und prekäre Arbeitsverhältnisse.3 Während in der Kinderbetreuung eine Verlagerung aus der Familie in öffentliche Institutionen stattfindet, wird für die Betreuung von pflegebedürftigen, alten Menschen weiterhin die Verantwortung der Familie und der privaten häuslichen Umgebung hervorgehoben. So betonte auch der Bundesminister für Gesundheit, Hermann Gröhe, im Februar 2015 anlässlich des 13. Kölner Sozialrechtstages, dass der Vorrang der ambulanten vor der stationären Pflege ein sowohl in den Köpfen als auch in der Pflegeversicherung gut verankerter Grundsatz sei, der

1 2 3

BT-Drucks. 18/5926, S. 67. Vgl. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2013, S. 9; Fuchs, NZA 2010, S. 980. Siehe auch Nordmann/Matusch, FPR 2012, S. 58.

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1. Teil: Einleitung

dem Streben aller entspreche.4 Dies wird dadurch bestärkt, dass die stationäre Unterbringung in Heimen offenbar weder von den meisten Pflegebedürftigen noch deren Angehörigen gewünscht wird.5 Demgemäß wird auch in der Pflegeversicherung die ambulante Versorgung, insbesondere durch informelle Pflegepersonen, als die erstrebenswerte Pflegeform gefördert. Die Pflegeversicherung vertraut nach wie vor auf die ambulanten, informellen Pflegepersonen als dem „größten Pflegedienst der Nation“.6 Dennoch erscheint im Hinblick auf die Zukunft der Pflegeversicherung und die Situation der Pflegebedürftigen fraglich, ob der Grundsatz „ambulant vor stationär“ beibehalten werden sollte und in seiner Dominanz ein zukunftsfähiges Konzept darstellt. So gerät er unter anderem bereits durch das Ungleichgewicht zwischen der zunehmenden Anzahl an Pflegebedürftigen und der abnehmenden Anzahl an pflegebereiten Familienmitgliedern ins Wanken. Einerseits ist zu hinterfragen, ob der Vorrang der ambulanten Pflege heute wirklich noch ein gut funktionierender Grundsatz der Pflegeversicherung ist. Andererseits muss thematisiert werden, inwiefern dem in der Gesellschaft zentraler werdenden Wunsch nach einem „Altern in Würde“ tatsächlich bestmöglich durch den Vorrang der ambulanten Pflege nachgekommen wird. Insofern muss die Aussage von Hermann Gröhe nicht als Behauptung, sondern als Frage formuliert werden: Ist der Grundsatz „ambulant vor stationär“ noch ein gut verankerter Grundsatz in der Pflegeversicherung, der dem Streben aller entspricht?

Zweites Kapitel

Gang der Arbeit Um diese Fragestellung zu beantworten, wird im ersten Teil der Arbeit die Bedeutung des Vorrangs ambulanter Pflege für die soziale Pflegeversicherung aufgezeigt. Nach der Beschreibung der Grundlagen des Vorrangs ambulanter Pflege (zweites Kapitel), folgt dessen rechtliche Entwicklung in den Vorgängern der Pflegeversicherung (drittes Kapitel). Anschließend wird die Ausgestaltung des Vorranggrundsatzes im SGB XI dargestellt. Dabei sollen sowohl die unmittelbare Normierung des Vorranggrundsatzes als auch seine Ausprägung im Leistungsrecht und seine Bedeutung für das Beratungsangebot und das Leistungserbringungsrecht verdeutlicht werden. Untersucht wird auch, welche Auswirkungen die Reformen der Pflegeversicherung in der Vergangenheit auf den Vorrang ambulanter Pflege hatten. Es wird ein Ausblick auf die Änderungen durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz 4

Hermann Gröhe hielt auf dem 13. Kölner Sozialrechtstag am 19. 02. 2015 einen Vortrag zu dem Thema „Reformvorhaben der Bundesregierung zur Entwicklung der pflegerischen Versorgung“. 5 Vgl. BMFSFJ, MUG III, S. 84. 6 Siehe BT-Drucks. 12/5262, S. 64; § 3 S. 1 SGB XI; § 4 Abs. 2 S. 1 SGB XI.

2. Kap.: Gang der Arbeit

21

gegeben, das in seinen wesentlichen Teilen zum 01. 01. 2017 in Kraft treten wird (viertes Kapitel). Der zweite Teil der Arbeit stellt eine kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz in den Fokus. Im Zentrum steht die Analyse der rechtlichen und praktischen Grenzen, an die der Vorrang ambulanter Pflege stößt. Dazu werden zunächst vorhandene statistische Erhebungen ausgewertet (erstes Kapitel) und die Verbindlichkeit der rechtlichen Ausgestaltung des Vorranggrundsatzes untersucht (zweites Kapitel). Daneben soll die Frage geklärt werden, ob das Leistungsrecht eindeutige Anreize zugunsten der ambulanten Pflege vorsieht (drittes Kapitel). Inwiefern die pflegerische Infrastruktur die Inanspruchnahme der Pflegeformen beeinflusst, wird umrissen (viertes Kapitel). Im Anschluss wird der Frage nachgegangen, ob die ursprünglichen Gründe für den Vorrang der ambulanten Pflege heute noch Gültigkeit besitzen (fünftes Kapitel). Darüber hinaus soll sowohl im Abstrakten als auch im Konkreten aufgezeigt werden, welche verfassungsrechtlichen Grenzen einem Vorrang ambulanter Pflege in der Pflegeversicherung gesetzt sind. Überdies wird ihre Relevanz bei einem Zusammenwirken von Pflegeversicherung und Sozialhilfe überprüft (sechstes Kapitel). Schließlich wird ein Einfluss der demographischen und gesellschaftlichen Veränderungen auf den Vorrang ambulanter Pflege thematisiert (siebtes Kapitel). Der dritte Teil der Arbeit diskutiert mögliche Hindernisse und Chancen im Zusammenhang mit einer Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung. Untersucht wird zunächst, ob es sich bei dem Vorrang ambulanter Leistungen um einen allgemeinen Grundsatz des Sozialrechts handelt (erstes Kapitel). Im Anschluss daran wird eine Fortgeltung der Stufenfolge zwischen den Pflegeformen aufgrund des Familienrechts betrachtet (zweites Kapitel). Schließlich soll ein Ausblick darauf gegeben werden, welche zukunftsweisenden Chancen eine Aufhebung des Vorranggrundsatzes in der Pflegeversicherung eröffnen könnte (drittes Kapitel). Die zentralen Aspekte der Arbeit resümiert eine Zusammenfassung (viertes Kapitel). Die Arbeit konzentriert sich auf die wegen Alters pflegebedürftigen Menschen, denn 86 % der Leistungsbezieher in der sozialen Pflegeversicherung sind 60 Jahre oder älter.7 Die private Pflegeversicherung wird nicht berücksichtigt, da 88 % der Pflegeversicherten in der sozialen Pflegeversicherung versichert sind und sich die private zudem nah an die soziale Pflegeversicherung anlehnt.8 Die Arbeit bezieht den Gesetzesstand bis zum 01. 01. 2016 ein. Auf die themenrelevanten Änderungen durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz9, die zum 01. 01. 2017 in Kraft treten werden, wird gesondert eingegangen.

7

Vgl. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2013, S. 9. Vgl. BMG, Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung, S. 1; §§ 22 Abs. 1 S. 1, 23 Abs. 1 SGB XI. 9 BGBl., Jahrgang 2015, Teil I, S. 2424. 8

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1. Teil: Einleitung

Drittes Kapitel

Einführung in die soziale Pflegeversicherung Die soziale Pflegeversicherung ist 1994 nach jahrelanger Diskussion als jüngster Zweig der Sozialversicherung verabschiedet worden.10 Vor diesem Zeitpunkt gab es keine allgemeinen Sicherungsmechanismen gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit. Jeder Pflegebedürftige musste grundsätzlich selbst für die Kosten seiner Pflege aufkommen. Lediglich beim Hinzukommen bestimmter weiterer Umstände konnte ein Anspruch auf Leistungen bei Pflegebedürftigkeit bestehen.11 So kamen Leistungen insbesondere im Rahmen der Unfallversicherung12, der sozialen Entschädigung13 und später auch im Rahmen der Krankenversicherung beim Vorliegen von Schwerpflegebedürftigkeit14 in Betracht. Lagen keine besonderen Umstände vor und konnten die Kosten für die Pflege nicht alleine aufgebracht werden, war gem. § 68 Abs. 1 BSHG15 die Sozialhilfe zuständig. Die gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Notwendigkeit erkennend bot die Privatversicherung bereits 1985 und damit rund 10 Jahre vorher eine Absicherung des Risikos „Pflegebedürftigkeit“ an.16 Die soziale Pflegeversicherung folgt in ihren wesentlichen Grundzügen den Regelungen der Krankenversicherung, nicht zuletzt im Hinblick auf den versicherten Personenkreis, vgl. §§ 1 Abs. 2, 20 SGB XI.17 Im Gegensatz zu der gesetzlichen Krankenversicherung sind jedoch die Leistungen begrenzt und grundsätzlich pauschal bemessen. Es handelt sich bei der sozialen Pflegeversicherung nicht um eine Vollversicherung. Einer ihrer zentralen Grundsätze ist der Vorrang der ambulanten vor der stationären Pflege. 10

Siehe hierzu näher Igl, Leistungen bei Pflegebedürftigkeit, S. 1 ff. Siehe hierzu auch Thiede, WD 1986, S. 241. 12 War die Pflegebedürftigkeit durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit bedingt, bestand gem. § 558 RVO (in der Fassung vom 27. 6. 1977, BGBl. I S. 1040) ein Anspruch auf Pflege. Siehe hierzu näher Miesbach/Baumer, § 558 RVO Anm. 5. 13 Beruhte die Pflegebedürftigkeit auf einer durch den Krieg, den militärischen oder militärähnlichen Dienst hervorgerufenen gesundheitlichen Schädigung, bestand und besteht noch heute gem. § 35 Bundesversorgungsgesetz (i. d. F. des Art. 1 Nr. 25, BGBl. Jahrgang 1990, Teil I, S. 585) im Rahmen der Kriegsopferversorgung ein Anspruch auf Pflegezulage. Auch zahlreiche andere Gesetze des sozialen Entschädigungsrechts verwiesen schon damals bezüglich des Leistungsrechts auf das BVG, wie z. B. das Opferentschädigungsgesetz in § 1 Abs. 1 S. 1 OEG oder das Bundesseuchengesetz in § 51 Abs. 1 S. 1 BSeuchG. 14 Von 1989 bis 1995 wurde schließlich im Rahmen der Krankenversicherung in §§ 53 – 57 SGB V a.F. (i. d. F. des Gesundheitsreformgesetzes vom 20. 12. 1988, BGBl I, S. 2477) bei Schwerpflegebedürftigkeit eine Übergangslösung zur Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit eingeführt. Siehe hierzu näher Naegele, ZSR 1992, S. 610 f. Siehe hierzu auch Zweiter Teil, Zweites Kapitel, B. 15 § 68 Abs. 1 BSHG bestand in seiner ursprünglichen Fassung unverändert bis 1995. Vgl. Schellhorn/Schellhorn, BSHG, § 68 Rn. 9. 16 Vgl. Schulin, in: Schulin, Pflegeversicherung, § 1 Rn. 42; Thiede, WD 1986, S. 241 f. 17 Siehe auch Schlegel, in: Hauck/Noftz, SGB XI, E 010, Rn. 5. 11

Zweiter Teil

Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung Erstes Kapitel

Grundlagen des Vorranggrundsatzes A. Begriffsbestimmung des Vorranggrundsatzes An diversen Stellen der Rechtsordnung lassen sich Vorrangregelungen finden.1 Ist ein Sachverhalt Gegenstand von zwei oder mehreren Regelungen oder Regelwerken, bestimmen Vorrangregelungen ein Stufenverhältnis. Der einen Regelungsmöglichkeit wird der Vorzug zu Lasten der anderen Regelungsmöglichkeit gegeben. Vorrangregelungen tragen dazu bei, das Recht von Widersprüchen zu bereinigen, indem sie Kollisionsregeln vorsehen.2 Im Pflegeversicherungsrecht treten Vorrangregelungen insbesondere in drei Ausprägungen hervor: in dem Verhältnis der Leistungen der Pflegeversicherung zu anderen Sozialleistungen3, in dem Vorrang von Prävention und Rehabilitation4 und in dem Vorrang der ambulanten Pflege. Mit den ambulanten und den (teil)stationären Pflegeleistungen existieren rechtliche Regelungen, die den gleichen Sachverhalt auf verschiedene Arten regeln: Liegt Pflegebedürftigkeit vor, so kommen zur Unterstützung entweder ambulante oder (teil)stationäre Leistungen in Betracht. Diesbezüglich sieht die Pflegeversicherung ein Vorrang-Nachrang-Verhältnis zugunsten der ambulanten Pflege vor. Nur subsidiär kommt die Pflege eines Pflegebedürftigen in einer teil- bzw. in letzter Konsequenz vollstationären Einrichtung in Betracht. Vorrangregelungen können grundsätzlich Rechtsprinzipien sein. Rechtsprinzipien sind Sollensanforderungen, die unbestimmter und von größerer Allgemeinheit sind als Rechtsregeln, welche selbst im Gesetz mit Tatbestand und einhergehender

1 Siehe u. a. Regelungen, die die Normenhierarchie betreffen und §§ 305b, 1606 BGB, § 13 BUrlG. 2 Siehe dazu auch Röhl/Röhl, Rechtslehre, S. 157. 3 Vgl. § 13 SGB XI. 4 Vgl. § 5 SGB XI.

24

2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

Rechtsfolge konkret festgelegt sind.5 Sie geben eine Richtung für die Rechtsfolge vor, auch wenn sie deren Einzelheiten meist noch offenlassen und für die Entscheidung eines Einzelfalls deshalb oft weiterer Konkretisierung bedürfen.6 Bei Vorrangregelungen kann es sich grundsätzlich um solche Rechtsregeln von größerer Allgemeinheit als einer einzelnen Norm handeln. Ob dem so ist, hängt jedoch von der konkreten Ausgestaltung in der jeweiligen Regelungsmaterie ab. Insofern ist in der Pflegeversicherung problematisch, dass der Grundsatz des Vorrangs ambulanter Pflege in seiner grundlegenden Form in § 3 SGB XI als Programmsatz ausgestaltet ist, wodurch ihm die unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit abgesprochen wird.7 Ohne zwingende rechtliche Verbindlichkeit kann es sich jedoch nicht um eine „Norm [handeln], die gebietet, dass etwas in einem relativ auf die tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten möglichst hohem Maße realisiert wird“8. Insofern erstarkt der Grundsatz des Vorrangs ambulanter Pflege in der Pflegeversicherung nicht zu einem Rechtsprinzip.9 Dennoch handelt es sich dabei um einen Grundsatz von zentraler Bedeutung. So wird er vom BSG als übergeordnetes Ziel der Pflegeversicherung genannt.10

B. Hintergründe des Vorranggrundsatzes Für den Vorrang der ambulanten vor der stationären Pflege werden zwei Gründe angeführt: das Normalisierungsprinzip und die Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung.

I. Normalisierungsprinzip Das Normalisierungsprinzip entstammt dem Bereich der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Ursprünglich wurde es in Skandinavien entwickelt

5 Vgl. Röhl/Röhl, Rechtslehre, S. 283, 288; Canaris, Systemdenken, § 2 II 2 b. Siehe hierzu auch ausführlich Alexy, in: Schilcher/Koller/Funk, S. 32, S. 42. 6 Siehe Canaris, Systemdenken, § 2 II 2 b; Larenz, Methodenlehre, S. 456, S. 461. 7 Siehe dazu auch Zweiter Teil, Drittes Kapitel, A.; Dritter Teil, Zweites Kapitel, A. Vgl. zur Wirkung von Programmsätzen auch Münder, in: Münder/Meysen/Wiesner, SGB VIII, S. 187. Anders ist dies beispielsweise in der Sozialhilfe, weshalb hier anstatt von einem Vorranggrundsatz auch von einem Vorrangprinzip im Sinne eines Rechtsprinzips gesprochen werden kann. Siehe zum Vorranggrundsatz in der Sozialhilfe näher Dritter Teil, Sechstes Kapitel, C. II. Vgl. auch Groth, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, SGB XII, § 13, Überschrift zu Rn. 6 – 11. 8 Alexy, in: Schlicher/Koller/Funk, S. 32. 9 Vgl. hierzu auch Welti, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 2a Rn. 1. 10 BSG, Urt. v. 11. 04. 2002, B 3 P 10/01 R, NZS 2002, 543.

1. Kap.: Grundlagen des Vorranggrundsatzes

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und fand Nachahmung in anderen Ländern.11 Bank-Mikkelsen, einer der Wegbereiter des Normalisierungsprinzips, fasste es folgendermaßen zusammen: „Normalisierung bedeutet den [geistig] Behinderten ein so normales Leben wie möglich zu gestatten“.12 Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurden behinderte Menschen meist in sehr großen, oft abgelegenen Einrichtungen vom Rest der Welt abgeschottet. Dadurch sollten einerseits die Behinderten vor der Gesellschaft, andererseits die Gesellschaft vor den Behinderten geschützt werden.13 Mit einem sich ändernden Bild von behinderten Menschen ging die Forderung einher, diesen ein Leben zu ermöglichen, das weitgehend demjenigen nicht behinderter Menschen entspricht.14 Menschen mit Behinderung müssen die gleichen Rechte und Pflichten wie jedem anderen Mitglied der Gesellschaft zustehen. Darauf soll die spezielle und individuelle Unterstützung ausgerichtet sein.15 Zu einem weitgehend „normalen“ Leben gehören neben einem allgemein üblichen Tagesrhythmus, einer Trennung von Arbeit, Freizeit und Wohnen, einem normalen Jahresrhythmus, einem gewöhnlichen Lebensablauf, einer Respektierung von Bedürfnissen, dem angemessenen Kontakt zwischen den Geschlechtern und einer ausreichenden wirtschaftlichen Grundlage auch übliche Standards der alltäglichen Wohn- und Lebensbedingungen.16 Folge dieses Umdenkens war somit eine Abkehr vom Institutionsprinzip.17 Als Wohnumfeld kamen nun entweder der häusliche Bereich der Familie bzw. ein eigener Haushalt oder möglichst kleine, individuelle Einrichtungen in Betracht, in denen der Alltag weitgehend dem der üblichen Tagesabläufe gleicht.18 Im Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen fand also eine Entwicklung weg von großen hin zu kleinen, individuellen Einrichtungen oder sogar dem familiären Umfeld statt. Damit ging eine Verstärkung ambulanter Hilfen Hand in Hand.19 Pflegebedürftigkeit und Behinderung weisen Überschneidungen auf. In beiden Lebenssituationen wird besondere Unterstützung notwendig, die u. a. in Einrichtungen gewährt wird. Überdies kann Pflegebedürftigkeit mit Behinderung einhergehen, bzw. umgekehrt ist Behinderung oft einer der Auslöser für Pflegebedürf-

11 Vgl. hierzu ausführlich Jähnert, Behindertenrecht 1996, S. 150. Siehe zur Entwicklung des Normalisierungsprinzips näher Thimm, Das Normalisierungsprinzip, S. 19 f. 12 Siehe Thimm, Das Normalisierungsprinzip, S. 14. 13 Siehe Bank-Mikkelsen, in: Thimm, Das Normalisierungsprinzip, S. 50 f. 14 Vgl. Weber, Behindertenrecht 1996, S. 68. 15 Vgl. Bank-Mikkelsen, in: Thimm, Das Normalisierungsprinzip, S. 52. 16 Siehe Thimm, Das Normalisierungsprinzip, S. 21 und S. 155 ff.; Weber, Behindertenrecht 1996, S. 68. 17 Siehe hierzu auch Hahn/Eisenberger/Hall/Koepp/Krüger, S. 27 ff. 18 Vgl. Wallner, in: Thimm, Das Normalisierungsprinzip, S. 34 f.; Bank-Mikkelsen, in: Thimm, Das Normalisierungsprinzip, S. 53 ff; Mattner, Behinderte Menschen in der Gesellschaft, S. 90. 19 Vgl. Weber, Behindertenrecht 1996, S. 68; Jähnert, Behindertenrecht 1996, S. 150.

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

tigkeit.20 Aus diesem Grund wurde das Normalisierungsprinzip auf den Fall der Pflegebedürftigkeit übertragen.21 Auch den Pflegebedürftigen muss ein allgemein üblicher Alltag und ein Leben in größtmöglicher Selbstbestimmung und Selbstständigkeit gewährt werden, was bereits die Menschenwürde gebietet, vgl. § 2 Abs. 1 S. 1 SGB XI. Es sollte trotz Hilfebedarfs eine weitgehende Unabhängigkeit zu erreichen versucht und für soziale Teilhabe gesorgt werden.22 Der Verbleib in häuslicher Umgebung kann als Teil des selbstbestimmten Lebens angesehen werden. Die Gesetzesbegründung bringt das Normalisierungsprinzip in der Aussage zum Ausdruck, dass die häusliche Pflege den Bedürfnissen und Wünschen der Pflegebedürftigen am besten Rechnung trägt.23

II. Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung Als weiteres Argument wird die Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung angeführt. Hierbei handelt es sich wohl um das eigentlich ausschlaggebende Argument, welches hinter der Aufnahme des Vorranggrundsatzes in die Pflegeversicherung stand.24 Der Gesetzgeber ging davon aus, dass die ambulante Versorgung in der Regel kostengünstiger sei als die stationäre.25 Insofern diene der Vorranggrundsatz einem adäquaten Ausgleich zwischen den begrenzten finanziellen Mitteln der Pflegeversicherung und den Interessen der Solidargemeinschaft.26

C. Schlussfolgerung Der Vorranggrundsatz im Sinne des Vorrangs ambulanter vor (teil)stationärer Pflege ist eine der zentralen Leitlinien der Pflegeversicherung. Hintergrund des Vorranggrundsatzes ist zum einen, dass durch dieses Stufenverhältnis den Pflegebedürftigen trotz Pflegebedürftigkeit ein möglichst „normales“ Leben ermöglicht wird. Zum anderen spielt der Kostenaspekt eine zentrale Rolle.

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Vgl. schon den Wortlaut des § 14 Abs. 1 SGB XI. Siehe hierzu auch ausführlich Welti, SRa 2012, S. 189, S. 191. 21 Vgl. Krahmer/Plantholz, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 3 Rn. 2; Klie, in: Klie/ Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 2 Rn. 5; Philipp, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, SGB XI, § 3 Rn. 1; Weber, Behindertenrecht 1996, S. 65, S. 68 f.; Fuchs, in: Schulin, Pflegeversicherung, § 5 Rn. 50; Jürgens, ZfSH/SGB 1994, S. 457. 22 Vgl. Jürgens, ZfSH/SGB 1994, S. 457; Klie, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 2 Rn. 5. Vgl. auch BT-Drucks. 12/5262, S. 89. 23 Siehe BT-Drucks. 12/5262, S. 90. Vgl. auch BR-Drucks. 718/07, S. 217. 24 Vgl. Maschmann, NZS 1995, S. 110. 25 Siehe BT-Drucks. 12/5262, S. 90. 26 Siehe BT-Drucks. 12/5262, S. 90.

2. Kap.: Rechtliche Entwicklung des Vorranggrundsatzes

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Zweites Kapitel

Rechtliche Entwicklung des Vorranggrundsatzes A. Vorgänger des Vorranggrundsatzes im Bundessozialhilfegesetz Der Grundsatz des Vorrangs ambulanter Pflege wurde zusammen mit der sozialen Pflegeversicherung mit Wirkung zum Jahresbeginn 1995 eingeführt.27 Ein sehr ähnlicher Grundsatz existierte jedoch schon vorher im Sozialhilferecht.28 Dieser kann als Vorgänger des Vorranggrundsatzes der Pflegeversicherung verstanden werden. Denn das Sozialhilferecht war vor Einführung der Pflegeversicherung das einzige Instrumentarium, welches allgemein Leistungen bei Pflegebedürftigkeit gewährte, Bedürftigkeit vorausgesetzt. Der Grundsatz des Vorrangs der ambulanten vor der stationären Pflege wurde durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 mit Wirkung zum 01. Januar 1984 mit dem § 3a in das Bundessozialhilfegesetz eingefügt.29 Damit wurde erstmals der „offenen“ Pflege, d. h. einer solchen in ambulanter Form, der Vorrang vor der „geschlossenen“ Pflege eingeräumt.30 Durch die systematische Stellung der Vorschrift unter „Allgemeines“ erlangte der Grundsatz unmittelbare Bedeutung für das gesamte BSHG.31 Indem der Wortlaut generell die Beschränkung der Hilfe in stationären Einrichtungen festlegte, wurde gleichzeitig der halboffenen Hilfe, also der Hilfe in teilstationären Einrichtungen, der Vorzug gegeben.32 Auch hierfür wurden als Gründe zum einen Kostenerwägungen und zum anderen die Menschenwürde und eine größere Sachgerechtigkeit angeführt.33 § 3a BSHG vereinte in sich eine Weisung zur Einzelfallgestaltung und eine institutionelle Gewährleistungspflicht. Er legte für die Sozialhilfegestaltung die Regel fest, dass bei einem sozialhilferechtlich anerkannten Bedarf, bei dem sowohl ambulante als auch stationäre Hilfe in Betracht kam, die offene Hilfe grundsätzlich 27

Vgl. § 3 des Pflege-Versicherungsgesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl., Jahrgang 1994, Teil I, S. 1014). 28 Vgl. Wagner, in: Hauck/Noftz, SGB XI, § 3 Rn. 3. 29 Vgl. BGBl., Jahrgang 1983, Teil I, S. 1532. § 3a BSHG lautete: „Der Träger der Sozialhilfe soll darauf hinwirken, dass die erforderliche Hilfe soweit wie möglich außerhalb von Anstalten, Heimen oder gleichartigen Einrichtungen gewährt werden kann.“ Eine Änderung fand erst 1996 durch das Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts (BGBl., Jahrgang 1996, Teil I, S. 1088) statt. Zu diesem Zeitpunkt existierte jedoch bereits das Pflegeversicherungsgesetz mit seiner Regelung des Vorranggrundsatzes, weshalb die geänderte Fassung nicht mehr von Relevanz ist. 30 Vgl. zu den Begriffen auch Krahmer, in: Armborst, BSHG, § 3a Rn. 3. 31 Vgl. Gottschick/Giese, BSHG, § 3a Rn. 2. 32 Vgl. Gottschick/Giese, BSHG, § 3a Rn. 2. 33 Vgl. BT-Drucks. 10/335, S. 103; Giese, ZfSH/SGB 1984, S. 199. A.A. Schellhorn/ Jirasek/Seipp, § 3a Rn. 1.

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

vorging. Daneben wurde der Sozialhilfeträger verpflichtet, vorrangig Einrichtungen der offenen Hilfe zu fördern und entsprechende Kapazitäten zu schaffen.34 Aufgrund des Charakters als Soll-Vorschrift konnte der Sozialhilfeträger nur in atypischen Situationen im Rahmen einer Ermessensentscheidung abweichend dennoch stationäre Hilfe gewähren.35 Die Bindungswirkung der Soll-Vorschrift wurde jedoch durch die unbestimmten Rechtsbegriffe „soweit wie möglich“ und „hinwirken“ wieder relativiert. Dabei bedeutete „soweit wie möglich“, dass im konkreten Bedarfsfall trotz des grundsätzlichen Vorrangs der offenen Hilfe eine geschlossene Hilfe geboten sein konnte.36 Durch die Verwendung des Begriffs „darauf hinwirken“ fand eine zusätzliche Abmilderung statt, so dass die Regelung stärker den Charakter einer programmatischen Soll-Vorschrift hatte.37 § 3a BSHG stand in einem sachlichen Regelungszusammenhang mit den ebenfalls durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 neu eingefügten bzw. geänderten §§ 3 Abs. 2 und 93 Abs. 2 BSHG.38 Auch diese sollten einen Vorrang ambulanter Hilfen bewirken, § 3 Abs. 2 BSHG durch die subjektive Nachfragesteuerung, § 93 Abs. 2 BSHG durch die objektive Angebotssteuerung.39 Das Wunsch- und Wahlrecht des Hilfeempfängers in § 3 Abs. 2 BSHG wurde dahingehend geändert, dass dem Wunsch auf stationäre Hilfe nur entsprochen werden sollte, wenn dies erforderlich war, weil andere Hilfen nicht möglich oder nicht ausreichend waren, vgl. § 3 Abs. 2 S. 2 BSHG40. Mit der Neufassung des § 93 Abs. 2 BSHG wurde dem Sozialhilfeträger mehr als zuvor die Möglichkeit eingeräumt, auf die zu übernehmenden Kosten bei der Hilfe in einer Einrichtung Einfluss zu nehmen.41 Zu diesem Zweck wurde die Kostenübernahme auf solche Einrichtungen beschränkt, mit denen der Sozialhilfeträger eine Kostenvereinbarung abgeschlossen hatte, vgl. § 93 Abs. 2 S. 1 Hs. 1 BSHG42.43 In der Hilfe zur Pflege wurde der allgemeine Vorranggrundsatz des § 3a BSHG durch § 69 BSHG44 modifiziert. Dieser sah über das generelle Stufenverhältnis zugunsten der offenen Hilfe hinausgehend vor, dass der Sozialhilfeträger im Bereich der Pflege vorrangig auf eine solche durch nahestehende Personen oder Nachbarn hinwirken solle, vgl. § 69 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 1 BSHG. Dadurch war der Vor34

Siehe Birk, BSHG, § 3a Rn. 7. Siehe BVerwG, Urt. v. 17. 08. 1978, Az 5 C 33/77, BVerwGE 56, 220; BVerwG, Urt. v. 14. 01. 1982, Az 5 C 70/80, BVerwGE 64, 318. 36 Siehe Krahmer, in: Armborst, BSHG, § 3a Rn. 1. 37 Vgl. Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, § 3a Rn. 4. 38 Vgl. Giese, ZfSH/SGB 1984, S. 195. 39 Siehe Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, § 3 Rn. 8, § 3a Rn. 3. 40 In der durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 geänderten Fassung. 41 Siehe Giese, ZfF 1984, S. 96. 42 In der durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 geänderten Fassung. 43 Vgl. Giese, ZfF 1984, S. 98. 44 In der Fassung vor Inkrafttreten des PflegeVG. 35

2. Kap.: Rechtliche Entwicklung des Vorranggrundsatzes

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ranggrundsatz in der Hilfe zur Pflege nach dem BSHG nicht nur geprägt von einem Vorrang der ambulanten vor der stationären Hilfe, sondern darüber hinaus von einem Vorrang der informellen vor der professionellen, ambulanten Hilfe.

B. Gedanklicher Vorgänger des Vorranggrundsatzes im Krankenversicherungsrecht Neben § 3a BSHG kann ein weiterer Vorgänger des im Vorranggrundsatz der Pflegeversicherung enthaltenen Gedankens auch in den Regelungen zur Schwerpflegebedürftigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung gesehen werden.45 In diesen Regelungen ist insbesondere deshalb nach einem möglichen Vorbild zu suchen, da sie ab ihrer Einführung im Jahr 1989 eine zumindest partielle Übergangslösung bis zur Einführung der Pflegeversicherung darstellten.46 Ein der Regelung des § 3a BSHG vergleichbarer, das Vorrangverhältnis abstrakt regelnder Vorgänger des Vorranggrundsatzes, existierte in den Regelungen zur Schwerpflegebedürftigkeit nicht. Die §§ 53 – 57 SGB V a.F.47 sahen mit der häuslichen Pflegehilfe, dem alternativ gewährten Geldbetrag und der Überbrückungspflege von vornherein nur Ansprüche bei häuslicher Pflege vor.48 Gem. § 55 Abs. 1 S. 1 SGB V a.F. sollten die Leistungen bewirken, dass Schwerpflegebedürftige so lange wie möglich zu Hause in ihrer gewohnten Umgebung betreut werden konnten.49 Zu diesem Zweck dienten die Leistungen auch der Unterstützung der Angehörigen bei der häuslichen Pflege.50 Mithin waren die Regelungen zur Schwerpflegebedürftigkeit insgesamt durchzogen von dem Gedanken der häuslichen Pflege, insbesondere durch Angehörige, als der zu bevorzugenden Pflegeform. Auch diese Regelungen unterstützten die vorrangige Gewährung ambulanter Pflege.51

C. Schlussfolgerung § 3a BSHG regelte erstmals für das Sozialhilferecht den Vorrang ambulanter vor stationärer Hilfe. Damit kann der Vorranggrundsatz der Pflegeversicherung auf diese 45

So auch Leitherer, in: Schulin, Pflegeversicherung, § 16 Rn. 4. Siehe Krahmer, in: Armborst, BSHG, Vor. § 68 Rn. 2; Naegele, ZSR 1992, S. 610 f. 47 In der Fassung des Gesundheitsreformgesetzes vom 20. 12. 1988 (BGBl., Jahrgang 1988, Teil I, S. 2477). 48 Siehe hierzu näher Maschmann, NZS 1993, S. 157 ff. 49 BT-Drucks. 11/2237, S. 182. 50 BT-Drucks. 11/2237, S. 182. Siehe auch Haines, in: Hauck/Noftz, SGB V, 1989, § 53 Rn. 2. 51 So auch Maschmann, NZS 1993, S. 155. 46

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

Regelung als Vorgänger zurückblicken. Dies gilt insbesondere deshalb, weil das Risiko der Pflegebedürftigkeit vor Einführung der Pflegeversicherung überwiegend durch das Sozialhilferecht abgedeckt wurde. Zusätzlich stützten die Regelungen in §§ 3 Abs. 2, 93 Abs. 2, 69 Abs. 1, Abs. 2 BSHG den in § 3a BSHG niedergeschriebenen generellen Grundsatz der Vorrangigkeit ambulanter Hilfen. Fortgeführt wurde der Vorranggedanke durch die alleinige Leistungsgewährung bei ambulanter Pflege auch in den Regelungen zur Schwerpflegebedürftigkeit im SGB V, welche als Übergangslösung bis zur Einführung der Pflegeversicherung dienten.

Drittes Kapitel

Der Vorranggrundsatz im SGB XI A. Vorranggrundsatz als Programmsatz in § 3 SGB XI Der Grundsatz des Vorrangs der ambulanten vor der stationären Pflege, welcher bereits im Rahmen der Sozialhilfe eingeführt worden war, wurde in der sozialen Pflegeversicherung beibehalten und fortgesetzt. In der Pflegeversicherung ist er in § 3 SGB XI festgeschrieben.52 § 3 SGB XI wurde mit dem PflegeVG mit Wirkung zum 1. Januar 1995 eingeführt und besteht seitdem unverändert.53 Er befindet sich im ersten Kapitel und damit unter den allgemeinen Vorschriften. Dort geregelt sind die Grundsätze, die für die Pflegeversicherung insgesamt maßgebend sind und meist als verbindliche Leitlinien dienen.54 So enthält auch § 3 SGB XI eines der für die Pflegeversicherung wesentlichen Ziele.55 Mit § 3 S. 1 SGB XI erklärt der Gesetzgeber die häusliche Pflege für vorrangig gegenüber allen anderen Pflegearten.56 Sie geht sowohl der vollstationären als auch der teilstationären und der Kurzzeitpflege vor. § 3 S. 2 SGB XI stellt darüber hinaus klar, dass gleichzeitig die teilstationäre Pflege und die Kurzzeitpflege wiederum der vollstationären Pflege vorgehen. Geht man noch einen Schritt weiter, ist die teilstationäre als nur teilweise, die ambulante Pflege ergänzende stationäre

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Der Vorranggrundsatz ist sowohl für die soziale als auch für die private Pflegeversicherung maßgebend, vgl. Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 3 Rn. 3; Krahmer, in: Klie/ Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 3 Rn. 5. Da vorliegend jedoch nur der Vorranggrundsatz im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung Gegenstand ist, bleibt derjenige der privaten Pflegeversicherung außer Betracht. 53 Siehe Wagner, in: Hauck/Noftz, SGB XI, § 3 Rn. 1. 54 Siehe Wagner, in: Hauck/Noftz, SGB XI, § 1 Rn. 2. 55 Siehe BT-Drucks. 12/5262, S. 89; BSG, Urt. v. 11. 04. 2002, B 3 P 10/01 R, NZS 2002, 543. 56 Vgl. Krahmer, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 3 Rn. 2.

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

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Pflegeform wiederum vorrangig vor der Kurzzeitpflege als kurzzeitiger vollstationärer Pflegeform. Dies kommt auch in § 42 S. 1 SGB XI zum Ausdruck. Grundsätzlich stehen die ambulante Pflege durch informelle Pflegekräfte und die ambulant professionell erbrachte Pflege in § 3 SGB XI gleichrangig nebeneinander. Ersterer wird, wie dies noch im BSHG der Fall war, kein Vorrang gegenüber der ambulanten, professionellen Pflege eingeräumt. Dennoch lässt auch das SGB XI eine besondere Betonung der ambulanten, informellen Pflege erkennen.57 So äußert § 3 S. 1 SGB XI im Zusammenhang mit dem Vorrang der häuslichen Pflege, dass die Pflegeversicherung die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen soll. Doch nicht nur durch die besondere Erwähnung, sondern auch durch die zahlreichen Regelungen im Leistungsrecht soll das SGB XI verstärkt auf die Übernahme der Pflege durch ehrenamtliche Pflegekräfte hinwirken.58 Hinzu kommt die Regelung des § 4 Abs. 2 S. 1 SGB XI. Sie stellt klar, dass die Leistungen der Pflegeversicherung keine Vollversorgung der Pflegebedürftigen bezwecken. Durch die Begrenzung der Leistungen auf einen monatlichen Höchstbetrag muss der darüber hinausgehende Bedarf an Pflege selbstständig bewältigt werden.59 In diesem Zusammenhang betont § 4 Abs. 2 S. 1 SGB XI, dass den Leistungen der Pflegeversicherung bei häuslicher und teilstationärer Pflege nur eine ergänzende Funktion neben der Pflege durch Angehörige, Nachbarn oder sonstige Ehrenamtliche zukommt. Ebenso denkbar ist jedoch eine Ergänzung der Leistungen durch eine aus Eigenmitteln finanzierte professionelle Pflege. Dass diese Option in § 4 Abs. 2 S. 1 SGB XI keine Erwähnung findet, verdeutlicht, dass der Gesetzgeber von der ambulanten Pflege durch informelle Pflegekräfte als Grundform ausgeht. Die hervorgehobene Bedeutung der ambulanten, informellen Pflege wird überdies daran deutlich, dass Ausgangspunkt für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit nach dem bis Ende 2016 geltenden Pflegebedürftigkeitsbegriff gem. § 15 Abs. 3 S. 1 SGB XI die Pflege durch eine Laienpflegeperson ist.60 Auch dies zeugt davon, dass in dem Konzept der Pflegeversicherung der ambulanten, informellen Pflege ein besonderer Stellenwert zukommt.61 Der Vorrang der ambulanten Pflege gilt uneingeschränkt, eine finanzielle Schranke sieht § 3 SGB XI nicht vor.62 Bei dem in § 3 SGB XI geregelten Vor-

57 Siehe auch Wagner, in: Hauck/Noftz, SGB XI, § 3 Rn. 4; Mager, SF 1996, S. 247; Hopfe, ZSR 1995, S. 270; Naegele, ZSR 1992, S. 620; Frank, NDV 1991, S. 412; Becker, SGb 2013, S. 126. 58 Siehe hierzu Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. III. 4. 59 Vgl. Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 4 Rn. 6; Krahmer, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 4 Rn. 15. 60 Siehe hierzu Ziff. 6 der Pflegebedürftigkeits-Richtlinie. Siehe auch Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 3 Rn. 2. 61 Vgl. auch Windel, ErbR 2010, S. 241. 62 Krahmer, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 3 Rn. 5.

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

ranggrundsatz handelt es sich um einen Programmsatz für die Pflegeversicherung.63 Er ist als Soll-Vorschrift ausgestaltet. Unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit entfaltet der Programmsatz erst durch die Verbindung mit konkreten Leistungs- und Verfahrensnormen.64 Daneben prägt er als Programmsatz mittelbar als Auslegungsmaßstab die gesamte soziale Pflegeversicherung.65

B. Ausprägung des Vorranggrundsatzes im Leistungsrecht Wie bereits dem Wortlaut des § 3 SGB XI zu entnehmen ist, soll die vorrangige Unterstützung der ambulanten Pflege anhand des Leistungsrechts erfolgen.66 Das Gesetz unterteilt die Leistungen in Leistungen bei häuslicher Pflege, Leistungen bei teilstationärer Pflege und Kurzzeitpflege und Leistungen bei vollstationärer Pflege. Letztlich sollen jedoch auch die Leistungen der teilstationären Pflege und der Kurzzeitpflege zur Aufrechterhaltung der häuslichen Pflege beitragen.67 Beide dienen der Ergänzung der häuslichen Pflege.68 Welche Leistungen für die verschiedenen Pflegeformen vorgesehen sind und welche Stellung der ambulanten Pflege damit im Leistungsrecht zukommt, wird bei folgender Kategorisierung besonders deutlich: Leistungen bei ambulanter, professioneller Pflege, Leistungen bei ambulanter, informeller Pflege, Leistungen bei ambulanter, kombinierter Pflege und im Gegensatz hierzu Leistungen bei vollstationärer Pflege.

I. Allgemeine Leistungsvoraussetzungen Damit überhaupt ein Anspruch auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung gegeben ist, müssen bestimmte allgemeine Voraussetzungen vorliegen. Erst wenn diese erfüllt sind, greifen die Leistungen ein und erst unter diesen Voraussetzungen stellt sich die Frage des Rangverhältnisses von ambulanten und stationären Leistungen. Zentrale Voraussetzung für einen Anspruch ist, neben einem bestehenden

63 Siehe Krahmer, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 3 Rn. 5; Dalichau/Grüner/ Müller-Alten, SGB XI, § 3 S. 2; Wagner, in: Hauck/Noftz, SGB XI, § 3 Rn. 2. 64 Vgl. Krahmer/Plantholz, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 3 Rn. 6. 65 Siehe Krahmer, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 3 Rn. 5; Trenk-Hinterberger, in: Wannagat, SGB XI, § 3 Rn. 4. 66 So auch Maschmann, NZS 1995, S. 110; Krahmer/Plantholz, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 3 Rn. 6. 67 Vgl. Wagner, in: Hauck/Noftz, SGB XI, § 3 Rn. 12; Dalichau/Grüner/Müller-Alten, SGB XI, § 3 S. 8. 68 BT-Drucks. 12/5262, S. 90.

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

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Versicherungsverhältnis69, einem Antrag und einer Vorversicherungszeit70, das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit. Gem. § 14 Abs. 1 SGB XI ist nach dem bis Ende 2016 geltenden Pflegebedürftigkeitsbegriff71 eine Person pflegebedürftig, wenn sie wegen einer Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens auf Dauer in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedarf. Die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen, bei denen der Hilfebedarf bestehen muss, sind die in § 14 Abs. 4 SGB XI abschließend aufgezählten.72 Sie lassen sich in Verrichtungen der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung und Mobilität) und Verrichtungen der hauswirtschaftlichen Versorgung unterteilen. Der Hilfebedarf muss auf Dauer bestehen, d. h. voraussichtlich für mindestens sechs Monate, vgl. § 14 Abs. 1 SGB XI. Hilfebedarf in erheblichem oder höherem Maße besteht, wenn der Pflegebedürftige einer der drei Pflegestufen nach § 15 SGB XI zuzuordnen ist. Die Einteilung in Pflegestufen wird ab dem 01. 01. 2017 durch die neuen fünf Pflegegrade ersetzt.73 Während jede Pflegestufe einen mehrfach wöchentlich anfallenden Hilfebedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung voraussetzt, variiert der notwendige Hilfebedarf bei der Grundpflege je nach Pflegestufe. So setzt Pflegestufe I gem. § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB XI voraus, dass bei wenigstens zwei Verrichtungen der Grundpflege mindestens einmal täglich Hilfe notwendig ist. Pflegestufe II erfordert, dass im Bereich der Grundpflege mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten Hilfe erforderlich ist, § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB XI. Pflegestufe III ist gegeben, wenn im Bereich der Grundpflege täglich rund um die Uhr, auch nachts, Hilfebedarf anfällt, § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB XI. Entscheidend ist zudem der Zeitaufwand, den ein Laie für diese Pflegetätigkeiten benötigt. Er beträgt mindestens 90 Minuten bei Pflegestufe I, drei Stunden bei Pflegestufe II und fünf Stunden bei Pflegestufe III. Der überwiegende Anteil der Zeit muss, mit Ausnahme der Pflegestufe I, zudem auf die Grundpflege entfallen, vgl. § 15 Abs. 3 S. 1 SGB XI. Neben den Pflegebedürftigen der Pflegestufen I bis III können auch die Pflegebedürftigen der sog. Pflegestufe 0 bestimmte Leistungen der Pflegeversicherung erhalten. Ihr gehören die Personen an, deren Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung zwar nicht das Ausmaß der Pflegestufe I erreicht, die aber einen erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarf haben, vgl. § 45a 69 Der versicherte Personenkreis richtet sich weitgehend nach demjenigen der gesetzlichen Krankenversicherung, vgl. §§ 20 ff. SGB XI. Für privat Krankenversicherte besteht die Pflicht eine private Pflegeversicherung abzuschließen, die nach Art und Umfang der sozialen Pflegeversicherung vergleichbar ist, §§ 1 Abs. 2 S. 2, 23, 110 SGB XI. 70 Siehe § 33 SGB XI. 71 Zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff siehe Zweiter Teil, Drittes Kapitel, F. I. 72 Vgl. hierzu näher BSG, Urt. v. 19. 02. 1998, Az B 3 P 3/97 R, NZS 1998, 525; Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 14 Rn. 5. 73 Siehe hierzu ausführlich Zweiter Teil, Drittes Kapitel, F.

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 2 SGB XI. Wann die Alltagskompetenz als dauerhaft erheblich eingeschränkt gilt, ist nach den in § 45a Abs. 2 SGB XI festgelegten Kriterien zu bestimmen.74 Aus einer Analogie zu § 14 Abs. 1 SGB XI folgt für die Dauerhaftigkeit auch hier ein Zeitraum von voraussichtlich wenigstens sechs Monaten.75

II. Leistungen bei ambulanter, professioneller Pflege 1. Pflegesachleistung als Grundpflegeleistung Eine Form der ambulanten Pflege ist die häusliche Pflege durch professionelle76 Pflegekräfte. Grundleistung bei dieser Pflegeform ist die Pflegesachleistung gem. § 36 SGB XI. Die hierbei gewährte Pflege wird in der Regel77 über zugelassene Pflegedienste erbracht, vgl. § 36 Abs. 1 S. 3 i.V.m. § 72 SGB XI.78 Der Begriff der „Häuslichkeit“ ist aufgrund des Vorrangs der ambulanten Pflege weit zu verstehen.79 Entscheidend ist die Art der Durchführung der Pflege. Wird sie durch einen ambulanten Pflegedienst durchgeführt, handelt es sich um häusliche Pflege.80 Inhalt der Sachleistungen können grundsätzlich nur Grundpflegeleistungen und Leistungen der hauswirtschaftlichen Versorgung sein. Allerdings hat die Übergangsregelung des § 124 SGB XI81 den Sachleistungskatalog zugunsten von häuslichen Betreuungsleistungen geöffnet. Zu den häuslichen Betreuungsleistungen zählen insbesondere die in § 124 Abs. 2 S. 2 aufgezählten Leistungen, z. B. die Kommunikation, die Aufrechterhaltung sozialer Kontakte oder die Gestaltung des Alltags. Der Gesamtwert der zu erbringenden Pflegesachleistungen ist der Höhe nach begrenzt und variiert abhängig von der Pflegestufe, vgl. § 36 Abs. 3 u. Abs. 4, § 123 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 und Abs. 4 SGB XI. Der Pflegebedürftige kann Pflegeeinsätze bis zur Ausschöpfung der Höchstbeträge abrufen. Es bleibt ihm selbst überlassen, wie viele Pflegeeinsätze er beansprucht und wie er sie auf die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung verteilt.82 74

Vgl. hierzu näher Klie, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 45a Rn. 6. Siehe BSG, Urt. v. 12. 08. 2010, Az B 3 P 3/09 R, NZS 2011, 434. 76 Alternativ zu dem Begriff der professionellen Pflege wird diese ambulante Pflegeform auch als formelle oder erwerbsmäßige Pflege bezeichnet. 77 In selteneren Fällen werden sie von bei der Pflegekasse angestellten Pflegekräften oder von Einzelpersonen, mit denen die Pflegekasse einen Vertrag nach § 77 Abs. 1 SGB XI abgeschlossen hat, erbracht, vgl. §§ 36 Abs. 1 S. 3, 77 Abs. 2, § 36 Abs. 1 S. 4 SGB XI. 78 Philipp, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, SGB XI, § 36 Rn. 2. 79 Vgl. Maschmann, NZS 1995, S. 116. 80 Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 36 Rn. 5. 81 Die Übergangsregelung wurde durch das Pflege-Neuausrichtungsgesetz (BGBl., Jahrgang 2012, Teil I, S. 2246) eingefügt. Sie bleibt bis zur Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs bestehen (BT-Drucks. 18/5926). 82 BT-Drucks. 12/5262, S. 111. 75

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

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2. Medizinische Behandlungspflege Mit der Pflegebedürftigkeit geht häufig die Notwendigkeit medizinischer Behandlungspflege einher.83 Sie ist nicht Inhalt der Pflegesachleistungen, sondern gem. § 37 Abs. 2 SGB V von der Krankenkasse zu erbringen. Dies gilt selbst für solche verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen, die bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit zu berücksichtigen sind, § 37 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 SGB V, § 15 Abs. 3 S. 2 SGB XI.84 Unter Leistungen der medizinischen Behandlungspflege sind krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen zu verstehen, welche typischerweise nicht von einem Arzt, sondern von Vertretern medizinischer Hilfsberufe oder auch von Laien erbracht werden.85 Sie müssen der Behandlung einer Erkrankung dienen.86 Beispiele sind Injektionen, Verbandswechsel oder die Dekubitusversorgung.87 Kein Anspruch gegen die Krankenkasse auf medizinische Behandlungspflege besteht, wenn sie durch eine im Haushalt lebende Person übernommen werden kann, § 37 Abs. 3 SGB V. 3. Ergänzende Leistungen a) Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen Neben der Pflegesachleistung als Grundleistung bei häuslicher, professioneller Pflege hat der Pflegebedürftige einen Anspruch auf Versorgung mit Pflegehilfsmitteln und auf wohnumfeldverbessernde Maßnahmen, § 40 Abs. 1 S. 1, Abs. 4, § 123 Abs. 2 SGB XI. Der Anspruch auf Pflegehilfsmittel umfasst zum Verbrauch bestimmte Hilfsmittel (z. B. Desinfektionsmittel oder Unterlagen) und technische Hilfsmittel (z. B. Pflegebetten oder Hausnotrufanlagen).88 Die Pflegehilfsmittel werden nicht abhängig von der Pflegestufe gewährt, sondern nur dann, wenn sie zur Erreichung der in § 40 83

Vgl. Plantholz, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 36 Rn. 10. Verrichtungsbezogen krankheitsspezifisch sind solche Pflegemaßnahmen, die an sich der Behandlungspflege zuzurechnen sind, gleichzeitig aber untrennbar Bestandteil einer der Katalogverrichtungen des § 14 Abs. 4 SGB XI sind, vgl. § 15 Abs. 3 S. 3 SGB XI. Beispiele sind das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen ab Klasse 2 oder die Einmalkatheterisierung. Wird die Leistung einheitlich von derselben Pflegeperson erbracht, kommt es zu einer Doppelzuständigkeit von Kranken- und Pflegekasse. Die Kosten sind je nach dem Anteil „reiner“ Grundpflege an den verrichtungsbezogenen krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen zwischen der Kranken- und der Pflegekasse aufzuteilen. Siehe hierzu auch BSG, Urt. v. 17. 03. 2005, Az B 3 KR 9/04 R, NZS 2006, 91; BSG, Urt. v. 17. 06. 2010, B 3 KR 7/09 R, BSGE 106, 182 ff. 85 Vgl. u. a. BSG, Urteil vom 19. 02. 1998 – B 3 P 3/97 R, BSGE 82, 32 ff.; BSG, Urteil vom 30. 10. 2001 – B 3 KR 27/01 R, BSGE 89, 52; BSG, Urteil vom 17. 03. 2005 – B 3 KR 9/04 R, BSGE 94, 194. 86 Vgl. BSG, Urt. v. 17. 03. 2005, Az B 3 KR 35/04 R, NZS 2006, 34. 87 Siehe BSG, Urt. v. 10. 11. 2005, Az B 3 KR 38/04 R. 88 Leitherer, in: KassKomm, SGB XI, § 40 SGB Rn. 2, Rn. 10, Rn. 24. 84

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

Abs. 1 S. 1 SGB XI genannten Ziele notwendig sind.89 Doch auch Pflegehilfsmittel werden nicht unbegrenzt zugestanden. Vielmehr dürfen die Aufwendungen der Pflegekasse für zum Verbrauch bestimmte Hilfsmittel monatlich 40 E nicht übersteigen, vgl. § 40 Abs. 2 SGB XI. Die technischen Hilfsmittel sind vorrangig leihweise zu überlassen, vgl. § 40 Abs. 3 SGB XI. Daneben können gem. § 40 Abs. 4 SGB XI finanzielle Zuschüsse für Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes gewährt werden. In Abgrenzung zu den Pflegehilfsmitteln sind die wohnumfeldverbessernden Maßnahmen solche, die entweder mit wesentlichen Eingriffen in die Bausubstanz verbunden sind oder die den Ein- und Umbau von Mobiliar betreffen.90 Die Zuschüsse sind auf einen Betrag von 4.000 E je Maßnahme beschränkt, § 40 Abs. 4 S. 2 SGB XI. b) Zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen Seit dem 1. Januar 2015 können alle Pflegebedürftigen zusätzliche Betreuungsund Entlastungsleistungen in Anspruch nehmen, § 45b Abs. 1a SGB XI.91 Hierfür erhalten sie die Kosten bis zu einem Betrag von 104 E pro Monat ersetzt. Zusätzliche Betreuungsleistungen können beispielsweise eingesetzt werden für die Kosten der Unterkunft und Versorgung bei teilstationärer Pflege oder für niedrigschwellige Betreuungsangebote wie Betreuungsgruppen für Demenzkranke, vgl. § 45b Abs. 1 S. 6 SGB XI.92 Zusätzliche Entlastungsleistungen sollen der Deckung des Bedarfs an Unterstützung im Haushalt, an Unterstützung bei der Bewältigung von allgemeinen oder pflegebedingten Anforderungen des Alltags oder an Unterstützung bei der eigenverantwortlichen Organisation individuell benötigter Hilfeleistungen dienen.93 Beispiele sind Serviceleistungen im Bereich des Haushalts, die Übernahme von Fahr- und Begleitdiensten oder Einkaufs- und Botengänge.94 Überdies können Pflegebedürftige einen Anteil ihres Pflegesachleistungsanspruchs von maximal 40 % für weitere niedrigschwellige Betreuungs- und Entlastungsangebote einsetzen, § 45b Abs. 3 SGB XI. c) Tages- und Nachtpflege Des Weiteren hat der Pflegebedürftige gem. § 41 SGB XI einen Anspruch auf teilstationäre Pflege in Einrichtungen der Tages- oder Nachtpflege. Die restliche Zeit 89

Linke, in: Krauskopf, SGB XI, § 40 Rn. 3. Vgl. BSG, Urt. v. 12. 06. 2008, Az B 3 P 6/07 R, BSGE 101, 22; Vogel, in: Klie/Krahmer/ Plantholz, SGB XI, § 40 Rn. 26. 91 Siehe hierzu näher BT-Drucks. 18/1798, S. 30. 92 Siehe hierzu auch näher von Schwanenflügel, ZRP 2008, S. 7; Philipp, in: Knickrehm/ Kreikebohm/Waltermann, SGB XI, § 45b Rn. 5. 93 Vgl. BT-Drucks. 18/1798, S. 29. 94 Vgl. BT-Drucks. 18/1798, S. 34. 90

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

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verbringt er in häuslicher Pflege, weshalb die teilstationäre Pflege in besonderem Maße den Leistungen bei häuslicher Pflege zuzurechnen ist.95 Teilstationäre Pflege kann neben der ambulanten Pflege auch als Dauerleistung in Anspruch genommen werden.96 Die Höhe des Anspruchs variiert nach der Pflegestufe und stimmt mit den Pflegesachleistungsbeträgen überein, vgl. § 41 Abs. 2 SGB XI. d) Kurzzeitpflege Im Gegensatz zur Tages- und Nachtpflege befindet sich der Pflegebedürftige bei der Kurzzeitpflege gem. § 42 SGB XI zwar vollstationär in einem Pflegeheim i.S.d. § 72 Abs. 2 SGB XI, jedoch nur für einen begrenzten Zeitraum.97 Der Anspruch auf Kurzzeitpflege setzt eine vorübergehende Sondersituation voraus, während derer weder häusliche noch teilstationäre Pflege möglich oder ausreichend ist. Grund für die Sondersituation kann entweder eine Übergangszeit im Anschluss an eine stationäre Behandlung98 oder eine sonstige Krisensituation99 sein, § 42 Abs. 1 S. 2 SGB XI. Anspruch auf Kurzzeitpflege besteht längstens für einen Zeitraum von acht Wochen pro Kalenderjahr, § 42 Abs. 2 S. 1 SGB XI. Der Anspruch ist nicht abhängig von der Pflegestufe, sondern wird vielmehr stets durch den Höchstbetrag von 1.612 E begrenzt, § 42 Abs. 2 S. 2 SGB XI. 4. Zusätzliche Leistungen beim Vorliegen besonderer Voraussetzungen a) Leistungen für gemeinsam gepflegte Pflegebedürftige Pflegebedürftige, die in ambulant betreuten Wohngruppen mit häuslicher pflegerischer Versorgung leben, erhalten gem. § 38a SGB XI zusätzliche Leistungen. Ihnen wird ein pauschaler Zuschlag i.H.v. 205 E monatlich als Geldleistung gewährt.100 Die genauen Voraussetzungen, die an eine ambulant betreute Wohngruppe zu stellen sind, legt § 38a Abs. 1 SGB XI fest. Neben den in der Wohngemeinschaft pflegerisch tätig werdenden Personen bedarf es einer (weiteren) Person, die allgemeine organisatorische, verwaltende, betreuende oder das Gemeinschaftsleben

95 Siehe Leitherer, in: KassKomm, SGB XI, § 41 Rn. 7 f.; Linke, in: Krauskopf, SGB XI, § 41 Rn. 3. 96 Vgl. Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 41 Rn. 2. 97 Siehe zur Kurzzeitpflege Reimer, in: Hauck/Noftz, SGB XI, § 42 Rn. 1. 98 Dies ist z. B. der Fall, wenn für die häusliche Pflege noch Umbaumaßnahmen notwendig sind oder die Pflegeperson die häusliche Pflege noch nicht sofort übernehmen kann. Siehe BTDrucks. 12/5262, S. 115. 99 Eine solche liegt u. a. beim Ausfall der bisherigen Pflegeperson oder der kurzfristigen, erheblichen Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit vor. Siehe BT-Drucks. 12/5262, S. 115. 100 Reimer, in: Hauck/Noftz, SGB XI, § 38a Rn. 4.

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

fördernde Tätigkeiten verrichtet oder hauswirtschaftliche Unterstützung leistet, § 38a Abs. 1 Nr. 3 SGB XI. Pflegebedürftige können für die Gründung einer ambulant betreuten Wohngruppe zur altersgerechten oder barrierearmen Umgestaltung der Wohnung im Rahmen der Anschubfinanzierung nach § 45e SGB XI einmalig einen Betrag von bis zu 2.500 E erhalten. Er ist je Wohngruppe auf maximal 10.000 E begrenzt, § 45e Abs. 1 S. 2 SGB XI. Gleichzeitig sorgt § 40 Abs. 4 S. 3 SGB XI für eine finanzielle Verbesserung hinsichtlich der Zuschüsse zu wohnumfeldverbessernden Maßnahmen, wenn mehrere Pflegebedürftige in einer gemeinsamen Wohnung zusammenleben.101 Die Zuschüsse können bis zu einem Gesamtbetrag von 16.000 E je Maßnahme addiert werden, § 40 Abs. 4 S. 3, 4 SGB XI. Bei gemeinsam organisierter Pflege ist das „Poolen“ von Pflegesachleistungen nach § 36 Abs. 1 S. 5 ff. SGB XI möglich. Es setzt nicht zwingend ein gemeinsames Wohnen voraus, sondern ist auch aufgrund der Nähe der Wohnungen der Pflegebedürftigen, z. B. in einem Gebäude oder in derselben Straße, möglich.102 Die durch die gemeinsame Inanspruchnahme entstehenden Zeit- und Kosteneinsparungen sollen den Pflegebedürftigen entgegenkommen. Sie sollen dadurch ein „Mehr“ an Sachleistungen in Anspruch nehmen können.103 b) Leistungen für Personen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf Auch für die Leistungen gem. § 45b SGB XI ist die häusliche Pflege Voraussetzung. Anspruchsberechtigt ist, mit Ausnahme des § 45b Abs. 1a SGB XI104, der in § 45a SGB XI definierte Personenkreis. Dies sind Pflegebedürftige bzw. Personen der Pflegestufe 0 mit einer dauerhaft erheblichen Einschränkung der Alltagskompetenz. Gem. § 45b können die Versicherten zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen wahrnehmen, für welche auf Antrag die Kosten bis zu einem Höchstbetrag von 104 E bzw. 208 E monatlich übernommen werden. Der Betrag i.H.v. 208 E steht dabei Menschen zur Verfügung, die unter einer in erhöhtem Maße eingeschränkten Alltagskompetenz leiden.105 Welche Betreuungs- und Entlastungsleistungen genutzt werden können, definiert § 45b Abs. 1 S. 6 SGB XI.

101

Vgl. Reimer, in: Hauck/Noftz, SGB XI, § 40 Rn. 27. Linke, in: Krauskopf, SGB XI, § 36 Rn. 18a. 103 BT-Drucks. 16/7439, S. 54. 104 Siehe hierzu Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. II. 3. b). 105 Dies ist der Fall, wenn die Voraussetzungen der erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz vorliegen und darüber hinaus noch ein weiteres der in § 45a Abs. 2 Nr. 1 – 5, 9 oder 11 genannten Items erfüllt ist. Siehe hierzu Didong, in: Hauck/Noftz, SGB XI, § 45b Rn. 9b. 102

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

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§ 123 SGB XI gewährt Pflegebedürftigen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf einen Anspruch auf die Grundleistungen bei ambulanter Pflege und als ergänzende Leistungen auf den Wohngruppenzuschlag, die Verhinderungspflege, die Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernden Maßnahmen, die teilstationäre Pflege, die Kurzzeitpflege und den Gründungszuschuss für ambulant betreute Wohngruppen. 5. Resümee Wird der Pflegebedürftige ambulant durch professionelle Pflegekräfte gepflegt, stellt ihm das SGB XI ein vielfältiges Leistungsangebot zur Seite. Grundleistung ist die Pflegesachleistung. Hinzu kommen weitere ergänzende Leistungen in Form von Pflegehilfsmitteln und wohnumfeldverbessernden Maßnahmen, von zusätzlichen Betreuungs- und Entlastungsleistungen, von teilstationärer Pflege und von Kurzzeitpflege. Lassen sich Pflegebedürftige gemeinsam pflegen oder kommt erheblicher allgemeiner Betreuungsbedarf hinzu, sieht die Pflegeversicherung weitere zusätzliche Leistungen vor: einen Zuschlag und Gründungszuschuss für betreute Wohngruppen, die Möglichkeit der Addition der Zuschüsse für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen und des „Poolens“ von Pflegesachleistungen, zusätzliche Betreuungsund Entlastungsleistungen und zusätzliche bzw. originäre Grundleistungen und ergänzende Leistungen bei erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf. Zudem lassen die Normen eine weitgehend flexible Kombination aus Grundleistung, ergänzenden und zusätzlichen Leistungen zu. Das Leistungsangebot soll dazu beitragen, dem Pflegebedürftigen die ambulante Pflege durch professionelle Pflegekräfte in jeder Situation und jeder Ausgangslage zu ermöglichen. Dass ein solch breites und flexibles Leistungsangebot bei ambulanter Pflege durch professionelle Pflegekräfte vorgesehen ist und diese Pflegeform damit eine zentrale Stellung im SGB XI einnimmt, entspricht dem Vorranggrundsatz.

III. Leistungen bei ambulanter, informeller Pflege 1. Pflegegeld als Grundpflegeleistung Als weitere Form der ambulanten Pflege ist die häusliche Pflege durch informelle Pflegepersonen106 möglich. Grundpflegeleistung bei der ambulanten, informellen Pflege ist das Pflegegeld gem. § 37 SGB XI. Der Pflegebedürftige erhält einen je nach Pflegestufe variierenden Geldbetrag (vgl. § 37 Abs. 1 S. 3 SGB XI) von der Pflegekasse, mit Hilfe dessen er seine Pflege selbst organisiert. Bei den Pflegeper106 Die informellen Pflegepersonen werden auch als nicht erwerbsmäßige, ehrenamtliche oder nichtprofessionelle Pflegepersonen bezeichnet.

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

sonen, durch welche der Pflegebedürftige seine Pflege sicherstellt, handelt es sich in erster Linie um Angehörige107, daneben um Freunde, Nachbarn oder sonstige ehrenamtliche Personen.108 Es steht ihm jedoch auch offen, seine Pflege durch eine professionelle Pflegekraft sicherzustellen, deren Vergütung dann direkt durch den Pflegebedürftigen erfolgt.109 Auch bei der ambulanten, informellen Pflege wird die medizinische Behandlungspflege gem. § 37 SGB V von der Krankenversicherung übernommen.110 Bei den Pflegegeldbeträgen handelt es sich um Festbeträge, nicht wie bei der Pflegesachleistung um Höchstbeträge.111 2. Ergänzende Leistungen a) Verhinderungspflege Die Verhinderungspflege dient mit der maximal sechswöchigen Ersatzpflege pro Kalenderjahr dem Fall, dass die ehrenamtliche Pflegeperson aufgrund eines Urlaubs, einer Krankheit oder eines anderen, entsprechend gewichtigen Grundes112 an der Pflege gehindert wird. Voraussetzung ist, dass die Pflegeperson den Pflegebedürftigen vor der erstmaligen Verhinderung mindestens sechs Monate lang gepflegt hat, vgl. § 39 Abs. 1 S. 2 SGB XI.113 Die Kosten für die Verhinderungspflege werden ungeachtet der Pflegestufe bis zu einem Höchstbetrag von 1.612 E pro Kalenderjahr übernommen, vgl. § 39 Abs. 1 S. 3 SGB XI. Etwas anderes gilt, wenn die Verhinderungspflege von einer informellen, mit dem Pflegebedürftigen bis zum zweiten Grade verwandten oder verschwägerten bzw. mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebenden Pflegeperson durchgeführt wird. Dann übernimmt die Pflegekasse hierfür nur die Kosten bis zu einem Höchstbetrag, der regelmäßig dem des Pflegegeldes der jeweils festgestellten Pflegestufe entspricht, § 39 Abs. 3 S. 1 SGB XI. Auf Nachweis kann die Pflegekasse zusätzlich die der Ersatzpflegekraft entstandenen notwendigen Aufwendungen (z. B. Verdienstausfall oder Fahrtkosten114) begleichen, § 39 Abs. 3 S. 3 SGB XI. Im Rahmen der Verhinderungspflege werden bis zu den jeweiligen 107 So auch BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 26. 03. 2014, Az 1 BvR 1133/12. Vgl. ebenso Haberkern/Szydlik, KZFSS, S. 79. 108 Vgl. Leitherer, in: KassKomm, SGB XI, § 37 Rn. 23; Koch, in: KassKomm, SGB XI, § 19 Rn. 4. 109 Siehe BT-Drucks. 13/3696, S. 13; Philipp, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, SGB XI, § 37 Rn. 3. Da dies allerdings wirtschaftlich wesentlich ungünstiger ist als die Inanspruchnahme von Pflegesachleistungen gem. § 36 SGB XI, kommt diese Variante praktisch kaum vor. 110 Siehe zu dieser näher Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. II. 2. 111 Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 37 Rn. 9. 112 Siehe hierzu näher Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 39 Rn. 5. 113 Die Vorpflegezeit muss weder unterbrechungsfrei, noch muss sie durch nur eine einzelne Pflegeperson erfolgt sein. Vgl. vertiefend BSG, Urt. v. 06. 06. 2002, Az B 3 P 11/01 R, NZS 2003, 212; Linke, in: Krauskopf, SGB XI, § 39 Rn. 11. 114 BT-Drucks. 13/3696, S. 13.

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

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Höchstbeträgen sowohl die Kosten für Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung als auch für jeglichen sonstigen nachgewiesenen Pflegeaufwand, der durch den Ausfall der Pflegeperson entstanden ist, erstattet.115 Der wertmäßige Rahmen von max. 1.612 E darf dann um bis zu 806 E überschritten werden, wenn Leistungen der Kurzzeitpflege für die Verhinderungspflege eingesetzt werden, vgl. § 39 Abs. 2 SGB XI. Eine Umschichtung ist gem. § 42 Abs. 2 S. 3 SGB XI auch in die andere Richtung möglich. b) Sonstige ergänzende Leistungen Wie bei der häuslichen, professionellen Pflege werden auch bei der häuslichen, informellen Pflege Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen (§ 40 SGB XI), zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen (§ 45b Abs. 1a SGB XI), Tages- und Nachtpflege (§ 41 SGB XI) und Kurzzeitpflege (§ 42 SGB XI) gewährt. Diese sind, im Gegensatz zu der Verhinderungspflege, nicht auf eine bestimmte Form der häuslichen Pflege festgelegt. 3. Zusätzliche Leistungen beim Vorliegen besonderer Voraussetzungen Grundsätzlich sind auch bei der informellen, ambulanten Pflege zusätzliche Leistungen für gemeinsam gepflegte Pflegebedürftige denkbar. Sie haben Anspruch auf die zusätzlichen Leistungen nach § 38a SGB XI und auf den Förderungsbetrag zur Gründung ambulanter Wohngruppen gem. § 45e SGB XI. Zudem können sie gem. § 40 Abs. 4 S. 3, 4 SGB XI ihre Zuschüsse zu wohnumfeldverbessernden Maßnahmen addieren. Diese zusätzlichen Leistungen dürften jedoch nicht die gleiche Relevanz besitzen wie für die ambulante, professionelle Pflege. Voraussetzung wäre eine ambulante Wohngruppe, die die Pflege ihrer Mitglieder durch informelle Pflegepersonen zulässt. Ansprüche aufgrund eines erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarfs sind dagegen für häuslich, informell Gepflegte gleichermaßen relevant. Sie können zusätzliche Betreuungsleistungen nach § 45b SGB XI beziehen und erhalten gem. § 123 SGB XI ein (erhöhtes) Pflegegeld. Pflegebedürftige der Pflegestufe 0 haben Anspruch auf Leistungen gem. §§ 38a, 39, 40, 41, 42 und 45e SGB XI, vgl. § 123 Abs. 2 SGB XI.

115

Siehe BSG, Urt. v. 17. 5. 2000, B 3 P 8/99 R, NZS 2001, 147.

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

4. Leistungen für die Pflegeperson a) Regelungen in der Pflegeversicherung Neben den Pflegebedürftigen erhalten bei der ambulanten, informellen Pflege auch die Pflegepersonen Leistungen der Pflegeversicherung. Vorgesehen sind Leistungen zur sozialen Sicherung sowie Pflegekurse. aa) Leistungen der sozialen Sicherung Leistungen gem. § 44 SGB XI können nur Pflegepersonen i.S.d. § 19 SGB XI erhalten. Gem. § 19 SGB XI ist Pflegeperson, wer nicht erwerbsmäßig einen Pflegebedürftigen i.S.d. § 14 SGB XI in seiner häuslichen Umgebung pflegt. Die Pflege ist nicht erwerbsmäßig, wenn kein abhängiges Beschäftigungsverhältnis i.S.d. § 7 SGB IV oder ein sonstiges, einen Vergütungsanspruch begründendes Rechtsverhältnis zwischen dem Pflegenden und dem Pflegebedürftigen besteht.116 Allein die Weiterreichung des Pflegegeldes führt nicht zur Annahme der Erwerbsmäßigkeit.117 Der gepflegten Person müssen wenigstens Leistungen der Pflegestufe I zustehen.118 Zusätzlich ist für Leistungen der sozialen Sicherung nach § 44 SGB XI erforderlich, dass die Pflegeperson einen oder mehrere Pflegebedürftige119 mindestens 14 Stunden wöchentlich120 pflegt, § 19 S. 2 SGB XI. Die Leistungen gem. § 44 SGB XI umfassen eine Absicherung der informellen Pflegeperson in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung und die Unterstützung hinsichtlich ihrer Rückkehr ins Erwerbsleben nach dem SGB III.121 § 44 SGB XI stellt in diesem Zusammenhang nur die Einweisungsvorschrift dar. Die

116 Siehe Just, SozSich 2008, S. 75; Koch, in: KassKomm, SGB XI, § 19 Rn. 10; Gebhardt, in: Krauskopf, SGB XI, § 19 Rn. 4. 117 Vgl. BT-Drucks. 12/5262, S. 101; LSG Niedersachsen, Urt. v. 25. 5. 2004, Az L 7 AL 231/02; Philipp, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, SGB XI, § 19 Rn. 3. 118 Es ist inkonsequent, dass die Pflege eines Pflegebedürftigen der Stufe 0 nicht ausreichen soll, obwohl diesem gem. § 123 SGB XI Grundleistungen wie ergänzende und zusätzliche Leistungen zustehen. 119 Seit dem 01. 01. 2013 kann die Voraussetzung der 14-Stunden-Grenze auch durch die Pflege mehrerer Pflegebedürftiger erfüllt werden. Siehe Pflege-Neuausrichtungsgesetz vom 23. 10. 2012 (BGBl., Jahrgang 2012, Teil I, S. 2246). 120 Entscheidend ist der Zeitaufwand, den eine durchschnittliche Laienpflegeperson für die entsprechende Pflege benötigen würde. Die Frage, ob für den Zeitaufwand die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung allein ausschlaggebend sind oder ob sämtliche Pflegetätigkeiten der Pflegeperson einzubeziehen sind, wird kontrovers diskutiert. Ablehnend bzgl. einer Einbeziehung sämtlicher Pflegetätigkeiten Gallon/Kuhn-Zuber, in: Klie/Krahmer/ Plantholz, SGB XI, § 19 Rn. 11. Für die Einbeziehung der gesamten Pflegetätigkeit siehe u. a. BT-Drucks. 12/5262, S. 101; Gebhardt, in: Krauskopf, SGB XI, § 19 Rn. 11. 121 Vgl. Koch, in: KassKomm, SGB XI, § 44 Rn. 2.

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

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Anspruchsgrundlagen, die die Leistungen und ihre Voraussetzungen regeln, sind in dem jeweiligen Sozialgesetzbuch normiert.122 § 3 S. 1 Nr. 1a SGB VI legt die Versicherungspflicht von Pflegepersonen gem. § 19 SGB XI fest. Eine Absicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund der Pflege besteht selbst dann, wenn die Pflegeperson neben ihrer Pflegetätigkeit einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Diese darf nicht mehr als dreißig Stunden wöchentlich betragen, § 44 Abs. 1 S. 1 SGB XI, § 3 S. 3 SGB VI. Die Beiträge zur Rentenversicherung werden von der Pflegekasse des Pflegebedürftigen entrichtet, vgl. § 44 Abs. 1 S. 1 u. S. 2 SGB XI i.V.m. § 170 Abs. 1 Nr. 6a SGB VI. § 44 Abs. 1 S. 6 SGB XI i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 17 SGB VII ordnet an, dass Pflegepersonen bei der Pflege eines Pflegebedürftigen i.S.d. § 14 SGB XI kraft Gesetzes unfallversichert sind.123 Hinzu kommt der Unfallversicherungsschutz während der Teilnahme an Pflegekursen.124 Er besteht unabhängig davon, ob die Pflegeperson die Pflege mindestens 14 Stunden wöchentlich ausübt und ob sie daneben einer Erwerbstätigkeit nachgeht.125 Für den Versicherungsschutz sind keine Beiträge zu entrichten, § 185 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 129 Abs. 1 Nr. 7 SGB VII.126 § 44 Abs. 1 S. 7 SGB XI bestimmt, dass Pflegepersonen, die nach der Pflegetätigkeit in das Erwerbsleben zurückkehren wollen, bei beruflicher Weiterbildung nach den Vorgaben des SGB III gefördert werden können. § 44 Abs. 1 S. 7 SGB XI verweist nur auf die entsprechenden, auf die Pflege bezogenen besonderen Regelungen im SGB III. Diese beziehen sich überwiegend auf die Pflege von Angehörigen.127 So ersetzt die Pflege eines Angehörigen die notwendige Vorbeschäftigungszeit für berufliche Weiterbildungsmaßnahmen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern (§ 81 Abs. 2 S. 2 SGB III). Für Leistungen, die Langzeitarbeitslosigkeit voraussetzen, bleiben für den Lauf der einjährigen Frist Unterbrechungen infolge der Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger für einen Zeitraum von fünf Jahren außer Betracht (§ 18 Abs. 2 Nr. 1 SGB III). Nach § 20 SGB III gelten Pflegepersonen, die ihre Erwerbstätigkeit für die Betreuung eines pflegebedürftigen Angehörigen unterbrochen haben, als Berufsrückkehrer. Ihnen stehen gem. § 8 Abs. 2 SGB III die zur Rückkehr in die Erwerbstätigkeit notwendigen Leistungen der aktiven Arbeitsförderung zu. Gem. § 28a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB III können Pfle-

122 Vgl. Philipp, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, SGB XI, § 44 Rn. 1; Wagner, in: Krauskopf, SGB XI, § 44 Rn. 4. 123 Zu der Konkurrenz verschiedener Versicherungspflichten vgl. § 135 Abs. 3 SGB VII. 124 Vgl. Leube, BG 1995, S. 212. 125 Vgl. BSG, Urt. v. 07. 09. 2004, Az B 2 U 46/03 R, NJW 2005, 1148; Koch, in: KassKomm, SGB XI, § 44 Rn. 7; Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 44 Rn. 17. 126 Die Aufwendungen sind als Teil der unechten Unfallversicherung von den entsprechenden Gemeinden und damit letztlich vom Steuerzahler aufzubringen. Siehe hierzu Just, SozSich 2008, S. 76; Gallon/Kuhn-Zuber, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 44 Rn. 56. 127 Vgl. hierzu auch Wagner, in: Krauskopf, SGB XI, § 44 Rn. 46 ff.

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

gepersonen, die einen pflegebedürftigen Angehörigen mindestens 14 Stunden wöchentlich pflegen, ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag begründen. bb) Pflegekurse Für informelle Pflegepersonen und an einer ehrenamtlichen Pflegetätigkeit Interessierte haben die Pflegekassen unentgeltlich Pflegekurse durchzuführen, § 45 Abs. 1 S. 1 SGB XI.128 Sie dienen dem Zweck, die Pflege und Betreuung durch ehrenamtliche Pflegepersonen zu verbessern. Gleichzeitig sollen sie die seelischen und körperlichen Belastungen der Pflegeperson in den Blick nehmen sowie neue Pflegepersonen anwerben. Der Optimierung der häuslichen, ehrenamtlichen Pflege dient insbesondere die Vermittlung von Grundkenntnissen und Fertigkeiten für die eigenständige Durchführung der Pflege, vgl. § 45 Abs. 1 S. 2 SGB XI. Auf die Belange von Pflegenden wird z. B. anhand körperschonender Pflegetechniken, dem Erfahrungsaustausch oder der Möglichkeit zur Äußerung von Befürchtungen und Ängsten eingegangen.129 b) Regelungen zugunsten informeller Pflegepersonen in anderen Rechtsgebieten aa) Arbeitsrecht Auch im Arbeitsrecht dienen der Ermöglichung der häuslichen, ehrenamtlichen Pflege besondere Vorschriften. Denn Kernvoraussetzung für die ambulante, informelle Pflege ist die Vereinbarkeit mit der Berufstätigkeit der Pflegeperson. Pflegetätigkeiten, die mit der Aufrechterhaltung einer eigenen Erwerbstätigkeit verbunden sind, erweisen sich als hoch belastend und instabil.130 Da die Zahl erwerbstätiger Pflegepersonen in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen ist und weiter steigen wird, sind ansprechende arbeitsrechtliche Grundvoraussetzungen unerlässlich.131 Um die Vereinbarkeit von Pflege und Erwerbstätigkeit zu fördern, stehen die Pflegezeit und die Familienpflegezeit zur Verfügung. (1) Pflegezeitgesetz Die Akutpflege gem. § 2 PflegeZG dient zur Organisation der Pflege bei einer akut aufgetretenen Pflegesituation eines pflegebedürftigen nahen Angehörigen. Zu diesem Zweck haben Beschäftigte das Recht, der Arbeit bis zu zehn Tage fernzu128

Seit dem 01. 01. 2016 handelt es sich als Folge des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes (BGBl., Jahrgang 2015, Teil I, S. 2424) bei § 45 SGB XI nicht mehr um eine bloße SollVorschrift. 129 Siehe Reimer, in: Hauck/Noftz, SGB XI, § 45 Rn. 7 ff. 130 Vgl. BMFSFJ, MUG III, S. 87. 131 Siehe BT-Drucks. 18/3124, S. 1, S. 25.

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

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bleiben, während welcher sie gem. § 44a Abs. 3 SGB XI Pflegeunterstützungsgeld beziehen können. Hintergrund der Akutpflege ist damit nicht, dem Beschäftigten die längerfristige Übernahme der ambulanten Pflege zu ermöglichen. Hierzu ist die Pflegezeit gem. § 3 PflegeZG gedacht. Danach haben Beschäftigte einen Anspruch auf vollständige oder partielle Arbeitsfreistellung zur persönlichen Pflege eines pflegebedürftigen nahen Angehörigen.132 Den Kreis der nahen Angehörigen legt § 7 PflegeZG fest. Die Freistellung von der Arbeit kann höchstens für die Dauer von sechs Monaten133 verlangt werden, § 4 Abs. 1 S. 1 PflegeZG.134 Wesentliche Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Pflegezeit ist eine Ankündigung gegenüber dem Arbeitgeber, die schriftlich spätestens zehn Arbeitstage vor Beginn der Pflegezeit zu erfolgen hat. Sie muss den Arbeitgeber über den Zeitraum und den Umfang der Pflegezeit aufklären, § 3 Abs. 3 PflegeZG. Verlangt der Beschäftigte nur eine teilweise Freistellung von der Arbeit, muss er mit dem Arbeitgeber über die Verringerung und die Verteilung der Arbeitszeit eine schriftliche Vereinbarung treffen, § 3 Abs. 4 PflegeZG. Zusätzlich obliegt es dem Beschäftigten, die Pflegebedürftigkeit des Angehörigen nachzuweisen, § 3 Abs. 2 PflegeZG. Während der Pflegezeit entfällt der Vergütungsanspruch in Höhe der Arbeitsreduzierung gem. § 326 Abs. 1 S. 1 BGB. Eine Vergütungspflicht kann sich nur aus anderen gesetzlichen Vorschriften oder einer kollektiv- oder individualvertraglichen Vereinbarung ergeben, wobei § 616 BGB mangels einer „verhältnismäßig nicht erheblichen Zeit“ ausscheidet.135 Seit dem Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf136, das zum Jahresbeginn 2015 in Kraft trat, kann allerdings auch für die Pflegezeit ein zinsloses Darlehen gem. §§ 3 – 10 FPfZG in Anspruch genommen werden, § 3 Abs. 7 PflegeZG.137 Auf Antrag erhalten Beschäftigte bei einer vollständigen Arbeitsfreistellung oder einer Reduzierung unter die Geringfügigkeitsgrenze für die Dauer der Pflegezeit gem. § 44a Abs. 1 SGB XI Zuschüsse der Pflegekasse zur Kranken- und Pflege132

Seit dem 01. 01. 2015 besteht überdies die Möglichkeit sich drei Monate zur Begleitung in der letzten Lebensphase eines nahen Angehörigen von der Arbeit freistellen zu lassen, vgl. § 3 Abs. 6 PflegeZG. Vgl. zum Erfordernis der persönlichen Pflege auch Müller, BB 2008, S. 1060 und S. 1060 Fn. 26. 133 Die Höchstdauer kann jeder pflegende Angehörige für jeden pflegebedürftigen Angehörigen ausschöpfen. Vgl. hierzu Linck, BB 2008, S. 2741; Schlegel, in: Hauck/Noftz, SGB XI, § 44a Rn. 33 f.; Müller, BB 2008, S. 1061; Preis/Nehring, NZA 2008, S. 734. 134 Die Möglichkeit eines Splittings der sechsmonatigen Pflegezeit durch erneute Ankündigung lehnt das BAG ab. Siehe hierzu BAG, Urt. v. 15. 11. 2011, Az 9 AZR 348/10, BAGE 140, 23. Siehe ebenfalls zur Frage des Splittings von Pflegezeit Preis/Nehring, NZA 2008, S. 734; Joussen, NZA 2009, S. 73. 135 Denkbar ist ein Vergütungsanspruch für Auszubildende nach § 19 Abs. 1 Nr. 2b BBiG oder eine Vergütung aus einer entsprechenden kollektiv- oder individualvertraglichen Vereinbarung (vgl. z. B. § 29 Abs. 1e TvÖD). Siehe auch Joussen, NZA 2009, S. 72. 136 BGBl., Jahrgang 2014, Teil I, S. 2462. 137 Siehe hierzu näher Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. III. 4. b) aa) (2).

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

versicherung. Daneben sind sie gem. §§ 44a Abs. 2 SGB XI i.V.m. § 26 Abs. 2b SGB III in der Arbeitslosenversicherung versichert. (2) Familienpflegezeitgesetz Neben das Pflegezeitgesetz trat am 01. 01. 2012 das Familienpflegezeitgesetz138. Danach haben Beschäftigte Anspruch auf Familienpflegezeit, die sie alternativ oder in Kombination mit der Pflegezeit nehmen können. Allerdings darf, auch wenn beide kombiniert werden, die für die Familienpflegezeit geltende Gesamtdauer von längstens 24 Monaten je pflegbedürftigem Angehörigen nicht überschritten werden, § 4 Abs. 1 S. 4 PflegeZG, § 2 Abs. 2 FPfZG. Im Gegensatz zur Pflegezeit ist bei der Familienpflegezeit eine vollständige Freistellung von der Arbeit nicht möglich. Der Beschäftigte hat mindestens 15 Stunden wöchentlich seine Arbeitsleistung zu erbringen, § 2 Abs. 1 S. 2 FPfZG. Auch die Familienpflegezeit muss dem Arbeitgeber schriftlich angekündigt werden, allerdings bereits acht Wochen vor dem gewünschten Beginn, § 2a Abs. 1 S. 1 FPfZG. Arbeitgeber und Beschäftigter haben über die Verringerung und die genaue Verteilung der Arbeitszeit eine schriftliche Vereinbarung zu treffen, § 2a Abs. 2 FPfZG, § 3 Abs. 4 PflegeZG. Für die Zeit der teilweisen Arbeitsfreistellung wird das Arbeitsentgelt auf Antrag durch ein zinsloses Darlehen des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben aufgestockt, § 3 Abs. 1 S. 1 FPfZG.139 Die monatlichen Raten betragen die Hälfte der Differenz zwischen dem pauschalierten monatlichen Nettogehalt vor und während der Freistellung, § 3 Abs. 2 FPfZG.140 Den Beschäftigten steht es ab einem Mindestwert von 50 E frei, auch geringere Raten in Anspruch zu nehmen, § 3 Abs. 5 FPfZG. Die Förderfähigkeit endet regelmäßig mit dem Ende der Familien- bzw. Pflegezeit, § 5 Abs. 1 S. 1 FPfZG. Anschließend beginnt die Rückzahlungsphase, die sich auf weitere 24 Monate erstrecken kann, § 6 FPfZG. Die Rückzahlung erfolgt in möglichst gleichbleibenden monatlichen Raten, deren Höhe im Darlehensbescheid des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben festgelegt wird, §§ 6 Abs. 1 S. 2, 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 8 Abs. 1 FPfZG.

138 Art. 1 des Gesetzes zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf vom 6. Dezember 2011 (BGBl., Jahrgang 2011, Teil I, S. 2564). 139 Vor Änderung des FPfZG durch das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf vom 23. Dezember 2014 (BGBl., Jahrgang 2014, Teil I, S. 2462) wurde das Darlehen über den Arbeitgeber abgewickelt. Dieser konnte das Darlehen beim Bundesamt in Anspruch nehmen und dem Arbeitnehmer hieraus den Lohnzuschuss während der Pflegephase auszahlen. Den entsprechenden Anteil behielt er anschließend in der Nachpflegephase über einen der Pflegephase entsprechend langen Zeitraum vom Gehalt des Arbeitnehmers ein und zahlte die Raten an das Bundesamt zurück. Gleichzeitig musste der Arbeitnehmer eine Familienpflegezeitversicherung abschließen, die ggf. sein negatives Wertguthaben ausgleichen sollte. Vgl. §§ 3, 4, 6 FPfZG a.F. 140 Siehe hierzu näher Dritter Teil, Drittes Kapitel, A. II. 3. a).

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

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(3) Zwischenresümee Um Erwerbstätigen die Pflege eines Angehörigen zu ermöglichen, stellt das Arbeitsrecht die Optionen der Pflegezeit und der Familienpflegezeit zur Wahl. Sie erlauben dem Beschäftigten, seinen Angehörigen bis zu 24 Monate häuslich zu pflegen (§ 3 PflegeZG, § 2 FPfZG). Die maximal sechsmonatige Pflegezeit und die Familienpflegezeit unterscheiden sich darin, dass während der Familienpflegezeit eine Mindestbeschäftigung von 15 Stunden aufrechterhalten werden muss. Zur Überbrückung des Entgeltausfalls bei der Pflegezeit und der Familienpflegezeit kann ein Darlehen des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben in Anspruch genommen werden. bb) Erbrecht Weitgehende Einigkeit besteht darin, dass erbrachte Pflegeleistungen nach dem Tod des Pflegebedürftigen honoriert werden sollen.141 Zivilrechtliche Ansprüche außerhalb des Erbrechts stehen hierfür aber regelmäßig nicht zur Verfügung. Für die Annahme eines Dienst - , Arbeits- oder Werkvertrages fehlt es meist am Rechtsbindungswillen und damit dem (stillschweigenden) Vertragsschluss. Werden die Pflegleistungen aufgrund der familiären Solidarität erbracht, scheidet eine Einordnung als zu vergütende Dienstleistungen ohnehin aus.142 Eine Geschäftsführung ohne Auftrag und somit ein Anspruch gem. §§ 683, 670 BGB kommt in der Regel nicht in Frage, da die Pflegeleistungen nicht ohne Legitimation, sondern im beiderseitigen Einvernehmen erbracht werden. Andernfalls erscheint zumindest die Erbringung von Aufwendungen, d. h. materiellen Einbußen zur Erfüllung der Handlung, fraglich. Ein Anspruch gem. § 812 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 BGB schließlich scheitert oftmals an der fehlenden beiderseitigen Erwartung bzw. Bereitschaft zur Vergütung der Pflegeleistungen. Damit fehlt die für die condictio ob rem notwendige Abrede über eine die Leistung berücksichtigende Gegenleistung des Empfängers, als dem mit der Leistung „bezweckten Erfolg“.143 Insofern sieht § 2057a BGB vor, dass ein Abkömmling, der den Erblasser während längerer Zeit gepflegt hat, eine Ausgleichung hierfür unter den mit ihm als 141

Vgl. hierzu auch Windel, ZEV 2008, S. 305; Ludyga, ZErb 2009, S. 289 f. Siehe zu der Vergütungspflicht unter in familienrechtlicher Beziehung Stehenden auch die Auslegungsregelungen in §§ 685 Abs. 2, 1360b, 1620 BGB. Siehe zu einer Pflicht zur Pflege von Angehörigen näher Vierter Teil, Zweites Kapitel. Vgl. zur Bewertung von Leistungen familienrechtlich Verpflichteter BSG, Urt. v. 14. 07. 1977, Az 3 RK 60/75, BSGE 44, 139; OLG Oldenburg, Urt. v. 21. 11. 1997, Az 6 U 175/97, ZEV 1999, 33; Fenn, Die Mitarbeit, S. 31 ff., S. 63 ff. Zum fehlenden Rechtsbindungswillen siehe auch Lieb, Die Ehegattenmitarbeit, S. 40 ff., S. 46 ff. 143 Siehe hierzu näher OLG Oldenburg, Urt. v. 21. 11. 1997, Az 6 U 175/97, ZEV 1999, 33; Lieb, Die Ehegattenmitarbeit, S. 116 ff. Vgl. zu den Ansprüchen insgesamt LG Heidelberg, Urt. v. 03. 02. 2009, Az 1 O 148/07, ErbR 2010, S. 268 ff.; Windel, ErbR 2010, S. 244 f; Ludyga, ZErb 2009, S. 290; Schiemann, FS für Dieter Schwab, S. 555 f.; Schwab, in: MüKo, BGB, § 812 Rn. 374; Paetel, S. 19, S. 204. 142

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

gesetzliche Erben zur Erbfolge gelangten anderen Abkömmlingen verlangen kann. Grund für die Ausgleichung ist, dass der Abkömmling durch seine Pflegeleistungen dem Erblasser die Inanspruchnahme kostenpflichtiger Pflegedienste erspart und dadurch sein Vermögen geschont hat. Ohne Ausgleichung würde der pflegende Abkömmling schlechter gestellt, da von seinem Beitrag neben dem Erblasser insbesondere auch dessen Erben profitieren würden.144 (1) Voraussetzungen des Ausgleichungsanspruchs Voraussetzung für den im Rahmen der Erbauseinandersetzung (§ 2042 BGB) geltend zu machenden Ausgleichungsanspruch ist, dass es sich bei der pflegenden Person um eine in absteigender gerader Linie verwandte Person wie Kinder, Enkel oder Urenkel handelt.145 Die ausgleichsberechtigte Pflegeperson muss neben mindestens einem anderen Abkömmling gesetzlicher Erbe sein, vgl. § 1924 BGB. Die Pflegeleistungen müssen während längerer Zeit erbracht worden sein, wobei die Bestimmung dieser Zeitdauer in Relation zur Pflegeintensität steht.146 (2) Umfang des Ausgleichungsanspruchs Gem. § 2057a Abs. 2 BGB scheidet ein Ausgleichungsanspruch aus, wenn dem Ausgleichsberechtigten bereits eine angemessene Vergütung gewährt wurde oder ihm ein Anspruch aus einem anderen Rechtsgrund zusteht. Dies ist der Fall, wenn aufgrund der Pflegeleistungen im Einzelfall doch einer der sonstigen zivilrechtlichen Ansprüche gegeben ist. Die Pflegeperson hat auch dann ein Entgelt erhalten, wenn ihr das Pflegegeld tatsächlich weitergereicht wurde. Fraglich ist dabei jedoch, ob mit der Weiterreichung des Pflegegeldes stets ein angemessenes Entgelt für die Pflegeleistungen gezahlt wurde. Gegen die pauschale Annahme einer angemessenen Vergütung spricht, dass das Pflegegeld bereits im Rahmen der Pflegeversicherung nicht als Entgelt für die Pflegeperson gewertet wird, sondern lediglich als materielle Anerkennung und Anreiz zum Erhalt der Pflegebereitschaft.147 Ein weiterer Anhaltspunkt lässt sich der Begründung des ursprünglichen Entwurfs zur Änderung des § 2057a BGB a.F. entnehmen, wonach für eine bessere Honorierung von Pflegeleistungen die Einführung eines neuen § 2057b BGB geplant war.148 Dort galt als Anhaltspunkt für die Berechnung des Ausgleichsbetrags eine Anlehnung an die Höhe der Pflege144

Vgl. Schiemann, FS für Dieter Schwab, S. 557. Vgl. Leipold, in: MüKo, BGB, § 1924 Rn. 3; Kroiß, in: Nomos-Kommentar, ErbR, § 1924 Rn. 2. 146 Siehe hierzu näher Eberl-Borges, in: Nomos-Kommentar, ErbR, § 2057a Rn. 10; Löhnig, in: Staudinger, BGB, § 2057a Rn. 17. 147 Siehe BT-Drucks. 12/5262, S. 112. 148 Siehe hierzu näher BT-Drucks. 16/8954, S. 17 f.; Otte, ZEV 2008, S. 260 ff.; van de Loo, FPR 2008, S. 551 ff. 145

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

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sachleistungssätze gem. § 36 Abs. 3 SGB XI und nicht an das Pflegegeld.149 Auch wenn der Verweis auf § 36 Abs. 3 SGB XI nicht in das Gesetz aufgenommen wurde, lässt sich hieraus dennoch schließen, dass mit der Weiterreichung des Pflegegeldes nicht pauschal von der Gewährung einer angemessenen Vergütung für die Pflegeleistungen ausgegangen werden kann. Dies entspricht auch dem Grundgedanken des § 2057a BGB, wonach der Abkömmling in besonderem Maße davon profitieren soll, dass er zur Schonung des Vermögens des Erblassers beigetragen hat. Indem er dessen Pflege übernahm, hat er dem Erblasser die Inanspruchnahme professioneller Pflege und damit weit über das Pflegegeld hinausgehende Kosten erspart.150 Insofern erscheint es billig, dass er je nach den konkreten Umständen hiervon auch durch einen das Pflegegeld übersteigenden Betrag profitieren soll. Dass dies möglicherweise zu einer unterschiedlichen Bewertung ambulanter, informeller Pflegeleistungen im Zivilrecht und im Sozialrecht führt, kann damit gerechtfertigt werden, dass es sich um unterschiedliche Systeme handelt: auf der einen Seite um staatliche Leistungen, auf der anderen Seite um die privatrechtliche Honorierung von Pflegeleistungen.151 Es kann mithin auch bei Weiterreichung des vollen Pflegegeldes nicht pauschal davon ausgegangen werden, dass die Pflegeleistungen angemessen vergütet wurden und deshalb ein Ausgleichungsanspruch gem. § 2057a Abs. 2 BGB ausscheidet.152 Die Höhe der konkreten Ausgleichung bestimmt sich vielmehr nach § 2057a Abs. 3 BGB, wobei ein weitergereichtes Pflegegeld auf den Ausgleichungsanspruch anzurechnen ist.153 Entscheidend für die Bemessung ist einerseits, über welchen Zeitraum und in welchem Umfang Pflegeleistungen erbracht wurden. Hinsichtlich des Umfangs muss auch berücksichtigt werden, inwieweit dem Pflegenden dadurch Einkommenseinbußen entstanden sind.154 Andererseits müssen die erbrachten Leistungen in Verhältnis zum Wert des Nachlasses gesetzt werden. (3) Zwischenresümee Gem. § 2057a BGB kann ein zur gesetzlichen Erbfolge gelangter Abkömmling, der den Erblasser in nicht nur geringfügigem Umfang gepflegt hat, seine Pflegeleistungen bei der Erbauseinandersetzung honorieren lassen. Er ist berechtigt, einen Ausgleich für die erbrachte Pflege aus dem Erbe zu verlangen. Selbst bei vollständiger Weiterreichung des Pflegegeldes an den pflegenden Angehörigen kann je nach Dauer und Umfang der Pflegeleistungen und Höhe des Nachlasses ein weiterge-

149 Vgl. BT-Drucks. 16/8954, S. 18; Muscheler, ZEV 2008, S. 108. Kritisch hierzu Otte, ZEV 2008, S. 260 f.; Windel, ZEV 2008, S. 307. 150 Siehe zu den Eigenkosten bei professioneller Pflege Dritter Teil, Drittes Kapitel, B. I. 2. 151 Siehe BT-Drucks. 16/8954, S. 18. 152 Siehe hierzu auch OLG Frankfurt, Urt. v. 19. 03. 2013, Az 11 U 134/11; LG Konstanz, Urt. v. 18. 12. 2009, Az 5 O 249/08 E, ZErb 2010, 93. 153 Vgl. van de Loo, FPR 2008, S. 552. 154 Siehe hierzu Löhnig, in: Staudinger, BGB, § 2057a Rn. 26.

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

hender Ausgleichungsanspruch gem. § 2057a BGB bestehen. Wird das Pflegegeld dagegen nicht weitergereicht, besteht ein solcher Anspruch in jedem Fall. cc) Steuerrecht (1) Begünstigungen bei der Einkommenssteuer § 3 Nr. 36 EStG begünstigt pflegende Angehörige oder andere sittlich zur Pflege verpflichtete Personen155, indem das an sie weitergegebene Pflegegeld gem. § 37 SGB XI steuerfrei ist.156 Gleichzeitig bleibt auch eine entsprechende finanzielle Anerkennung aus eigenen Mitteln des Pflegebedürftigen bis zu einem dem Pflegegeld entsprechenden Betrag steuerfrei.157 Die Aufwendungen für die Betreuung eines zu Pflegenden können als außergewöhnliche Belastungen nach § 33 EStG von der Steuer abgezogen werden, solange der Pflegebedürftige diese Kosten nicht selbst aufbringen kann.158 Neben den Kosten für eine ambulante Pflegekraft kann es sich auch um Aufwendungen handeln, die durch eine selbst durchgeführte häusliche Pflege anfallen.159 Verlangt wird allerdings, dass der Steuerpflichtige sich den Aufwendungen aufgrund einer Zwangsläufigkeit in Form von tatsächlichen, rechtlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann, § 33 Abs. 2 EStG.160 Eine sittliche Pflicht i.S.d. § 33 Abs. 2 EStG zur ehrenamtlichen, häuslichen Pflege durch Angehörige wird allenfalls dann bejaht, wenn es sittlich missbilligenswert erscheint, dass die Pflege nicht selbst übernommen wird.161 Allein das Bestehen eines Verwandtschaftsverhältnisses genügt nicht.162 Außerdem müssen die verschiedenen Aufwendungen für die Steuerbegünstigung nach § 33 EStG konkret nachgewiesen werden. 155 Beispielsweise Partner einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft, siehe von Beckerath, in: Kirchhof, EStG, § 3 Rn. 69. 156 Siehe hierzu näher Erhard, in: Blümich/Heuermann, EStG, § 3 Nr. 36 Rn. 1 ff.; von Beckerath, in: Kirchhof, EStG, § 3 Rn. 69 f.; Levedag, in: Schmidt/Weber-Grellet, EStG, § 3 Rn. 123. 157 Vgl. BFH, Urt. v. 14. 09. 1999, Az IX R 88/95, BFHE 189, 424; Erhard, in: Blümich/ Heuermann, EStG, § 3 Nr. 36 Rn. 3. 158 Vgl. Loschelder, in: Schmidt/Weber-Grellet, § 33 EStG Rn. 35 „Pflege eines nahen Angehörigen“. 159 Siehe hierzu Heger, in: Blümich/Heuermann, EStG, § 33 Rn. 212; Mellinghoff, in: Kirchhof, § 33 Rn. 54 „Pflege“. 160 Eine rechtliche Pflicht wäre nur anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige familienrechtlich zur Pflege verpflichtet wäre. Siehe hierzu näher Vierter Teil, Zweites Kapitel. Eine tatsächliche Pflicht, aufgrund derer sich der Steuerpflichtige zwangsläufig den Aufwendungen nicht entziehen kann, besteht dann, wenn sie sich durch ein unausweichliches Ereignis wie Katastrophen, Krankheit oder andere Gesundheits- und Lebensbedrohungen ergeben. Vgl. Heger, in: Blümich/Heuermann, EStG, § 33 Rn. 108, 110. 161 Siehe BFH, Urt. v. 22. 10. 1996, Az III R 265/94, BFHE 182, 352; BFH, Urt. v. 02. 03. 1984, Az VI R 158/80, BFHE 140, 556. 162 Vgl. BFH, Urt. v. 22. 10. 1996, Az III R 265/94, BFHE 182, 352.

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

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Zentrale Vorschrift für die Erleichterung der Einkommenssteuer bei Pflege von Angehörigen ist § 33b Abs. 6 EStG mit dem Pflege-Pauschbetrag. Hiernach kann der Pflegende einen Pauschbetrag von 924 E im Kalenderjahr geltend machen, wenn er eine nicht nur vorübergehend hilflose Person unentgeltlich, persönlich pflegt.163 Insoweit schließen sich die Steuerfreiheit bei Weiterleitung von Pflegegeld nach § 3 Nr. 36 EStG und die Inanspruchnahme des Pflege-Pauschbetrages grundsätzlich gegenseitig aus.164 Ebenso ist daneben die Geltendmachung außergewöhnlicher Belastungen gem. § 33 EStG nicht möglich.165 Im Gegensatz zu § 33 EStG erfordert der Pflege-Pauschbetrag nicht das Bestehen einer sittlichen Pflicht zur Pflege, ausreichend ist eine gewisse Zwangsläufigkeit.166 Bei Angehörigen liegt sie im Regelfall vor. Bei sonstigen pflegenden Personen ist sie anzunehmen, wenn eine enge persönliche Beziehung besteht.167 Ziel des Pflege-Pauschbetrages ist es, die Aufwendungen für die Pflege pauschal durch eine Steuerbegünstigung abzugelten. Die Aufwendungen i.H.v. 924 E werden dabei unterstellt und müssen nicht konkret nachgewiesen werden. Ausreichend für die Inanspruchnahme des Pflege-Pauschbetrages ist, dass die persönliche Pflegetätigkeit mindestens 10 % des pflegerischen Gesamtaufwandes ausmacht.168 § 35a Abs. 2 S. 2 EStG ermöglicht Steuererleichterungen in Bezug auf Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Pflege. Der Steuerermäßigungsbetrag beläuft sich auf 20 % der Aufwendungen, höchstens jedoch auf 4.000 E, § 35a Abs. 2 S. 1 EStG. Informelle Pflegepersonen profitieren hiervon insofern, als sie die persönlich übernommene häusliche Pflege durch Hinzuziehen von Hilfspersonen entlasten können und dies steuerbegünstigt.169

163

Hierzu näher Mellinghoff, in: Kirchhof, EStG, § 33b Rn. 14. Siehe hierzu näher Heger, in: Blümich/Heuermann, EStG, § 33b Rn. 118, Rn. 136. 165 Dies gilt allerdings nur insoweit, als die entstehenden Belastungen durch den PflegePauschbetrag auch abgegolten werden sollen und durch diesen der Höhe nach gedeckelten Pauschbetrag abgedeckt werden. Siehe hierzu näher Mellinghoff, in: Kirchhof, EStG, § 33b Rn. 14. 166 Vgl. Mellinghoff, in: Kirchhof, EStG, § 33b Rn. 14. 167 Vgl. BFH, Urt. v. 29. 08. 1996, Az III R 4/95, BFHE 181, 441. 168 Siehe FG München, Urt. v. 14. 02. 1995, Az 16 K 2261/94; Einkommenssteuerrichtlinien 2012, Zu § 33b EStG, R 33.b (4); Mellinghoff, in: Kirchhof, EStG, § 33b Rn. 15; Heger, in: Blümich/Heuermann, EStG, § 33b Rn. 120. 169 Vgl. BMF, Anwendungsschreiben zu § 35a EStG, Rn. 10. Weder die Inanspruchnahme des Pflege-Pauschbetrages nach § 33b Abs. 6 EStG noch von besonderen Aufwendungen nach § 33 EStG schließen grds. die Geltendmachung einer Steuervergünstigung nach § 35a EStG aus. Zwar können die Belastungen nicht doppelt berücksichtigt werden, es besteht jedoch ein Wahlrecht zwischen § 33 EStG und § 35a EStG. Ebenso hindern fremd eingekaufte, im Rahmen des § 35a EStG zu berücksichtigende Dienstleistungen den Bezug des Pflege-Pauschbetrages nicht, solange der Angehörige sich nur bei der von ihm persönlich erbrachten Pflege unterstützen lässt. Siehe hierzu Plenker, DB 2010, S. 365. 164

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

(2) Begünstigungen bei der Erbschafts- und Schenkungssteuer Auch bei der Erbschafts- und Schenkungssteuer kommen Begünstigungen aufgrund von Pflege in Betracht. Gem. § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG bleibt ein Erwerb bis zu 20.000 E steuerfrei, wenn der Erbe den Erblasser unentgeltlich oder gegen unzureichendes Entgelt gepflegt hat. Die Befreiung gilt gem. § 1 Abs. 2 EStG auch für Zuwendungen unter Lebenden.170 Bei dem Betrag von 20.000 E handelt es sich um einen Freibetrag in dieser Höhe, der entsprechend zu reduzieren ist, wenn die tatsächlich erbrachten Pflegeleistungen dahinter zurück bleiben.171 Durch die Vorschrift soll derjenige belohnt werden, der freiwillig, aber zu unangemessenen Bedingungen pflegt.172 Eine solche freiwillige Pflege scheidet aus, wenn hierzu eine Pflicht besteht, sei es auch nur in Form einer gesetzlichen Unterhaltspflicht.173 „Pflege gewähren“ i.S.d. § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG ist weit zu verstehen und bedeutet die dauerhafte und regelmäßige Fürsorge für das körperliche, geistige oder seelische Wohlbefinden eines Pflegebedürftigen.174 Das Vorliegen einer Pflegestufe ist jedoch ebenso wenig zwingend175 wie eine durchgängige persönliche, häusliche Pflege.176 § 13 Abs. 1 Nr. 9a ErbStG legt darüber hinaus fest, dass unentgeltliche Zuwendungen unter Lebenden für Leistungen der Grundpflege oder der hauswirtschaftlichen Versorgung bis zur Höhe des Pflegegeldes gem. § 37 SGB XI177 steuerfrei sind. Bei dieser gegenüber § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG vorrangigen Vorschrift kann die Pflegeperson auch ein Angehöriger sein, der gesetzlich zur Mitwirkung an der Pflege verpflichtet ist.178 (3) Zwischenresümee Verschiedene steuerliche Vorschriften bezwecken eine Begünstigung im Zusammenhang mit Pflege. Besonders umfangreich sind sie für ambulant, eigenhändig pflegende Personen. Das weitergereichte Pflegegeld ist von der Einkommens-, der Erbschafts- und Schenkungssteuer ausgenommen. Bei nicht weitergereichtem Pflegegeld bleibt eine Zuwendung bis zu 20.000 E bei der Erbschafts- und Schenkungssteuer unberücksichtigt. Außergewöhnliche Belastungen sittlich für die Pflege Verantwortlicher unterfallen nicht der Einkommenssteuer. Aufwendungen für 170

Siehe hierzu näher Jülicher, in: Troll, ErbStG, § 13 Rn. 99. Vgl. Kobor, in: Fischer, ErbStG, § 13 Rn. 60. 172 Vgl. Geck, in: Kapp/Ebeling/Geck, ErbStG, § 13 Rn. 63. 173 Siehe hierzu näher Vierter Teil, Zweites Kapitel. 174 Siehe BFH, Urt. v. 11. 09. 2013, Az II R 37/12, BFHE 243, 1. 175 Siehe BFH, Urt. v. 11. 09. 2013, Az II R 37/12, BFHE 243, 1. 176 Vgl. hierzu näher BFH, Urt. v. 11. 09. 2013, Az II R 37/12, BFHE 243, 1; Meincke, ErbStG, § 13 Rn. 40; Jülicher, in: Troll, ErbStG, § 13 Rn. 103. 177 Bzw. eines entsprechenden Pflegegeldes aus privaten Versicherungsverträgen oder einer Pauschalbeihilfe nach den Beihilfevorschriften für häusliche Pflege, § 13 Abs. 1 Nr. 9a ErbStG. 178 Vgl. Böge, in: Tiedtke, ErbStG, § 13 Rn. 223, Rn. 239. Siehe zu einer familienrechtlichen Pflicht zur Pflege näher Vierter Teil, Zweites Kapitel. 171

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

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pflegebezogene Dienstleistungen sind nicht in voller Höhe einkommenssteuerpflichtig. Zentrale Vorschrift der einkommenssteuerrechtlichen Begünstigung ist § 33b Abs. 6 EStG. Der Pflege-Pauschbetrag ermöglicht eine pauschale steuerliche Begünstigung bei persönlicher, häuslicher Pflege. 5. Resümee Bei der ambulanten, informellen Pflege steht dem Pflegebedürftigen ebenfalls eine Vielfalt an Leistungen zur Seite. Er erhält als Grundleistung Pflegegeld, welches durch weitere Leistungen in Form von Verhinderungspflege, Pflegehilfsmitteln und wohnumfeldverbessernden Maßnahmen, niedrigschwelligen Betreuungs- und Entlastungsangeboten, teilstationärer Pflege und Kurzzeitpflege ergänzt wird. Ebenso in Betracht zu ziehen sind Ansprüche auf zusätzliche Leistungen bei zusammenlebenden Pflegebedürftigen und zusätzliche bzw. originäre Leistungen für Personen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf. Doch nicht nur für den Pflegebedürftigen, sondern auch für die informelle Pflegeperson sind bei der Übernahme einer Pflege Regelungen und Leistungen inund außerhalb der Pflegeversicherung vorgesehen. Ihr kommt eine Absicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung, der Unfallversicherungsschutz, bestimmte Leistungen der Arbeitslosenversicherung und die Möglichkeit der unentgeltlichen Teilnahme an Pflegekursen zugute. Außerhalb der Pflegeversicherung finden sich für sie Begünstigungen im Arbeits-, Erb- und Steuerrecht. Durch das Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetz wird der Rahmen für eine häusliche Pflege erwerbstätiger Angehöriger geschaffen. Das Erb- und Steuerrecht sehen finanzielle Begünstigungen bei der Übernahme einer häuslichen Pflege vor. Die sogar noch größere Bandbreite an Leistungen bei der ambulanten, informellen Pflege als bei der ambulanten, professionellen Pflege betont ebenfalls den besonderen Stellenwert dieser Pflegeform.

IV. Leistungen bei ambulanter, kombinierter Pflege Alternativ zu der ausschließlich ambulanten, professionellen oder der ausschließlich ambulanten, informellen Pflege ist eine Kombination beider möglich. Dabei können anteilig Pflegesachleistungen und anteilig Pflegegeld bezogen werden, wie es die Kombinationsleistung gem. § 38 SGB XI vorsieht. Das Pflegegeld wird um den prozentualen Anteil gekürzt, zu welchem der Pflegebedürftige bereits Sachleistungen erhalten hat.179 Da es sich bei den Kombinationsleistungen nicht um eine eigene Leistungsart handelt, müssen die jeweiligen Voraussetzungen für den Bezug von Pflegesachleistungen bzw. Pflegegeld vorliegen.180 Ebenso können die 179 180

Leitherer, in: KassKomm, SGB XI, § 38 Rn. 11. Vgl. auch Philipp, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, SGB XI, § 38 Rn. 6.

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

entsprechenden, an den Bezug von Pflegesachleistungen oder Pflegegeld geknüpften, ergänzenden und zusätzlichen Leistungen in Anspruch genommen werden. Eine Besonderheit besteht insofern, als dass der Anspruch auf Verhinderungspflege bei jeglicher Beteiligung einer informellen Pflegeperson an der Pflege gegeben ist.181 Da bei ihrer Verhinderung die von ihr übernommenen Pflegeleistungen abgedeckt werden müssen, kann selbst bei voller Ausschöpfung der Pflegesachleistungen Verhinderungspflege in Anspruch genommen werden.182 Auch bei der ambulanten, kombinierten Pflege ist also ein vielfältiges und flexibles Leistungsangebot vorgesehen.

V. Leistungen bei vollstationärer Pflege Die Alternative zur ambulanten bildet die vollstationäre Pflege. Sie wird von der Pflegekasse über nach § 72 SGB XI zugelassene Pflegeheime erbracht. Benötigt ein Pflegebedürftiger vollstationäre Pflege, übernimmt die Pflegekasse hierfür die Kosten bis zu den in § 43 Abs. 2 S. 2 SGB XI festgelegten, je nach Pflegestufe variierenden Leistungsbeträgen. Inhalt der vollstationären Leistungen sind nicht nur die pflegebedingten Aufwendungen, sondern auch die soziale Betreuung und die medizinische Behandlungspflege, vgl. § 43 Abs. 2 S. 1 SGB XI. Zu den pflegebedingten Aufwendungen gehören die erforderlichen Leistungen der Grundpflege, der aktivierenden Pflege183 und die Versorgung mit den für den üblichen Pflegebetrieb notwendigen (technischen) Hilfsmitteln.184 Die hauswirtschaftliche Versorgung ist nur dann pflegebedingte Aufwendung, wenn sie in direktem Zusammenhang mit der Pflegebedürftigkeit anfällt, wie beispielsweise eine aufgrund der Pflegebedürftigkeit notwendige, besonders häufige Kleiderreinigung.185 Ziel der Leistungen der sozialen Betreuung ist nach der Bundesrahmenempfehlung gem. § 75 Abs. 6 SGB XI zur vollstationären Pflege die Vermeidung von Vereinsamung, von Apathie, von Depressionen und Immobilität durch Orientierungshilfen zur Zeit, zum Ort und zur Person. Weiterhin 181

Vgl. Leitherer, in: KassKomm, SGB XI, § 39 Rn. 7. Siehe BSG, Urt. v. 17. 02. 1996, Az 3 RK 4/95; GKV Spitzenverband, Gemeinsames Rundschreiben zu den leistungsrechtlichen Vorschriften, Seite 5 zu § 39 SGB XI; Richter, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 39 Rn. 7. 183 Mit der aktivierenden Pflege soll dazu beigetragen werden, die Fähigkeiten des Pflegebedürftigen zur eigenständigen körperlichen und hauswirtschaftlichen Versorgung zu unterstützen, zu erhalten und auch wiederzugewinnen. Vgl. Ziff. 3.5 der PflegebedürftigkeitsRichtlinie. 184 Siehe BT-Drucks. 12/5262, S. 115; BSG, Urt. v. 10. 2. 2000, Az B 3 KR 26/99 R, BSGE 85, 291. Zu dem genauen Inhalt pflegebedingter Aufwendungen siehe die Rahmenverträge nach § 75 SGB XI. Vgl. bspw. § 1 Abs. 3 des Rahmenvertrages für vollstationäre Pflege gem. § 75 Abs. 1 SGB XI für das Land Baden-Württemberg vom 12. Dezember 1996. 185 Vgl. dazu Kruse, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 43 Rn. 14 f.; Reimer, in: Hauck/Noftz, SGB XI, § 43 Rn. 10; Linke, in: Krauskopf, SGB XI, § 43 Rn. 20. 182

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

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zählen zu der sozialen Betreuung die Hilfe zur Gestaltung des persönlichen Alltags und einem Leben in der Gemeinschaft, die Hilfe bei der Bewältigung von Lebenskrisen, die Begleitung Sterbender und die Unterstützung bei der Erledigung persönlicher Aufgaben.186 Schließlich gehört die medizinische Behandlungspflege im Rahmen der vollstationären Pflege zu der Leistungspflicht der Pflegeversicherung.187 Pflegebedürftige haben in der vollstationären Pflege die Kosten für Unterkunft und Verpflegung (auch „Pensions-“ bzw. „Hotelkosten“ genannt) selbst zu tragen.188 Gleiches gilt für die Kosten für Zusatzleistungen nach § 88 SGB XI und eine ggf. anfallende Beteiligung an den Investitionsaufwendungen der Pflegeinrichtung, soweit diese nicht vom Bundesland getragen werden189.190 Grundsätzlich sind neben den Leistungen nach § 43 SGB XI bei vollstationärer Pflege keine ergänzenden oder zusätzlichen Leistungen vorgesehen. Die vollstationäre Pflege ist als Vollversorgung konzipiert, die sämtliche bei Pflegebedürftigkeit notwendigen Leistungen umfasst.191 Zu beachten ist allerdings § 87b SGB XI.192 Danach wird (voll)stationären Einrichtungen bei Vorliegen der in § 87b Abs. 1 S. 2, S. 3 SGB XI genannten Voraussetzungen ein Anspruch auf Vereinbarung leistungsgerechter Zuschläge für die zusätzliche Betreuung und Aktivierung ihrer Bewohner zugesprochen. Werden dem Pflegeheim für das zusätzliche Personal entsprechende Vergütungszuschläge gezahlt, hat der Heimbewohner im Rahmen eines Vertrages zugunsten Dritter einen Anspruch auf zusätzliche Betreuung und Aktivierung gegen das Pflegeheim.193 Der Vielfalt an Leistungen bei der ambulanten Pflege steht bei der vollstationären Pflege der alleinige Leistungsanspruch nach § 43 SGB XI gegenüber. Zwar sind die gedeckelten Leistungen nach § 43 SGB XI auf eine Vollversorgung ausgelegt. Dennoch werden gewisse Abstriche deutlich. So ist die medizinische Behand186 § 1 Abs. 4 der Gemeinsamen Empfehlung gemäß § 75 Abs. 5 SGB XI zum Inhalt der Rahmenverträge nach § 75 Abs. 1 SGB XI zur vollstationären Pflege vom 25. November 1996. Im Rahmenvertrag des Landes Baden-Württemberg wird die soziale Betreuung konkretisiert zu Leistungen wie u. a. der Beratung und Erhebung der Sozialanamnese zur Vorbereitung des Einzugs, der Beratung in persönlichen Angelegenheiten, der Koordination der Kontakte zu Angehörigen oder der Begleitung ehrenamtlicher Helfer. Siehe § 1 Abs. 3e des Rahmenvertrages für vollstationäre Pflege gem. § 75 Abs. 1 SGB XI für das Land Baden-Württemberg. 187 Vgl. zu der medizinischen Behandlungspflege bei ambulanter Pflege Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. II. 2. 188 §§ 4 Abs. 2 S. 2 Hs. 2, 82 Abs. 1 S. 4 SGB XI. 189 § 82 Abs. 3, 4 SGB XI. 190 Siehe hierzu auch Linke, in: Krauskopf, SGB XI, § 43 SGB XI Rn. 26 f. 191 Siehe Griep, SRa 2009, S. 82; Philipp, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, SGB XI, § 43 Rn. 2; Kruse, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 43 Rn. 14 ff. 192 Dieser wurde ebenfalls durch das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz 2008 eingeführt (BGBl., Jahrgang 2008, Teil I, S. 874). 193 Siehe BT-Drucks. 16/8525, S. 101; Brünner/Höfer, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 87b Rn. 15.

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

lungspflege Teil der betragsmäßig begrenzten Leistungen der Pflegeversicherung, während sie bei der häuslichen Pflege vollständig von der Krankenkasse übernommen wird. Überdies sind die zusätzlichen Betreuungs- und Aktivierungsleistungen bei stationärer Pflege abhängig vom Willen des Pflegeheims. Auch haben Pflegebedürftige der Pflegestufe 0 bei vollstationärer Pflege keinen Anspruch auf Grundleistungen. Zudem soll das Leistungsrecht durch die Nichtübernahme der Unterkunfts- und Verpflegungskosten darauf hinwirken, eine Besserstellung bei stationärer Pflege zu vermeiden.194 Die Tatsache eines alleinigen, der Höhe nach gedeckelten Anspruchs, gewisser Abstriche und der Verhinderung einer Besserstellung bei vollstationärer Pflege, steht ebenfalls im Einklang mit dem Vorranggrundsatz.195

VI. Fazit Bei Pflegebedürftigkeit sind unterschiedliche Organisationsformen denkbar, anhand derer die Pflege sichergestellt werden kann: die ambulante, informelle Pflege, die ambulante, professionelle Pflege, eine Kombination aus beiden oder die vollstationäre Pflege. Während für die ambulanten Grundpflegeformen in der Pflegeversicherung und daneben in anderen Rechtsgebieten eine Fülle an Leistungen und Vergünstigungen vorgesehen ist, steht bei vollstationärer Pflege im Wesentlichen allein der gedeckelte Leistungsbetrag gem. § 43 SGB XI zur Verfügung. Dadurch wird die ambulante Pflege im Leistungsrecht der sozialen Pflegeversicherung besonders betont. Der weit überwiegende Anteil der Normen des Leistungsrechts konzentriert sich auf die ambulante Pflege. Auch systematisch finden sich die Leistungen bei häuslicher Pflege vor denjenigen bei vollstationärer Pflege. Schließlich zeugt die Tatsache, dass bei häuslicher Pflege sowohl mehrere Pflegeformen zur Verfügung stehen als auch eine weitgehend freie Kombinierbarkeit der Leistungen gewährleistet ist, von der hervorgehobenen Stellung ambulanter Pflege. In dem besonderen Stellenwert der ambulanten Pflege im Leistungsrecht der sozialen Pflegeversicherung kommt der Vorranggrundsatz zum Ausdruck.

C. Berücksichtigung des Vorranggrundsatzes im Rahmen des Beratungsangebotes Die Leistungsgewährung wird in erster Linie durch ein Beratungsangebot begleitet.196 Gem. § 7 Abs. 2 SGB XI haben die Pflegekassen die Pflegebedürftigen und 194

Vgl. hierzu auch BT-Drucks. 12/5262, S. 91, S. 143. Siehe hierzu auch Skuban, Pflegeversicherung, S. 73. 196 Das Beratungssystem ist dabei sehr differenziert ausgestaltet. Hier werden allerdings nur die wichtigsten Beratungsangebote aufgezeigt. 195

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

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ihre Angehörigen zu informieren und ihnen einen Überblick über die möglichen Leistungen zu verschaffen. Die Aufklärung und Auskunft kann dabei durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Pflegekassen ohne besondere Qualifikation als Pflegeberaterin oder Pflegeberater erfolgen.197 Gleichzeitig informiert die Pflegekasse bei Eingang eines Leistungsantrags den Versicherten über die Möglichkeit zur unentgeltlichen Pflegeberatung nach § 7a SGB XI, vgl. § 7 Abs. 2 S. 4 SGB XI. Danach erhalten die Versicherten eine umfassende und individuelle Information und Beratung durch qualifizierte Pflegeberaterinnen und Pflegeberater. Die Pflegeberatung muss sich nicht in der Erstberatung erschöpfen, sondern kann durch wiederholte Beratungen begleitend wirken.198 Um eine schnelle und durchgängige Beratung zu gewährleisten, sieht § 7b Abs. 1 S. 1 SGB XI vor, dass die pflegebedürftige Person oder ihre Angehörigen nicht nur bei Erstanträgen, sondern auch bei Folgeanträgen innerhalb von 14 Tagen beraten werden können. Die individuelle Betreuung durch den Pflegeberater dient insbesondere dazu, das nahtlose und störungsfreie Ineinandergreifen aller notwendiger Leistungen sicherzustellen, § 12 Abs. 2 S. 2 SGB XI. Schließlich soll das Beratungsangebot durch die Einrichtung von Pflegestützpunkten gem. § 7c SGB XI verbessert werden. Ihre Aufgabe ist die ganzheitliche Unterstützung Pflegebedürftiger, indem sie als wohnortnahe erste Anlaufstelle für Informationen und Beratung dienen, die wohnortnahe Versorgung und Betreuung koordinieren und die verschiedenen pflegerischen und sozialen Versorgungs- und Betreuungsangebote vernetzen, § 7c Abs. 2 S. 1 SGB XI.199 Da § 3 SGB XI als Programmsatz die gesamte Pflegeversicherung durchzieht, ist auch innerhalb des die Pflegeleistungen begleitenden, engmaschigen Beratungs- und Unterstützungssystems der Vorranggrundsatz zu berücksichtigen.200 So ist Aufgabe der Pflegeberatung insbesondere die nahtlose Ermöglichung und möglichst lange Aufrechterhaltung einer Pflege im häuslichen Bereich.201 Die Zielgenauigkeit der Versorgung und Betreuung Pflegebedürftiger soll dadurch verbessert und dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ deutlich Rechnung getragen werden.202

197

Vgl. BT-Drucks. 18/5926, S. 83. Siehe BT-Drucks. 18/5926, S. 87. 199 Vgl. BT-Drucks. 16/7439, S. 74; Schiffer-Werneburg, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 92c Rn. 5. 200 So auch Krahmer/Plantholz, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 3 Rn. 6. 201 Vgl. BT-Drucks. 12/5262, S. 91; Kostorz/Aufderhorst/Fecke/Hesa/Mört/Wübbeler/ Ziegler, WzS 2010, S. 183 f. 202 BT-Drucks. 18/5926, S. 87. 198

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

D. Bedeutung des Vorranggrundsatzes für das Leistungserbringungsrecht Schließlich erlangt der Vorranggrundsatz auch für die von den Regelungen des SGB XI gerahmte pflegerische Infrastruktur Bedeutung.203 Für die Vorhaltung einer leistungsfähigen, ausreichenden und wirtschaftlichen pflegerischen Versorgungsstruktur sind die Länder verantwortlich, § 9 SGB XI, Art. 30 GG.204 Der Sicherstellungsauftrag für die pflegerische Versorgung der Versicherten trifft gem. §§ 12 Abs. 1 S. 1, 69 S. 1 SGB XI die Pflegekassen. Zu diesem Zweck schließen sie Verträge mit den Leistungserbringern, die wiederum die Verantwortung für die Ausführung der Pflege tragen, vgl. § 11 SGB XI.205 Dass der Sicherstellungsauftrag für die Pflege bei den Pflegekassen liegt, verdeutlicht die geteilte Infrastrukturverantwortung: Kommen die Länder ihrer Aufgabe nicht nach, müssen die Pflegekassen selbst eine ausreichende pflegerische Versorgung organisieren.206 Die Bundesregierung hat lediglich die Aufgabe einer Beobachterin, indem sie den im vierjährigen Rhythmus erscheinenden Pflegebericht den gesetzgebenden Körperschaften des Bundes vorzulegen hat, § 10 SGB XI. Da es in erster Linie in den Händen der Länder liegt, die Grundsteine für die Infrastruktur der Pflege zu legen, in deren Rahmen wiederum die anderen Akteure agieren, erlangt primär für die Länder der Vorranggrundsatz Bedeutung. Sie haben dafür zu sorgen, dass die pflegerische Versorgung der Bevölkerung durch ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen, welche den näheren Vorgaben des § 71 SGB XI entsprechen müssen, sichergestellt ist. Zu diesem Zweck erließen sämtliche Länder Landespflegegesetze, die genauere Regelungen zur Planung und Förderung der Pflegeinfrastruktur bereithalten.207 Die Länder müssen mit ihrer Planung und Förderung einen Nährboden dafür schaffen, dass sich zahlenmäßig ausreichend ambulante Pflegeeinrichtungen etablieren können.208 Die infrastrukturelle Vorhaltung ambulanter Pflegeeinrichtungen ist wiederum Voraussetzung dafür, dass die Pflegekassen ihrem ebenfalls vom Vorranggrundsatz beeinflussten Sicherstellungsauftrag nachkommen können. Sie tragen dafür Verantwortung, dass ausreichend ambulante Pflegeeinrichtungen durch Abschluss eines Versorgungsvertrages gem. § 72 SGB XI zur pflegerischen Versorgung zugelassen werden. 203

Ebenso Krahmer/Plantholz, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 3 Rn. 2. Siehe hierzu auch ausführlich Waldhoff, Kompetenzverteilung, S. 74 ff. 205 Vgl. hierzu auch Koch, in: KassKomm, SGB XI, § 12 Rn. 3. 206 Siehe hierzu näher Udsching, Kommunale Aufgabenwahrnehmung, S. 62. 207 Siehe Waldhoff, Kompetenzverteilung, S. 76. Vgl. hierzu bspw. auch §§ 3, 4 LPflG BW. 208 Nicht in der Macht des Landes liegt hingegen die Restriktion von Pflegeeinrichtungen i.S. einer Angebotssteuerung, da dies einer objektiven Zulassungssperre gleichkäme. Vgl. BVerfG, Urt. v. 11. 06. 1958, Az 1 BvR 596/56, BVerfGE 7, 377; BSG, Urt. v. 28. 06. 2001, Az B 3 P 9/00 R, BSGE 88, 215; BSG, Urt. v. 26. 01. 2006, Az B 3 P 6/04 R, BSGE 96, 28; Neumann, VSSR 1994, S. 309, S. 316 ff. 204

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

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E. Betonung des Vorranggrundsatzes durch die Reformen der Pflegeversicherung Bereits vor und bei Einführung der sozialen Pflegeversicherung nahm der Vorranggrundsatz eine zentrale Stellung ein. So verlagerte sich in der Debatte zur Einführung der Pflegeversicherung bald der Blick, ursprünglich von sozialpolitischen Überlegungen zur Heimpflege ausgehend, immer mehr hin zur ambulanten Pflege, während die Heimpflege zusehends als eine zu vermeidende Versorgungsform eingestuft wurde.209 Auch nach Einführung der Pflegeversicherung hat der Vorranggrundsatz seine zentrale Rolle nicht eingebüßt. In den meisten Reformen wurde er stets weiterverfolgt. Das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz (PQsG) m. W.v. 01. 01. 2002210 sorgte für eine mittelbare Privilegierung ambulanter Pflegeeinrichtungen, indem die verschärften Qualitätssicherungsmittel wie auch die Sanktionsmöglichkeit bei Schlechtleistung gem. § 115 Abs. 3 SGB XI allein für stationäre Pflegeeinrichtungen eingeführt wurden.211 Das Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz (PfLEG) aus demselben Jahr212 bekräftigte mit der Einführung von Leistungen bei erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf den Vorranggrundsatz, da diese allein bei häuslicher Pflege vorgesehen sind. Das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz m. W.v. 01. 07. 2008213 nennt als eines seiner wesentlichen Ziele „dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ stärker als bisher Rechnung […] tragen“214 zu wollen. Dies geschah u. a. durch die Anhebung der Leistungsbeträge insbesondere im häuslichen Bereich, den Ausbau des Beratungsangebots, die Einführung des Pflegezeitgesetzes und die Ausweitung der Leistungen für Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz.215 Das Pflege-Neuausrichtungsgesetz vom 23. 10. 2012216 bekräftigte mit der Einführung von Grundleistungen für ambulant Gepflegte mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf, mit der neuen Wohnform ambulant betreuter Wohngruppen, mit der hälftigen Weiterzahlung von Pflegegeld während einer Kurzzeit209 Vgl. BT-Drucks. 10/335, S. 103; Skuban, Pflegeversicherung, S. 21; Birk, BSHG, § 3 a Rn. 6; Krahmer, in: Armborst, BSHG, § 3a Rn. 2; Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 13 Rn. 16; Mettler-Meibom/Häberle, SF 1983, S. 45; Giese, ZfSH/SGB 1984, S. 195, S. 200 f. 210 BGBl., Jahrgang 2001, Teil I, S. 2320. 211 Siehe zu diesen ausführlich Schmolz, PKR 2001, S. 37. Siehe auch BT-Drucks. 14/5395, S. 19, S. 21; Leitherer, in: KassKomm, SGB XI, § 115 Rn. 1 f.; Knittel, in: Krauskopf, SGB XI, § 115 Rn. 8. 212 BGBl., Jahrgang 2001, Teil I, S. 3728. 213 BGBl., Jahrgang 2008, Teil I, S. 874. 214 BT-Drucks. 16/7439, S. 1; ebenso BT-Drucks. 16/8525, S. 2 f. 215 Siehe hierzu näher BT-Drucks. 16/8525, S. 3; BT-Drucks. 16/7439, S. 37 ff.; Igl, NJW 2008, S. 2214 ff; Reimer/Merold, SGb 2008, S. 381 ff; Kostorz/Aufderhorst/Fecke/Hesa/Mört/ Wübbeler/Ziegler, WzS 2010, S. 179 ff. 216 BGBl., Jahrgang 2012, Teil I, S. 2246.

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2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

oder Verhinderungspflege sowie mit der Flexibilisierung der Leistungsinanspruchnahme bei häuslicher Pflege den Vorrang der ambulanten Pflege.217 Schließlich soll auch das Erste Pflegestärkungsgesetz m. W.v. 01. 01. 2015218 die ambulant gepflegten Pflegebedürftigen und ihre Pflegepersonen besonders unterstützen.219 Dazu dienen sowohl die Verbesserungen im Bereich der Pflegezeit und Familienpflegezeit als auch Leistungsverbesserungen im ambulanten Bereich. Dies sind u. a. die Möglichkeit der ungekürzten Kombination von ambulanten Grundleistungen und teilstationärer Pflege, die Öffnung der zusätzlichen Betreuungs- und Entlastungsleistungen für alle Anspruchsberechtigten des SGB XI oder der mögliche Austausch der Mittel von Verhinderungspflege und Kurzzeitpflege.220 Thema aller bedeutenden Reformen war und ist mithin der Vorranggrundsatz. Je aktueller die Reform, umso mehr rücken Regelungen zum Erhalt und Ausbau der ambulanten Pflege in den Mittelpunkt.221 Ein besonderer Fokus liegt dabei mit Neuregelungen und Änderungen zur Verbesserung der Situation pflegender Angehöriger auf dem Erhalt und der Stärkung der häuslichen, informellen Pflege. Dies setzt sich auch in der aktuellste Reform der Pflegeversicherung, die Gegenstand des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes222 ist, fort.

F. Änderungen durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz Das Zweite Pflegestärkungsgesetz sieht umfassende Änderungen in zwei Stufen vor: Kleinere Anpassungen und Regelungen, die die Grundlagen für die zweite Stufe schaffen sollen, traten bereits am 01. Januar 2016 in Kraft. Die Kernelemente des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes folgen mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und dem neuen Begutachtungsassessment (NBA) dagegen erst zum 01. Januar 2017.223 Durch diese ändern sich die Leistungsvoraussetzungen, was wiederum Anpassungen und Änderungen im Leistungs-, Vertrags- und Vergütungsrecht erforderlich macht.

217

Vgl. BT-Drucks. 17/9369, S. 18 ff.; Henneberger, NDV 2013, S. 58 ff. BGBl., Jahrgang 2014, Teil I, S. 2222. 219 So auch BT-Drucks. 18/1798, S. 1. 220 Vgl. § 41 Abs. 3, § 45b Abs. 1a, 39 Abs. 3, 42 Abs. 2 S. 3 SGB XI; BT-Drucks. 18/3124, S. 25 f; Udsching, jurisPR-SozR 3/2015, Anm. 1. 221 Siehe zur Verschiebung von stationären immer mehr hin zu ambulanten Versorgungsformen auch Michell-Auli, SF 2007, S. 46. 222 BGBl., Jahrgang 2015, Teil I, S. 2424. 223 Siehe Art. 8 des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes, BGBl., Jahrgang 2015, Teil I, S. 2424. 218

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

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I. Neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff und das neue Begutachtungsassessment Das zentrale Element des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs ist eine Abkehr von der rein somatischen Definition der Pflegebedürftigkeit. Ab 2017 finden neben den körperlichen auch geistige und psychische Beeinträchtigungen gleichberechtigt Eingang in die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit.224 Orientierungspunkt sind dann die vorhandenen Ressourcen und Fähigkeiten des Pflegebedürftigen und nicht mehr seine Defizite.225 Durch das neue Begutachtungsassessment findet eine einheitliche Ermittlung des Pflegegrades statt. Das Vorliegen einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz oder eines Härtefalls werden als Sonderfeststellungen dadurch entbehrlich.226 Pflegebedürftig sind in Zukunft Personen, die Hilfebedarf aufgrund einer körperlich, kognitiv oder psychisch bedingten Beeinträchtigung ihrer Selbstständigkeit oder ihrer Fähigkeiten haben, vgl. § 14 Abs. 1 S. 1 SGB XI n.F. Dies wird an dem Vermögen zur selbstständigen Vornahme von Aktivitäten in sechs pflegerelevanten Bereichen gemessen: den Bereichen „Mobilität“, „kognitive und kommunikative Fähigkeiten“, „Verhaltensweisen und psychische Problemlagen“, „Selbstversorgung“, „Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen und Belastungen“ und „Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte“.227 Bei den Bereichen und den darunter aufgezählten Tätigkeiten handelt es sich um einen abschließenden Katalog.228 In den Katalog wurden nicht nur Tätigkeiten integriert, die bislang nur für die Beurteilung der erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz Relevanz erlangten, sondern auch solche, die keine Berücksichtigung für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit fanden.229 Eine Beeinträchtigung bei der Haushaltsführung oder bei außerhäuslichen Aktivitäten in einem oder mehreren der sechs Bereiche ist vom MdK bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit gem. § 18 Abs. 5a SGB XI n.F. gesondert zu erheben, um eine möglichst individuelle Pflegeplanung zu ermöglichen.230 Für diese Bereiche werden jedoch keine eigenständigen Punkte vergeben, da die Beeinträchtigung bereits im Rahmen der Kriterien nach § 14 Abs. 2 SGB XI n.F. Berücksichtigung findet. Würden die Beeinträchtigung der Haushaltsführung oder von außerhäuslichen Aktivitäten eigenständig bewertet, erführe die gleiche Beeinträchtigung doppelte Berücksichtigung.231 Ist die Selbstständigkeit allein im Bereich „Haushaltsführung“ oder „außerhäusliche Aktivitäten“ einge224 225 226 227 228 229 230 231

Vgl. BT-Drucks. 18/5926, S. 61. Vgl. BT-Drucks. 18/5926, S. 109. Siehe BT-Drucks. 18/5926, S. 62. Vgl. § 14 Abs. 2 SGB XI n.F. Siehe BT-Drucks. 18/5926, S. 109 f. Siehe hierzu ausführlich BT-Drucks. 18/5926, S. 110. Vgl. § 14 Abs. 3 u. § 18 Abs. 5a SGB XI n.F. Siehe BT-Drucks. 18/5926, S. 110 f., S. 117.

62

2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

schränkt, dann ist der Betroffene hilfe-, nicht aber pflegebedürftig.232 Pflegebedürftigkeit setzt auch nach der neuen Definition eine Mindestdauer und eine Mindestschwere voraus. So muss die Beeinträchtigung der Selbstständigkeit voraussichtlich für wenigstens sechs Monate bestehen und zumindest das Ausmaß eines der Pflegegrade nach § 15 SGB XI n.F. erreichen.233 § 15 SGB XI n.F. sieht fünf Pflegegrade vor, in welche die Pflegebedürftigen anhand eines Punktewertes auf einer 100-Punkte-Skala eingeteilt werden. Dafür ist zunächst der Einzelpunktewert zu ermitteln, vgl. § 15 Abs. 3 S. 1 SGB XI n.F. Den Einzeltätigkeiten in den verschiedenen Bereichen, hier Module genannt, sind je nach Schwere der Selbstständigkeitseinschränkung Einzelpunkte zugeordnet. Vorgesehen sind in der Regel vier Schweregrade. Die Einzelpunkte lassen sich der Anlage 1 zu § 15 SGB XI n.F. entnehmen. Allerdings wird den verschiedenen Modulen eine unterschiedliche Gewichtung beigemessen. Dadurch soll die Bedeutung von Einschränkungen in bestimmten Bereichen für die Ausprägung der Pflegebedürftigkeit angemessen erfasst werden.234 Deswegen müssen anschließend die Einzelpunkte in den jeweiligen Modulen den entsprechend gewichteten Punkten zugeordnet werden, welche aus der Anlage 2 zu § 15 SGB XI n.F. ersichtlich werden.235 Die Addition der gewichteten Punkte ergibt die Gesamtpunktzahl. Welcher Pflegegrad welche Gesamtpunktspanne umfasst, regelt § 15 Abs. 3 S. 4 SGB XI n.F. In besonderen Bedarfskonstellationen kann eine Zuordnung zum Pflegegrad 5 erfolgen, auch wenn die erforderliche Gesamtpunktzahl nicht erreicht wurde, vgl. § 15 Abs. 4 SGB XI n.F.236 Durch die Beurteilung der Beeinträchtigung der Selbstständigkeit anhand des Punktesystems ist eine differenzierte Erfassung möglich. Die Einschätzung des Zeitaufwandes einer Laienpflege als Orientierungskriterium entfällt.237 Zudem wird ein größerer Personenkreis von den Pflegegraden erfasst: zum einen, da eine breitere Vielfalt an Kriterien für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit entscheidend ist; zum anderen, da die Einstiegsschwelle für das Erreichen des Pflegegrades 1 abgesenkt wurde.238

II. Änderungen im Leistungsrecht Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und das NBA ziehen Änderungen im Leistungsrecht nach sich. Insbesondere entfallen die Leistungen für Personen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf. Aufgrund der einheitlichen Ermittlung 232 233 234 235 236 237 238

Siehe GKV Spitzenverband, Das neue Begutachtungsinstrument, S. 43. Vgl. § 14 Abs. 1 S. 3 SGB XI n.F. Siehe § 15 Abs. 2 S. 8 SGB XI n.F. Siehe dazu ausführlich BT-Drucks. 18/5926, S. 113. Vgl. § 15 Abs. 2 S. 7 u. 8, Abs. 3 S. 1 SGB XI n.F. Siehe ausführlich BT-Drucks. 18/5926, S. 114. Vgl. BT-Drucks. 18/5926, S. 111. Siehe BT-Drucks. 18/5926, S. 111.

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

63

der Pflegegrade haben künftig alle Pflegebedürftigen eines Pflegegrades Zugang zu den gleichen Leistungen.239 Auch erfordert der Perspektivenwechsel von der passiven Versorgung der Pflegebedürftigen hin zu einer aktiven Unterstützung neue Begrifflichkeiten.240 Leistungen der Pflegeversicherung werden grundsätzlich nur für die Pflegegrade 2 bis 5 gewährt. Für Pflegebedürftige des Pflegegrades 1 sind nur eingeschränkte Leistungen vorgesehen. 1. Leistungen bei ambulanter, professioneller Pflege Grundleistung bei der ambulanten, professionellen Pflege bleibt für Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 die Pflegesachleistung. Die pflegerischen Maßnahmen müssen sich auf die für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit genannten Bereiche nach § 14 Abs. 2 SGB XI n.F. beziehen, vgl. § 36 Abs. 1 S. 2 SGB XI n.F. Die pflegerische Betreuung ist neben den körperbezogenen Pflegemaßnahmen und der Hilfe bei der Haushaltsführung nun explizit gleichwertiger Leistungsbestandteil der Pflegesachleistungen, vgl. § 36 Abs. 1 S. 1 SGB XI n.F. Sie wird nicht mehr bloß nachrangig über den ohnehin wegfallenden § 124 SGB XI einbezogen. Damit können die Pflegebedürftigen aus den Angeboten der Pflegedienste frei wählen, unabhängig davon, ob die Angebote körperbezogene Pflegemaßnahmen, pflegerische Betreuungsmaßnahmen oder Hilfe bei der Haushaltsführung betreffen.241 Die Höchstbeträge für die Pflegesachleistungen legt § 36 Abs. 3 SGB XI n.F. für die verschiedenen Pflegegrade fest. Die medizinische Behandlungspflege wird weiterhin gem. § 37 SGB V von der Krankenkasse erbracht.242 Auch die ergänzenden Leistungen bleiben bestehen. Der Anspruch auf Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen wird erhalten. Ebenso besteht der Anspruch auf zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen fort, nun i.H.v. 125 E monatlich. Zu den zweckgebundenen, qualitätsgesicherten Leistungen i.S.d. § 45b Abs. 1 S. 2 SGB XI n.F. zählen unverändert die niedrigschwelligen Betreuungs- und Entlastungsangebote (nun als Angebote zur Unterstützung im Alltag bezeichnet). Sie werden durch die Neuregelung in § 45a SGB XI n.F. mehr in den Mittelpunkt gerückt. Die Ansprüche auf Tages- und Nachtpflege gem. § 41 SGB XI n.F. und auf Kurzzeitpflege gem. § 42 SGB XI n.F. werden hinsichtlich der Leistungsbeträge an die neuen Pflegegrade angepasst. Schließlich bleiben auch die zusätzlichen Leistungen für gemeinsam Gepflegte erhalten. Der Zuschlag für Personen in ambulant betreuten Wohngruppen wird auf 214 E erhöht, § 38a Abs. 1 SGB XI n.F. Allerdings lässt § 38a Abs. 1 S. 2 SGB XI n.F. die Kombinierbarkeit dieser Leistung mit der teilstationären Pflege nur noch unter erschwerten Bedingungen zu.243 Der Grün239 240 241 242 243

Siehe hierzu auch BT-Drucks. 18/5926, S. 108. Vgl. BT-Drucks. 18/5926, S. 121. BT-Drucks. 18/5926, S. 120. Vgl. BT-Drucks. 18/5926, S. 110. Siehe hierzu auch näher BT-Drucks. 18/5926, S. 125.

64

2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

dungszuschuss für ambulant betreute Wohngruppen gem. § 45e SGB XI und die Möglichkeit zur gemeinsamen Inanspruchnahme sowohl von Zuschüssen zu wohnumfeldverbessernden Maßnahmen als auch von Pflegesachleistungen bleiben bestehen, vgl. § 40 Abs. 4 S. 3, 4, § 36 Abs. 4 S. 4 SGB XI n.F. 2. Leistungen bei ambulanter, informeller Pflege a) Leistungen für den Pflegebedürftigen Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 erhalten bei ambulanter, informeller Pflege als Grundleistung weiterhin Pflegegeld gem. § 37 SGB XI n.F., wobei die Beträge an die neuen Pflegegrade angepasst werden. Die ergänzenden Leistungen in Form von Verhinderungspflege gem. § 39 SGB XI n.F., Pflegehilfsmitteln und wohnumfeldverbessernden Maßnahmen gem. § 40 SGB XI, teilstationärer Pflege und Kurzzeitpflege gem. §§ 41, 42 SGB XI n.F. bestehen ebenso fort wie die zusätzlichen Leistungen für gemeinsam Gepflegte gem. §§ 38a, 45e, 40 Abs. 4 S. 3, S. 4 SGB XI. b) Leistungen für die Pflegeperson Die Leistungen der sozialen Sicherung der Pflegeperson gem. § 44 SGB XI werden durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz erweitert. Angesetzt wird dabei bereits bei § 19 SGB XI, indem die erforderliche Mindestpflegestundenzahl, die Voraussetzung für die soziale Sicherung der Pflegeperson ist, von 14 auf 10 Stunden wöchentlich gesenkt wird. Die Pflege muss regelmäßig an mindestens zwei Tagen in der Woche erfolgen, § 19 S. 2 SGB XI n.F. Die Absicherung in der Rentenversicherung gem. § 44 Abs. 1 SGB XI n.F. i.V.m. §§ 3 Abs. 1a, 166 Abs. 2 SGB VI n.F., § 170 Abs. 1 Nr. 6a SGB VI für Pflegepersonen, die eine Person mindestens des Pflegegrades 2 pflegen, bleibt im Grundsatz unverändert. Anpassungen sind allerdings erforderlich, da der Zeitaufwand einer Laienpflege für pflegerische Verrichtungen als Anknüpfungspunkt wegfällt, vgl. § 166 Abs. 2 SGB VI n.F.244 Dies führt dazu, dass im Ergebnis mehr Entgeltpunkte erworben werden können.245 Der Versicherungsschutz in der Unfallversicherung für Pflegepersonen richtet sich künftig nach § 44 Abs. 2a SGB XI n.F. i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 17 SGB VII. Wesentliche Neuerung ist, dass gem. § 44 Abs. 2b SGB XI n.F. i.V.m. § 26 Abs. 2b SGB III n.F. Pflegepersonen auch bei vollständiger Arbeitsfreistellung nicht mehr nur für die Zeit einer Pflegezeit nach § 3 PflegeZG, sondern auch darüber hinaus in der Arbeitslosenversicherung pflichtversichert sind.

244

Siehe hierzu auch BT-Drucks. 18/5926, S. 63. Vgl. dazu näher Dritter Teil, Drittes Kapitel, A. II. 3. b) aa); Dritter Teil, Drittes Kapitel, D. I. 2. b). 245

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

65

3. Leistungen bei ambulanter, kombinierter Pflege Die Möglichkeit zu einer Kombination aus ambulanter Pflege durch informelle und professionelle Pflegepersonen gem. § 38 SGB XI bleibt bestehen. Die anteilige ambulante, informelle und ambulante, professionelle Pflege richten sich nach den an den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff angepassten Leistungsnormen. 4. Leistungen bei vollstationärer Pflege Die vollstationäre Pflege wird ebenfalls lediglich an die neuen Pflegegrade angepasst. Darüber hinaus findet keine leistungsrechtliche Neuorientierung statt.246 Vielmehr wird die Gewährung einer umfassenden Versorgung durch die Einrichtung beibehalten. Der Pflegebedürftige hat in Zukunft auf die zusätzliche Betreuung und Aktivierung in stationären Pflegeeinrichtungen durch zusätzliche Betreuungskräfte einen Anspruch. Die bislang rein vergütungsrechtliche Regelung des § 87b SGB XI wird in einen Individualanspruch umgewandelt, § 43b SGB XI n.F.247 5. Leistungen für Pflegebedürftige des Pflegegrades 1 Für Pflegebedürftige des Pflegegrades 1 sieht § 28a SGB XI n.F. einen gesonderten Katalog an Leistungen vor. Dem Pflegegrad 1 unterfallen Personen mit geringen Beeinträchtigungen, die vorrangig im somatischen Bereich liegen.248 Sie erhalten keinen vollen Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung. Insbesondere sind ihnen die Grundleistungen verwehrt. Im Vordergrund steht eine Versorgung, die den Verbleib in der häuslichen Umgebung sicherstellen soll.249 Personen des Pflegegrades 1 erhalten umfassende Pflegeberatung, Hilfsmittel und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen gem. § 40 SGB XI, den Entlastungsbetrag gem. § 45b SGB XI n.F. i.H.v. 125 E und die zusätzlichen Leistungen gem. § 38a SGB XI n.F., wenn sie in einer ambulant betreuten Wohngruppe leben, § 28a Abs. 1, Abs. 2 SGB XI n.F. Den Entlastungsbetrag können sie, im Gegensatz zu den Pflegebedürftigen der Pflegegrade 2 bis 5, für Leistungen eines ambulanten Pflegedienstes in sämtlichen der sechs Bereiche gem. § 14 Abs. 2 SGB XI n.F. einsetzen, vgl. § 45b Abs. 1 S. 3 Nr. 3 SGB XI n.F. Pflegebedürftige des Pflegegrades 1 erhalten zur vollstationären Pflege einen Zuschuss i.H.v. 125 E in Form der Kostenerstattung, §§ 28a Abs. 4, 43 Abs. 3 SGB XI n.F. Ihnen steht auch ein Anspruch auf zusätzliche Betreuung und Aktivierung gem. § 43b SGB XI n.F. zu, vgl. § 28a Abs. 1 Nr. 6 SGB XI n.F.

246 247 248 249

Vgl. BT-Drucks. 18/5926, S. 127. Vgl. BT-Drucks. 18/5926, S. 128. Vgl. BT-Drucks. 18/5926, S. 118. Siehe BT-Drucks. 18/5926, S. 118.

66

2. Teil: Der Vorranggrundsatz in der sozialen Pflegeversicherung

III. Bedeutung für den Vorranggrundsatz Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und das Begutachtungsassessement führen in erster Linie zu einer Neudefinition des anspruchsberechtigten Personenkreises. Grundsätzlich ist damit zwar auch eine Umgestaltung des Leistungsrechts verknüpft, indem die Leistungen den neuen Pflegegraden angepasst werden und alle Personen eines Pflegegrades Zugang zu den gleichen Leistungen erhalten. Relevante Veränderungen des Leistungsrechts sind dagegen nur an wenigen Stellen vorgesehen, so die verbesserte soziale Sicherung von Pflegepersonen oder der eigene Anspruch der Pflegebedürftigen gegen die Pflegekasse auf zusätzliche Betreuung und Aktivierung in stationären Pflegeeinrichtungen. Trotz der neuen Einteilung in Pflegegrade bleiben die Leistungen in ihren wesentlichen Grundzügen unverändert. Insbesondere bleibt die Aufteilung der Leistungen je nach Pflegeform in ambulante, informelle und professionelle und in (teil)stationäre Leistungen erhalten.250 Auch wird das breite Spektrum an Ansprüchen bei der ambulanten Pflege unverändert aufrechterhalten. Der Vorranggrundsatz in § 3 SGB XI ist ebenso nicht von der Reform betroffen. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff führt also zu grundlegenden Änderungen der sozialen Pflegeversicherung. Er hat jedoch keinen wesentlichen Einfluss auf den Vorranggrundsatz. Der Grundsatz „ambulant vor stationär“ wird durch das neue Pflegestärkungsgesetz nicht berührt und gilt auch für den neu definierten Kreis Pflegebedürftiger weiter.251

G. Schlussfolgerung Der Vorrang ambulanter Pflege ist in § 3 SGB XI als Programmsatz für die Pflegeversicherung geregelt. Daneben sind zahlreiche Elemente in der Pflegeversicherung Ausdruck des Vorranggrundsatzes. In erster Linie ist das Leistungsrecht vom Vorrang der ambulanten Pflege geprägt. Es ist derart konzipiert, dass der ambulanten Pflege durch eine Vielzahl von Leistungen eine zentrale Rolle eingeräumt wird. Diese wird dadurch weiter gestützt, dass bei ambulanter, informeller Pflege neben die vielfältigen Leistungen für die Pflegebedürftigen auch eigene Leistungen für die informellen Pflegepersonen treten. Durch Vergünstigungen in der Pflegeversicherung, in weiteren Sozialversicherungszweigen, im Arbeitsrecht, im Erbrecht und im Steuerrecht sollen sie unterstützt werden. Die Regelung der vollstationären Pflege konzentriert sich dagegen mit § 43 SGB XI auf eine einzige Leistungsnorm. Dem Vorranggrundsatz entsprechend muss zusätzlich mit den das Leistungsrecht begleitenden Instrumentarien, der Pflegeberatung und dem Leistungserbringungsrecht, der Vorrang der ambulanten Pflege verfolgt werden. Insbesondere besteht die

250 251

Vgl. dazu auch BT-Drucks. 18/5926, S. 61. Siehe auch BT-Drucks. 18/5926, S. 87.

3. Kap.: Der Vorranggrundsatz im SGB XI

67

Pflicht der Länder zum Aufbau und der Förderung einer ausreichenden ambulanten Infrastruktur. Der Vorranggrundsatz nahm bereits bei Einführung der sozialen Pflegeversicherung eine zentrale Stellung ein. Er wurde durch eine besondere Betonung der häuslichen Pflege und einen Ausbau der Regelungen in diesem Bereich in sämtlichen bedeutenden Reformen der Pflegeversicherung immer weiter in den Mittelpunkt gerückt. Auch durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz verliert der Vorranggrundsatz nicht an Bedeutung. Zwar wird durch den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und das NBA eine Anpassung des Leistungsrechts erforderlich. Dies führt jedoch nicht zu einer Aufgabe der dominanten Stellung der ambulanten Pflege. Sie wird im Gegenteil durch eine Verbesserung der sozialen Sicherung von Pflegepersonen weiter gestärkt. Betrachtet man also die Ausgestaltung des Vorrangs ambulanter Pflege in der sozialen Pflegeversicherung, scheint der Vorrangrundsatz auf den ersten Blick auch heute noch ein gut verankerter Grundsatz in der Pflegeversicherung zu sein.

Dritter Teil

Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz Erstes Kapitel

Tatsächliche Inanspruchnahme ambulanter Pflege Ob der Vorrang ambulanter Pflege tatsächlich heute noch ein gut verankerter Grundsatz in der Pflegeversicherung ist, bedarf einer kritischen Analyse. Einen ersten Anhaltspunkt dafür bieten die vorhandenen statistischen Erhebungen.

A. Statistische Erhebungen Die aktuellen Pflegestatistiken sprechen auf den ersten Blick eindeutig für den Vorrang der ambulanten vor der stationären Pflege: Während 2013 70,9 % der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt wurden, lag der Prozentsatz der vollstationär Gepflegten bei nur 29,1 %.1 Ein differenziertes Bild ergibt sich jedoch erst bei der Betrachtung der Entwicklung der Zahlen vor und nach der Einführung des Vorranggrundsatzes. Einen Überblick über diese zeigt die nachfolgende Tabelle.2

1

Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2013, S. 9. Die Schwankungen zwischen den Jahren ergeben sich dadurch, dass die Zahlen unterschiedlichen Studien entnommen wurden. Zudem wurden die errechneten Prozentangaben und Zahlen gerundet. 2

1. Kap.: Tatsächliche Inanspruchnahme ambulanter Pflege

69

Tabelle 1 Pflegebedürftige nach Pflegeform Jahr

informell kombiniert professionell

Insgesamt

Ambulant

1978

1,7 Mio.

1,57 Mio. (92,3 %)

1984

Einführung des Vorranggrundsatzes im Rahmen des BSHG

1991/19945

1,54 Mio.

3

1,12 Mio. (72.7 %)

Stationär

88 % 12 %

130.0004 (7,7 % )

67 % 24 % 9%

420.000 (27,3 %)

1995

Einführung des Vorranggrundsatzes im Rahmen des SGB XI

19976

1,69 Mio.

20007

2002/20058

3

1,93 Mio.

2,03 Mio.

1,24 Mio. (73,4 %) 1,35 Mio. (70 %) 1,4 Mio. (68,6 %)

56 % 18 % – 52 % 18 % – 64 % 28 % 8%

450.000 (26,6 %) 580.000 (30 %) 637.000 (31,4 %)

Die Zahlen entstammen der Socialdata-Studie. Vgl. BMJFG, Socialdata-Studie, S. 39. Hinsichtlich der Anzahl stationär Gepflegter beruft sich die Socialdata-Studie auf eine Schätzung des BMJFG. Siehe BMJFG, Socialdata-Studie, S. 45, Fn. 9; BMJFG, Bericht Pflegebedürftigkeit, S. 11. 5 Die Zahlen sind der MUG I und MUG II-Studie entnommen. Dies waren Studien zu den Möglichkeiten und Grenzen selbstständiger Lebensführung. Während sich die MUG I-Studie allerdings nur mit den ambulant gepflegten Pflegebedürftigen beschäftigte, nahm die MUG IIStudie die stationär Gepflegten in den Blick. Zur Verdeutlichung und Vereinfachung wurden die beiden Studien zusammengefasst, auch wenn sie nicht aus dem identischen, sondern nur einem zeitnahen Zeitraum stammen. Vgl. zu den Zahlen BMFSFJ, MUG I, S. 66, S. 133, S. 138 und BMFSFJ, MUG II, S. 23, S. 51. 6 Die Zahlen entstammen dem Ersten Pflegebericht der Bundesregierung, siehe BT-Drucks. 13/9528, S. 21 f. 7 Die Grundlage für diese Zahlen wurde dem Zweiten Pflegebericht der Bundesregierung entnommen, vgl. BT-Drucks. 14/5590, S. 27 f. 8 Auch hierbei handelt es sich wieder um Zahlen aus zwei MUG-Studien (MUG III, MUG IV), die für den Vergleich verbunden wurden. Siehe zu den Zahlen BMFSFJ, MUG III, S. 61 f., S. 68 und BMFSFJ, MUG IV, S. 90 f. Auch hier wurden die Ergebnisse der MUG III und MUG IV-Studie vereinfacht und zusammengefasst. 4

70

3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

Tabelle 1 (Fortsetzung) 20039

200610

201011 201312

2 Mio.

2,1 Mio.

2,42 Mio. 2,63 Mio.

1,36 Mio. (68 %) 1,4 Mio. (66,7 %) 1,67 Mio. (69 %)

49 % 19 % – 47,4 % 18,9 % 44,8 % 21,1 % -

1,86 Mio. (70,9 %)

650.000 (32 %) 700.000 (33,3 %) 750.000 (31 %) 765.000 (29,1 %)

B. Entwicklungstendenzen Noch 1978 war die Bedeutung stationärer Pflege gering. Der Regelfall bestand in der häuslichen Pflege durch Angehörige bzw. sonstige informelle Pflegepersonen. Damals ging man von 130.000 stationär Gepflegten aus. Diese Zahl beruhte auf einer Schätzung und wurde wenige Jahre später auf 260.000 Pflegebedürftige nach oben korrigiert.13 Die Zahl stationär Gepflegter stieg weiter an und betrug 1994 bereits 420.000. Auch nach 1994 bis 2006 zeigen die vorliegenden Zahlen einen leichten, aber weitgehend stetigen Anstieg der stationären im Verhältnis zur ambulanten Pflege.14 Die MUG-Studien15 weisen zwischen 1991 und 2002 einen Rückgang ambulant Gepflegter um gut 4 % aus, während die Anzahl stationär Gepflegter zwischen 1994 und 2005 um die entsprechende Prozentspanne anwuchs. Die Pflegeberichte verzeichnen für den Zeitraum von 1997 bis 2006 sogar eine Abnahme ambulant und eine Zunahme stationär Gepflegter um über 6 %. Im Zeitraum von 2006 bis 2013 nahm dann die ambulante Pflege wieder leicht zu. Dies könnte zumindest teilweise darauf zurückzuführen sein, dass zwischenzeitlich eine bessere Erfassung der Leistungsempfänger, insbesondere im ambulanten Be9

Vgl. Dritter Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 15/4125, S. 35 f. Siehe den Vierten Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/7772, S. 15 f. 11 Vgl. den Fünften Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 17/8332, S. 29 f. 12 Die aktuellsten Zahlen sind der Pflegestatistik 2013 des Statistischen Bundesamtes entnommen. Siehe Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2013, S. 9. 13 Siehe BT-Drucks. 10/1943, S. 3. 14 Es zeigen sich zwar leichte Differenzen in den Zahlen der verschiedenen Studien untereinander. Innerhalb der einzelnen Studien sind die Zahlen jedoch stimmig. 15 Studien zu den Möglichkeiten und Grenzen selbstständiger Lebensführung. Siehe auch Fn. 5 und Fn. 8. 10

1. Kap.: Tatsächliche Inanspruchnahme ambulanter Pflege

71

reich, stattgefunden hat.16 Überdies wird das Bild dadurch etwas verzerrt, dass die Zahlen für den Zeitraum bis 2010 und den Zeitraum bis 2013 aus unterschiedlichen Statistiken stammen und somit auf unterschiedlichen Datenbasen fußen.17 Betrachtet man den gesamten Zeitraum von 1978 bis 2013, wird jedenfalls eine Verschiebung von der ambulanten hin zu einer vermehrten Inanspruchnahme stationärer Pflege sichtbar. Innerhalb der Gruppe der stationär Gepflegten stieg die Anzahl insgesamt um 82 %, innerhalb derjenigen der ambulant Gepflegten dagegen nur um 21 %. Denkbar wäre, dass der Grund für diese Entwicklung besonders in den demographischen Veränderungen und der zunehmenden Multimorbidität und damit einer Zunahme Schwerstpflegebedürftiger zu suchen ist. Dies deckt sich jedoch nicht mit den in den Pflegeberichten erhobenen Veränderungen der Pflegestufenanteile. So waren 1997 45,6 % der Pflegebedürftigen in Pflegestufe I, 42,1 % in Pflegestufe II und 12,3 % in Pflegestufe III.18 2010 war der Prozentsatz der Pflegebedürftigen in Pflegestufe I bereits auf 61,3 % gestiegen, derjenige in Pflegestufe II jedoch auf 29,9 % und derjenige in Pflegestufe III auf 8,8 % gesunken.19 Eine weitere Tendenz ist eine Verschiebung im Bereich der ambulanten Pflege. Die ausschließlich informelle, ambulante Pflege nimmt zugunsten einer verstärkten Hinzuziehung professioneller Pflegekräfte ab.

C. Schlussfolgerung Statistisch gesehen ist die ambulante Pflege nach wie vor die am häufigsten in Anspruch genommene Pflegeform. Dennoch verschob sich das Verhältnis zwischen ambulanter und stationärer Pflege im Zeitverlauf hin zu einer verstärkten Inanspruchnahme stationärer Pflege. Die Nachfrage nach professioneller, ambulanter und stationärer Pflege wuchs zu Lasten der informellen, ambulanten Pflege weitgehend kontinuierlich.20 Dabei weisen die Zahlen trotz der Einführung des Vorranggrundsatzes erst im BSHG, später in der Pflegeversicherung keine Kehrtwende zugunsten der ambulanten Pflege aus. Die Einführung des Vorranggrundsatzes hat die Entwicklung hin zu mehr stationärer Pflege nicht gebremst. Das Inanspruchnahmeverhalten wird vom Vorranggrundsatz offenbar nicht wesentlich beeinflusst und jeder Pflegebedürftige scheint seine Pflegeform frei wählen zu können.

16

Siehe den Fünften Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 17/8332, S. 30. So weisen die Pflegestatistiken, aus welchen die Zahlen für den Zeitraum bis 2013 stammen, durchgehend leicht abweichende Zahlen von denjenigen der Pflegeberichte auf. 18 Vgl. Erster Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 13/9528, S. 20. 19 Vgl. Fünfter Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 17/8332, S. 29. 20 So auch Häcker/Raffelhüschen, Zukünftige Pflege ohne Familie, S. 1. 17

72

3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

Zweites Kapitel

Verbindlichkeit der gesetzlichen Ausgestaltung des Vorranggrundsatzes Ob tatsächlich jeder Pflegebedürftige die von ihm gewünschte Pflegeform wählen kann, hängt entscheidend von der konkreten gesetzlichen Ausgestaltung des Vorrangs ambulanter Pflege ab. Dem Pflegebedürftigen wäre dann die freie Wahl versperrt, wenn Normen in der Pflegeversicherung verbindlich den Vorrang ambulanter Pflege vorsehen.

A. Verbindlichkeit des Programmsatzes Der Vorrang der ambulanten vor der stationären Pflege in § 3 SGB XI ist als Programmsatz ausgestaltet.21 Als solcher gibt er ohne rechtliche Verbindlichkeit eine Leitlinie vor.22 Er entfaltet keine unmittelbare Wirkung, sondern richtet lediglich einen Appell an die Pflegeversicherung, vorrangig auf die häusliche Pflege hinzuwirken.23 Keinerlei Verbindlichkeit hat er für die Pflegebedürftigen selbst.24 Zusätzlich abgeschwächt wird er durch den Charakter einer Soll-Vorschrift. Damit ist selbst die bloße Zielvorgabe der Vorrangigkeit ambulanter Pflege für die Pflegeversicherung nicht einmal zwingend. Ein Außerachtlassen ist in atypischen Situationen zulässig. Dass der Vorrang ambulanter Pflege ein allgemeiner Grundsatz der Pflegeversicherung ist, führt also noch nicht dazu, dass die Pflegebedürftigen vorrangig ambulante Pflege in Anspruch nehmen müssen.

B. Verbindlichkeit der Umsetzung in den (teil)stationären Leistungsnormen Ebenso bedingt auch das breite Leistungsspektrum im ambulanten Bereich nicht, dass der Pflegebedürftige vorrangig zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege verpflichtet wäre. Erforderlich wären vielmehr Normen im Leistungsrecht, die eine verbindliche Nachrangigkeit der (teil)stationären Pflege bewirken. Eine unmittelbare Erwähnung der Nachrangigkeit findet sich in den (teil)stationären Leistungsnormen. Insofern könnte angenommen werden, dass zwar nicht der bloß als Programmsatz ausgestaltete Vorranggrundsatz in § 3 SGB XI die konsequente Umset21

Siehe hierzu auch Zweiter Teil, Drittes Kapitel, A. Vgl. Tilch/Arloth, Band 2, „Programmsatz“. 23 Vgl. hierzu auch Koch, in: KassKomm, SGB XI, § 3 Rn. 4; Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 3 Rn. 2. 24 Siehe auch Krahmer/Plantholz, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 3 Rn. 2, Rn. 5. 22

2. Kap.: Verbindlichkeit der Ausgestaltung des Vorranggrundsatzes

73

zung des Vorrangs der ambulanten vor der stationären Pflege in der Pflegeversicherung bedingt, wohl aber seine Umsetzung in den Normen zur (teil)stationären Pflege. Dafür müssten die Regelungen in §§ 41, 42 u. 43 SGB XI zur Folge haben, dass dem Pflegebedürftigen die (teil)stationäre Leistung aufgrund des Vorrangs ambulanter Pflege verweigert werden könnte.

I. Verbindlichkeit des Nachrangs teilstationärer Pflege Gem. § 41 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 SGB XI besteht der Anspruch auf teilstationäre Pflege nur, wenn häusliche Pflege nicht in ausreichendem Umfang sichergestellt werden kann oder wenn sie zur Ergänzung oder Stärkung der häuslichen Pflege erforderlich ist. Wann das der Fall ist, bestimmt sich nach den Gegebenheiten des Einzelfalls.25 Die Tages- und Nachtpflege soll u. a. dann erforderlich sein, wenn sich die Pflegebedürftigkeit kurzfristig verschlimmert, der Pflegeperson dadurch eine Erwerbstätigkeit ermöglicht wird, die Pflegeperson zumindest zu einer bestimmten Zeit im Tagesablauf entlastet wird oder wenn nur einige Stunden am Tag die dauerhafte Beaufsichtigung des Pflegebedürftigen erforderlich ist.26 Da die teilstationäre Pflege in besonderem Maße der Unterstützung und Ergänzung häuslicher Pflege dient27, richtet sich die Erforderlichkeit der Tages- und Nachtpflege auch nach dem Wunsch des Pflegebedürftigen und der ggf. in Betracht kommenden Pflegeperson.28 Für die Erforderlichkeit sind also nicht nur objektive Umstände, sondern auch die subjektiven Wünsche und Bedürfnisse des Pflegebedürftigen und der ihn versorgenden Person ausschlaggebend.29 Dass der Pflegebedürftige die teilstationäre Pflege trotz des in § 41 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 SGB XI geregelten Nachrangs dennoch nach freier Wahl beanspruchen kann, wird auch an § 41 Abs. 3 SGB XI deutlich. Dementsprechend ist auch kein besonderes Prüfverfahren des MdK vorgesehen, anhand dessen das Vorliegen der Erforderlichkeit teilstationärer Pflege überprüft wird.30 Damit führt § 41 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 SGB XI trotz der Erwähnung der Nachrangigkeit teilstationärer Pflege nicht zu ihrem verbindlichen Nachrang.

25

Vgl. Richter, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 41 Rn. 5. Siehe BT-Drucks. 12/5262, S. 114. 27 Siehe zur teilstationäre Pflege Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. II. 3. c); BT-Drucks. 14/ 6949, S. 14. 28 Vgl. Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 41 Rn. 3; Leitherer, in: KassKomm, SGB XI, § 41 Rn. 10; Linke, in: Krauskopf, SGB XI, § 41 Rn. 5; Richter, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 41 Rn. 5. 29 Siehe Linke, in: Krauskopf, § 41 Rn. 5. 30 Siehe Richter, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 41 Rn. 5. 26

74

3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

II. Verbindlichkeit des Nachrangs der Kurzzeitpflege Voraussetzung für die Kurzzeitpflege ist gem. § 42 Abs. 1 S. 1 SGB XI, dass vorübergehend weder häusliche noch teilstationäre Pflege möglich oder ausreichend ist. Den Grund für die Unmöglichkeit oder Unzulänglichkeit der Kurzzeitpflege definiert § 42 Abs. 1 S. 2 SGB XI näher. Sie muss auf einer Übergangszeit im Anschluss an eine stationäre Behandlung oder einer sonstigen Krisensituation beruhen. Als Beispiele für das Vorliegen einer Krisensituation werden von der Gesetzesbegründung ein Ausfall der bisherigen Pflegeperson, eine kurzfristige erhebliche Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit, eine Krankheit oder ein Urlaub der Pflegeperson genannt.31 Der Begriff der Krisensituation erfährt dadurch jedoch keine abschließende Definition und ist einer Einzelfallbetrachtung zugänglich. Hinzu kommt, dass in der Praxis die Kurzzeitpflege selbst bei Nichtvorliegen der in § 42 Abs. 1 S. 2 SGB XI genannten Voraussetzungen gewährt wird. So wird sie oftmals zur Überbrückung für die Aufnahme in ein vollstationäres Pflegeheim genutzt, obwohl bei Antragsstellung schon feststeht, dass die häusliche bzw. teilstationäre Pflege dauerhaft nicht mehr möglich ist.32 Diese Möglichkeit sehen selbst der GKV Spitzenverband und die Verbände der Pflegekassen auf Bundesebene in ihrem gemeinsamen Rundschreiben vor.33 Überdies ist keine selbstständige Feststellung der Erforderlichkeit der Kurzzeitpflege durch den MdK vorgesehen.34 Damit erscheint schon die Verbindlichkeit der in § 42 Abs. 1 S. 1 SGB XI aufgestellten Kriterien für die Nachrangigkeit der Kurzzeitpflege zweifelhaft. Letztlich ist jedoch entscheidend, dass die Kurzzeitpflege nur ein zeitlich begrenzter Bestandteil des ambulanten Pflegearrangements ist. Sie weist insofern deutliche Parallelen zu der Verhinderungspflege auf.35 Wie die Verhinderungspflege ist auch die Kurzzeitpflege für die Konstellation gedacht, dass der Pflegebedürftige auf Dauer in seiner häuslichen Umgebung gepflegt werden will, dies jedoch vorübergehend nicht möglich ist.36 Damit wird der Pflegebedürftige, selbst wenn ihm die Kurzzeitpflege mangels Vorliegen der Voraussetzungen des § 42 Abs. 1 S. 1 SGB XI einmal versagt werden sollte, dadurch nicht in seiner freien Wahl zwischen den Pflegeformen eingeschränkt. Es würde ihm dann lediglich eine der Einzelleistungen bei ambulanter Pflege versagt werden. Insofern ist § 42 Abs. 1 S. 1 SGB XI kein Ausdruck des Vorranggrundsatzes, da die Kurzzeitpflege nicht als eigenständige stationäre Pflegeform, sondern einzig als Binnenbestandteil der ambulanten Pflege anzusehen ist.

31

Siehe BT-Drucks. 12/5262, S. 115. Siehe Kruse, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI,§ 42 Rn. 8. 33 Vgl. GKV Spitzenverband, Gemeinsames Rundschreiben zu den leistungsrechtlichen Vorschriften, S. 2 zu § 42 SGB XI. 34 Vgl. Kruse, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 42 Rn. 11. 35 Siehe auch Kruse, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 42 Rn. 9. 36 Vgl. Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 42 Rn. 5. 32

2. Kap.: Verbindlichkeit der Ausgestaltung des Vorranggrundsatzes

75

III. Verbindlichkeit des Nachrangs vollstationärer Pflege Gem. § 43 Abs. 1 SGB XI ist Voraussetzung für die vollstationäre Pflege, dass die häusliche oder teilstationäre Pflege nicht möglich ist oder wegen der Besonderheit des Einzelfalls nicht in Betracht kommt. Wann vollstationäre Pflege erforderlich ist, wird näher durch die Begutachtungs-Richtlinie des MdK konkretisiert. Danach kann sie insbesondere erforderlich sein: beim Fehlen einer Pflegeperson, fehlender Pflegebereitschaft, bei drohender oder bereits eingetretener Überforderung von Pflegepersonen, bei drohender oder bereits eingetretener Verwahrlosung des Pflegebedürftigen, bei Selbst- oder Fremdgefährdungstendenzen des Pflegebedürftigen und bei ungeeigneten räumlichen Gegebenheiten im häuslichen Bereich.37 Bei Pflegestufe III wird die vollstationäre Pflege stets als erforderlich unterstellt.38 Damit ist dort der Vorrang ambulanter Pflege ohnehin aufgehoben. Doch auch bei den Pflegestufen I und II ist die Nachrangigkeit vollstationärer Pflege nur unbestimmt und einzelfallabhängig. Selbst bei den in den Richtlinien vorgegebenen Kriterien handelt es sich nur um eine beispielhafte und nicht um eine abschließende Definition der Erforderlichkeit stationärer Pflege. Ob das Erforderlichkeitskriterium trotz seiner Unbestimmtheit und Einzelfallabhängigkeit überhaupt zu einer verbindlichen Durchsetzung des Vorranggrundsatzes führt, kann aber letztlich dahinstehen. Denn selbst wenn die vollstationäre Pflege nicht erforderlich ist, kann sie der Pflegebedürftige trotzdem in Anspruch nehmen. Ihn trifft dann die Sanktion des § 43 Abs. 4 SGB XI. Einzige Konsequenz ist danach nicht die Versagung von Leistungen der Pflegeversicherung, sondern lediglich eine Begrenzung der Leistungen auf den Pflegesachleistungsbetrag.39 Überdies fällt selbst die Sanktionsfolge je nach Pflegestufe nicht gravierend aus. Bei Pflegestufe III würde sich die Sanktion gar nicht auswirken, da der Pflegesachleistungsbetrag mit dem Leistungsbetrag bei vollstationärer Pflege identisch ist. Allerdings kann § 43 Abs. 4 SGB XI dort ohnehin nicht zur Anwendung kommen, da bei Pflegestufe III die vollstationäre Pflege immer als erforderlich angesehen wird. Bei Pflegestufe II bewirkt die Sanktion eine Leistungsdifferenz von lediglich 186 E monatlich. Allein bei Pflegestufe I erhält der Pflegebedürftige bei Eingreifen der Sanktionsvorschrift 569 E im Monat weniger als bei Erforderlichkeit vollstationärer Pflege. Damit bewirkt auch § 43 Abs. 1 SGB XI keine Verbindlichkeit des Vorrangs ambulanter Pflege.

37 38 39

Begutachtungs-Richtlinien, Ziff. D 5.5. Begutachtungs-Richtlinien, Ziff. D 5.5. Vgl. hierzu auch Linke, in: Krauskopf, SGB XI, § 43 Rn. 10.

76

3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

C. Schlussfolgerung Weder durch die Konzeption als Programmsatz noch durch die unmittelbare Erwähnung des Vorranggrundsatzes in den Normen des Leistungsrechts findet eine verbindliche Umsetzung des Vorrangs ambulanter Pflege statt. Trotz der Erwähnung des Nachrangs in § 41 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 SGB XI kann der Pflegebedürftige die teilstationäre Pflege nach freier Wahl beanspruchen. Auch § 42 Abs. 1 S. 1 SGB XI bedeutet nicht die Nachrangigkeit der stationären Pflege. Denn die Kurzzeitpflege ist keine eigenständige stationäre Pflege, sondern nichts anderes als ein zeitlich begrenzter Bestandteil des ambulanten Pflegearrangements. Die Nachrangigkeit vollstationärer Pflege gem. § 43 Abs. 1 SGB XI ist ebenfalls nicht verbindlich. Wird die vollstationäre Pflege trotz fehlender Erforderlichkeit in Anspruch genommen, erhält der Pflegebedürftige gem. § 43 Abs. 4 SGB XI lediglich einen geringeren Leistungsbetrag. Der Pflegebedürftige hat demnach, einmal abgesehen von der Sanktion des § 43 Abs. 4 SGB XI, trotz des für die Pflegeversicherung geltenden Vorranggrundsatzes die freie Wahl zwischen allen Pflegeformen. Die Ausgestaltung des Vorranggrundsatzes in der Pflegeversicherung geht damit nicht bedeutend über seinen Charakter als Programmsatz hinaus.

Drittes Kapitel

Anreize im Leistungssystem zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege Allein ein weitgehend rechtlich unverbindlicher Programmsatz, der den Pflegebedürftigen im Grundsatz die Wahl zwischen den Pflegeformen lässt, ist nicht in der Lage, der Intention der vorrangigen Inanspruchnahme ambulanter Pflege durch die Pflegebedürftigen nachzukommen. Dazu bedürfte es gezielter Anreize. Der Vorranggrundsatz könnte dann seine Wirkung entfalten, wenn das Leistungssystem den Pflegebedürftigen durch solche Anreize vorrangig zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege motiviert. Besonders attraktive Leistungen bei ambulanter Pflege können durchaus die Entscheidung der Pflegebedürftigen bezüglich der Pflegeform lenken. Dass das Verhalten durch Anreize im Leistungssystem tatsächlich beeinflusst werden kann, zeigt auch das als „moral hazard“ oder als „moralisches Risiko“ bezeichnete Phänomen.40 Es bedeutet, dass Versicherungsleistungen mit hoher Risikoabsicherung in höherem Maß in Anspruch genommen werden, als wenn die Versicherten für die Leistungen unmittelbar selbst bezahlen müssten.41 Bei einem

40 41

Ausführlich zum „moral hazard“ Mahr, ZVersWiss 1977, S. 205 ff. Siehe Mahr, ZVersWiss 1977, S. 218 ff.

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

77

„moral hazard“-Verhalten wählen die Pflegebedürftigen die Pflegeform, bei welcher ihnen die meisten Leistungen der sozialen Pflegeversicherung zukommen.42 Für die besondere Attraktivität ambulanter Pflege spricht die Vielfalt des Leistungsangebots.43 Allein die Vielfalt an Leistungen reicht jedoch nicht aus, wenn darin im Vergleich zur vollstationären Pflege keine wirkungsvollen Anreize vorgesehen sind.

A. Anreize für die ausschließlich ambulante, informelle Pflege Besonders vielfältige Leistungen gewährt die Pflegeversicherung bei der ambulanten, informellen Pflege.44 Doch müssten die Leistungen dem Pflegebedürftigen eine umfassende, einfach handhabbare Pflege bei gleichzeitiger finanzieller Attraktivität garantieren. Ob die Leistungen für den Pflegebedürftigen attraktiv sind, lässt sich an einem Vergleich zu den Leistungen der alternativ in Betracht kommenden Pflegeformen messen. Hinzu kommt, dass die ausschließlich ambulante, informelle Pflege entscheidend von der Pflegebereitschaft einer Pflegeperson abhängt. Deshalb müssten auch wirkungsvolle Anreize für Pflegepersonen bestehen.

I. Anreize für den Pflegebedürftigen 1. Anreize des Pflegegeldes a) Umfang der Pflege und Eigenkosten Bei einem Bezug von Pflegegeld werden die Grundpflege, die hauswirtschaftliche Versorgung und die soziale Betreuung45 in der Regel durch eine informelle Pflegeperson sichergestellt. Es besteht kein finanzieller Anreiz, das Pflegegeld zum Einkauf professioneller Pflege zu nutzen. Selbst bei Beschäftigung einer ausländischen Pflegeperson ist der Zuschuss durch das Pflegegeld minimal. Die Kosten bei legaler Beschäftigung einer solchen Pflegeperson bewegen sich zwischen 1.200 E bis 5.000 E, wobei jeweils die Betreuungsintensität, die angeforderten Qualifikationen

42 Siehe zu den verschiedenen möglichen Formen von „moral hazard“-Verhalten näher Mager, SF 1996, S. 242 ff.; Rothgang, Ziele und Wirkungen der Pflegeversicherung, S. 98 f. 43 Siehe hierzu ausführlich Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. II. 44 Siehe Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. III. 45 Vgl. hierzu auch Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 4 Rn. 6. Dass die soziale Betreuung Element der nicht erwerbsmäßigen Pflege ist, wird neben § 4 Abs. 2 S. 1 SGB XI daran deutlich, dass sie ebenso Bestandteil der anderen beiden Grundpflegeformen ist.

78

3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

und die Sprachkenntnisse eine entscheidende Rolle spielen.46 Die Einführung des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns wird in Zukunft zu einer zusätzlichen Steigerung der Kosten beitragen.47 Allenfalls regt das Pflegegeld also zu einer illegalen Beschäftigung von Pflegepersonen an, was vom Gesetzgeber kaum gewollt sein kann. Die ausschließlich ambulante, informelle Pflege ist für den Pflegebedürftigen insofern attraktiv, als seine Pflege umfassend sichergestellt ist, ihm dadurch meist keine oder nur geringe Eigenkosten entstehen und er der Pflegeperson mit dem Pflegegeld eine kleine Anerkennung weiterreichen kann. Die Annahme, dass dem Pflegebedürftigen bei der ambulanten, informellen Pflege nur in seltenen Fällen Eigenkosten entstehen, wird dadurch gestützt, dass lediglich 3 % der Bruttogesamtausgaben für die Hilfe zur Pflege auf zusätzliche Kosten bei ambulanter, informeller Pflege entfallen.48 Nur ein sehr geringer Anteil der Leistungsempfänger benötigt Hilfe für zusätzliche Kosten bei der ambulanten, informellen Pflege.49 b) Weitere Aspekte des Bezugs von Pflegegeld aa) Verbleib in häuslicher Umgebung Ausschlaggebend für den Bezug von Pflegegeld und damit die Wahl ambulanter, ehrenamtlicher Pflege kann der Wunsch nach einem Verbleib in häuslicher Umgebung sein. Dies wird als einer der wesentlichen Gründe für die Vorrangigkeit ambulanter Pflege angeführt.50 Tatsächlich entspricht es dem Wunsch sowohl vieler Pflegbedürftiger als auch deren Angehöriger.51 Hinzu kommt als Anreiz, dass die Pflege durch eine meist vertraute Pflegeperson übernommen wird. 92 % der Pflegegeldbezieher werden von einem nächsten Angehörigen als Hauptpflegeperson gepflegt.52 Auch bei den restlichen 8 % ist die Hauptpflegeperson ein Nachbar, Freund oder Bekannter.53

46 Siehe Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung, Projektbericht, S. 84; Meyer, Pflegende Angehörige – Projektbericht, S. 35; Knopp, NZA Online Aufsatz 2014, S. 2. 47 Vgl. §§ 1, 20 MiLoG. Siehe zur genauen Behandlung der Pflegepersonen im Hinblick auf den Mindestlohn Knopp, NZA Online Aufsatz 2014, S. 1 ff. 48 Vgl. Statistisches Bundesamt, Hilfe zur Pflege 2013, S. 15. Zu der Annahme geringer Eigenkosten bei der ambulanten, informellen Pflege siehe auch BMG, Abschlussbericht PflegeWeiterentwicklungsgesetzes, S. 47. 49 Vgl. Statistisches Bundesamt, Hilfe zur Pflege 2013, S. 13. 50 Vgl. BT-Drucks. 12/5262, S. 90; Skuban, Pflegeversicherung, S. 44. Siehe auch Zweiter Teil, Erstes Kapitel, B. I. 51 Siehe BMFSFJ, MUG III, S. 84. 52 Siehe BMFSFJ, MUG III, S. 76. Vgl. hierzu auch BMG, Abschlussbericht PflegeWeiterentwicklungsgesetz, S. 26. 53 Vgl. BMFSFJ, MUG III, S. 77.

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

79

bb) Pflegequalität Ein Problem bei der Pflege durch eine vertraute Person in häuslicher Umgebung besteht im Hinblick auf die Pflegequalität. Die Qualitätsdiskussion findet intensiv im professionellen Pflegebereich statt, im Laienpflegebereich hingegen sehr viel weniger.54 Da jedoch der größte Anteil der Pflegeleistungen durch Laien erbracht wird, besteht eine „Schieflage der Qualitätsdiskussion“.55 Die informellen Pflegepersonen unterziehen sich überwiegend keiner oder nur einer geringen Schulung. So nehmen nur 12 % der Hauptpflegepersonen die Möglichkeit der Teilnahme an einem Pflegekurs gem. § 45 SGB XI wahr.56 Hinzu kommt, dass sie vor Übernahme der Pflege oft keinerlei pflegerische Erfahrungen besitzen.57 Deshalb entspricht die Durchführung der Pflegeleistungen durch eine ambulante, informelle Pflegeperson in der Regel nicht qualitativ derjenigen einer geschulten Pflegekraft.58 Bereits die Tatsache, dass gewaltsame Übergriffe in häuslichen, informellen Pflegebeziehungen keine Seltenheit sind, zeigt, dass es bei dieser Grundpflegeform zu Missständen kommen kann.59 Je umfassender und wirksamer die Kontrolle, umso gesicherter ist auch die Pflegequalität. Aus einer Gegenüberstellung der bei ambulanter, informeller und bei professioneller Pflege (ambulant und stationär) vorgesehenen Qualitätskontrollen können weitere Rückschlüsse auf die Pflegequalität ambulanter, informeller Pflege gezogen werden. (1) Qualitätskontrolle bei informeller Pflege in Form von Pflegeberatung Die Qualitätssicherungsmaßnahmen bei ambulanter, informeller Pflege knüpfen am Pflegegeld an und sind in § 37 SGB XI geregelt.60 Wird Pflegegeld gewährt, müssen die Pflegebedürftigen gem. § 37 Abs. 3 S. 1 SGB XI zweimal bzw. bei Pflegestufe III viermal pro Jahr Beratungen in ihrem Wohnumfeld abrufen.61 Kommt erheblicher allgemeiner Betreuungsbedarf hinzu, können die Pflegebedürftigen die Beratungseinsätze viermal bzw. bei Pflegestufe III achtmal jährlich abrufen, § 37

54

Vgl. Erster Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 13/9528, S. 43; Rothgang, Ziele und Wirkungen der Pflegeversicherung, S. 89. 55 Skuban, Pflegeversicherung, S. 111. Siehe hierzu auch Naegele/Igl, SozSich 1993, S. 241. 56 Siehe BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 27. 57 Siehe BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 28. 58 Vgl. auch Naegele, ZfS 1992, S. 618, S. 620; Schütte, NDV 2007, S. 216. 59 Vgl. Erster Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 13/9528, S. 44; Skuban, Pflegeversicherung, S. 112; BMFSFJ, Kriminalitäts- und Gewalterfahrungen im Leben älterer Menschen, S. 24 ff, S. 39. 60 Vgl. hierzu auch BT-Drucks. 14/6949, S. 14; Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 37 Rn. 12. 61 Vgl. hierzu auch Linke, in: Krauskopf, SGB XI, § 37 Rn. 24 ff.

80

3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

Abs. 3 S. 5 SGB XI. Bei Pflegestufe 0 sind die zwei jährlichen Beratungen nicht verpflichtend, § 37 Abs. 3 S. 6 SGB XI. Der Beratungsbesuch wird in der Regel durch einen ambulanten Pflegedienst durchgeführt, § 37 Abs. 3 S. 1 SGB XI. Die Kosten i.H.v. bis zu 22 E bzw. bis zu 32 E trägt gem. § 37 Abs. 3 S. 3 SGB XI die Pflegekasse zusätzlich zum Pflegegeld. Die im Einzelnen gewonnenen Erkenntnisse werden dem Pflegebedürftigen mitgeteilt, der Pflegekasse hingegen nur mit dessen Einwilligung, vgl. § 37 Abs. 4 S. 1 SGB XI. Die Vertretungen der Pflegekassen und der ambulanten Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene müssen Empfehlungen zur Qualitätssicherung der Beratungsbesuche beschließen, § 37 Abs. 5 S. 1 SGB XI. Dies erfolgte bislang noch nicht.62 Kommt der Pflegebedürftige der Beratungspflicht nicht nach, sieht § 37 Abs. 6 SGB XI eine Sanktion in Form der Pflegegeldkürzung und im Wiederholungsfalle der vollständigen Pflegegeldentziehung vor.63 Die Beratungsbesuche dienen primär dazu, die Pflege durch die informelle Pflegeperson zu kontrollieren, sie aber auch zu unterstützen und den Pflegebedürftigen zu schützen.64 Als Ergebnis der Beratungsbesuche können Maßnahmen zur Verbesserung der Pflegesituation empfohlen werden (vgl. § 37 Abs. 4 S. 1 SGB XI), wie der Besuch eines Pflegekurses, die Kombination mit teilstationärer Pflege oder der Einsatz von Hilfsmitteln.65 (2) Qualitätskontrolle bei professioneller Pflege Im Gegensatz dazu ist die Qualitätskontrolle bei professioneller Pflege für die ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen in einem eigenen Elften Kapitel des SGB XI geregelt. Sie basiert im Wesentlichen auf drei Säulen: der Festlegung von Qualitätsinhalten durch Expertenstandards, dem internen Qualitätsmanagement und der externen Qualitätssicherung.66 Flankiert werden die Regelungen durch die Qualitätssicherungsvorschriften in den Heimrechten der jeweiligen Bundesländer.67 Primär obliegt die Verantwortung für die Qualität der Pflegeleistungen den Pfle-

62

Vgl. Plantholz, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 37 Rn. 22. Nach dem Gemeinsamen Rundschreiben des GKV Spitzenverbandes ist bei einer Nichtinanspruchnahme einer Beratung eine Kürzung des Pflegegeldes um bis zu 50 % angemessen. Bei einem darauffolgenden weiteren Nichtabruf kann das Pflegegeld entzogen werden. Vgl. GKV Spitzenverband, Gemeinsames Rundschreiben zu den leistungsrechtlichen Vorschriften, S. 39 f. zu § 37 SGB XI. 64 Siehe hierzu näher GKV Spitzenverband, Gemeinsames Rundschreiben zu den leistungsrechtlichen Vorschriften, S. 33 f. zu § 37 SGB XI. Siehe auch BSG, Urt. v. 24. 07. 2003, Az B 3 P 4/02 R, NZS 2004, 430; Koch, WzS 2005, S. 346. 65 Vgl. GKV Spitzenverband, Gemeinsames Rundschreiben zu den leistungsrechtlichen Vorschriften, S. 34 zu § 37 SGB XI. 66 Siehe BT-Drucks. 16/7439, S. 41 f. Siehe zur internen und externen Qualitätssicherung auch Göpfert-Divivier/Robitzsch, in: Igl/Schiemann/Gerste/Klose, S. 227 ff. 67 Vgl. beispielsweise §§ 10, 12, 17, 18, 28 Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetz BadenWürttemberg. 63

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

81

geeinrichtungen selbst, vgl. § 112 Abs. 1 S. 1 SGB XI.68 Dennoch werden sie einem Qualitätskontrollsystem unterworfen. Gem. § 113 Abs. 1 SGB XI haben die Vertreter der Leistungsträger und der Leistungserbringer Maßstäbe und Grundsätze für die Qualität, die Qualitätssicherung, die Qualitätsdarstellung und für die Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements zu vereinbaren. In den Vereinbarungen sind insbesondere Zielvorgaben und Gütekriterien enthalten.69 Auf welchem Weg sie erreicht werden, bleibt der jeweiligen Pflegeeinrichtung vorbehalten: Sie entscheidet selbst über das konkrete Qualitätsmanagementsystem und die konkreten einzelnen Qualitätssicherungsmaßnahmen.70 Die Vertreter der Leistungsträger und Leistungserbringer auf Bundesebene sind darüber hinaus verpflichtet, die Entwicklung und Aktualisierung von Expertenstandards sicherzustellen, § 113a Abs. 1 S. 1 SGB XI. Aufgabe dieser Standards ist es, den allgemein anerkannten Stand der medizinisch-pflegerischen Erkenntnisse zu konkretisieren, § 113a Abs. 1 S. 2 SGB XI. Sie geben vor, wie bestimmte Pflegebedarfe zu beurteilen sind und wie damit umzugehen ist.71 Der Stand medizinischpflegerischer Erkenntnisse ist gem. § 11 Abs. 1 S. 1 SGB XI wiederum Grundlage sämtlicher Leistungen der Pflegeeinrichtungen und gem. § 69 S. 1 SGB XI des Sicherstellungsauftrages der Pflegekassen. Bisher wurde allerdings noch kein Expertenstandard nach § 113a SGB XI beschlossen.72 Schließlich müssen sich die Pflegeeinrichtungen Qualitätsprüfungen unterziehen, die in der Regel durch den MdK vor Ort durchgeführt werden, vgl. § 114a Abs. 1 S. 1 SGB XI. Sie finden als Regel-, Anlass- und Wiederholungsprüfung statt, § 114 Abs. 1 S. 3 SGB XI. Während die Regelprüfung einmal jährlich zu erfolgen hat, führt man Anlassprüfungen beim Vorliegen tatsächlicher Qualitätsdefizite durch.73 Die 68

Siehe hierzu auch näher Bachem/Klie, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 112 Rn. 6. Siehe die Maßstäbe und Grundsätze für die Qualität und die Qualitätssicherung sowie für die Entwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements nach § 113 SGB XI in der vollstationären Pflege vom 27. Mai 2011. Die bestehenden Maßstäbe und Grundsätze sind aufgrund der Fortschreibung der Qualitätssicherungsmaßnahmen durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz durch den Qualitätsausschuss nach § 113b SGB XI bis zum 30. 06. 2017 bzw. 30. 06. 2018 neu zu vereinbaren, vgl. § 113 Abs. 1 S. 3 SGB XI. Sie sollen jedoch weitgehend den bisherigen Maßstäben und Grundsätzen entsprechen, lediglich erweitert um ein indikatorengestütztes Qualitätsmanagement (siehe näher BT-Drucks. 18/5926, S. 98). 70 Vgl. Bachem/Klie, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 112 Rn. 8; Göpfert-Divivier/ Robitzsch, in: Igl/Schiemann/Gerste/Klose, S. 227 ff. 71 Vgl. DNQP, Expertenstandard Dekubitusprophylaxe in der Pflege, S. 21 ff. 72 Der erste Auftrag zur Erstellung eines solchen wurde erst im März 2013 an das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) vergeben. Siehe Bassen, in: Udsching, SGB XI, § 113a Rn. 3a. Allerdings wurde die Schiedsstelle Qualitätssicherung durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz mit Wirkung zum 01. 01. 2016 zum Qualitätsausschuss fortentwickelt. Dies soll zu einer größeren Effizienz des Entscheidungs- und Verhandlungsgremiums beitragen (BT-Drucks. 18/5926, S. 100). 73 Vgl. § 114 Abs. 2, Abs. 4 SGB XI. Siehe auch BT-Drucks. 16/7439, S. 87. 69

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

Wiederholungsprüfung kontrolliert, ob beanstandete Qualitätsmängel beseitigt wurden.74 Bei Qualitätsmängeln wird die vereinbarte Pflegevergütung gekürzt, vgl. § 115 Abs. 3 SGB XI.75 Bestehen festgestellte Mängel fort, kann der Versorgungsvertrag mit der Pflegeeinrichtung gekündigt werden.76 Außerdem kann die Notwendigkeit bestehen, einen Pflegebedürftigen in ein anderes Pflegeheim oder an einen anderen Pflegedienst zu vermitteln, vgl. § 115 Abs. 4, Abs. 5 SGB XI. (3) Niveau der Qualitätssicherungsmaßnahmen Die Beratungseinsätze bei ambulanter, informeller Pflege bleiben weit hinter den Qualitätssicherungsmaßnahmen der professionellen Pflege zurück. Dort geschieht die Sicherstellung einer möglichst qualitativ hochwertigen Pflege durch umfangreiche Maßnahmen.77 Selbst die Sicherung der Mindestqualität78 ist bei der ambulanten, informellen Pflege nicht lückenlos sichergestellt. So sind Bezieher von Kombinationsleistungen nicht zum Abruf von Beratungseinsätzen verpflichtet, obwohl die Erbringungen von Pflegesachleistungen keine besondere Kontrolle der ehrenamtlichen Pflegeleistungen umfasst.79 Pflegebedürftige der Pflegestufe 0 müssen trotz der Möglichkeit des Bezugs von Pflegegeld gem. § 123 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB XI die Beratungsbesuche nicht abrufen. Bei festgestellten Mängeln ist der Pflegebedürftige nicht zwingend dazu angehalten, den Verbesserungsvorschlägen nachzukommen. Schließlich darf der Pflegedienst allenfalls in Notsituationen wie eklatant gefährlichen Pflegesituationen oder massiver Gewaltanwendung die Pflegekasse auch gegen den Willen des Pflegebedürftigen informieren.80 Ob es dem Pflegedienst darüber hinaus bei fortwährendem Nichtbefolgen der Verbesserungsvorschläge erlaubt ist, die Pflegekasse einzuschalten, ist dagegen umstritten.81 Selbst wenn man dies annähme, käme es dennoch zu einer zumindest vorübergehend nicht einmal den Mindestanforderungen genügenden Pflege. Bei der ambulanten, informellen Pflege wird also weitgehend darauf vertraut, dass Angehörige den Pflegebedürftigen nach bestem Wissen und Gewissen versorgen.

74

Vgl. § 114 Abs. 4 S. 4 SGB XI. Vgl. zur Entgeltkürzungsmöglichkeit des Heimbewohners § 10 Abs. 1 WBVG. 76 Siehe §§ 115 Abs. 2 S. 2 SGB XI; Bassen, in: Udsching, SGB XI, § 115 Rn. 13 f. 77 Siehe auch Schütte, NDV 2007, S. 217 f. 78 Vgl. BSG, Urt. v. 24. 07. 2003, Az B 3 P 4/02 R, NZS 2004, 429. 79 Siehe BT-Drucks. 14/6949, S. 13; Koch, WzS 2005, S. 347; Leitherer, in: KassKomm, SGB XI, § 37 Rn. 36. 80 Vgl. GKV Spitzenverband, Gemeinsames Rundschreiben zu den leistungsrechtlichen Vorschriften, S. 34 zu § 37 SGB XI; Linke, in: Krauskopf, SGB XI, § 37 Rn. 31. 81 Befürwortend Leitherer, in: KassKomm, SGB XI, § 37 Rn. 51; ablehnend Linke, in: Krauskopf, SGB XI, § 37 Rn. 31. 75

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

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2. Anreize der weiteren Leistungen Die Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernden Maßnahmen gem. § 40 SGB XI tragen dazu bei, ein pflegegerechtes Umfeld zu schaffen.82 Bei den zum Verbrauch bestimmten Pflegehilfsmitteln wird max. ein Betrag von 40 E monatlich übernommen und zu den wohnumfeldverbessernden Maßnahmen werden nur Zuschüsse beigesteuert, vgl. § 40 Abs. 2 S. 1 und Abs. 4 SGB XI. Dadurch können dem Pflegebedürftigen je nach Einzelfall Eigenkosten entstehen.83 Bei der vollstationären Pflege ist sowohl das pflegegerechte Umfeld als auch die Vorhaltung der Pflegehilfsmittel dagegen Ausgangsbedingung und in den Heimkosten enthalten.84 In Krankheitsfällen oder bei Urlaub der Pflegeperson kann die Pflege über die Verhinderungspflege oder die Kurzzeitpflege sichergestellt werden, vgl. §§ 39 Abs. 1 S. 1, 42 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB XI.85 Dies kann allerdings zu finanziellen Mehraufwendungen für den Pflegebedürftigen führen. Wird eine professionelle Verhinderungspflege oder eine Kurzzeitpflege für mehrere Wochen benötigt, reichen hierfür die zur Verfügung stehenden 1.612 E in der Regel nicht aus.86 Eine weitere Hürde kann sein, dass der Pflegebedürftige für die ergänzenden Leistungen die jeweiligen Voraussetzungen erfüllen und einen hohen Organisationsaufwand betreiben muss.87 Bei erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf sind bei ambulanter, informeller Pflege zusätzliche bzw. erhöhte Leistungen vorgesehen.88 Dadurch kann der Pflegebedürftige seiner Pflegeperson für das notwendige „Mehr“ an Pflege eine größere Anerkennung durch das leicht erhöhte Pflegegeld zukommen lassen und seine Pflege mit zusätzlichen Betreuungs- und Entlastungsleistungen ergänzen, vgl. §§ 123 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, Abs. 3, Abs. 4 u. 45b SGB XI. Allerdings wird auch bei der stationären Pflege für eine verstärkte Betreuung Pflegebedürftiger mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf gesorgt, vgl. § 87b SGB XI.89

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Siehe zu diesen auch Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. II. 3. a). Vgl. Statistisches Bundesamt, Hilfe zur Pflege 2013, S. 13. 84 Siehe zum Umfang vollstationärer Pflege Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. V. 85 Vgl. dazu auch BT-Drucks. 12/5262, S. 115. 86 Siehe zu den Kosten einer professionellen, ambulanten Pflege näher Dritter Teil, Drittes Kapitel, B. I. 2. a) aa). Vgl. zu den Kosten einer vollstationären Pflege Dritter Teil, Drittes Kapitel, B. I. 2. a) bb). Die Kurzzeitpflege ist durchschnittlich noch ca. 200 E teurer als die vollstationäre Pflege, vgl. Fünfter Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 17/8332, S. 42. 87 Vgl. Schütte, NDV 2007, S. 213. 88 Siehe zu den Leistungen bei erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. II. 4. b). 89 Siehe auch Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. V. 83

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

3. Resümee Die zahlreichen Einzelleistungen bei der ausschließlich ambulanten, informellen Pflege schaffen in erster Linie allein die Grundbedingungen für diese Pflegeform. Der besondere Anreiz für den Pflegebedürftigen liegt darin, dass er in gewohnter Umgebung von einer nahestehenden Person umfassend gepflegt wird und ihm dafür in der Regel geringe bis keine Eigenkosten entstehen. Mehrkosten können dem Pflegebedürftigen allerdings dann entstehen, wenn zur Überbrückung Verhinderungspflege durch professionelle Pflegekräfte oder Kurzzeitpflege erforderlich werden. Der Pflegebedürftige und die Pflegeperson müssen sich überdies mit der Organisation und Koordination der Leistungen beschäftigen. Gerade die Vielfalt an Leistungen führt zur Unübersichtlichkeit. Es ist für den Pflegebedürftigen und die Pflegeperson trotz Pflegeberatung oftmals schwierig, die verschiedenen Leistungen zu überblicken und entsprechend in Anspruch zu nehmen. Dies wird auch an den stetigen Bemühungen zur Verbesserung der Pflegeberatung deutlich.90

II. Anreize für die Pflegeperson Steht keine pflegebereite Person zur Verfügung, scheidet die ambulante, informelle Pflege aus. Daher müssten die Leistungen insbesondere auch Anreize zur Übernahme der Pflege für die Pflegenden vorsehen. 1. Anreize des Pflegegeldes Pflegepersonen können das Pflegegeld als Anerkennung für ihre Pflegetätigkeit und zur Erhaltung ihrer Pflegebereitschaft weitergereicht bekommen.91 Hierauf besteht jedoch kein Anspruch. Ob und wie das Pflegegeld weitergereicht wird, hängt vom Pflegebedürftigen ab.92 Selbst wenn der Pflegebedürftige das gesamte Pflegegeld durchreicht, erhalten die Pflegepersonen gemessen an ihrem Pflegeaufwand nur eine geringe finanzielle Anerkennung. Kümmern sie sich 90 Minuten bis zu drei Stunden täglich um einen Pflegebedürftigen der Pflegestufe I, erhalten sie 244 E im Monat, also ca. 8 E pro Tag; bei einer Pflege von drei bis fünf Stunden eines Pflegebedürftigen der Pflegestufe II 458 E und damit ca. 15 E pro Tag; bei einer Pflege von fünf Stunden bis 24 Stunden eines Pflegebedürftigen der Pflegestufe III 728 E, d. h. ca. 24 E am Tag, vgl. §§ 15 Abs. 3 S. 1, 37 Abs. 1 S. 3 SGB XI. Eine Erhöhung für Härtefälle ist nicht vorgesehen. Nicht einbezogen ist die Zeit, die auf die soziale Betreuung entfällt, um 90

S. 64. 91 92

Siehe zu den Verbesserungen u. a. BT-Drucks. 16/7439, S. 38; BT-Drucks. 18/5926, Siehe BT-Drucks. 12/5262, S. 112. Vgl. BT-Drucks. 12/5262, S. 112.

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

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den Pflegebedürftigen beispielweise vor Vereinsamung zu bewahren. Das Pflegegeld erhöht sich für Pflegebedürftige mit einem erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarf. Obwohl sich der zeitliche Pflegeumfang dadurch meist erheblich intensiviert, ist die Erhöhung gering und auf die Pflegestufen I und II beschränkt, vgl. § 123 Abs. 3 u. Abs. 4 SGB XI. Bei Pflegestufe 0 stehen 123 E zur Verfügung, § 123 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB XI. Bei Vorliegen eines erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarfs beträgt das Pflegegeld zwischen 4 E bis 24 E pro Tag. In der Mehrzahl der Fälle wird die Pflege als stark belastend oder sogar überfordernd empfunden.93 Sie ist selbst mit dem geringsten Zeitaufwand von eineinhalb Stunden sieben Tage die Woche zeitintensiv und wird meist über Jahre hinweg benötigt, vgl. § 15 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB XI.94 In der Realität sind 10,5 Stunden pro Woche jedoch nicht die Regel. Informelle Pflegepersonen wenden für die Versorgung von Pflegebedürftigen der Pflegestufe I durchschnittlich 30,9 Stunden, für solche der Pflegestufe II 42 Stunden und für solche der Pflegestufe III 60,8 Stunden pro Woche auf.95 Selbst wenn eine finanzielle Würdigung für die Pflegeperson selten das ausschlaggebende Motiv für die Übernahme einer Pflege ist, spielt sie dennoch im Entscheidungsprozess eine Rolle.96 Aufgrund der geringen Höhe ist daran zu zweifeln, dass das Pflegegeld die Entscheidung wesentlich beeinflusst.97 Ehrenamtliche Pflegepersonen sind eher aus sittlichen oder moralischen Gründen zur Pflege bereit.98 Sind sie es nicht, vermag es auch der geringe materielle Anreiz durch das Pflegegeld nicht, sie zu einer „sehr zeitaufwendig[en], mühsam[en] und […] in hohem Maß persönliches Engagement [verlangenden Pflege]“99 zu „überreden“.100

2. Anreize der weiteren Leistungen Der ehrenamtlichen Pflegeperson stehen über die Verhinderungspflege bis zu sechs Wochen Urlaub im Jahr zu, vgl. § 39 Abs. 1 S. 1 SGB XI. Während dieser Zeit wird das Pflegegeld in Höhe von 50 % weitergezahlt, vgl. § 37 Abs. 2 S. 2 SGB XI. Zusätzlich kann auch die maximal achtwöchige Kurzzeitpflege gem. § 42 SGB XI für einen Urlaub der Pflegeperson genutzt werden.101 Die Verhinderungs- und 93 Siehe BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 28 f.; vgl. auch BMFSFJ, MUG III, S. 25 f., S. 86 ff; BT-Drucks. 12/5262, S. 113. 94 Vgl. hierzu auch Erster Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 13/9528, S. 44. 95 Siehe BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 28 f.; ähnlich auch BMFSFJ, MUG III, S. 78. 96 Siehe Badelt/Österle, SF 1997, S. 193. 97 So auch Schütte, NDV 2007, S. 213. 98 Vgl. Badelt/Österle, SF 1997, S. 193; Haberkern/Szydlik, KZFSS 2008, S. 84 f. 99 Erster Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 13/9528, S. 44. 100 So auch Schütte, NDV 2007, S. 214. 101 Vgl. BT-Drucks. 12/5262, S. 115; Leitherer, in: KassKomm, SGB XI, § 42 Rn. 9.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

Kurzzeitpflege dienen der Entlastung der Pflegeperson. Allerdings setzt ein Urlaub zunächst einen organisatorischen Aufwand zur Sicherstellung der zu überbrückenden Pflege voraus.102 Die Entlastung ist zudem nicht so weitgehend, dass sie mit dem bezahlten Urlaubsanspruch eines Arbeitnehmers vergleichbar wäre. Zeiten der Krankheit oder sonstiger Verhinderung werden von der für den Urlaub zur Verfügung stehenden Zeit abgezogen. Das Pflegegeld wird außerdem nur in hälftiger Höhe weitergewährt, vgl. § 37 Abs. 2 S. 2 SGB XI. Der Entlastung informeller Pflegepersonen dient zusätzlich die Möglichkeit zur Inanspruchnahme niedrigschwelliger Betreuungs- und Entlastungsangebote, vgl. § 45b Abs. 1a SGB XI, deren Kostenübernahme sich jedoch im relativ geringen Betrag von 104 E erschöpft. 3. Anreize der originären Leistungen für die Pflegeperson a) Anreize durch die arbeitsrechtlichen Regelungen Die Pflegezeit und die Familienpflegezeit sollen die Vereinbarkeit von Pflege und Erwerbstätigkeit fördern.103 Ob sie dieser Aufgabe tatsächlich gerecht werden und erwerbstätigen Personen eine ambulante, informelle Pflegetätigkeit ermöglichen, erscheint fraglich. Eine erste Einschränkung ist, dass der Anspruch auf Pflegezeit nur gegenüber Arbeitgebern mit 16 oder mehr Arbeitnehmern und bei der Familienpflegezeit gegenüber solchen mit 26 oder mehr Arbeitnehmern besteht, vgl. § 3 Abs. 1 S. 2 PflegeZG, § 2 Abs. 1 S. 4 FPfZG. Problematisch erweist sich zudem die zeitliche Beschränkung auf insgesamt maximal 24 Monate, vgl. § 4 Abs. 1 S. 4 PflegeZG, § 2 Abs. 2 FPfZG. Die durchschnittliche Pflegedauer umfasst dagegen deutlich mehr Zeit. Man geht von zwischen 2,53 Jahren104 bis drei Jahren105 aus.106 Die Pflege kann sich im Einzelfall jedoch auch auf bis zu neun Jahre und länger erstrecken.107

102 Vgl. hierzu auch Dallinger, SF 1993, S. 112. Der organisatorische Aufwand ist noch höher, wenn der Eigenanteil für die notwendige überbrückende Pflege für den Pflegebedürftigen nicht finanzierbar ist und deswegen hierfür Hilfe zur Pflege beantragt werden muss. In Betracht käme insofern insbesondere die Kostenübernahme zur Entlastung der Pflegeperson gem. § 65 Abs. 1 S. 2 SGB XII. Siehe zur Hilfe zur Pflege näher Dritter Teil, Sechstes Kapitel, C. I. 103 Siehe zu diesen näher Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. III. 4. b) aa). 104 Siehe DZA/MPI, Lebenserwartung und Pflegebedarf im Alter, S. 14 f. 105 Siehe Preis/Nehring, NZA 2008, S. 733; Glatzel, NJW 2009, S. 1378. 106 Teilweise wird auch von einer durchschnittlichen Pflegedauer von acht Jahren gesprochen. Vgl. Blinkert/Klie, Solidarität in Gefahr?, S. 17. 107 Siehe BARMER GEK, Pflegereport 2010, S. 140.

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

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Das größte Hindernis ist jedoch die unzureichende finanzielle Absicherung der Pflegepersonen während der Pflege- und Familienpflegezeit. Es kann inzwischen während beider Pflegezeitformen ein zinsloses Darlehen in Anspruch genommen werden, § 3 Abs. 7 PflegeZG, § 3 Abs. 1 S. 1 FPfZG. Dieses beträgt jedoch lediglich die Hälfte der Differenz zwischen dem pauschalierten monatlichen Nettoentgelt vor und während der Freistellung, wobei für das Entgelt während der Freistellung stets eine Mindestarbeitszeit von 15 Stunden zugrunde gelegt wird, vgl. § 3 Abs. 2 u. Abs. 4 FPfZG. Die Raten errechnen sich also aus der Hälfte des Produkts aus monatlicher Arbeitszeitverringerung in Stunden und dem durchschnittlichen Nettoentgelt je Arbeitsstunde.108 Arbeitete eine Pflegeperson beispielsweise vor der Pflege 40 Stunden die Woche bei einem pauschalierten Nettoentgelt von 24.000 E jährlich (2.000 E monatlich, 12,50 E stündlich) und lässt sich während der ersten sechs Monate vollständig von der Arbeitstätigkeit freistellen, erhält sie monatlich Darlehensraten i.H.v. 625 E.109 Arbeitet sie anschließend für die restlichen 18 Monate 20 Stunden wöchentlich, erhält sie 1.000 E Teilzeitgehalt zuzüglich der Darlehensraten i.H.v. 500 E monatlich.110 Damit stehen ihr während der vollständigen Arbeitsfreistellung insgesamt 625 E und während der Arbeitsreduzierung 1.500 E monatlich zur Verfügung. Allein bei einem weitergereichten Pflegegeld der Pflegestufe III (vgl. § 37 Abs. 1 S. 3 Nr. 3d SGB XI) wird hier während der Arbeitsreduzierung ein vollständiger finanzieller Ausgleich erreicht. Dagegen sind insbesondere bei einem hohen Ausgangsgehalt und umfangreicher Arbeitszeitreduzierung Fälle möglich, in denen nicht einmal das Pflegegeld der Pflegestufe III eine finanzielle Schlechterstellung verhindern kann. Selbst wenn es zu keinen finanziellen Einbußen während der Pflegezeit kommt, muss bedacht werden, dass es sich bei den Raten allein um ein Darlehen handelt. Sie müssen nach der Rückkehr in die volle Erwerbstätigkeit an das Bundesamt zurückgezahlt werden, vgl. § 6 FPfZG. Die Möglichkeit des zusätzlichen Ausgleichs der finanziellen Einbußen durch das Pflegegeld entfällt dann in der Regel. Damit ist je nach finanzieller Situation und konkretem Einzelfall die Vereinbarkeit von Pflege und Erwerbstätigkeit für einige Menschen bereits nicht realisierbar. Finanziell attraktiv ist sie auf keinen Fall.111 b) Anreize durch die sozialversicherungsrechtliche Absicherung Ob die sozialversicherungsrechtliche Absicherung der informellen Pflegeperson zur Attraktivität der Pflegeübernahme beiträgt, hängt davon ab, ob die Pflegeperson vor der Pflege berufstätig war. Ist sie einer Erwerbstätigkeit nachgegangen, dann 108

Vgl. BT-Drucks. 18/3124, S. 35. Berechnung: (100 [monatliche Arbeitszeitverringerung in Stunden, da stets die Mindeststundenzahl von 15 Stunden zugrunde gelegt wird] x 12,50 E [stündliches Nettogehalt]) : 2 = 625 E. 110 Berechnung: (80 [monatliche Arbeitszeitverringerung] x 12,50 E [stündliches Nettogehalt]) : 2 = 500 E. 111 Vgl. hierzu auch Schütte, NDV 2007, S. 213. 109

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

muss unterschieden werden, ob sie im Rahmen einer Pflegezeit vollständig von der Arbeitsleistung freigestellt ist oder lediglich im Rahmen der Pflegezeit bzw. Familienpflegezeit ihre Arbeitszeit reduziert hat. aa) Keine Ausübung einer Erwerbstätigkeit vor der Pflege Übte die Pflegeperson keine Erwerbstätigkeit aus, kommt ihr durch die Pflege eine Absicherung in der Rentenversicherung zugute. Voraussetzung ist, dass die Pflegeperson mindestens 14 Stunden wöchentlich pflegt, vgl. § 44 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 19 S. 2 SGB XI. Versorgt sie dagegen beispielsweise einen Pflegebedürftigen der Pflegestufe I in der hierbei vorgesehenen Mindestzeit für Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung von 10,5 Stunden wöchentlich, erwirbt sie keinen Rentenanspruch.112 Hinzu kommt, dass als beitragspflichtige Einnahmen nur ein Anteil der Bezugsgröße zugrunde gelegt wird, vgl. § 166 Abs. 2 SGB VI. Mit zwischen mindestens 9.296 E und maximal 27.888 E113 jährlich bleiben die fiktiven Einnahmen hinter dem Durchschnittsentgelt 2016 i.H.v. 36.267 E114 zurück. Damit kann mit einem Jahr Pflege niemals ein voller Entgeltpunkt erworben werden, vgl. § 63 Abs. 2 S. 2 SGB VI. Selbst dann, wenn ein Pflegebedürftiger der Pflegestufe III 28 Stunden oder mehr wöchentlich gepflegt wird, können nur 0,77 EP erreicht werden, vgl. § 70 Abs. 1 S. 1 SGB VI. Für Kindererziehungszeiten wird dagegen fast ein voller Entgeltpunkt pro Jahr angerechnet, vgl. § 70 Abs. 2 SGB VI. Pflegt eine informelle Pflegeperson einen Pflegebedürftigen der Pflegestufe III rund um die Uhr das gesamte Jahr, erwirbt sie dafür den maximalen durch Pflege erreichbaren Rentenanspruch von 22,50 E monatlich.115 Würde sie den Pflegebedürftigen zehn Jahre lang pflegen, erwürbe sie durch die Pflege einen monatlichen Rentenanspruch von 225 E.116 Der Erwerb eines Rentenanspruchs für Personen, die sonst nicht am Rentenversicherungssystem Teil hätten, schlägt sich positiv nieder. Trotzdem bestehen Zweifel, ob der geringe Rentenanspruch eine fordernde bzw. sehr stark belastende Pflegetätigkeit117 aufwiegt.118 Informelle Pflegepersonen sind während der Pflegetätigkeiten unfallversichert, vgl. § 44 Abs. 1 S. 6 SGB XI, § 2 Abs. 1 Nr. 17 SGB VII. Da es sich bei den Pflegetätigkeiten oft um körperlich belastende Tätigkeiten mit Verletzungspotential handelt, muss dies als notwendige Voraussetzung angesehen werden. Hinzu kommt, 112

So auch BSG, Urt. v. 05. 05. 2010, Az B 12 R 6/09 R, BSGE 106, 126. Die Bezugsgröße 2016 beträgt 34.860 E (West). Siehe § 2 Abs. 1 SozialversicherungsRechengrößenVO 2016. 114 Siehe § 1 Abs. 2 SV-ReGrV 2016. 115 Hinsichtlich der Berechnung siehe § 64 SGB VI. 116 Siehe zur Rentenformel auch von Ruland, in: Maydell/Ruland/Becker, SRH, § 17 Rn. 99 ff. 117 Vgl. BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 28 f.; vgl. auch BMFSFJ, MUG III, S. 25 f., S. 86 ff; BT-Drucks. 12/5262, S. 113. 118 Siehe hierzu auch Just, SozSich 2008, S. 75. 113

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

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dass der uneingeschränkte Versicherungsschutz auf Pflegetätigkeiten im Bereich der Körperpflege beschränkt ist, vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 17 SGB VII.119 bb) Freistellung von der Arbeitsleistung während der Pflegezeit Ein unterschiedliches Bild ergibt die sozialversicherungsrechtliche Absicherung von Pflegepersonen, die sich für die Pflege von ihrer Erwerbstätigkeit freistellen lassen bzw. dadurch unter die Geringfügigkeitsgrenze absinken. Ausgenommen ist der Unfallversicherungsschutz, der an die Pflegetätigkeit anknüpft und nicht an die vorherige Erwerbstätigkeit. Erfolgt die Freistellung im Rahmen der maximal sechsmonatigen Pflegezeit, erwachsen den Pflegepersonen in der Arbeitslosenversicherung keine Nachteile. Sie sind aufgrund der Pflegezeit versicherungspflichtig, die Beiträge werden von der Pflegekasse getragen und die Pflegezeit hat keinen Einfluss auf die Höhe des Arbeitslosengeldes, vgl. §§ 26 Abs. 2b, 347 Nr. 10a, 150 Abs. 2 Nr. 4 SGB III. Dauert die vollständige Freistellung für die Pflege länger als sechs Monate, besteht ab dem siebten Monat nur noch ein reduzierter Schutz. In Betracht kommen nun nur noch diejenigen Leistungen, die nicht an ein vor der Pflege bestehendes Arbeitsverhältnis anknüpfen (beispielsweise die Leistungen für Langzeitarbeitslose) oder bei denen auch eine Pflege außerhalb der sechsmonatigen Pflegezeit Berücksichtigung findet (z. B. bei den Leistungen für Berufsrückkehrende).120 Daneben besteht die Möglichkeit der Begründung eines Versicherungspflichtverhältnisses auf Antrag gem. § 28a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB III. Hierfür sind die monatlichen Beiträge i.H.v. 8,72 E in den alten Bundesländern121 von der Pflegeperson selbst zu tragen, vgl. § 349a SGB III. Bei vollständiger Arbeitsfreistellung verlieren Pflegepersonen ihren Krankenund Pflegeversicherungsschutz.122 Besteht keine Familienversicherung123, müssen sich die Beschäftigten gem. § 9 SGB V, § 20 Abs. 3 SGB XI freiwillig versichern lassen und gem. § 250 Abs. 2 SGB V, § 59 Abs. 4 S. 1 SGB XI ihre Beiträge allein tragen.124 Die Zuschüsse hierzu sind auf die Mindestbeiträge freiwillig Versicherter begrenzt, vgl. § 44a Abs. 1 SGB XI, § 240 Abs. 4 S. 1 SGB V, § 57 Abs. 4 S. 1 SGB XI. Übersteigen die Beiträge die Mindestbeiträge, z. B. aufgrund eines hohen 119

Tätigkeiten in den Bereichen Ernährung, Mobilität und hauswirtschaftliche Versorgung sind hingegen nur dann abgedeckt, wenn sie überwiegend dem Pflegebedürftigen zugutekommen. Leistungen der medizinischen Behandlungspflege sind regelmäßig nicht erfasst. Siehe BT-Drucks. 12/5262, S. 162; Just, SozSich 2008, S. 76. 120 Vgl. §§ 18, 20 SGB III. 121 Dieser Betrag ergibt sich für das Jahr 2016. Vgl. §§ 341 Abs. 2, 345 b S. 1 Nr. 1 SGB III, § 2 Abs. 1 SV-ReGRV 2016. 122 Vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, § 20 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB XI. 123 § 10 SGB V, § 25 SGB XI. 124 Vgl. auch Brose, NZS 2012, S. 500; Joussen, NZA 2009, S. 72; Preis/Nehring, NZA 2008, S. 736.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

Einkommens des Ehepartners, das nach der Satzung der Krankenkasse bei der Beitragsbemessung zu berücksichtigen ist, müssen die Pflegepersonen hierfür selbst aufkommen.125 Die Zuschüsse fallen gänzlich weg, wenn die vollständige Arbeitsfreistellung wegen Pflege den Zeitraum von sechs Monaten übersteigt. Pflegepersonen profitieren auch während der vollständigen Arbeitsfreistellung von der Beitragszahlung in der Rentenversicherung durch die Pflegekasse. Indem jedoch eine maximale fiktive Pflegezeitvergütung von 27.888 E jährlich zugrunde gelegt wird, sinkt das Versicherungsniveau aufgrund des Erwerbs geringerer Entgeltpunkte jedenfalls immer dann ab, wenn mit der Erwerbstätigkeit vor der Pflegezeit ein höheres Entgelt erzielt wurde.126 Die Nachteile verschärfen sich, wenn, bedingt durch eine geringere Pflegestufe der zu pflegenden Person und einer geringeren wöchentlichen Pflegezeit, eine niedrigere fiktive Pflegezeitvergütung zugrunde gelegt wird, vgl. § 166 Abs. 2 S. 1 SGB VI. cc) Reduzierung der Arbeitsleistung während der Pflege- oder Familienpflegezeit Wird die Arbeitszeit aufgrund einer Pflege- oder Familienpflegezeit reduziert, bleibt die Versicherungspflicht in allen Sozialversicherungszweigen bestehen. Welcher Betrag als beitragspflichtige Einnahmen zugrunde gelegt wird, auf dem wiederum die Sozialversicherungsbeiträge basieren, ist allerdings zweifelhaft. Nach der bis Ende 2014 geltenden Rechtslage war dies das reduzierte Arbeitsentgelt inklusive Aufstockungsbetrag.127 Indem seit dem Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf128 das Darlehen dem Arbeitnehmer selbst vom Bundesamt gewährt wird, können die monatlichen Darlehensraten nur schwerlich als Teil des Arbeitsentgelts verstanden werden. Der Arbeitgeber ist in diese Form der Aufstockung nicht mehr eingebunden. Dafür spricht auch, dass dem Beschäftigten die Möglichkeit gegeben wird, einen geringeren Darlehensbetrag als denjenigen nach § 3 Abs. 2 FPfZG in Anspruch zu nehmen, vgl. § 3 Abs. 5 FPfZG. Bei der Annahme eines Entgeltcharakters des Darlehens wären damit je nach Wahl der Darlehenshöhe unterschiedlich hohe Sozialversicherungsbeiträge zu entrichten. Der Versicherte, der die maximale Darlehenshöhe ausschöpft, müsste höhere Sozialversicherungsbeiträge erbringen, ohne hierfür insbesondere in der Kranken- und Pflegeversicherung ein Mehr an Leistungen zu erhalten. Da also während der Pflegeoder Familienpflegezeit nur Beiträge basierend auf dem verringerten Entgelt gezahlt 125

Vgl. Winkel, SozSich 2012, S. 168. Vgl. Dritter Teil, Drittes Kapitel, A. II. 3. b) aa). 127 Grund hierfür war, dass der Arbeitgeber das Darlehen beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben in Anspruch nahm und hieraus im Rahmen eines Wertguthabens gem. § 7b SGB IV, welches gem. § 7d Abs. 1 S. 1 SGB IV der Gesamtsozialversicherungsbeitragspflicht unterliegt, den Entgeltanspruch des Arbeitnehmers aufstockte; vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1 b aa a.F. FPfZG. Siehe hierzu auch Brose, NZS 2012, S. 501 f. 128 BGBl., Jahrgang 2014, Teil I, S. 2462. 126

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

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werden, drohen Nachteile in denjenigen Sozialversicherungszweigen, deren Leistungen an die Beitragshöhe gekoppelt sind.129 Eine Benachteiligung hinsichtlich der Höhe des Arbeitslosengeldes wird dadurch verhindert, dass Zeiten der Pflegezeit oder Familienpflegezeit für die Ermittlung des Bemessungszeitraums außer Betracht bleiben, vgl. § 150 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGB III. Etwas anderes gilt dann, wenn die Arbeitszeit für mehr als die maximal möglichen 24 Monate reduziert wird. Das Krankengeld richtet sich in seiner Höhe nach dem beitragspflichtigem Arbeitsentgelt, vgl. § 47 SGB V. Damit fällt es bei Bezug des niedrigeren Teilzeiteinkommens geringer aus.130 In der Rentenversicherung werden Entgeltpunkte auf Basis des reduzierten Arbeitsentgelts und der Beiträge der Pflegekasse für die informelle Pflege erworben. Arbeitsentgelt und fiktive Pflegezeitvergütung finden allerdings maximal bis zur Beitragsbemessungsgrenze Berücksichtigung.131 Für die Pflege werden dann keine Beiträge erbracht, wenn (trotz Reduzierung) die Erwerbstätigkeit noch einen Umfang von 30 Stunden oder mehr wöchentlich umfasst, vgl. § 44 Abs. 1 S. 1 SGB XI. Nicht ausgeschlossen ist zudem, dass trotz Berücksichtigung von Erwerbstätigkeit und Pflege geringere Entgeltpunkte erworben werden. Arbeitete eine Pflegeperson beispielsweise vor der Pflege 40 Wochenstunden bei einem Verdienst von 40.000 E jährlich und reduziert für eine 20-stündige Pflege eines Pflegebedürftigen der Pflegestufe II ihre Arbeitszeit auf 20 Stunden mit einem Verdienst von 20.000 E jährlich, erwirbt sie mit ihrer reduzierten Arbeitstätigkeit einen monatlichen Rentenanspruch von rund 16 E und mit der Pflege einen solchen von knapp 10 E.132 Damit erwächst ihr insgesamt eine Monatsrente von 26 E, während sie ohne Reduzierung einen monatlichen Rentenanspruch von rund 32 E erreicht hätte.133 Das Absicherungsniveau in der Rentenversicherung kann also trotz zusätzlicher Versicherung der Pflegetätigkeit je nach Ausgangsentgelt, wöchentlicher Pflegzeit und Pflegestufe der zu pflegenden Person absinken. Ein Mehr an Entgeltpunkten ist dagegen rechnerisch nur in wenigen Fällen denkbar, beispielsweise bei einem geringen Ausgangsentgelt

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Die Problematik besteht hingegen seit der Neuregelung für die Darlehensrückzahlungsphase nicht mehr. Hier erhält der Beschäftigte wieder sein volles Arbeitsentgelt. Die Darlehensraten hat er losgelöst davon, selbst an das Bundesamt zurück zu zahlen. Zur alten Lage siehe Brose, NZS 2012, S. 502. 130 Siehe Winkel, SozSich 2012, S. 169. 131 §§ 157, 159 SGB VI, § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SV-ReGrV 2016. Die Beitragsbemessungsgrenze 2016 beträgt in der allgemeinen Rentenversicherung 74.400 E jährlich. 132 Ausgehend von der Annahme, dass es sich bei dem Arbeitsentgelt um einen Stundenlohn handelt. Siehe zur Berechnung auch §§ 64, 70 Abs. 1, 161, 162 Nr. 1, § 166 Abs. 2 SGB VI und Ruland, in: von Maydell/Ruland/Becker, SRH, § 17 Rn. 99 ff. 133 Berechnung: Beitragsbemessungsgrundlage : Durchschnittsentgelt 2016 (EP) x 1 (Rentenartfaktor) x 29,21 E (aktueller Rentenwert West ab 01. 07. 2015).

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

und gleichzeitig einer zeitintensiven Pflege eines Pflegebedürftigen, der mindestens der Pflegestufe II angehört.134 dd) Zwischenfazit Pflegepersonen, die vorher keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sind, profitieren von der Pflege, da sie eine sozialversicherungsrechtliche Absicherung erhalten. Diese ist in ihrem Umfang jedoch gering. Pflegepersonen, die sich für die Pflege vollständig von der Erwerbstätigkeit freistellen lassen, müssen hinsichtlich ihrer sozialversicherungsrechtlichen Absicherung Nachteile in Bezug auf die Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung hinnehmen. Pflegepersonen, die ihre Arbeitszeit für die Pflege eines Pflegebedürftigen reduzieren, müssen mit Beeinträchtigungen in der Rentenversicherung rechnen. Weitere Nachteile ergeben sich, z. B. in der Arbeitslosenversicherung, wenn die Arbeitszeit über die maximale Dauer der Pflegezeit von 24 Monaten hinaus verringert wird. Die Regelungen zur sozialversicherungsrechtlichen Absicherung der Pflegeperson verhindern mithin im besten Fall, dass durch die Pflege Nachteile entstehen. In der überwiegenden Zahl der Fälle dienen sie aber nicht dazu, Anreize zur ambulanten, informellen Pflege zu setzen. Die geringe Inanspruchnahme von Pflegezeit und Familienpflegezeit ist Ausdruck dieser Probleme.135 c) Anreize durch die erbrechtliche Regelung Mit dem Ausgleichungsanspruch gem. § 2057a BGB ist grundsätzlich vorgesehen, dass der pflegenden Person aus dem Nachlass eine finanzielle Anerkennung für die von ihr erbrachten Pflegeleistungen zuteil wird.136 Allerdings profitieren von der erbrechtlichen Regelung in erster Linie allein Kinder und Enkelkinder und unter ihnen wiederum nur jene, die zur gesetzlichen Erbfolge gelangen. Wird der Pflegebedürftige vom Ehegatten, den Geschwistern, sonstigen Verwandten, Nachbarn oder Freunden gepflegt, existiert keine vergleichbare erbrechtliche Honorierung.137 Die Honorierung von Pflegeleistungen unter Ehegatten erfolgt allein durch die pauschale Abgeltung im Rahmen des

134 Nach der alten Rechtslage (vor den Änderungen durch das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf, BGBl., Jahrgang 2014, Teil I, S. 2462) wurden aufgrund der Aufstockung durch den Arbeitgeber zwar mehr Entgeltpunkte während der Pflegephase erworben, dagegen weniger in der Rückzahlungsphase. Siehe dazu Brose, NZS 2012, S. 502. 135 Siehe hierzu BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 31 f.; Stüben/von Schwanenflügel, NJW 2015, S. 577. 136 Siehe zum Ausgleichungsanspruch näher Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. III. 4. b) bb). 137 Siehe hierzu auch Ludyga, ZErb 2009, S. 292 f.; Otte, ZEV 2008, S. 261; Reimann, FamRZ 2009, S. 1634.

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

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Ausgleichs des ehelichen Güterstandes, vgl. §§ 1931 Abs. 3 i.V.m. 1371, 1931 Abs. 4 BGB.138 Doch auch für die Abkömmlinge sind weitere Einschränkungen vorgesehen. Der Ausgleichungsanspruch ist auf den Anteil des Nachlasses beschränkt, welcher rechnerisch auf die anderen zur gesetzlichen Erbfolge gelangenden Abkömmlinge entfällt. Nicht einbezogen wird dagegen der Anteil, welcher dem Ehegatten bzw. Lebenspartner als gesetzlichem Erben gem. § 1931 Abs. 1 S. 1 BGB bzw. § 10 Abs. 1 S. 1 LPartG zusteht, obwohl sie gleichermaßen von der Schonung bzw. Vermehrung des Vermögens des Erblassers profitieren.139 Der Ausgleichungsanspruch fällt somit je nach Höhe des Nachlasses umso geringer aus. Und dies, obschon die Bestimmung der Höhe einer angemessenen Ausgleichung für die Pflegeleistungen in Anknüpfung an den Nachlasswert ohnehin fraglich erscheint.140 Darüber hinaus kann der Pflegende um die Honorierung seiner Pflegeleistungen gem. § 2057a BGB gebracht werden, wenn der Pflegebedürftige sich entscheidet, den pflegenden Angehörigen zu enterben.141 Die Pflegeleistungen finden allerdings bei gewillkürter Erbfolge gem. § 2316 BGB zumindest beim Pflichtteil Berücksichtigung.142 Jedoch wird der Wert der erbrachten Pflegeleistungen dabei halbiert, vgl. § 2316 Abs. 1 i.V.m. § 2303 Abs. 1 S. 2 BGB.143 Der Ausgleichungsanspruch gem. § 2057a BGB ist zudem subsidiär gegenüber den sonstigen zivilrechtlichen Ansprüchen, weshalb solche stets vorrangig zu prüfen und zu beweisen sind.144 Dadurch wird dem Pflegenden die Geltendmachung seines Anspruchs zusätzlich erschwert.145 d) Anreize durch die steuerrechtlichen Regelungen Von Vorteil ist, dass das Pflegegeld bei Weiterreichung gem. § 3 Nr. 36 EStG einkommenssteuer- und gem. § 13 Abs. 1 Nr. 9a ErbStG schenkungssteuerfrei ist. Eine zusätzliche Verminderung des Pflegegeldes durch eine steuerliche Belastung wäre jedoch aufgrund der ohnehin geringen Höhe kaum vertretbar.146 138 Siehe Wolf, in: Soergel, BGB, § 2057a Rn. 1, Rn. 10 f.; Schiemann, in: FS für Dieter Schwab, S. 557. Vgl. hierzu auch ausführlich Paetel, S. 120 ff. 139 Vgl. Kroppenberg, NJW 2010, S. 2611. 140 Vgl. hierzu Windel, ErbR 2010, S. 243. 141 Siehe hierzu auch Weidlich, in: Palandt, BGB, § 2057a Rn. 1; Löhnig, in: Staudinger, BGB, § 2057a Rn. 4. 142 Siehe § 2303 Abs. 1 S. 2 BGB. Vgl. auch Weidlich, in: Palandt, BGB, § 2316 BGB Rn. 2, Rn. 5; Otte, ZEV 2008, S. 261. Kritisch hierzu Schiemann, in: FS für Dieter Schwab, S. 560 ff. 143 Vgl. auch Otte, ZEV 2008, S. 261. 144 Siehe zu den vorrangig in Betracht kommenden zivilrechtlichen Ansprüchen Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. III. 4. b) bb). 145 Siehe Windel, ErbR 2010, S. 243, S. 246. 146 Vgl. zur Höhe des Pflegegeldes Dritter Teil, Drittes Kapitel, A. II. 1.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

Der Pflege-Pauschbetrag gem. § 33b Abs. 6 EStG, der nur bei der Nichtweiterreichung des Pflegegeldes geltend gemacht werden kann, ist mit 924 E pro Jahr deutlich niedriger als das Pflegegeld. Zudem findet keine Erhöhung in Anpassung an die Pflegestufe statt. Der Pflege-Pauschbetrag verfolgt außerdem nicht die Anreizfunktion des Pflegegeldes, sondern soll die der Pflegeperson durch die Pflege entstehenden Aufwendungen pauschal abgelten.147 Schließlich sorgt auch § 33 EStG für keinen echten Anreiz. Indem nachgewiesene Aufwendungen steuerfrei bleiben, wird lediglich ein kleiner Ausgleich für die mit der Pflege verbundenen Ausgaben geschaffen. § 33 EStG ist mit zusätzlichem organisatorischem Aufwand verbunden, da die Aufwendungen im Einzelnen nachgewiesen werden müssen. Die steuerliche Geltendmachung gem. § 33 EStG kann außerdem nicht mit dem Pflege-Pauschbetrag kombiniert werden.148 Des Weiteren handelt es sich bei § 33 EStG nicht um eine ausschließliche Begünstigung für die ambulante Pflege. Es besteht auch die Möglichkeit, die Heimkosten als außergewöhnliche Belastungen gem. § 33 EStG zu berücksichtigen.149 Der Freibetrag i.H.v. 20.000 E bei der Erbschafts- und Schenkungssteuer gem. § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG kann nicht als Anreiz zur ambulanten, informellen Pflege gelten, da er gleichermaßen zur Anwendung kommt, wenn sich der Erbe um den stationär gepflegten Erblasser gekümmert hat.150 e) Zwischenergebnis Die Pflegezeit und die Familienpflegezeit, die sozialversicherungsrechtliche Absicherung der Pflegeperson, der erbrechtliche Ausgleichungsanspruch und die steuerrechtlichen Begünstigungen tragen nicht wesentlich dazu bei, die Attraktivität einer Pflegeübernahme für die informelle Pflegepersonen zu steigern. Sie dienen weitgehend dazu, die Pflegeperson zur Ausführung der Pflege zu befähigen und mögliche Nachteile zu verhindern. Sie können je nach Einzelfall allenfalls zu einem geringen finanziellen Plus führen. Dieses kann in der Regel nicht den mit der Aufgabe oder Reduzierung einer Arbeitstätigkeit verbundenen Nachteil ausgleichen.

147

Siehe zum Pflege-Pauschbetrag näher Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. III. 4. b) cc) (1). Vgl. auch Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. III. 4. b) cc) (1). 149 Siehe hierzu näher BFH, Urt. v. 18. 12. 2008, Az III R 12/07; Loschelder, in: Schmidt/ Weber-Grellet, EStG, § 33 Rn. 35 „Heimunterbringung“; Heger, in: Blümich/Heuermann, EStG, § 33 Rn. 210, § 33a Rn. 102. Sonstige Unterhaltsaufwendungen, d. h. die typischen Aufwendungen zur Bestreitung des Lebensunterhalts, die einem Pflegebedürftigen als gesetzlich Unterhaltsberechtigtem – so z. B. den Eltern – zugewendet werden, finden über § 33a EStG eine steuerrechtliche Begünstigung. Hierunter fallen insbesondere Kosten für Ernährung, Unterkunft und Kleidung. Siehe Heger, in: Blümich/Heuermann, EStG, § 33a Rn. 100. 150 Siehe BFH, Urt. v. 11. 09. 2013, Az II R 37/12, BFHE 243, 1. Siehe zum Freibetrag näher Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. III. 4. b) cc) (2). 148

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

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III. Fazit Aus Sicht des Pflegebedürftigen hat die ausschließlich ambulante, informelle Pflege durchaus Vorteile. Für ihn bedeutet die informelle Pflege eine umfassende Pflege in gewohnter Umgebung durch eine vertraute Person, für die in der Regel geringe bis keine Eigenkosten entstehen. Finanzielle Mehraufwendungen können sich jedoch ergeben, wenn überbrückende professionelle Pflegeleistungen erforderlich sind. Ein Problem bleibt zudem die Qualität der Laienpflege. Als unzureichend erweisen sich die Anreize des Leistungssystems bei der ausschließlich ambulanten, informellen Pflege für die Pflegepersonen. Für sie kann sich die Übernahme einer Pflege sogar nachteilig auswirken, wenn sie dafür eine Erwerbstätigkeit aufgibt oder reduziert. Die Nachteile werden oftmals weder durch die sozialversicherungs- und arbeitsrechtlichen, noch durch die erb- oder steuerrechtlichen Regelungen vollständig ausgeglichen. Führen die Regelungen im Einzelfall dagegen zu einem Vorteil, wird dieser meist so gering sein, dass er nicht zur Attraktivität der Übernahme einer Pflege beiträgt. Somit scheitert letztlich der Versuch, die ausschließliche ambulante, informelle Pflege für die Pflegeperson attraktiv zu machen daran, dass der großen Belastung zu geringe Gegen- und Entlastungsleistungen gegenüberstehen.151 Insofern kann nur auf eine ohnehin bestehende Bereitschaft zur Pflege von informellen Pflegepersonen, insbesondere aufgrund familiärer Solidarität, vertraut werden.152 Zu bedenken bleibt auch der große organisatorische Aufwand, der für die Inanspruchnahme der zahlreichen Einzelleistungen sowohl für den Pflegebedürftigen als auch für die Pflegeperson notwendig ist. Die Vielfalt an Leistungen bei einer ausschließlich ambulanten, informellen Pflege vermag folglich keinen ausschlaggebenden Anreiz zur Wahl dieser Pflegeform zu setzen.

B. Anreize für die ausschließlich ambulante, professionelle Pflege Bei der ambulanten, professionellen Pflege müssen Anreize allein für den Pflegebedürftigen bestehen. Aspekte sind auch hier der Umfang der Leistungen und die zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel. Ist die umfassende ambulante, professionelle Pflege abzüglich der Leistungen der Pflegeversicherung für den Pflegebedürftigen kostengünstiger als die vollstationäre Pflege, verschafft dies der

151 So im Ergebnis auch Hackmann/Moog, ZSR 2010, S. 132; Schütte, NDV 2007, S. 211 ff. Siehe hierzu auch Alber, SF 1990, S. 214, S. 216; Blinkert/Klie, SF 2000, S. 244. 152 Dementsprechend beruht die Pflegebereitschaft derzeit überwiegend auf der familiären Solidarität und wird nicht durch die Leistungen der Pflegeversicherung bedingt. Vgl. dazu auch Badelt/Österle, SF 1997, S. 193; Haberkern/Szydlik, KZFSS, S. 84 f.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

ambulanten Pflege unter „moral hazard“-Gesichtspunkten einen Vorteil gegenüber der vollstationären Pflege.

I. Anreize der Pflegesachleistungen Bei der ambulanten, professionellen Pflege erhält der Pflegebedürftige die Pflege in Form von Sachleistungen gem. § 36 SGB XI.153 Auch bei dieser Pflegeform liegt ein Vorteil darin, dass der Verbleib in der vertrauten häuslichen Umgebung möglich ist. Daneben hängt die Attraktivität der ausschließlich ambulanten, professionellen Pflege von den damit verbundenen Kosten für den Pflegebedürftigen ab. 1. Höhe der Pflegesachleistungen Der Pflegebedürftige kann Pflegeeinsätze bis zu einem Höchstwert abrufen. Dieser variiert je nach Pflegestufe und abhängig davon, ob kognitive Störungen hinzukommen. Liegt der Bedarf an Grundpflege und hauswirtschaftlicher Versorgung unter 90 Minuten täglich, ist aber ein erheblicher allgemeiner Betreuungsbedarf gegeben, stehen 231 E zur Verfügung, vgl. § 123 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB XI. Bei einem Bedarf an Grundpflege und hauswirtschaftlicher Versorgung von täglich 90 Minuten bis zu drei Stunden können Sachleistungen im Wert von 468 E abgerufen werden, kommt erheblicher allgemeiner Betreuungsbedarf hinzu, im Wert von 689 E.154 Ab einem Pflegebedarf von drei bis zu fünf Stunden täglich werden Sachleistungen bis zu einem Wert von 1.144 E bzw. bei zusätzlichem erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf von 1.298 E erbracht, bei einem Pflegebedarf von täglich fünf bis 24 Stunden bis zu einem Wert von 1.612 E, vgl. §§ 15 Abs. 3, 36 Abs. 3, 123 Abs. 3 u. Abs. 4 SGB XI. In Härtefällen stellt die Pflegekasse für max. 3 % der Pflegebedürftigen Sachleistungen i.H.v. bis zu 1.995 E zur Verfügung, § 36 Abs. 4 SGB XI. Ob die Pflegesachleistungen finanziell attraktiv sind, hängt von den dem Pflegebedürftigen verbleibenden Eigenkosten ab. 2. Eigenanteil des Pflegebedürftigen im Vergleich zur vollstationären Pflege a) Statistische Anhaltspunkte zu den Eigenkosten Dafür, dass die Pflegesachleistungen nicht ausreichen, spricht, dass auch Pflegebedürftige im ambulanten Bereich auf Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII an-

153 154

Vgl. zu den Pflegesachleistungen Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. II. 1. § 36 Abs. 3 Nr. 1d, § 123 Abs. 3 SGB XI.

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

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gewiesen sind.155 So bezogen im Jahr 2009 rund 77.000 der ambulant Gepflegten solche Leistungen.156 Im Jahr 2013 erhielt gut ein Viertel (28 %) der Bezieher von Hilfe zur Pflege Leistungen für die ausschließlich ambulante Pflege.157 Die hierfür aufgewendeten Ausgaben beliefen sich auf 885 Mio. E, von welchen 656 Mio. E allein auf die ambulante, erwerbsmäßige Pflege entfielen.158 Bezüglich der privat getragenen Kosten für die häusliche Pflege existieren nur Schätzungen. Diesen zufolge wurden Ausgaben in Höhe von 4,31 Mrd. E bei häuslicher Pflege privat getragen.159 Die Angaben zu den durchschnittlichen monatlichen Eigenkosten schwanken zwischen 154 E bis 204 E bei Pflegestufe I, 298 E bis 309 E bei Pflegestufe II und 337 E bis 350 E bei Pflegestufe III.160 Nach einer Befragung des sozio-ökonomischen Panels (SOEP) bezifferten Pflegebedürftige in Privathaushalten die regelmäßigen monatlichen Eigenkosten für die Pflege auf 400 E.161 Auch diese Zahlen lassen vermuten, dass bei der ambulanten, professionellen Pflege regelmäßig über die Leistungen der Pflegeversicherung hinausgehende Kosten anfallen. Allerdings deuten die Statistiken darauf hin, dass der Eigenanteil hinter dem der vollstationären Pflege zurückbleibt. 71 % der Empfänger der Hilfe zur Pflege bezogen Leistungen ausschließlich für die Pflege in Einrichtungen.162 Für die rund 311.000 Leistungsbezieher entstanden der Sozialhilfe Ausgaben i.H.v. 2.9 Mrd. E.163 Der Eigenanteil bei vollstationärer Pflege betrug 2013 durchschnittlich 1.370 E bei Pflegestufe I, 1.556 E bei Pflegestufe II und 1.792 E bei Pflegestufe III.164 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass bei der Heimpflege die Kosten für Unterkunft und Verpflegung in den Eigenanteil miteinfließen. Sie sind jedoch auch bei häuslicher Pflege vom Pflegebedürftigen selbst aufzubringen, ohne dass sie in den Statistiken bei den privat zu tragenden Kosten für die Pflege Berücksichtigung finden. Die Kosten für Unterkunft und Verpflegung außer Betracht gelassen, betrug der durch155 Vgl. zur Hilfe zur Pflege Dritter Teil, Sechstes Kapitel, C. I. Siehe auch Rothgang, Ziele und Wirkungen der Pflegeversicherung, S. 109 f. 156 Siehe Fünfter Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 17/8332, S. 44. 157 Vgl. Statistisches Bundesamt, Hilfe zur Pflege 2013, S. 9. 158 Vgl. Statistisches Bundesamt, Hilfe zur Pflege 2013, S. 15. 159 Siehe BARMER GEK, Pflegereport 2014, S. 133. 160 Siehe BARMER GEK, Pflegereport 2014, S. 133; BMG, Abschlussbericht PflegeWeiterentwicklungsgesetz, S. 48. 161 Siehe Geyer, DIW Wochenbericht 2015, S. 327. Da es sich bei den Angaben um die Eigenkosten bei ambulanter Pflege insgesamt handelt, sind auch die Eigenkosten für die ambulante, informelle Pflege mit enthalten. Diese sind jedoch wesentlich geringer als diejenigen bei der ambulanten, erwerbsmäßigen Pflege und können insofern vernachlässigt werden. Vgl. hierzu auch BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 48; Statistisches Bundesamt, Hilfe zur Pflege 2013, S. 13, S. 15. 162 Vgl. Statistisches Bundesamt, Hilfe zur Pflege 2013, S. 9. 163 Siehe Statistisches Bundesamt, Hilfe zur Pflege 2013, S. 13. 164 Siehe BARMER GEK, Pflegereport 2014, S. 40.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

schnittliche Eigenanteil für die Heimpflege 346 E bei Pflegestufe I, 532 E bei Pflegestufe II und 768 E bei Pflegestufe III.165 Sowohl die Anzahl Pflegebedürftiger, die bei vollstationärer Pflege zusätzliche Leistungen der Sozialhilfe benötigt, als auch die Höhe der dafür aufgewendeten Mittel der Sozialhilfe und der durchschnittliche statistische Eigenanteil für die Heimpflege geben den Anschein, dass der über die Leistungen der Pflegeversicherung hinausgehende Eigenanteil bei vollstationärer Pflege höher sein muss als derjenige bei ambulanter, professioneller Pflege. b) Tatsächlich mögliche Eigenkosten im Vergleich zur vollstationären Pflege Ob eine umfassende vollversorgende, ambulante, professionelle Pflege im Vergleich zu der vollversorgenden, vollstationären Pflege für den Pflegebedürftigen tatsächlich kostengünstiger ist, erscheint fraglich. aa) Vergütung ambulanter Pflege Die Vergütung, die ein ambulanter Pflegedienst für eine Pflegeleistung erhält, wird zwischen dem Träger des Pflegedienstes und der Pflegekasse für alle Pflegebedürftigen nach einheitlichen Grundsätzen vereinbart, § 89 Abs. 1 S. 1 SGB XI.166 Hiernach richtet sich auch die vom Pflegebedürftigen selbst zu zahlende Vergütung für zusätzlich benötigte Pflegeleistungen, vgl. § 120 Abs. 4 S. 2 SGB XI. Bei der vereinbarten Vergütung kann es sich gem. § 89 Abs. 3 S. 1 SGB XI entweder um eine zeitabhängige Leistungsvergütung oder um eine vom Zeitaufwand unabhängige Vergütung handeln. Die zeitunabhängige Vergütung kann auf einzelne Leistungsinhalte oder auf Komplexleistungen bezogen sein. Hinsichtlich der zeitunabhängigen Vergütung hat sich in der Praxis eine Leistungskomplexvergütung durchgesetzt.167 Die Vergütung ambulanter Pflegeleistungen kann gem. § 89 Abs. 3 S. 4 i.V.m. § 86 SGB XI von der Pflegesatzkommission vereinbart werden. In Baden-Württemberg einigt sich die Pflegesatzkommission für die ambulante Pflege auf die Höhe der Vergütung für die Leistungskomplexe.168 Bei der sich dadurch ergebenden 165

Siehe BARMER GEK, Pflegereport 2014, S. 40. Einer solchen Vereinbarung ginge eine Gebührenordnung gem. § 90 SGB XI des Bundesministeriums für Gesundheit vor, wovon jedoch bislang kein Gebrauch gemacht wurde. Vgl. Wilcken, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, SGB XI, § 89 Rn. 1 ff. 167 Vgl. Brünner/Höfer, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 89 Rn. 12. 168 Vgl. hierzu Vergütungsvereinbarung Baden-Württemberg vom 01. 03. 2015. Siehe auch Zweiter Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 14/5590, S. 121; Dritter Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 15/4125, S. 96; Vierter Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/7772, S. 66; Fünfter Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 17/8332, S. 82. 166

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

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Vergütungsvereinbarung handelt es sich allerdings nur um eine Empfehlung, der die Pflegedienste in Baden-Württemberg jedoch überwiegend beigetreten sind.169 Deshalb gelten in Baden-Württemberg weitgehend einheitliche Preise.170 Sie sind günstiger, wenn die entsprechende Leistung von einer hauswirtschaftlichen Fachkraft, von einer ergänzenden Hilfe oder von einem Freiwilligen im Bundesfreiwilligendienst oder im Freiwilligen Sozialen Jahr durchgeführt wird.171 Ob die einzelnen Leistungen von den geringer qualifizierten Personen übernommen werden dürfen, bestimmt der Rahmenvertrag über die ambulante pflegerische Versorgung gem. § 75 Abs. 1 SGB XI für das Land Baden-Württemberg.172 Mangels Statistiken zu den durchschnittlichen Kosten bei vollumfassender ambulanter, professioneller Pflege lassen sich die Kosten hierfür nur an Beispielen verdeutlichen. Im Folgenden geschieht dies unter Zuhilfenahme einerseits der vereinbarten Leistungskomplexvergütung in Baden-Württemberg, andererseits der in Bremen möglichen Zeitvergütung.173 (1) Vergütung am Beispiel der Pflegekomplexleistungsvergütung in Baden-Württemberg Ein Pflegebedürftiger der Pflegestufe I bedarf der Hilfe, um sich morgens zu waschen und morgens und abends für das An- und Ausziehen. Zweimal wöchentlich fällt Hilfebedarf beim Baden und Haarewaschen an. Zudem kann er zwar noch selbst kochen, nicht aber selbst einkaufen, weshalb der wöchentliche Einkauf von einer Stunde für ihn übernommen werden muss. Gleiches gilt für die wöchentliche Reinigung der Wohnung, wofür zwei Stunden benötigt werden. Damit bedarf der Pflegebedürftige fünfmal wöchentlich der Komplexleistung kleine Toilette 169 Die Pflegedienste können ebenfalls, beispielsweise aus Wettbewerbsgründen, ihre alte Vergütung beibehalten und sich nicht der Erhöhung anschließen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es ihnen gelingt, selbst gem. § 89 Abs. 1 S. 1 SGB XI mit den Leistungsträgern eine höhere Vergütung als diejenige in der Vergütungsvereinbarung auszuhandeln, ist allerdings gering. Telefonische Auskunft des Verbands der Ersatzkassen e.V., vdek, Landesvertretung BadenWürttemberg. 170 Baden-Württemberg sieht neben Rheinland-Pfalz als einziges Bundesland feste Pauschalen vor und kein Punktesystem. In einem Punktesystem werden den einzelnen Leistungskomplexen Punktzahlen zugeordnet, die mit dem im jeweiligen Zeitraum geltenden Punktwert multipliziert werden. Vgl. hierzu Zweiter Pflegebericht der Bundesregierung, BTDrucks. 14/5590, S. 121; Dritter Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 15/4125, S. 96; Vierter Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 16/7772, S. 66; Fünfter Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 17/8332, S. 82. Die Vergütung wurde in der Vergangenheit spätestens alle zwei Jahre angepasst. Siehe Vergütungsvereinbarung BadenWürttemberg vom 01. 03. 2015. 171 Siehe Fünfter Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 17/8332, S. 82. 172 Siehe den Rahmenvertrag über die ambulante pflegerische Versorgung gem. § 75 Abs. 1 SGB XI für das Land Baden-Württemberg vom 18. Oktober 2013, Anlage 1a. 173 Bei dem Kostenvergleich insgesamt bleibt sowohl die bei Pflegesachleistungen als auch vollstationärer Pflege geltende Härtefallregelung außer Betracht, zumal diese nur für max. 3 % bzw. 5 % der Pflegebedürftigen der Pflegestufe III Anwendung findet.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

(à 17,18 E)174, siebenmal wöchentlich der Komplexleistung Transfer/An-/Auskleiden (à 6,37 E)175, zweimal wöchentlich der Komplexleistung große Toilette (à 25,76 E), wöchentlich der Komplexleistung Einkauf/Besorgung (à 23,60 E) und wöchentlich der Komplexleistung Waschen/Bügeln/Putzen (à 47,20 E).176 Hinzu können weitere Kosten in Form von Zuschlägen zumindest für die Einsätze an Sonnund Feiertagen, die Wegpauschalen177 und die Ausbildungsumlage kommen.178 Diese betragen mindestens 63,48 E wöchentlich.179 Somit fallen monatlich Kosten i.H.v. 1.332 E an.180 Abzüglich der Pflegesachleistungen i.H.v. 468 E (§ 36 Abs. 3 Nr. 1d SGB XI) bedeutet dies für den Pflegebedürftigen Eigenkosten i.H.v. 864 E monatlich. Ein Pflegebedürftiger der Pflegestufe II bedarf morgens der Hilfe beim Aufstehen, Waschen, der Zahnpflege, dem Kämmen und Rasieren und dem Ankleiden. Ebenso benötigt er abends Hilfe bei der Zahnpflege und dem Kämmen, dem Waschen des Gesichts, dem Auskleiden und dem Zubettgehen. Zweimal wöchentlich besteht Hilfebedarf beim Baden und Haarewaschen. Zusätzlich vonnöten ist die mundgerechte Zubereitung der täglichen drei Mahlzeiten und Hilfe beim Treppensteigen, um für die Mahlzeiten in die Küche zu gelangen. Einmal wöchentlich ist ein Arztbesuch erforderlich, welcher 45 Minuten in Anspruch nimmt und für den eine Begleitung notwendig ist. Schließlich können der wöchentliche Einkauf von einer Stunde, die wöchentliche Reinigung der Wohnung von zwei Stunden und die Zubereitung der Mahlzeiten nicht mehr vom Pflegebedürftigen bewerkstelligt werden. Letztere werden über „Essen auf Rädern“ abgedeckt. Damit bedarf der Pflegebedürftige 12mal wöchentlich der „kleinen Toilette“ (à 17,18 E), zweimal wöchentlich der

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Die Komplexleistung kleine Toilette fällt nur fünf- und nicht siebenmal wöchentlich an, da die davon umfassten Hilfeleistungen an zwei Tagen in der Woche von der Komplexleistung große Toilette mitumfasst sind. Vgl. den Rahmenvertrag über die ambulante pflegerische Versorgung gem. § 75 Abs. 1 SGB XI für das Land Baden-Württemberg vom 18. Oktober 2013, Anlage 1a. 175 Wenn die Hilfeleistung durch eine ergänzende Hilfe erbracht werden kann, wird aufgrund der geringeren Kosten stets hiervon ausgegangen. 176 Zu den genauen Kosten der einzelnen Komplexleistungen siehe Vergütungsvereinbarung Baden-Württemberg vom 01. 03. 2015. 177 Vorausgesetzt der Pflegebedürftige wohnt nicht in einer Einrichtung des betreuten Wohnens mit unmittelbar angegliedertem Pflegedienst, wodurch die Anfahrtswege entfallen. 178 Weitere Zuschläge sind insbesondere die betriebsnotwendigen Investitionsaufwendungen, welche die ambulanten Pflegedienste oftmals dem Pflegbedürftigen gem. § 82 Abs. 3 SGB XI in Rechnung stellen. 179 Der Rechnung wird die Annahme zugrunde gelegt, dass der Zuschlag für den Einsatz an Sonn- und Feiertagen (à 2,41 E) lediglich für die zweimal wöchentlich notwendigen Einsätze am Sonntag anfällt und der Pflegedienst alle notwendigen Pflegeleistungen mit zwei Anfahrten täglich zum Pflegebedürftige (à 3,69 E) erledigen kann. Die Ausbildungsumlage (à 0,50 E) fällt für jeden Pflegeeinsatz an, also bei zwei Pflegeeinsätzen täglich 14-mal wöchentlich. 180 Es wird von einem Monat mit 30 Tagen ausgegangen.

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

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„großen Toilette“ (à 25,76 E)181, 21-mal wöchentlich der „einfachen Hilfe bei der Nahrungsaufnahme“ (à 3,91 E), einmal wöchentlich der „Hilfestellung beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung“ (à 17,70 E), einmal wöchentlich dem Leistungskomplex „Einkauf/Besorgung“ (à 23,60 E), einmal wöchentlich dem Leistungskomplex „Waschen/Bügeln/Putzen“ (à 47,20 E) und 21-mal wöchentlich dem „Essen auf Rädern“ (à 2,74 E)182. Hinzu kommen Zuschläge i.H.v. mindestens 95,22 E wöchentlich.183 Damit betragen die Kosten insgesamt rund 2.456 E monatlich, womit abzüglich der Pflegesachleistungen i.H.v. 1.144 E (§ 43 Abs. 3 Nr. 2d SGB XI) eine Selbstbeteiligung von 1.312 E anfällt. Ein Pflegebedürftiger der Pflegestufe III bedarf all derjenigen Hilfe, die auch der Pflegebedürftige der Pflegestufe II benötigt. Hinzu kommt, dass er mindestens stündlich zur Flüssigkeitsaufnahme motiviert werden muss und mehrmals täglich und einmal nachts Hilfe beim Gang zur Toilette mit anschließender Teilwäsche benötigt. Außerdem ist bei sämtlichen Gängen in der Wohnung Unterstützung erforderlich. Es fallen also zusätzlich wöchentlich ca. 42-mal durch die Notwendigkeit zur Flüssigkeitsaufnahme die „einfache Hilfe bei der Nahrungsaufnahme“184 (à 3,91 E) und ca. 21-mal wöchentlich die „einfache Hilfe bei Ausscheidungen“ (à 7,84 E) an. Hinzu kommt der siebenmalige Nachtzuschlag (à 2,34 E) verbunden mit einem weiteren Zuschlag (2,41 E) für den Nachteinsatz am Sonntag. Selbst mögliche weitere Wegpauschalen und die Ausbildungsumlage je Pflegediensteinsatz außen vor gelassen, entstehen somit monatlich Kosten i.H.v. 3.934 E. Abzüglich der Pflegesachleistungen i.H.v. 1.612 E (§ 43 Abs. 3 Nr. 3d SGB XI) verbleibt eine Eigenbeteiligung des Pflegebedürftigen i.H.v. 2.322 E. (2) Vergütung am Beispiel der Zeitvergütung in Bremen Kein wesentlich anderes Bild ergibt sich bei Zugrundelegung einer Zeitvergütung, wie sie im Zusammenhang mit der Änderung des § 120 Abs. 3 SGB XI beispielsweise in Bremen vereinbart wurde.185 Dabei wurde für die Grundpflege eine 181 Die Komplexleistungen kleine und große Toilette umfassen den Transfer aus dem/ins Bett und das An-/Auskleiden. Vgl. den Rahmenvertrag über die ambulante pflegerische Versorgung gem. § 75 Abs. 1 SGB XI für das Land Baden-Württemberg vom 18. Oktober 2013, Anlage 1a. 182 Hierbei handelt es sich nur um die Vergütung für die Anlieferung des Essens durch den ambulanten Pflegedienst, nicht dagegen um die Kosten für das Essen selbst. Diese sind vielmehr, da es sich um Verpflegungskosten handelt, welche auch unabhängig von einer Pflegebedürftigkeit anfallen, vom Pflegebedürftigen selbst zu tragen. Telefonische Auskunft des Verbands der Ersatzkassen e.V., vdek, Landesvertretung Baden-Württemberg. 183 Diese beinhalten die Wegpauschale (à 3,69 E) für die drei Pflegeeinsätze täglich und den Zuschlag (à 2,41 E) für die drei Pflegeeinsätze am Sonntag. 184 Damit verbunden wäre überdies die 42-malige Wegpauschale, wobei es realitätsfern erscheint, dass in einer solchen Konstellation ein Pflegedienst stündlich anfährt. Regelmäßig wird die Pflege in einem solchen Fall in Räumlichkeiten stattfinden, die einem ambulanten Pflegedienst unmittelbar angegliedert sind. 185 Vgl. hierzu Richter, PflR 2014, S. 552.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

Zeitvergütung von 38 E pro Stunde bzw. 0,6333 E pro Minute, für die hauswirtschaftliche Versorgung von 25 E pro Stunde bzw. 0,41667 E pro Minute und für die häusliche Betreuung von 29 E pro Stunde bzw. 0,48333 E pro Minute veranschlagt. Hinzu kommen die Wegpauschalen von jeweils 2,15 E bzw. am Wochenende oder Feiertagen von 3,44 E und die Investitionsaufwendungen von 0,70 E pro Stunde bzw. 0,01667 E pro Minute.186 Benötigt ein Pflegebedürftiger der Pflegestufe I zweimal 15 Minuten Grundpflege und wöchentlich im Tagesdurchschnitt 25 Minuten hauswirtschaftliche Versorgung durch einen ambulanten Pflegedienst, entstehen wöchentlich Kosten i.H.v. rund 133 E für die Grundpflege, 73 E für die hauswirtschaftliche Versorgung, 35 E Wegepauschale und 6 E Investitionskosten. Monatlich ergibt sich mithin bei Pflegestufe I eine Summe i.H.v. 1.059 E187 und damit eine Selbstbeteiligung i.H.v. 591 E. Bei Pflegestufe II und einem Bedarf an täglich dreimaliger Grundpflege à 25 Minuten und hauswirtschaftlicher Versorgung von wöchentlich im Tagesdurchschnitt 35 Minuten, ergeben sich wöchentlich Kosten i.H.v. rund 332 E für die Grundpflege, 102 E für die hauswirtschaftliche Versorgung, 53 E Wegpauschale und 13 E Investitionsaufwendungen. Von den monatlichen Gesamtkosten i.H.v. 2.143 E sind 999 E vom Pflegebedürftigen selbst zu tragen. Für einen Pflegebedürftigen der Pflegestufe III, der dreimal täglich 25 Minuten und zusätzlich siebenmal täglich fünf Minuten Grundpflege benötigt und daneben 35 Minuten täglich hauswirtschaftlicher Versorgung bedarf, entstehen wöchentlich Kosten i.H.v. rund 488 E für die Grundpflege, 102 E für die hauswirtschaftliche Versorgung, 176 E Wegepauschale und 17 E Investitionsaufwendungen. Von den monatlichen Gesamtkosten i.H.v. 3.356 E entfallen auf den Pflegebedürftigen Eigenkosten i.H.v. 1.744 E. bb) Vergütung stationärer Pflege (1) Allgemeine Vergütungsgrundsätze Das Heimentgelt besteht aus dem Entgelt für die Pflegeleistungen, die soziale Betreuung, die medizinische Behandlungspflege, aus den Kosten für Unterkunft und Verpflegung und ggf. aus den Investitionskosten, vgl. §§ 84 Abs. 1 S. 1, 87 S. 1, 82 Abs. 3 SGB XI.188 Die Höhe der Vergütung stationärer Pflege wird ebenfalls zwischen dem Träger des jeweiligen Pflegeheims und den Kostenträgern vereinbart, § 85 Abs. 1 SGB XI. Dabei sind einerseits der Pflegesatz für die Pflegeleistungen, die soziale Betreuung und die medizinische Behandlungspflege, andererseits getrennt hiervon die Entgelte 186 Siehe hierzu näher Ergänzungsvereinbarung zur Vergütungsvereinbarung Bremen vom 01. 01. 2013, S. 3, S. 12 ff. 187 Auch hierbei wird von einem Monat mit 30 Tagen ausgegangen. 188 Vgl. §§ 84 Abs. 1 S. 1, 87 S. 1, 82 Abs. 3 SGB XI.

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

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für Unterkunft und Verpflegung festzulegen, vgl. §§ 84 Abs. 1 S. 1, 87 S. 1 SGB XI. Bei dem Pflegesatz handelt es sich nicht um eine Vergütung für die konkret abgerufenen Pflegeleistungen, sondern um eine pauschale Tagesvergütung, die je nach Pflegestufe unterschiedlich hoch ausfällt.189 Sowohl für die Vereinbarung der Pflegesätze als auch für die Kosten für Unterkunft und Verpflegung kann auf Landesebene die Pflegesatzkommission tätig werden, vgl. §§ 86, 87 S. 3 SGB XI. Sie macht bei der stationären Pflege hiervon jedoch keinen Gebrauch, sondern schließt in erster Linie Rahmenvereinbarungen gem. § 86 Abs. 3 SGB XI ab. Deswegen legt jedes Pflegeheim seinem Heimentgelt den individuell vereinbarten Pflegesatz und individuelle Kosten für die Unterkunft und Verpflegung zugrunde.190 Während die Leistungen der Pflegeversicherung den Eigenanteil des Pflegebedürftigen an den Pflegesätzen mindern, sind die Kosten für die Unterkunft und Verpflegung vollständig vom Pflegebedürftigen selbst zu tragen, vgl. §§ 43 Abs. 2 S. 1, 4 Abs. 2 S. 2 SGB XI. Gleiches gilt für die Investitionsaufwendungen, die durch die öffentliche Förderung der Länder nicht vollständig gedeckt werden, vgl. § 82 Abs. 3 SGB XI. Im Gegensatz hierzu obliegen die Vergütungszuschläge für zusätzliches Betreuungspersonal allein den Pflegekassen, vgl. § 87b Abs. 2 S. 1 u. S. 3 SGB XI. (2) Vergütungsbeispiele In Baden-Württemberg betrug im Jahr 2011191 der durchschnittliche Tagespflegesatz bei Pflegestufe I 46,70 E, bei Pflegestufe II 60,46 E und bei Pflegestufe III 77,37 E. Die Kosten für die Unterkunft und Verpflegung beliefen sich auf durchschnittlich 20,40 E pro Tag, die Investitionskosten auf 12,37 E.192 Bei Zugrundelegung dieser statistischen Zahlen und den aktuellen Leistungsbeträgen bei vollstationärer Pflege193, ergeben sich bei Pflegestufe I in Baden-Württemberg durchschnittliche monatliche Pflegekosten i.H.v. 1.420 E. Die Selbstbeteiligung beträgt folglich 356 E. Bei Pflegestufe II betragen die durchschnittlichen monatlichen Pflegekosten 1.839 E, die Selbstbeteiligung mithin 509 E. Bei Pflegestufe III belaufen sich die Kosten auf 2.353 E, die Selbstbeteiligung auf 741 E. Hinzu kommen jeweils monatliche Kosten für die Unterkunft und Verpflegung und für die Investitionskosten i.H.v. 997 E. Damit betragen in Baden-Württemberg die gesamten Eigenkosten bei Pflegestufe I 1.353 E, bei Pflegestufe II 1.506 E und bei Pflegestufe III 1.738 E. 189

Siehe § 87a Abs. 1 S. 1. Vgl. auch Brünner/Höfer, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 84 Rn. 5. 190 Vgl. Brünner/Höfer, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 86 Rn. 6. 191 Bei den Zahlen, die dem Fünftem Pflegebericht der Bundesregierung (BT-Drucks. 17/ 8332) vom 12. 02. 2012 entstammen, handelt es sich um die aktuellsten vorhandenen Zahlen. Der Sechste Pflegebericht, der an sich gem. § 10 SGB XI im Jahr 2015 hätte erscheinen müssen, wurde um ein Jahr auf das Jahr 2016 verschoben und ist bislang noch nicht erschienen. Es ist davon auszugehen, dass das Heimentgelt inzwischen weiter angestiegen ist. 192 Vgl. Fünfter Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 17/8332, S. 107. 193 Siehe § 43 Abs. 2 S. 2 SGB XI. Die dort geregelten Sätze gelten seit dem 01. 01. 2015.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

In Bremen betrug der tägliche Pflegesatz bei Pflegestufe I 36,61 E, bei Pflegestufe II 58,58 E, bei Pflegestufe III 73,22 E, die Kosten für Unterkunft und Versorgung täglich 22,21 E und die Investitionskosten 16,28 E.194 Damit ergeben sich monatliche Pflegekosten i.H.v. 1.114 E bei Pflegestufe I, 1.782 E bei Pflegestufe II und 2.227 E bei Pflegestufe III. Die jeweiligen Eigenkosten hieran belauf sich also unter Zugrundelegung der aktuellen Leistungsbeträge bei vollstationärer Pflege (§ 43 Abs. 2 S. 2 SGB XI) auf 50 E bzw. 452 E bzw. 615 E. Hinzu kommen die Unterkunfts-, Verpflegungs- und Investitionskosten i.H.v. monatlich 1.171 E. Die gesamten Eigenkosten in Bremen betragen hiernach bei Pflegestufe I 1.221 E, bei Pflegestufe II 1.623 E und bei Pflegestufe III 1.786 E. cc) Vergleich zwischen den Eigenkosten Mit 864 E bei Pflegestufe I, 1.312 E bei Pflegestufe II und 2.322 E bei Pflegestufe III sind die beispielhaft angeführten Eigenkosten bei vollständiger professioneller, ambulanter Pflege in Baden-Württemberg bei den Pflegestufen I und II niedriger, bei der Pflegestufe III dagegen bereits höher als der Gesamteigenanteil bei vollstationärer Pflege. Im Vergleich zu den Zeitvergütungsbeispielen Bremens liegen die Eigenkosten für die ambulante, erwerbsmäßige Pflege mit 591 E (Pflegestufe I), 999 E (Pflegestufe II) und 1.744 E (Pflegestufe III) bei jeder Pflegestufe unter denjenigen der vollstationären Pflege. Bei Pflegestufe III ist der Kostenunterschied allerdings nur noch gering. Zu beachten ist jedoch, dass sowohl in Baden-Württemberg als auch in Bremen der größte Anteil an den Eigenkosten bei vollstationärer Pflege aus den Kosten für die Unterkunft und Verpflegung und den Investitionskosten besteht. Diese außen vor gelassen, liegt die Eigenbeteiligung an den reinen Pflegekosten bei ausschließlich ambulanter, professioneller Pflege deutlich über derjenigen bei vollstationärer Pflege. Denn bei den aufgezeigten Pflegekosten bei ausschließlich ambulanter, professioneller Pflege handelt es sich allein um die reinen Pflegekosten. Die Kosten für die Unterkunft und die Verpflegung finden in der Vergütung keine Berücksichtigung. Dies gilt selbst bei dem Bezug von „Essen auf Rädern“, da die hierfür veranschlagte Pauschale die ambulanten Pflegedienste nur für die Anlieferung vergütet. Nicht umfasst sind die Kosten für das Essen selbst, welche vom Pflegebedürftigen getragen werden müssen.195 Insofern ist ein pauschaler Kostenvergleich zwischen den aufgezeigten Gesamteigenkosten bei ambulanter, professioneller und bei vollstationärer Pflege nicht möglich. Vielmehr fallen dem Pflegebedürftigen je nach persönlicher Wohn- und Verpflegungssituation bei der ambulanten, professionellen Pflege zusätzliche, mehr oder weniger umfangreiche Kosten für die Unterkunft und Verpflegung an. 194

Vgl. Fünfter Pflegebericht der Bundesregierung, BT-Drucks. 17/8332, S. 107. Telefonische Auskunft des Verbands der Ersatzkassen, vdek, Landesvertretung BadenWürttemberg. 195

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

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Hinzu kommt, dass in den Berechnungsbeispielen der ambulanten, professionellen Pflege die zusätzlich anfallenden Kosten für die soziale Betreuung nicht berücksichtigt wurden. Bei der vollstationären Pflege sind sie dagegen in den Gesamtheimkosten mitenthalten. Des Weiteren handelt es sich bei den Beispielen um die Kosten einer ambulanten, erwerbsmäßigen „Durchschnittsversorgung“ eines Pflegebedürftigen der jeweiligen Pflegestufe. Je nach individuellem Bedarf können die Kosten für die reine ambulante, professionelle Pflege je Pflegestufe noch deutlich umfangreicher ausfallen. Das alles berücksichtigt, ist der Anteil an Eigenkosten für den Pflegebedürftigen für eine vollständige ambulante, professionelle Pflege in der Regel nicht wesentlich niedriger als der Eigenanteil bei vollstationärer Pflege. Er kann sogar höher ausfallen.196 Angesichts dieser Kostenbetrachtung ist die geringere Höhe der Pflegesachleistungen in Pflegestufe I und II gegenüber den Leistungen bei der vollstationären Pflege und dem beabsichtigten Vorrang der ambulanten Pflege nicht verständlich.197 Der Grund für die hohen Eigenkosten bei der ambulanten, professionellen Pflege liegt in den vergleichsweise hohen Betriebskosten des Pflegedienstes, die durch die Individualisierung hervorgerufen werden. Diese wirken sich besonders deutlich aufgrund der notwendigen intensiven Betreuung in der Pflegestufe III aus.

3. Resümee Für die Attraktivität der ausschließlich ambulanten, professionellen Pflege spricht, dass der Bezug von Pflegesachleistungen als Grundleistung einen Verbleib in häuslicher Umgebung bei gleichzeitiger professioneller Pflege ermöglicht. Dies birgt gegenüber der ausschließlich ambulanten, informellen Pflege den Vorteil der besser gesicherten Pflegequalität.198 Unter Kostengesichtspunkten ist die ausschließlich ambulante, professionelle Pflege gegenüber der ambulanten, informellen Pflege dagegen nicht attraktiv. Denn bei einer umfassenden Sicherstellung der Pflege anhand ambulanter, professioneller Pflegeleistungen entstehen dem Pflegebedürftigen Eigenkosten. Doch auch im Vergleich zu der vollstationären Pflege ist die ausschließlich ambulante, professionelle Pflege nicht zwingend kostengünstiger. Betrachtet man die Kostensituation bei einer ausschließlich ambulanten, erwerbsmäßigen Pflege, wird deutlich, dass dem Pflegebedürftigen regelmäßig keine geringeren, wenn nicht sogar höhere Ei196 Vgl. hierzu auch Rieben, Kosten in der offenen und geschlossenen Altershilfe, S. B 123 ff., S. B 143 f., S. D 11 f.; Hopfe, ZfS 1995, S. 275; Giese, ZfSH/SGB 1984, S. 199; Naegele/Igl, SozSich 1993, S. 241; Tesic, Bedingungen ambulanter Versorgung für ältere Menschen, S. 243 ff. 197 Zum „Fehlanreiz“ zur Inanspruchnahme stationärer Pflege siehe auch Hoberg/Klie/ Künzel, NDV 2013, S. 563. 198 Siehe hierzu näher Dritter Teil, Drittes Kapitel, A. I. 1. b) bb).

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

genkosten entstehen als bei der vollstationären Pflege.199 Insofern bieten die Pflegesachleistungen keinen ausschlaggebenden Anreiz zur umfassenden ambulanten, professionellen Pflege.

II. Anreize der weiteren Leistungen Der Betrag von 104 E für zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen gem. § 45b Abs. 1a SGB XI kann dazu genutzt werden, Betreuungsleistungen oder Angebote der hauswirtschaftlichen Versorgung von ambulanten Pflegediensten zu finanzieren, vgl. § 45b Abs. 1 S. 6 Nr. 3 SGB XI. Dadurch werden die Eigenkosten des Pflegebedürftigen allerdings nicht wesentlich gemindert, zumal mit diesem Betrag bei Zugrundelegung der Zeitvergütung in Bremen maximal dreieinhalb Stunden häusliche Betreuung im Monat finanziert werden könnten.200 Mit dem Betrag können aber auch niedrigschwellige Betreuungs- und Entlastungsangebote in Anspruch genommen werden, vgl. § 45b Abs. 1 S. 6 Nr. 4 SGB XI. Selbst bei der Inanspruchnahme niedrigschwelliger Betreuungs- und Entlastungsangebote fallen trotz einer Förderung durch den Spitzenverband Bund der Pflegekassen gem. § 45c SGB XI Kosten an. Beispielhaft können die Kosten auf 7,50 E bis 15 E pro Stunde und betreutem Pflegebedürftigen beziffert werden, wobei auch sie vom Bundesland abhängig sind.201 Damit können maximal 14 Stunden niedrigschwellige Betreuungsund Entlastungsangebote im Monat auf Kosten der Pflegeversicherung bezogen werden. Einen echten Anreiz zur Wahl ambulanter, professioneller Pflege bietet die Kombinationsmöglichkeit mit der teilstationären Pflege. Der Pflegebedürftige kann die Leistungen der teilstationären Pflege zusätzlich neben den Pflegesachleistungen beziehen, vgl. § 41 Abs. 3 SGB XI. Dadurch hat er die Möglichkeit, seine benötigte Hilfe zum Teil durch Pflegesachleistungen, zum Teil durch teilstationäre Pflege abzudecken, wofür ihm ein Gesamtbetrag i.H.v. 936 E bei Pflegestufe I, 2.288 E bei Pflegestufe II und 3.224 E bei Pflegestufe III zur Verfügung steht, vgl. §§ 36 Abs. 3, 41 Abs. 2 S. 2 SGB XI. Die Leistungen für gemeinsam gepflegte Pflegebedürftige sehen unterschiedliche Begünstigungen vor.202 Auch bei diesen bleibt jedoch die uneingeschränkte Anreizfunktion zweifelhaft. Besonders fraglich ist der Nutzen der Möglichkeit des Poolens von Pflegesachleistungen gem. § 36 Abs. 1 S. 5 ff. SGB XI. Nicht er199 So auch schon Hopfe, ZfS 1995, S. 275; Lachwitz, in: Fichtner/Wenzel, SGB XII, § 65 Rn. 25. 200 Zur Zeitvergütung in Bremen siehe näher Dritter Teil, Drittes Kapitel, B. I. 2. b) aa) (2). 201 Bei den genannten Kosten handelt es sich um die durchschnittlichen Kosten in Niedersachsen. Siehe Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, Niedrigschwellige Betreuungsangebote. 202 Siehe zu den Leistungen auch Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. II. 4. a).

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

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sichtlich ist, inwiefern dadurch bei einer Leistungskomplexvergütung, wie beispielsweise derjenigen in Baden-Württemberg, Wirtschaftlichkeitsreserven freigesetzt werden sollen. Abgesehen vom Wegfall der Wegepauschale ist unklar, inwiefern die Pflegebedürftigen dadurch von einem „Mehr“ an Leistungen profitieren sollen.203 Personen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf benötigen besonders intensive Betreuung, wie schon die Definition dieses Personenkreises in § 45a Abs. 1 S. 1 SGB XI belegt. Dafür entstehen ihnen bei Inanspruchnahme eines ambulanten Pflegedienstes hohe Kosten. Dies wird deutlich, wenn man die Stundenvergütung ambulanter Pflegedienste von 29 E für Leistungen der häuslichen Betreuung in Bremen betrachtet. Gemessen an dem mithin deutlich erhöhten Bedarf fallen die zusätzlichen Leistungen für Pflegebedürftige mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf gem. § 45b und § 123 SGB XI gering aus. Bei der vollstationären Pflege ist dagegen die Betreuung Leistungsinhalt und damit vom Heimentgelt mitumfasst, vgl. §§ 43 Abs. 2 S. 1, 87b SGB XI.

III. Fazit In den Leistungen bei ausschließlich ambulanter, professioneller Pflege lassen sich bestimmte Anreize zur Wahl dieser Pflegeform finden wie die Möglichkeit des Verbleibs in häuslicher Umgebung oder Doppelleistungen bei einer Kombination mit teilstationärer Pflege. Auch hier bedingt jedoch die Vielfalt der Einzelleistungen einen hohen Organisationsaufwand. Außerdem ist unter Kostengesichtspunkten die ausschließlich ambulante, professionelle Pflege gegenüber der vollstationären Pflege für den Pflegebedürftigen nicht attraktiver. Je nach Konstellation kann sie für ihn auch deutlich kostenintensiver sein als eine vollstationäre Pflege. Dementsprechend nehmen lediglich 7 % der Pflegebedürftigen diese Pflegeform in Anspruch.204 Laut dem Abschlussbericht des Bundesministeriums zum Pflege-Weiterentwicklungsgesetz handelt es sich bei der ambulanten Pflege ohne zusätzliche private Hilfspersonen um Ausnahmesituationen.205

C. Anreize für die ambulante, kombinierte Pflege Häufiger kommt in der Praxis eine Kombination aus ambulanter, professioneller und ambulanter, informeller Pflege vor.206 Dabei können die Vorteile beider Grundpflegeformen verbunden werden. Ob die Anreize diejenigen zur Inan203 204 205 206

Davon geht BT-Drucks. 16/7439, S. 54 aus. Siehe BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 26. Siehe BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 26. Vgl. hierzu auch Blinkert/Klie, SF 2000, S. 237 f.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

spruchnahme von vollstationärer Pflege überwiegen, muss dennoch diskutiert werden.

I. Anreize für den Pflegebedürftigen Aus Sicht des Pflegebedürftigen bietet die ambulante, kombinierte Pflege folgende Vorteile: Er kann in häuslicher Umgebung verbleiben, wird zumindest teilweise durch eine ihm vertraute Person gepflegt und ein gewisses Maß an Pflegequalität wird über die anteilige, professionelle Pflege sichergestellt.207 Die Eigenkosten hängen davon ab, wie die ambulanten Pflegeformen im Einzelnen zusammengestellt werden. Dabei sind zahlreiche Kombinationsmöglichkeiten denkbar. Möglich ist zum einen die nur geringe Inanspruchnahme von Pflegesachleistungen und die intensive Pflegeübernahme durch die informelle Pflegeperson, wofür anteilig Pflegegeld bezogen wird (vgl. § 38 SGB XI). Zum anderen kommt aber auch die volle Ausschöpfung des Pflegesachleistungsbetrags, eine darüber hinausgehende, eigenfinanzierte Inanspruchnahme weiterer professioneller Pflegeleistungen und eine nur geringe Pflegetätigkeit informeller Pflegepersonen in Betracht. Damit können sowohl keine bis geringe als auch hohe Eigenkosten anfallen. Aufgrund der Beteiligung ehrenamtlicher Pflegepersonen bleiben die Eigenkosten jedoch immer hinter denjenigen bei einer ausschließlich ambulanten, erwerbsmäßigen Pflege zurück. Damit sind sie in der Regel auch geringer als die Eigenkosten bei vollstationärer Pflege.208 Insofern bietet die ambulante, kombinierte Pflege aus Sicht des Pflegebedürftigen oftmals Vorteile gegenüber den anderen Pflegeformen. Der Pflegebedürftige hat daneben Anspruch auf die ergänzenden und zusätzlichen Leistungen, die weitgehend die gleichen Vor- und Nachteile mit sich bringen wie bei einer ausschließlich informellen bzw. einer ausschließlich professionellen, ambulanten Pflege.

II. Anreize für die Pflegeperson Problematischer sind die Anreize für die Pflegeperson in Bezug auf eine ergänzende Pflege. So sinkt der Anreiz dadurch, dass der Pflegeperson maximal das anteilige Pflegegeld weitergereicht werden kann. Wird nur die Hälfte der Pflege mit Hilfe des hälftigen Pflegesachleistungsbetrags sichergestellt, dann muss die Pflegeperson den Pflegebedürftigen der Pflegestufe I trotzdem noch mindestens 45 Minuten bis eineinhalb Stunden täglich pflegen, vgl. § 15 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 207 Siehe zu den Qualitätssicherungsmaßnahmen näher Dritter Teil, Drittes Kapitel, A. I. 1. b) bb). 208 Siehe zu diesen Dritter Teil, Drittes Kapitel, B. I. 2. b) bb).

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

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SGB XI. Dafür steht dem Pflegebedürftigen nur noch ein Pflegegeld von ca. 4 E pro Tag zur Verfügung, vgl. §§ 38, 37 Abs. 1 S. 3 Nr. 1d SGB XI. Die sonstigen Anreize für die Pflegeperson entsprechen weitgehend denjenigen bei der ausschließlichen ambulanten, informellen Pflege. Sie sind mithin gering.209 Die insbesondere im Rahmen der rentenversicherungsrechtlichen Absicherung vorgesehene Mindestanzahl von 14 Stunden wöchentlicher Pflege erschwert zudem den nur anteilig pflegenden Personen den Zugang zu diesen Leistungen. Daher können hier die durch eine Reduzierung der Erwerbstätigkeit für die Pflege eintretenden Nachteile noch gravierender ausfallen.210

III. Fazit Auch die ambulante, kombinierte Pflege vereint Vor- und Nachteile. Sie ist insofern attraktiv, weil dem Pflegebedürftigen für die Pflege in häuslicher Umgebung geringere Kosten entstehen als bei einer rein professionellen Pflege. An dem Pflegearrangement sind sowohl eine ihm vertraute Person als auch eine professionelle Pflegekraft beteiligt. Andererseits erfordert die ambulante, kombinierte Pflege aufgrund der notwendigen Kombination informeller, professioneller, ergänzender und zusätzlicher Einzelleistungen einen umfassenden Überblick über die Leistungen. Sie führt im Vergleich zu den anderen ambulanten Pflegeformen zu einem noch höheren Organisations- und Koordinationsaufwand. Als Nachteil kann sich zudem erweisen, dass eine informelle Pflegeperson für die anteilige Pflege verantwortlich zur Verfügung stehen muss. Für sie sind jedoch ebenso bei der ambulanten, kombinierten Pflege allenfalls geringe Anreize vorgesehen. Auch die ambulante, kombinierte Pflege kann für die Pflegeperson durchaus belastend und überdies mit Nachteilen verbunden sein.211 Insofern kann auch hier nur auf eine ohnehin bestehende Pflegebereitschaft aus familiärer Verantwortung und Pflichtgefühl vertraut werden. Das Anreizsystem im Leistungsrecht ist damit ebenfalls bei diesem Pflegearrangement nicht derart ausgestaltet, dass für jeden Pflegebedürftigen bei der Wahlentscheidung vorrangig diese Pflegeform in Betracht kommt.

209 210 211

Vgl. Dritter Teil, Drittes Kapitel, A. II. Siehe zu den möglichen Nachteilen Dritter Teil, Drittes Kapitel, A. II. 3. b). Vgl. hierzu auch BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 28 f.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

D. Veränderungen durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz I. Anreize der Leistungen für die ausschließlich ambulante, informelle Pflege 1. Verbesserte Anreize für den Pflegebedürftigen Die generelle Berücksichtigung der pflegerischen Betreuung bei den Grundleistungen durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz212 führt zu einer Erhöhung des Pflegegeldes. Gem. § 37 Abs. 1 S. 3 SGB XI n.F. bekommen Pflegebedürftige bei Pflegegrad 2 ein Pflegegeld i.H.v. 316 E, bei Pflegegrad 3 i.H.v. 545 E, bei Pflegegrad 4 i.H.v. 728 E und bei Pflegegrad 5 i.H.v. 901 E. Damit erhalten die Pflegebedürftigen, denen nach dem alten System nicht die zusätzlichen Leistungen aufgrund eines erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarfs zustanden, nun ein höheres Pflegegeld. Denjenigen, denen die zusätzlichen Leistungen nach § 123 Abs. 2 und Abs. 3 SGB XI gewährt wurden, kommt nur dann ein höheres Pflegegeld zu, wenn sie einem schwereren Pflegegrad zugeordnet werden. Wird ein Pflegebedürftiger der Pflegestufe I mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf dagegen in den Pflegegrad 2 eingestuft und ein solcher der Pflegestufe II in den Pflegegrad 3, erhalten sie weiterhin einen identischen Pflegegeldbetrag.213 Personen des Pflegegrades 1 bekommen kein Pflegegeld. Die ergänzenden Leistungen können für den Pflegebedürftigen auch unter Berücksichtigung des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes weiterhin finanziell fordernd sein. Eine zusätzliche Belastung ergibt sich dadurch, dass bei der professionellen Verhinderungspflege der Leistungsbetrag auf 1.612 E für sechs Wochen pro Kalenderjahr beschränkt bleibt. Der monatliche Sachleistungswert hat dagegen bereits bei Pflegegrad 4 einen Gesamtwert von bis zu 1.612 E und bei Pflegegrad 5 sogar von bis zu 1.995 E, § 36 Abs. 3 Nr. 3, Nr. 4 SGB XI n.F. Damit bedeutet die ambulante, professionelle Verhinderungspflege für Pflegebedürftige des Pflegegrades 4 und 5 regelmäßig eine finanzielle Mehrbelastung gegenüber Sachleistungsbeziehern. Auch hinsichtlich der Kurzzeitpflege ergeben sich keine Verbesserungen, wenn nicht sogar Verschlechterungen. Die Kurzzeitpflege bleibt weiterhin auf einen Betrag von 1.612 E für die maximal achtwöchige Dauer beschränkt, § 42 Abs. 2 S. 1, S. 2 SGB XI n.F. Damit kann bei achtwöchiger Inanspruchnahme der Bezug von vollstationärer Pflege ab dem Pflegegrad 3 günstiger sein, vgl. §§ 36 Abs. 3, 43 Abs. 2 S. 2 SGB XI n.F.

212 213

BGBl., Jahrgang 2015, Teil I, S. 2424. Vgl. § 37 Abs. 1 S. 3 Nr. 1, Nr. 2 n.F. und § 124 Abs. 3, Abs. 4 SGB XI.

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

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2. Verbesserte Anreize für die Pflegeperson a) Pflegegeld Der informellen Pflegeperson kommt künftig eine Anerkennung zwischen 10 E bis 30 E täglich für ihre Pflegetätigkeit zu, wenn sie das gesamte Pflegegeld weitergereicht bekommt. Durch die Umstellung auf die neuen Pflegegrade bekommt sie jetzt zwischen 2 E bis 6 E mehr. Bei einer durchschnittlichen Pflegetätigkeit von 30 bis 60 Stunden pro Woche erhält die Pflegeperson damit zwischen 2,30 E und 3,50 E je Pflegestunde.214 Das leicht erhöhte Pflegegeld trägt dazu bei, den Verdienstausfall während einer Pflege- oder Familienpflegezeit besser abzufedern. Dennoch wird es auch weiterhin in der Regel nicht ausreichen, den Ausfall des Arbeitseinkommens zu kompensieren und so die Inanspruchnahme des Darlehens nach dem FPfZG entbehrlich zu machen.215 b) Sozialversicherungsrechtliche Absicherung Informelle Pflegepersonen erhalten Leistungen der Rentenversicherung künftig bereits ab einer mindestens zehnstündigen wöchentlichen Pflege, §§ 44 Abs. 1 S. 1, 19 S. 2 SGB XI n.F. Bei der Ermittlung der Zehn-Stunden-Grenze sind im Einklang mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff nun auch Betreuungsmaßnahmen zu berücksichtigen.216 Zudem findet eine Erhöhung der fiktiven beitragspflichtigen Einnahmen statt. Dies ermöglicht es einer informellen Pflegepersonen fast einen vollen Entgeltpunkt zu erwerben, wenn sie einen Menschen mit dem Pflegegrad 5 für ein Jahr pflegt, vgl. § 166 Abs. 2 S. 1 Nr. 1a n.F. i.V.m. § 70 Abs. 1 SGB VI. Eine solche Pflege wird damit den Kindererziehungszeiten nahezu gleichgestellt.217 Der maximal durch die Pflege erreichbare derzeitige Monatsbetrag der Rente würde 28 E218 betragen, also 5,50 E mehr als nach dem alten § 166 Abs. 2 S. 1 Nr. 1a SGB VI. Liegt ein geringerer Pflegegrad vor, dann wird nach wie vor nur ein Anteil an der Bezugsgröße zugrunde gelegt, vgl. § 166 Abs. 2 SGB VI n.F. Er ist etwas 214 Siehe zu den Angaben der durchschnittlich benötigten Zeit BMG, Abschlussbericht des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes, S. 28 f.; ähnlich auch BMFSFJ, MUG III, S. 78. Dass sich die von nicht erwerbmäßigen Pflegepersonen aufgewendete Zeit durch die Einführung neuer Begrifflichkeiten ändert, erscheint sehr unwahrscheinlich. 215 Siehe zur derzeitigen Bewertung Dritter Teil, Drittes Kapitel, A. II. 3. a). 216 Siehe auch BT-Drucks. 18/5926, S. 130. 217 Durch Kindererziehungszeiten werden 0,9996 EP im Kalenderjahr erworben, durch die Pflege eines Pflegebedürftigen des Pflegegrades 5 unter Zugrundelegung der derzeit aktuellen Zahlen 0,96 EP. Vgl. § 70 Abs. 2 SGB VI, §§ 70 Abs. 1, 166 Abs. 2 Nr. 1a n.F. SGB VI, §§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 1 SV-ReGrV 2016. 218 §§ 64, 70 Abs. 1, 67 Nr. 1, 68, 166 Abs. 2 Nr. 1a n.F. SGB VI. Bei Zugrundelegung der Bezugsgröße und des Durchschnittsentgeltes für das Jahr 2016, vgl. §§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 1 SVReGrV 2016.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

höher als der auf den Pflegestufen basierende Anteil. Dies dürfte jedoch letztlich dem Umstand geschuldet sein, dass einerseits durch die höhere Anzahl an Pflegegraden eine detailliertere Untergliederung erforderlich wird und andererseits keine Differenzierung nach wöchentlicher Pflegestundenzahl mehr stattfindet. Daraus können in erster Linie Pflegepersonen einen Nutzen ziehen, die einen Pflegebedürftigen der jeweiligen Pflegekategorie mit einem möglichst niedrigen Zeitaufwand pflegen. Während sie vorher nur einen geringeren Anteil der Bezugsgröße anerkannt bekamen, erhalten sie nun den einheitlichen Wert nach § 166 Abs. 2 S. 1 SGB VI n.F. Der einem Pflegenden, der eine Person der untersten rentenversicherungsrechtlich relevanten Pflegekategorie betreut, angerechnete Anteil an der Bezugsgröße bleibt fast unverändert bei 27 %, vgl. § 166 Abs. 2 S. 1 Nr. 4a SGB VI n.F. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass es sich um keine entscheidende Verbesserung der rentenversicherungsrechtlichen Absicherung handelt.219 Auch wenn man die Neuberechnung der Rentenansprüche zugrunde legt, profitieren nach wie vor insbesondere diejenigen informellen Pflegepersonen, die vor der Pflege keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sind. Gleiches gilt für Personen, die ihre Erwerbstätigkeit nur auf 30 Stunden reduziert haben und gleichzeitig einen Pflegebedürftigen eines hohen Pflegegrades pflegen. Trotz der Anpassung der fiktiven beitragspflichtigen Einnahmen können sich immer noch Konstellationen ergeben, in denen der zusätzliche durch Pflege erworbene Rentenanspruch den Rentenanspruch nicht ausgleichen kann, der dem Pflegenden durch eine Reduzierung der Arbeitszeit entgeht.220 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Erwerbstätigkeit mit einem hohen Verdienst zugunsten eines Pflegebedürftigen eines unteren Pflegegrades stark reduziert oder gar aufgegeben wird. Die Neuregelung der Arbeitslosenversicherung von Pflegepersonen bewirkt, dass auch bei einer vollständigen Freistellung von der Arbeitsleistung die Versicherungspflicht durchgehend aufrechterhalten wird, vgl. § 26 Abs. 2b SGB III n.F. Davon profitieren Pflegepersonen, die ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen, um einen Pflegebedürftigen auch über die Dauer von sechs Monaten hinaus zu pflegen. Die Neuregelung führt allerdings weiterhin nicht zu einer Gleichstellung der Pflege mit einer Erwerbstätigkeit. Pflegepersonen, die vor der Pflege nicht berufstätig waren, bleibt die Arbeitslosenversicherung nach wie vor verschlossen.221 Der Unfallversicherungsschutz von Pflegepersonen wird insofern ausgedehnt, als künftig sämtliche Pflegetätigkeiten i.S.d. §§ 14 Abs. 2, 18 Abs. 5a S. 3 Nr. 2 SGB XI n.F. vom Versicherungsschutz umfasst sind, vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 17 SGB VII n.F. Ob diejenigen Pflegetätigkeiten, die über den Bereich der Körperpflege hinausgehen, überwiegend dem Pflegebedürftigen zugutekommen, ist nicht 219

Ebenso spricht auch die Gesetzesbegründung nicht von einer Verbesserung, sondern lediglich von einer Neugestaltung der rentenversicherungsrechtlichen Absicherung der Pflegepersonen. Vgl. BT-Drucks. 18/5926, S. 63 f. 220 Vgl. Dritter Teil, Drittes Kapitel, A. II. 3. b) cc). 221 Siehe hierzu auch BT-Drucks. 18/5926, S. 146.

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

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mehr entscheidend.222 Allerdings wird der Unfallversicherungsschutz gleichzeitig dadurch eingeschränkt, dass künftig auch hierfür eine Mindestpflegezeit von zehn Stunden wöchentlich vorausgesetzt wird.223 3. Resümee Das Zweite Pflegestärkungsgesetz bringt Verbesserungen sowohl für die Pflegebedürftigen als auch für die Pflegepersonen mit sich. Allerdings beinhaltet es ebenfalls keine ausschlaggebenden Anreize für die Wahl ausschließlich ambulanter, informeller Pflege. Das erhöhte Pflegegeld und die Neuregelung der sozialversicherungsrechtlichen Absicherung der Pflegeperson führen nicht dazu, die bislang mit einer solchen Pflege verbundenen Nachteile zu überwinden. In bestimmten Bereichen wirken sie sich sogar nachteilig aus, beispielsweise durch die Einführung einer zeitlichen Mindestvoraussetzung für den Unfallversicherungsschutz.

II. Anreize der Leistungen für die ausschließlich ambulante, professionelle Pflege 1. Eigenkosten Der Wert der Pflegesachleistungen steigt mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz durchschnittlich ebenfalls an. Pflegebedürftige des Pflegegrades 2 erhalten Pflegesachleistungen bis zum einem Gesamtwert i.H.v. 689 E, bei Pflegegerad 3 bis zu einem Gesamtwert i.H.v. 1.298 E, bei Pflegegrad 4 bis zu einem Gesamtwert i.H.v. 1.612 E und bei Pflegegrad 5 bis zu einem Gesamtwert i.H.v. 1.995 E. Damit können Personen weitere Pflegesachleistungen abrufen, die zuvor keine zusätzlichen Leistungen wegen eines erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarfs bezogen haben und solche, die aufgrund des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs in einen höheren Pflegegrad eingestuft werden.224 Zudem ist die pflegerische Betreuung künftig gleichwertiger Leistungsbestandteil der Pflegesachleistungen. Die Eigenkosten der ambulanten, professionellen Pflege müssen insbesondere im Vergleich zu denjenigen der stationären Pflege einer Neubewertung unterzogen werden. Denn die Leistungsbeträge für die vollstationäre Pflege werden weitgehend denjenigen der Pflegesachleistungen angeglichen. Sie liegen mit 770 E bei Pflegegrad 2, 1.775 E bei Pflegegrad 4 und 2.005 E bei Pflegegrad 5 nur unbedeutend über den Pflegesachleistungsbeträgen. Bei Pflegegrad 3 ist der Leistungsbetrag mit 1.262 E sogar etwas niedriger als der entsprechende Pflegesachleistungsbetrag, vgl. §§ 43 Abs. 2 S. 2, 36 Abs. 3 SGB XI n.F. Die Angleichung der Leistungsbeträge ist 222 223 224

Vgl. zur derzeitigen Lage Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. III. 4. a) aa). Vgl. BT-Drucks. 18/5926, S. 151. Vgl. auch BT-Drucks. 18/5926, S. 122.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

nur konsequent, da die ambulante, professionelle Pflege mindestens ähnlich kostenintensiv ist wie die vollstationäre Pflege.225 Damit sorgt die Angleichung für eine weitergehende finanzielle Gleichstellung von ambulanter, professioneller und vollstationärer Pflege. Hinzu kommt, dass allein für die stationäre Pflege in den §§ 92c ff. SGB XI n.F. eine Neuverhandlung der Pflegesätze vorgesehen ist. Entscheidend bei den neuen Pflegesätzen ist, dass in Zukunft ein einrichtungseinheitlicher Eigenanteil für die vollstationäre Pflege festgelegt wird, vgl. § 84 Abs. 2 S. 3 SGB XI n.F. Alle Pflegebedürftigen der Pflegegrade 2 bis 5 haben sich unabhängig von ihrem Pflegegrad mit einem gleich hohen Eigenbetrag je Einrichtung an den Kosten ihrer vollstationären Versorgung zu beteiligen.226 Davon profitieren insbesondere Pflegebedürftige hoher Pflegegrade. Für Personen dieser Pflegegrade, die sich ambulant, professionell pflegen lassen, existiert dagegen keine solche Kostenumverteilung. Es besteht nach wie vor die Gefahr, dass sie mit einer hohen Eigenbeteiligung an den Pflegekosten stark belastet werden und zusätzlich noch die Kosten für Unterkunft und Verpflegung schultern müssen. Die Vereinheitlichung und dadurch auch stärkere Kontrolle des Eigenanteils bei der vollstationären Pflege kann so insbesondere in den hohen Pflegegraden zu einem Vorteil zugunsten dieser Pflegeform führen. 2. Ergänzende und zusätzliche Leistungen Die Anreize, die die ergänzenden und zusätzlichen Leistungen zur Inanspruchnahme einer reinen ambulanten, informellen Pflege setzen, werden nicht wesentlich verstärkt.227 Mit den Mehrleistungen i.H.v. 21 E gem. § 45b SGB XI n.F. können die Pflegebedürftigen schätzungsweise zwei bis drei Stunden zusätzliche Angebote zur Unterstützung im Alltag (vormals niedrigschwellige Betreuungsangebote) in Anspruch nehmen.228 Aufgrund des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs werden die Leistungen für Personen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf hinfällig. In Zukunft ist die soziale Betreuung für alle Pflegebedürftigen Bestandteil der Regelleistungen und vom Volumen der Grundleistungen mitumfasst. Für die stationäre Pflege wird dagegen das zusätzliche Leistungsvolumen für weitere Betreuungskräfte neben den Grundleistungen nach § 43 SGB XI beibehalten, vgl. § 43b SGB XI n.F. Den Vergütungszuschlag trägt weiterhin die Pflegekasse.229 Dies ist ebenfalls ein Aspekt zugunsten der stationären Pflege.

225 226 227 228 229

Siehe Dritter Teil, Drittes Kapitel, B. I. 2. b). Vgl. dazu auch BT-Drucks. 18/5926, S. 137. Siehe zur bisherigen Bewertung Dritter Teil, Drittes Kapitel, A. I. 2. Vgl. Dritter Teil, Drittes Kapitel, B. II. Siehe hierzu auch BT-Drucks. 18/5926, S. 128.

3. Kap.: Anreize zur Inanspruchnahme ambulanter Pflege

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3. Resümee Auch unter Einbeziehung des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes bieten die Leistungen nach wie vor keinen besonderen Anreiz zur Wahl einer ausschließlich ambulanten, professionellen Pflege. Entscheidende Änderungen des Leistungsrechts hinsichtlich dieser Pflegeform werden nicht vorgenommen. Die Problematik der hohen Eigenkosten besteht fort. Die Angleichung der Beträge für die Pflegesachleistungen und für die vollstationäre Pflege verschafft der ambulanten, professionellen Pflege allenfalls eine Gleichstellung mit der vollstationären Pflege. Durch die Einführung einrichtungseinheitlicher Eigenanteile für die vollstationäre Pflege findet eine Begrenzung und verstärkte Kontrolle der Eigenkosten statt. Bei der ambulanten, professionellen Pflege ist das nicht der Fall. Dies birgt insbesondere bei den hohen Pflegegraden die Gefahr, dass die Eigenkosten für die ambulante, professionelle Pflege diejenigen für die vollstationäre Pflege in Zukunft noch deutlicher übersteigen können.

III. Anreize der Leistungen für die ambulante, kombinierte Pflege Die Neuerungen im Leistungsrecht setzen sich in gleicher Weise bei der ambulanten, kombinierten Pflege als einer Mischform aus den ambulanten Grundleistungen fort, erweitert um die ergänzenden und zusätzlichen Leistungen. Insofern ist auch hier unter Einbeziehung des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes keine grundlegende Neubewertung erforderlich.230 Von Bedeutung für die ambulante, kombinierte Pflege ist, dass durch die Senkung des Mindestzeitaufwands für die wöchentliche Pflege von 14 auf 10 Stunden der Zugang zur sozialen Sicherung von nur anteilig Pflegenden erleichtert wird, vgl. § 19 S. 2 SGB XI n.F. Gleichzeitig begrenzt man die rentenversicherungsrechtliche Absicherung von nur anteilig pflegenden Pflegepersonen. Während es vorher allein auf den Zeitaufwand ankam, entscheidet in Zukunft, welche Grundleistungen der Pflegebedürftige bezieht. Erhält der Pflegebedürftige Kombinationsleistungen gem. § 38 SGB XI, wird der Pflegeperson gegenüber einem reinen Pflegegeldbezug nur ein geringerer Anteil der Bezugsgröße als fiktive Einnahmen zuerkannt. Bezieht der Pflegebedürftige ausschließlich Pflegesachleistungen und wird die informelle Pflegeperson darüber hinaus pflegend tätig, sinkt der Anteil an der Bezugsgröße noch weiter, vgl. § 166 Abs. 2 SGB VI n.F.

230

Siehe insoweit Dritter Teil, Drittes Kapitel, C.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

IV. Fazit Das Zweite Pflegestärkungsgesetz bringt neben den erforderlichen Anpassungen aufgrund des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs auch leistungsrechtliche Verbesserungen mit sich. Solche finden sich einerseits für die ambulanten Pflegeformen. So werden die ambulanten Grundleistungen durch die Einbeziehung der pflegerischen Betreuung als Regelleistung für den Großteil der Pflegebedürftigen erhöht. Es findet eine Angleichung zwischen den Pflegesachleistungsbeträgen und den Leistungsbeträgen bei vollstationärer Pflege statt. Die soziale Sicherung von Pflegepersonen wird erweitert. Andererseits stärkt das Zweite Pflegestärkungsgesetz aber ebenso die vollstationäre Pflege, etwa durch die Vereinheitlichung der Eigenkosten je stationärer Pflegeeinrichtung und dem Fortbestehen der Vergütungszuschläge für zusätzliches Betreuungspersonal. Damit führt auch das Zweite Pflegestärkungsgesetz nicht zu einer deutlichen Begünstigung der ambulanten Pflege.

E. Schlussfolgerung Das Leistungsrecht setzt trotz der Vielfalt an Leistungen und der hervorgehobenen Stellung der ambulanten Pflege keine eindeutigen Anreize zugunsten der ambulanten Pflege. Vielmehr ist das Leistungsangebot derart, dass sich für alle Pflegeformen Vor- und Nachteile finden lassen. Für die ambulanten Pflegeformen spricht vor allem die Option, dass der Pflegebedürftige in vertrauter Umgebung bleiben kann. Die ambulante, informelle Pflege durch eine vertraute Person spart dem Pflegebedürftigen Eigenkosten. Die ambulante, professionelle Pflege gewährleistet dagegen eine höhere Sicherung der Pflegequalität. Die ambulante, kombinierte Pflege vereint diese beiden positiven Aspekte. Sowohl die ambulante, informelle als auch die ambulante, kombinierte Pflege setzen eine zur Pflegeübernahme bereite Person voraus, für die selbst nur ungenügende leistungsrechtliche Anreize bestehen. Alle ambulanten Pflegeformen fordern von den Gepflegten und den Pflegenden einen hohen Grad an Organisation und Koordination. Die vollstationäre Pflege bietet demgegenüber eine professionelle Vollversorgung aus einer Hand, für die dem Pflegebedürftigen je nach Einzelfall keine höheren Eigenkosten entstehen als bei einer ambulanten Pflege. Auch unter Einbeziehung des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes sorgt das Leistungsrecht im Kern allein für eine Gleichstellung der Pflegeformen und schafft für diese alle notwendigen Mindest- und Grundvoraussetzungen. Hinzu kommt, dass für die Pflegeformwahl nicht nur die leistungsrechtliche Attraktivität ausschlaggebend ist, sondern sie wird von weiteren Faktoren beeinflusst. Der Entscheidungsprozess wird nicht unwesentlich von den individuellen Umständen, Vorstellungen und der individuellen Lebenslage des Pflegebedürftigen

4. Kap.: Beeinflussung durch die Infrastruktur

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geprägt.231 Dazu gehören u. a. die Lebensumfeldgestaltung, die Pflegebereitschaft einer informellen Pflegeperson, die individuelle Pflegesituation des Pflegebedürftigen, die emotionale Ablehnung des Pflegeheims sowie seine Wahrnehmung als „Endstation“.232 Ob die Pflegebedürftigen die ambulante Pflege wählen, wird also nicht entscheidend durch die Ausgestaltung des Leistungsrechts beeinflusst.

Viertes Kapitel

Beeinflussung der Inanspruchnahme ambulanter Pflege durch die Infrastruktur Neben Anreizen im Leistungssystem besteht die Möglichkeit, dass die Infrastruktur die tatsächliche Inanspruchnahme der verschiedenen Pflegeformen beeinflusst. Durch ein vielfältiges Angebot im ambulanten Bereich könnte die ambulante Pflege besonders gegenüber den anderen Pflegearten gefördert werden.233 Die ambulante, informelle Pflege ist jedenfalls im Kern von einer Förderung durch die Infrastruktur ausgenommen. Entscheidend ist der Wille der Pflegepersonen, der allenfalls punktuell durch entlastende, infrastrukturelle Maßnahmen beeinflusst werden kann. Für den ambulanten, professionellen Bereich belegen die Zahlen einen Anstieg der Pflegedienste im Zeitraum zwischen 1999 bis Ende 2013 von anfänglich 10.820 auf 12.745.234 Gleichzeitig nahm die Anzahl der Personen, die Leistungen der ambulanten Pflegedienste in Anspruch nahmen, von rund 415.000 auf rund 616.000 zu.235 Daraus könnte man schließen, dass der Ausbau der Infrastruktur im ambulanten Bereich mehr Pflegebedürftige zur Wahl ambulanter Pflegesachleistungen bewogen hat.236 Umgekehrt könnte die verstärkte Nachfrage nach Pflegesachleistungen die Entstehung von mehr ambulanten Pflegediensten bedingt haben.237 Dass der Nachfrage ein besonderer Stellenwert auf dem Pflegemarkt zukommt, zeigt § 9 SGB XI. Indem die Pflegeversicherung in das Leistungserbringungsrecht regelnd

231

Vgl. Schulz-Nieswandt, in: Fachinger/Rothgang, S. 104. Siehe Schulz-Nieswandt, SF 1989, S. 181 ff.; Rieben, Kosten in der offenen und geschlossenen Altershilfe, S. B 128, S. D 7; Rothgang, Ziele und Wirkungen der Pflegeversicherung, S. 114 ff, S. 126. 233 Vgl. hierzu auch Mettler-Meibom/Häberle, SF 1983, S. 45. 234 Siehe Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2013, S. 28 f. 235 Vgl. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2013, S. 28 f. 236 Vgl. BARMER GEK, Pflegereport 2014, S. 94 f. Vgl. zum Zusammenhang von Angebot und Nachfrage auch Giese, ZfSH/SGB 1984, S. 199. 237 Vgl. hierzu auch Maschmann, NZS 1993, S. 156; Naegele/Igl, SozSich 1993, S. 241. 232

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

eingreift, wird der Pflegemarkt nicht frei dem Angebot und der Nachfrage überlassen. Angebot und Nachfrage im stationären Bereich sind im gleichen Zeitraum ebenfalls stark angestiegen, was gegen die Annahme spricht, dass die Länder dem Ausbau der ambulanten, professionellen Infrastruktur besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben und dadurch die Nachfrage in diesem Bereich bedeutend positiv beeinflusst haben.238 Die Länder sind im Rahmen des § 9 S. 1 SGB XI verpflichtet, auch eine zahlenmäßig ausreichende stationäre Versorgungsstruktur vorzuhalten. Während 1999 noch 8.859 Pflegeheime zur Verfügung standen, waren es Ende 2013 bereits 13.030.239 Ebenso nahm die Zahl stationär Gepflegter von rund 563.000 auf 764.000 zu.240 Dies zeugt davon, dass die Länder mit dem Ausbau der Infrastruktur generell auf die zunehmende Nachfrage nach professionellen Pflegeleistungen aufgrund der demographischen Entwicklung reagiert haben. Eine Beeinflussung der Pflegeformwahl zugunsten ambulanter Pflege findet auch nicht dadurch statt, dass tatsächlich zu wenig stationäre Pflegeeinrichtungen zur Verfügung stehen. Sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich steht eine ausreichende Infrastruktur zur Verfügung. Dass die Nachfrage im ambulanten Bereich bislang nicht das Angebot überstieg, wird daran deutlich, dass der Neugründung von ambulanten Pflegediensten im Zeitverlauf eine nicht unbeachtliche Zahl von Schließungen gegenüberstand.241 Zudem wurde im Rahmen der MUG III-Studie242 eine ausreichende Infrastruktur im Bereich der ambulanten Pflegedienste festgestellt.243 Auch im stationären Bereich überstieg die Nachfrage seit 1977 nicht das Angebot.244 So betrug die Auslastung stationärer Pflegeeinrichtungen 2013 rund 90 %.245 Mithin steht die Infrastruktur der Wahl ambulanter Pflege nicht im Wege, sie unterstützt sie jedoch auch nicht in besonderer Weise. Sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich existiert eine ausreichende Infrastruktur. Die Pflegeformwahl wird also hiervon nicht entscheidend beeinflusst.

238

Vgl. hierzu auch BARMER GEK, Pflegereport 2014, S. 19, S. 100; Rothgang, Ziele und Wirkungen der Pflegeversicherung, S. 72. 239 Siehe Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2013, S. 28 f. 240 Vgl. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2013, S. 28 f. 241 Siehe BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 72. 242 3. Studie des BMFSFJ zu den Möglichkeiten und Grenzen selbstständiger Lebensführung, 2005. 243 Vgl. BMFSFJ, MUG III, S. 81. 244 Siehe Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2013, S. 28 f.; BMFSFJ, MUG IV, S. 157. 245 Siehe Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2013, S. 22.

5. Kap.: Heutige Rechtfertigung des Vorranggrundsatzes

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Fünftes Kapitel

Heutige Rechtfertigung des Vorranggrundsatzes Zu hinterfragen ist auch, inwieweit sich für die dem Vorranggrundsatz immanente Fokussierung auf die ambulante Pflege heute überhaupt noch Gründe finden lassen. Es erscheint zweifelhaft, ob die Gründe, die für die Einführung des Vorranggrundsatzes angeführt wurden, noch herangezogen werden können. Das Argument der Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung und das Normalisierungsprinzip müssten auch heute noch dazu geeignet sein, den Vorranggrundsatz zu rechtfertigen; einmal unterstellt, dass sie es jemals konnten.

A. Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung Das Kostenargument spricht nur dann für die Beibehaltung des Vorranggrundsatzes, wenn der Pflegeversicherung durch die ambulante Pflege tatsächlich geringere Kosten entstehen als durch die stationäre. Dass dem ursprünglich bei Einführung der Pflegeversicherung so gewesen sein mag246, heißt nicht, dass die Kostenrechnung auch heute noch aufgeht. Denn seit Einführung der Pflegeversicherung fand eine Ausdehnung der Leistungen im ambulanten Bereich statt.247 Entstünden der Pflegeversicherung für die ambulante Pflege stets geringere Kosten, wäre der Vorrang ambulanter Pflege ohnehin Ausfluss des Wirtschaftlichkeitsgebots gem. §§ 29, 3 Abs. 3 SGB XI.248 Denn wirtschaftlich im engeren Sinne sind nur die Leistungen, die zur Erreichung des Erfolgs die günstigste KostenNutzen-Bilanz aufweisen.249 Die Kostenbetrachtung beschränkt sich dabei auf die der Pflegeversicherung entstehenden Kosten. Unberücksichtigt bleiben die den Ländern entstehenden Infrastrukturausgaben (§ 9 S. 2 Nr. 2) und damit der zweite Teil des dualen Finanzierungssystems.250 Infrastrukturkosten können nicht nur für stationäre, sondern 246 Allerdings wurde bereits im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes die Stichhaltigkeit des Kostenarguments bezweifelt. Siehe hierzu Giese, ZfSH/SGB 1984, S. 199. 247 Siehe hierzu auch Zweiter Teil, Drittes Kapitel, E. 248 Das Wirtschaftlichkeitsgebot der Pflegeversicherung ist entsprechend demjenigen in der gesetzlichen Krankenversicherung gem. § 12 SGB V ausgestaltet. Unterschiede werden allerdings insofern sichtbar, als die Pflegeversicherung nicht als Vollversicherung konzipiert ist und die konkreten Leistungen bereits weitgehend durch das Gesetz vorgegeben werden. Siehe hierzu näher Leitherer, in: KassKomm, SGB XI, § 29 Rn. 3, Rn. 6; Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 29 Rn. 2; Reissenberger/Safadi, in: Krauskopf, SGB XI, § 29 Rn. 3 f. 249 Vgl. Leitherer, in: Schulin, Pflegeversicherung, § 15 Rn. 92; Hauck, in: Schlegel/ Voelzke/Hauck, SGB XI, § 29 Rn. 41 f. 250 Siehe zum dualen Finanzierungssystem auch BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 17. 10. 2007, Az 2 BvR 1095/05. Vgl. auch Leitherer, in: KassKomm, SGB XI, § 82 Rn. 3.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

ebenso für ambulante Pflegeeinrichtungen anfallen, vgl. § 82 Abs. 2 SGB XI. Dementsprechend kann eine finanzielle Unterstützung von den Ländern nicht nur für Pflegeheime vorgesehen werden251, sondern auch für ambulante Pflegedienste252. Nicht oder nicht vollständig nach Landesrecht geförderte ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen sind zudem befugt, betriebsnotwendige Investitionskosten auf die Pflegebedürftigen umzulegen, § 82 Abs. 3, Abs. 4 SGB XI. Überdies sind die Infrastrukturkosten nur schwer zu beziffern und liegen nicht in verwertbarer Form vor.

I. Kosten der Pflegeversicherung für die ambulante und die stationäre Pflege Bei dem Kostenvergleich kann es nicht darauf ankommen, welche Kosten für eine Pflegeform insgesamt entstehen253, sondern nur auf diejenigen, die sich für die Pflegeversicherung ergeben. Nur sie können ausschlaggebend dafür sein, die Kosten der Pflegeversicherung möglichst niedrig zu halten, die begrenzten finanziellen Mittel optimal zu nutzen und so die Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung zu sichern. Die Ausgabenstatistiken der Pflegeversicherung lassen einen ersten Schluss auf die Kostenbelastung für die verschiedenen Pflegeformen zu. Danach entstanden der Pflegeversicherung im Jahr 2013 für die ambulante Pflege Ausgaben i.H.v. 11,52 Mrd. E (12,21 Mrd. E inkl. teilstationärer Pflege und Kurzzeitpflege) und für die stationäre Pflege i.H.v. 10,64 Mrd. E.254 Während mit den Ausgaben für die ambulante Pflege jedoch ca. 1,69 Mio. Pflegebedürftige versorgt wurden, fielen die Ausgaben für die stationären Leistungen für nur rund 654.000 Pflegebedürftige an, also nur knapp einem Drittel an Pflegebedürftigen gegenüber den ambulant Versorgten.255 Dass die Kosten je ambulant Gepflegtem deutlich geringer ausfallen, liegt möglicherweise daran, dass im ambulanten Bereich von den Leistungsberechtigten nicht alle gewährten Leistungen ausgeschöpft werden. Bei der stationären Pflege ist dies aufgrund des einen, sämtliche Pflegeleistungen umfassenden einheitlichen Leistungsbetrags gem. § 43 Abs. 2 S. 2 SGB XI dagegen stets der Fall. Ein differenziertes Bild über die möglichen Kosten der Pflegeformen ergibt sich insofern erst, wenn sämtliche Ausgaben in den Vergleich einbezogen werden, die der Pflegeversicherung je ambulant Gepflegtem entstehen können. 251

Vgl. bspw. § 5 LPflG BW, §§ 7 NPflegeG, § 11 APG NRW. Vgl. § 9 NPflegeG, § 12 APG NRW. 253 Vgl. zu den insgesamt entstehenden Kosten Dritter Teil, Drittes Kapitel, A. I. 1. a); Dritter Teil, Drittes Kapitel, B. I. 2. 254 Vgl. BARMER GEK, Pflegereport 2014, S. 121. 255 Vgl. BARMER GEK, Pflegereport 2014, S. 60. 252

5. Kap.: Heutige Rechtfertigung des Vorranggrundsatzes

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1. Kosten für die ambulanten Grundleistungen Ausgehend von den Grundleistungen bleiben die Kosten der Pflegekasse für die ambulante, informelle Pflege hinter denjenigen einer vollstationären Pflege zurück. Das Pflegegeld beträgt bei Pflegestufe I mit 244 E nicht einmal ein Viertel, bei Pflegestufe II mit 458 E knapp ein Drittel und bei Pflegestufe III mit 728 E weniger als die Hälfte des Leistungsbetrags bei einer stationären Pflege.256 Zudem kann der Leistungsbetrag für die stationäre Pflege bei Vorliegen eines Härtefalls weiter steigen, was beim Pflegegeld nicht möglich ist.257 Allerdings bleiben die bereits heute bestehenden Zweifel an der Legitimation des Pflegegeldes zu bedenken. Zum einen gelingt es kaum, den Zweck zur ambulanten Pflege anzuregen, tatsächlich zu erfüllen.258 Zum anderen ist infrage zu stellen, inwiefern die Pflegeversicherung ein zweckungebundenes Pflegegeld gewähren darf, ohne in Konflikt mit ihrer gesetzlichen Aufgabe der Ressourcenumverteilung zum Zwecke der Bewältigung von Pflegebedürftigkeit zu geraten.259 Auch wenn die Leistungsbeträge verhältnismäßig gering sind, können der Pflegekasse dadurch Ausgaben entstehen, ohne dass diese tatsächlich der Sicherstellung der Pflege dienen. Denn der Pflegebedürftige kann das Pflegegeld bei einer ohnehin sichergestellten Pflege für jegliche seiner sonstigen, auch völlig pflegeunabhängigen Belange einsetzen, wie z. B. zur Aufbesserung seines Haushaltseinkommens. Bei der ambulanten, professionellen Pflege fallen die von der Pflegekasse übernommenen Kosten nur bei Pflegestufe I mit 468 E deutlich geringer aus als diejenigen bei vollstationärer Pflege. Bei Pflegestufe II ist der Kostenunterschied mit einem Pflegesachleistungsbetrag von 1.144 E nur noch gering, ab Pflegestufe III (ggf. mit Härtefall) sind die Leistungsbeträge mit 1.612 E (1.995 E) identisch.260 Bei einer ambulanten, kombinierten Pflege bewegen sich die Kosten der Pflegekasse zwischen denjenigen für eine ausschließlich informelle und eine ausschließlich professionelle, ambulante Pflege. Die Kosten für die ambulanten Grundleistungen fallen mithin noch überwiegend geringer aus als die Aufwendungen für die vollstationäre Pflege. 2. Kosten für die ergänzenden und zusätzlichen Leistungen Es entstehen zusätzlich Ausgaben für die Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernden Maßnahmen gem. § 40 SGB XI.261 Die Kosten für die zum Verbrauch 256

Vgl. § 37 Abs. 1 S. 3 und § 43 Abs. 2 S. 2 SGB XI. Vgl. § 43 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 SGB XI. 258 Siehe Dritter Teil, Drittes Kapitel, A. I. 1. Siehe auch Schütte, NDV 2007, S. 213 ff. 259 Vgl. Klie/Siebert, RDHL 2006, S. 65; Schütte, NDV 2007, S. 217 f.; Arntz/Spermann, SF 2005, S. 182. 260 Vgl. § 36 Abs. 3 und § 43 Abs. 2 S. 2 SGB XI. 261 Siehe zu diesen auch Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. II. 3. a). 257

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

bestimmten Hilfsmittel betragen 40 E pro Monat. Außerdem ergeben sich Ausgaben für die leihweise Überlassung der technischen Hilfsmittel, die allerdings schwer zu beziffern sind. Für Zuschüsse für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen i.H. der 4.000 E kommen 111 E monatlich hinzu, wenn man den Betrag einmalig in Anspruch nimmt und von einer durchschnittlichen Pflegezeit von drei Jahren262 ausgeht. Der Pflegekasse entstehen für jeden Pflegebedürftigen weitere Ausgaben für zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen i.H.v. 104 E monatlich.263 Kommt erheblicher allgemeiner Betreuungsbedarf hinzu, können sie 208 E betragen. Außerdem erhöhen sich dann bei Pflegestufe I und II die Kosten für das Pflegegeld um 72 E bzw. 87 E. Die Ausgaben bei Pflegesachleistungsbezug steigen dagegen um 221 E (Pflegestufe I) bzw. 154 E (Pflegestufe II). Bei Pflegestufe 0 entsteht ein Anspruch auf Pflegegeld i.H.v. 123 E, auf Pflegesachleistungen i.H.v. 231 E und auf ergänzende und zusätzliche Leistungen.264 Weitere Mehrausgaben i.H.v. 205 E monatlich und ggf. der einmaligen Gründungspauschale von 2.500 E pro Pflegebedürftigen ergeben sich, wenn der Pflegebedürftige in einer ambulant betreuten Wohngruppe lebt.265 Wird die ambulante Pflege durch teilstationäre Pflege ergänzt oder durch Kurzzeitpflege überbrückt, steigen die Ausgaben der Pflegekasse deutlich an. Die Leistungen der teilstationären Pflege i.H.v. 468 E, 1.144 E oder 1.612 E monatlich hat die Pflegekasse zusätzlich zum vollen Pflegegeld, bzw. den vollen Pflegesachleistungen, zu gewähren.266 Der Betrag i.H.v. 1.612 E bei Kurzzeitpflege tritt dagegen an die Stelle der Pflegesachleistungen. Das Pflegegeld wird jedoch hälftig weitergewährt.267 Auf das Jahr umgerechnet entstehen für die Kurzzeitpflege insofern Kosten i.H.v. 134 E pro Monat. Wird die Kurzzeitpflege neben Pflegegeld bezogen, fallen Kosten i.H.v. 145 E (Pflegestufe I), 153 E (Pflegestufe II) bzw. 165 E (Pflegestufe III) monatlich an. Ausgehend von einer einmaligen Inanspruchnahme von Kurzzeitpflege pro Pflegebedürftigen und einer durchschnittlichen dreijährigen Pflegedauer belaufen sich die Kosten auf 45 E monatlich. Bei Bezug von Pflegegeld betragen sie 48 E (Pflegestufe I), 51 E (Pflegestufe II) bzw. 55 E (Pflegestufe III) monatlich.268 262

Vgl. Preis/Nehring, NZA 2008, S. 733; Glatzel, NJW 2009, S. 1378. Siehe zu den zusätzlichen Betreuungs- und Entlastungsleistungen Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. II. 3. b). 264 Siehe Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. II. 4. b). 265 Vgl. zu diesen Leistungen Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. II. 4. a). 266 Siehe § 41 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 SGB XI. Siehe zur teilstationären Pflege auch Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. II. 3. c). 267 Siehe § 42 Abs. 2 S. 2, § 37 Abs. 2 S. 2 SGB XI. 268 Unberücksichtigt bleibt hier die Möglichkeit, alternativ zu einer Kurzzeitpflege den hälftigen Leistungsbetrag der Kurzzeitpflege, d. h. 806 E jährlich, für die Verhinderungspflege einzusetzen. Eine mehr als nur alle drei Jahre einmalige Inanspruchnahme der Mittel ist durchaus denkbar. 263

5. Kap.: Heutige Rechtfertigung des Vorranggrundsatzes

123

3. Besondere Kosten für die ambulante, informelle Pflege Schließlich erwachsen der Pflegekasse bei der ambulanten, informellen Pflege zusätzliche Ausgaben. Dies sind zum einen die Kosten der Verhinderungspflege. Bei der Verhinderungspflege durch eine ehrenamtliche Pflegeperson entstehen Kosten i.H. des eineinhalbfachen Pflegegeldes.269 Hinzu können weitere Beträge für notwendige Aufwendungen kommen.270 Bei einer professionellen Verhinderungspflege fallen Aufwendungen i.H.v. 1.612 E pro Kalenderjahr und i.H. des hälftigen Pflegegeldes an.271 Auf einen monatlichen Betrag umgerechnet ergeben sich so bei einer erwerbsmäßigen Verhinderungspflege Kosten i.H.v. 145 E (Pflegestufe I) bzw. 153 E (Pflegestufe II) bzw. 165 E (Pflegestufe III). Bei einer informellen Verhinderungspflege betragen die Kosten 41 E (Pflegestufe I) bzw. 76 E (Pflegestufe II) bzw. 121 E (Pflegestufe III). Außerdem entstehen Kosten für die soziale Sicherung der Pflegeperson. Es handelt sich um die Beiträge zur Rentenversicherung und zur Arbeitslosenversicherung sowie die Zuschüsse zur Kranken- und Pflegeversicherung während einer Pflegezeit.272 Für die Rentenversicherung hat die Pflegekasse je nach Pflegeumfang und Pflegestufe monatliche Beiträge i.H.v. mindestens 145 E und maximal 435 E zu entrichten.273 Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung während der maximal sechsmonatigen Pflegezeit betragen 8,70 E monatlich274, die Zuschüsse zur Krankenund Pflegeversicherung 141 E275 bzw. 23 E276.277 Umgelegt auf eine durchschnittlich 269 Dabei wird der Verhinderungspflegeperson allerdings Pflegegeld für sechs Wochen gezahlt, der verhinderten Pflegeperson nur für vier Wochen das hälftige Pflegegeld weitergewährt. Vgl. §§ 39 Abs. 2 S. 1, 37 Abs. 2 S. 2 SGB XI. 270 Siehe zu den möglichen Aufwendungen von Pflegepersonen Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. III. 2. a). 271 Vgl. § 39 Abs. 1 S. 3, Abs. 2, § 37 Abs. 2 S. 2 SGB XI. 272 Vgl. § 44 Abs. 1 S. 1 SGB XI i.V.m. § 170 Abs. 1 Nr. 6 SGB VI; § 44a Abs. 2 i.V.m. §§ 26 Abs. 2b, 347 Nr. 10a SGB III; § 44a Abs. 1 SGB XI. Die Kosten für das Pflegeunterstützungsgeld bleiben insofern unberücksichtigt, da die Akutpflege keine ambulante, nicht erwerbsmäßige Pflege im eigentlichen Sinne ist. Vgl. Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. III. 4. b) aa) (1). 273 Diese Beträge ergeben sich bei einer Zugrundelegung des für das Jahr 2016 geltenden Beitragssatzes und der Bezugsgröße. Bei Pflegestufe I und mindestens 14 Stunden wöchentlicher Pflege beträgt der Beitrag 145 E. Bei Pflegestufe II und 14 Stunden wöchentlicher Pflege beläuft er sich auf 193 E, ab mindestens 21 Stunden wöchentlicher Pflege auf 290 E. Bei Pflegestufe III und 14 Stunden wöchentlicher Pflege erreicht der Beitrag 217 E, ab mindestens 21 Stunden wöchentlicher Pflege 326 E und ab mindestens 28 Stunden wöchentlicher Pflege 435 E. Siehe §§ 157, 158, 161, 166 Abs. 2 SGB VI. 274 Vgl. §§ 341, 345 Nr. 8, 347 Nr. 10 SGB III. Dieser Betrag ergibt sich bei Zugrundelegung der Bezugsgröße für das Jahr 2016, vgl. § 2 Abs. 1 SV-ReGrV 2016. 275 Ausgehend von der Annahme, dass von der Krankenkasse kein kassenindividueller Zusatzbeitrag gem. § 242 SGB V erhoben wird. 276 Ohne Berücksichtigung des Beitragszuschlags für Kinderlose gem. § 55 Abs. 3 S. 1 SGB XI.

124

3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

dreijährige Pflegedauer ergeben sich monatliche Kosten für die Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung pro Pflegeperson eines Pflegebedürftigen i.H.v. 29 E. Daneben sind auch die Kosten der Pflegekurse gem. § 45 SGB XI für die ehrenamtlichen Pflegepersonen von den Pflegekassen zu tragen.278

4. Kosten für die stationäre Pflege Die Kosten für die stationäre Pflege sind dagegen auf die Beträge gem. § 43 Abs. 2 S. 2 SGB XI beschränkt. Sie betragen 1.064 E bei Pflegestufe I, 1.330 E bei Pflegestufe II und 1.612 E bei Pflegestufe III bzw. 1.995 E bei Vorliegen eines Härtefalls. Einzig hinzu können Zuschüsse gem. § 87b SGB XI für die zusätzliche Betreuung und Aktivierung stationär Gepflegter kommen.279 Für diese hat die Pflegeversicherung im Jahr 2013 580 Mio. E ausgegeben.280 Ausgehend davon, dass Grundlage der Vergütungszuschläge je Anspruchsberechtigten gem. § 87b Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB XI der zwanzigste Teil der Personalaufwendungen für eine zusätzliche Vollzeitkraft ist, ergibt sich bei Annahme eines durchschnittlichen monatlichen Gehalts in der Pflege von ca. 2.500 E281 ein Vergütungszuschlag von 125 E monatlich pro Pflegebedürftigen. Damit erhöhen sich die Gesamtausgaben bei stationärer Pflege auf 1.189 E, 1.455 E, 1.737 E bzw. 2.210 E. Tabelle 2 Monatliche Kosten der ambulanten, informellen Pflege Pflegestufe 0 Pflegestufe I Pflegestufe II Pflegestufe III Pflegegeld

123 E

244 E

458 E

728 E

Pflegehilfsmittel & Wohnumfeldverbesserung

151 E

151 E

151 E

151 E

Zusätzl. Betreuungsund Entlastungs104 E leistungen

104 E

104 E

104 E

Kurzzeitpflege

46 E

48 E

51 E

55 E

Verhinderungspflege

21 E

41 E 145 E (prof.)

76 E 153 E (prof.)

121 E 165 E (prof.)

277 Vgl. §§ 240 Abs. 4 S. 1, 241, 223 Abs. 2 S. 2 SGB V, §§ 55, 57 IV S. 1 SGB XI i.V.m. § 240 Abs. 4 S. 1 SGB V, § 44a Abs. 1 S. 3 SGB XI, § 2 Abs. 1 SV-ReGrV 2016. 278 Siehe Krahmer/Stier, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 45 Rn. 7. 279 Siehe zu den Vergütungszuschüssen gem. § 87b auch Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. V. 280 Siehe BARMER GEK, Pflegereport 2014, S. 121. 281 Vgl. hierzu WSI, Lohnspiegel, S. 1.

5. Kap.: Heutige Rechtfertigung des Vorranggrundsatzes

125

217 E (14 h pro 145 E (14 h pro 193 E (14 h pro Woche) Woche) Woche)

Rentenversicherung für die Pflegeperson

326 E (21 h pro 290 E (21 h pro Woche) Woche) 435 E (28 h pro Woche)

Sozialversicherungsbeiträge während Pflegezeit Teilstationäre Pflege 231 E

Ambulant betreute Wohngruppen

Erheblicher allg. Betreuungsbedarf

205 E (plus ggf. einmalig 2.500 E Gründungspauschale) (ggf. 104 E)

29 E

29 E

29 E

468 E

1.144 E

1.612 E

205 E (plus ggf. einmalig 2.500 E Gründungspauschale) 72 E (ggf. 104 E)

205 E (plus ggf. einmalig 2.500 E Gründungspauschale) 87 E (ggf. 104 E)

205 E (plus ggf. einmalig 2.500 E Gründungspauschale) (ggf. 104 E)

Tabelle 3 Monatliche Kosten der ambulanten, professionellen Pflege Pflegestufe 0 Pflegestufe I Pflegestufe II Pflegestufe III Pflegesachleistungen

231 E

468 E

1.144 E

1.612 E (ggf. 1.995 E)

Pflegehilfsmittel & Wohnumfeldverbesserung

151 E

151 E

151 E

151 E

Zusätzl. Betreuungs- und Entlastungsleistungen

104 E

104 E

104 E

104 E

Kurzzeitpflege

45 E

45 E

45 E

45 E

Teilstationäre Pflege

231 E

468 E

1.144 E

1.612 E

Ambulant betreute Wohngruppen

205 E (plus ggf. einmalig 2.500 E Gründungspauschale)

205 E (plus ggf. einmalig 2.500 E Gründungspauschale) 221 E (ggf. 104 E)

205 E (plus ggf. einmalig 2.500 E Gründungspauschale) 154 E (ggf. 104 E)

Erheblicher allg. Betreuungsbedarf (ggf. 104 E)

205 E (plus ggf. einmalig 2.500 E Gründungspauschale) (ggf. 104 E)

126

3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz Tabelle 4 Monatliche Kosten der vollstationären Pflege Pflegestufe Pflegestufe Pflegestufe 0 I II

Vollstationäre Leistungen Vergütungszuschläge (Anhaltswert)

125 E

Pflegestufe III

1.064 E

1.330 E

1.612 E (ggf. 1.995 E)

125 E

125 E

125 E

II. Kostenvergleich Ausgehend von der Annahme, dass sämtliche mögliche Leistungen von einem Pflegebedürftigen ausgeschöpft werden, entstehen der Pflegeversicherung für die verschiedenen Pflegeformen folgende monatliche Ausgaben282 : Bei der ambulanten, informellen Pflege können monatlich für das Pflegegeld, die Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernden Maßnahmen, die zusätzlichen Betreuungs- und Entlastungsleistungen, die Kurzzeitpflege, die Rentenversicherung der Pflegeperson, die weiteren Sozialversicherungsbeiträge aufgrund der Inanspruchnahme einer Pflegezeit und für eine informelle Verhinderungspflege Kosten i.H.v. 762 E bei Pflegestufe I, i.H.v. mindestens 1.062 E bei Pflegestufe II und i.H.v. mindestens 1.405 E bei Pflegestufe III entstehen. Wird statt der informellen eine professionelle Verhinderungspflege vorgenommen, belaufen sich die Kosten dagegen auf 866 E bei Pflegestufe I, mindestens 1.139 E bei Pflegestufe II bzw. mindestens 1.449 E bei Pflegestufe III. Lebt der Pflegebedürftige in einer ambulant betreuten Wohngruppe, erhöhen sich die Kosten (den Gründungszuschusses i.H.v. 2.500 E je Pflegebedürftigen außen vor gelassen) auf 967 E, 1.267 E bzw. 1.610 E monatlich. Bei erwerbsmäßiger Verhinderungspflege ergibt sich ein Betrag von 1.071 E, 1.344 E bzw. 1.654 E. Bedarf der Pflegebedürftige erheblicher allgemeiner Betreuung, wachsen die Ausgaben, ausgehend von einer professionellen Verhinderungspflege, aufgrund des erhöhten Pflegegeldes auf 938 E bei Pflegestufe I und 1.226 E bei Pflegestufe II. Durch einen erhöhten Bedarf an zusätzlichen Betreuungs- und Entlastungsleistungen steigen sie auf 1.042 E bei Pflegestufe I, 1.330 E bei Pflegestufe II und 1.553 E bei Pflegestufe III. 282 Einerseits ist grds. eine noch weitergehende Ausschöpfung der Leistungen denkbar, indem beispielsweise alle jährlich gewährten Leistungen jedes Jahr voll und nicht nur einmal pro Dreijahreszeitraum in Anspruch genommen werden oder durch eine intensivere wöchentliche ambulante, nicht erwerbsmäßige Pflege höhere Rentenversicherungsbeiträge für die Pflegeperson entstehen. Andererseits erfordert dies das Vorliegen sämtlicher Voraussetzungen für die einzelnen Leistungen. Zudem werden die Maximalbeträge zugrunde gelegt, die nicht immer voll ausgeschöpft sein müssen.

5. Kap.: Heutige Rechtfertigung des Vorranggrundsatzes

127

Liegen ein erheblicher allgemeiner Betreuungsbedarf und das Wohnen in einer ambulant betreuten Wohngruppe kumulativ vor, steigt der Leistungsbetrag auf bis zu 1.247 E bei Pflegestufe I, 1.535 E bei Pflegestufe II bzw. 1.758 E bei Pflegestufe III. Wird die ambulante, informelle Pflege mit der teilstationären Pflege ergänzt, können Kosten i.H.v. 1.334 E bei Pflegestufe I, 2.283 E bei Pflegestufe II bzw. 3.061 E bei Pflegestufe III entstehen. Sie fallen beim Hinzukommen eines erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarfs eventuell noch höher aus. Im Vergleich zu den Kosten bei einer vollstationären Pflege können der Pflegeversicherung für die ambulante, informelle Pflege somit je nach Einzelfall in sämtlichen Pflegestufen höhere Ausgaben entstehen als für die vollstationäre Pflege. Selbst die Vergütungszuschläge gem. § 87b SGB XI einbezogen, kann die Leistungshöhe für die ambulante, informelle Pflege die vollstationären Beträge übersteigen. Erst Recht trifft dies auf die ambulante, professionelle Pflege zu. Dort ergeben sich durch die Pflegesachleistungen, die Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernden Maßnahmen, die zusätzlichen Betreuungs- und Entlastungsleistungen und die Kurzzeitpflege monatliche Kosten i.H.v. 768 E bei Pflegestufe I, 1.444 E bei Pflegestufe II und 1.912 E bei Pflegestufe III. Bereits hierfür fallen somit die Ausgaben nur noch bei Pflegestufe I geringer aus als diejenigen für die vollstationäre Pflege. Kommen Leistungen aufgrund des Zusammenlebens in einer ambulant betreuten Wohngruppe und eines erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarfs oder eine Kombination mit teilstationärer Pflege hinzu, übersteigen die Ausgaben auch bei Pflegestufe I diejenigen bei vollstationärer Pflege, während sie bei Pflegestufe II und III mit bis zu 2.846 E bzw. 3.628 E283 deutlich darüber liegen. Hinzu kommt, dass bei Pflegestufe 0 für die Pflegeversicherung (abgesehen von den Vergütungszuschlägen gem. § 87b SGB XII) nur im ambulanten Bereich Kosten anfallen. Sie umfassen monatlich das Pflegegeld i.H.v. 123 E, Pflegesachleistungen i.H.v. 231 E, den Zuschuss für das Zusammenleben in ambulant betreuten Wohngruppen i.H.v. 205 E, ggf. einmalig 2.500 E Gründungszuschuss, 21 E für die Verhinderungspflege, 151 E für Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernde Maßnahmen, 46 E (bzw. 45 E bei Pflegesachleistungsbezug) für die Kurzzeitpflege, 231 E für die teilstationäre Pflege und 104 E für zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen.284 Außerdem entstehen der Sozialversicherung bei der ambulanten Pflege weitere Ausgaben: zum einen der Krankenversicherung, indem sie die medizinische Behandlungspflege vollumfänglich erbringt285 ; zum anderen der Unfallversicherung 283

Bei einer Kombination mit teilstationärer Pflege und zusätzlichem erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarf. 284 Vgl. § 123 Abs. 2 SGB XI. Siehe zu den Leistungen für Pflegebedürftige der Pflegestufe 0 auch Zweiter Teil, Drittes Kapitel B. II. 4. b). 285 Siehe hierzu Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. II. 2.

128

3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

(bzw. letztlich dem Steuerzahler), die die Kosten für den Unfallversicherungsschutz der informellen Pflegepersonen zu tragen hat.286 Die weiteren, der Pflegeversicherung entstehenden Kosten, wie Verwaltungskosten, Pflegeberatungs- oder Qualitätsprüfungskosten287 (vgl. z. B. § 7a Abs. 4 S. 5 SGB XI), sind nicht ausschließlich auf die ambulante oder die stationäre Pflege beschränkt. Zudem ist ihre auf die jeweilige Pflegeform entfallende Höhe nicht ohne weiteres ermittelbar. Da solche weiteren Kosten für alle Pflegeformen entstehen, wurden auch die Pflegeberatungskosten gem. § 37 Abs. 3 S. 4 SGB XI für die ausschließlich ambulante, informelle Pflege bei dem Kostenvergleich außen vor gelassen.

III. Finanzierbarkeit unter Einbeziehung des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz288 steigen die Ausgaben für die Pflegekasse bei einer ambulanten Pflege weiter an. Das Pflegegeld bleibt zwar nach wie vor hinter den Leistungsbeträgen der vollstationären Pflege zurück, jedoch je Pflegegrad nur noch um etwa die Hälfte. Die Pflegesachleistungsbeträge weichen nur noch geringfügig von den Leistungsbeträgen für die vollstationäre Pflege ab, vgl. §§ 36 Abs. 3, 43 Abs. 2 S. 2 SGB XI n.F. Beim Pflegegrad 3 ist der Pflegesachleistungsbetrag sogar höher als derjenige bei vollstationärer Pflege. Durch die Angleichung der Beträge bei einer ambulanten, professionellen Pflege und einer vollstationären Pflege wird in Zukunft allein schon unter Einbeziehung der Grundleistungen das Ziel geringerer Kosten für die ambulante Pflege kaum noch erreicht. Hinzu kommt, dass die ergänzenden und die zusätzlichen Leistungen und ihre Kombinierbarkeit bei einer ambulanten Pflege nahezu uneingeschränkt beibehalten werden. Die Leistungen für Personen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf entfallen zwar, jedoch werden diese künftig allen Pflegebedürftigen in Form der erhöhten Grundleistungen zuteil. Es sind keine Leistungskürzungen vorgesehen, sondern im Gegenteil an einigen Stellen Leistungserhöhungen. So werden der Zuschlag für Pflegebedürftige in ambulant betreuten Wohngruppen nach § 38a SGB XI um 9 E und der Betrag für zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen um 21 E monatlich angehoben. Außerdem steigen die Ausgaben der Pflegeversicherung für die ambulante Pflege durch die Neuregelung der sozialen Sicherung der Pfle286 Siehe § 44 Abs. 1 S. 6 SGB XI i.V.m. §§ 129 Abs. 1 Nr. 7, 185 Abs. 2 S. 1 SGB VII. Vgl. auch Just, SozSich 2008, S. 76. Näher zum Unfallversicherungsschutz auch Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. III. 4. a) aa). 287 Siehe zur Kostentragung der Qualitätsprüfungen Bassen, in: Udsching, SGB XI, § 114 Rn. 12. 288 BGBl., Jahrgang 2015, Teil I, S. 2424.

5. Kap.: Heutige Rechtfertigung des Vorranggrundsatzes

129

gepersonen weiter an. Indem die Grenze für die fiktiven beitragspflichtigen Einnahmen einer Pflegeperson in der Rentenversicherung heraufgesetzt wird (vgl. § 166 Abs. 2 SGB VI n.F.), erhöht sich der maximale, von der Pflegekasse aufzubringende Rentenversicherungsbeitrag. Ebenso muss die Pflegeversicherung in Zukunft auch über die sechsmonatige Pflegezeit hinaus Beiträge für die Arbeitslosenversicherung der Pflegeperson entrichten, vgl. §§ 26 Abs. 2b n.F., 347 Nr. 10a SGB III. Damit können künftig die Ausgaben der Pflegeversicherung für die ambulante im Vergleich zur vollstationären Pflege noch weiter ansteigen.

IV. Fazit Betrachtet man die Grundleistungen und die weiteren möglichen Leistungen, kann heute nicht mehr die Rede davon sein, dass der Pflegeversicherung für die ambulante Pflege geringere Ausgaben entstehen. Die der Pflegeversicherung erwachsenden Kosten für die Leistungen bei einer ambulanten Pflege können je nach Konstellation und Inanspruchnahme hinter denjenigen bei einer vollstationären Pflege zurück bleiben. Dies trifft insbesondere auf die Pflegestufe I zu. Es ist jedoch auch der umgekehrte Fall möglich, so dass selbst bei Pflegestufe I der Gesamtleistungsbetrag für eine ambulante, informelle Pflege höher ausfallen kann als der Leistungsbetrag für die vollstationäre Pflege. Die ambulante Pflege kann sogar deutlich teurer sein als die vollstationäre. Dies erkennend wurde für den Vorranggrundsatz in der Sozialhilfe eine Ausnahme geschaffen. Gem. § 13 Abs. 1 S. 3 SGB XII gilt der Vorrang ambulanter Leistungen dann nicht, wenn die ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden und die stationäre Leistung zumutbar ist. In Anbetracht der Veränderungen durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz lässt sich das Kostenargument erst Recht nicht mehr aufrechterhalten. Es bietet insofern heute keinen tragfähigen Grund mehr für den Vorranggrundsatz.

B. Normalisierungsprinzip Der weitere Grund, der stets für den Vorranggrundsatz angeführt wird, ist das Normalisierungsprinzip. Normalisierung bedeutet ein möglichst „normales“ Leben trotz Pflegebedürftigkeit.289 Ob die ambulante Pflege dem Pflegebedürftigen immer das „normalere“ Leben garantiert, muss differenziert betrachtet werden.290

289 290

Siehe hierzu ausführlich Zweiter Teil, Erstes Kapitel, B. I. Vgl. hierzu in Ansätzen auch Hopfe, ZSR 1995, S. 272; Maschmann, NZS 1995, S. 119.

130

3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

Die meisten Pflegebedürftigen wünschen eine häusliche Pflege.291 Tatsächlich kommt der Verbleib in häuslicher Umgebung durch die Beibehaltung des vertrauten Wohnumfeldes dem Alltag vor der Pflegebedürftigkeit näher als ein Wechsel in eine stationäre Einrichtung. Ein möglichst „normales“ Leben wird jedoch nicht allein durch den Verbleib in vertrauter Umgebung bestimmt, sondern auch durch weitgehende Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und soziale Teilhabe. Dass die Pflegebedürftigkeit insofern zwingend Einschränkungen mit sich bringt, ist in jedem Fall unvermeidbar.292 Bei der ambulanten Pflege kann insofern ein höheres Maß an Selbstbestimmung gegeben sein, da eine selbstbestimmtere Gestaltung des Alltags (beispielsweise in Bezug auf die Essenszeiten, die Freizeit- oder Tagesgestaltung) und eine größere Unabhängigkeit möglich sein können. Die Selbstbestimmung und Unabhängigkeit erfährt allerdings auch bei der häuslichen Pflege dann Einschränkungen, wenn der Pflegebedürftige für die jeweiligen Tätigkeiten auf die Hilfe einer Pflegeperson angewiesen ist. Zum gewohnten Wohnumfeld kommt bei der ambulanten Pflege die Möglichkeit des Verbleibs in einem vertrauten Sozialumfeld hinzu. Dadurch ist eine ausgeprägtere soziale Teilhabe möglich. Ist der Pflegebedürftige hierzu nicht mehr selbstständig in der Lage, wohnt auch der ambulanten Pflege eine Vereinsamungsgefahr inne.293 Bei der stationären Pflege wird der Tagesrhythmus stärker von außen vorgegeben, was eine Einschränkung der Selbstbestimmung bedeutet. Jedoch kann der Umzug auch als eine Zurückgewinnung an Selbstbestimmung empfunden werden, da sich durch die Grundversorgung in der Einrichtung und das institutionelle Rehabilitationsprogramm neue Freiheiten ergeben können. Ein Loslösen der Abhängigkeit von den Angehörigen kann durchaus zur Führung eines unabhängigeren und selbstbestimmteren Lebens beitragen.294 Auch das speziell auf die Belange Pflegebedürftiger ausgerichtete Wohnumfeld einer stationären Einrichtung, z. B. in Form von Barrierefreiheit, trägt dazu bei, dass der Pflegebedürftige seine verbleibende Unabhängigkeit besser auszuschöpfen vermag. Eine Vereinsamungsgefahr ist auch bei einer stationären Versorgung gegeben. Soziale Kontakte lassen sich aber neben der besuchenden Familie und Freunden auch zum Heimpersonal oder anderen in der Einrichtung lebenden Pflegebedürftigen knüpfen.295 291 Vgl. BT-Drucks. 12/5262, S. 90; BR-Drucks. 718/07, S. 217. Ob die häusliche Pflege tatsächlich in den überwiegenden Fällen dem Wunsch der Pflegebedürftigen entspricht, wird teilweise in Zweifel gezogen. Siehe Hopfe, ZSR 1995, S. 274; Alber, SF 1990, S. 213 f. 292 Vgl. hierzu auch BT-Drucks. 12/5262, S. 89. 293 Siehe hierzu auch Hahn/Eisenberger/Hall/Koepp/Krüger, S. 16 f.; Rieben, Kosten in der offenen und geschlossenen Altershilfe, S. B 143; Schulz-Nieswandt/Köstler/Langenhorst/ Marks, Neue Wohnformen im Alter, S. 152. 294 Siehe Schlimper/Meyer/Holzhausen/Behr/Schenk, RDG 2010, S. 60; Hopfe, ZSR 1995, S. 273; Schulz-Nieswandt/Köstler/Langenhorst/Marks, Neue Wohnformen im Alter, S. 151 f. 295 Siehe Schlimper/Meyer/Holzhausen/Behr/Schenk, RDG 2010, S. 57 ff.; Hopfe, ZSR 1995, S. 273.

6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen

131

Sowohl die ambulante als auch die stationäre Pflege bringen Einschnitte der Selbstbestimmung, der Unabhängigkeit und der sozialen Teilhabe mit sich. Gleichzeitig sind bei der ambulanten und der stationären Pflege unterschiedliche Kompensationen der Einschränkungen denkbar. Insofern trifft die Annahme, dass die ambulante Pflege stets das „normalere“ Leben ermögliche, in ihrer Pauschalität nicht zu. Hinzu kommt, dass Normalisierung auch Wahlfreiheit bedeutet.296 Insofern wird die freie Wahl zwischen den Pflegeformen einem möglichst „normalen“ Leben am ehesten gerecht. Völlig frei ist die Wahl aber nur dann, wenn sie nicht von einer vom Gesetzgeber vorgesehenen Rangfolge mitgeprägt wird und dadurch indirekt eine Wertung erfährt. Somit dient auch das Normalisierungsprinzip nicht als Grund für die Rechtfertigung des Vorranggrundsatzes.

Sechstes Kapitel

Verfassungsrechtliche Grenzen A. Abstrakte verfassungsrechtliche Grenzen eines Vorranggrundsatzes der Pflegeversicherung Überdies stellt sich die Frage, welche Grenzen die Verfassung einem Vorranggrundsatz der Pflegeversicherung setzt. Die konkrete Ausgestaltung des Vorranggrundsatzes außer Blick lassend, ist zunächst zu hinterfragen, welche verfassungsrechtlichen Grenzen sich für einen Vorranggrundsatz in der Pflegeversicherung überhaupt ergeben.

I. Wunschrecht des Pflegebedürftigen und der Vorranggrundsatz 1. Wunschrecht des Pflegebedürftigen Das Wunschrecht des Pflegebedürftigen ist in der Pflegeversicherung in § 2 SGB XI ausdrücklich normiert. § 2 Abs. 2 S. 2 SGB XI sieht vor, dass den Wünschen des Pflegebedürftigen zur Gestaltung der Hilfe, soweit sie angemessen sind, im Rahmen des Leistungsrechts entsprochen werden soll. Damit gemeint ist nicht zuletzt, dass für die Wahl der Pflegeform der Wunsch des Pflegebedürftigen maßgebend ist.297 Die Frage nach der Angemessenheit bezieht sich dabei auf die konkreten Details des Wunsches, wie beispielsweise Wünsche bezüglich der Essenszeiten oder 296

Siehe Jähnert, Behindertenrecht 1996, S. 151. So auch BT-Drucks. 12/5262, S. 115; Gebhardt, in: Krauskopf, SGB XI, § 2 Rn. 7; Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 2 Rn. 4. A.A. Wagner, in: Hauck/Noftz, SGB XI, § 2 Rn. 12. 297

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

der Art und Weise der Hilfestellung.298 Unangemessen sind die Wünsche dann, wenn sie voraussichtlich dazu beitragen, die Erfüllung des Normzwecks zu beeinträchtigen, einen unverhältnismäßigen Mehraufwand zur Folge haben oder unverhältnismäßige Mehrkosten verursachen.299 Nicht mit „unangemessen“ gemeint sein kann dagegen generell der Wunsch nach stationärer Pflege. Denn die stationäre Pflege wird, wie § 43 SGB XI zeigt, mit ihren pauschalen Leistungsbeträgen grundsätzlich als mögliche und damit angemessene Pflegeform von der Pflegeversicherung anerkannt. § 2 Abs. 2 S. 2 SGB XI sagt dem Pflegebedürftigen mithin zu, dass die Wahl zwischen ambulanter, informeller Pflege, ambulanter, professioneller Pflege und stationärer Pflege maßgeblich von seinem Wunsch abhängt. Dem entspricht auch Art. 1 der Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen. Er sieht vor, dass Pflegebedürftige das Recht auf Beachtung ihrer Willens- und Entscheidungsfreiheit haben.300 Hierzu gehört auch die Wahl der Pflege.301 Die Pflege-Charta wurde 2005 vom „Runden Tisch Pflege“ erarbeitet.302 Sie fasst einerseits die grundlegenden Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen zusammen und erläutert sie. Andererseits appelliert die Pflege-Charta in Form von Leitlinien betreffend Qualitätsmerkmale und Ziele an die Menschen und Institutionen, die Verantwortung in Pflege, Betreuung und Behandlung übernehmen.303 2. Verfassungsmäßigkeit einer Einschränkung des Wunschrechts Das Wunschrecht des Pflegebedürftigen hinsichtlich der Pflegeform ist dann eingeschränkt, wenn die freie Pflegeformwahl des Pflegebedürftigen durch den Vorranggrundsatz versperrt oder begrenzt wird. Es ist jedoch fraglich, ob eine derartige Einschränkung im Einklang mit der Verfassung steht. Denn bei dem Wunschrecht gem. § 2 SGB XI handelt es sich um die Umsetzung verfassungsrechtlicher Vorgaben.304 Es ist eine Konkretisierung des Selbstbestimmungsrechts, welches wiederum Ausdruck der Menschenwürde gem. Art. 1 Abs. 1 GG ist.305 Die Menschenwürde findet sich als Kern in anderen Grundrechten wieder, die sie in verschiedenen Bereichen weiter präzisieren.306 Insofern ist das Wunschrecht eben298

Siehe Klie, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 2 Rn. 11. Siehe Trenk-Hinterberger, in: Wannagat, SGB XI, § 2 Rn. 12. Siehe auch BTDrucks. 12/5262, S. 89. 300 Pflege-Charta, Art. 1, S. 9. 301 Pflege-Charta, Art. 1, S. 9. 302 Siehe Pflege-Charta, Vorwort, S. 3. 303 Siehe Pflege-Charta, Präambel, S. 7. 304 Vgl. Klie, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 2 Rn. 2. 305 Vgl. hierzu u. a. Klie, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 2 Rn. 7; Gebhardt, in: Krauskopf, SGB XI, § 2 Rn. 5; Trenk-Hinterberger, in: Wannagat, SGB XI, § 2 Rn. 7. 306 Vgl. Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 367. 299

6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen

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falls Konkretisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG307 und der allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG308. Es stellt sich also die Frage, ob eine Einschränkung des Wunschrechts des Pflegebedürftigen durch den Vorrang ambulanter Pflege mit seinen Grundrechten vereinbar ist. a) Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aa) Eröffnung des Schutzbereichs und Eingriff Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ergibt sich aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.309 Es findet seine Verankerung in Art. 2 Abs. 1 GG, wird jedoch gleichzeitig durch Art. 1 Abs. 1 GG als Maßstab zur Ermittlung des Inhalts und Schutzumfangs maßgebend mitgeprägt.310 Zur freien Entfaltung der Persönlichkeit muss der Mensch autonom über seine Lebensgestaltung bestimmen können.311 Dafür benötigt er den Schutz seiner engeren persönlichen Lebenssphäre und der Grundbedingungen der Persönlichkeitsentfaltung.312 Kernelement der autonomen Persönlichkeitsentfaltung ist die Selbstbestimmung.313 Sofern es um eine umfassende Einschränkung der Privatautonomie und damit also der Selbstbestimmung geht, ist nicht nur die allgemeine Handlungsfreiheit, sondern auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht berührt.314 Die Frage, in welcher Pflegeform die Pflegebedürftigkeit verbracht werden soll, ist Kernelement der Selbstbestimmung.315 Ob man informell ambulant, professionell ambulant oder stationär gepflegt wird, prägt entscheidend den Alltag und führt jeweils zu einer unterschiedlichen Ausrichtung der Lebensgestaltung. Auch bei Pflegebedürftigkeit muss noch eine weitgehend selbstbestimmte Lebensführung ermöglicht werden.316 Dies wird in § 2 Abs. 1 SGB XI besonders deutlich, der einfachgesetzlich die Selbstbestimmung Pflegebedürftiger als grundlegende Aufgabe der Pflegeversicherung betont. Zu einer möglichst selbstbestimmten Lebensführung gehört aufgrund ihrer elementaren Auswirkungen auf den Alltag auch die Wahl der Pflegeform. Für die besondere Bedeutung dieser 307

Siehe BSG, Urt. v. 24. 05. 2006, Az B 3 P 1/05 R, BSGE 96, 236. Vgl. Neumann, in: Schulin, Pflegeversicherung, § 20 Rn. 43. 309 Siehe u. a. BVerfG, Beschluss v. 08. 03. 1972, Az 2 BvR 28/71, BVerfGE 32, 373; BVerfG, Beschluss v. 16. 07. 1969, Az 1 BvL 19/63, BVerfGE 27, 1. 310 Siehe Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 128. 311 Vgl. Badura, Staatsrecht, Kapitel C Rn. 34. 312 Vgl. z. B. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann, GG, Art. 2 Rn. 14. 313 Siehe Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 147; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2 Rn. 50. 314 Siehe BVerfG, Beschluss v. 13. 05. 1986, Az 1 BvR 1542/84, BVerfGE 72, 155. Siehe hierzu auch Degenhart, JuS 1992, S. 361, S. 366, S. 368. 315 So auch Lachwitz, in: Schulin, Pflegeversicherung, § 9 Rn. 174. 316 Vgl. Dalichau, SGB XI, § 2 Rn. 47; Koch, in: KassKomm, SGB XI, § 2 Rn. 2; Gebhardt, in: Krauskopf, SGB XI, § 2 Rn. 3. 308

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

Form der Selbstbestimmung kann wegen der Nähe und teilweisen Überschneidung von Pflegebedürftigkeit und Behinderung317 überdies Art. 19 Ziff. a) der UN-Behindertenrechtskonvention ins Feld geführt werden. Danach müssen behinderte Menschen gleichberechtigt die Möglichkeit haben zu wählen, wo und mit wem sie leben. Insofern unterliegt die Wahl der Pflegeform als zentrales Element der Selbstbestimmung bei Pflegebedürftigkeit dem Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Ein Vorranggrundsatz, der die freie Wahl des Pflegebedürftigen zwischen den Pflegeformen einschränkt, stellt einen Eingriff in den Schutzbereich dar. bb) Rechtfertigung Das allgemeine Persönlichkeitsrecht unterliegt grundsätzlich der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG.318 Gerechtfertigt sein könnte der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Pflegebedürftigen durch die verfassungsmäßige Ordnung, welche alle formell und materiell mit der Verfassung in Einklang stehenden Normen umfasst.319 Insofern ist der Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Pflegebedürftigen hinsichtlich der Pflegeform dann gerechtfertigt, wenn ein das Pflegeformwahlrecht einschränkender Vorranggrundsatz in der Pflegeversicherung mit der Verfassung in Einklang stünde. Der Vorranggrundsatz dient dem Ziel der sozialen Pflegeversicherung, Kosten zu sparen und dafür zu sorgen, dass Pflegebedürftige möglichst lange in ihrer vertrauten Umgebung bleiben können.320 Hierbei handelt es sich um legitime Zwecke. Die Kosten in vertretbarem Umfang zu halten, wird bereits durch das Wirtschaftlichkeitsgebot gem. §§ 29, 3 Abs. 3 SGB XI zu einem wesentlichen Element der Pflegeversicherung erklärt.321 Dem entspricht auch die grundsätzliche Erlaubnis des Gesetzgebers, im Rahmen seines sozialpolitischen Gestaltungsspielraums Kostenaspekten eine besondere Bedeutung für die Leistungsgewährung zuzumessen.322 Die Legitimität des Zwecks, trotz Pflegedürftigkeit ein Leben in häuslicher Umgebung zu ermöglichen und damit weiterhin einen möglichst normalen Alltag führen zu können, kann ebenfalls nicht angezweifelt werden. Fraglich erscheint bereits die Geeignetheit des Vorranggrundsatzes zur Erreichung dieser Zwecke. Denn die ambulante Pflege ist heute nicht mehr die stets

317

Siehe hierzu auch Zweiter Teil, Erstes Kapitel, B. I. Vgl. Dreier, in: Dreier, GG, Art. 2 I Rn. 91. 319 Siehe BVerfG, Urt. v. 16. 01. 1957, Az 1 BvR 253/56, BVerfGE 6, 32. 320 BT-Drucks. 12/5262, S. 90. Siehe hierzu auch Zweiter Teil, Erstes Kapitel, B. 321 Siehe hierzu auch Leitherer, in: Schulin, Pflegeversicherung, § 15 Rn. 92. 322 Vgl. hierzu BVerfG, Beschluss v. 06. 12. 2005, Az 1 BvR 347/98, BVerfGE 115, 25; BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 26. 03. 2014, Az 1 BvR 1133/12. 318

6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen

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kostengünstigere Pflegeform.323 Auch ermöglicht sie dem Pflegebedürftigen nicht immer ein möglichst „normales“ Leben.324 Ob ein die freie Wahl einschränkender Vorranggrundsatz zur Erreichung der damit verfolgten Zwecke erforderlich ist, kann ebenfalls bezweifelt werden. Hinsichtlich des Kostenaspekts könnte über effektivere Wege der Kosteneinsparung nachgedacht werden.325 Besonders problematisch ist jedoch die Angemessenheit einer Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts des Pflegebedürftigen durch den Vorranggrundsatz. Der damit tatsächlich erreichte Vorteil ist allenfalls eine, mitunter geringe, Kosteneinsparung, die zusätzlich von der Pflegestufe und den tatsächlich in Anspruch genommenen ambulanten Leistungen abhängt.326 Auf der anderen Seite steht die Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts des Pflegebedürftigen. Inwiefern das Normalisierungsprinzip einen eine Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts rechtfertigenden Gesichtspunkt darstellt, ist nicht ersichtlich. Eine Einschränkung der Selbstbestimmung des Pflegebedürftigen damit zu rechtfertigen, dass ihm dadurch ein möglichst „normales“ Leben ermöglicht wird, erscheint paradox. Denn Element eines möglichst „normalen“ Lebens ist gerade die Selbstbestimmung. Die Pflegeform ist dominierender Bestandteil im Leben eines Pflegebedürftigen: Ob er ambulant oder stationär gepflegt wird, prägt seinen Alltag entscheidend mit. Dies erkennt auch Art. 19 Ziff. a) der UN-Behindertenrechtskonvention an. Dass die UN-Behindertenrechtskonvention die Selbstbestimmung hinsichtlich der Lebensführung schützt, stärkt zusätzlich ihr Gewicht innerhalb der Abwägung.327 Zusätzlich dringt die Pflege notwendigerweise nicht nur in die Privatsphäre des Pflegebedürftigen, sondern bis in den Kernbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, die Intimsphäre, vor.328 Beispielsweise werden bei Pflegebedürftigen regelmäßig Tätigkeiten erforderlich wie das Waschen oder die Hilfe bei der Darmund Blasenentleerung.329 Wenn der Pflegebedürftige eine andere Person in diese Sphäre vordringen lassen muss, sollte er selbst bestimmen können, in welchem Rahmen dies geschieht.330

323

Siehe hierzu ausführlich Dritter Teil, Fünftes Kapitel, A. I. Siehe Dritter Teil, Fünftes Kapitel, B. 325 Zu denken ist z. B. an eine Einsparung administrativer Kosten oder effektivere Anreize für ehrenamtliche Pflegepersonen. Vgl. dazu bspw. Vierter Teil, Drittes Kapitel, C. 326 Vgl. hierzu umfassend Dritter Teil, Fünftes Kapitel, A. I. 327 Vgl. hierzu auch Luthe, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 13 Rn. 7, Rn. 11. 328 Siehe hierzu auch Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 43 Rn. 24; Boecken, SGb 2008, S. 699. 329 Vgl. auch Boecken, SGb 2008, S. 700. 330 So auch zu § 37 Abs. 3 SGB V BSG, Urt. v. 30. 03. 2000, Az B 3 KR 23/99 R, BSGE 86, 106. 324

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

Auch kann das Argument aus der medizinischen Behandlungspflege nicht übertragen werden, dass der Ausschluss des Anspruchs gegen die Krankenkasse dann gerechtfertigt ist, wenn sich der Pflegebedürftige ohne objektiv nachvollziehbaren Grund gegen die Vornahme der Behandlungspflegemaßnahmen durch eine ehrenamtliche Pflegeperson verweigert.331 Denn die medizinische Behandlungspflege betrifft in der Regel in Umfang oder Zeit beschränkte Maßnahmen. Überdies erschöpft sie sich oftmals in „einfachen Maßnahmen ohne Berührung der Intimsphäre“ wie der Medikamentengabe.332 Bei der Wahl der Grundpflegeform handelt es sich hingegen nicht um eine derartige im Tätigkeitsumfang oder in der Zeit begrenzte Maßnahme. Vielmehr werden im Rahmen der gewählten Pflegeform umfassend alle benötigten Hilfeleistungen vorgenommen. Dass dabei nicht nur punktuelle, sondern stets tiefgreifende, umfassende und den Alltag bestimmende notwendige Hilfeleistungen anfallen, zeigt allein der Umfang der benötigten Hilfen, der für die Einstufung als pflegebedürftig erreicht werden muss.333 Hinzu kommt, dass durch den Anspruchsausschluss gegen die Krankenkasse nicht die freie Wahl des Lebensortes tangiert wird, wie dies durch einen verbindlichen Vorrang häuslicher Pflege geschieht. Zudem wird der Pflegebedürftige in seiner freien Wahl einer Leistung beschnitten, die er sich durch eine Gegenleistung, seine Beitragszahlung, „erkauft“ hat. Wenn der Pflegebedürftige aber für die Leistung (zumindest teilweise) eine Vorleistung erbringen muss, erwirbt er sich ein Anrecht auf die ihm gewährten Leistungen.334 Insofern muss es umso mehr in seiner Macht stehen, zwischen den vorgesehenen Leistungen frei wählen zu können. Der selbstbestimmten Wahl einer Pflegeform muss umso mehr Gewicht zugemessen werden, als der Pflegebedürftige hierfür in einem Zwangssystem eine Gegenleistung erbringt.335 Bei der Wahl der Pflegeform handelt es sich mithin um einen Kernaspekt des Selbstbestimmungsrechts Pflegebedürftiger, in den durch einen die Wahlentscheidung einschränkenden Vorranggrundsatz eingegriffen wird. Ein solch bedeutender Eingriff in die Selbstbestimmung kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass nur in bestimmten Konstellationen die Möglichkeit einer ggf. geringfügigen Kosteneinsparung besteht.336

331

Siehe BSG, Urt. v. 30. 03. 2000, Az B 3 KR 23/99 R, BSGE 86, 106. Siehe BSG, Urt. v. 30. 03. 2000, Az B 3 KR 23/99 R, BSGE 86, 106. 333 Vgl. § 15 SGB XI. Siehe hierzu auch Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. I. 334 Vgl. hierzu auch Luthe, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 9 Rn. 37. 335 Vgl. hierzu auch BVerfG, Urt. v. 06. 12. 2005, Az 1 BvR 347/98, BVerfGE 115, 25. 336 Auch Kruse ist der Ansicht, dass allenfalls wirtschaftliche Gründe die Einschränkung der Wahlfreiheit des Pflegebedürftigen rechtfertigen können. Siehe Kruse, in: Klie/Krahmer/ Plantholz, SGB XI, § 43 Rn. 7. 332

6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen

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b) Vereinbarkeit mit der Menschenwürde, der allgemeinen Handlungsfreiheit und dem allgemeinen Gleichheitssatz Bei dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht handelt es sich um das speziellere Grundrecht. Die allgemeine Handlungsfreiheit fungiert aufgrund ihrer Weite insofern als subsidiäres Grundrecht.337 Die Menschenwürde wiederum prägt das allgemeine Persönlichkeitsrecht explizit mit, die Selbstbestimmung ist unmittelbarer Ausfluss der Menschenwürde. Indem sie hier nicht weiterreicht als das allgemeine Persönlichkeitsrecht, erübrigt sich auch ein Rückgriff auf Art. 1 Abs. 1 GG.338 Eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes gem. Art. 3 Abs. 1 GG durch den Vorranggrundsatz in der Pflegeversicherung scheidet insofern aus, als kein Vorrang der informellen, ambulanten vor der professionellen Pflege vorgesehen ist. Der Vorrang der ambulanten vor der stationären Pflege gilt für alle Pflegebedürftigen unterschiedslos. Es findet keine unterschiedliche Behandlung von Pflegebedürftigen mit einer zur Verfügung stehenden Pflegeperson und solchen ohne statt.339 3. Resümee Verfassungsrechtlichen Grenzen sieht sich ein Vorranggrundsatz in der Pflegeversicherung dann gegenüber, wenn er die freie Wahl des Pflegebedürftigen zwischen den Pflegeformen einschränkt. Damit ist jedenfalls ein Grundsatz, der den Pflegebedürftigen verbindlich die ambulante Pflege als vorrangig gegenüber der stationären Pflege vorgibt, in der Pflegeversicherung nicht denkbar. Denn darin läge ein Eingriff in die Selbstbestimmung des Pflegebedürftigen hinsichtlich der Pflegeform. Ein solcher verstößt gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Pflegebedürftigen. Er lässt sich weder mit dem Normalisierungsprinzip noch mit den Kostenerwägungen rechtfertigen. Der Wunsch des Pflegebedürftigen bezüglich der Pflegeform muss vorgehen.340

II. Pflegebereitschaft der informellen Pflegeperson und der Vorranggrundsatz Auch im Hinblick auf die informelle Pflegeperson ist über die verfassungsrechtlichen Grenzen nachzudenken, denen ein Vorranggrundsatz in der Pflegever337

Vgl. Manssen, Grundrechte, Rn. 247. Siehe zum Verhältnis von Art. 1 GG zu den anderen Grundrechten BVerfG, Urt. v. 24. 03. 1981, Az 1 BvR 1516/78, BVerfGE 56, 363; vgl. auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 5. 339 Vgl. zur Situation bei der häuslichen Krankenpflege und der Vereinbarkeit mit Art. 3 GG BSG, Urt. v. 30. 03. 2000, Az B 3 KR 23/99 R, BSGE 86, 106. 340 So im Ergebnis auch Dahlem, SF 1993, S. 106; Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 29 Rn. 4. 338

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

sicherung begegnet. Verfassungsrechtliche Bedenken könnten sich dann auftun, wenn eine geeignete informelle Pflegeperson durch den Grundsatz der Vorrangigkeit ambulanter Pflege zur Pflegeübernahme verpflichtet werden könnte. 1. Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht Einer derartigen Ausprägung des Vorranggrundsatzes könnte das allgemeine Persönlichkeitsrecht der ehrenamtlichen Pflegeperson gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG entgegenstehen. Muss eine objektiv geeignete und zur Verfügung stehende Pflegeperson einen Pflegebedürftigen pflegen, wird dadurch ihre gesamte Lebensgestaltung beeinflusst. Die Pflege ist für informelle Pflegepersonen regelmäßig zeitaufwändig und körperlich und psychisch sehr belastend.341 Zudem erstreckt sie sich oftmals über einen langen, nicht absehbaren Zeitraum hinweg.342 Insofern ist die Entscheidung, ob eine mögliche Pflegeperson ehrenamtlich ambulant pflegen will, wesentlicher Aspekt ihrer Selbstbestimmung und damit ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts.343 Ist eine objektiv zur Verfügung stehende Pflegeperson aufgrund der Vorrangigkeit ambulanter Pflege zur Pflegeübernahme verpflichtet, wird in ihr Selbstbestimmungsrecht eingegriffen. Der Eingriff kann nur dann durch den Vorrang ambulanter Pflege gerechtfertigt sein, wenn ein solcher Vorranggrundsatzes mit der Verfassung in Einklang stünde. Zweifelhaft ist auch hier die Verhältnismäßigkeit. Zwar greift der durchaus legitime Zweck der Kosteneinsparung bei der ambulanten, ehrenamtlichen Pflege aufgrund der geringen Höhe des Pflegegeldes auf den ersten Blick in besonderem Maße. Doch selbst bei der ambulanten, informellen Pflege können durch die umfangreichen ergänzenden und zusätzlichen Leistungen in jeder Pflegestufe der Pflegekasse höhere Kosten erwachsen als für die vollstationäre Pflege.344 Damit ist selbst eine Verpflichtung objektiv zur Verfügung stehender Pflegepersonen zur Pflegeübernahme nicht generell geeignet, den Zweck der Kosteneinsparung zu erfüllen. Um den Pflegebedürftigen den möglichst langen Verbleib in vertrauter Umgebung zur ermöglichen, wäre sie hingegen geeignet. Äußerst zweifelhaft ist des Weiteren, ob der Vorranggrundsatz in einer derartigen Auslegung das mildeste Mittel zur Erreichung seiner Zwecke ist. Milder zur Verwirklichung von Kosteneinsparungen wären Kürzungen zu Lasten der Pflegebedürftigen. Denn es ist jedenfalls ein weniger einschneidender Weg, die Pflegebe341

Vgl. u. a. BT-Drucks. 12/5262, S. 65, S. 113; BT-Drucks. 14/6949, S. 8; BMFSFJ, MUG III, S. 25, S. 78. 342 Vgl. BT-Drucks. 12/5262, S. 65. 343 Siehe zum Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts näher Dritter Teil, Sechstes Kapitel, A. I. 2. a) aa). 344 Siehe Dritter Teil, Fünftes Kapitel, A. II.

6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen

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dürftigen als Empfänger der Leistungen stärker zu belasten als Pflegepersonen zu verpflichten, die zunächst mit der sozialen Pflegeversicherung und ihren Leistungen in keinerlei Beziehung stehen. Das Ziel des Verbleibens in der vertrauten Umgebung kann gleichermaßen auf milderem Weg durch die ambulante, professionelle Pflege erreicht werden, die keine Verpflichtung einer informellen Pflegeperson erfordert. Jedenfalls ist ein Vorranggrundsatz, der die Pflegeperson zur Übernahme einer Pflege verpflichtet, nicht angemessen. Der Vorteil der möglichen Kosteneinsparung ist im Vergleich zu der Einschränkung der Selbstbestimmung der Pflegepersonen als grundsätzlich „unbeteiligtem Dritten“ gering. Es kann nicht sein, dass Personen unter beachtlicher Einschränkung ihrer Selbstbestimmung in ein Sozialleistungssystem eingebunden werden, dessen eigentliche Profiteure sie nicht sind. 2. Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgebot Weiterhin kommt bei einer Verpflichtung von informellen Pflegepersonen ein Verstoß gegen das Gleichheitsgebot gem. Art. 3 Abs. 2 GG345 in Betracht. Art. 3 Abs. 2 GG verlangt, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Gemeint ist das Verbot, Männer von Rechts wegen besser zu stellen als Frauen oder umgekehrt.346 Ein Verstoß gegen das Gleichheitsgebot durch den Vorranggrundsatz setzt eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen voraus. Dabei ist bereits eine mittelbare Ungleichbehandlung ausreichend, d. h. wenn eine Norm „zwar geschlechtsneutral formuliert [ist], im Ergebnis aber aufgrund natürlicher Unterschiede oder der gesellschaftlichen Bedingungen überwiegend Frauen [betrifft]“347. Eine mittelbare Ungleichbehandlung liegt immer dann vor, wenn durch die Regelung wesentlich mehr Frauen als Männer betroffen sind.348 Die weit überwiegende Anzahl informeller Pflegepersonen ist weiblich.349 Den Statistiken zufolge bewegt sich der Anteil wenigstens zwischen 70 % bis 80 %.350 Ein Vorranggrundsatz, der Personen zur Übernahme einer Pflege verpflichtet, die objektiv dazu geeignet sind, würde damit im Ergebnis überwiegend Frauen betreffen, zumal Frauen häufig keiner bzw. einer Erwerbstätigkeit in Teilzeit nachgehen.351 Ein solcher Vorranggrundsatz würde zu einer mittelbaren Ungleichbehandlung von Frauen führen. 345 Überwiegend werden mittelbare Diskriminierungen allein auf Art. 3 Abs. 2 GG gestützt. Siehe hierzu näher Heun, in: Dreier, GG, Art. 3 Rn. 101 ff. 346 Vgl. Langenfeld, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 2 Rn. 27 ff. 347 Siehe BVerfG, Beschluss vom 27. 11. 1997, Az 1 BvL 12/91, BVerfGE 97, 35; BVerfG, Urt. v. 30. 01. 2002, Az 1 BvL 23/96, BVerfGE 104, 373; BVerfG, Beschluss v. 05. 04. 2005, Az 1 BvR 774/02, BVerfGE 113, 1. 348 Siehe BAG, Urt. v. 19. 01. 2011, Az 3 AZR 29/09, BAGE 137, 19. 349 Siehe hierzu auch BT-Drucks. 18/3124, S. 1. 350 Siehe BMFSFJ, MUG III, S. 77; BT-Drucks. 12/5262, S. 65; WSI, Gender-Datenportal Pflege. 351 Vgl. WSI, Gender-Datenportal Pflege.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

Eine mittelbare Ungleichbehandlung kann gerechtfertigt sein, wenn sie auf hinreichend sachlichen Gründen beruht.352 Dabei muss es sich um gewichtige objektive Gründe handeln, die in keiner Verbindung zu der Geschlechtszugehörigkeit stehen.353 Als sachliche Gründe für die Pflicht informeller Pflegepersonen zur Übernahme einer Pflege kommen erneut die Kostenerwägungen und der möglichst lange Verbleib des Pflegebedürftigen in vertrauter Umgebung in Betracht. Sie basieren nicht auf der Geschlechtszugehörigkeit. Allerdings vermögen sie nicht, die erhöhten Anforderungen an die Gewichtigkeit zu erfüllen. Denn zum einen gilt der Kostenaspekt nicht uneingeschränkt.354 Zum anderen sind Gründe, die bereits hinsichtlich der Rechtfertigung eines Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht versagen, erst Recht nicht tauglich, um die strengen Rechtfertigungsanforderungen für eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 2 GG zu erfüllen.355 3. Resümee Findet die fehlende Bereitschaft informeller Pflegepersonen zur ambulanten Pflege keine Berücksichtigung, werden die Pflegepersonen in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt. Überdies würde eine solche Pflicht zur Pflegeübernahme von objektiv zur Verfügung stehenden informellen Pflegepersonen zu einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung von Frauen führen, folglich zu einem Verstoß gegen das Gleichheitsgebot. Auch hier reichen das Normalisierungsprinzip und der Kostenaspekt zur Rechtfertigung jeweils nicht aus. Somit findet der Vorranggrundsatz der Pflegeversicherung im Hinblick auf die Pflegepersonen seine verfassungsrechtliche Grenze darin, dass jedenfalls informelle Pflegepersonen nicht zur Übernahme einer ambulanten Pflege verpflichtet werden können.

III. Fazit Einem Vorrang ambulanter Pflege in der Pflegeversicherung sind abstrakt von zwei Seiten verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt: Im Hinblick auf die Pflegebedürftigen darf die freie Wahl zwischen den Pflegeformen nicht eingeschränkt oder gar aufgehoben werden. Im Hinblick auf die informellen Pflegepersonen darf er nicht dazu führen, dass sie zur Übernahme einer ambulanten Pflege verpflichtet werden. Andernfalls würde er die Pflegebedürftigen und die Pflegepersonen in ihren Grundrechten verletzen.

352

Vgl. BVerfG, Beschluss v. 05. 04. 2005, Az 1 BvR 774/02, BVerfGE 113, 1. Vgl. BAG, Urt. v. 25. 07. 1996, Az 6 AZR 138/94, BAGE 83, 327. 354 Siehe Dritter Teil, Fünftes Kapitel, A. I. 355 Vgl. zu den Rechtsfertigungsanforderungen des Art. 3 Abs. 2 GG BVerfG, Beschluss v. 05. 04. 2005, Az 1 BvR 774/02, BVerfGE 113, 1; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 96. 353

6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen

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B. Konkrete Bedeutung der verfassungsrechtlichen Grenzen für den Vorranggrundsatz der Pflegeversicherung Die konkrete Ausgestaltung des Vorranggrundsatzes müsste sich innerhalb dieser abstrakten verfassungsrechtlichen Vorgaben bewegen, durch die ein Vorranggrundsatz in der Pflegeversicherung generell begrenzt wird. Ist dies nicht der Fall, bedarf der geltende Vorranggrundsatz der Pflegeversicherung einer verfassungsrechtlichen Korrektur.

I. Bedeutung der Grundrechte des Pflegebedürftigen Die konkrete Ausgestaltung des Vorrangs ambulanter Pflege im SGB XI darf also zum einen nicht dazu führen, dass die Pflegebedürftigen in ihrer freien Wahl zwischen den Pflegeformen beschränkt werden.356 Denn andernfalls würde gegen Grundrechte der Pflegebedürftigen verstoßen. Da der Vorranggrundsatz in der Pflegeversicherung in erster Linie als Programmsatz ausgestaltet ist357, führt er nicht dazu, dass die Pflegebedürftigen in ihrer freien Wahl zwischen den Pflegeformen eingeschränkt werden. In seiner Ausgestaltung als bloßer Programmsatz ist er also verfassungsrechtlich unbedenklich. Auch durch die Vorschrift des § 41 Abs. 1 S. 1 SGB XI wird der Pflegebedürftige nicht in seinen Grundrechten berührt. Denn er kann die teilstationäre Pflege nach seiner freien Wahl beanspruchen.358 Ebenso unproblematisch ist die Regelung in § 42 Abs. 2 S. 1 SGB XI. Dadurch wird der Pflegebedürftige nicht in seiner freien Wahl zwischen den Pflegeformen eingeschränkt. Es werden allenfalls verbindliche Leistungsvoraussetzungen für die Inanspruchnahme von Kurzzeitpflege als einer bei ambulanter Pflege in Betracht kommenden, zeitlich begrenzten Einzelleistung definiert.359 Nachgedacht werden könnte dagegen darüber, ob bereits die Vorschrift des § 43 Abs. 1 SGB XI die freie Wahl des Pflegebedürftigen einschränkt, da danach die vollstationäre Pflege nur bei ihrer Erforderlichkeit gewährt wird.360 Wäre das Kriterium der Erforderlichkeit allein an objektiven Kriterien zu messen, träte der Wunsch des Pflegebedürftigen bezüglich der Pflegeform dahinter zurück. Denn ist die vollstationäre Pflege objektiv nicht erforderlich, wäre der Wunsch des Pflegebedürftigen nach dieser Pflegeform unbeachtlich. 356 357 358 359 360

Siehe zur konkreten Ausgestaltung ausführlich Dritter Teil, Zweites Kapitel. Siehe näher Zweiter Teil, Drittes Kapitel, A; Dritter Teil, Zweites Kapitel, A. Siehe hierzu näher Dritter Teil, Zweites Kapitel, B. I. Siehe auch hierzu näher Dritter Teil, Zweites Kapitel, B. II. Vgl. zur Vorschrift das § 43 Abs. 1 SGB XI näher Dritter Teil, Zweites Kapitel, B. III.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

Letztlich führt jedoch das Erforderlichkeitskriterium in § 43 Abs. 1 SGB XI unabhängig von seiner genauen Definition nicht zu einem Ausschluss des Wahlrechts des Pflegebedürftigen. Denn selbst bei fehlender Erforderlichkeit kann der Pflegebedürftige sich für eine vollstationäre Pflege entscheiden. Die Konsequenz, die das SGB XI bei einer Wahl vollstationärer Pflege trotz fehlender Erforderlichkeit vorsieht, ist nicht die generelle Leistungsversagung, sondern die Sanktionsregelung des § 43 Abs. 4 SGB XI.361 Der Pflegebedürftige erhält dann zu der vollstationären Pflege nur einen Zuschuss in Höhe der Pflegesachleistungen gem. § 36 Abs. 3 SGB XI. Dem Wunschrecht des Pflegebedürftigen wird also selbst bei fehlender Erforderlichkeit grundsätzlich der Vorzug gegenüber dem Vorrang ambulanter Pflege gegeben.362 Allerdings wird er, indem er dann nur gekürzte Leistungen bei vollstationärer Pflege erhält, für die Ausübung seines Wunschrechts sanktioniert. In der Sanktion liegt eine Einschränkung des Wunschrechts des Pflegebedürftigen hinsichtlich der Pflegeform. Durch § 43 Abs. 4 SGB XI ist die Wahl zwischen den Pflegeformen nicht völlig frei. Eine solche Einschränkung der freien Wahl verstößt, wie aufgezeigt, gegen Grundrechte des Pflegebedürftigen.363 Die Vorschrift des § 43 Abs. 4 SGB XI ist mithin verfassungswidrig und muss unangewendet bleiben. In tatsächlicher Hinsicht bringt dies jedoch keine weitreichenden Konsequenzen mit sich, da § 43 Abs. 4 SGB XI in der Praxis ohnehin meist unangewendet bleibt.364 Die Verfassungswidrigkeit des § 43 Abs. 4 SGB XI scheint inzwischen auch der Gesetzgeber erkannt zu haben. Denn das Zweite Pflegestärkungsgesetz365 sieht eine Streichung der Sanktionsregelung zum 01. 01. 2017 vor. Ab dem Jahresbeginn 2017 wird also Gesetz, was ohnehin bereits verfassungsrechtlich bedingt gelten muss. In dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung war allerdings noch der Fortbestand des § 43 Abs. 4 SGB XI vorgesehen.366 Er sollte lediglich dahingehend geändert werden, dass nicht mehr eine Begrenzung auf die Höhe der Pflegesachleistungen, sondern auf 80 % des Leistungsbetrags der vollstationären Pflege stattfindet, § 43 Abs. 4 S. 1 SGB XI n.F. Mit Erlass des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes ordnete der Gesetzgeber dann jedoch überraschend und ohne weitere Begründung die Aufhebung des 361

Siehe zu dieser auch schon Dritter Teil, Zweites Kapitel, B. III. Siehe zu der insoweit bestehenden Vorrangigkeit des Wunschrechts auch Linke, in: Krauskopf, SGB XI, § 43 Rn. 10; Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 43 Rn. 6. 363 Für einen Vorrang des Wunschrechts gegenüber dem Vorranggrundsatz sprechen sich auch Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 43 Rn. 24 und Dahlem in SF 1993, S. 106 aus. Überwiegend wird dagegen vertreten, dass das Wunschrecht hinter dem Vorrangrundsatz zurücktritt. Als einziges Argument wird dabei angeführt, dass ansonsten die Regelung des § 43 Abs. 4 SGB XI nicht verständlich wäre, da ihr dann kein Anwendungsbereich verbliebe. Siehe Leitherer, in: KassKomm, SGB XI, § 43 Rn. 17; Linke, in: Krauskopf, SGB XI, § 43 Rn. 7; Gebhardt, in: Krauskopf, SGB XI, § 2 Rn. 7; Kruse, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 43 Rn. 7; Philipp, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, SGB XI, § 2 Rn. 8; Maschmann, NZS 1995, S. 110. 364 Vgl. Philipp, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, SGB XI, § 3 Rn. 3. 365 BGBl., Jahrgang 2015, Teil I, S. 2424. 366 Siehe BT-Drucks. 18/5926, S. 127. 362

6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen

143

§ 43 Abs. 4 SGB XI an. Damit folgte er einer Empfehlung des Ausschusses für Gesundheit, die dieser im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens ausgesprochen hatte.367 Begründet wurde die Empfehlung damit, dass in der Regel davon auszugehen sei, dass die Pflegebedürftigen „nicht ohne gute Gründe ein vollstationäres Pflegeheim wählen, um ihre Versorgung sicherzustellen“.368 Insofern würden sie nur mit einem unnötig erhöhten Begründungsaufwand belastet. Selbst in den Fällen, in denen das Erforderlichkeitskriterium nicht erfüllt werde, belaste die Sanktionsregel die Pflegebedürftigen unangemessen.369 Dass auch der Ausschuss für Gesundheit die Sanktionierung der freien Pflegeformwahl für unangemessen hält, legt ebenfalls die Verfassungswidrigkeit des § 43 Abs. 4 SGB XI nahe.

II. Bedeutung der Grundrechte der informellen Pflegeperson Zum anderen darf die konkrete Ausgestaltung des Vorranggrundsatzes in der Pflegeversicherung nicht bedingen, dass objektiv zur Verfügung stehende informelle Pflegepersonen zur Pflegeübernahme verpflichtet sind. Ansonsten würde die Pflegeperson in ihren Grundrechten verletzt. Der Vorrang ambulanter Pflege ist im SGB XI nicht derart konzipiert, dass er zu einer Pflicht zur Pflegeübernahme informeller Pflegepersonen führt. Die Erforderlichkeit vollstationärer Pflege gem. § 43 Abs. 1 SGB XI wird dahingehend verstanden, dass sie auch bei einer subjektiv nicht zur ambulanten Pflege bereiten Pflegeperson erfüllt sein kann.370 Die Beachtlichkeit der subjektiven Komponente seitens der Pflegepersonen soll laut Begründung zum Gesetzesentwurf bereits in der Formulierung in § 43 Abs. 1 S. 1 SGB XI „wegen der Besonderheit des einzelnen Falles“ zum Ausdruck kommen.371 Überdies zählen die Pflegbedürftigkeitsrichtlinien als Grund für die Erforderlichkeit der stationären Pflege die fehlende Bereitschaft möglicher Pflegepersonen auf.372 Hinsichtlich der Grundrechte der informellen Pflegepersonen bedarf der Vorranggrundsatz der Pflegeversicherung mithin keiner Korrektur.

367

BT-Drucks. 18/6688, S. 70. BT-Drucks. 18/6688, S. 142. 369 Vgl. BT-Drucks. 18/6688, S. 142 f. 370 So schon zu § 37 Abs. 3 SGB V das BSG, Urteil vom 30. 03. 2000, Az B 3 KR 23/99 R, BSGE 86, 105 f. Vgl. auch Kruse, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 43 Rn. 10; Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 43 Rn. 24; Linke, in: Krauskopf, SGB XI, § 43 Rn. 7; Leitherer, in: KassKomm, SGB XI, § 43 Rn. 13. 371 Siehe BT-Drucks. 12/5262, S. 115. 372 Siehe Pflegebedürftigkeits-Richtlinien, Ziff. 4.4. 368

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

C. Auswirkungen auf den Vorranggrundsatz der Sozialhilfe Über die Bedeutung der abstrakten verfassungsrechtlichen Grenzen für die konkrete Ausgestaltung des Vorranggrundsatzes der Pflegeversicherung hinausgehend, ist auch zu überlegen, ob sie Auswirkungen auf die Sozialhilfe mit sich bringen. Auswirkungen können sich dadurch ergeben, dass die Pflegeversicherung und die Sozialhilfe beim Vorliegen von Pflegebedürftigkeit und Bedürftigkeit ineinandergreifen. Da die Pflegeversicherung keine Vollversicherung ist und die Kosten für die Pflege häufig die von der Pflegeversicherung übernommenen Pauschalen überschreiten373, müssen Pflegebedürftige regelmäßig selbst zuzahlen. Können sie die Mittel nicht aus eigenem Einkommen und Vermögen aufbringen, erhalten sie Unterstützung nach dem SGB XII, vgl. § 19 Abs. 3 SGB XII. Als ergänzende Leistungen kommen bei Pflegebedürftigkeit die Leistungen der Hilfe zur Pflege nach den §§ 61 ff. SGB XI in Betracht.374

I. Leistungen der Hilfe zur Pflege 1. Allgemeines Die Leistungen der Hilfe zur Pflege sind hinsichtlich ihres Inhalts, nicht jedoch hinsichtlich ihres Umfangs, eng an die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung angelehnt.375 Im Gegensatz zu denjenigen der Pflegeversicherung sind sie am Prinzip der Bedarfsdeckung ausgerichtet.376 Pflegerischer Bedarf jeglicher Art darf im Rahmen der Sozialhilfe als unterstem Auffangnetz nicht ungedeckt bleiben.377 Anspruchsvoraussetzung ist auch für die Leistungen der Hilfe zur Pflege die Pflegebedürftigkeit. § 61 Abs. 1 S. 2 SGB XI sieht allerdings gegenüber dem Pflegebedürftigkeitsbegriff des SGB XI Erweiterungen vor: Danach haben auch solche Personen Anspruch auf Leistungen der Hilfe zur Pflege, die nicht für voraussichtlich mindestens sechs Monate pflegebedürftig sind, deren Pflegebedarf nicht die Pflegestufe I erreicht und solche, deren Hilfebedarf bei anderen als im abgeschlossenen

373

Siehe hierzu auch Dritter Teil, Drittes Kapitel, B. I. 2. Vgl. § 13 Abs. 3 S. 2 SGB XI. Siehe hierzu auch Schellhorn, in: Schellhorn/Schellhorn/ Hohm/Schneider SGB XII, § 61 Rn. 7. 375 Vgl. § 61 Abs. 2 S 2 SGB XII. Siehe hierzu auch Grube, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 61 Rn. 39. 376 Vgl. BVerwG, Urt. v. 15. 06. 2000, Az 5 C 34/99, NJW 2000, 3512. 377 Vgl. Krahmer/Sommer, in: Bieritz-Harder/Armborst/Berlit, SGB XII, Vor. §§ 61 ff. Rn. 1. 374

6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen

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Katalog des SGB XI vorgesehenen Verrichtungen besteht.378 Leistungsberechtigt im Rahmen der Sozialhilfe sind mithin Personen ab jedem messbaren grundpflegerischen Bedarf.379 Der zum Jahresbeginn 2017 in Kraft tretende neue Pflegebedürftigkeitsbegriff gilt nicht für die Sozialhilfe.380 Der Personenkreis derer, die pflegebedürftig im Sinne beider Sozialgesetzbücher sind, vergrößert sich dann allerdings aufgrund des erweiterten neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs der Pflegeversicherung. Dennoch wird es auch weiterhin Personen geben, die allein pflegebedürftig im Sinne der Sozialhilfe sind. 2. Leistungen Der Anspruch auf vollstationäre Pflege richtet sich nach § 61 Abs. 2 S. 1, 2 SGB XII i.V.m. §§ 28 Abs. 1 Nr. 8, 43 SGB XI. Ebenso folgen die Pflegehilfsmittel und wohnumfeldverbessernden Maßnahmen, die teilstationäre Pflege und die Kurzzeitpflege inhaltlich den entsprechenden Regelungen des SGB XI, vgl. § 61 Abs. 2 S. 1, 2 SGB XII. Allerdings gelten aufgrund der Auffangfunktion der Sozialhilfe die jeweiligen betragsmäßigen Beschränkungen nicht.381 Für die Grundleistungen und weitere Leistungen bei häuslicher Pflege sieht die Sozialhilfe ein eigenständiges Leistungssystem vor. Der Anspruch auf Pflegegeld ist in § 64 SGB XII geregelt. Pflegebedürftige der Pflegestufe I bis III erhalten ein Pflegegeld in Höhe des Betrags nach § 37 Abs. 1 S. 3 SGB XI. Einziger Unterschied zum Pflegegeld der Pflegeversicherung ist, dass sich der zumindest erhebliche Pflegebedarf wegen eines Hilfebedarfs bei allen Verrichtungen ergeben kann und nicht nur bei denjenigen in § 14 Abs. 4 SGB XI. Bei Pflegestufe 0 kommen allein Leistungen nach § 65 Abs. 1 SGB XII in Betracht. § 65 SGB XII sieht mit den anderen Leistungen einen eigenen, von der sozialen Pflegeversicherung abweichenden Katalog an Leistungen bei häuslicher Pflege vor. Gem. § 65 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 SGB XII erhalten ehrenamtlich, ambulant gepflegte Pflegebedürftige angemessene Aufwendungen erstattet, die der Pflegeperson im Zusammenhang mit der Pflege entstehen. Voraussetzung ist, dass sie diese nicht mit dem Pflegegeld decken können, weil es hierfür neben seiner Funktion als Anerkennung der Pflegetätigkeit nicht ausreicht oder aber kein Anspruch auf Pflegegeld

378 Siehe dazu näher Grube, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 61 Rn. 25; Grube, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 61 Rn. 33; Krahmer/Sommer, in: Bieritz-Harder/Armborst/ Berlit, SGB XII, § 61 Rn. 7. 379 Ob dagegen ein Hilfebedarf allein bei der hauswirtschaftlichen Versorgung ausreicht, ist umstritten. Befürwortend BSG, Urt. v. 11. 12. 2007, Az B 8/9b SO 12/06 R. Ablehnend Krahmer/Sommer, in: Bieritz-Harder/Armborst/Berlit, SGB XII, § 61 Rn. 6. 380 Vgl. BT-Drucks. 18/5926, S. 109. 381 Vgl. Schellhorn, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, § 61 Rn. 38 ff.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

besteht.382 Alternativ können Pflegebedürftige gem. § 65 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 SGB XII Beihilfen in pauschalierter Form für die Aufwendungen der Pflegeperson bzw. als zusätzlichen Anreiz (sog. kleines Pflegegeld) erhalten.383 Vorteil ist, dass die Aufwendungen aus Praktikabilitätsgründen nicht, wie nach Satz 1, konkret nachgewiesen werden müssen. Überdies kommt gem. § 65 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 SGB XII die Übernahme der Beiträge für eine angemessene Alterssicherung der Pflegeperson eines Pflegebedürftigen der Pflegestufe 0 in Betracht.384 Die Leistungen gem. § 65 SGB XII erhält der Pflegebedürftige zusätzlich zu dem Pflegegeld nach § 64 SGB XII, wobei eine Kürzung des Pflegegeldes um bis zu zwei Drittel stattfinden kann, vgl. § 66 Abs. 2 SGB XII. Pflegebedürftige der Pflegestufe I bis III erhalten die Kosten für die nicht anderweitig sichergestellte angemessene Alterssicherung der pflegenden Person nach § 65 Abs. 2 SGB XII. Gem. § 65 Abs. 1 S. 2 SGB XII sind die Kosten für eine gebotene zeitweise Entlastung der Pflegeperson zu übernehmen. Dies können nicht nur Kosten für eine professionelle oder informelle Verhinderungspflege, sondern auch für die zeitweise stationäre Unterbringung sein.385 Zumindest anteilig ambulant, professionell gepflegte Pflegebedürftige haben einen Anspruch auf Pflegesachleistungen gem. § 61 Abs. 2 S. 2 SGB XII i.V.m. §§ 28 Abs. 1 Nr. 1, 36 SGB XI oder auf Kostenübernahme für eine besondere Pflegekraft gem. § 65 Abs. 1 S. 2 SGB XII.386 Die Leistungen nach § 36 SGB XI erhalten sie als der Höhe nach unbegrenzte Sachleistung. Alternativ können Pflegebedürftige im Wege des „Arbeitgebermodells“ selbst eine Pflegekraft beschäftigen, für welche ihnen die Kosten gem. § 65 Abs. 1 S. 2 SGB XII erstattet werden.387 Allerdings müssen sie vorrangig das Pflegegeld des SGB XI zur Finanzierung der Pflegekraft einsetzen, während von der Sozialhilfe die übersteigenden, angemessenen Kosten übernommen werden, vgl. § 66 Abs. 4 S. 2 u. 3 SGB XII.388 Zusätzlich erhalten auch die ambulant, professionell Gepflegten gem. § 66 Abs. 2 SGB XII ein ggf. um zwei Drittel gekürztes Pflegegeld.389 Die Leistungen des SGB XI gehen grundsätzlich denjenigen der Hilfe zur Pflege vor, §§ 2 Abs. 1, 66 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 1 SGB XII, § 13 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 382

Vgl. Schellhorn, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, § 65 Rn. 6. Siehe hierzu auch weiterführend Krahmer/Sommer, in: Bieritz-Harder/Armborst/Berlit, SGB XII, § 65 Rn. 5. 384 Siehe Lachwitz, in: Fichtner/Wenzel, SGB XII, § 65 Rn. 14. 385 Vgl. Schellhorn, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, § 65 Rn. 19. 386 Vgl. Krahmer/Sommer, in: Bieritz-Harder/Armborst/Berlit, SGB XII, § 65 Rn. 16. Siehe zum Verhältnis von Pflegesachleistungen und der Übernahme der Kosten für eine Pflegekraft auch näher Lachwitz, in: Fichtner/Wenzel, SGB XII, § 61 Rn. 51 ff. 387 Vgl. Schellhorn, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, § 61 Rn. 51, § 65 Rn. 11.1. 388 Siehe hierzu näher Grube, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 66 Rn. 23; Greiner, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, SGB XII, § 66 Rn. 7. 389 Vgl. BVerwG, Urt. v. 03. 07. 2003, Az 5 C 7/02, NJW 2004, 242. Siehe hierzu näher Krahmer/Sommer, in: Bieritz-Harder/Armborst/Berlit, SGB XII, § 64 Rn. 17, § 66 Rn. 6 ff. 383

6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen

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SGB XI.390 Damit kommt ein Anspruch auf Hilfe zur Pflege bei Vorliegen von Bedürftigkeit zum einen in Betracht, wenn aufgrund des engeren Pflegebedürftigkeitsbegriffs kein Anspruch auf Leistungen der sozialen Pflegeversicherung besteht. Zum anderen kann ein solcher gegeben sein, wenn die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nicht ausreichen, um den Bedarf zu decken und der Einzelne auch nicht in der Lage ist, den überschießenden Bedarf selbst zu decken.391 Die Gewährung von aufstockendem Pflegegeld ist dagegen nur denkbar, wenn aufgrund des weiteren Pflegebedürftigkeitsbegriffs in der Sozialhilfe eine höhere Pflegestufe vorliegt.392 Besteht ungedeckter Bedarf eines anspruchsberechtigten Pflegebedürftigen im Bereich des Lebensunterhalts, ist er über die Hilfe zum Lebensunterhalt abzudecken. Hierunter fallen beispielsweise bei der (teil)stationären Pflege die Kosten für die Unterkunft und Verpflegung.

II. Vorranggrundsatz der Sozialhilfe 1. Gesetzliche Normierung des allgemeinen Vorranggrundsatzes in § 13 Abs. 1 SGB XII Auch die Sozialhilfe sieht die Vorrangigkeit ambulanter Leistungen vor. Gem. § 13 Abs. 1 S. 2 SGB XII haben ambulante Leistungen Vorrang vor teilstationären Leistungen und diese wiederum Vorrang vor stationären Leistungen. Bei § 13 Abs. 1 S. 2 SGB XII handelt es sich nicht nur um einen bloßen Programmsatz, sondern um eine einfachgesetzliche Normierung des Vorrangs ambulanter Leistungen für die Sozialhilfe.393 Sie bindet den Sozialhilfeträger in seinem grundsätzlichen Ermessen bezüglich der Organisationsform der Leistungserbringung (vgl. § 13 Abs. 1 S. 1 SGB XII).394 Die gesetzlich vorgegebene Stufenfolge ist vom Sozialhilfeträger bei der Leistungsgewährung grundsätzlich einzuhalten. Für eine Abweichung bedarf es besonderer Gründe.395 Durchbrochen wird der Vorrang ambulanter Leistungen durch § 13 Abs. 1 S. 3 SGB XII. Danach gilt er nicht, wenn die stationäre Leistung zumutbar und die ambulante mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. In einem solchen Fall liegt die Wahl von ambulanter oder stationärer Leistungsge390

Eine Ausnahme hiervon sollen die Leistungen nach § 45b SGB XI bilden, vgl. § 13 Abs. 3a SGB XI. Davon wiederum ausgenommen sind allerdings Leistungen gem. § 45b Abs. 3 SGB XI, vgl. BT-Drucks. 18/1798, S. 32. Siehe hierzu auch näher Schellhorn, in: Schellhorn/ Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, § 61 Rn. 49. 391 Siehe dazu BVerwG, Urt. v. 15. 06. 2000, Az 5 C 34/99, NJW 2000, 3512. 392 Vgl. § 66 Abs. 1 S. 1 SGB XII. Siehe hierzu auch Krahmer/Sommer, in: Bieritz-Harder/ Armborst/Berlit, SGB XII, § 66 Rn. 2. 393 Vgl. auch Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, § 13 Rn. 1. 394 Vgl. Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, § 13 Rn. 1; Luthe, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 13 Rn. 5. 395 Vgl. Luthe, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 13 Rn. 10.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

währung im Ermessen des Sozialhilfeträgers.396 Hinsichtlich der Zumutbarkeit sind persönliche, familiäre und örtliche Umstände, beispielsweise soziale Kontakte oder der Verbleib in vertrauter Umgebung, angemessen zu berücksichtigen, § 13 Abs. 1 S. 5 SGB XII.397 Ist die stationäre Leistung zumutbar, müssen die Kosten der ambulanten Leistung nicht nur im Vergleich zu den Durchschnittskosten einer stationären Einrichtung, sondern auch im Vergleich zu den Kosten der konkret als zumutbar erachteten stationären Einrichtung unverhältnismäßig sein.398 Ein Übersteigen der stationären Kosten um 60 % gilt als Orientierungswert für die Unverhältnismäßigkeit der ambulanten Kosten.399 Aufgrund ihres verbindlichen Charakters für die Ermessensentscheidung des Sozialhilfeträgers ist die allgemeine Vorrangregelung des SGB XII somit strikter ausgestaltet als diejenige der Pflegeversicherung.400 2. Vorranggrundsatz für die Leistungen der Hilfe zur Pflege § 61 Abs. 2 S. 2 SGB XII verweist auf die Regelungen der Pflegeversicherung und § 61 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 SGB XII wiederholt den Vorrang ambulanter Pflege auch für den nicht von der Pflegeversicherung umfassten Kreis Leistungsberechtigter. Deshalb könnte man annehmen, dass für die Hilfe zur Pflege generell nicht der Vorranggrundsatz der Sozialhilfe, sondern derjenige der Pflegeversicherung gilt.401 Dagegen spricht jedoch zum einen, dass § 61 Abs. 2 S. 2 SGB XII allein auf bestimmte Leistungsnormen der Pflegeversicherung verweist und nicht auch auf den Programmsatz in § 3 SGB XI. Zum anderen handelt es sich bei § 13 SGB XI um einen Grundsatz der Sozialhilfe, der bereits seinem Wortlaut nach allgemein für sämtliche Leistungen der Sozialhilfe Geltung erlangt. Schließlich ist eine generelle Übertragung des Vorranggrundsatzes der Pflegeversicherung auf die Hilfe zur Pflege auch aus dem Grund nicht anzunehmen, da die Sozialhilfe bei Pflegebedürftigkeit ein teilweise eigenes, von der Pflegeversicherung losgelöstes Leistungssystem vorsieht.

396 Vgl. § 13 Abs. 1 S. 1 SGB XII. Siehe hierzu auch Luthe, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 13 Rn. 27. 397 Siehe Höfer/Krahmer, in: Bieritz-Harder/Armborst/Berlit, SGB XII, § 13 Rn. 9. 398 Siehe Höfer/Krahmer, in: Bieritz-Harder/Armborst/Berlit, SGB XII, § 13 Rn. 10; Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 13 Rn. 24. 399 Vgl. Luthe, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 13 Rn. 47. 400 Vgl. hierzu auch BT-Drucks. 15/1514, S. 56; Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm/ Schneider, SGB XII, § 13 Rn. 4; Luthe, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 13 Rn. 10. Aufgrund des verbindlichen Charakters der Vorrangregelung im SGB XII könnte hier auch von einem Vorrangprinzip im Sinne eines Rechtsprinzips gesprochen werden. Siehe dazu näher Zweiter Teil, Erstes Kapitel, A. 401 So Lachwitz, in: Fichtner/Wenzel, SGB XII, § 61 Rn. 105.

6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen

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Der Vorranggrundsatz der Sozialhilfe kommt somit grundsätzlich auch für die Hilfe zur Pflege zur Anwendung.402 Er wird jedoch durch die Spezialvorschriften der §§ 61 ff. SGB XII modifiziert.403 Sie bewirken im Bereich der Hilfe zur Pflege ein zusätzliches Stufenverhältnis zwischen den ambulanten Pflegeformen. Der häuslichen, informellen Pflege wird der Vorrang vor der häuslichen, professionellen Pflege eingeräumt.404 Professionelle, ambulante Pflege erhalten Pflegebedürftige nur, wenn dies neben oder anstelle der informellen, ambulanten Pflege erforderlich ist. Das geht aus der Regelung in § 65 Abs. 1 S. 2 SGB XII hervor, wonach eine professionelle Pflegekraft nur bei Erforderlichkeit (ergänzend) herangezogen werden kann. Der Vorrang ambulanter, informeller Pflege wird zudem durch das gesamte System der §§ 63 ff. SGB XII gestützt. § 63 Abs. 1 S. 1 SGB XII erteilt dem Träger der Sozialhilfe den Auftrag darauf hinzuwirken, dass die Pflege durch ehrenamtliche Pflegepersonen übernommen wird. Er ist angehalten, die informellen Pflegepersonen, beispielweise durch Information und Beratung, zu einer Pflegetätigkeit zu motivieren und bei einer solchen zu unterstützen.405 Überdies ist für die Hilfe zur Pflege ein gegenüber der Pflegeversicherung eigenes System an häuslichen Leistungen vorgesehen, in dessen Mittelpunkt das Pflegegeld und damit die Grundleistung bei informeller, ambulanter Pflege steht.406 Selbst bei alleiniger Pflege durch professionelle Pflegekräfte wird es noch zu einem Drittel vor dem Hintergrund weitergezahlt, dadurch ggf. den Weg zu einer Rückkehr in die ambulante, informelle Pflege offen zu halten.407 3. Bedeutung des Wunschrechts des Hilfeempfängers Auch die Sozialhilfe erkennt dem Leistungsempfänger ein Wunschrecht zu. Gem. § 9 Abs. 2 S. 1 SGB XII soll Wünschen des Leistungsberechtigten, die sich auf die Gestaltung der Leistung richten, entsprochen werden, soweit sie angemessen sind.408 402

Für die Geltung des Vorranggrundsatzes der Sozialhilfe in der Hilfe zur Pflege auch Schellhorn, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, § 61 Rn. 45.1; Krahmer/ Sommer, in: Bieritz-Harder/Armborst/Berlit, SGB XII, § 61 Rn. 16. 403 So auch Luthe, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 13 Rn. 39a. 404 Vgl. auch Luthe, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 13 Rn. 35; Klie, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 63 Rn. 4; Krahmer/Sommer, in: Bieritz-Harder/Armborst/Berlit, SGB XII, § 63 Rn. 2. 405 Siehe hierzu näher Klie, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 63 Rn. 4; Grube, in: Grube/ Wahrendorf, SGB XII, § 63 Rn. 4. 406 Vgl. hierzu auch Schellhorn, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, § 66 Rn. 9. 407 Vgl. hierzu auch BVerwG, Urt. v. 03. 07. 2003, Az 5 C 7/02, NJW 2004, 242; Krahmer/ Sommer, in: Bieritz-Harder/Armborst/Berlit, SGB XII, § 66 Rn. 7 f.; Klie, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 66 Rn. 4. 408 Hinsichtlich der Angemessenheit wird unterschiedlich beurteilt, ob an dieser Stelle schon Kostenerwägungen einfließen dürfen. Siehe hierzu Luthe, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 9 Rn. 77 ff.; Roscher, in: Bieritz-Harder/Armborst/Berlit, SGB XII, § 9 Rn. 23, Rn. 30.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

Das Wunschrecht beinhaltet grundsätzlich auch den Wunsch nach entweder ambulanter oder stationärer Leistungserbringung.409 Allerdings wird das Wunschrecht hinsichtlich einer stationären Leistungserbringung bereits in § 9 SGB XII selbst wieder eingeschränkt. So soll dem Wunsch nach (teil)stationären Leistungen nur entsprochen werden, wenn dies erforderlich ist, da der Bedarf anders nicht oder nicht ausreichend gedeckt werden kann, vgl. § 9 Abs. 2 S. 2 SGB XII. Erforderlich sind (teil)stationäre Leistungen nur, wenn keine objektiv und subjektiv zumutbaren ambulanten Hilfeangebote in Betracht kommen.410 Als subjektiv nicht zumutbar gelten die ambulanten Leistungen nicht schon dann, wenn der Leistungsberechtigte sie lediglich nicht wünscht. Das bloße Beharren auf (teil)stationären Leistungen, ist also nicht ausreichend.411 Aufgrund des bindenden Charakters des Vorranggrundsatzes für den Sozialhilfeträger und der gleichzeitigen Begrenzung des Wunschrechts des Leistungsempfängers wird das Wunschrecht in der Sozialhilfe durch den Vorrang ambulanter Leistungen überlagert.412 Wünscht der Leistungsberechtigte ambulante Leistungen, stehen dem weder die Einschränkung des Wunschrechts noch grundsätzlich die Vorrangregelung entgegen. Anders ist dies, wenn die ambulanten Leistungen im Vergleich zu zumutbaren stationären Leistungen mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sind.413 Wünscht der Leistungsberechtigte stationäre Leistungen, sind diese nur bei Erforderlichkeit zu gewähren.

III. Bedeutung der verfassungsrechtlichen Grenzen für die ergänzende Hilfe zur Pflege Fraglich ist allerdings, ob das Wunschrecht des Leistungsempfängers auch beim Bezug von ergänzender Hilfe zur Pflege durch den Vorranggrundsatz der Sozialhilfe überlagert werden kann. Denn bei einem Ineinandergreifen von Leistungen der Pflegeversicherung und Leistungen der Sozialhilfe würde dies bedeuten, dass an die jeweilige Leistungsgewährung unterschiedlich strikt ausgestaltete Vorranggrundsätze anzulegen wären. Bei der Pflege handelt es sich aber um einen einheitlichen Lebenssachverhalt. Damit könnte der Pflegebedürftige, selbst wenn er im Rahmen seiner von der Pflegeversicherung finanzierten Leistungen frei zwischen den Pflegeformen wählen kann, durch die Sozialhilfe dennoch vorrangig auf die ambulante Pflege verwiesen werden. Der verbindliche Vorranggrundsatz der Sozialhilfe würde 409 Vgl. Luthe, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 9 Rn. 40; Roscher, in: Bieritz-Harder/Armborst/Berlit, SGB XII, § 9 Rn. 28. 410 Vgl. Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, § 9 Rn. 30. 411 Vgl. Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, § 9 Rn. 30. 412 Siehe Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 9 Rn. 36; Hohm, in: Schellhorn/ Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, § 9 Rn. 34; Luthe, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 13 Rn. 26 ff. 413 Vgl. hierzu auch Luthe, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 13 Rn. 9.

6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen

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somit den Vorranggrundsatz der Pflegeversicherung verdrängen. Zweifelhaft erscheint, ob dies mit der Verfassung in Einklang steht. 1. Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht In dem Fall, dass der Pflegebedürftige aufgrund des sich durchsetzenden Vorranggrundsatzes der Sozialhilfe bei benötigter ergänzender Hilfe zur Pflege vorrangig auf die ambulante Pflege verwiesen wird, greift man in sein allgemeines Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein. Entscheidend ist, dass bei einer anteiligen Finanzierung der Pflege durch die Pflegeversicherung und durch die Sozialhilfe die Einschränkung der freien Wahl der Pflegeform nicht nur den von der Sozialhilfe abgedeckten Bereich, sondern gleichzeitig denjenigen der sozialen Pflegeversicherung betrifft. Die Pflege kann nicht in den durch die Pflegeversicherung und den durch die Sozialhilfe finanzierten Teil getrennt werden. Es findet vielmehr eine einheitliche Gesamtpflege statt, unabhängig davon, welcher Träger sie im Einzelnen finanziert. Auf die einheitliche Pflege würde sich eine Einschränkung des Pflegebedürftigen in seiner freien Wahl der Pflegeform insgesamt auswirken. Er müsste seine Pflege in der Form durchführen lassen, die ihm die Sozialhilfe vorgibt, da eine andere für ihn nicht finanzierbar wäre. Damit untergrübe man sein Wunschrecht im Bereich der Pflegeversicherung, dessen Überwiegen dort verfassungsrechtlich notwendig ist.414 Es kann nicht sein, dass Pflegebedürftige, die zusätzlich der Sozialhilfe bedürfen, in ihrer freien Wahl im Bereich der Pflegeversicherung stärker eingeschränkt werden, obwohl sie hierfür die gleichen Bedingungen erfüllen wie alle anderen Pflegeversicherten.415 Ihnen müssen in der Pflegeversicherung die gleichen Rechte verbleiben, auch wenn sie darüber hinaus auf Sozialhilfe angewiesen sind. 2. Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Gleichbehandlungsgebot Daneben könnte die Dominanz des sozialhilferechtlichen Vorranggrundsatzes bei einer ergänzenden Hilfe zur Pflege gegen das allgemeine Gleichbehandlungsgebot gem. Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Pflegebedürftige, die nicht auf Sozialhilfe angewiesen sind, könnten frei zwischen den Pflegeformen wählen, diejenigen, die zusätzlich auf Sozialhilfe angewiesen sind, dagegen nicht. Hierin müsste eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem liegen.416 Die Pflegebedürftigen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind und diejenigen, die es nicht sind, lassen sich unter den 414

Siehe hierzu ausführlich Dritter Teil, Sechstes Kapitel, A. I. In diese Richtung gehend auch Lachwitz, in: Schulin, Pflegeversicherung, § 9 Rn. 174 f.; Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 13 Rn. 14; Wagner, in: Hauck/Noftz, SGB XI, § 13 Rn. 29. 416 St. Rspr., vgl. BVerfG, Beschluss v. 27. 05. 1964, Az 1 BvL 4/59, BVerfGE 18, 38; BVerfG, Urt. v. 24. 04. 1991, Az 1 BvR 1341/90, BVerfGE 84, 133; BVerfG, Beschluss v. 15. 07. 1998, Az 1 BvR 1154/89, BVerfGE 98, 365. 415

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

gemeinsamen Oberbegriff „Pflegebedürftige“ fassen. Er dient gleichzeitig als Abgrenzungskriterium von weiteren Personengruppen.417 Durch eine Anwendung des Vorranggrundsatzes der Sozialhilfe bei der ergänzenden Hilfe zur Pflege erführen die vergleichbaren Gruppen eine unterschiedliche Behandlung. Zur Rechtfertigung bedarf es eines sachlichen Grundes, welcher einen legitimen Zweck verfolgt, hierfür geeignet und erforderlich ist und in einem angemessenen Verhältnis zum Wert des Zwecks steht.418 Eine strengere als eine bloße Willkürprüfung ist notwendig, da die Pflegebedürftigen, die ergänzend auf Sozialhilfe angewiesen sind, durch die Ungleichbehandlung in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht eingeschränkt werden.419 Hinsichtlich der sich auf die Pflegeversicherung auswirkenden Ungleichbehandlung ist kein sachlicher Grund zu ersehen. Die Pflegebedürftigen ohne und mit aufstockendem Sozialhilfebedarf erfüllen in der Pflegeversicherung die gleichen Voraussetzungen. Da es sich bei der Pflege um einen einheitlichen Lebenssachverhalt handelt, muss sich der fehlende sachliche Grund für die Ungleichbehandlung bei dem von der sozialen Pflegeversicherung finanzierten Pflegeteil auf die Pflege im Gesamten auswirken. Wegen dieser Verknüpfung können an die von der Sozialhilfe und die von der sozialen Pflegeversicherung finanzierte Pflege keine unterschiedlichen Maßstäbe angelegt werden. Die Ungleichbehandlung der Pflegebedürftigen mit aufstockendem Sozialhilfebedarf ist mithin nicht durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt.

IV. Fazit Auch die Sozialhilfe sieht mit der Hilfe zur Pflege gem. §§ 61 ff. SGB XII bei Bedürftigkeit Leistungen für den Fall der Pflegebedürftigkeit vor. Der Vorranggrundsatz der Sozialhilfe ist allerdings strikter ausgestaltet als derjenige der sozialen Pflegeversicherung. § 13 Abs. 1 SGB XII legt einfachgesetzlich fest, dass die ambulanten den stationären Leistungen vorgehen. Der Vorranggrundsatz der Sozialhilfe kommt grundsätzlich auch für die Hilfe zur Pflege zur Anwendung. Er gilt jedoch dann nicht mehr, wenn der Bezug von Leistungen der Hilfe zur Pflege mit dem Bezug von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung zusammentrifft. Aufgrund des einheitlichen Sachverhalts „Pflege“ ist es nicht zu begründen, dass an den durch die Pflegeversicherung und an den durch die Sozialhilfe finanzierten Teil unterschiedliche Vorranggrundsätze angelegt werden. Sonst unterliefe der striktere Vorrangrundsatz der Sozialhilfe den der Pflegeversicherung.420 Dies würde wiederum für den von der Pflegeversicherung getragenen Pflegeleistungsanteil zu einer Verletzung 417

Siehe hierzu näher Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 487. Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 17 ff. 419 Siehe zum Prüfungsmaßstab BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 26. 03. 2014, Az 1 BvR 1133/12, juris Rn. 18; Kischel, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 3 Rn. 28 ff. 420 Kritisch zum Vorranggrundsatz der Sozialhilfe auch Giese, ZfSH/SGB 1984, S. 198 f. 418

6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen

153

des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Pflegebedürftigen gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und des allgemeinen Gleichheitsgebots gem. Art. 3 Abs. 1 GG führen. Deshalb muss sich in der ergänzenden Hilfe zur Pflege der Vorranggrundsatz der Pflegeversicherung durchsetzen.421 Bei einem Ineinandergreifen von Pflegeversicherung und Sozialhilfe bleibt es also, ebenfalls verfassungsrechtlich bedingt, bei der freien Wahl des Pflegebedürftigen zwischen den Pflegeformen.

D. Schlussfolgerung Ein Vorranggrundsatz in der Pflegeversicherung begegnet verfassungsrechtlichen Grenzen. Er darf die Pflegebedürftigen nicht in ihrer freien Wahl zwischen den Pflegeformen einschränken. Andernfalls liegt ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Pflegebedürftigen gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG vor, der nicht mit nur eventuellen oder geringen Kosteneinsparungen zu rechtfertigen ist. Ebenso dürfen informelle Pflegepersonen durch den Vorranggrundsatz nicht zur Übernahme der Pflege verpflichtet werden. Dies würde einen Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Pflegeperson gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und eine Verletzung des Gleichheitsgebots gem. Art. 3 Abs. 2 GG bedeuten. Die Kostenerwägungen reichen hier gleichfalls für eine Rechtfertigung nicht aus. Überträgt man diese verfassungsrechtlichen Grenzen, die sich im Abstrakten für einen Vorranggrundsatz in der Pflegeversicherung ergeben, auf seine konkrete Ausgestaltung im SGB XI, dann ist einzige Folge die Verfassungswidrigkeit des § 43 Abs. 4 SGB XI. Denn nur die Sanktionsvorschrift führt zu einer Beschränkung der freien Pflegeformwahl der Pflegebedürftigen. Ansonsten werden weder die Pflegebedürftigen aufgrund der bloßen Ausgestaltung des Vorrangs ambulanter Pflege als Programmsatz und seiner fehlenden verbindlichen Umsetzung in ihrem Wunschrecht eingeschränkt, noch die informellen Pflegepersonen zu einer Pflegeübernahme verpflichtet. Der Gesetzgeber hat sich mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz für eine Streichung des § 43 Abs. 4 SGB XI zum 01. 01. 2017 entschieden. Die allgemeinen verfassungsrechtlichen Grenzen, denen der Vorranggrundsatz in der Pflegeversicherung begegnet, erlangen nicht allein für die Pflegeversicherung Bedeutung, sondern wirken sich darüber hinaus auch auf die Sozialhilfe aus. Für Leistungen der Hilfe zur Pflege nach den §§ 61 ff. SGB XII, die ein Pflegebedürftiger ergänzend zu den Leistungen der Pflegeversicherung bezieht, muss aufgrund des Ineinandergreifens der Leistungssysteme ebenfalls der verfassungsrechtlich begrenzte Vorranggrundsatz der Pflegeversicherung gelten. Auch hier muss dem 421 In diese Richtung gehend auch Lachwitz, in: Fichtner/Wenzel, SGB XII, § 61 Rn. 105; Lachwitz, in: Schulin, Pflegeversicherung, § 9 Rn. 174 f.; Udsching, in: Udsching, SGB XI, § 13 Rn. 14; Wagner, in: Hauck/Noftz, SGB XI, § 13 Rn. 29.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

Pflegebedürftigen die freie Wahl zwischen den Pflegeformen verbleiben. Andernfalls läge ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sowie eine Verletzung des allgemeinen Gleichbehandlungsgebots gem. Art. 3 Abs. 1 GG vor.

Siebtes Kapitel

Der Vorranggrundsatz vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung Auch wenn eine über die unverbindliche Ausgestaltung als Programmsatz hinausgehende Regelung des Vorrangs ambulanter Pflege in der Pflegeversicherung verfassungsrechtlich nicht möglich ist, wäre es dennoch denkbar, den Vorranggrundsatz als Programmsatz beizubehalten. Er kann trotzdem dazu beitragen, das gesellschaftliche Bild von Pflege mitzuprägen. Durch die Betonung der ambulanten Pflege und einem über der sozialen Pflegeversicherung „schwebenden“ Grundsatz der Vorrangigkeit ambulanter Pflege, kann zumindest der Stellenwert dieser Pflegeform in der Gesellschaft mitgeprägt werden. Dadurch kann erreicht werden, dass die ambulante Pflege sowohl bei den Pflegebedürftigen als auch bei den Pflegepersonen ein hohes Ansehen bis hin zu einer sozialen Norm behält.422 Die ambulante Pflege wird offensichtlich auch von der Gesellschaft nach wie vor als die wünschenswerteste Pflegeform empfunden. Dafür spricht die Tatsache, dass mit 70,9 % immer noch der überwiegende Teil der Pflegebedürftigen ambulant versorgt wird.423 Es ist jedoch nur dann sinnvoll, auf die ambulante Pflege in Form eines Programmsatzes einen besonderen Fokus zu legen, wenn sie nicht nur die für die Pflegebedürftigen wünschenswerteste Pflegeform ist, sondern gleichzeitig eine praktikable und gesellschaftspolitisch realistische Praxis darstellt. Dass die ausschließlich ambulante, professionelle Pflege keine besonders praxistaugliche Pflegeform ist, wurde gezeigt. Sie ist aufgrund des hohen Maßes an Individualisierung sowohl für den Pflegebedürftigen als auch für die Pflegeversicherung mit einem hohen organisatorischen Aufwand und dadurch mit hohen Kosten verbunden.424 Dementsprechend wird sie nur von einem geringen Anteil (7 %) der Pflegebedürftigen bezogen.425 422 Vgl. zum Ansehen der ambulanten Pflege auch Dallinger, SF 1993, S. 110; Alber, SF 1990, S. 215. 423 Vgl. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2013, S. 9. Dass die ambulante Pflege dem Wunsch der Mehrzahl der Pflegebedürftigen entspricht, wird auch angenommen in BTDrucks. 12/5262, S. 90; BR-Drucks. 718/07, S. 217. Ob dies tatsächlich der Fall ist, wird allerdings teilweise in Zweifel gezogen. Siehe Hopfe, ZSR 1995, S. 274; Alber, SF 1990, S. 213 f. 424 Siehe zu den Anreizen der ambulanten, professionellen Pflege für den Pflegebedürftigen Dritter Teil, Drittes Kapitel, B und zu den Kosten für die Pflegeversicherung Dritter Teil, Fünftes Kapitel, A. I. 425 Siehe BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 26.

7. Kap.: Der Vorranggrundsatz

155

Inwieweit die ambulanten Pflegeformen, an denen eine informelle Pflegeperson beteiligt ist, in Zukunft gesellschaftspolitisch realistisch und damit praktikabel sind, erscheint angesichts des demographischen und gesellschaftlichen Wandels und der mit der Pflege verbundenen Belastung der Pflegeperson mehr als fraglich.

A. Veränderte Gesellschaftsstrukturen Folge des demographischen Wandels ist mit der Zunahme der Anzahl älterer Menschen auch die Zunahme der Anzahl Pflegebedürftiger.426 Dies erfordert mehr Pflegearrangements, über die die pflegerische Versorgung der einzelnen Pflegebedürftigen sichergestellt wird. Da die ambulante, informelle Pflege ein zahlenmäßig keineswegs zu vernachlässigendes Pflegearrangement darstellt427, werden zur Aufrechterhaltung des Status quo immer mehr ehrenamtliche Pflegepersonen benötigt. Durch den demographischen Wandel verschiebt sich die Relation häuslicher, informeller Pflegearrangements grundlegend, da immer weniger mögliche Pflegepersonen zur Verfügung stehen. Bereits dadurch verschlechtern sich die Aussichten ambulanter, informeller Pflege.428 Hinzu kommt, dass es sich bei den informellen Pflegepersonen, die illegal beschäftigten unausgebildeten Zeitkräfte aus Mittel- oder Osteuropa einmal außen vorgelassen, überwiegend um Angehörige handelt. Nur zu einem geringen Anteil werden auch Nachbarn, Freunde oder sonstige ehrenamtliche Helfer tätig.429 Inwiefern sich zur Pflege bereite Angehörige finden lassen, hängt entscheidend von den Haushalts- und Familienstrukturen ab. So handelt es sich bei dem Großteil der Pflegepersonen entweder um die Partner oder die Kinder- bzw. Schwiegerkinder.430 Zudem wohnt die Pflegeperson in der Regel im gleichen Haushalt oder zumindest in der Nähe des Pflegebedürftigen.431 Auch bei den Haushalts- und Familienstrukturen vollzieht sich jedoch ein Wandel432: Seit dem Zeitpunkt der Einführung der Pflegeversicherung sank die Anzahl der Eheschließungen weiter, diejenige der Scheidungen stieg,433 immer mehr Personen leben alleine434, immer mehr Paare bekommen 426 Siehe hierzu auch Naegele, ZfS 1992, S. 606; Naegele/Igl, SozSich 1993, S. 237; Becker, SGb 2013, S. 124 f.; Blinkert/Klie, SF 2000, S. 237. 427 Vgl. Dritter Teil, Erstes Kapitel, A. 428 Vgl. hierzu auch Blinkert/Klie, Solidarität in Gefahr?, S. 32 ff.; Rothgang/Jacobs, G+S 4/2011, S. 11; Häcker/Raffelhüschen, Zukünftige Pflege ohne Familie, S. 2 f. 429 Siehe BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 27; BMFSFJ, MUG III, S. 76 f.; Rothgang/Staber, FPR 2012, S. 48; Alber, SF 1990, S. 212. 430 Siehe BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 27. 431 Siehe BMFSFJ, MUG III, S. 76. 432 Siehe u. a. BT-Drucks. 12/5262, S. 90. 433 Siehe Statistisches Bundesamt, Zahlen & Fakten, Ehescheidungen; Hackmann/Moog, ZSR 2010, S. 121.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

durchschnittlich weniger Kinder oder bleiben sogar kinderlos435 und immer weniger Familien wohnen in einem großen Haushalt zusammen436.437 Hinzu kommen durch den Arbeitsmarkt bedingte Veränderungen wie die notwendige größere Mobilität, das Fehlen von Arbeitskräften in bestimmten Bereichen, die wünschenswerte Gleichstellung von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und die steigende Frauenerwerbsquote.438 All diese Faktoren führen dazu, dass ebenfalls nicht mehr so viele informelle Pflegepersonen zur Verfügung stehen.439

B. Belastung der informellen Pflegepersonen Zu dem sinkenden Pflegepotential kommt hinzu, dass die ambulante, informelle Pflege meist mit einer starken Belastung für die Pflegeperson einhergeht.440 Diese wurde bereits bei Einführung des Pflege-Versicherungsgesetzes thematisiert. In der Gesetzesbegründung werden als u. a. in Betracht kommende Belastungsfaktoren genannt: die Notwendigkeit ständiger Anwesenheit, die fehlende Hoffnung auf eine Veränderung der Situation, die Angst vor einer Zunahme der Pflegebedürftigkeit, die Verwirrtheitszustände vieler Patienten, die Notwendigkeit den Pflegebedürftigen immer wieder zu reinigen sowie Stuhl- und Harnausscheidungen zu beseitigen und die Sorge der Pflegepersonen, den zahlreichen anderen familiären Ansprüchen nicht gewachsen zu sein.441 Tatsächlich ist die informelle Pflege eines Pflegebedürftigen häufig ein „Full-Time-Job“ für die Pflegeperson.442 Sie verlangt meist eine tägliche Verfügbarkeit und eine durchschnittliche wöchentliche Zeit von rund 37 Stunden und dies in der Regel über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg.443 Bei einer höheren Pflegestufe oder einem starken geistigen Abbau intensiviert sich die Notwendigkeit einer fortlaufenden Unterstützung in Alltagsdingen und einer emotio434

Siehe Statistisches Bundesamt, Alleinlebende in Deutschland, S. 7 f. Statistisches Bundesamt, Geburtentrends und Familiensituation in Deutschland 2012, S. 17, S. 31 f. 436 Vgl. Statistisches Bundesamt, Zahlen & Fakten, Haushalte nach Haushaltsgröße. 437 Siehe hierzu auch Häcker/Raffelhüschen, Zukünftige Pflege ohne Familie, S. 2 ff. 438 Vgl. auch Klie, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, Einleitung Rn. 2; Rothgang/ Jacobs, G+S 4/2011, S. 11; Häcker/Raffelhüschen, Zukünftige Pflege ohne Familie, S. 5 ff.; Klie/Schmidt, Die neue Pflege alter Menschen, S. 187; Hackmann/Moog, ZSR 2010, S. 120; Schmidt, in Dräther/Jacobs/Rothgang, S. 303; Statistisches Bundesamt, Frauen und Männer auf dem Arbeitsmarkt, S. 4. 439 Siehe hierzu insgesamt Skuban, Die Pflegeversicherung, S. 10 ff.; Blinkert/Klie, Solidarität in Gefahr?, S. 37, S. 59; Häcker/Raffelhüschen, Zukünftige Pflege ohne Familie, S. 2 ff.; Gilberg, Hilfe- und Pflegebedürftigkeit im höheren Alter, S. 37 ff. 440 Siehe hierzu auch Hopfe, ZSR 1995, S. 264 ff. 441 Siehe BT-Drucks. 12/5262, S. 65. 442 Siehe BMFSFJ, MUG III, S. 78. 443 Vgl. BMFSFJ, MUG III, S. 78; BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 28. Siehe auch Dritter Teil, Drittes Kapitel, A. II. 1. 435

7. Kap.: Der Vorranggrundsatz

157

nalen Begleitung.444 Aufgrund des zeitlichen Aufwands und der emotionalen Herausforderung wird die Pflege von der überwiegenden Mehrheit der Pflegepersonen als „eher stark“ bzw. „sehr stark“ belastend empfunden.445 Die physische und psychische Beanspruchung ist einer der wesentlichen soziokulturellen Faktoren, durch welche die Bereitschaft und Motivation der Pflegepersonen zur Übernahme der Pflege sinkt.446 Gleichzeitig sind die Anreize, die für die Pflegeperson bei der Übernahme einer Pflege vorgesehen sind, gering.447 Ihnen kommt in der Regel allenfalls der Wert einer symbolischen Anerkennung der Pflegetätigkeit zu.

C. Besondere Belastung von Frauen Von der Belastung sind besonders Frauen betroffen, denn sie übernehmen in der Mehrzahl der Fälle die Pflege. So waren 2010 72 % der Hauptpflegepersonen weiblich.448 19 % pflegenden Partnerinnen standen immerhin noch 15 % pflegende Partner gegenüber, 26 % pflegenden Töchtern dagegen bereits nur noch 10 % pflegende Söhne und 8 % pflegenden Schwiegertöchtern sogar nur noch 1 % pflegende Schwiegersöhne.449 Hinzu kommt mit der zunehmenden Erwerbsquote der Frauen, dass sich ihre Belastung durch die notwendige Vereinbarkeit der Pflege mit der Erwerbstätigkeit potenziert.450 92 % der Pflegepersonen sind 40 Jahre oder älter.451 Dennoch darf nicht übersehen werden, dass in der Vielzahl der Fälle den Frauen hierdurch eine Dauerbelastung erwächst: Neben ihrem Beruf müssen sie zunächst die Betreuung der Kinder übernehmen und anschließend, wenn nicht sogar für einen sich überschneidenden Zeitraum, diejenige der (Schwieger-)Eltern.452 Um die Belastung zu verringern, wurden bessere Kombinationsmöglichkeiten von ambulanter, informeller und professioneller Pflege zugelassen. Auch das Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetz verfolgen das Ziel, zu einer besseren Verein-

444 Vgl. BMFSFJ, MUG III, S. 78; BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 28. 445 Siehe BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 28 f. 446 Siehe zu der sinkenden Pflegebereitschaft auch Gilberg, Hilfe- und Pflegebedürftigkeit im höheren Alter, S. 37 ff.; Hackmann/Moog, ZSR 2010, S. 121 f.; Dallinger, SF 1993, S. 111; Alber, SF 1990, S. 212 f.; Blinkert/Klie, SF 2000, S. 238, 241 ff. 447 Siehe hierzu ausführlich Dritter Teil, Drittes Kapitel, A II. 448 Vgl. BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 27. 449 Vgl. BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 27. 450 Vgl. Häcker/Raffelhüschen, Zukünftige Pflege ohne Familie, S. 5 f; Skuban, Die Pflegeversicherung, S. 110. 451 Vgl. BMG, Abschlussbericht Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, S. 27; Barmer GEK, Pflegereport 2014, S. 110. 452 Siehe hierzu auch Skuban, Die Pflegeversicherung, S. 110 f; Hopfe, ZSR 1995, S. 265; Maschmann, NZS 1993, S. 156; Dallinger, SF 1993, S. 110.

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3. Teil: Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorranggrundsatz

barkeit von Pflege und Beruf beizutragen.453 Allerdings ist die hierdurch erreichte Entlastung nach wie vor gering.454 Es fällt auch eine unterschiedliche Gewichtung im Bereich der Kinderbetreuung und im Bereich der Pflegebedürftigenbetreuung ins Auge. In Bezug auf die Kinderbetreuung werden, beispielsweise durch die Schaffung eines Anspruchs auf einen KITA-Platz in § 24 Abs. 2 SGB VIII, Bemühungen unternommen, insbesondere Frauen zugunsten einer Erwerbstätigkeit von den Betreuungsaufgaben zu befreien.455 Bei der Pflegebedürftigenbetreuung laufen die Bemühungen dagegen nach wie vor in die andere Richtung, indem versucht wird, Pflegepersonen für die Betreuungsaufgaben zu gewinnen.456 Während hinsichtlich der Kinder die Bemühungen „weg von der Kinderbetreuung, hin zum Beruf“ ausgerichtet sind, gehen diejenigen hinsichtlich der Pflegebedürftigen „weg vom Beruf, hin zur Pflegebedürftigenbetreuung“. Im Hinblick auf die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an der Erwerbstätigkeit erscheint zweifelhaft, inwiefern eine Betonung der ambulanten, informellen Pflege sozialpolitisch wünschenswerte Folgen mit sich bringt. Einmal abgesehen davon, dass sich dabei gleichzeitig in den sensiblen Bereich familiärer und persönlicher Beziehungen eingemischt wird.457

D. Schlussfolgerung Das informelle Pflegepotential wird sich durch den demographischen Wandel und soziostrukturelle Veränderungen weiter verringern.458 Nichtsdestotrotz wird zur Bewältigung der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe „Pflege“ nach wie vor weitgehend auf die ambulante, ehrenamtliche Betreuung gesetzt.459 So wünschenswert die ambulante Pflege unter Beteiligung einer informellen Pflegeperson als „Hauptpflegeform“ auch für viele sein mag, wird sie sich in Zukunft immer größeren Praktikabilitätsschwierigkeiten gegenübersehen. Wird die vorrangige ambulante Pflege weiter als Leitbild hochgehalten, birgt das zudem die Gefahr, dass in immer

453

Vgl. zu diesen Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. III. 4. b) aa). Siehe Dritter Teil, Drittes Kapitel, A. II. 3. a). 455 Vgl. zu diesen Bemühungen BT-Drucks. 16/9299, S. 10; Fuchsloch, NZA-Beilage 2014, S. 61. 456 Vgl. BT-Drucks. 17/9369, S. 18; BT-Drucks. 18/3124, S. 25; Dallinger, SF 1993, S. 112 f.; Becker, SGb 2013, S. 126. 457 Siehe hierzu auch Schütte, NDV 2007, S. 214. 458 Siehe hierzu insgesamt auch die Berechnungen von Hackmann/Moog, ZSR 2010, S. 113 – 137. 459 Siehe zur Forderung nach einer weiteren Stärkung der ambulanten, informellen Pflege Rothgang/Staber, FPR 2012, S. 49; Rothgang/Jacobs, G + S 4/2011, S. 11; Stüben/ v. Schwanenflügel, NJW 2015, S. 577; Kreuzer, ZRP 2014, S. 174. 454

7. Kap.: Der Vorranggrundsatz

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mehr Pflegearrangements auf die illegale oder prekäre Beschäftigung einer Pflegeperson aus Mittel- oder Osteuropa zurückgegriffen wird.460 In den gesellschaftlichen Entwicklungen und in sozialpolitischen Überlegungen lassen sich mithin bedeutende Argumente gegen einen Vorrang der ambulanten Pflege finden.461 Aufgrund dieser Überlegungen spricht nichts dafür, den Vorranggrundsatz selbst nur als Programmsatz für die Pflegeversicherung beizubehalten. Deshalb sollte er gänzlich aus der Pflegeversicherung gestrichen werden.

460 Siehe zu dem Problem der Schwarzarbeit in der Pflege auch Knopp, NZA 2015, S. 852; Körner, NZS 2011, S. 370. 461 Vgl. hierzu auch Blinkert/Klie, SF 2000, S. 245.

Vierter Teil

Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung – Hindernisse und Chancen Erstes Kapitel

Fortgeltung des Vorranggrundsatzes als allgemeiner Grundsatz des Sozialrechts Die freie Wahl zwischen den Pflegeformen ist auch unter Fortgeltung des Vorrangs ambulanter Pflege als Programmsatz möglich. Allerdings wäre die Wahlentscheidung der Pflegebedürftigen bei einer Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung nicht mehr bloß frei, sondern von Vorgaben in der Pflegeversicherung unbeeinflusst und nicht mehr durch eine vorgegebene Leitlinie gelenkt. Diese Wirkung einer Aufhebung des Vorranggrundsatzes wäre allerdings dann eingeschränkt, wenn für die Pflegeversicherung weiterhin ein Vorrang ambulanter Pflege gälte. Dies ergäbe sich, wenn es sich bei dem Vorrang ambulanter Pflege um einen allgemeinen Grundsatz des Sozialrechts handeln würde. Als solcher würde er für sämtliche Sozialrechtsgebiete Geltung erlangen. Damit bliebe die Aufhebung des Vorranggrundsatzes in der Pflegeversicherung folgenlos, da der Vorrang ambulanter Pflege ohnehin als allgemeiner Grundsatz des Sozialrechts für die Pflegeversicherung weitergelten würde. Es könnte sich unter zwei Gesichtspunkten um einen allgemeingültigen Grundsatz des Sozialrechts handeln: zum einen, wenn er in allgemeingültiger Form in den allgemeinen Vorschriften geregelt wäre; zum anderen dann, wenn er ebenso in anderen Bereichen des Sozialrechts in Erscheinung träte und diesen Einzelregelungen aufgrund einer Gesamtbetrachtung ein allgemeingültiger Grundsatz entnommen werden könnte.

A. Vorranggrundsatz in den allgemeinen Vorschriften des Sozialrechts Weder im SGB I als allgemeinem Teil des Sozialgesetzbuches noch im SGB IVals allgemeinem Teil des Sozialversicherungsrechts findet sich eine Regelung, die die Vorrangigkeit ambulanter Leistungen vorsieht. Dagegen ist das Wunschrecht des Leistungsberechtigten in § 33 S. 2 SGB I an allgemeingültiger Stelle festgehalten.

1. Kap.: Fortgeltung des Vorranggrundsatzes als allgemeiner Grundsatz

161

Der Berücksichtigung von Wünschen nach einer bestimmten Leistungsform, nicht aber dem Vorrang ambulanter Leistungen wurde Allgemeingültigkeit eingeräumt. Dies zeigt, dass den Wünschen und Interessen der Leistungsberechtigten im Sozialrecht ein höherer Stellenwert zugesprochen wird als einem pauschalen Vorrang ambulanter Leistungen. Das Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit sorgt dafür, dass dennoch nicht jeder Wunsch Berücksichtigung findet. Es handelt sich dabei um ein für das gesamte Verwaltungshandeln geltendes Rechtsgebot, welches sich zudem an zahlreichen Stellen in den einzelnen Sozialgesetzbüchern (so u. a. in § 3 Abs. 1 S. 4 SGB II, § 69 Abs. 2 SGB IV, § 12 SGB V, § 13 Abs. 1 S. 1 SGB VI, § 29 SGB XI) wiederfindet.1 Dementsprechend beinhaltet auch das allgemeingültige Wunschrecht das Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit. Dort, wie auch überwiegend2 in den speziellen Wunschrechten der einzelnen Teilgebiete (vgl. § 5 SGB VIII, § 9 SGB IX, § 2 Abs. 2 SGB XI, § 9 Abs. 2 SGB XII), ist eine Ermessensentscheidung und eine Beschränkung auf angemessene Wünsche vorgesehen.3

B. Verallgemeinerbarer Vorranggrundsatz in anderen Sozialrechtsgebieten Auch wenn sich der Vorrang ambulanter Leistungen nicht in den allgemeinen Vorschriften des Sozialrechts finden lässt, ist er nicht nur in der Pflegeversicherung denkbar. Vielmehr kommt er immer dort in Betracht, wo zur Erfüllung des Leistungszwecks alternativ ambulante oder stationäre Leistungen möglich sind. Allerdings müssten sich für eine Allgemeingültigkeit nicht nur Regelungen des Vorrangs ambulanter Leistungen in anderen Sozialrechtsgebieten finden lassen, sondern diese müssten darüber hinaus verallgemeinerbar sein.

I. Vorranggrundsatz in der Krankenversicherung Die gesetzliche Krankenversicherung kennt keinen generellen, in den allgemeinen Vorschriften geregelten Vorranggrundsatz. Sie sieht jedoch an verschiedenen Stellen den Vorrang ambulanter Leistungen vor: in erster Linie im Leistungsrecht, daneben im Leistungserbringungsrecht.

1

Siehe BSG, Urt. v. 31. 07. 1970, Az 2 RU 222/67, BSGE 31, 247; BSG, Urt. v. 13. 07. 1978, Az 8/3 RK 21/77, BSGE 47, 21; Baier, in: Krauskopf, SGB IV, § 69 Rn. 5; Brandt, in: Kreikebohm, SGB IV, § 69 Rn. 5; Borrmann, in: Hauck/Noftz, SGB IV, § 69 Rn. 8. 2 Lediglich das Wunschrecht nach § 9 SGB IX ist nicht als Soll-Vorschrift ausgestaltet. 3 Vgl. auch Mrozynski, SGB I, § 33 Rn. 13; Seewald, in: KassKomm, SGB I, § 33 Rn. 26.

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4. Teil: Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung

1. Vorrang ambulanter Leistungen zur Verhütung von Krankheiten Bereits im Vorfeld der Behandlung von Krankheiten, bei den Präventionsleistungen, findet sich die Vorrangigkeit ambulanter Leistungen. Gem. § 23 SGB V besteht ein Anspruch auf allgemeine medizinische Vorsorgeleistungen.4 Das sind solche, die notwendig sind, um Krankheiten zu verhüten oder zumindest hinauszuzögern, bzw. um ihre Verschlimmerung zu vermeiden.5 Zur Erreichung der Ziele kann gem. § 23 Abs. 1 SGB V eine ärztliche Behandlung und die Versorgung mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln in Anspruch genommen werden. Reichen diese Leistungen nicht aus, sind gem. § 23 Abs. 2 SGB Vambulante Vorsorgeleistungen in anerkannten Kurorten möglich. Genügen auch solche nicht, kommen gem. § 23 Abs. 4 SGB V Vorsorgeleistungen in stationären Einrichtungen in Betracht. Zwischen den Absätzen des § 23 SGB V besteht damit ein Stufenverhältnis von den ambulanten zu den stationären Leistungen.6 Nur auf die ärztlichen Leistungen besteht ein Anspruch, die nachrangigen Leistungen stehen im Ermessen der Krankenkasse. Mithin gilt für die Vorsorgeleistungen der Grundsatz „ambulant vor stationär“.7 2. Vorrang ambulanter Leistungen bei Krankheit a) Häusliche Krankenpflege, Soziotherapie § 37 SGB V normiert den Anspruch auf häusliche Krankenpflege. Diese beinhaltet die neben der ärztlichen Behandlung erforderliche Behandlungspflege und ggf. zusätzlich die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung, vgl. § 37 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 1, S. 4 bis 6 SGB V.8 Ein Anspruch auf häusliche Krankenpflege besteht u. a. zu dem Zweck, dass dadurch eine Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt wird, vgl. § 37 Abs. 1 S. 1 SGB V. Auch hierin kommt der Vorrang der ambulanten vor den stationären Leistungen zum Ausdruck.9 Er wird in § 37 Abs. 3 SGB V dahingehend konkretisiert, dass der häuslichen, professionellen 4 Im Gegensatz zu den speziellen Vorsorgeleistungen, wie beispielsweise für Zahnerkrankungen, vgl. § 21 ff. SGB V. Siehe Wiercimok, in: Hänlein/Schuler, SGB V, § 23 Rn. 1; Nolte, in: KassKomm, SGB V, § 23 Rn. 3. 5 Zur Abgrenzung von Vorsorgeleistungen und Krankenbehandlung siehe näher Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 23 Rn. 14 ff. 6 Vgl. hierzu auch Welti, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 23 Rn. 1; Wagner, in: Krauskopf, SGB V, § 23 Rn. 2 f. 7 Siehe hierzu auch Joussen, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, SGB V, § 23 Rn. 1; Nolte, in: KassKomm, SGB V, § 23 Rn. 17. 8 Siehe zu den Begriffen der Grundpflege, hauswirtschaftlichen Versorgung und medizinischen Behandlungspflege auch Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. I. 9 Vgl. auch BT-Drucks. 11/2237, S. 176; Rixen, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 37 Rn. 4; Joussen, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, SGB V, § 37 Rn. 1.

1. Kap.: Fortgeltung des Vorranggrundsatzes als allgemeiner Grundsatz

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Krankenpflege die Übernahme durch eine nicht professionelle, im gleichen Haushalt lebende Pflegeperson vorgeht.10 Dieser spezielle Vorrang der ambulanten, nicht professionellen Krankenpflege gilt allerdings nur insoweit, als sowohl der zu Pflegende als auch der Pflegende zu der „Pflegebeziehung“ bereit sein müssen.11 Auch der Anspruch auf Soziotherapie dient dem Ziel, eine Krankenhausbehandlung zu vermeiden oder zu verkürzen, § 37a Abs. 1 S. 1 SGB V. Soziotherapie bedeutet die Unterstützung und Handlungsanleitung schwer psychisch Kranker.12 Die Betroffenen sind aufgrund ihrer psychischen Erkrankung zur selbstständigen Inanspruchnahme der ärztlichen Leistungen nicht in der Lage mit der Folge, dass wiederkehrende, stationäre Aufenthalte notwendig werden können.13 Da die Soziotherapie der Vermeidung stationärer Leistungen dient, besteht hier ebenfalls der Vorrang ambulanter Leistungen.14 b) Krankenhausbehandlung § 39 SGB V bildet das Kernstück des Vorrangs der ambulanten Pflege. Er enthält den Anspruch auf Krankenhausbehandlung und regelt damit die zentrale stationäre Leistung der Krankenversicherung. Die Behandlung in einem Krankenhaus (vgl. §§ 107 Abs. 1, 108 SGB V) kann bei den in § 115b SGB Vaufgeführten Operationen und Eingriffen auch ambulant15 anstelle einer vertragsärztlichen Behandlung erbracht werden, vgl. § 39 Abs. 1 S. 1 SGB V. Im Vordergrund der Krankenhausbehandlung gem. § 39 SGB V steht jedoch die stationäre Behandlung in Form von vollstationärer und teilstationärer Behandlung, vgl. § 39 Abs. 1 S. 1 SGB V. Die vorund nachstationäre Behandlung ist ein Annex zur vollstationären Krankenhausbehandlung, vgl. § 115a SGB V.16 Die Eigenheit der teilstationären Krankenhausbehandlung besteht darin, dass für die täglich nur zeitweise Behandlung eines Patienten die im Krankenhaus vorhandene besondere medizinisch-organisatorische Infra10

Vgl. hierzu auch Wagner, in: Krauskopf, SGB V, § 37 Rn. 28; Luthe, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 37 Rn. 151 f. 11 Siehe BSG, Urt. v. 30. 03. 2000, Az B 3 KR 23/99 R, BSGE 86, 101; Luthe, in: Hauck/ Noftz, SGB V, § 37 Rn. 155; Nolte, in: KassKomm, SGB V, § 37 Rn. 18a f.; Joussen, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, SGB V, § 37 Rn. 4; Hellkötter-Backes, in: Hänlein/ Schuler, SGB V, § 37 Rn. 37. 12 Vgl. zum Anspruchsinhalt näher Flint, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 37a Rn. 50 f.; Nolte, in: KassKomm, SGB V, § 37a Rn. 2, Rn. 11 f. 13 Siehe Soziotherapie-Richtlinie des GBA, § 1 Abs. 2, § 2 Abs. 2; BT-Drucks. 14/1245, S. 66. 14 Vgl. auch Joussen, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, SGB V, § 37a Rn. 1; Flint, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 37a Rn. 6, Rn. 42 ff.; Wagner, in: Krauskopf, SGB V, § 37a Rn. 2. 15 Eine ambulante Krankenhausbehandlung liegt vor, wenn der Patient weder die vorhergehende noch die sich an die Behandlung anschließende Nacht im Krankenhaus verbringt. Siehe BSG, Urt. v. 04. 03. 2004, Az B 3 KR 4/03 R, BSGE 92, 223. 16 Siehe Hellkötter-Backes, in: Hänlein/Schuler, SGB V, § 39 Rn. 14; Noftz, in: Hauck/ Noftz, SGB V, § 39 Rn. 43; Wagner, in: Krauskopf, SGB V, § 39 Rn. 9.

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4. Teil: Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung

struktur notwendig ist.17 Von einer vollstationären Krankenhausbehandlung ist die Rede, wenn der Patient für mindestens einen Tag und eine Nacht in das spezifische Versorgungssystem des Krankenhauses eingegliedert ist oder der besonderen Behandlungsinfrastruktur eines Krankenhauses bedarf.18 Die Krankenhausbehandlung beinhaltet alle für die medizinische Versorgung notwendigen Leistungen, insbesondere die ärztliche Behandlung, die Krankenpflege und die Versorgung mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, bei teil- und vollstationärer Behandlung auch die Unterkunft und Verpflegung, § 39 Abs. 1 S. 3 SGB V. Der Anspruch auf vollstationäre Krankenhausbehandlung besteht gem. § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V nur, wenn sie erforderlich ist, da das Behandlungsziel nicht mit teilstationärer, vor- oder nachstationärer oder ambulanter Behandlung erreicht werden kann. Erforderlich ist sie dann, wenn eine Gesamtbetrachtung ergibt, dass die notwendige medizinische Behandlung nur mit den besonderen Mitteln des Krankenhauses durchgeführt werden kann.19 Die vollstationäre Krankenhausbehandlung ist somit die subsidiäre Leistungsform zur Behandlung einer Krankheit, sie ist ultima ratio.20 Konsequenterweise muss die teilstationäre Krankenhausbehandlung als eine Form der stationären Behandlung zwar vorrangig gegenüber der vollstationären, aber nachrangig gegenüber der ambulanten Behandlung sein.21 Daneben findet der Vorrang ambulanter Leistungen eine weitere Unterstützung in dem in § 39 Abs. 1a SGB V geregelten Entlassungsmanagement. Damit soll ein möglichst gleitender Übergang in die ambulante Versorgung gewährleistet und gleichzeitig die Notwendigkeit einer erneuten stationären Behandlung vermieden werden.22 § 39 SGB V bezieht sich also nicht bloß auf das Verhältnis der verschiedenen Arten der Krankenhausbehandlung untereinander. Vielmehr kommt darin zum Ausdruck, dass in der gesetzlichen Krankenversicherung generell der Vorrang der ambulanten vor den stationären Leistungen zur Behandlung von Krankheiten gilt.23

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Vgl. hierzu auch BSG, Urt. v. 19. 09. 2013, Az B 3 KR 34/12 R; Joussen, in: Knickrehm/ Kreikebohm/Waltermann, SGB V, § 39 Rn. 8. 18 Siehe BSG, Urt. v. 04. 03. 2004, Az B 3 KR 4/03 R, BSGE 92, 223; BSG, Urt. v. 19. 09. 2013, Az B 3 KR 34/12 R; Becker, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 39 Rn. 11 ff.; Wagner, in: Krauskopf, SGB V, § 39 Rn. 7; Gamperl, in: KassKomm, SGB V, § 39 Rn. 15 ff. 19 Vgl. BSG, Urt. v. 17. 05. 2000, Az B 3 KR 33/99 R, BSGE 86, 166; BSG, Beschluss v. 25. 09. 2007, Az GS 1/06, BSGE 99, 111; Joussen, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, SGB V, § 39 Rn. 10, Rn. 12. 20 Siehe BSG, Beschluss v. 25. 09. 2007, Az GS 1/06, BSGE 99, 111; Noftz, in: Hauck/ Noftz, SGB V, § 39 Rn. 72; Wagner, in: Krauskopf, SGB V, § 39 Rn. 4. 21 Vgl. Hellkötter-Backes, in: Hänlein/Schuler, SGB V, § 39 Rn. 18; Becker, in: Becker/ Kingreen, SGB V, § 39 Rn. 21; Gamperl, in: KassKomm, SGB V, § 39 Rn. 47. 22 Vgl. BT-Drucks. 17/6906, S. 55. 23 Siehe hierzu auch Gamperl, in: KassKomm, SGB V, § 39 Rn. 3, Rn. 58 ff.; Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 39 Rn. 69 f.

1. Kap.: Fortgeltung des Vorranggrundsatzes als allgemeiner Grundsatz

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c) Hospizleistungen, medizinische Rehabilitation, Fahrkosten Der Vorrang ambulanter Leistungen findet sich zudem in § 39a SGB V wieder.24 Gem. § 39a Abs. 1 S. 1 SGB V ist die stationäre Versorgung in einem Hospiz zur Begleitung der letzten Lebensphase nachrangig gegenüber einer Versorgung im Haushalt oder in der Familie, § 39a Abs. 1 S. 1 SGB V. Für die ambulante palliativmedizinische Versorgung stehen Leistungen zur Verfügung wie die häusliche Krankenpflege, die primär medizinisch ausgerichtete, spezialisierte ambulante Palliativversorgung gem. § 37b SGB V oder die geistig-seelische Betreuung durch gem. § 39a Abs. 2 SGB V zu fördernde ambulante Hospizdienste.25 Erst wenn eine häusliche Versorgung nicht erbracht werden kann, haben die Versicherten Anspruch auf Zuschüsse zur stationären Palliativversorgung, vgl. § 39a Abs. 1 S. 1 SGB V. Die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gem. § 40 SGB V unterliegen ebenso einem Stufenverhältnis. Hier handelt es sich um eine eigene Leistungsart, die darauf ausgerichtet ist, einer Behinderung oder einer Pflegebedürftigkeit vorzubeugen, sie zu beheben oder ihre Auswirkungen abzumildern, vgl. § 11 Abs. 2 S. 1 SGB V.26 Ein Anspruch auf medizinische Rehabilitationsleistungen27 besteht nur, wenn die ambulante Krankenbehandlung mit ihren Rehabilitationsleistungen nicht ausreicht, vgl. § 40 Abs. 1 S. 1 SGB V.28 Aus § 40 Abs. 2 SGB V wird deutlich, dass ambulante und teilstationäre medizinische Rehabilitationsleistungen vorrangig vor den entsprechenden vollstationären Leistungen sind.29 Letztere sind nur zu erbringen, falls die besonderen organisatorischen und strukturellen Voraussetzungen einer vollstationären Einrichtung zur medizinischen Rehabilitationsbehandlung notwendig sind.30

24 So auch BT-Drucks. 13/7264, S. 60. Vgl. ebenso Joussen, in: Knickrehm/Kreikebohm/ Waltermann, SGB V, § 39a Rn. 3; Nolte, in: KassKomm, SGB V, § 39a Rn. 2a, Rn. 11, Rn. 16; Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V; § 39a Rn. 59. 25 Vgl. auch die Rahmenvereinbarung nach § 39a Abs. 1 S. 4 SGB V i. d. F. vom 14. 04. 2010, § 2 Abs. 1c; Wagner, in: Krauskopf, SGB V, § 39a Rn. 6, Rn. 8; Nolte, in: KassKomm, SGB V, § 39a Rn. 17 ff.; Nolte, in: KassKomm, SGB V, § 37b Rn. 4, Rn. 8, Rn. 10. 26 Vgl. BT-Drucks. 14/1977, S. 160; Brandts, in: KassKomm, SGB V, § 40 Rn. 3. 27 Die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation umfassen einen Komplex von Leistungen zur Erreichung des Behandlungsziels, zu welchem u. a. ärztliche Leistungen und die Versorgung mit Arznei-, Verbands-, Heil-, und Hilfsmitteln gehören können. Siehe § 26 Abs. 2 SGB IX; BSG, Urt. v. 01. 09. 2005, Az B 3 KR 3/04 R, NZS 2006, 485; BSG, Urt. v. 17. 12. 2013, Az B 1 KR 50/12 R; Wagner, in: Krauskopf, SGB V, § 40 Rn. 17; Hellkötter-Backes, in: Hänlein/Schuler, SGB V, § 40 Rn. 7. 28 Siehe hierzu näher Welti, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 40 Rn. 8. 29 Vgl. Joussen, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, SGB V, § 40 Rn. 7, Rn. 12; Wagner, in: Krauskopf, SGB V, § 40 Rn. 7; Hellkötter-Backes, in: Hänlein/Schuler, SGB V, § 40 Rn. 11; Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 40 Rn. 44. 30 Siehe auch § 107 Abs. 2 SGB V; BSG, Urt. v. 26. 06. 2007, Az B 1 KR 36/06 R, BSGE 98, 277.

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4. Teil: Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung

Schließlich kommt selbst in der unterstützenden Leistung der Übernahme der Fahrkosten gem. § 60 SGB V der Vorrang ambulanter Leistungen zum Ausdruck.31 Grundsätzlich werden die Fahrkosten zu einer ambulanten Behandlung nur in Ausnahmefällen übernommen, vgl. § 60 Abs. 1 S. 3 SGB V. Sie werden als privilegierte Fahrkosten gem. § 60 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGB V dann gewährt, wenn dadurch eine gebotene vollstationäre oder teilstationäre Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt wird. 3. Umsetzung des Vorrangs ambulanter Leistungen im Leistungserbringungsrecht Die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung obliegt den Krankenkassen in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Leistungserbringern, § 72 Abs. 1 SGB V. Zu diesem Zweck schließen die Verbände der Krankenkassen mit der kassenärztlichen Vereinigung Verträge über eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten, vgl. § 72 Abs. 2 SGB V. § 72 SGB V legt damit den Grundstein für eine ausreichende ambulante Infrastruktur in Form der vertragsärztlichen Behandlung. Die nähere Ausgestaltung wird durch die dem § 72 SGB V nachfolgenden Normen geprägt. Dort sind verschiedene Instrumente unter Verantwortlichkeit verschiedener Akteure (insbesondere der kassenärztlichen Vereinigung, der kassenärztlichen Bundesvereinigung, dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen und dem Gemeinsamen Bundesausschuss) vorgesehen, um ein ausreichendes, zweckmäßiges und wirtschaftliches ambulantes Versorgungsnetz zu garantieren. Der Vorrang findet auch hier nochmals explizit Erwähnung, so in § 73 Abs. 4 SGB V.32 Ergänzt wird die Schaffung einer umfassenden ambulanten Infrastruktur durch die Regelungen in den §§ 124 ff. SGB V. Sie bestimmen die Beziehungen der Krankenkassen zu den Erbringern der die vertragsärztliche Behandlung flankierenden Leistungen. Auch die Schaffung einer ausreichenden stationären Infrastruktur ist notwendig, wofür sich die Grundlagen in den §§ 107 ff. SGB V und dem Krankenhausrecht33 finden.34 Dies ändert jedoch nichts an der Vorrangigkeit der ambulanten Leistungen, wie beispielsweise durch § 112 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB V deutlich wird. Dass Re31

Vgl. auch BT-Drucks. 12/3608, S. 82; Joussen, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, SGB V, § 60 Rn. 1; Kingreen, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 60 Rn. 18; Baier, in: Krauskopf, SGB V, § 60 Rn. 21 f. 32 Siehe auch Huster, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 73 Rn. 5. 33 Dieses wird durch das KHG, das KHEntgG, BPflV und die Landesgesetze zur Krankenhausplanung bestimmt. Siehe hierzu näher Hänlein, in: Hänlein/Schuler, SGB V, Vor §§ 107 – 114 Rn. 1 ff.; Becker, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 107 Rn. 3; Ebsen, in: von Maydell/Ruland/Becker, SRH, § 15 Rn. 146. 34 Zu den unterschiedlichen Voraussetzungen zur Teilnahme an der ambulanten Versorgung einerseits und der stationären Versorgung andererseits siehe näher Udsching, NZS 2003, S. 411 ff.

1. Kap.: Fortgeltung des Vorranggrundsatzes als allgemeiner Grundsatz

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gelungsgegenstand der Verträge zwischen den Verbänden der Krankenkassen und denjenigen der Krankenhäuser u. a. die Überprüfung der Notwendigkeit von Krankenhausbehandlungen ist, macht abermals den Nachrang der stationären Leistungen deutlich. 4. Verallgemeinerbarkeit des Vorranggrundsatzes der Krankenversicherung An vielen Stellen in der gesetzlichen Krankenversicherung finden sich also Regelungen, die einen Vorrang der ambulanten vor den stationären Leistungen vorsehen. Das Zusammenspiel der zahlreichen Einzelregelungen belegt, dass es sich bei dem Vorrang von ambulanten vor stationären Leistungen um einen generellen Grundsatz der gesetzlichen Krankenversicherung handelt.35 Dennoch kommt eine Verallgemeinerung des Vorranggrundsatzes der Krankenversicherung hin zu einem allgemeinen Grundsatz des Sozialrechts nicht in Betracht. Denn der Vorranggrundsatz in der Krankenversicherung wird durch die dem Krankenversicherungsrecht eigenen Gründe und eine eigene Rechtfertigung bestimmt. Der Vorrang ambulanter Leistungen im Krankenversicherungsrecht ist Ergebnis des Wirtschaftlichkeitsprinzips.36 Gem. § 12 Abs. 1 SGB V werden nur notwendige und wirtschaftliche Leistungen von der Krankenversicherung erbracht. Sie müssen erforderlich, nicht mit einem milderen Mittel erbringbar sein und gleichzeitig die günstigste Kosten-Nutzen-Relation aufweisen.37 Dass die ambulanten Leistungen als die preisgünstigeren und mithin die wirtschaftlicheren unterstellt werden38, erlangt im Krankenversicherungsrecht eine tiefgreifendere Berechtigung als in der Pflegeversicherung. Das Wirtschaftlichkeitsgebot nimmt aufgrund der Ausgestaltung der Krankenversicherung als Vollversicherung im Vergleich zur Pflegeversicherung eine gewichtigere Rolle ein.39 Indem die Leistungen weitgehend kostendeckend erbracht werden, entstehen der Krankenkasse bei einer stationären Behandlung jedenfalls Mehrkosten für die Unterkunft, Versorgung und die Infrastruktur. Insofern überwiegt das Wirtschaftlichkeitsgebot hier bei der Beurteilung der Angemessenheit gegenüber dem Wunsch nach stationärer Pflege (§ 33 S. 2 SGB I).40 35 So auch BT-Drucks. 11/2237, S. 177; BT-Drucks. 14/1245, S. 53; Noftz, in: Hauck/ Noftz, SGB V, § 39 Rn. 69, § 39a Rn. 59, § 40 Rn. 44; Joussen, in: Knickrehm/Kreikebohm/ Waltermann, SGB V, § 23 Rn. 1; Becker, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 39 Rn. 1. 36 Vgl. Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 39 Rn. 13. 37 Siehe hierzu näher Greiner/Benedix, SGb 2013, S. 4 f.; Scholz, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 12 Rn. 9. 38 Siehe BT-Drucks. 11/2237, S. 177; Flint, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 37a Rn. 6; Hellkötter-Backes, in: Hänlein/Schuler, SGB V, § 39 Rn. 33. 39 Siehe zum Wirtschaftlichkeitsgebot in der Krankenversicherung Greiner/Benedix, SGb 2013, S. 1; Roters, in: KassKomm, SGB V, § 12 Rn. 2; Scholz, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 12 Rn. 2. 40 Vgl. hierzu auch Welti, in: Becker/Kingreen, SGB V, § 40 Rn. 26.

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4. Teil: Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung

Schließlich werden die Leistungen der Krankenversicherung oft nur für einen beschränkten Zeitraum gewährt und dominieren in der Regel nicht den gesamten Alltag über lange, nicht absehbare Zeit, so wie dies bei Pflegebedürftigkeit der Fall ist.

II. Vorranggrundsatz in der Unfallversicherung Der Vorrang ambulanter Leistungen findet sich ebenfalls in den Regelungen der Unfallversicherung. Nach Eintritt eines Versicherungsfalls (vgl. § 7 Abs. 1 SGB VII) haben die Versicherten u. a. Anspruch auf Heilbehandlung einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, § 26 Abs. 1 SGB VII. Gem. § 32 Abs. 1 SGB VII besteht gegen die gesetzliche Unfallversicherung ein Anspruch auf häusliche Krankenpflege, die insbesondere dann gewährt wird, wenn dadurch eine Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt werden kann.41 Lebt eine Person mit dem Versicherten in einem Haushalt und kann die Pflege in zumutbarer Weise erbringen, schließt dies den Anspruch auch im Rahmen der Unfallversicherung aus, § 32 Abs. 3 S. 1 SGB VII. Es wird der Vorrang der häuslichen, informellen Krankenpflege angeordnet.42 Nicht anders verhält es sich mit dem Anspruch auf Behandlung in einem Krankenhaus bzw. einer Rehabilitationseinrichtung gem. § 33 SGB VII. Dabei handelt es sich, im Gegensatz zur Krankenhausbehandlung der gesetzlichen Krankenversicherung, stets um eine (teil)stationäre Leistung, vgl. § 33 Abs. 1 S. 1, S. 2 SGB VII.43 Sie wird gem. § 33 Abs. 1 S. 1 SGB VII nur erbracht, wenn das Behandlungsziel anders nicht erreicht werden kann, d. h. mit einer ambulanten Behandlung.44 Die Heilbehandlungsleistungen der Unfallversicherung entsprechen ihrem Inhalt und ihrer Ausgestaltung nach also in weiten Teilen denjenigen der Krankenbehandlung der Krankenversicherung.45 Deswegen ist es nur konsequent, dass der Grundsatz „ambulant vor stationär“ auch für diese gilt. Hat ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit zur Pflegebedürftigkeit geführt, besteht ein Anspruch gem. § 44 SGB VII.46 Die Leistungen bei Pflegebedürftigkeit orientieren sich in ihrer Ausgestaltung nicht an der Pflegeversicherung, sondern 41

Zum entsprechenden Anspruch auf häusliche Krankenpflege in der Krankenversicherung Vierter Teil, Erstes Kapitel, B. I. 2 a). 42 So auch BT-Drucks. 13/2204, S. 84; Schmitt, SGB VII, § 32 Rn. 1; Köhler, in: Hauck/ Noftz, SGB VII, § 32 Rn. 1, Rn. 9. 43 Siehe zum Anspruch auf Krankenhausbehandlung gegen die Krankenversicherung näher Vierter Teil, Erstes Kapitel, B. I. 2 b). 44 Vgl. auch Köhler, in: Hauck/Noftz, SGB VII, § 33 Rn. 3; Schmitt, SGB VII, § 33 Rn. 3, Rn. 5; Wirthl, in: Lauterbach/Watermann/Breuer, SGB VII, § 33 Rn. 4. 45 Vgl. § 27 Abs. 1 SGB VII und § 27 Abs. 1 S. 2 SGB V. Siehe auch BT-Drucks. 13/2204, S. 84. 46 Vgl. § 26 Abs. 2 Nr. 5 SGB VII.

1. Kap.: Fortgeltung des Vorranggrundsatzes als allgemeiner Grundsatz

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folgen einem eigenen System. Neben der Gewährung von Pflegegeld oder einer Pflegekraft kommt zur Sicherstellung einer Pflege auch Heimpflege in Betracht, vgl. § 44 Abs. 1 SGB VII. Allerdings steht das Pflegegeld im Mittelpunkt der Norm.47 Es beträgt je nach Pflegeumfang und den dafür aufzuwendenden Kosten zwischen 300 E und 1.199 E. Es kann bei diesen Betrag übersteigenden Kosten im Einzelfall angemessen erhöht werden, vgl. § 44 Abs. 2 SGB VII. Nur auf das Pflegegeld besteht ein Anspruch. Die Bereitstellung einer Pflegekraft oder die Gewährung von Heimpflege auf Antrag des Versicherten stehen im Ermessen des Unfallversicherungsträgers, § 44 Abs. 5 S. 1 SGB VII. Das Pflegegeld ist die vorrangige Leistungsart.48 Obwohl § 44 Abs. 5 S. 1 SGB VII dies nicht ausdrücklich vorsieht, ist darüber hinaus auch die Bereitstellung einer Pflegekraft vorrangig gegenüber der Heimpflege. Zur Begründung wird eine analoge Geltung des § 32 Abs. 1 SGB VII befürwortet.49 Damit gilt für die Pflegeleistungen der Unfallversicherung ebenfalls der Vorrang ambulanter Leistungen. Darüber hinausgehend erlangt der Vorranggrundsatz jedoch keine besondere Bedeutung für die gesetzliche Unfallversicherung. Beim Großteil der Unfallversicherungsleistungen, den Präventions-, den Teilhabe- und den Geldleistungen, den Renten, Beihilfen und Abfindungen besteht schon von vorne herein nicht die Möglichkeit alternativer ambulanter oder stationärer Leistungsgewährung. Da der Vorrang ambulanter Leistungen im Unfallversicherungsrecht auf einige wenige Bereiche beschränkt ist, kann ihm erst Recht keine Allgemeingültigkeit entnommen werden.

III. Vorranggrundsatz in der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen Auch im Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen liegt der Vorrang ambulanter Leistungen nahe, da das Normalisierungsprinzip aus diesem Bereich stammt. Das Normalisierungsprinzip besagt allerdings nur, dass der Beeinträchtigte in die Lage versetzt werden soll, ein möglichst „normales“ Leben führen zu können. Dies erfordert nicht den generellen Vorrang ambulanter Leistungen.50

47 Siehe hierzu ausführlich Benz, BG 2001, S. 89 ff. Vgl. auch Streubel, in: Becker/Franke/ Molkentin, SGB VII, § 44 Rn. 13 ff.; Kater/Leube, SGB VII, § 44 Rn. 1, Rn. 16 ff.; Ricke, in: KassKomm, SGB VII, § 44 Rn. 8 ff. 48 Vgl. hierzu auch Benz, BG 2001, S. 94; Ricke, in: KassKomm, SGB VII, § 44 Rn. 7; Schmitt, SGB VII, § 33 Rn. 3, Rn. 5; Nehls, in: Hauck/Noftz, SGB VII, § 44 Rn. 1a, Rn. 8. 49 Siehe Nehls, in: Hauck/Noftz, SGB VII, § 44 Rn. 18. 50 Vgl. auch Dritter Teil, Fünftes Kapitel, B.

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4. Teil: Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung

Dementsprechend sieht das SGB IX von der expliziten Festschreibung eines Grundsatzes „ambulant vor stationär“ ab.51 Gem. § 19 Abs. 2 SGB IX werden die Leistungen in ambulanter oder teilstationärer Form erbracht, wodurch die besondere Bedeutung dieser Leistungsformen und eine Abkehr von der früher fast ausschließlich stationären Leistungserbringung zum Ausdruck kommt.52 Daraus folgt aber kein grundsätzlicher Vorrang ambulanter und teilstationärer Leistungen.53 Entscheidend ist, welche Leistungsform unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls den größten Nutzen erwarten lässt.54 Dabei spielt die Berücksichtigung der Interessen des behinderten Menschen eine besondere Rolle. Dies wird aus der Niederlegung des umfassenden Wahl- und Wunschrechtes in § 9 SGB IX deutlich.55 Die Förderung der Selbstbestimmung behinderter Menschen ist eines der grundlegenden Ziele des SGB IX, vgl. § 1 S. 1 SGB IX.56 Die herausragende Bedeutung der Selbstbestimmung wird auch im Detail deutlich, beispielsweise in der Regelung des persönlichen Budgets gem. § 17 SGB IX, wo zugunsten der Selbstbestimmung die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit gestrichen wurden.57 Die Abkehr vom vorrangig stationär ausgerichteten Leistungsangebot und die verstärkte Betonung ambulanter und teilstationärer Leistungsgewährung führen also nicht zu einem allgemeingültigen Vorrang von ambulanten Leistungen im Recht der Rehabilitation und Teilhabe.58 Vielmehr wird ein genereller Vorrang ambulanter Leistungen durch das primäre Ziel verdrängt, Menschen mit Behinderung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Dabei handelt es sich um einen allgemeinen Grundgedanken des Rechts der Rehabilitation und Teilhabe, der insofern für alle Rehabilitationsträger (vgl. § 6 SGB IX) bei Erbringung der ihrem jeweiligen Gebiet entspringenden Leistungen maßgebend sein muss.59 Wäre dies nicht der Fall, würde der Sinn und Zweck der Schaffung eines gemeinsamen, durch den 51

Vgl. Maaß, in: Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX, Einleitung Rn. 52. Vgl. auch Schneider, in: Hauck/Noftz, § 19 SGB IX Rn. 8 f. 53 Siehe BT-Drucks. 14/5074, S. 104; von der Heide, in: Kossens/v. d. Heide/Maaß, SGB IX, § 19 Rn. 8; Joussen, in: Dau/Düwell/Joussen, SGB IX, § 19 Rn. 12; Luthe, in: Hauck/ Noftz, SGB XII, § 13 Rn. 14. 54 Vgl. BT-Drucks. 14/5074, S. 104; von der Heide, in: Kossens/v. d. Heide/Maaß, SGB IX, § 19 Rn. 8; Joussen, in: Dau/Düwell/Joussen, SGB IX, § 19 Rn. 12; Schneider, in: Hauck/ Noftz, SGB IX, § 19 Rn. 10. 55 So auch Grauthoff, in: Kossens/v.d. Heide/Maaß, SGB IX, § 9 Rn. 2; Luthe, in: Hauck/ Noftz, SGB XII, § 13 Rn. 7. 56 Siehe zur Bedeutung der Selbstbestimmung im Recht der Rehabilitation und Teilhabe auch BT-Drucks. 14/2913, S. 3; Deinert/Neumann, Handbuch SGB IX, § 6 Rn. 44. 57 Vgl. § 17 Abs. 2 a.F. Siehe zur Streichung auch Benz, BG 2005, S. 322. Zum persönlichen Budget siehe näher Vierter Teil, Drittes Kapitel, A. 58 Siehe hierzu auch von der Heide, in: Kossens/v. d. Heide/Maaß, SGB IX, § 19 Rn. 8; Joussen, in: Dau/Düwell/Joussen, SGB IX, Einführung Rn. 40. 59 Vgl. dazu auch BT-Drucks. 14/5074, S. 94; Welti, SGb 2008, S. 324.; Neumann, NZS 2004, S. 282. 52

1. Kap.: Fortgeltung des Vorranggrundsatzes als allgemeiner Grundsatz

171

Gedanken der Selbstbestimmung geprägten Rahmens für die sich aus den Einzelgesetzen ergebenden Ansprüche für Menschen mit Behinderung unterlaufen.60

IV. Vorranggrundsatz in der Sozialhilfe 1. Vorrang ambulanter Leistungen in einzelnen Leistungsbereichen Neben der Regelung eines allgemeinen Vorranggrundsatzes für die Sozialhilfe in § 13 SGB XII und seiner Modifikation im Bereich der Hilfe zur Pflege durch die §§ 61 ff. SGB XII61 wird der Vorrang ambulanter Leistungen auch in einzelnen Leistungsbereichen aufgegriffen. Dies ist u. a. Folge des Verweises in § 48 SGB XII i.V.m. § 264 SGB Vauf die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Gem. § 48 S. 1 SGB XII erhalten diejenigen Personen, die nicht zum berechtigten Kreis nach § 48 S. 2 SGB XII gehören62, vom Sozialhilfeträger Leistungen zur Krankenbehandlung entsprechend der §§ 27 bis 43c SGB V.63 Für den unter § 48 S. 2 SGB XII fallenden Personenkreis64 übernimmt die Krankenkasse die Krankenbehandlung, während der Sozialhilfeträger nur als Erstattungspflichtiger tätig wird, vgl. § 264 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 SGB V.65 Umfasst hiervon sind die in § 11 Abs. 1 SGB V genannten Leistungen, § 264 Abs. 4 S. 1 SGB V. Sowohl in den Leistungen zur Krankenbehandlung nach §§ 27 bis 43c SGB V als auch in den darüber hinausgehenden über § 11 Abs. 1 SGB V einbezogenen Präventionsleistungen findet sich der Vorrang ambulanter Leistungen.66 Im Rahmen der Hilfen in anderen Lebenslagen sollen gem. § 70 SGB XII Personen Leistungen zur Aufrechterhaltung ihres Haushalts erhalten, denen eine eigene Haushaltsführung nicht möglich ist. Gemeint sind damit die persönliche Betreuung von Haushaltsangehörigen und die Erbringung sonstiger zur Weiterführung des Haushalts erforderlicher Tätigkeiten, vgl. § 70 Abs. 2 SGB XII. Die Leistungen werden in der Regel nur vorübergehend übernommen. Eine Ausnahme besteht dann, wenn dadurch die Unterbringung in einer stationären Einrichtung vermieden oder aufgeschoben werden kann. Auch darin zeigt sich, dass vorrangig verschiedene

60

Vgl. insofern auch Welti, SGb 2008, S. 324. Siehe hierzu ausführlich Dritter Teil, Sechstes Kapitel, C. II. 62 Dies sind z. B. Personen, die allein Beratungsleistungen nach § 11 Abs. 5 S. 3 SGB XII beanspruchen können. 63 Vgl. dazu näher Flint, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 48 Rn. 4; Schellhorn, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, § 48 Rn. 8. 64 Das sind sämtliche nicht krankenversicherte Personen, die Leistungen der Sozialhilfe nach dem Dritten bis Neunten Kapitel des SGB XII erhalten. 65 Vgl. Schellhorn, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, § 48 Rn. 7. 66 Siehe Vierter Teil, Erstes Kapitel, B. I. 1. 61

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4. Teil: Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung

ambulante Leistungen in Betracht kommen, um stationäre Leistungen zu vermeiden.67 2. Ausprägung des Vorrangs ambulanter Leistungen beim Einsatz von Einkommen Leistungsberechtigt in der Sozialhilfe ist nur derjenige, der sich nicht selbst helfen kann, weil es ihm nicht möglich ist, seinen notwendigen Bedarf aus Einkommen und Vermögen zu bestreiten, vgl. § 2 Abs. 1 SGB XII. Bei einem Bezug von Leistungen in besonderen Lebenslagen ist der Einsatz von Einkommen grundsätzlich nicht zuzumuten, wenn es die Einkommensgrenze nach § 85 SGB XII nicht übersteigt. Liegt das Einkommen unter der Einkommensgrenze, findet nur in bestimmten Ausnahmefällen eine Beteiligung an der Aufbringung der Mittel statt. Einer der Ausnahmefälle ist der Aufenthalt in einer stationären Einrichtung für voraussichtlich längere Zeit, vgl. § 88 Abs. 1 S. 2 SGB XII. Hier wird in der Regel auch bei einem Einkommen unterhalb der Einkommensgrenze die Aufbringung der Mittel in angemessenem Umfang verlangt.68 Dies gilt ebenfalls für die Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt und von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, vgl. § 92a Abs. 2 SGB XII. Bei einem kurzfristigen Einrichtungsaufenthalt kann dagegen nur der angemessene Einsatz von durch die (teil)stationäre Unterbringung ersparten Aufwendungen für den häuslichen Lebensunterhalt verlangt werden, vgl. § 92a Abs. 1 SGB XII.69 Die Sonderregelungen sollen verhindern, dass der Berechtigte durch die Inanspruchnahme stationärer Leistungen eine finanzielle Besserstellung erfährt.70 Es entspricht dem Nachrang stationärer Leistungen, dies zu vermeiden. 3. Umsetzung des Vorrangs ambulanter Leistungen im Leistungserbringungsrecht Mit der Regelung eines verbindlichen Vorrangs in § 13 Abs. 1 S. 2 SGB XII muss die Schaffung einer ausreichenden ambulanten Infrastruktur verbunden sein. Auch wenn sich kein diesbezüglicher Anspruch des Leistungsberechtigten oder des 67 Vgl. auch Schlette, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 70 Rn. 9; Schellhorn, in: Schellhorn/ Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, § 70 Rn. 10. 68 Siehe hierzu näher Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 88 Rn. 17 f.; Lücking, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 88 Rn. 14 ff. 69 Siehe hierzu näher Schoch, in: Bieritz-Harder/Armborst/Berlit, SGB XII, § 92a Rn. 3, Rn. 7; Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm/Schneider, § 92a SGB XII Rn. 1, Rn. 6 ff. 70 Vgl. BVerwG, Beschluss v. 07. 04. 1995, Az 5 B 36/94; Schoch, in: Bieritz-Harder/ Armborst/Berlit, SGB XII, § 88 Rn. 11, § 92a Rn. 7; Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm/ Schneider, SGB XII, § 92a Rn. 1; Lücking, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 92a Rn. 2; Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 92a Rn. 7.

1. Kap.: Fortgeltung des Vorranggrundsatzes als allgemeiner Grundsatz

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Leistungserbringers aus § 13 SGB XII ableiten lässt, ist der Vorschrift ein entsprechender Auftrag für den Sozialhilfeträger zu entnehmen.71 Die Gewährleistungspflicht des Sozialhilfeträgers nach § 17 Abs. 1 Nr. 2 SGB II zielt damit in besonderem Maße auf die Bereithaltung bzw. Schaffung ambulanter Hilfeangebote. Dabei kann es sich um eigene Angebote, um solche anderer Träger oder von Verbänden der freien Wohlfahrtspflege handeln.72 4. Verallgemeinerbarkeit des Vorranggrundsatzes der Sozialhilfe In der Sozialhilfe findet sich die Regelung des Vorrangs ambulanter Leistungen bereits in den allgemeinen Vorschriften. Sie wird in verschiedenen einzelnen Leistungsbereichen wieder aufgegriffen. Zudem wird bei der Einkommensberücksichtigung durch spezielle Vorschriften eine Besserstellung stationärer Leistungen vermieden. In Übereinstimmung mit dem Vorranggrundsatz ist der Sozialhilfeträger zur Schaffung einer entsprechenden ambulanten Infrastruktur angehalten. Dennoch lässt sich auch der Vorranggrundsatz der Sozialhilfe nicht verallgemeinern. Er beruht wie derjenige der Krankenversicherung auf den Besonderheiten des Systems. Zum einen handelt es sich bei der Sozialhilfe um ein steuerfinanziertes Sozialsystem. Damit muss Kostenaspekten für die Leistungserbringung eine noch größere Bedeutung zugemessen werden als bei für eine Gegenleistung erbrachten Versicherungsleistungen. Darüber hinaus wird der Kostenbegrenzungsaspekt im Sozialhilferecht im Vergleich zur Pflegeversicherung konsequenter durchgesetzt, indem ambulante Leistungen dann nicht mehr vorrangig sind, wenn sie mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sind.73 Außerdem folgt auch die Sozialhilfe dem Bedarfsdeckungsgrundsatz (vgl. § 9 Abs. 1 SGB XII) und nicht wie die Pflegeversicherung einer pauschalierten „Basisbeteiligung“, was die Kostenbegrenzung umso entscheidender macht.

C. Schlussfolgerung Das SGB I und das SGB IV sehen keinen Vorrang ambulanter Leistungen vor. Dennoch findet sich der Vorrangrundsatz nicht nur in der Pflegeversicherung, sondern auch in weiteren Sozialrechtsgebieten. So kennen auch die Krankenversicherung und die Sozialhilfe einen allgemeinen Vorrang ambulanter Leistungen. Der Vorranggrundsatz existiert zudem in den Leistungen der Krankenbehandlung und in den Pflegeleistungen der Unfallversicherung. Dort verdichtet er sich jedoch nicht zu einem grundsätzlichen Vorrang ambulanter Leistungen. Gleiches gilt für den Vorrang 71 Siehe auch Luthe, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 13 Rn. 1, Rn. 10; Hohm, in: Schellhorn/ Schellhorn/Hohm/Schneider, SGB XII, § 13 Rn. 10. 72 Vgl. hierzu §§ 3 bis 5, 75 SGB XII. 73 Siehe auch Dritter Teil, Sechstes Kapitel, C. II. 1.

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4. Teil: Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung

ambulanter Leistungen im Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Einem pauschalen Vorranggrundsatz steht dort das höherstehende Ziel der Selbstbestimmung entgegen. Da es sich bei dem Vorrang ambulanter Pflege in der Unfallversicherung und dem Recht der Rehabilitation und Teilhabe nicht einmal um für das jeweilige Gebiet allgemeingültige Grundsätze handelt, können sie keine über das Rechtsgebiet hinausgehende Wirkung entfalten. Im Gegensatz hierzu handelt es sich bei den Vorranggrundsätzen der Krankenversicherung und der Sozialhilfe um allgemeine Vorranggrundsätze für den jeweiligen Sozialrechtsbereich. Sie werden durch die Eigenheiten des entsprechenden Sozialrechtszweigs bedingt. Deswegen können auch sie nicht verallgemeinert werden und erlangen keine über das jeweilige Sozialrechtsgebiet hinausgehende Wirkung. Es existiert folglich kein für das gesamte Sozialrecht allgemeingültiger Vorranggrundsatz. Damit steht der Streichung des Vorranggrundsatzes im SGB XI auch nicht entgegen, dass der Vorrang ambulanter Leistungen ohnehin aufgrund eines für das Sozialrecht allgemein geltenden Grundsatzes fortbestehen würde.

Zweites Kapitel

Fortgeltende Stufenfolge zwischen den Pflegeformen aufgrund des Familienrechts Mit einer Aufhebung des Vorranggrundsatzes würden die Vorrangigkeit und damit auch die besondere Betonung und der besondere Stellenwert der ambulanten Pflege in der Pflegeversicherung wegfallen. Die Pflegeformen stünden dann ohne Rangfolge gleichberechtigt nebeneinander. Diese Wirkung würde allerdings geschwächt, wenn andere Gründe weiterhin für eine Fortgeltung der Stufenfolge zugunsten der ambulanten Pflege sorgen würden. Eine solche Stufenfolge könnte das Familienrecht vorsehen. In familiärer Beziehung stehende Personen könnten aufgrund des Familienrechts vorrangig zur ambulanten, informellen Pflege verpflichtet sein. Eine familienrechtliche Pflicht zur informellen Pflege würde nicht das freie Pflegeformwahlrecht des Leistungsbeziehers in der Pflegeversicherung einschränken. Ihm stünde lediglich ein Anspruch gegen den Verwandten auf Übernahme der Pflege zu74, den er jedoch nicht geltend machen müsste. Die familienrechtliche Pflicht würde aber, wenn auch nicht auf Seiten der Pflegebedürftigen, jedenfalls auf Seiten der Pflegepersonen für eine Fortgeltung der Vorrangigkeit ambulanter Pflege sorgen. Der ambulanten Pflege käme damit nach wie vor eine hervorgehobene Stellung zu.

74 Vgl. hierzu Knöpfel, FamRZ 1985, S. 559; Gernhuber, in: Festschrift für Wolfram Müller-Freienfels, S. 187 ff.

2. Kap.: Fortgeltende Stufenfolge zwischen den Pflegeformen

175

A. Pflicht des Ehegatten zur informellen, ambulanten Pflege Gem. § 1353 Abs. 1 S. 2 BGB sind sich die Ehegatten zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet und tragen füreinander Verantwortung.75 Auch wenn die Vorschrift zwecks eines weiten Ausgestaltungsspielraums zugunsten der Ehegatten als Generalklausel gefasst ist, lassen sich daraus dennoch Rechtspflichten ableiten.76 Inhalt der ehelichen Lebensgemeinschaft gem. § 1353 Abs. 1 S. 2 BGB ist eine Beistandspflicht für den anderen Ehegatten bis zur Grenze des Zumutbaren.77 Die Beistandspflicht greift nicht nur bei alltäglichen Aufgaben, sondern erst Recht bei der Bewältigung besonderer Umstände wie Krankheit oder Pflegebedürftigkeit.78 Eine weitere Ausprägung der aus der ehelichen Lebensgemeinschaft resultierenden Pflichten ist die Pflicht zum Familienunterhalt. Die finanziellen Grundlagen der Lebens- und Verantwortungsgemeinschaft werden bei zusammenlebenden Ehegatten durch §§ 1360 ff. BGB konkretisiert, bei Getrenntlebenden durch §§ 1361 ff. BGB.79 Gem. § 1360 BGB sind die Ehegatten je nach der in der Ehe konkret übernommenen Funktion verpflichtet, zum Unterhalt der Familie beizutragen.80 Dazu gehört gem. § 1360a Abs. 1 BGB alles für den Lebensbedarf der Familie Erforderliche, d. h. die Mittel zur Bestreitung des Haushalts und zur Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse der Ehegatten.81 Zu letzteren zählt auch der Betreuungs- und Pflegeaufwand aufgrund von Pflegebedürftigkeit.82 Damit resultiert nicht nur aus der Beistands-, sondern auch aus der Unterhaltspflicht die Pflicht eines Ehegatten gem. §§ 1353, 1360 BGB, an der Pflege seines pflegebedürftigen Ehegatten mitzuwirken.83 75

Die entsprechende Regelung für eingetragene Lebenspartner findet sich in § 2 LPartG. Siehe Brudermüller, in: Palandt, BGB, § 1353 Rn. 2, Rn. 5; Roth, in: MüKo, BGB, § 1353 Rn. 18, Rn. 20. 77 Siehe Hahn, in: Bamberger/Roth, BGB, § 1353 Rn. 15; Wellenhofer, in: Nomos-Kommentar, FamR, § 1353 Rn. 12. 78 Siehe BGH, Urt. v. 22. 02. 1995, Az XII ZR 80/94, FamRZ 1995, 539; OLG Hamm, Urt. v. 10. 02. 1998, Az 1 UF 207/97, FamRZ 1999, 167 f.; Voppel, in: Staudinger, BGB, § 1353 Rn. 53; Roth, in: MüKo, BGB, § 1353 Rn. 31. 79 Vgl. Kaiser, in: Nomos-Kommentar, FamR, § 1360 Rn. 1; Weber-Monecke, in: MüKo, BGB, § 1360 Rn. 1. 80 Vgl. BGH, Urt. v. 20. 10. 2003, Az XII ZR 115/01, NJW 2003, 3771; BGH, Urt. v. 21. 01. 2009, Az XII ZR 54/06, NJW 2009, 1744. Entsprechendes regelt § 5 LPartG für Lebenspartner. 81 Vgl. hierzu auch Leiß, in: Soergel, BGB, § 1360a Rn. 3. 82 Vgl. BGH, Urt. v. 22. 02. 1995, Az XII ZR 80/94, FamRZ 1995, 539; BGH, Urt. v. 06. 10. 1992, Az VI ZR 305/91, FamRZ 1993, 412; OLG Hamm, Urt. v. 10. 02. 1998, Az 1 UF 207/97, FamRZ 1999, 167 f.; Kaiser, in: Nomos-Kommentar, FamR, § 1360a Rn. 5; Weber-Monecke, in: MüKo, BGB, § 1360a Rn. 5 f. 83 Vgl. auch BSG, Urt. v. 18. 03. 1999, Az B 3 P 8/98 R; BGH, Urt. v. 22. 02. 1995, Az XII ZR 80/94, FamRZ 1995, 539; BGH, Urteil v. 06. 10. 1992, Az VI ZR 305/91, FamRZ 1993, 412; OLG Hamm, Urt. v. 10. 02. 1998, Az 1 UF 207/97, FamRZ 1999, 167 f. 76

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4. Teil: Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung

Zu hinterfragen ist, ob es sich dabei nur um die generelle Pflicht zur Unterstützung und Teilnahme an der Pflege unabhängig von der konkreten Pflegeform handelt oder ob der Ehegatte vorrangig selbst aufgrund seiner Beistands- und Unterhaltspflicht ambulant pflegend tätig werden muss. Bei getrennt lebenden Ehegatten (vgl. § 1567 BGB) scheidet eine Pflicht zur vorrangigen ambulanten Pflege durch den anderen Ehegatten jedenfalls aus. Hier sind die gegenseitigen Verpflichtungen nicht mehr so streng ausgestaltet wie beim ehelichen Zusammenleben.84 Der Ehegatte kann gem. § 1361 BGB die Zahlung eines angemessenen Unterhalts zur Deckung seines Bedarfs verlangen. Dieser ist grundsätzlich als Geldrente zu leisten, § 1361 Abs. 4 S. 1 BGB.85 Damit wird auch der durch eine Pflegebedürftigkeit bedingte Bedarf von der finanziellen Unterstützung mitumfasst und ist nicht als Naturalleistung durch den anderen Ehegatten zu erbringen.86 Für in ehelicher Gemeinschaft zusammenlebende Ehegatten könnte möglicherweise etwas anderes gelten, da dort der Familienunterhalt vorrangig als Naturalunterhalt zu erbringen ist.87 Dass die Unterhaltsleistung in der Regel in natura anfällt, bedeutet, dass es sich weitgehend um persönlich zu erbringende Pflichten handelt.88 In welcher konkreten Ausprägung der Beitrag zum Familienunterhalt zu leisten ist, hängt allerdings nicht zuletzt von der zwischen den Ehegatten vereinbarten Funktionsaufteilung der ehelichen Aufgaben ab, wie bereits aus §§ 1360 S. 2, 1356, 1360a Abs. 2 BGB deutlich wird.89 Damit können sich die Ehegatten auch darüber einigen, ob der Beitrag zur Pflege durch Finanzierung einer professionellen Pflege oder durch persönliche Übernahme erfolgt. Dass die Funktionsaufteilung hinsichtlich der Pflege im Einvernehmen geschehen muss, bedeutet gleichzeitig, dass kein Ehegatte gegen seinen Willen zur informellen, ambulanten Pflege gezwungen werden kann. Entscheiden sich die Ehegatten für eine ambulante oder stationäre, professionelle Pflege, ist der Ehegatte aufgrund seiner Unterhaltspflicht verpflichtet, soweit wie möglich, mit seinem Einkommen bzw. Vermögen zu der Pflege beizutragen.90 Der gleichrangigen Möglichkeit, seiner Unterhaltspflicht durch die Bereitstellung einer professionellen Pflege nachzukommen, steht zudem nicht die Beistandspflicht gem. § 1353 BGB entgegen. Danach sind sich die Ehegatten bei Pflegebedürftigkeit 84

Vgl. Beutler, in: Bamberger/Roth, BGB, § 1361 Rn. 2 f.; Weber-Monecke, in: MüKo, BGB, § 1361 Rn. 1. 85 Siehe Leiß, in: Soergel, BGB, § 1361 Rn. 1; Voppel, in: Staudinger, BGB, § 1361 Rn. 1. 86 Vgl. hierzu auch Kath-Zurhorst/Reuter, in: Nomos-Kommentar, FamR, § 1361 Rn. 29. 87 Vgl. Kaiser, in. Nomos-Kommentar, FamR, § 1360a Rn. 24; Beutler, in: Bamberger/ Roth, BGB, § 1360a Rn. 4; Weber-Monecke, in: MüKo, BGB, § 1360a Rn. 14. 88 Siehe Voppel, in: Staudinger, BGB, § 1360a Rn. 50. 89 Siehe auch BGH, Urteil vom 06. 10. 1992, Az VI ZR 305/91, FamRZ 1993, 412; WeberMonecke, in: MüKo, BGB, § 1360a Rn. 2; Kaiser, in: Nomos-Kommentar, FamR, § 1360a Rn. 24 f. 90 Vgl. hierzu auch Bayer. LSG, Urt. v. 16. 02. 1984, Az L 10 V 49/82, Breithaupt 1984, 793 f.

2. Kap.: Fortgeltende Stufenfolge zwischen den Pflegeformen

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generell zum Beistand verpflichtet. Dieser wird durch eine professionelle Pflege nicht obsolet. Er besteht dann in der Ergänzung und Unterstützung, beispielsweise in Form von regelmäßigen Besuchen bei einer stationären Pflege. Wäre der Beistandspflicht eine generelle Pflicht zur informellen, ambulanten Pflege zu entnehmen, dann käme die Frage auf, ob nicht grundsätzlich die Grenze der Zumutbarkeit und somit die für die Beistandspflicht bestehende Grenze überschritten wäre.91 Denn die Pflege kann langjährig, intensiv und unabsehbar sein.92 Die Ehegatten sind folglich aufgrund ihrer Beistands- und Unterhaltspflicht gem. §§ 1353, 1360 BGB verpflichtet, an der Pflege des jeweils anderen mitzuwirken. Es besteht jedoch nicht vorrangig die Pflicht zur informellen, ambulanten Pflege.93 Selbst wenn man eine Pflicht zur informellen Pflege bis zur Grenze der Zumutbarkeit94 annähme, wäre sie nicht erzwingbar. Denn die Pflicht zum Beistand ist nicht vollstreckbar.95 Hintergrund ist, dass bei § 1353 BGB die weitgehende Autonomie der Ehegatten im Hinblick auf die Ausgestaltung ihrer ehelichen Lebensgemeinschaft im Vordergrund steht.96

B. Pflicht der Kinder zur informellen, ambulanten Pflege I. Pflicht gem. §§ 1601 ff. BGB Eine Pflicht der Kinder zur informellen, ambulanten Pflege ihrer Eltern könnte sich ebenfalls aus einer Unterhaltspflicht, dem Verwandtenunterhalt gem. §§ 1601 ff. BGB, ergeben. Gem. § 1601 BGB sind Verwandte in gerader Linie, also Kinder, Eltern, Großeltern (vgl. § 1589 Abs. 1 S. 1 BGB), zum Unterhalt verpflichtet, wenn der Anspruchstellende bedürftig und der in Anspruch Genommene

91

Zur Zumutbarkeit als Grenze der Beistandspflicht siehe Hahn, in: Bamberger/Roth, BGB, § 1353 Rn. 15 ff. 92 Ähnlich zur Verhinderungspflege Richter, in: Klie/Krahmer/Plantholz, SGB XI, § 39 Rn. 18. 93 So auch Bayer. LSG, Urt. v. 16. 02. 1984, Az L 10 V 49/82, Breithaupt 1984, 791, S. 793 f.; BGH, Urt. v. 06. 10. 1992, Az VI ZR 305/91, FamRZ 1993, 412; Kaiser, in: NomosKommentar, FamR, § 1360a Rn. 5 f.; Leiß, in: Soergel, BGB, § 1360a Rn. 8; Triebs, in: Schulz/ Hauß, FamR, § 1360a Rn. 5. 94 Die Grenze der Zumutbarkeit ist jedenfalls bei Schwerstpflegebedürftigkeit erreicht. So ist es einhellige Meinung, dass ein Ehegatte keinesfalls gem. §§ 1353, 1360 BGB verpflichtet ist, eine zeitintensive Pflege eines Schwerstpflegebedürftigen in häuslicher Umgebung selbst durchzuführen. Vgl. BGH, Urt. v. 22. 02. 1995, Az XII ZR 80/94, FamRZ 1995, 539; OLG Hamm, Urt. v. 10. 02. 1998, Az 1 UF 207/97, FamRZ 1999, 167; Bayer. LSG, Urt. v. 16. 02. 1984, Az L 10 V 49/82, Breithaupt 1984, 790. 95 Vgl. Voppel, in: Staudinger, BGB, § 1353 Rn. 145; Roth, in: MüKo, BGB, § 1353 Rn. 19. 96 Siehe Roth, in: MüKo, BGB, § 1353 Rn. 5.

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4. Teil: Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung

leistungsfähig ist.97 Nach dem Ehegatten sind die Kinder grundsätzlich vorrangig unterhaltspflichtig für ihre Eltern, vgl. §§ 1606, 1608 BGB. Die notwendige Pflege ist Bestandteil des Lebensbedarfs pflegebedürftiger Eltern, weshalb die Kinder hierfür durch ihre Unterhaltspflicht mitverantwortlich sind, vgl. § 1610 BGB.98 Allerdings ist der Verwandtenunterhalt gem. § 1612 Abs. 1 S. 1 BGB regelmäßig in Form einer Geldrente zu gewähren. Somit sind dieselben Maßstäbe anzulegen wie an den Unterhalt bei getrenntlebenden Ehegatten.99 Eine Pflicht zur informellen, ambulanten Pflege lässt sich hieraus nicht begründen.100

II. Pflicht gem. § 1618a BGB Daneben kommt eine Pflicht der Kinder zur informellen, ambulanten Pflege ihrer Eltern gem. § 1618a BGB in Betracht. Danach sind Eltern und Kinder einander Beistand und Rücksicht schuldig. Mit § 1618a BGB wollte der Gesetzgeber eine Parallelvorschrift zu § 1353 BGB für die Gemeinschaft zwischen Eltern und Kindern schaffen.101 Auch zwischen diesen besteht eine besondere partnerschaftliche Verbundenheit, die Rücksichts- und Beistandspflichten rechtfertigt.102 Die familiäre Verantwortung ist überdies in Art. 6 Abs. 1 GG geschützt.103 Bereits hieraus sind „Eltern wie Kinder nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet […], füreinander sowohl materiell als auch persönlich Verantwortung zu übernehmen“104. § 1618a BGB beinhaltet insofern die einfachgesetzliche Ausprägung dieser Solidarität. Bei den Rücksichts- und Beistandspflichten gem. § 1618a BGB handelt es sich um echte Rechtspflichten.105 Die Pflicht zum Beistand bedeutet auch im Kind-Eltern-Verhältnis die Unterstützung in allen Lebenslagen, insbesondere in Notsituationen,

97

Vgl. §§ 1602, 1603 BGB. Siehe Engler/Kaiser, in: Staudinger, BGB, § 1610 Rn. 130; Saathoff, in: Nomos-Kommentar, FamR, § 1601 Rn. 8; Reinken, in: Bamberger/Roth, BGB, § 1601 Rn. 5, Rn. 7 f. Siehe zum Elternunterhalt auch ausführlich Lemmerz, DNotZ 2014, S. 499 ff. 99 Vgl. Vierter Teil, Zweites Kapitel, A. 100 So auch Windel, ErbR 2010, S. 245; Ludyga, FPR 2012, S. 56. 101 Vgl. BT-Drucks. 8/2788, S. 43. 102 Vgl. BT-Drucks. 8/2788, S. 36, S. 43; Gernhuber, in: Festschrift für Wolfram MüllerFreienfels, S. 167, S. 174; Ludyga, FPR 2012, S. 55; Knöpfel, FamRZ 1985, S. 558, S. 563 ff.; Diederichsen, NJW 1980, S. 2. 103 Siehe BVerfG, Beschluss v. 19. 04. 2005, Az 1 BvR 1644/00, Az 1 BvR 188/03, BVerfGE 112, 352. 104 BVerfG, Beschluss v. 19. 04. 2005, Az 1 BvR 1644/00, Az 1 BvR 188/03, BVerfGE 112, 352 f. 105 Siehe BSG, Urt. v. 26. 10. 1989, Az 6 RKa 4/89, NJW 1990, 1559; Knöpfel, FamRZ 1985, S. 559; Ludyga, FPR 2012, S. 55; Diederichsen, NJW 1980, S. 2; v. Sachsen Gessaphe, in: MüKo, BGB, § 1618a Rn. 2. 98

2. Kap.: Fortgeltende Stufenfolge zwischen den Pflegeformen

179

wozu auch die Pflegebedürftigkeit gehört.106 Adressaten der Beistandspflicht sind sämtliche Kinder, ungeachtet dessen, ob sie voll- oder minderjährig, verheiratet oder unverheiratet, ehelich oder nichtehelich sind und mit den Eltern in einer Hausgemeinschaft leben oder nicht.107 Leben die Kinder allerdings mit den Eltern in einer Hausgemeinschaft und unterstehen deren Erziehungsbefugnis oder Unterhaltsgewährung, ist § 1619 BGB eine vorrangige Spezialvorschrift.108 Er verpflichtet das Kind zur Mitarbeit im Hauswesen und Geschäft der Eltern. Bereits dem Wortlaut nach ist diese Mitarbeitspflicht auf Dienste am organisatorisch-räumlichen Bereich beschränkt. Eine Pflicht zu Diensten an der Person der Eltern gem. § 1619 BGB scheidet dagegen aus.109 Damit folgt die Pflicht zum Beistand bei Pflegebedürftigkeit für sämtliche Kinder aus § 1618a BGB.110 Bezüglich des Umfangs der Beistandspflicht von Kindern gilt Ähnliches wie zwischen Ehegatten. Sie findet ihre Grenze jedenfalls in der Zumutbarkeit. Kinder müssen keinesfalls ihre schwerstpflegebedürftigen Eltern persönlich ambulant pflegen.111 Dagegen spricht bereits die Rücksichtnahmepflicht der Eltern auf die Belange der Kinder (beispielsweise Erwerbstätigkeit oder Wohnortwechsel), die auf der Wechselseitigkeit des § 1618a BGB beruht. Einer Pflicht zur Aufnahme eines pflegebedürftigen Elternteils in den Haushalt stehen regelmäßig ebenfalls die Rücksichtnahmepflichten der Eltern sowie die vorrangigen Verpflichtungen des Kindes gegenüber seiner eigenen Kernfamilie gem. § 1353 BGB entgegen.112 Doch auch bei weniger schwer pflegebedürftigen Eltern ergibt sich aus § 1618a BGB keine Pflicht zur informellen, ambulanten Pflege. Wenn schon Ehegatten einander dazu nicht vorrangig verpflichtet sind, kann für Kinder erst Recht nichts anderes gelten. Es wäre widersprüchlich, wenn aus § 1618a BGB eine weitergehende Pflicht folgte als aus § 1353 BGB, obwohl es sich bei letzterer um diejenige Generalklausel mit be-

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Siehe zum Umfang der Beistandspflicht auch v. Sachsen Gessaphe, in: MüKo, BGB, § 1618a Rn. 8. 107 Siehe Ludyga, FPR 2012, S. 56. 108 Siehe Knöpfel, FamRZ 1985, S. 558; Hilbig-Lugani, in: Staudinger, BGB, § 1618a Rn. 41. 109 Vgl. Hilbig-Lugani, in: Staudinger, BGB, § 1619 Rn. 29; v. Sachsen Gessaphe, in: MüKo, BGB, § 1619 Rn. 18; Schwer, in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Viefhues, BGB, § 1619 Rn. 11; Windel, ErbR 2010, S. 244. 110 Selbst wenn man aus § 1619 BGB eine vorrangige Pflicht herleiten wollte (so wohl Budzikiewicz, in: Jauernig/Stürner, BGB, § 1619 Rn. 3), würde der Umfang dieser Pflicht ebenfalls durch die zur Auslegung heranzuziehende Generalklausel des § 1618a BGB bestimmt (vgl. v. Sachsen Gessaphe, in: MüKo, BGB, § 1619 Rn. 16). 111 Vgl. BSG, Urt. v. 18. 03. 1999, Az B 3 P 8/98 R, NJW 2000, 1814; LSG RhPf., Urt. v. 26. 07. 2001, Az L 1 AL 6/00, NZS 2002, 167; Ludyga, FPR 2012, S. 57. 112 Vgl. hierzu Gernhuber, in: Festschrift für Wolfram Müller-Freienfels, S. 183 f.; Knöpfel, FamRZ 1985, S. 562 f.; Hilbig-Lugani, in: Staudinger, BGB, § 1618a Rn. 39; v. Sachsen Gessaphe, in: MüKo, BGB, § 1618a Rn. 13.

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4. Teil: Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung

deutend mehr „Breite und Fülle“ handelt.113 Auch Kinder können ihrer Beistandspflicht bei Pflegebedürftigkeit der Eltern gem. § 1618a BGB mithin auf verschiedene Art und Weise gerecht werden: in Form einer informellen, ambulanten Pflege, in Form gemeinsamer Arztbesuche, in Form organisatorischer Unterstützung oder in Form von Kontakt und psychischem Beistand bei der Pflege in einer stationären Einrichtung.114 Ein Zwang zur informellen, ambulanten Pflege der Eltern birgt aufgrund der damit verbundenen großen Belastung zudem die Gefahr, den Sinn und Zweck des § 1618a BGB zu vereiteln, der die Solidarität der Familienmitglieder untereinander zu stärken bezweckt.115 Selbst wenn man eine Pflicht zur vorrangigen informellen, ambulanten Pflege von Kindern gegenüber ihren Eltern annähme, wäre auch diese, falls einklagbar, jedenfalls nicht vollstreckbar.116

C. Pflicht der Eltern zur informellen, ambulanten Pflege Es existieren auch Konstellationen, in denen jüngere und teilweise minderjährige Menschen117 der Pflege bedürfen.118 Insofern stellt sich nicht ausschließlich die Frage nach einer Pflicht der Kinder zur informellen Pflege der Eltern. Es ist ebenso nach einer Pflicht der Eltern zur vorrangig informellen Pflege pflegebedürftiger Kinder zu fragen, wobei hier hinsichtlich des Alters des Kindes zu differenzieren ist.

I. Pflicht zur informellen Pflege volljähriger Kinder Sind die Kinder volljährig bzw. 21 Jahre alt und nicht mehr in der allgemeinen Schulausbildung119, kann nichts anderes gelten als im Pflichtenverhältnis der Kinder zu ihren Eltern. Die Unterhaltspflicht folgt weitgehend den allgemeinen Grundsätzen des Verwandtenunterhalts gem. § 1601 ff. BGB. Ist das Kind unverheiratet, können die Eltern die Art der Unterhaltsgewährung bestimmen, § 1612 Abs. 2 S. 1 BGB. 113

Siehe zum Verhältnis von § 1618a BGB und § 1353 BGB Gernhuber, in: Festschrift für Wolfram Müller-Freienfels, S. 174. 114 Siehe hierzu auch Ludyga, FPR 2012, S. 56 f.; Hilbig-Lugani, in: Staudinger, BGB, § 1618a Rn. 39, Rn. 43 f.; Gernhuber, in: Festschrift für Wolfram Müller-Freienfels, S. 188 f. 115 Vgl. hierzu auch Knöpfel, FamRZ 1985, S. 562; Gernhuber, in: Festschrift für Wolfram Müller-Freienfels, S. 185 f. 116 Siehe zur Durchsetzbarkeit BT-Drucks. 8/2788, S. 43; Knöpfel, FamRZ 1985, S. 560 f.; Ludyga, FPR 2012, S. 58. 117 2,8 % der Pflegebedürftigen sind unter 15 Jahre alt. Vgl. auch hierzu Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2013, S. 9. 118 Siehe Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2013, S. 9. 119 Vgl. § 1603 Abs. 2 S. 2 BGB.

2. Kap.: Fortgeltende Stufenfolge zwischen den Pflegeformen

181

Daraus folgt jedoch nicht die Pflicht zum Naturalunterhalt. Die Gewährung einer Geldrente ist gleichermaßen möglich. Ebenso kann die Beistandspflicht gem. § 1618a BGB in Bezug auf volljährige Kinder nicht über diejenige zwischen Ehegatten gem. § 1353 Abs. 1 S. 2 BGB hinausgehen.120 Eine Pflicht zur informellen Pflege scheidet aus.

II. Pflicht zur informellen Pflege minderjähriger Kinder Andere Maßstäbe sind dagegen an das Verhältnis von Eltern und minderjährigen Kindern anzulegen. Diesen gegenüber besteht eine gesteigerte Unterhaltspflicht.121 Der Unterhalt wird trotz Wahlmöglichkeit gem. § 1612 Abs. 2 BGB wegen der engen Verknüpfung mit der Personensorge in der Regel in natura erbracht. Von dem betreuenden Elternteil wird er bereits durch die allgemeine Pflege und Erziehung des Kindes geleistet, vgl. § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB.122 Auch die Pflichten gem. § 1618a BGB müssen hier weiter gehen, da sie stets in Relation zur Bedürftigkeit des Berechtigten und der Leistungsfähigkeit des Verpflichteten stehen.123 Pflichten aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit minderjähriger Kinder resultieren jedoch vorrangig aus der elterlichen Sorge gem. § 1626 BGB, welche als speziellere Vorschrift der Generalklausel des § 1618a BGB vorgeht. Die Personensorge, §§ 1626 Abs. 1, 1631 BGB, umfasst alle Betreuungsaufgaben, die sich nicht allein auf das Vermögen des Kindes beziehen. Inhalt ist auch die Pflicht zur Pflege des Kindes, vgl. § 1631 Abs. 1 BGB, welche im Rahmen des Elternrechts unmittelbaren Verfassungsrang genießt, vgl. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Pflege bedeutet in diesem Kontext die Sorge für sämtliche körperliche Bedürfnisse des Kindes wie Ernährung, Bekleidung, Gesundheit oder auch das geistige und seelische Wohl.124 Die Eltern haben bezogen auf die „Person […][ihres] Kindes jede denkbare und erforderliche, tatsächliche und rechtliche Fürsorge zu entfalten“125. Ihnen obliegt somit die Pflicht zur Befriedigung der individuellen Bedürfnisse ihres Kindes, also auch der Betreuung eines pflegebedürftigen Kindes. Allerdings steht es auch den Eltern frei, wie sie die Pflege konkret ausgestalten, solange dies im Einklang mit dem Leitgedanken der elterlichen Sorge, dem Kin-

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Siehe zu dieser Vierter Teil, Zweites Kapitel, A. Vgl. §§ 1602 Abs. 2, 1603 Abs. 2 S. 1, 1611 Abs. 2, 1612a BGB. Siehe auch Engler, in: Staudinger, BGB, § 1602 Rn. 142. 122 Vgl. hierzu auch Seibl, in: Soergel, BGB, § 1612 Rn. 27, Rn. 35 f. 123 Siehe Hilbig-Lugani, in: Staudinger, BGB, § 1618a Rn. 30; Knöpfel, FamRZ 1985, S. 563. 124 Vgl. Huber, in: MüKo, BGB, § 1631 Rn. 3; Rakete-Dombek, in: Nomos-Kommentar, FamR, § 1631 Rn. 6; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 6 Rn. 42. 125 Dölle, Familienrecht II, § 92 I 1. 121

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4. Teil: Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung

deswohl, geschieht.126 Hierfür spricht, dass es ebenfalls Element der Personensorge der Eltern ist, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen, vgl. § 1631 Abs. 1 BGB. Die Eltern können im Einklang mit dem Kindeswohl beispielsweise die Unterbringungen in einer Pflegefamilie, bei Verwandten oder in einem Internat beschließen.127 Wenn es ihnen möglich ist, die Betreuung eines gesunden Kindes anderen Personen anzuvertrauen, muss es ihnen im Rahmen ihres Elternrechts ebenfalls gestattet sein, zu entscheiden, ob sie die Betreuung eines pflegebedürftigen Kindes durch professionelle Kräfte durchführen lassen. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht lässt auch die Unterbringung in einer stationären Einrichtung zu.128 Es kommt auch dem Wohl des Kindes entgegen, den Eltern die freie Wahl der Pflegeform für ihr Kind zuzugestehen, wenn sie nicht gewillt sind oder sich nicht dazu in der Lage sehen, die Pflege selbst zu übernehmen. Allerdings spielt mit zunehmendem Alter der Wille des Kindes eine immer entscheidendere Rolle für die Beurteilung des Kindeswohls.129 Die Pflegeformwahl muss damit unter Berücksichtigung des Kindeswillens getroffen werden, wodurch jedoch die Freiheit, zwischen den verschiedenen Pflegeformen wählen zu können, im Grundsatz nicht beeinträchtigt wird. Die Eltern haben folglich aufgrund ihrer elterlichen Sorge in besonderem Maße für eine geeignete, mit dem Kindeswohl in Einklang stehende Pflege ihres pflegebedürftigen Kindes zu sorgen. Sie bleiben auch bei professioneller Pflege in besonderem Maße weiterhin und ergänzend verantwortlich.130

D. Schlussfolgerung Zwischen Ehegatten einerseits und Eltern und Kindern andererseits besteht eine besonders enge familiäre Gemeinschaft. Aus dieser sind sie wechselseitig zu Beistand oder gar zu elterlicher Sorge und Unterhalt verpflichtet. Aufgrund der Beistandspflicht müssen sie sich in Notlagen, wie der Pflegebedürftigkeit, unterstützen. Ehegatten, Eltern und Kindern obliegt eine wechselseitige Beistandspflicht bei Pflegebedürftigkeit. Die Mitverantwortung bei Pflegebedürftigkeit konkretisiert sich zusätzlich im Unterhaltsanspruch. Denn die Unterhaltspflicht bezieht sich auf die Befriedigung sämtlicher Bedürfnisse, wozu auch der Bedarf an Pflege gehört. Die 126 Vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss v. 17. 02. 1982, Az 1 BvR 188/80, NJW 1982, 1379; BGH, Urt. v. 07. 08. 2013, Az XII ZB 559/11, NJW 2013, 2971. 127 Siehe BT-Drucks. 8/2788, S. 51; Salgo, in: Staudinger, BGB, § 1631 Rn. 53, Rn. 57. 128 Siehe allerdings zum Genehmigungsvorbehalt bei einer mit einer Freiheitsentziehung verbundenen Unterbringung § 1361b. Dabei wird jedoch lediglich die Möglichkeit zur Sicherstellung der Pflege auf einem weniger einschneidenden Weg geprüft, was nicht zwingend die häusliche Pflege durch die Eltern bedeuten muss. Vgl. dazu Huber, in: MüKo, BGB, § 1361b Rn. 1; Rakete-Dombek, in: Nomos-Kommentar, FamR, § 1631b Rn. 6. 129 Siehe Rakete-Dombek, in: Nomos-Kommentar, FamR, § 1631 Rn. 9. 130 Vgl. hierzu auch Salgo, in: Staudinger, BGB, § 1631 Rn. 42; Rakete-Dombek, in: Nomos-Kommentar, FamR, § 1631 Rn. 4.

3. Kap.: Pflegebudget als mögliches neues Leistungskonzept

183

sich aus der Beistands- und Unterhaltspflicht ergebende Pflicht beinhaltet jedoch keine vorrangige Verpflichtung zur informellen, ambulanten Pflege. Selbst wenn man eine solche annähme, wäre sie jedenfalls nicht vollstreckbar. Es bleibt den jeweiligen familiären Gemeinschaften damit überlassen, wie sie die Pflege konkret ausgestalten und welche Pflegeform sie im Einverständnis wählen. Alternativ zu der informellen, ambulanten Pflege können sie beispielsweise bei einer professionellen Pflege finanziell und persönlich unterstützend tätig werden. Das Familienrecht führt also nicht zu einer Stufenfolge zwischen den Pflegeformen. Insofern begrenzt es auch nicht die Wirkung einer Aufhebung des Vorranggrundsatzes in der Pflegeversicherung. Das Familienrecht hat nicht zur Folge, dass selbst bei einer Aufhebung des Vorranggrundsatzes der Pflegeversicherung eine Stufenfolge zwischen den Pflegeformen und eine besondere Stellung der ambulanten Pflege fortbestehen würden.

Drittes Kapitel

Pflegebudget als mögliches neues Leistungskonzept Eine Streichung des Vorranggrundsatzes in der Pflegeversicherung würde nicht nur zu einer Gleichstellung der Pflegeformen und der gänzlich unbeeinträchtigten Pflegeformwahl des Pflegebedürftigen führen, sondern könnte darüber hinaus neue Leistungskonzepte ermöglichen. Solange der Vorranggrundsatz als Leitlinie für die Pflegeversicherung besteht und sie dazu auffordert, mit ihren Leistungen vorrangig auf die ambulante Pflege hinzuwirken, ist eine Auflösung der Kategorien „ambulant“ und „stationär“ im Leistungsrecht kaum möglich. Denn dies verstieße gegen die Intention des Programmsatzes. Erst die Streichung des Vorranggrundsatzes erleichtert es also, über neue Leistungskonzepte jenseits von „ambulant“ und „stationär“ nachzudenken. An die Stelle einer Orientierung an der Pflegeform könnte die alleinige Orientierung an der Pflegestufe bzw. dem Pflegegrad treten. Ein solches kategorienauflösendes, neues Leistungskonzept wäre z. B. in Form eines persönlichen Budgets vorstellbar.

A. Persönliches Budget im SGB IX Die Idee des persönlichen Budgets findet ihren Ursprung im Recht der Rehabilitation und Teilhabe. Als alternative Leistungsform wird dem Leistungsberechtigten auf Antrag monatlich ein Geldbetrag zur Verfügung gestellt, mit welchem er sich die benötigten Leistungen unmittelbar beim Anbieter selbst einkaufen kann, vgl. § 17 Abs. 2 und Abs. 3 SGB IX.131 Dadurch soll ihm ein möglichst selbstbestimmtes 131

Vgl. auch BSG, Urt. v. 30. 11. 2011, Az B 11 AL 7/10 R, BSGE 109, 293.

184

4. Teil: Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung

Leben in eigener Verantwortung ermöglicht werden, vgl. § 17 Abs. 2 S. 1 SGB IX.132 Die Höhe des gewährten Geldbetrages ist so zu bemessen, dass der individuell festgestellte Bedarf und die benötigte Beratung und Unterstützung gedeckt werden können, § 17 Abs. 3 S. 2 SGB IX. Die Kosten der ohne Budget zu erbringenden Leistungen sollen jedoch nicht überschritten werden, § 17 Abs. 3 S. 4 SGB IX. Aufgrund des gegliederten Systems und der Aufgabenverteilung auf verschiedene Träger (vgl. § 6 SGB IX) können bei Vorliegen von Behinderung oftmals Ansprüche gegen mehrere Träger bestehen.133 In diesem Fall kann das persönliche Budget als trägerübergreifende Komplexleistung erbracht werden, vgl. § 17 Abs. 2 S. 3 SGB IX, § 2 S. 2 BudgetVO. Die Leistungsberechtigten erhalten das gesamte Budget „aus einer Hand“ vom erstangegangenen Leistungsträger134, während die anderen beteiligten Leistungsträger diesem die auf sie entfallenden Teilbudgets rechtzeitig zur Verfügung stellen müssen.135

B. Bekannte Formen des persönlichen Budgets in der Pflegeversicherung Auch die Pflegeversicherung kennt bereits das Konzept des persönlichen Budgets: zum einen in Form der Pflegeleistungen als Teil des trägerübergreifenden, persönlichen Budgets, zum anderen in Form des Pflegebudgets.

I. Pflegeleistungen als Teil des trägerübergreifenden, persönlichen Budgets Aufgrund der geteilten Zuständigkeit für die Rehabilitationsleistungen, hinsichtlich derer das SGB IX nur einen gemeinsamen Rahmen schafft, erlangt das Konzept des persönlichen Budgets für sämtliche Rehabilitationsträger gem. § 6 SGB IX Relevanz. Neben ihnen sind auch die Pflegekassen in die Teilnahme am persönlichen Budget einbezogen.136 § 17 Abs. 2 bis 6 SGB IX ist nur die übergeordnete Norm zum persönlichen Budget. Der Anspruch auf Erbringung einer Leistung in Budgetform ergibt sich aus der entsprechenden Vorschrift im jeweiligen 132 Siehe hierzu auch BSG, Urt. v. 11. 05. 2011, Az B 5 R 54/10 R, BSGE 108, 158; BTDrucks. 15/1514, S. 72. 133 Vgl. auch BT-Drucks. 14/5074, S. 94. Siehe zum gegliederten System ausführlich Neumann, NZS 2004, S. 181 ff. 134 Regelmäßig ist dies bislang der Sozialhilfeträger. Vgl. BMAS, Umsetzung und Akzeptanz des Persönlichen Budgets, S. 6. 135 Vgl. § 17 Abs. 4 S. 1 SGB IX, § 3 BudgetVO. Siehe näher hierzu auch BT-Drucks. 15/ 1514, S. 72; BSG, Urt. v. 11. 05. 2011, Az B 5 R 54/10 R, BSGE 108, 158. 136 § 17 Abs. 2 S. 4 SGB IX, § 35a SGB XI.

3. Kap.: Pflegebudget als mögliches neues Leistungskonzept

185

Einzelgesetz.137 Die umsetzende Vorschrift im SGB XI ist § 35a. Allerdings ist Grundvoraussetzung zunächst das Bestehen eines Anspruchs auf eine Teilhabeleistung gegen einen Rehabilitationsträger. Dafür spricht sowohl der Wortlaut des § 17 Abs. 2 S. 4 SGB IX mit der Aufzählung der „neben den Leistungen nach Satz 1 erforderlichen [weiteren] Leistungen“ als auch derjenige des § 35a S. 1 SGB XI, welcher allein vom trägerübergreifenden, persönlichen Budget spricht.138 Die Einbeziehung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung in das trägerübergreifende, persönliche Budget erfährt in § 35a SGB XI eine Einschränkung in zweifacher Hinsicht: Zum einen werden dort nur bestimmte Leistungen der Pflegeversicherung als budgetfähig bestimmt, zum anderen sind selbst für sie teilweise Besonderheiten vorgesehen. So können nur die Pflegesachleistungen, das Pflegegeld, die zum Verbrauch bestimmten Pflegehilfsmittel und die teilstationären Leistungen Teil des persönlichen Budgets sein, vgl. § 35a S. 1 Hs. 1 SGB XI. Die Pflegesachleistungen und die teilstationären Leistungen werden lediglich in Form von Gutscheinen gewährt, vgl. § 35a S. 1 Hs. 2 SGB XI. Damit können nur das Pflegegeld und die Pauschale für die zum Verbrauch bestimmten Pflegehilfsmittel integriert werden, welche ohnehin Geldleistungen sind. Die übrigen Pflegeleistungen in Gutscheinform sind kein „echter“ Budgetbestandteil. Da sie bei einem zugelassenen Leistungserbringer eingelöst werden müssen, bleibt ihnen der Sachleistungscharakter anhaften.139 Das klassische Dreiecksverhältnis der Leistungserbringung wird hier nicht aufgelöst.140 Für den Leistungsbezieher ergeben sich mithin aus der Einbeziehung solcher Leistungen in das persönliche Budget keine Vorteile.141 Einziger Anreiz ist die Vereinfachung des Leistungsbezugs durch die Möglichkeit, die Pflegeleistungen mit den anderen budgetfähigen Leistungen einheitlich von einem Träger zu beziehen.

II. Pflegebudget und das integrierte Budget Eine weitergehende Möglichkeit läge in der Einführung eines pflegeversicherungseigenen persönlichen Budgets, wie es mit den Modellprojekten „Pflegebudget“ und „integriertes Budget“ bereits in Modellvorhaben nach § 8 Abs. 2 SGB XI erprobt wurde.

137

Siehe Welti, SGb 2008, S. 325, 327. A.A. Reissenberger-Safadi/Linke, in: Krauskopf, SGB XI, § 35a Rn. 25; Trésoret, in: Schlegel/Voelzke/Hauck, SGB XI, § 35a Rn. 39 f. 139 Kritisch hierzu Arbeitsgruppe „Persönliches Budget“ des Deutschen Vereins, NDV 2007, S. 107 f. 140 Vgl. auch Mühlenbruch, in: Hauck/Noftz, SGB XI, § 35a Rn. 10. 141 Siehe Trésoret, Schlegel/Voelzke/Hauck, SGB XI, § 35a Rn. 53. 138

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4. Teil: Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung

Das „Pflegebudget“ wurde in den Jahren 2004 bis 2008 in bundesweit sieben Modellregionen durchgeführt.142 Die Pflegebedürftigen bekamen als Alternative zum vorherigen Sachleistungsbezug den entsprechenden Geldbetrag ausbezahlt. Das Geld konnte für den Einkauf sämtlicher Pflegeleistungen eingesetzt werden, die zudem nicht notwendigerweise vom Leistungskatalog der sozialen Pflegeversicherung erfasst sein mussten.143 Allerdings wurde das „Pflegebudget“ nicht wie das Pflegegeld völlig zweckungebunden gewährt. Es durfte weder für die Bezahlung von nahen Angehörigen noch für Schwarzarbeit eingesetzt werden, sondern musste für den Einkauf frei wählbarer, ambulanter Pflegedienstleistungen verwendet werden.144 Damit war das „Pflegebudget“ auf die Form der ambulanten, professionellen Pflege beschränkt, stationäre Leistungen konnten nicht eingekauft werden. Der Bezug des „Pflegebudgets“ war zwingend an eine Begleitung durch ein Case-Management gekoppelt. Hierzu gehörte die Erarbeitung eines Hilfeplans in Abstimmung mit dem Pflegebedürftigen und ggf. seinem sozialen Netzwerk, die umfassende Beratung und Unterstützung bei und während der Umsetzung des Hilfe- und Pflegearrangements, die Verantwortlichkeit für die Qualitätssicherung und eine Anreizfunktion in Bezug auf die Weiterentwicklung der Pflegeinfrastruktur.145 Im Parallelprojekt „integriertes Budget“, das durch das Modellvorhaben „Budgets in der sozialen Pflegeversicherung“ weitergeführt wurde146, fand zeitgleich die Erprobung der Verbindung des „Pflegebudgets“ mit dem trägerübergreifenden, persönlichen Budget gem. § 17 SGB IX statt. Zielgruppe des integrierten Budgets waren in erster Linie Menschen mit Behinderung, bei denen der Pflegebedarf nicht im Vordergrund stand, während sich das „Pflegebudget“ vor allem an hochbetagte Menschen mit Pflegebedarf richtete.147

142 Als Träger fungierte die Evangelische Fachhochschule Freiburg, Arbeitsschwerpunkt Gerontologie und Pflege unter der Leitung von Prof. Dr. Klie. Die gem. § 8 Abs. 3 S. 11 SGB XI notwendige wissenschaftliche Begleitung übernahm ein Forschungsverbund, dem die Kontaktstelle der Evangelischen Fachhochschule, das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung und das Freiburger Institut für angewandte Sozialforschung angehörten. Siehe ausführlich zum „Pflegebudget“ GKV Spitzenverband, Das Pflegebudget, S. 1 ff. 143 Siehe zu dieser Möglichkeit § 8 Abs. 3 S. 3 SGB XI. Vgl. auch näher Arnzt/Spermann, SF 2005, S. 182. 144 Siehe zu den Rahmenbedingungen des Modellprojekts Pflegebudget auch Klie, Das Pflegebudget, S. 210 f. 145 Vgl. Klie, Das Pflegebudget, S. 212 ff. 146 Siehe GKV Spitzenverband, abgeschlossene Modellprojekte nach § 8 Abs. 3 SGB XI. 147 Siehe zum integrierten Budget näher Klie/Siebert, NDV 2008, S. 342; Klie/Siebert, RDLH 2006, S. 63; GKV Spitzenverband, Das integrierte Budget, S. 1 ff.

3. Kap.: Pflegebudget als mögliches neues Leistungskonzept

187

C. „Einheitliches Pflegebudget“ als mögliches neues Modell I. Skizzierung des „einheitlichen Pflegebudgets“ Über die in den Modellprojekten erprobten Formen des persönlichen Budgets geht das hier vorgeschlagene neue Konzept des „einheitlichen Pflegebudgets“ hinaus. Im Zentrum steht die Idee, dass jeder Pflegebedürftige als alleinige Leistung der Pflegeversicherung ein Budget erhält, das je nach Pflegestufe bzw. Pflegegrad unabhängig von der Pflegeform in einer einheitlichen Höhe gewährt wird.148 Mit dem Budget können sich die Pflegebedürftigen die benötigten Pflegeleistungen bei ambulanten, teilstationären oder stationären Anbietern einkaufen oder auch einen Mix aus Pflegeleistungen der verschiedenen Leistungserbringer arrangieren.149 Da jedem Pflegebedürftigen unabhängig von der Pflegeform der gleiche Betrag zur Verfügung steht, verlieren die Kategorien „ambulant“ und „stationär“ für das Leistungsrecht ihre Bedeutung. Jeder Pflegebedürftige kann sich ein individuelles, auf seinen persönlichen Hilfebedarf abgestimmtes Pflegearrangement zusammenstellen. Aus Kostengründen und aufgrund der Missbrauchsgefahr kann eine Unterscheidung lediglich dahingehend gemacht werden, ob eine informelle Pflegeperson an dem Pflegearrangement beteiligt ist. Im Falle der Beteiligung einer informellen Pflegeperson, wird der von der Pflegeversicherung zur Verfügung gestellte Budgetbetrag entsprechend gesenkt. Gleichzeitig erhält die informelle Pflegeperson für die Erbringung der Pflegeleistungen Pflegepunkte. Wer heute freiwillig Pflegeleistungen erbringt, erwirbt durch die Pflegepunkte einen Anspruch auf eigene Pflegeleistungen in der Zukunft. Nachzudenken ist zudem über eine Beibehaltung und einen Ausbau der sozialversicherungsrechtlichen Absicherung. Bezüglich der Höhe des „einheitlichen Pflegebudgets“ ist eine Orientierung an der Höhe der stationären Pflegeleistungen gem. § 43 Abs. 2 S. 2 SGB XI sinnvoll. Nur dies erlaubt weiterhin die Organisation einer stationären Pflege, ohne dass das Leistungsniveau sinkt.150 Gleichzeitig wird die Übernahme der medizinischen Behandlungspflege vollständig auf die Krankenkasse verlagert, da eine unterschiedli-

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Eine gewisse Ähnlichkeit zu diesem Vorschlag kann im österreichischen System gesehen werden, welches allein die Gewährung eines Pflegegeldes vorsieht, mit dem sich der Pflegebedürftige seine Pflege organisieren muss. Siehe hierzu näher Badelt/Österle, SF 1997, S. 191 ff. Gewisse Parallelen zu dem hier vorgeschlagenen neuen Ansatz sind auch in dem Konzept von Klie/Künzel/Hoberg zu finden, in Neue Caritas 2015, Heft 7, S. 13 ff. 149 Für die Möglichkeit der Budgetierung bei stationärer Pflege auch Reissenberger-Safadi/ Linke, in: Krauskopf, SGB XI, § 35a Rn. 31; Welti, SRa 2012, S. 197. 150 Für eine Angleichung der Leistungshöhe bei ambulanter und stationärer Pflege siehe auch Schütte, NDV 2007, S. 218. Siehe zu dem Ansatz der gleichen Höhe von ambulanten und stationären Leistungen auch Häcker/Raffelhüschen, Zukünftige Pflege ohne Familie, S. 23.

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4. Teil: Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung

che Zuordnung der Behandlungspflege mangels Unterscheidung in ambulante und in stationäre Pflegeleistungen nicht mehr in Betracht kommt.151 Das „einheitliche Pflegebudget“ tritt als alleinige Leistung an die Stelle der bisherigen Leistungen der Pflegeversicherung. Im Hinblick auf die ergänzenden und zusätzlichen Leistungen, die einen einmaligen, größeren Geldbetrag umfassen (beispielsweise die Zuschüsse für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen), ist eine Beibehaltung in Erwägung zu ziehen. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass das persönliche Budget in dem entsprechenden Monat oder gar über mehrere Monate hinweg vollständig aufgezehrt würde. In Anlehnung an das erprobte „Pflegebudget“ muss mit dem „einheitlichen Pflegebudget“ ein Case-Management im Sinne einer umfassenden Beratung, Unterstützung, Begleitung und Qualitätskontrolle verknüpft sein. Nur anhand eines solchen kann gewährleistet werden, dass dem Pflegebedürftigen Fachkenntnisse zur Seite gestellt werden, er Unterstützung beim Einkauf der Pflegeleistungen erhält und die Pflegequalität einer Ergebniskontrolle unterzogen wird.152 Das Case-Management könnte ebenfalls von geschulten Freiwilligen übernommen werden, mit dem Ziel, dafür eigene Pflegepunkte zu erwerben. Ebenso sinnvoll ist der Abschluss einer Zielvereinbarung zwischen der Pflegeversicherung und dem Pflegebedürftigen. Gegenstand der Zielvereinbarung können, entsprechend dem Vorbild des „trägerübergreifenden persönlichen Budgets“, die Festlegung des Leistungsziels sowie Regelungen über den Nachweis der zweckmäßigen Mittelverwendung sein.153 Dem „einheitlichen Pflegebudget“ wohnt all das Potenzial inne, das sich bereits beim „Pflegebudget“ herauskristallisiert hat.154 Es trägt der Selbstbestimmung und Autonomie der Pflegebedürftigen bestmöglich Rechnung. Die Zusammenstellung eines individuellen, flexiblen Pflegearrangements unter Mitwirkung verschiedener und vielfältiger Helfer wird möglich. Finanzielle Aushandlungsprozesse müssen stattfinden, denen unter Mitwirkung des Case-Managements die Chance innewohnt, neue Preise und veränderte Kalkulationsgrundlagen hervorzubringen. Es kann ein höheres Versorgungsniveau bei gleichbleibenden Kosten erreicht werden. Im Hinblick sowohl auf die Leistungsvielfalt als auch auf die Kosten für die Pflege wirken sich die Fortschritte in der Technologie und der Informationsverarbeitung zusätzlich fördernd aus. Möglich ist auch eine Steigerung der Lebensqualität sowohl der

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Siehe zur Verlagerung der Behandlungspflege auf die GKV näher Hoberg/Klie/Künzel, NDV 2013, S. 563; Klie/Künzel/Hoberg, Neue Caritas 2015, Heft 7, S. 15 f. Zur unterschiedlichen Zuordnung der medizinischen Behandlungspflege siehe Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. II. 2.; Zweiter Teil, Drittes Kapitel, B. V. 152 Siehe zu den entsprechenden Aufgaben des Case-Managements beim Pflegebudget Klie, Das Pflegebudget, S. 212 ff. 153 Vgl. zur Zielvereinbarung beim persönlichen Budget gem. § 4 BudgetVO Kehl, Persönliche Budgets, S. 41, S. 139; Rothenburg, Das persönliche Budget, S. 145 ff. 154 Zu der Bewertung des „Pflegebudgets“ siehe u. a. Klie, ErsK 2009, S. 21 f.

3. Kap.: Pflegebudget als mögliches neues Leistungskonzept

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Pflegebedürftigen als auch der Angehörigen. Schließlich findet eine intensivere Betreuung und Begleitung Pflegebedürftiger durch das Case-Management statt.155 Durch das „einheitliche Pflegebudget“ könnten sich zudem weitere neue und flexible Versorgungsformen entwickeln, die im bisherigen Leistungsrecht aufgrund der starren Trennung ambulanter und vollstationärer Leistungen nicht vorgesehen sind. Möglich wäre z. B. eine Kombination aus vollstationärer und informeller Pflege, bei der die Pflege anteilig durch die Einrichtung und anteilig durch eine informelle Pflegeperson erbracht wird.156 Auch eine nur anteilig vollstationäre Pflege könnte mit dem Budget eingekauft werden.

II. Herausforderungen des „einheitlichen Pflegebudgets“ Finanzierbarkeit, potenzieller Leistungsmissbrauch sowie die Überforderung des Pflegebedürftigen sind zentrale Aspekte, für die bei der Umsetzung des „einheitlichen Pflegebudgets“ unter anderem noch tragfähige Antworten gefunden werden müssten. Durch das „einheitliche Pflegebudget“ würden die Gesamtaufwendungen der Pflegeversicherung zunächst höher ausfallen, weil jeder Pflegebedürftige den vollstationären Leistungsbetrag erhalten würde und Kosten für das Case-Management anfielen. Demgegenüber stehen Einsparungen durch eine Reduzierung des administrativen Aufwands157 und neue, nicht monetäre Vergütungssysteme wie das Pflegepunkte-System für informell Pflegende. Der Mehraufwand für das CaseManagement würde zumindest zum Teil durch die Ablösung des bisherigen umfangreichen Beratungsangebots kompensiert.158 Das „einheitliche Pflegebudget“ birgt die Gefahr, dass die Mittel zweckentfremdet oder nicht wirkungsvoll genug eingesetzt werden. Dem Case-Management muss deshalb die zentrale Rolle der Sicherstellung von Qualität und Effektivität zukommen. Eine weitergehende Möglichkeit zeigt das niederländische Modell. Dort wird das Budget auf ein Konto bei der Sozialen Versicherungsbank gezahlt, der Budgetinhaber hat lediglich Verfügungsrechte über das Geld und weist die Bank zur Zahlung an die jeweiligen Leistungserbringer an.159 Der Sicherung der Pflegequalität kann zudem mit Hilfe der Zielvereinbarung begegnet werden.160 Dennoch macht auch das „einheitliche Pflegebudget“ die Qualitätskontrollen durch den MdK nicht überflüssig. 155 Vgl. GKV Spitzenverband, Das Pflegebudget, S. 81 f., S. 105 f.; Klie, Das Pflegebudget, S. 217; Arnzt/Spermann, SF 2004, S. 12. 156 Diese Möglichkeit erwähnt auch Michell-Auli in SF 2007, S. 49. 157 Vgl. Arnzt/Spermann, SF 2004, S. 13; GKV Spitzenverband, Das Pflegebudget, S. 106. 158 Zum Beratungsangebot siehe Zweiter Teil, Drittes Kapitel, C. 159 Siehe Arnzt/Spermann, SF 2004, S. 16. 160 Vgl. hierzu auch Kehl, Persönliche Budgets, S. 41.

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4. Teil: Streichung des Vorranggrundsatzes aus der Pflegeversicherung

Das „einheitliche Pflegebudget“ zeichnet sich dadurch aus, dass dem zu Pflegenden das größtmögliche Maß an Selbstbestimmung zuerkannt wird. Dies erfordert aber eine umfassende Eigenverantwortung und Selbstorganisation, zu der Pflegebedürftige möglicherweise nicht mehr in der Lage sind. Dieses Risiko müsste durch das Case-Management und die Qualitätssicherungsmaßnahmen aufgefangen werden.

D. Schlussfolgerung Die Aufhebung des Vorranggrundsatzes würde ein neues Leistungskonzept, beispielsweise in Form des hier vorgeschlagenen „einheitlichen Pflegebudgets“, ermöglichen. Danach würde jeder Pflegebedürftige je nach Pflegestufe bzw. Pflegegrad ein Budget erhalten, mit Hilfe dessen er sich die benötigten Pflegeleistungen selbst einkaufen könnte. Einem solchen Leistungskonzept stünde die Beibehaltung des Vorranggrundsatzes entgegen. Denn eine Leistungsgewährung, die sich gar nicht mehr nach den Kategorien „ambulant“ und „stationär“ richtet, verstieße gegen die Intention des Vorranggrundsatzes. Insbesondere im Hinblick auf flexible Pflegearrangements, die die Pflege zukunftsorientiert auf möglichst vielen Schultern verteilen, könnte das vorgeschlagene Konzept jedoch zahlreiche Möglichkeiten eröffnen.

Fünfter Teil

Zusammenfassung Der Vorrang ambulanter Leistungen ist ein zentraler Grundsatz der Pflegeversicherung: Ambulante Pflegeformen sind vorrangig vor den teilstationären und diese wiederum vorrangig vor den vollstationären. Zur Rechtfertigung dieses Grundsatzes werden einerseits der Erhalt eines möglichst „normalen“ Alltags und andererseits die Kosteneffizienz angeführt. Eingeführt wurde der Vorrang ambulanter Pflege bereits 1984 im Bundessozialhilfegesetz. Seine Intention bestimmte ebenfalls die Übergangsregelungen in der Krankenversicherung zur Schwerpflegebedürftigkeit, die für die Zeit bis zur Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 galten. Der Vorranggrundsatz fand in der Pflegeversicherung in § 3 SGB XI als Programmsatz Eingang. Danach wird der Pflegeversicherung der Auftrag erteilt, vorrangig auf die ambulante Pflege hinzuwirken. Auch wenn das SGB XI die ambulante, informelle Pflege besonders hervorhebt, stehen die ambulanten Pflegeformen gleichrangig nebeneinander. Gem. § 3 S. 1 SGB XI soll die Pflegeversicherung die ambulante Pflege insbesondere mit ihren Leistungen unterstützen. Dementsprechend bilden im Leistungsrecht die ambulanten Leistungen den Mittelpunkt. Sowohl bei ambulanter, professioneller als auch bei ambulanter, informeller und ambulanter, kombinierter Pflege ist eine Vielzahl an Leistungen vorgesehen. Auch die teilstationäre Pflege und die Kurzzeitpflege sind unterstützende Bestandteile der ambulanten Pflegeformen. Ist an dem Pflegearrangement eine informelle Pflegeperson beteiligt, kommen dieser ebenfalls Leistungen und Begünstigungen zu. Sie finden sich nicht ausschließlich in der Pflegeversicherung und in weiteren Sozialversicherungszweigen, sondern auch im Arbeitsrecht, Erbrecht und Steuerrecht. Demgegenüber steht bei vollstationärer Pflege mit § 43 SGB XI ein einziger Leistungsanspruch. Da es sich bei dem Vorrang ambulanter Pflege um einen allgemeinen Grundsatz für die Pflegeversicherung handelt, ist er auch für die Pflegeberatung und das Leistungserbringungsrecht von Bedeutung. Der Vorranggrundsatz hat trotz der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung in zahlreichen Reformen nicht an Bedeutung verloren. Das Zweite Pflegestärkungsgesetz, dessen wesentliche Teile zum 01. 01. 2017 in Kraft treten werden, führt zwar für die Pflegeversicherung durch die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zu grundlegenden Veränderungen, nicht aber im Hinblick auf den Vorranggrundsatz.

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5. Teil: Zusammenfassung

Obwohl der Vorranggrundsatz durchgängig als Leitgedanke das SGB XI durchzieht, sind seine tatsächlichen Auswirkungen und seine Grenzen kritisch zu betrachten. Bereits die vorhandenen statistischen Erhebungen zeigen, dass die Einführung des Vorranggrundsatzes nicht zu der gewünschten Veränderung im Inanspruchnahmeverhalten zugunsten der ambulanten Pflege geführt hat. Jeder Pflegebedürftige scheint seine Pflegeform trotz des Vorrangs ambulanter Pflege frei wählen zu können. Dass dem Pflegebedürftigen tatsächlich die Wahl zwischen den Pflegeformen möglich ist, wird durch die weitgehend unverbindliche gesetzliche Ausgestaltung des Vorranggrundsatzes bedingt. Als Programmsatz in § 3 SGB XI gibt er der Pflegeversicherung einen Auftrag, erlangt jedoch keine Verbindlichkeit für die Pflegebedürftigen. Auch in den Normen des Leistungsrechts findet sich keine verbindliche Ausgestaltung des Vorranggrundsatzes. In § 41 Abs. 1 S. 1 Hs. 2, § 42 Abs. 1 S. 1 und § 43 Abs. 1 SGB XI wird zwar die Nachrangigkeit der (teil)stationären Leistungen erwähnt, ohne jedoch die freie Inanspruchnahme dieser Leistungen durch den Pflegebedürftigen wesentlich zu beeinträchtigen. Der Pflegebedürftige kann die teilstationäre Pflege nach freier Wahl beanspruchen, da sie in besonderem Maße der Unterstützung und Ergänzung der häuslichen Pflege dient. Ebenso wenig führt die Regelung der Kurzzeitpflege zu einem Nachrang der stationären Pflegeformen. Denn die Kurzzeitpflege ist allein ein zeitlich beschränkter, integraler Bestandteil des Leistungsspektrums ambulanter Pflege. Auch wenn die vollstationäre Pflege nicht erforderlich ist, kann sich der Pflegebedürftige dennoch vollstationär pflegen lassen. Er erhält dann allerdings gem. § 43 Abs. 4 SGB XI nicht den vollen Leistungsbetrag einer vollstationären Versorgung, sondern nur das Äquivalent einer ambulanten, professionellen Pflege. Wenn schon der Vorranggrundsatz nicht durch die rechtliche Ausgestaltung wirkungsvoll umgesetzt wird, könnten Anreize im Leistungsrecht zur Verwirklichung seiner Intention beitragen. Die Vielfalt des Leistungsangebots bei ambulanter Pflege bewirkt jedoch nicht, dass diese Pflegeform dadurch für die Pflegebedürftigen die attraktiveren Anreize bietet. Vielmehr lassen sich im Leistungsrecht Vor- und Nachteile für alle Pflegeformen finden. Vorteile der ambulanten, informellen Pflege sind die Möglichkeit des Verbleibs im bekannten Umfeld, die Betreuung durch vertraute Personen und in der Regel niedrige Eigenkosten. Nachteile sind die geringe Qualitätssicherung und die Erforderlichkeit einer zur Pflege bereiten Person, für die bei hoher Belastung geringe Anreize vorgesehen sind. Vorteile der ambulanten, professionellen Pflege sind ebenfalls die Möglichkeit des Verbleibs im vertrauten Umfeld, sowie die Betreuung durch ausgebildetes und kontrolliertes Personal. Nachteile sind die hohen Eigenkosten und der große Organisations- und Koordinationsaufwand. Die ambulante, kombinierte Pflege vereint die Vor- und Nachteile der informellen und professionellen, ambulanten Pflege. Bei der vollstationären Pflege liegt der Vorteil in der Konzeption als Vollversorgung durch ausgebildetes und kontrolliertes Personal. Dagegen sind Nachteile die Heimumgebung und ebenfalls hohe Eigenkosten.

5. Teil: Zusammenfassung

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Auch wenn die ambulante Pflege für die Pflegebedürftigen weder verbindlich vorrangig ist noch die eindeutig attraktivere Pflegeform darstellt, könnte die besondere Fokussierung auf die ambulante Pflege aufgrund der Kosteneffizienz sowie dem Normalisierungsprinzip auch heute noch gerechtfertigt sein. Die zahlreichen Einzelleistungen bei ambulanter Pflege haben jedoch bei einer umfänglichen Ausschöpfung zur Folge, dass die ambulante Pflege sogar kostenintensiver ist als die stationäre. Welche Pflegeform dem Pflegebedürftigen ein möglichst „normales“ Leben im Sinne einer selbstständigen, unabhängigen und sozial integrierten Lebensführung erlaubt, ist abhängig vom Einzelfall. Die pauschale Annahme, dass dies stets die ambulante Pflege sei, trifft nicht zu. Ein wichtiger Bestandteil eines möglichst „normalen“ Lebens stellt die Berücksichtigung der Wünsche des Pflegebedürftigen und damit seine Selbstbestimmung dar. Deshalb sind einem Vorranggrundsatz in der Pflegeversicherung bei abstrakter Betrachtung auch verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt. Ein Vorranggrundsatz in der Pflegeversicherung darf den Pflegebedürftigen nicht in seiner freien Wahl zwischen den Pflegeformen einschränken. Ansonsten würde er in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Pflegebedürftigen gem. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG eingreifen, was eine nur eventuelle und geringe Kosteneinsparung nicht rechtfertigen kann. Verfassungsrechtliche Grenzen ergeben sich aber auch im Hinblick auf die Pflegeperson, die durch einen Vorranggrundsatz nicht zu einer Pflege gegen ihren Willen verpflichtet werden kann. Andernfalls würde sie in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt. Zusätzlich läge ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 GG vor, da aufgrund der überwiegend informellen weiblichen Pflegetätigkeit eine mittelbare Ungleichbehandlung von Frauen stattfände. Aus den abstrakten verfassungsrechtlichen Grenzen, die für einen Vorranggrundsatz in der Pflegeversicherung bestehen, ergeben sich für die konkrete Ausgestaltung des Vorrangs ambulanter Pflege in der Pflegeversicherung keine weitreichenden Konsequenzen. Der Vorranggrundsatz bewirkt aufgrund seines weitgehend unverbindlichen Charakters weder einen Ausschluss der Wahlfreiheit des Pflegebedürftigen zwischen den Pflegeformen noch eine Verpflichtung der Pflegeperson zur Pflegeübernahme. Allein die Sanktion des § 43 Abs. 4 SGB XI führt zu einer Einschränkung der freien Wahl des Pflegebedürftigen und ist deshalb verfassungswidrig. Dies scheint auch der Gesetzgeber erkannt zu haben, da die Sanktionsvorschrift durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz zum 01. 01. 2017 wegfällt. Die verfassungsrechtlichen Grenzen erlangen auch Bedeutung für die Sozialhilfe. Bei einem Zusammenwirken von Pflegeversicherungsleistungen und Hilfe zur Pflege gem. §§ 61 ff. SGB XII muss sich der Vorrangrundsatz der Pflegeversicherung gegenüber dem strikteren Vorranggrundsatz der Sozialhilfe in § 13 SGB XII durchsetzen. Sonst würde der Pflegebedürftige ebenfalls in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt und es läge ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Es fände eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung zwischen Pflegebedürftigen mit ergänzendem Anspruch auf Leistungen der Hilfe zur Pflege und solchen ohne statt.

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5. Teil: Zusammenfassung

Auch wenn die Verfassung einer verbindlicheren Ausgestaltung des Vorranggrundsatzes im Wege steht, könnte er ungeachtet der möglichen, sogar höheren Ausgaben der Pflegeversicherung für die ambulante Pflege dennoch als Programmsatz fortbestehen. Die weitere Hervorhebung der ambulanten Pflege wäre nur dann sinnvoll, wenn auch in Zukunft ambulante Pflegeformen gut realisierbar wären. Dies erscheint angesichts der demographischen und gesellschaftlichen Veränderungen, wie der Verschiebung der Alterspyramide sowie der zunehmenden Berufstätigkeit und Gleichstellung von Frauen, fragwürdig. Künftig wird das informelle Pflegepotenzial abnehmen, während der Bedarf ansteigt. Aus den dargelegten Gründen handelt es sich bei dem Vorrang ambulanter Pflege weder um einen gut verankerten Grundsatz in der Pflegeversicherung, noch kann er angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen auch künftig dem Streben aller entsprechen. Deshalb wäre es nur konsequent, den Vorrang ambulanter Pflege aus der Pflegeversicherung gänzlich zu streichen. Einer Aufhebung des Vorranggrundsatzes steht nicht entgegen, dass auch andere Sozialrechtsgebiete, wie die Krankenversicherung oder die Sozialhilfe, einen allgemeinen Vorrang ambulanter Leistungen vorsehen. Diese Regelungen lassen sich nicht über den jeweiligen Sozialrechtsbereich hinaus zu einem generellen Vorranggrundsatz des Sozialrechts verallgemeinern. Vielmehr fußen sie auf den Besonderheiten des jeweiligen Sozialrechtsgebiets und finden hierin sowohl ihre Rechtfertigung als auch ihre Grenzen. Auch das Familienrecht sorgt nicht für eine Fortgeltung der Stufenfolge zwischen den Pflegeformen. Die Beistands- und Unterhaltspflicht zwischen Ehegatten gem. §§ 1353 Abs. 1 S. 2, 1360 BGB und zwischen Eltern und Kindern gem. §§ 1618a, 1601 ff., 1626 BGB verlangt die gegenseitige Mitwirkung an der Pflege. Die Mitwirkung muss aber nicht in der informellen, ambulanten Pflege bestehen, sondern kann auch andere Formen der Unterstützung annehmen. Die mögliche Aufhebung des Vorranggrundsatzes eröffnet Perspektiven, die über die reine Gleichstellung der Pflegeformen hinausgehen. Zum Beispiel wäre eine Neuausrichtung des Leistungsrechts dahingehend denkbar, dass sich die Leistungsgewährung in Form eines „einheitlichen Pflegebudgets“ nicht mehr an der Pflegeform, sondern an der Pflegestufe bzw. dem Pflegegrad orientiert. Mit einem „einheitlichen Pflegebudget“ könnte der Pflegebedürftige mit Hilfe eines CaseManagers seine Pflege individuell, flexibel und zukunftsorientiert auf viele Schultern verteilt gestalten. Ein solches Konzept liefe bei einer Beibehaltung des Vorranggrundsatzes seiner Intention zuwider. Eine Streichung des Vorranggrundsatzes würde eine Neubetrachtung der Pflege jenseits der Kategorien „ambulant“ und „stationär“ ermöglichen und damit einen wichtigen Beitrag zur Zukunftsgestaltung der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe „Pflege“ leisten.

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Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung: Soziales/Pflegeversicherung, Niedrigschwellige Betreuungsangebote mit Landesförderung flächendeckend ausgebaut vorhanden; http://www.ms.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_ id=5110&article_id=14158&_psmand=17. Statistisches Bundesamt: Pflegestatistik 2013 – Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung, Deutschlandergebnisse, Wiesbaden 2015; https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thema tisch/Gesundheit/Pflege/PflegeDeutschlandergebnisse5224001139004.pdf?__blob=publica tionFile. Statistisches Bundesamt: Statistik der Sozialhilfe – Hilfe zur Pflege 2012, Wiesbaden 2015; https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Soziales/Sozialhilfe/HilfezurPfle ge5221020127004.pdf?__blob=publicationFile. Statistisches Bundesamt: Alleinlebende in Deutschland – Ergebnisse des Mikrozensus 2011; https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressekonferenzen/2012/Alleinlebende/beg leitmaterial_PDF.pdf?__blob=publicationFile. Statistisches Bundesamt: Frauen und Männer auf dem Arbeitsmarkt, Deutschland und Europa, Wiesbaden 2012; https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Arbeitsmarkt/Er werbstaetige/BroeschuereFrauenMaennerArbeitsmarkt0010018129004.pdf?__blob=publica tionFile. Statistisches Bundesamt: Geburtentrends und Familiensituation in Deutschland 2012; https:// www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/HaushalteMikrozensus/Gebur tentrends5122203129004.pdf?__blob=publicationFile. Statistisches Bundesamt: Zahlen & Fakten/ Gesellschaft & Staat/ Bevölkerung/ Ehescheidungen/ Bevölkerung, Eheschließungen, Ehescheidungen, Deutschland, Anzahl; https:// www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Ehescheidungen/Tabel len_/lrbev06.html. Statistisches Bundesamt: Zahlen & Fakten/ Gesellschaft & Staat/ Bevölkerung/ Haushalte & Familien, Haushalte nach Haushaltsgröße im Zeitvergleich; https://www.destatis.de/DE/Zah lenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/HaushalteFamilien/Tabellen/Haushaltsgroesse. html. Vergütungsvereinbarung Baden-Württemberg: Gebührenpositionsnummernverzeichnis Pflegesachleistungen und Beratungsbesuche Baden-Württemberg, Gesamtübersicht der Leistungspakete, Vergütungsvereinbarung vom 01. 03. 2015; abrufbar unter http://www.aok-ge sundheitspartner.de/bw/pflege/datenaustausch/. Wirtschaft- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung: Gender-Datenportal Pflege: Frauen tragen die Hauptlast in der unbezahlten Pflege; http://www.boeckler. de/45066.htm. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung: Bispnick, Reinhard/Dribbusch, Heiner/Öz, Fikret/Stoll, Evelyn, Projekt Lohnspiegel, Arbeitspapier 07/2012, Einkommens- und Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen; http://www.boeckler.de/ pdf/ta_lohnspiegel_pflegeberufe_2012.pdf.

Sachwortverzeichnis Arbeitsrecht 44, 86 Ausgleichungsanspruch, erbrechtlicher 47, 92 Begutachtungsassessment, neues 61 Begutachtungs-Richtlinie 75 Behandlungspflege, medizinische 35, 40, 54, 63, 127, 136, 187 Behinderung 25, 134, 184, 186 Beistandspflicht – Ehegatten 175 – Eltern 181 – Kinder 178 Beratungsbesuch 79, 82 Betreuung, soziale 34, 54, 63, 107, 114 Betreuungs- und Entlastungsangebote, niedrigschwellige 36, 63, 86, 106, 114 Betreuungs- und Entlastungsleistungen, zusätzliche 36, 41, 106 Betreuungsbedarf, erhebliche allgemeine 33, 61 f., 83, 85, 107, 114 Budget, integriertes 186 Budget, persönliches 183 f. Budget, persönliches, trägerübergreifendes 184 Bundessozialhilfegesetz 27 Case-Management 186, 188, 189 Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen 132 Eigenkosten 96 – Betreuung, soziale 105 – Pflege, ambulante, informelle 110 – Pflege, ambulante, kombinierte 108 – Pflege, ambulante, professionelle 96, 99, 104 – Pflege, vollstationäre 97 Erbrecht 47, 92 Erstes Pflegestärkungsgesetz 60

Faktoren, soziokulturelle 157 Familienpflegezeit 46, 86, 157 – Darlehen 46, 87, 90, 111 Familienrecht 174 Finanzierbarkeit Pflegeversicherung 119 Frauen und Männer – Gleichberechtigung 156, 158 – Ungleichbehandlung 139

26,

Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit 161 Geldleistung 36 f., 39, 185 f. Gleichbehandlungsgebot, allgemeine 151 Gleichheitsgebot 139 Gleichheitssatz, allgemeiner 137 Grundpflege 33 f., 54, 77 Grundrechte Pflegebedürftiger 131, 141 Grundrechte Pflegeperson 137, 143 Handlungsfreiheit, allgemeine Härtefall 61, 96, 121, 124 Heimentgelt 102

137

Infrastruktur 58, 117, 166, 172 Investitionskosten 102 – 104, 119 Kinderbetreuung 88, 111, 158 Kindeswohl 182 Kombinationsleistung 53, 65, 108, 115 Kosten 119 – Betreuungs- und Entlastungsleistungen, zusätzliche 122 – Betreuungsbedarf, erheblicher allgemeiner 122 – Kurzzeitpflege 122 – Maßnahmen, wohnumfeldverbessernde 122 – Pflege, ambulante 121 – Pflege, ambulante, informelle 126 – Pflege, ambulante, professionelle 127

210

Sachwortverzeichnis

– Pflege, teilstationäre 122 – Pflege, vollstationäre 124 – Pflegegeld 121 – Pflegehilfsmittel 122 – Pflegeperson, soziale Sicherung 123 – Pflegesachleistung 121 – Pflegestufe 0 127 – Statistik 120 – Verhinderungspflege 123 – Wohngruppe, ambulant betreute 122 – Zweites Pflegestärkungsgesetz 128 Kosten für Unterkunft und Verpflegung 55, 97, 103 f., 147 Krankenversicherung 29, 161 – Entlassungsmanagement 164 – Fahrkosten 166 – Infrastruktur, ambulant 166 – Infrastruktur, stationär 166 – Krankenhausbehandlung 163 – Krankenpflege, häusliche 162 – Leistungserbringungsrecht 166 – Palliativversorgung 165 – Pflege, ambulante, informelle 162 – Präventionsleistungen 162 – Rehabilitation, medizinische 165 – Schwerpflegebedürftigkeit 29 – Soziotherapie 163 – Vorranggrundsatz 161, 167 – Wirtschaftlichkeitsgebot 167 Kurzzeitpflege 37, 41, 83, 85 – Erforderlichkeit 74 – Verbindlichkeit Nachrang 74, 141 Lebensgemeinschaft, eheliche 175 Leistungserbringungsrecht 58, 117, 166, 172 Leistungskonzepte, neue 183 Leistungsrecht 32 Leistungsvoraussetzungen 32 Maßnahmen, wohnumfeldverbessernde 36, 41, 63, 83 Medizinischer Dienst der Krankenkassen 61, 73 f., 81, 189 Menschenwürde 26, 132, 137 Mitarbeitspflicht Kinder 179 Modellprojekt 185 moral hazard 76

Naturalleistung 176, 181 Normalisierungsprinzip 24, 129, 169 Organisationsaufwand

83, 107, 109, 154

Personensorge 181 Persönlichkeitsrecht, allgemeines 133, 138, 151 Pflege, ambulante – Statistik 70 Pflege, ambulante, informelle 31, 60, 133, 155, 174 – Anreize 77, 110 – Eigenkosten 78 – Leistungen 39 – Leistungen Pflegeperson 42 – Qualitätssicherung 79, 82 Pflege, ambulante, kombinierte 53, 65 – Anreize 107, 115 Pflege, ambulante, professionelle 34, 63, 95, 133, 154 – Anreize 95, 113 – Eigenkosten 99 – Leistungen 34 – Qualitätssicherung 80, 82 Pflege, geschlossene 27 Pflege, offene 27 Pflege, Pflicht 50, 52, 174 – Ehegatten 175 – Eltern 180 – Kinder 179 Pflege, stationäre – Qualitätssicherung 80, 82 – Statistik 70 Pflege, teilstationäre 36, 41, 106, 185 – Erforderlichkeit 73 – Verbindlichkeit Nachrang 73, 141 Pflege, vollstationäre 54, 97 f., 133 – Erforderlichkeit 75 – Leistungen 54 – Verbindlichkeit Nachrang 75, 141 – Vergütungszuschlag 55, 65 – Vollversorgung 55, 65 Pflegearrangement 74, 109, 155, 187 Pflegebedürftigkeit 33, 61 Pflegebedürftigkeitsbegriff, neuer 61, 145 Pflegeberater 57 Pflegeberatung 56

Sachwortverzeichnis Pflegebudget 186 Pflegebudget, einheitliches 187 – Kosten 189 Pflegedienst, ambulanter 34, 63, 80, 98, 117, 120, 186 Pflegegeld 39, 48, 84, 108, 110 f., 121, 185 – Legitimation 121 Pflegegrad 1 65, 110 Pflegegrade 62 f. Pflegeheim 37, 54 f., 102, 117 f., 120 Pflegehilfsmittel 35, 41, 83, 185 Pflegekurs 43 f., 79, 124 Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz 59 Pflege-Neuausrichtungsgesetz 59 Pflegeperson, ausländische 77 Pflegeperson, informelle 42, 64, 78, 108, 155, 187 – Anreize 84 – Arbeitsförderung 43, 64, 89, 91, 112 – Arbeitsrecht 44 – Belastung 156 – Einkommenssteuer 50 – Erbrecht 47, 92 – Erbschafts- und Schenkungssteuer 52 – Frauen 139, 157 – Grundrechte 137, 143 – Krankenversicherung 89, 91 – Persönlichkeitsrecht, allgemeines 138 – Pflegeversicherung 89 – Rentenversicherung 43, 64, 88, 90 f., 109, 111 – Sozialversicherung 87 – Unfallversicherung 43, 64, 88, 112 – Zeitaufwand 85, 108, 156 Pflegequalität 79, 188 f. Pflege-Qualitätssicherungsgesetz 59 Pflegesachleistung 34, 63, 96, 105, 185 – Höhe 96 – Poolen 38, 106 Pflegesatzkommission 98, 103 Pflegestufe 0 33, 38, 41, 56, 82, 145 Pflegestufen 33 Pflegestützpunkt 57 Pflegeversicherung, soziale 22, 32 Pflege-Weiterentwicklungsgesetz 59 Pflegezeitgesetz 44, 59, 86, 157 – Akutpflege 44

211

– Darlehen 45, 87, 90 Programmsatz 24, 32, 72, 141, 147, 154 Qualitätsprüfung

81

Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen 24, 169 – Budget, persönliches 183 – Selbstbestimmung 170 – Vorranggrundsatz 169 – Wunschrecht 170 Rechtsbegriff, unbestimmter 28 Rechtsprinzip 23 Rechtsregel 23 Reformen 59 Rentenversicherung 43, 64, 88, 111 – Kindererziehungszeiten 88 Sachleistung 34, 185 f. Sanktionsregelung 75, 142 Selbstbestimmung 130, 132 f., 135, 138, 188, 190 Sicherung, soziale 42, 64 Soll-Vorschrift 28, 32, 72 Sorge, elterliche 181 Sozialgesetzbuch I 160 Sozialgesetzbuch IV 160 Sozialhilfe 22, 27, 144, 171 – Einsatz von Einkommen 172 – Gleichbehandlungsgebot, allgemeines 151 – Hilfe zur Pflege 144 – Hilfen in anderen Lebenslagen 171 – Leistungen zur Krankenbehandlung 171 – Leistungserbringungsrecht 172 – Persönlichkeitsrecht, allgemeine 151 – Pflege, ambulante, informelle 145, 149 – Pflege, ambulante, professionelle 146 – Pflege, vollstationäre 145 – Pflegebedürftigkeit 144 – Pflegegeld 145, 149 – Pflegesachleistung 146 – Pflegestufe 0 145 – Verhältnis Pflegeversicherung 146 – Vorranggrundsatz 129, 147 f., 171, 173 – Wunschrecht 149 Statistik 68, 120

212 Steuerrecht 50, 93 – Pflege-Pauschbetrag

Sachwortverzeichnis

51, 94

Unfallversicherung 43, 64, 168 – häusliche Krankenpflege 168 – Krankenhausbehandlung 168 – Pflegebedürftigkeit 168 – Pflegegeld 169 – Vorranggrundsatz 168 Unterhaltspflicht 52 – Ehegatten 175 – Eltern 181 – Verwandte 177, 180 Verbindlichkeit Vorranggrundsatz 72, 141, 154 Vereinsamungsgefahr 130 Verfassungsrecht 131 Vergütung – Leistungskomplexvergütung 98, 107 – Pflege, ambulante, professionelle 98 – Pflege, stationäre 102 – Zeitvergütung 98, 101 Vergütungsbeispiele – Pflege, ambulante 99, 101 – Pflege, vollstationäre 103 f. Vergütungszuschlag 55, 65, 83, 103, 124 Verhinderungspflege 40, 54, 83, 85 Versorgung, hauswirtschaftliche 33 f., 54, 77 Versorgungsformen, neue 189 Vorranggrundsatz 23, 30 Vorrangregelung 23 Wandel, demographischer 155 Wandel, gesellschaftlicher 155 Wirtschaftlichkeitsgebot 134, 119, 161, 167 Wohngruppe, ambulant betreute 37, 41

Wunsch Pflegebedürftige 78, 154 Wunschrecht 131, 142, 151, 160 Zielvereinbarung 188 f. Zweites Pflegestärkungsgesetz 60, 110 – Anreize 110 – Arbeitsförderung 112 – Beeinträchtigung bei der Haushaltsführung 61 – Begutachtungsassessment, neues 61 – Betreuungs- und Entlastungsleistungen, zusätzliche 63 – Eigenanteil, einrichtungseinheitlicher 114 – Eigenkosten 110, 113 – Kosten 128 – Kurzzeitpflege 63, 110 – Leistungsrecht 62 – Maßnahmen, wohnumfeldverbessernde 63 – Pflege, ambulante, informelle 64, 110 – Pflege, ambulante, kombinierte 65, 115 – Pflege, ambulante, professionelle 63, 113 – Pflege, teilstationäre 63 – Pflege, vollstationäre 65, 113 – Pflegebedürftigkeitsbegriff, neuer 61, 145 – Pflegegeld 64, 110 f. – Pflegehilfsmittel 63 – Pflegeperson, informelle 64, 115 – Pflegeperson Sozialversicherung 64, 111 – Pflegesachleistung 63, 113 – Rentenversicherung 64, 111, 115 – Sanktionsregelung 142 – Unfallversicherung 64, 112 – Verhinderungspflege 64, 110 – Vorranggrundsatz 66 – Wohngruppe, ambulant betreute 63