Grenzen des Sozialen. Kommunikation mit nicht-menschlichen Akteuren in der Vormoderne [1. ed.] 9783835352353, 9783835349070


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German Pages 254 [255] Year 2022

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Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Matthias Pohlig und Barbara Schlieben: Das vormoderne Soziale neu denken: Ein Vorschlag
Gesa Lindemann: Die methodische Funktion der sozialen Unentschiedenheitsrelation für die Analyse der Grenzen des Sozialen
Florian Muhle: Adressabilität und Gesellschaft. Kommunikationstheoretische Überlegungen zur Bestimmung der Grenzen des Sozialen
Stefan Willer: Hirten. Bukolische Kommunikationen (mit Huftieren)
Nadir Weber: »Ho loo, Ho loo, Ho loololoo!« Interspezifische Kommunikation im Kontext der höfischen Jagd
Isabelle Schürch: Und sie kommunizieren doch! Eine Annäherung an das Problem spätmittelalterlicher Reiter, aufrecht auf dem Pferderücken zu bleiben
Matthias Pohlig: Mit Menschen kommunizieren. Gott als sozialer Akteur und die Grenzen der frühneuzeitlichen Gesellschaft
Anja Rathmann-Lutz: Von Drachen und Riesen –Körpergrenzen des Sozialen?
Bernd Roling: Schlafwandler und Werwölfe. Frühneuzeitliche Konfrontationen mit dem Menschen außer sich
Barbara Schlieben: Grenzen des Sozialen in »Causae et Curae« der Hildegard von Bingen
Ludolf Kuchenbuch: »Omnis creatura in homine est«. Was kommt mit der Entgrenzung des alteuropäischen Hominozentrismus mittels postmoderner Theorien des Sozialen?
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Grenzen des Sozialen. Kommunikation mit nicht-menschlichen Akteuren in der Vormoderne [1. ed.]
 9783835352353, 9783835349070

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Grenzen des Sozialen

Grenzen des Sozialen Kommunikation mit nicht-menschlichen Akteuren in der Vormoderne Herausgegeben von Matthias Pohlig und Barbara Schlieben

WALLSTEIN VERL AG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2022 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond und der Myriad Pro Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf unter Verwendung von: Jan Siberecht, Sankt Franziskus predigt zu den Tieren, 1666, via wikimedia commons, gemeinfrei. Lithografien: SchwabScantechnik, Göttingen ISBN (Print) 978-3-8353-5235-3 ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4907-0

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Matthias Pohlig und Barbara Schlieben Das vormoderne Soziale neu denken: Ein Vorschlag . . . . . . .

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Gesa Lindemann Die methodische Funktion der sozialen Unentschiedenheitsrelation für die Analyse der Grenzen des Sozialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Florian Muhle Adressabilität und Gesellschaft. Kommunikationstheoretische Überlegungen zur Bestimmung der Grenzen des Sozialen . . . . . . . . . . . . . . . 51 Stefan Willer Hirten. Bukolische Kommunikationen (mit Huftieren) . . . . . 73 Nadir Weber »Ho loo, Ho loo, Ho loololoo!« Interspezifische Kommunikation im Kontext der höfischen Jagd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Isabelle Schürch Und sie kommunizieren doch! Eine Annäherung an das Problem spätmittelalterlicher Reiter, aufrecht auf dem Pferderücken zu bleiben . . . . . . . . . . . . . 123 Matthias Pohlig Mit Menschen kommunizieren. Gott als sozialer Akteur und die Grenzen der frühneuzeitlichen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Anja Rathmann-Lutz Von Drachen und Riesen – Körpergrenzen des Sozialen? . . . . 169 Bernd Roling Schlafwandler und Werwölfe. Frühneuzeitliche Konfrontationen mit dem Menschen außer sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Barbara Schlieben Grenzen des Sozialen in »Causae et Curae« der Hildegard von Bingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Ludolf Kuchenbuch »Omnis creatura in homine est«. Was kommt mit der Entgrenzung des alteuropäischen Hominozentrismus mittels postmoderner Theorien des Sozialen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Vorwort Derzeit scheinen die Grenzen des Sozialen zu verschwimmen – und zwar an mehreren Fronten gleichzeitig: mit Blick auf Tiere ebenso wie auf künstliche Intelligenz. Diese vermeintliche, wahrgenommene oder auch bestrittene Fluidität sozialer Grenzen provoziert momentan allerorten Debatten darüber, wer oder was als Akteur gelten darf bzw. mit wem oder was soziale Beziehungen eingegangen werden können. Die Frage, was unsere Alltagserfahrungen sowie die derzeit in mehreren Disziplinen geführten Debatten für die Vormoderne-Forschung bedeuten, treibt uns schon eine ganze Weile um. Im Sommer 2021 haben wir zu diesem Problem eine Vorlesungsreihe veranstaltet, die über Zoom an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand; die Beiträge sind in diesem Band vereint. Leider konnten nicht alle Referent:innen eine Druckfassung ihres Beitrags beisteuern. Auch dies ist ein Grund dafür, warum bestimmte wichtige Dimensionen – etwa die außerchristliche Perspektive genauso wie der Blick auf die materielle Kultur – unterrepräsentiert sind. Dazugewinnen konnten wir für diesen Band indes einen Beitrag von Anja Rathmann-Lutz über soziale Beziehungen zu Drachen und anderen Mischwesen, der unsere Überlegungen um eine zentrale bildgeschichtliche Perspektive bereichert. Wir sind uns bewusst, dass unsere Überlegungen einen durchaus radikalen Perspektivwechsel bedeuten. Umso herzlicher sei allen Vortragenden und Diskutanten dafür gedankt, sich auf unsere Gedankenexperimente und unsere Fragen eingelassen zu haben. Das gemeinsame Mit- und Nachdenken, die Anregungen und die Kritik haben unsere Überlegungen maßgeblich geschärft. Wir danken dem Wallstein Verlag für die Möglichkeit, unsere Überlegungen zu publizieren, und Jan Philipp Bothe für die unkomplizierte Betreuung des Bandes. Außerdem danken wir Marcel Müllerburg, Tobias Graf und Philipp Winterhager, die das Problem der Grenzen des Sozialen vielfach mit uns diskutiert haben. Nicht zuletzt gebührt unser Dank Magdalena Baader, Julian Koch, Marie Pommer und Marna Schneider für die Unterstützung bei der Redaktion der Beiträge. Berlin, im Juli 2022 Matthias Pohlig und Barbara Schlieben

Matthias Pohlig und Barbara Schlieben

Das vormoderne Soziale neu denken: Ein Vorschlag I. Unser Leben sieht seit 2020 anders aus als zuvor. Das Corona-Virus hat uns in drastischer Weise nicht nur die Probleme einer global vernetzten Welt vor Augen geführt, sondern auch unser soziales Miteinander im Alltag wiederholt verändert: Man denke an Lockdowns und »social distancing« oder die Möglichkeiten und Grenzen sozialen Miteinanders im Digitalen, zum Beispiel in Schulen und Universitäten. Soziale Unterschiede (etwa Armut und Wohlstand) haben Konsequenzen dafür, wie stark man von der Pandemie und ihren, zum Beispiel, ökonomischen Effekten betroffen ist und wie man mit ihr umgeht. Nicht nur die Folgen der Pandemie, sondern bereits das Virus selbst (das  – je nach Version  – auf einem Wildtiermarkt in Wuhan oder in einem Labor entstanden ist) führt vor Augen, dass die klassische Gegenüberstellung von Natur und Kultur beziehungsweise von Natur und Sozialem in diesem Fall nicht weit führt. Man könnte sogar behaupten: Angesichts der Vielzahl von Bezügen zwischen den Menschen und dem Virus, dem Virus und den Menschen ist das CoronaVirus ein sozialer Akteur. Der Umstand, dass diese Behauptung für unser Alltagsverständnis weder ganz plausibel noch ganz unplausibel klingt, legt nahe, dass sich hier ein Problem verbirgt. Diesem Problem, wer oder was unter welchen Umständen als Akteur gelten kann, widmet sich der vorliegende Sammelband. Auch andere Erfahrungen legen derzeit nahe, dass die Grenzen zwischen sozialen Akteuren (Menschen) und deren nicht-menschlicher Umwelt in der Gegenwart zunehmend zu verwischen scheinen. Erinnert uns nicht unser Smartphone an Termine und zu absolvierende Schritte, informiert uns über das Handeln Anderer und ist damit permanentes und integrales Element unseres sozialen Lebens, das ohne dieses ganz anders aussähe? Und warum sollte man den unbekannten Menschen auf der anderen Seite der Erde als sozialen Akteur behandeln, nicht aber den geliebten Hund, der im eigenen Haus wohnt? Wie ist die Abstimmung über die Frage, ob Primaten Grundrechte erhalten sollen, einzuordnen, die im Februar 2022 im Kanton Basel stattfand? Die Befürworter führten die Intelligenz, das

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verhalten, die Emotionen sowie die prinzipielle Ähnlichkeit dieser Tiere mit Menschen an. Ebendiese bestritten die Gegner, die befürchteten, dass so die Grenze zwischen Mensch und Tier aufgegeben würde. Und überhaupt: Wo wären künftig Trennlinien zu ziehen? Schließlich seien auch Delphine intelligent. Das Vorhaben scheiterte mit 75 % Gegenstimmen, doch sind die Diskussionen damit nicht aus der Welt.1 Die Beispiele deuten darauf hin, dass die Grenze zwischen sozialen Akteuren (Menschen) und ihrer nicht-sozialen Umwelt weniger klar ist, als wir es anzunehmen gewohnt sind. Vor dem Hintergrund dieser Eindrücke erscheint die klassische Moderne, in der ausschließlich lebende Menschen als soziale Akteure gelten, zunehmend als Sonderfall, nicht als der Normalfall, der für alle Gesellschaften und epochenübergreifend vorausgesetzt werden darf.2 Vielleicht ist die typisch moderne, anthropozentrische Akteursdefinition auch an ihre Grenzen und an ihr Ende gelangt; die »große Trennung« zwischen Natur und Kultur beziehungsweise zwischen Natur und dem Sozialen scheint jedenfalls rapide an Plausibilität zu verlieren.3 Für Vormoderne-Forscher:innen sind die Erfahrungen der Gegenwart nicht so abseitig oder bizarr, wie sie auf den ersten Blick scheinen mögen. Denn in der Vormoderne führte man Prozesse gegen Tiere

1 Vgl. Sarah Jäggi: Was ist gut für diese Affen?, in: Die Zeit 6 /2022, URL : https://www.zeit.de/2022 /06/tierschutz-affen-basel-artensterben-initiative (letzter Zugriff: 18. 3. 2022); Katja Schiementz / Tobias Bossard: Abstimmung in Basel: wohl keine Grundrechte für Affen, URL : https://www.swr.de/ swraktuell/baden-wuerttemberg/suedbaden/basel-primateninitiative-grundrechte-fuer-affen-100.html (letzter Zugriff: 18. 3. 2022). 2 Vgl. Gesa Lindemann: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Weilerswist 2009; dies.: Gesellschaftliche Grenzregime und soziale Differenzierung, in: Zeitschrift für Soziologie 38, 2009, S. 94-112; dies.: Die Kontingenz der Grenzen des Sozialen und die Notwendigkeit eines triadischen Kommunikationsbegriffs, in: Berliner Journal für Soziologie 22, 2012, S. 317-340; dies.: Weltzugänge. Die mehrdimensionale Ordnung des Sozialen, Weilerswist 2014; Philippe Descola: Jenseits von Natur und Kultur. Mit einem Nachwort von Michael Kauppert, Berlin 2013; ders.: Die Ökologie der Anderen. Die Anthropologie und die Frage der Natur, Berlin 2014; Thomas Luckmann: Über die Grenzen der Sozialwelt, in: ders., Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, Paderborn u. a. 1980, S. 5692. 3 Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008.

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und Gegenstände,4 sprach mit Geistern und Wiedergängern,5 mit ­Hexen, Gott und dem Teufel. Es wurde diskutiert, ob Pflanzen eine Seele besitzen,6 und Werkzeugen und Bildwerken schrieb man Kommunikationsfähigkeit zu.7 Umgekehrt stellte sich im Hinblick auf ­Juden und Muslime, indigene Bevölkerungen und Sklaven, Bauern und Diener immer wieder die Frage, inwieweit Kommunikation mit ihnen, und nicht nur über sie, möglich sei.8 Es dürfte daher aufschlussreich sein, das Problem sozialer Akteursschaft und der Grenzen des Sozialen zu historisieren. Die Disziplinen der Vormoderne sind hier in besonderer Weise angesprochen, zumal auf die Jahrhunderte vor 1800 häufig als Kontrastfolie zur Moderne verwiesen wird.9 Thomas Luckmanns Diktum, dass »es weder empirische noch theoretische Gründe dafür gibt, in der Gleichsetzung von Sozialem mit Menschlichem das Normale schlechthin zu sehen«, und 4 Vgl. Wolfgang Sellert: Art. Tierprozesse (-strafen), in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München 2003, S. 784 f.; Peter Dinzelbacher: Das fremde Mittelalter. Gottesurteil und Tierprozess, Essen 2006; Eva Schumann: ›Tiere sind keine Sachen‹. Zur Personifizierung von Tieren im mittelalterlichen Recht, in: Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2008-2009. Graduiertenkolleg Interdisziplinäre Umweltgeschichte, hg. von Bernd Herrmann, Göttingen 2009, S. 181-207. 5 Vgl. Bruce Gordon: Malevolent Ghosts and Minstering Angels. Apparitions and Pastoral Care in the Swiss Reformation, in: The Place of the Dead. Death and Remembrance in Late Medieval and Early Modern Europe, hg. von dems. und Peter Marshall, Cambridge 2000, S. 87-109; Miriam Rieger: Der Teufel im Pfarrhaus. Gespenster, Geisterglaube und Besessenheit im Luthertum der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2011; Mireille Othenin-Girard: ›Helfer‹ und ›Gespenster‹. Die Toten und der Tauschhandel mit den Lebenden, in: Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400-1600, hg. von Bernhard Jussen und Craig Koslofsky, Göttingen 1999, S. 159-191. 6 Vgl. Fritz Krafft / Wolfgang U. Eckart: Art. Pflanzenseele, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Darmstadt 1989, S. 402-405; Hans W. Ingensiep: Geschichte der Pflanzenseele. Philosophische und biologische Entwürfe von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 2001. 7 Vgl. Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010. 8 Vgl. Rudolf Stichweh: Fremdheit in der Weltgesellschaft. Indifferenz und Minimalsympathie, in: ders., Der Fremde. Studien zur Soziologie und Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 2010, S. 162-176; Markus Krajewski: Der Diener. Mediengeschichte einer Figur zwischen König und Klient, Frankfurt a. M. 2010; kon­trovers: Orlando Patterson: Slavery and Social Death. A Comparative Study, Cambridge (MA )/London 1982. 9 Vgl. Peter Fuchs: Die archaische Second-Order Society. Paralipomena zur Konstruktion der Grenze der Gesellschaft, in: Soziale Systeme 1 /2, 1996, S. 113-130; Lindemann: Gesellschaftliche Grenzregime (Anm. 2); Luckmann: Grenzen der Sozialwelt (Anm. 2).

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seine These einer historischen Entwicklung, die im Zulaufen auf die Moderne auch einen Prozess der »Ent-Sozialisierung der Welt« sieht, dient uns als Ausgangspunkt.10 Weil für die Vormoderne viel weniger klar zu sein scheint, wo und wie die Grenzen des Sozialen verlaufen, kann gerade die Vormoderne-Forschung überraschende, bislang übersehene Bezüge zwischen unserer Gegenwart und einer langen und vielfältigen Vergangenheit aufzeigen und so einen wichtigen Beitrag zur konzeptionellen Erneuerung der Sozialgeschichte leisten. Was meinen wir aber eigentlich, wenn wir ›sozial‹ sagen und wenn wir Menschen, aber auch andere Dinge oder Wesen, als ›Akteure‹ oder ›soziale Akteure‹ bezeichnen? Wo liegen die Grenzen des Sozialen, und wie werden sie bestimmt? Sind sie, wie die Gegenwartserfahrungen nahelegen, veränder- oder verschiebbar? Um diese Fragen zu beantworten, ist die Differenz zwischen den Eingangsbeispielen instruktiv: Das Corona-Virus mag ein ›sozialer Akteur‹ sein, insofern es auf vielen Ebenen ›soziales‹ Leben formt und beeinflusst. Aber eins ist das Corona-Virus nicht: Es ist kein kommunikatives Gegenüber. Mit ihm wird nicht kommuniziert. Mit Affen dagegen oder einem Smartphone, so scheint es, kommunizieren wir. Die Grenzen des Sozialen können also historisch und kulturell variieren und jeweils unterschiedlich gezogen werden, wie Gesa Lindemann in ihrem Beitrag für diesen Band betont. Aber – und hier kommt eine andere soziologische Position in den Blick, die in diesem Band Florian Muhle vertritt – man kann die Grenzen des Sozialen und auch die Zuschreibung sozialer Akteursschaft unterschiedlich begründen. In diesem Band, und dies wird im Folgenden zu erklären sein, wird mit Muhle die These vertreten, dass sich soziale Akteursschaft in hohem Maße als kommunikatives Phänomen verstehen lässt. Wer ein Gegenüber adressiert und Anschlusskommunikation erwartet, macht dieses Gegenüber zu einem sozialen Akteur. Um das Anliegen des Bandes zu verdeutlichen, soll die Einleitung die zentralen Begriffe des Akteurs, der Kommunikation und des Sozialen klären (II ) und die skizzierte Leitidee des Bandes für die Vormoderne vertiefen (III ). Abschließend werden die Beiträge des Bandes vorgestellt (IV ).

10 Vgl. ebd., S. 68 und 73.

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II. Die Konzeption des Bandes beruht auf einer Reihe von Vorentscheidungen, die es im Folgenden zu entfalten gilt. Dies sind vor allem die Begriffe des Sozialen, des Akteurs und der Kommunikation. Was ›das Soziale‹ ist, ist nicht leicht zu bestimmen und selbst in den Sozialwissenschaften umstritten;11 möglicherweise entzieht es sich einer befriedigenden Theoretisierung.12 Die Begriffsgeschichte bietet zunächst nur den Aufschluss, dass unser moderner Begriff des Sozialen als »symbolic representation of collective human existence«13 erst in der Aufklärung konturiert wurde. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Vormoderne nicht einen Begriff des Sozialen besaß, sondern eine Vielzahl von sprachlichen Ausdrücken nutzte, um Zusammenleben, Gemeinschaftlichkeit, Geselligkeit und Gesellschaft zu bezeichnen. In der Forschung zur Vormoderne lag der Fokus seit den 1980er Jahren auf Selbstbeschreibungen und Deutungsschemata des ›sozialen Ganzen‹;14 daran schlossen sich Untersuchungen zur Binnengliederung des Sozialen an.15 Gegenüber älteren Studien betont die aktuelle Forschung die Vielfalt der Praxis anstelle der theoretisch vermeintlich eindeutigen Beschreibungen16 und nimmt zunehmend konkrete Rela11 Vgl. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007. 12 Vgl. Michael E. Brown: The Concept of the Social in Uniting the Humanities and Social Sciences, Philadelphia 2014. 13 Keith Michael Baker: Enlightenment and the Institution of Society. Notes for a Conceptual History, in: Main Trends in Cultural History, hg. von Willem Melching und Wyger Velema, Amsterdam 1994, S. 95-120; hier S. 96; vgl. Yair Mintzker: »A Word Newly Introduced into Language«. The Appearance and Spread of »Social« in French Enlightened Thought, 1745-1765, in: History of European Ideas 34, 2008, S. 500-513; Jean Terrier: Art. Social, The: History of the Concept, in: International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, Bd. 22, 2. Aufl., Amsterdam 2015, S. 827-832. 14 Vgl. Otto Gerhard Oexle: Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im Mittelalter, in: Die Wirklichkeit und das Wissen. Mittelalterforschung – Historische Kulturwissenschaft – Geschichte und Theorie der historischen Erkenntnis, hg. von Andrea von Hülsen-Esch, Bernhard Jussen und Frank Rexroth, Göttingen 2011, S. 340-401. 15 Vgl. Jürgen Miethke / Klaus Schreiner (Hg.): Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, Sigmaringen 1994; Marian Füssel / Thomas Weller (Hg.): Soziale Ungleichheit und ständische Gesellschaft. Theorien und Debatten in der Frühneuzeitforschung, Frankfurt a. M. 2011. 16 Vgl. Ludolf Kuchenbuch: Das Huhn und der Feudalismus, in: ders., Reflexive Mediävistik. Textus. Opus. Feudalismus, Frankfurt a. M. 2012 [zuerst 2003], S. 479-484; ders.: Mehr-Werk mittels Zwangsmobilität. Das

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tionen oder Beziehungsgefüge in den Blick. Hieran können wir unmittelbar anschließen: Wir gehen davon aus, dass das Soziale in der Vormoderne zwar nicht (oder kaum) auf den einen Begriff gebracht wurde. Es wurde aber in den Jahren von 500 bis 1800 durch Vorstellungen und Praktiken, im Reden und Tun auf höchst unterschiedliche Weise konstituiert. Man kann die Vielfalt kaum überbetonen. Indem wir nicht-menschliche Akteure in den Mittelpunkt des Bandes stellen, drehen wir die in der Forschung etablierte Fragerichtung um: Nicht die Binnendifferenzierungen des Sozialen (Klasse, Gender, Ethnizität, Religion oder Alter) stehen im Fokus, sondern die zeitgenössischen Differenzierungen des Sozialen gegen ein ›Außen‹. Als Akteur wird in den Sozialwissenschaften üblicherweise »die ausführende Einheit einer sozialen Handlung« verstanden und vorausgesetzt, dass es sich hierbei um individuelle, lebende Menschen oder aber um Menschenkollektive handelt.17 Doch diese Definition ist, wie angedeutet, in jüngerer Zeit zunehmend in die Defensive geraten. Technische Entwicklungen (Computer, Roboter, Künstliche Intelligenz), ökologische Katastrophen und die Anthropozän-Diagnose legen die Frage nahe, ob die Begrenzung des Akteursstatus auf Menschen nicht zu eng ist.18 Die Kriterien, die man klassischerweise allein tar der Abtei Prüm von 893 über ihre Domäne Rhein-Gönheim, in: Historische Anthropologie 24, 2016, S. 165-194; ders.: Servitus im mittelalterlichen Okzident. Formen und Trends (7.-13. Jahrhundert), in: Penser la Paysannerie Médiévale, un Défi impossible? Recueil d’études offerts à Jean-Pierre Devroey, hg. von Alain Dierkens u. a., Paris 2017, S. 235-274; Christian Hoffarth / Benjamin Scheller (Hg.): Ambiguität und die Ordnungen des Sozialen im Mittelalter, Berlin 2018; Andreas Pietsch / Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.): Konfessionelle Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2013. 17 Patrick Sachweh: Art. Akteur, in: Lexikon Soziologie und Sozialtheorie. Hundert Grundbegriffe, hg. von Sina Farzin und Stefan Jordan, Stuttgart 2015, S. 25-27; hier S. 25. 18 Vgl. Bruno Latour: Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klima­ regime, Berlin 2017; ders.: Das terrestrische Manifest, Berlin 2018; Donna J. Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M. u. a. 1995; dies.: Das Manifest für Gefährten. Wenn Spezies sich begegnen. Hunde, Menschen und signifikante Andersartigkeit, Berlin 2016; Karen Barad: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham (NC ) 2007; aus historischer Perspektive: Helen Green: Pandemic Disease in the Medieval World. Rethinking the Black Death, Kalamazoo (MI ) 2015; Martin Bauch / Gerrit Jasper Schenk (Hg.): The Crisis of the 14th Century. ›Teleconnections‹ between Environmental and Societal Change?, Berlin 2019; Juliane Schiel / Isabelle Schürch / Aline Steinbrecher: Von Sklaven, Pferden und Hunden. Trialog über den Nutzen aktueller Agency-Debatten für die Sozialgeschichte, in:

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Menschen attestiert (etwa Bewusstsein, Intentionalität, Bedeutungszuschreibung, Sprachfähigkeit, Rationalität), werden zunehmend entweder auch anderen Akteuren zugeschrieben, wie es die angesprochenen Befürworter für Grundrechte von Primaten tun, oder diese Kriterien werden für die Akteursfähigkeit von Menschen und NichtMenschen generell kritisiert. So oder so wird damit die Exklusivposition des Menschen als Akteur mehr und mehr infrage gestellt. Dementsprechend werden in den Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften aktuell die gängigen Vorstellungen davon, wer oder was ein sozialer Akteur ist, problematisiert. Biolog:innen und Etholog:innen attestieren Pflanzen und Tieren Kommunikations-, Reflexions- und Entscheidungskompetenzen, die bislang dem Menschen vorbehalten waren;19 technische Entwicklungen lassen Künstliche Intelligenz auf (über-)menschlichem Niveau und damit die Kommunikation von Menschen mit diesen nicht-menschlichen Akteuren immer realis­ tischer erscheinen,20 und auch die zunehmende Interaktion mit Robotern provoziert die Frage, wer warum als sozialer Akteur gelten kann.21 Unter schillernden Begriffen wie »Trans- und Posthumanismus«, »Gaia-These« und »Ecocentrism«22 wird in den Geistes- und Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 32, 2017, S. 17-48; Ludolf Kuchenbuch: Bruno Latours Anthropozän und die Historie. Feststellungen, Anknüpfungen, Fragen, in: Historische Anthropologie 26, 2018, S. 379-401. 19 Vgl. Amir Fahim: Schwein und Zeit. Tiere, Politik, Revolte, Hamburg 2018; Florianne Koechlin / Denise Battaglia: Was Erbsen hören und wofür Kühe um die Wette laufen. Verblüffendes aus der Pflanzen- und Tierwelt, Basel 2018; Eva Meijer: Die Sprachen der Tiere, Berlin 2018; Stefano Mancuso / Alessandra Viola: Die Intelligenz der Pflanzen, München 2015; Eduardo Kohn: How Forests Think. Toward an Anthropology Beyond the Human, 5. Aufl., Berkeley u. a. 2013. 20 Vgl. Max Tegmark: Life 3.0. Being Human in the Age of Artificial Intelligence, London 2017; Nick Bostrom: Superintelligenz. Szenarien einer kommenden Revolution, Berlin. 2014. 21 Vgl. Werner Rammert / Ingo Schulz-Schaeffer (Hg.): Können Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch und Technik, Frankfurt a. M. u. a. 2002; Florian Muhle:»Are you human?« Plädoyer für eine kommunikationstheoretische Fundierung interpretativer Forschung an den Grenzen des Sozialen, in: FQS 17 /1, 2016, URL : http://nbn-resolving. de/urn:nbn:de:0114-fqs1601183 (letzter Zugriff: 31. 3. 2022); ders.: Sozialität von und mit Robotern? Drei soziologische Antworten und eine kommunikationstheoretische Alternative, in: Zeitschrift für Soziologie 47, 2018, S. 147163; Gunther Teubner: Rights of Non-Human? Electronic Agents and Animals as New Actors in Politics and Law, in: Journal of Law and Society 33, 2006, S. 497-521. 22 Vgl. James E. Lovelock: Gaia. Die Erde ist ein Lebewesen. Anatomie und

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Sozialwissenschaften allerorten über die Ausweitung unserer Vorstellung von »Akteuren« und des »Sozialen« nachgedacht.23 Eine Extremposition ist in jüngerer Zeit öfter formuliert worden: Ein sozialer Akteur sei »jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht«24 – bis hin zur automatischen Tür oder der Fernbedienung.25 Akteure, so Vertreter:innen dieses Spektrums von Ansätzen, bilden füreinander Möglichkeiten, Ermöglichungen, Einschränkungen und Grenzen des eigenen Handelns, sodass die Organismen, die Werkzeuge, die Artefakte, die Gottheiten, die Geister, die technischen Verfahren nicht mehr einfach als ein Umfeld aufgefasst werden, als Ressourcen, als mehr oder weniger illusorische Vorstellungen, als einschränkende Faktoren oder als Arbeitsmittel, sondern wirklich als Akteure, die in gegebenen Situationen mit den Menschen interagieren […].26 Schon aus arbeitspraktischen Gründen betrachten wir in diesem Band aber nicht »jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert«, als Akteur. Denn dies würde bedeuten, eine histoire totale vormoderner Menschen und ihrer Umwelten zu schreiben. Zugleich unterschlüge man so Differenzierungen, die die Akteure selbst vornehmen.27 Die Annahme, jeder und alles sei Akteur, ist letztlich ebenso wenig weiterführend wie die strikte Begrenzung des Akteursstatus auf den Men-

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Physiologie des Organismus Erde, München 1996; Gabriele Dürbeck / Urte Stobbe: Ecocriticism. Eine Einführung, Köln 2015. Z. B. Andréa Belliger / David Krieger: ANT hology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006; Latour: Akteur-Netzwerk-Theorie (Anm. 11); Caroline Arni: Nach der Kultur. Anthropologische Potentiale für eine rekursive Geschichtsschreibung, in: Historische Anthropologie 26, 2018, S. 200-223. Latour: Akteur-Netzwerk-Theorie (Anm. 11), S. 123. Vgl. Jim Johnson: Mixing Humans and Nonhumans Together. The Sociology of a Door-Closer, in: Social Problems 35, 1988, S. 298-310. Zur Rezeption der Akteur-Netzwerk-Theorie in der Geschichtswissenschaft siehe: Marian Füssel / Tim Neu (Hg.): Akteur-Netzwerk-Theorie und Geschichtswissenschaft, Paderborn 2021. Descola: Jenseits von Natur (Anm. 2), S. 114; vgl. dazu auch: Haraway: Neuerfindung der Natur (Anm. 18); Barad: Meeting the Universe (Anm. 18); Vinciane Despret: From Secret Agents to Interagency, in: History and Theory 52, 2013, S. 29-44. Vgl. Reiner Keller / Christoph Lau: Bruno Latour und die Grenzen der Gesellschaft, in: Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, hg. von Georg Kneer, Markus Schroer und Erhard Schüttpelz, Berlin 2008, S. 306-338, v. a. S. 326.

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schen. Beide Positionen veranschlagen die historische Vielfalt und den Wandel zu gering. Wir setzen die Unterscheidung daher nicht voraus, sondern erheben sie zum Untersuchungsgegenstand. Hierfür greifen wir eine systemtheoretische Denkfigur auf und reformulieren sie historisch spezifischer für die Vormoderne: Als Akteure sollen diejenigen Entitäten verstanden werden, zwischen denen Kommunikation möglich ist. Man kann Nicht-Soziales zum Thema machen, man kann darüber kommunizieren, aber nicht mit ihm. In diesem Sinne sind soziale Akteure »adressabel«, das heißt: Man kann sie ansprechen, und von ihnen ist Anschlusskommunikation zu erwarten. Jeder Gläubige etwa kommuniziert mit Gott sowie Gott mit ihm. Die Umwelt mag dies anders sehen oder zumindest als eine ›andere‹ Art von Kommunikation auffassen. Aber ist dies ein Grund, Kommunikation mit solchen Entitäten für unmöglich zu halten? So hat man beispielsweise, wenn man sich mit einer Kommunikation (im Gebet etwa) an Gott wendet und eine Antwort ausbleibt, die Möglichkeit, dieses Ausbleiben als Schweigen, das heißt als (vorläufige) Kommunikation der Nicht-Kommunikation zu betrachten, oder aber man kommt zu dem Schluss, dass es da keine Entität gibt, die durch Kommunikation adressiert werden kann.28 Kommunikation lässt sich kaum objektivieren. Sie liegt stets im Auge des Betrachters, desjenigen, der kommuniziert; sie ist kontextabhängig. Die Fokussierung des Sozialen auf Kommunikation ist nicht nur sozialtheoretisch plausibel, sondern entspricht auch einer Tendenz der jüngeren Vormoderne-Forschung. Hier besteht weitgehend Konsens darüber, dass der Kommunikation eine entscheidende Rolle bei der Konstituierung des Sozialen zufällt.29 Bereits das mittellateinische »communicare« bedeutet nicht nur »mitteilen«, sondern eben auch »teilnehmen lassen«, »gemeinsam machen«, »zu einem Ganzen vereinigen« und 28 Vgl. zum Problem: Niklas Luhmann: Läßt unsere Gesellschaft Kommunikation mit Gott zu?, in: ders., Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, 3. Aufl., Wiesbaden 2005, S. 241249; Stefan Berg: Beten mit Luhmann. Zu einer systemtheoretischen Deutung des christlichen Gebets, in: Hermeneutische Blätter 20 /2, 2014, S. 206-222. 29 Vgl. Marko Mostert: A Bibliography of Works on Medieval Communication, Turnhout 2013; Albrecht Classen: Communication, in: Handbook of Medieval Studies. Terms. Methods. Trends, hg. von dems., Berlin u. a. 2010, S. 330-342; Volker Depkat: Kommunikationsgeschichte zwischen Mediengeschichte und der Geschichte sozialer Kommunikation. Versuch einer konzeptionellen Klärung, in: Medien der Kommunikation im Mittelalter, hg. von Karl-Heinz-Spieß, Stuttgart 2003, S. 9-48; Rudolf Schlögl: Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, Konstanz 2014.

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stellt also eine enge Verknüpfung zwischen dem Akt der Mitteilung und demjenigen der Gemeinschaftsbildung her. Deshalb interessiert uns, mit wem oder was Menschen in der Vormoderne kommunizierten, damit ein Verhältnis eingingen und Sozialität herstellten, und wie diese Kommunikation gestaltet, eingehegt, erweitert und verändert wurde. Der Band schlägt aber gegenüber der aktuellen sozialgeschicht­ lichen Forschung eine weitere Perspektive vor, indem er diejenigen Beziehungen, die üblicherweise in diesem Zusammenhang nicht diskutiert werden, in den Mittelpunkt rückt: Beziehungen zu Pflanzen, Tieren, Göttern und Gegenständen. Wir versuchen also, die zeitgenössischen Praktiken ernster zu nehmen, als dies oft geschieht, und tragen damit dem Umstand Rechnung, dass das Soziale kaum abstrakt definiert werden kann und jedenfalls nicht losgelöst von denjenigen untersucht werden kann, die soziale Beziehungen eingehen, sie praktizieren und definieren. Mit diesem Vorgehen folgen wir der Einladung von Soziolog:innen, die seit einiger Zeit darauf hinweisen, dass unser gängiger Begriff des Sozialen zu eng, zu eingeschränkt ist, und dass die Engführung sozialer Akteursschaft auf Menschen ein Phänomen der Moderne sei, während sie für die Vormoderne nicht gelte. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts seien Tiere, Pflanzen und Götter aus dem Bereich des Sozialen ausgegrenzt worden, die vorher, also in der Vormoderne, ganz selbstverständlich zum Sozialen dazugehörten.30 Die Fokussierung der Kommunikation führt uns wiederum dazu, das Soziale relational zu denken: Erst ein Gegenüber macht einen Akteur zum sozialen Akteur. In der Vormoderne kommunizierten Menschen mit Pflanzen und Tieren, mit Werkzeugen und Bildwerken, mit Geistern und Göttern. Sie machten sie in diesem Sinne zu Adressaten und damit zu ihrem sozialen Gegenüber, zu Akteuren. Die Kommunikation selbst legt fest, wer ein Akteur ist, ja: Sie stellt den Akteursstatus eigentlich erst her. So ist zum Beispiel in Forschungen zum menschlichen Umgang mit Online-Avataren herausgearbeitet worden, dass erst Kommunikation adressierbare Personen erzeugt  – ihr Menschsein ist dafür unerheblich, oder, wie es Florian Muhle formuliert: Soziale Akteursfähigkeit entspringt […] nicht aus subjektiven Deutungen, sondern durch die Verkettung kommunikativer Ereignisse, in denen soziale Erwartungsstrukturen und damit auch Personen 30 Vgl. z. B. in Gesa Lindemanns Beitrag in diesem Band sowie, aus einer anderen Theorieperspektive Fuchs: Second-Order Society (Anm. 9).

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als Zurechnungspunkte für Kommunikation erzeugt und ausgearbeitet werden, die dann als handelnde (mitteilende) Personen erscheinen.31 Akteursstatus entsteht dadurch, dass Menschen mit einem Gegenüber kommunizieren, es adressieren und so zum Akteur machen. In diesem Sinne werden Geister, an die Forderungen gestellt werden und von denen Anschlusskommunikationen erwartet werden, zu Akteuren. Wie diese Erwartung in Bezug auf verschiedene Akteure historisch spezifisch formuliert wurde, wäre zu prüfen und zeiten- und räumeübergreifend zu vergleichen. Die Antworten auf die Frage, mit wem oder was man kommunizieren kann, sind offenbar nicht nur historisch wandelbar, sie konnten auch an einem Ort, zu einer Zeit divergieren. Ziel unseres Bandes ist es, für diese Pluralität zu sensibilisieren.

III. Die lange Geschichte der Kommunikation zwischen Menschen und Nicht-Menschen verdient es, ernst genommen zu werden: Sie ist nicht abseitig und abwegig, ihre Analyse stellt vielmehr einen Weg dar, um über das vormoderne Soziale auf neue Weise nachzudenken. Die Frage nach dem Sozialen und nach der Kommunikation mit nicht-menschlichen Akteuren schließt an aktuelle, interdisziplinär geführte Debatten über die Frage an, wer oder was (soziale) Akteure sind. Überdies führt sie etablierte Forschungsrichtungen auch der Vormoderne-Forschung (von den »Human-Animal Studies« über die Forschung zu Geistern bis hin zur »Material Culture«) zusammen. Zudem wird sie von vielen Zeugnissen der Vormoderne nahegelegt. Lässt man sich auf die skizzierte Problemstellung ein und begibt sich auf die Suche nach Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen, wird man überrascht sein, wie häufig man sie zuvor übersehen hat. Das Umschlagbild des Bandes zeigt Franziskus von Assisi (1181 /821226), der Tieren predigt – hier in der Version Jan Sieberichts aus dem Jahr 1666. Stellt man sich für den Moment einen Ausschnitt der Abbildung mit Franziskus, aber ohne Vögel, Schafe und Pferde vor  – sie ließe sich nicht entschlüsseln. Gesten wie Blickachsen verliefen ins 31 Muhle: »Are you human?« (Anm. 21). Zum Problem der Adressabilität siehe auch Peter Fuchs: Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie, in: Soziale Systeme 3, 1997, S. 57-79.

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Leere. Umgekehrt gilt das Gleiche: Auch die Darstellung der Tiere wäre ohne Franziskus nur rudimentär zu deuten (dort, wo Kommunikation zwischen Esel und Reh stattzufinden scheint). Die allermeisten Beziehungen verlören jedoch auch in diesem Fall ihren Fluchtpunkt. Offensichtlich ist die Kommunikation, also das Zwischen von Mensch und Tier, das ihre Beziehung herstellt, das Entscheidende und die eigentliche Botschaft der Darstellung. Das Motiv, das sich bereits in einer frühen Lebensbeschreibung des Franziskus findet, ist in Mittelalter wie Früher Neuzeit vielfach dargestellt worden.32 Berichtet wird davon, dass Franziskus Tiere, die er als Brüder und Schwestern ansprach, verstand und dass auch sie ihn verstanden, »wie Menschen«, ergänzte ein Verfasser gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Auch von Gesprächen mit der Sonne, mit Feuer und Metallen wissen die Viten. Häufig als Merkwürdigkeit und als ahistorisch belächelt, erschien die dargestellte Kommunikation offensichtlich manch einem Zeitgenossen plausibel oder wahrscheinlich. Uns interessieren daher die Fragen, ob und wie Verfasser und Maler zwischen diversen Tieren und Dingen differenzierten, wie genau Akte der Folgekommunikation gesichert wurden, wie situativ oder regelmäßig solche Kommunikationsakte stattfanden, durch welche stilistischen, diskursiven oder gestischen Mittel die Gespräche gerahmt wurden und wie Zeitgenossen oder spätere Kommentatoren darüber dachten. Franziskus war nicht der Erste und auch nicht der Letzte, von dem es heißt, er habe mit Nicht-Menschen kommuniziert. Beispiele lassen sich bezeichnenderweise von der Spätantike bis ins 18.  Jahrhundert (und damit für den Untersuchungszeitraum, der uns interessiert) anführen, danach büßt das Reden mit Nicht-Menschen selbst für Heilige an Plausibilität ein.33 Das in diesem Sammelband verfolgte Problem schließt, wie erwähnt, an aktuelle Debatten der Soziologie und der Vormoderne-Forschung an. Dennoch sind wir uns des Umstandes bewusst, dass wir Leser:innen mit unserem Anliegen einiges zumuten. Die Zumutungen betreffen die übergeordnete Fragestellung mindestens ebenso sehr wie die Zusammenstellung der Beiträge und das Untersuchungsdesign, das 32 Zum Folgenden s. Helmut Feld: Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994, S. 215-234 (die Belege zu den genannten Quellen ebd., S. 218, 220 und 222); Volker Leppin: Franziskus von Assisi, Darmstadt 2018, S. 172-186; André Vauchez: Franziskus von Assisi. Geschichte und Erinnerung, Münster 2019, S. 325-337. 33 Vgl. die nach wie vor instruktive Zusammenschau von Joseph Bernhart: Heilige und Tiere, München 1937.

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wir damit vorschlagen möchten. Anders als Vertreter:innen der »Human-Animal Studies« oder des »Material Turn« fokussieren wir nicht nur Beziehungen zwischen Menschen und einer Gattung von NichtMenschen. Im interdisziplinären Dialog diskutieren wir die Pluralität der Kommunikationen zwischen Menschen und Nicht-Menschen, deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Denn die Zusammenschau höchst unterschiedlicher Adressaten kann in unseren Augen mehr leisten als die Summe ihrer Teile. Bereits für die Begriffsschärfung ist einiges gewonnen, wenn Forschungsdebatten, die ähnliche Fragen (zum Beispiel Akteursschaft) problematisieren, bislang jedoch weitgehend unverbunden nebeneinanderstehen, zusammengeführt werden. Vor allem aber tun sich in der Perspektive der Kommunikation, die wir in diesem Band verfolgen, überraschende Parallelen und Differenzen auf: Ein Smartphone ist kein Menschenaffe und die von Nadir Weber in diesem Band untersuchten Falken sind keine Schlafwandler, mit denen sich Bernd Roling beschäftigt. Doch liegen die Unterschiede, wie die Autor:innen in ihren Beiträgen zeigen, weniger in der prinzipiellen Adressierbarkeit als in der spezifischen Art und Weise, wie adressiert wird. Der Vergleich soll dabei helfen, die Spezifika vielfältiger Grenzen des Sozialen zu präzisieren. Um die Vielfalt dieser Beziehungen zu entfalten, stehen die Fragen, worüber und vor allem wie unter jeweils welchen historisch spezifischen Bedingungen mit Nicht-Menschen kommuniziert wurde, im Mittelpunkt unseres Bandes. Durch welche Mittel wurde diese Kommunikation konstituiert? Welchen historischen Veränderungen unterlag sie? Auf welche Weise wurde sie erweitert oder eingehegt? Die Komplexität, aber auch die spezifischen Hürden dieser Kommunikation in vergleichender Perspektive zu erarbeiten, ist das Ziel des Bandes. Die leitende Arbeitshypothese lautet, dass die Grenzen der Kommunikation mit nicht-menschlichen Akteuren in der Vormoderne in hohem Maße praxis-, diskurs- und genreabhängig gezogen wurden; wer oder was adressierbar erschien, wurde häufig und lange Zeit situativ geregelt. Wir fragen deshalb auch danach, welche Ereignisse, Konflikte oder Irritationsmomente diese Kommunikation begünstigten oder erschwerten. Kommunikation mit nicht-menschlichen Akteuren, dies sei sofort zugestanden, funktioniert anders als mit Menschen. Doch raubt diese Andersartigkeit ihr nicht die Möglichkeit, Sozialität herzustellen. Denn vormoderne Kommunikation und Sozialität sind auch dort, wo sie ›nur‹ die Beziehungen zwischen Menschen betreffen, nie unhierarchisch oder unproblematisch, sondern in den allermeisten Fällen asymmetrisch. Wenn wir für die Bestimmung des Sozialen auf Kommunikation und

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Adressabilität setzen, schließt dies problematische, agonale und konfliktive Beziehungen in keiner Weise aus. Ob sich Kommunikation zwischen Menschen und Nicht-Menschen eher reziprok oder einseitig gestaltet, eher hierarchisch oder egalitär funktioniert, muss die Arbeit am je spezifischen Material erweisen. Dem Band liegt kein statischer Kriterienkatalog des Sozialen und seiner Akteure zu Grunde; unser Augenmerk liegt vielmehr auf dem Vollzug sozialer Beziehungen. Dabei erscheint es uns von zentraler Bedeutung zu berücksichtigen, wie diese Kommunikation vonstattenging. Denn die Kommunikation mit nichtmenschlichen Akteuren funktionierte möglicherweise anders als mit Menschen. Doch raubt diese Andersartigkeit ihr nicht die Plausibilität, Soziales herzustellen. Um das Wie der Kommunikation vergleichend zu untersuchen, könnte man nach den Medien der Kommunikation fragen, nach Rahmungen, Anlässen, Adressaten. Und man kann komplementär dazu Metakommunikationen untersuchen  – also danach fragen, wie vormoderne Gesellschaften über das Kommunizieren mit nichtmenschlichen Akteuren nachgedacht und gesprochen haben. Metakommunikationen in diesem Sinne dürfen nicht als Vorgabe für die Praxis oder als ihr Korrektiv verstanden werden, sondern sie erscheinen als eine weitere Stimme, die das Phänomen noch vielfältiger macht. Das Anliegen des Bandes ist es, auf neue, experimentelle und explorative Weise nach dem vormodernen Sozialen zu fragen und damit zu einer neuen Sozialgeschichte der Vormoderne beizutragen, welche die Kommunikation mit nicht-menschlichen Akteuren systematisch einbezieht. Der Band widmet sich diesen Fragen in interdisziplinärer Perspektive; die Autor:innen sind Historiker:innen, Soziolog:innen und Literaturwissenschaftler:innen, die das Interesse an theoretischen und konzeptionellen Fragen genauso eint wie ein Interesse daran, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der ›Moderne‹, der ›Vormoderne‹ und unserer möglicherweise nicht mehr modernen, nach- oder postmodernen Gegenwart zu diskutieren. Die Aufgabe der Vormoderne-Forschung kann sich natürlich nicht in der Dekonstruktion einer auf die Moderne zustrebenden Meistererzählung erschöpfen. Die historische Forschung zur Vormoderne kann aber empirische Untersuchungen beisteuern, die die Vermutungen der Soziologie bestätigen oder falsifizieren, im besten Falle differenzieren. Die Historisierung des Problems soll einen Weg eröffnen, um die Komplexität des Phänomens, das uns derzeit unmittelbar angeht, auf neue Weise aufzufächern. Die longue durée, die wir mit unserem Vorhaben in den Blick nehmen, wird von den untersuchten Gegenständen selbst diktiert: Denn

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die Gespräche zwischen Menschen, Tieren, Steinen und Fabelwesen versiegen nicht abrupt um 1500, sondern sie bedienen sich vielmehr weiterhin ähnlicher Praktiken, Semantiken und Bilder, sodass zumindest auf den ersten Blick die klassische Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit keine bedeutende Zäsur für unsere Fragestellung darzustellen scheint. Damit ist nicht einer Homogenisierung der Vormoderne das Wort geredet. Unser Anliegen ist es vielmehr, die Pluralität und Komplexität der Phänomene für einen langen Zeitraum sichtbar zu machen. Doch liegen die Einschnitte dieser wenig linear verlaufenden Geschichte vermutlich andernorts als dort, wo man sie traditionellerweise sucht. Mutmaßlich wurde in der Vormoderne anderen und mehr Akteuren Kommunikationsfähigkeit zugeschrieben als in der Moderne. Damit wurden die Grenzen zwischen dem Sozialem und Nicht-Sozialem anders gezogen. Doch wie dies genau geschah, darüber wissen wir sehr wenig. Das Ziel des Bandes ist es deshalb, die häufig rein schematisch genutzte Kontrastfolie Vormoderne empirisch dichter zu profilieren – auch, um so die systematische Komplexität des Problems neu auszuleuchten.

IV. Den Auftakt der in diesem Band versammelten Beiträge machen mit Gesa Lindemann und Florian Muhle zwei Soziolog:innen, die in den vergangenen Jahren die Grenzen des Sozialen prominent diskutiert, Anthropozentrismen problematisiert und für deren Zeitgebundenheit sensibilisiert haben. Innerhalb dieser Diskussion stehen sie indes für zwei unterschiedliche Richtungen. In der Zusammenschau bieten sie deshalb für die folgende Diskussion vormoderner Beispiele eine gute Grundlage: Lindemanns Perspektive auf Akteure ist normativ geprägt. Akteure müssen für ihr Tun moralisch verantwortlich gemacht werden können. Um zwischen Akteuren und Nicht-Akteuren zu unterscheiden, sei die Analyse von Krisen im Handlungsablauf entscheidend, denn hier lasse sich besonders gut das historisch wandelbare Wie sozialer Grenzziehungen erkennen. Dabei seien in der Vormoderne andere Unterscheidungen zwischen Akteuren und Nicht-Akteuren als in der Moderne in Rechnung zu stellen. Prinzipiell und grundsätzlich jedoch leisteten Problematisierungen und Dramatisierungen sozialer Grenzen stets auch einen Beitrag zu deren Stabilisierung.

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Muhle definiert die Grenzen des Sozialen als Grenzen der Kommunikation. Kommunikation führe zur Anerkennung des Gegenübers als sozialer Akteur, sie verleihe eine soziale ›Adresse‹. Wie Lindemann erkennt auch Muhle in Krisen- oder Katastrophenzeiten Wendepunkte von ›Adressenordnungen‹, die er jedoch gestufter als Lindemann veranschlagt: Insgesamt führt ihn seine kommunikationstheoretische Perspektive dazu, soziale Akteursschaft situativ und fluide zu konzipieren. So könne ein Baum, ein Tier oder ein Ding in einer spezifischen Situation und in einer bestimmten Rolle adressiert werden, diese Rollen- und Adressenzuschreibung jedoch auch wieder verlieren. Ein Vorteil der kommunikationstheoretischen Analyseperspektive besteht darin, auf festgeschriebene Attribute des Akteursstatus verzichten und ergebnisoffen und historisch vergleichend Grenzen des Sozialen untersuchen zu können. Stefan Willer, Nadir Weber und Isabelle Schürch diskutieren sozia­le Beziehungen zwischen Menschen und Tieren: Willer analysiert die Darstellung von Nähebeziehungen zwischen Hirten und ihren Tieren in der bukolischen Literatur von Theokrit bis ins 18. Jahrhundert, Weber untersucht Beziehungen zu Hunden und Falken in der höfischen Jagd der französischen Frühen Neuzeit, und Isabelle Schürch zeigt, wie in einem spätmittelalterlichen Reitmanual die soziale Beziehung zwischen Reiter und Pferd konstituiert wird. Stefan Willer skizziert das Spektrum der Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen, das die bukolische Literatur vor allem in der Antike und der Frühen Neuzeit aufspannt. Während die Forschung sich bisher weitgehend auf die Kommunikation zwischen Hirten konzentriert hat, zeigt Willer die Vielfältigkeit der kommunikativen Beziehungen auch zwischen Hirten und ihren Tieren, die poetisch vermittelt adressiert werden. In der frühneuzeitlichen Bukolik verbindet sich die Adressierung von Tieren mit einer symbolischen Überblendung von Hirten und Schafen als christlichen Allegorien. Im 18. Jahrhundert, so zeigt Willer exemplarisch an Herder, gerät die Bukoliktradition einerseits in die Kritik, wird aber anderseits zum Ausgangspunkt des Nachdenkens über die tierischen Ursprünge der menschlichen Sprache. In Anlehnung an Rudolf Schlögl34 zeichnet Nadir Weber Residenzen französischer Könige der Frühen Neuzeit als Kommunikationsund Sozialräume, in denen Tiere wie selbstverständlich eine wichtige Rolle spielten. Konkret untersucht er sodann Jagd- und Falknereitrak34 Vgl. Schlögl: Anwesende (Anm. 29).

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tate, um Praktiken interspezifischer Kommunikation zu beleuchten. Er arbeitet den enormen zeitlichen und pekuniären Aufwand heraus, der bei der Erziehung und Abrichtung der wertvollen Tiere betrieben wurde, und zeigt den hohen Stellenwert auf, der der Kommunikation hierbei zufiel. Zugleich macht er aber auch auf die Flüchtigkeit der Beziehungen zwischen Mensch und Tier aufmerksam, die sich nach dem konkreten Ereignis einer Jagd auflösten beziehungsweise immer wieder neu hergestellt werden mussten. Am Beispiel des »Livro da ensinança de bem cavalgar toda sella« aus der Feder des portugiesischen Königs Eduard I. (1391-1438) zeigt ­Isabelle Schürch, wie Pferde nicht an sich und grundsätzlich, sondern in körperbasierten, durch Routinen stabilisierten Kommunikationsakten zu sozialen Akteuren werden konnten. Wichtig ist ihr Hinweis auf Binnendifferenzierungen von Pferden, denen je spezifische Eigenschaften zugeschrieben wurden, sowie die Ermöglichung von Kommunikation durch Equipment wie Sattel oder Zaumzeug, die sie als Medien der Kommunikation deutet. Die Autor:innen nehmen nicht nur diverse tierische Adressaten, sondern auch unterschiedliche Praktiken beziehungsweise Beziehungstypen (Freundschaft, Reiten, Jagd) in den Blick. Trotz aller notwendigen Differenzierung erkennen sie eine Reihe überraschender Parallelen in der Art und Weise, wie Kommunikation zwischen Mensch und Tier ermöglicht und gerahmt wurde. So lassen sich in allen Fällen Anthropomorphisierungen – oder wie Ludolf Kuchenbuch sagt: »Hominisierungen«35 (also Vermenschlichungen)  – des tierischen Gegenübers erkennen, die die Kommunikationsakte rahmen. Interessanterweise erkennt auch Matthias Pohlig solche Anthropomorphisierungen als konstituierend für die kommunikative und soziale Beziehung zu Gott an, den er gleichwohl als Sonderfall nichtmenschlicher Akteursschaft diskutiert. Er untersucht Gebet und Offenbarung als Kommunikationsakte im frühneuzeitlichen luthe­ rischen Protestantismus und zeigt deren asymmetrische und ritua­ lisierte Ausprägung auf, die zugleich einer spezifischen temporalen Struktur unterlagen. Die Beiträge von Anja Rathmann-Lutz und Bernd Roling zu Fabelbeziehungsweise Zwitterwesen diskutieren die Durchlässigkeit bezie35 S. den Beitrag von Ludolf Kuchenbuch in diesem Band; vgl. außerdem ders.: Zwischen Lupe und Fernblick. Berichtspunkte und Anfragen zur Mediävistik als historischer Anthropologie, in: ders., Reflexive Mediävistik. Textus – Opus  – Feudalismus, Frankfurt a. M./New York 2012, S. 537-567; hier S. 366 f.; ders.: Bruno Latour (Anm. 18), S. 393.

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hungsweise die Körperlichkeit von Grenzen des Sozialen. RathmannLutz untersucht, wie Drachen und Riesen in spätmittelalterlichen Darstellungen kurzfristig dann Grenzen des Sozialen übertreten können, wenn sie adressiert werden; für den Moment werden sie so zu Akteuren der menschlichen Sozialität. Bernd Roling arbeitet die Schwierigkeiten heraus, die Mediziner, Juristen und Theologen in den Jahren von 1550 bis 1650 in der Kommunikation mit Werwölfen und Schlafwandlern ausmachten. Dabei entpuppt sich die Frage als grundlegend, wie allumfassend sich die Transformation gestaltete; Roling kann zeigen, dass Kommunikation mit Schlafwandlern und Werwölfen nur dann als möglich erachtet wurde, wenn ihre Seele bei der Verwandlung unangetastet blieb. Komplementär zu den übrigen Beiträgen nimmt der Aufsatz von Barbara Schlieben nicht einen Adressaten oder einen Beziehungstyp in den Blick, sondern mit den medizinischen Werken der Hildegard von Bingen (1098-1179) zwei Schriften, in denen sich zeitgenössisch und zeitgleich mehrere Beziehungen von Menschen zu diversen NichtMenschen beobachten lassen. Sie zeigt, wie Hildegard die engen Beziehungen zwischen Menschen, Pflanzen und Tieren theologisch wie medizinisch rahmt, und macht zugleich drei Beziehungstypen (Strafbeziehungen, Heil- und Pflegebeziehungen sowie Sexualbeziehungen) aus, die Hildegard unabhängig von den angesprochenen Adressaten unterschiedlich bewertet. Ein Resümee, in dem Ludolf Kuchenbuch diskutiert, wie die in diesem Band verfolgte Fragestellung weitergeführt werden kann, worauf künftig zu achten wäre und wo Potenziale, aber auch methodische Stolpersteine liegen, schließt den Band ab.

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Die methodische Funktion der sozialen Unentschiedenheitsrelation für die Analyse der Grenzen des Sozialen Es gehört zu den Regeln guter wissenschaftlicher Forschung, die praktischen und/oder theoretisch-konzeptuellen Bedingungen anzugeben, die die Forschung anleiten und deshalb auch das Ergebnis bestimmen. Für experimentelle Forschung steht dabei im Vordergrund, die praktischen Bedingungen zu nennen, unter denen das Experiment durchgeführt worden ist. Nur dann ist es möglich, das Experiment zu replizieren und das Ergebnis zu bestätigen oder zu widerlegen. Darüber hinaus müssen die grundlegenden Annahmen expliziert werden, die die Selektion der Daten und die Messungen angeleitet haben.1 Für die Geschichtswissenschaft und die Soziologie stellt sich das Problem in einer etwas anderen Weise. Hier geht es darum, die Annahmen explizit zu machen, die die Forschung angeleitet haben. In beiden Disziplinen wird zum Beispiel mit der Annahme gearbeitet, dass es handelnde menschliche Akteure gibt, deren Beiträge zum geschichtlichen beziehungsweise sozialen Geschehen es zu untersuchen gelte. Diese Annahme ist so selbstverständlich, dass sie kaum explizit infrage gestellt wird. Damit kommen wir zu einem spezifischen Problem historischer und soziologischer Forschung: dem Humanzentrismus. Dieses ergibt sich daraus, dass die Forschung selbst Teil der modernen Gesellschaft ist, in der sie betrieben wird. Diese Einsicht ist immer wieder geltend gemacht worden. Sie führt zu der Forderung, zum Beispiel die soziale Position der Forschenden zu berücksichtigen, denn der soziale Status sei von Bedeutung dafür, welche Fragen in der Forschung gestellt und welche Konzepte verwendet werden. Sozialer Status in diesem Sinne umfasst das Geschlecht, die Klassenzugehörigkeit sowie die Position im internationalen Gefüge. Ob Forscher:innen Männer, Frauen, Europäer, Chinesen oder Schwarze sind, ob sie aus einer unteren oder höheren Klasse stammen, hätte einen Einfluss auf die Forschung.2 1 Vgl. Imre Lakatos: The Methodology of Scientific Research Programmes, in: ders., Philosophical Papers, Bd. 1, Cambridge u. a. 1978. 2 Vgl. Sandra Harding: Introduction. Standpoint Theory as a Site of Political,

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­ ierre Bourdieu geht noch einen Schritt weiter, wenn er den handP lungsentlasteten wissenschaftlichen Weltzugang selbst bereits als eine spezifische Perspektive auf die Welt identifiziert, die bestimmt, welche Fragen und Konzepte verwendet werden. Er bezeichnet dies als den »Ethnozentrismus« der Gelehrten, den eine Forschung reflektieren müsse, die den Anspruch erhebt, wissenschaftlich zu sein.3 Obwohl die genannten Ansätze eine Reflexion auf die Bedingungen und die Durchführung der Forschung fordern, gehen sie nicht so weit, auch den Anthropozentrismus der Forschung infrage zu stellen. Vielmehr gilt es als ausgemacht, dass nur lebende Menschen zu den verantwortlich handelnden Akteuren gerechnet werden. Pflanzen, Tiere oder gar solche Wesen, die nicht im messbar ausgedehnten Raum an einem Ort existieren wie Geister oder Götter, gelten von vornherein nicht als wirkmächtige beziehungsweise handlungsfähige und verantwortliche Akteure. Um den Anthropozentrismus zu überwinden, muss man den Kreis möglicher Akteure kontingent setzen. Dazu muss der Anthropozentrismus reflexiv auf Distanz gebracht werden. Dies ist der Ansatz der reflexiven Anthropologie. Dieser zufolge muss auch der Sachverhalt, dass nur Menschen als individuell handelnde Akteure gelten, als ein gesellschaftlich gebundener Sachverhalt begriffen werden. Einer reflexiven Anthropologie gilt es als ein Merkmal der modernen Gesellschaft, dass nur lebende Menschen einen vollen moralischen Status haben können, der es ermöglicht, sie als wirkmächtige und (moralisch) verantwortliche Akteure anzusprechen.4 Es gibt durchaus Forschungsansätze, die auch nicht-menschliche Akteure einbeziehen, aber das Problem der moralischen Ansprechbarkeit wird zumeist ausgeklammert. Die aktuell besonders populäre Akteur-Netzwerk-Theorie behandelt zum Beispiel auch nicht-menschliche Entitäten als beteiligte Akteure.5 Aber in der Analyse wird nicht unterschieden zwischen einer Beteiligung im Sinne einer einfachen Philosophic, and Scientific Debate, in: The Feminist Standpoint Theory Reader. Intellectual and Political Controversies, hg. von ders., New York / London 2004, S. 1-15. 3 Vgl. Pierre Bourdieu: Homo Academicus, Frankfurt a. M. 1988; ders.: Narzißtische Reflexivität und wissenschaftliche Reflexivität, in: Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, hg. von Eberhard Berg und Martin Fuchs, Frankfurt a. M. 1993, S. 365-374. 4 Vgl. Gesa Lindemann: Strukturnotwendige Kritik. Theorie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Weilerswist 2018. 5 Vgl. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2010.

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Wirkung oder einer Beteiligung im Sinne einer Handlung, für die ein Akteur verantwortlich gemacht werden kann. Worauf es ankommt, können wir uns an einem einfachen Beispiel vergegenwärtigen. Wer eine Suppe löffelt, braucht die Beteiligung unterschiedlicher Akteure beziehungsweise Aktanten: Hände, Mund, Tisch, Teller und Löffel sind notwendig, um eine Suppe zu löffeln. Auch Teller und Löffel müssen ihre Funktion erfüllen, sonst kann die Suppe nicht gelöffelt werden. Wenn das Akteursnetzwerk aus Tisch, Teller, Löffel usw. durch den Ausfall eines Aktanten, etwa des Löffels, auseinanderfällt, wird es schwer, weiter eine Suppe zu löffeln. Wenn der Löffel zerbricht, muss das Akteursnetzwerk neu figuriert werden. Es wäre etwa möglich, die Suppe direkt aus dem Teller zu trinken. Auch wenn wir dem Löffel eine Rolle als wirksamer Aktant zuschreiben, müssen wir es als ein empirisches Phänomen festhalten, dass gegenwärtig – in Deutschland – ein Löffel nicht dafür verantwortlich gemacht würde, wenn er seinen Dienst nicht tut. Wenn hingegen ein Mensch sich weigert, Nahrung aufzunehmen, könnte er dafür verantwortlich gemacht werden, seinen eigenen Tod herbeiführen zu wollen. Eine solche Differenzierung zwischen Aktanten, die wirksam beteiligt sind, und solchen, die moralisch verantwortlich gemacht werden, wäre im Rahmen der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours nicht möglich. Dennoch scheint es für das Verständnis sozialer Prozesse unabdingbar zu sein, den Aspekt der Normativität und damit die Möglichkeit, Akteure moralisch verantwortlich zu machen, einzubeziehen. Aus diesem Grund benötigen wir theoretisch-methodische Konzepte, die es ermöglichen, den Kreis möglicher Akteure über den Kreis der Menschen hinaus zu erweitern, ohne dabei die Möglichkeit moralischer Verantwortlichkeit aufzugeben. Eine Möglichkeit, dies zu tun, besteht darin, von der sozialen Unentschiedenheitsrelation auszugehen.6 Mit der sozialen Unentschiedenheitsrelation stellen wir eine zweifache Unentschiedenheit an den Anfang der Forschung. Erstens soll es unentschieden sein, welche Entitäten in den Kreis der personalen Ak6 Für eine genauere Diskussion dessen, wie sich dieser Ansatz etwa zur AkteurNetzwerk-Theorie, anderen techniksoziologischen Ansätzen (Werner Rammert: Technik – Handeln – Wissen. Zu einer pragmatistischen Technik- und Sozialtheorie, Wiesbaden 2007) sowie zur Analyse der Grenzen der Sozialwelt von Luckmann (Thomas Luckmann: Über die Grenzen der Sozialwelt, in: ders., Lebenswelt und Gesellschaft, Paderborn u. a. 1980, S. 56-92) und zu Descolas Anthropologie (Philippe Descola: Jenseits von Natur und Kultur, Frankfurt a. M. 2013) verhält, vgl. Gesa Lindemann: Weltzugänge. Die mehrdimensionale Ordnung des Sozialen, Weilerswist 2014.

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teure zu rechnen sind (Kontingenz der Mitwelt), zweitens wird es als unentschieden betrachtet, wie die Beteiligten als normativ relevante Akteure gelten: als Individuen oder als Glieder von Gruppen, die mit anderen Gruppen in Beziehung stehen. Hier geht es um die Unentschiedenheit zwischen Individualisierung und Dividualisierung. Wir wollen zunächst die soziale Unentschiedenheitsrelation skizzieren (I ) und ihre methodische Funktion präzisieren (II ). In einem dritten Schritt werden wir Gewalt als denjenigen Vergesellschaftungsmodus identifizieren, der eine stabile Fixierung der sozialen Unentschiedenheitsrelation erlaubt, und unterschiedliche Verfahrensordnungen der Gewalt differenzieren (III ). Vor diesem Hintergrund lassen sich die Perspektiven für eine historische Forschung benennen, die das moderne, auf den Menschen bezogene Individualitätsverständnis als einen historischen Sonderfall betrachtet.

I. Die soziale Unentschiedenheitsrelation Die soziale Unentschiedenheitsrelation baut auf der Theorie der Mitwelt auf,7 die Helmuth Plessner im Rahmen seiner Theorie exzentrischer Positionalität entwickelt.8 Plessner unterscheidet unterschied­ liche Formen, wie sich lebendige Wesen auf ihre Umwelt beziehen. Für unsere Zwecke ist vor allem die Form der zentrischen und diejenige der exzentrischen Form von Bedeutung, dabei fokussieren wir uns insbesondere auf die Mitwelt beziehungsweise die Mitverhältnisse zwischen lebendigen Wesen. Auf der Ebene zentrischer Positionalität gibt es Mitverhältnisse zwischen leiblichen Wesen. Danach existieren leibliche Wesen in wechselseitigen Berührungsbeziehungen. Leibliche Selbste fühlen sich durch Ereignisse im Umfeld in ihrem Zustand betroffen und eventuell aufgefordert zu agieren. Andere leibliche Selbste bilden einen integralen Bestandteil der Leib-Umfeld-Beziehung. Deshalb gehört zum Erleben leiblicher Selbste, davon betroffen zu sein, wie sich andere auf die Umwelt richten. Leibliche Selbste merken, dass und wie sich Artgenossen, Beutekonkurrenten oder Beutetiere auf die Umwelt richten und orientieren das eigene Verhalten daran.9

7 Vgl. Gesa Lindemann: The Social Undecidedness Relation, in: Human Studies 42 /1, 2019, S. 101-121. 8 Vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, 2. Aufl., Berlin 1965, S. 300-308. 9 Vgl. auch für das Folgende Lindemann: Weltzugänge (Anm. 6), S. 90-94.

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Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Es gibt aus mehreren Arten bestehende Vogelgruppen, die in den Baumwipfeln des Amazonasurwalds leben. Sie ernähren sich von Insekten, die sie aufscheuchen. Bei der Nahrungssuche entstehen immer wieder Konkurrenzsituationen zwischen Vögeln, die versuchen, dasselbe Insekt zu schnappen. Hierbei verschaffen sich einige Vögel einen taktischen Vorteil, indem sie den Ruf ausstoßen, der sonst vor nahenden Raubvögeln warnt. Durch den Warnruf wird der andere Vogel kurz abgelenkt und der täuschende Vogel fängt das Insekt.10 Um diese Situation zu deuten, ist es nicht erforderlich anzunehmen, dass die konkurrierenden Vögel die Intentionen des anderen Vogels deuten oder dass es sich um Subjekte handelt, die einander als Subjekte verstehen. Es erscheint mir aber unabdingbar anzunehmen, dass die leiblichen Vollzüge der Vögel aufeinander bezogen sind, denn sie erfassen den Richtungssinn der Bewegung des Konkurrenten. Dieses Beispiel soll anschaulich zeigen, dass es sinnvoll ist, auf der Ebene zentrischer Positionalität Mitverhältnisse im Sinne eines leib­ lichen Erlebens anderer leiblicher Selbste anzunehmen. Die beteiligten Selbste erleben, dass andere sich auf das Umfeld richten, und beziehen dies in die Gestaltung der eigenen Umfeldbeziehung ein. Leibliche Selbste, die einander derart berühren, müssen nicht der gleichen Art angehören. Denn Raub- und Beutetiere stehen ebenfalls in einem derartigen Mitverhältnis. Die Gestaltung von Mitverhältnissen ist wie die gesamte Gestaltung von Leib-Umfeld-Beziehungen durch instinktive Vorgaben strukturiert, die festlegen, wie leibliche Selbste mit welchen anderen Selbsten in einem Mitverhältnis stehen. Auf dieser Grundlage kann gelernt werden, wie Mitverhältnisse im Einzelnen zu gestalten sind, zum Beispiel wann vor wem zu fliehen ist, wie zu warnen ist usw. Die Stufe exzentrischer Positionalität zeichnet sich dadurch aus, dass leibliche Selbste sich in wechselseitigen Berührungsbeziehungen finden. Das heißt, leibliche Selbste existieren nicht nur in Mitverhältnissen, in wechselseitigen Berührungsbeziehungen, sondern sie sind überdies reflexiv aus der Perspektive Dritter darauf bezogen, dass das der Fall ist. Auf der Stufe exzentrischer Positionalität wird die Struktur der zentrischen Positionalität selbst reflexiv. Auf dieser Stufe verlieren instinktive Vorgaben für das Verhalten an Bedeutung. Wenn es nicht mehr durch instinktive Vorgaben gesteuert ist, wie leibliche Selbste in Berührungsbeziehungen existieren, wird es für diese fraglich, mit welchen leiblichen Selbsten sie in einer Berührungsbeziehung 10 Vgl. Volker Sommer: Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch, München 1992, S. 38 f.

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stehen. Es wird fraglich, wie der Kreis derjenigen zu begrenzen ist, die einander als andere personale Selbste berühren und wie die beteiligten Selbste existieren als Individuen oder als Elemente von Gruppen, die zu den Gliedern anderer Gruppen in Beziehung stehen. Damit haben wir die doppelte Unentschiedenheit identifiziert, die die soziale Unentschiedenheitsrelation auszeichnet. Erste Unentschiedenheit: Es ist offen, ob es sich bei den Wesen, die einander derart berühren, um Menschen handelt oder um Tiere beziehungsweise um Wesen wie Engel oder Geister. Wichtig ist nur, dass diese Wesen sich in irgendeiner Form wirksam aufeinander richten können – etwa durch Gesten, Blicke, Worte. Zweite Unentschiedenheit: Es ist offen, ob sich die Beteiligten als Individuen erleben, die mit anderen Individuen in Beziehung stehen, oder ob sich die Beteiligten als Glieder von Gruppen erleben, die mit anderen Gruppen in Beziehung stehen. Der Sachverhalt, dass sich die Beteiligten als Glieder von Gruppen erleben, wird in der Ethnologie als »Dividualisierung« beschrieben,11 die von einer individualisierenden Form der Vergesellschaftung zu unterscheiden ist. Beide Unentschiedenheiten erfordern eine gesellschaftliche Festlegung durch Institutionalisierung. Dies vollzieht sich folgendermaßen: Gemäß der reflexiven Struktur exzentrischer Positionalität finden sich leibliche Selbste in Berührungsbeziehungen und sind aus der Perspektive Dritter darauf bezogen. Dies ermöglicht es, die Beziehungen zu objektivieren und in diesen ein Muster zu identifizieren. Welche Muster identifiziert werden, hängt von bestehenden Beziehungen zwischen den Beteiligten ab. Ein logisch weiterer Schritt besteht darin, das Muster der Beziehungen zwischen den Beteiligten vom aktuellen Beziehungsgeschehen zu unterscheiden. Damit werden situationsübergreifende Muster identifizierbar. Sie gelten nicht nur in den gegenwärtigen Vollzügen, sondern erhalten eine orientierende Funktion in den weiteren Beziehungsvollzügen. Solche Muster bezeichnen wir als Institutionen.12 Institutionen haben immer auch einen normativen Cha11 Vgl. Marilyn Strathern: The Gender of the Gift. Problems with Women and Problems with Society in Melanesia, Berkeley / Los Angeles / London 1990, S. 348 f. 12 Vgl. Lindemann: Weltzugänge (Anm. 6), S. 119-125. Dieser Institutionenbegriff schließt an Berger und Luckmann (Peter L. Berger / Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1980) und Luhmann (Niklas Luhmann: Rechtssoziologie, Reinbek 1972 [2 Bde.]) an und entwickelt deren Institutionenverständnis zu einer Theorie reflexiver Institutionalisierung weiter, vgl. Lindemann: Strukturnotwendige Kritik (Anm. 4), S. 51-53.

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rakter. Leibliche Selbste sollten sich in ihrem Leib-Umwelt-Bezügen daran orientieren. An die Stelle einer instinktiven Verhaltenssicherheit tritt damit eine künstliche, institutionell gesicherte Verhaltenssicherheit. Plessner spricht deshalb vom Grundgesetz der »natürlichen Künstlichkeit«.13 Wesen exzentrischer Positionalität sind von ihrer Natur aus darauf angelegt, eine künstliche Ordnung zu schaffen. Die unmittelbaren leiblichen Umweltbezüge sind vermittelt durch eine solche institutionelle Ordnung, weshalb Wesen exzentrischer Positionalität durch »vermittelte Unmittelbarkeit« gekennzeichnet sind.14

II. Die methodische Funktion der sozialen Unentschiedenheitsrelation Für die historische beziehungsweise empirische Forschung erfüllt die soziale Unentschiedenheitsrelation eine methodische Funktion. Empirisch vorfindbar sind nur institutionelle Ordnungen. Die soziale Unentschiedenheitsrelation ist selbst nicht empirisch beobachtbar, aber alle konkreten Phänomene werden so angeschaut, als ob sie Fixierungen der sozialen Unentschiedenheitsrelation wären. Die Bildung von Ordnungen wird damit analysiert als eine Leistung leiblicher Wesen, die Institutionen bilden, die ihre Umweltbezüge vermitteln. Institutionelle Ordnungen unterscheiden sich danach, welche Wesen in den personalen Seinskreis einbezogen werden und ob sie dabei eine Präferenz für Individualisierung oder Dividualisierung ausbilden. Für die moderne Vergesellschaftung gilt, dass der personale Seinskreis auf lebende Menschen beschränkt wird, die als verkörperte Individuen gelten. Dass hierin eine Besonderheit liegt, wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Zuschnitt anderer personaler Seinskreise auch andere Wesen als Menschen umfasst und dass leib­ liche Wesen nicht verkörpert sein müssen, das heißt, es ist nicht erforderlich, dass sie im messbar ausgedehnten Raum einen Ort einnehmen, der von einem anderen Körper nicht zur gleichen Zeit eingenommen werden kann.15 Anhand ethnologischer Studien wird deutlich, dass Verkörperung eher als ein wesentliches Element individualisierender 13 Plessner: Die Stufen (Anm. 8), S. 309-321. 14 Ebd., S. 321-341. 15 Für die Differenz zwischen Leib und Körper vgl. Gesa Lindemann: Leiblichkeit und Körper, in: Handbuch Körpersoziologie, Bd. 1: Grundbegriffe und theoretische Positionen, hg. von Robert Gugutzer, Gabriele Klein und Michael Meuser, Wiesbaden 2016, S. 57-66.

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Vergesellschaftung zu begreifen ist. Darauf hatte der Ethnologe Maurice Leenhardt bereits vor längerer Zeit eindrücklich hingewiesen.16 In seiner Analyse der Ordnungsbildung auf Neukaledonien kam er zu dem Ergebnis, dass die Kanaken sich zunächst als eingebunden in Gruppenbeziehungen erlebten; erst als sie lernten, ihre leiblichen Vollzüge mit dem dreidimensional ausgedehnten biologischen Körper zu identifizieren, haben sie ein individuelles Selbstverständnis in einem modernen Sinn entwickelt. Sie verstanden sich nun als Individuen mit individuellen Interessen, die mit anderen Individuen Beziehungen eingehen können. Dieses Ergebnis macht Leenhardt anhand eines Dialogs mit einem Kanaken deutlich. Als ich einmal den im Denken der Kanaken, die ich lange Jahre unterrichtet hatte, erreichten Fortschritt ermessen wollte, wagte ich eine Suggestivfrage: Im großen und ganzen ist es doch die Vorstellung vom Geist, die wir in euer Denken getragen haben? Und er erwiderte: Der Geist? Bah! Ihr habt uns nicht den Geist gebracht. Wir kannten schon das Vorhandensein des Geistes. Wir verfahren nach dem Geist. Aber was ihr uns gebracht habt, das ist der Körper.17 Dieser Dialog bezieht sich darauf, wie die Person in Neukaledonien verstanden und gelebt wird beziehungsweise wurde, nämlich im Sinne einer Institutionalisierung von Dividualisierung. Leenhardt zufolge gab es auf Neukaledonien vor der französischen Missionierung und Beschulung keine individuelle Person in einem modernen Verständnis. Vielmehr waren die leiblichen Akteure gemäß den Forderungen der vermittelnden symbolisch-institutionellen Ordnung in ein Geflecht von Beziehungen eingebunden, in dem nicht Einzelne miteinander in Kontakt traten, sondern Replikate von Gruppenelementen, die mit den Replikaten von anderen Gruppen in Beziehung traten. Die Gruppe der Vettern steht etwa mit der Gruppe der Basen in einer durch die Gruppenzugehörigkeit definierten Beziehung. Im Rahmen der Institutionalisierung einer solchen Ordnung erleben sich leibliche Operatoren als tendenziell austauschbarer Bestandteil dauernder Beziehun-

16 Vgl. Maurice Leenhardt: Do kamo. Die Person und der Mythos in der melanesischen Welt, Frankfurt a. M./Berlin / Wien 1983. 17 Ebd., S. 215 f.

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gen zwischen Gruppen. In dieses leibliche Beziehungsgeflecht waren auch die verstorbenen Ahnen als wirkmächtige Akteure eingebunden. Diese institutionelle Ordnung auf Neukaledonien erfuhr einen dramatischen Wandel durch Missionierung und Beschulung, das heißt die Konfrontation mit einem modernen schriftbasierten Wissen über die kontinuierlich dreidimensionale Ausdehnung des Raums, die Ordnung der messbaren Zeit und damit zusammenhängend über den europäisch-natürlichen dreidimensional ausgedehnten Körper. Das neue von der französischen Kolonialmacht gestützte Wissen ermöglicht eine Umbildung der vermittelnden symbolisch-institutionellen Ordnung. Statt die leiblichen Vollzüge als Vollzüge von dauernden Beziehungen zu erleben (Dividualisierung), wird, getragen von der Kolonial­ macht, die Verpflichtung institutionalisiert, leibliche Umweltbezüge als Vollzüge eines individuellen Körpers zu erleben (Individualisierung). Leenhardt zufolge war die Identifikation mit dem dreidimensio­ nal ausgedehnten Körper, der isoliert eine Stelle im Raum einnimmt, die Bedingung der Individualisierung leiblicher Operatoren auf Neukaledonien. In seiner Analyse beschreibt Leenhardt den Übergang von einer dividualisierenden Vergesellschaftung, die die Beziehungen unter Einschluss der Verstorbenen und anderer Geister zentral stellt, zu einer individualisierenden Vergesellschaftung, die zunehmend auf die lebenden Menschen beschränkt wird. Der methodische Dreh, von der sozialen Unentschiedenheitsrelation auszugehen, gestattet es, solche Phänomene zu analysieren, ohne die Methodik des Thomas-Theorems anzuwenden, die es ermöglicht, alle Phänomene, die dem methodischen Anthropozentrismus widersprechen, wieder in diesen zu integrieren. Dem Thomas-Theorem zufolge handeln Menschen entsprechend dem, was sie für wirklich halten. »If men define situations as real, they are real in their consequences.«18 Dieses Argument lässt sich konstruktivistisch im Anschluss an die Institutionentheorie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann so verstehen,19 dass Menschen ein Wissen über die Wirklichkeit ausbilden, welches im Rahmen von Institutionen von allen Beteiligten als gültig anerkannt wird. Es handelt sich also nicht um eine individuelle Auffassung der Wirklichkeit, sondern um ein kollektives Verständnis der Wirklichkeit, das für alle Beteiligten fest institutionalisiert ist. Folglich gilt, dass Menschen eine Wirklichkeit konstruieren, in der sie es als eine 18 William I. Thomas / Dorothy Swaine-Thomas: The Child in America. Behavior Problems and Programs, New York 1928, S. 572. 19 Vgl. Berger / Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion (Anm. 12).

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gültige Wahrheit behandeln, dass es Götter gibt, denen sie unterworfen sind. Dies entspricht dem Thomas-Theorem. Gemäß diesem Theorem kommt es zu einer Differenzierung der Wirklichkeit. Zum einen gibt es die Wirklichkeit der soziologischen Forschung. Diese beschreibt es als einen realen Sachverhalt, dass es Menschen gibt, die wirklich daran glauben, dass es Götter gibt. Für die Soziolog:innen bildet der Sachverhalt, dass es wirklich Götter gibt, aber keine Tatsache. Denn sie können erkennen, dass es eigentlich keine Götter gibt, sondern nur Menschen, die daran glauben, dass es Götter gibt. Diese Ebenendifferenzierung können wir mit der Methodik der sozialen Unentschiedenheitsrelation vermeiden. Denn wir können anerkennen, dass es unterschiedliche Wirklichkeiten gibt. Es gibt solche, die ausschließlich von Menschen geschaffen werden, wie es in der Moderne der Fall ist, und es gibt Wirklichkeiten, an deren Herstellung auch andere Wesen beteiligt sind. Dies eröffnet neue Perspektiven für die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Soziologie, Ethnologie und Geschichtswissenschaft. Denn von der sozialen Unentschiedenheitsrelation auszugehen ermöglicht es, auch fremdartige Akteursverständnisse als gleichermaßen wirklich zu betrachten. In methodischer Hinsicht folgt aus diesen Überlegungen eine doppelte Vorsichtsregel. Es gilt sowohl die Kontingenz der Grenzen des Menschlich-Sozialen als auch die Kontingenz einer auf den Körper bezogenen Individualisierung zu berücksichtigen. Wenn diese doppelte Vorsichtsregel nicht beachtet wird, droht die Analyse den modernen anthropologischen Individualismus zu reproduzieren.

III. Fixierungen der sozialen Unentschiedenheitsrelation – durch Gewalt Wir hatten festgestellt, dass von der sozialen Unentschiedenheitsrelation auszugehen eine Besonderheit darstellt, weil diese sich durch eine reflexive Struktur auszeichnet, die es erlaubt, die Bedeutung mora­ lischer Verantwortlichkeit in den Blick zu nehmen. Bereits Luckmann hatte darauf hingewiesen, dass die Grenzen des Sozialen zugleich die Grenzen des Moralischen darstellen.20 Dies kann man sich vergegenwärtigen, wenn wir auf das oben genannte Beispiel zurückkommen, an einem Tisch zu sitzen und aus einem Teller Suppe zu löffeln. Solange der praktische Vollzug ohne weitere Probleme abläuft, muss man 20 Vgl. Luckmann: Über die Grenzen der Sozialwelt (Anm. 6).

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nicht zwischen personalen Akteuren und anderen Wesen unterscheiden. Es wäre auch unentscheidbar, ob die Handlungsabläufe durch instinkthafte Antriebe oder durch Institutionen gesteuert würden. Solange alles bruchlos funktioniert, ist es schwer, zwischen einer gut organisierten Fabrik und einem Bienenstock zu unterscheiden. Zwischen personalen und anderen Wesen zu unterscheiden, wird erst dann erforderlich, wenn es zu einer Unterbrechung, zu einer Krise im Handlungsablauf kommt. An den Reaktionen auf Krisen im Handlungsablauf kann man erkennen, ob und wie zwischen Personen und anderen Wesen unterschieden wird. »Ob« und »wie« die Unterscheidung erfolgt, wollen wir nun eingehender behandeln.

III.1 Ob zwischen Personen und anderen Wesen unterschieden wird … Solange die Unterscheidung nicht erforderlich ist, gibt es keinen abgegrenzten Bereich des Sozialen. Wenn es darum geht, dass zwischen Personen und anderen Wesen unterschieden wird, stellen die Beteiligten erstens dar, dass ihre Erwartungen an den regelgemäßen Handlungsablauf enttäuscht worden sind, und zweitens, dass andere Beteiligte dafür moralisch verantwortlich gemacht werden, dass der regelgemäße Handlungsablauf nicht eingehalten worden ist. Damit kommen wir zu einer empirisch operationalisierbaren Form, personale Akteure zu unterscheiden. Personale Akteure sind diejenigen, die einen regelgemäßen institutionellen Handlungsablauf identifizieren und andere dafür verantwortlich machen, dass die Erwartungen an diesen Handlungsablauf enttäuscht worden sind. Umgekehrt gelten auch diejenigen als personale Akteure, die die Erwartungen an den regelgemäßen Ablauf von Ereignissen enttäuschen und entsprechend dafür verantwortlich gemacht werden können. Zwischen personalen Akteuren und anderen Wesen wird empirisch beobachtbar unterschieden, wenn Handlungsabläufe nicht ablaufen wie gewöhnlich, wenn es Krisen gibt, auf die reagiert wird. Die Identifikation eines regelgemäßen Handlungsablaufs setzt voraus, dass Verhalten nicht einfach abläuft, sondern dass es orientiert an einem institutionellen Muster abläuft, mit Bezug auf das der Ablauf bewertet werden kann. Dies setzt – wie oben beschrieben – voraus, aus der Perspektive Dritter reflexiv auf den Sachverhalt bezogen zu sein, mit anderen in Berührungsbeziehungen zu stehen. Die Einbeziehung Dritter beinhaltet eine objektivierende Perspektive auf die Beziehungen zwischen den Beteiligten, was es ermöglicht, das Muster der

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Beziehungen zwischen den Beteiligten vom aktuellen Beziehungsgeschehen zu unterscheiden.21 Nur dann können beteiligte leibliche Selbste das Muster des Handlungsablaufs von Letzterem unterscheiden und das konkrete Geschehen am Muster des institutionalisierten typischen Handlungsablaufs messen.

III.2 Wie zwischen Personen und anderen Wesen unterschieden wird … Wir wollen einen typischen Handlungsablauf in den Blick nehmen, etwa den Ablauf eines Gütertauschs zwischen Gruppen, wie er in ethnologischen Forschungen beschrieben wird. Bei einem solchen Tausch kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen darüber, ob die Proportionen des Austauschs angemessen sind. Der Streit kann verbal ausgetragen werden, indem die Angehörigen der Gruppe A fordern, dass die anderen noch mehr geben sollen. Der Streit geht so lange, bis beide Seiten die Proportionen des Austauschs als angemessen ansehen, oder er eskaliert und mündet in der Androhung von Gewalt beziehungsweise in einer direkten Anwendung von Gewalt. Durch diesen Gewaltakt wird in einer allgemeinen Weise dargestellt, dass an den enttäuschten Erwartungen unbedingt festzuhalten ist. Diese knappe Skizze geht zurück auf die ethnologische Darstellung von Tauschbeziehungen zwischen großen Familiengruppen beziehungsweise Clans etwa auf Neuguinea.22 Wenn wir diese Dynamik generalisieren, ergibt sich Folgendes. Das Tauschgeschehen läuft gemäß institutioneller Muster ab, das heißt die beteiligten leiblichen Selbste orientieren sich an typischen Handlungsmustern und bilden entsprechende Erwartungen aus. Die Muster werden gegenwärtig aktualisiert und können in konkreten Situationen verändert werden. Dies ist so lange kein Problem, wie die Beteiligten nicht darauf beharren, dass das institutionelle Muster beibehalten werden soll. Wenn eine Veränderung erfolgt, verändern die Beteiligten ihre Erwartungen. Sie lernen, dass institutionalisierte Handlungsabläufe auch anders ablaufen können.23 Solche Veränderungen können 21 Vgl. Lindemann: Weltzugänge (Anm. 6), S. 119-125. 22 Vgl. Bruce M. Knauft: Melanesian Warfare. A Theoretical History, in: Oceania 60 /4, 1990, S. 250-311; hier S. 277. 23 Dieses Argument geht zurück auf die Unterscheidung zwischen ipseistischen kognitiven und normativen Erwartungen, vgl. Lindemann: Weltzugänge (Anm. 6), S. 220 f. Kognitive Erwartungen sind solche, die verändert werden, wenn sie enttäuscht worden sind, normative Erwartungen sind solche, die

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vonstattengehen, auch wenn die Beteiligten es gar nicht explizit zur Kenntnis nehmen. Wenn die Abweichung vom typischen Handlungsablauf aber als solche identifiziert wird und Beteiligte auf dem institutionellen Muster beharren, greift der beschriebene Mechanismus. Zunächst wird die Abweichung von einem Muster identifiziert: Die andere Seite hat nicht gegeben oder getan, was in angemessener Weise zu erwarten gewesen wäre. Dieser Sachverhalt wird explizit gemacht. Wenn die andere Seite den Fehler korrigiert oder versucht, die Abweichung plausibel zu machen beziehungsweise sich zu entschuldigen, ist alles gut. Gelingt dies nicht, erweist sich Gewalt als die ultimative symbolische Form, durch die dargestellt wird, dass die eigenen Erwartungen an den typischen Ablauf des Geschehens aufrechterhalten werden. Diese Erwartungen bezeichnen wir als normative Erwartungen. Sie werden aufrechterhalten, auch wenn sie enttäuscht werden, und es wird dargestellt, dass die enttäuschten Erwartungen unbedingt aufrechtzuerhalten sind. Durch Gewalt wird zunächst der Anspruch erhoben, dass die normativen Erwartungen gültig sein sollen. Dieser Anspruch wird zu einer institutionalisierten Norm, wenn er von Dritten als ein legitimes Erwartungsmuster anerkannt wird. Damit wird Gewalt zu einer durch Dritte legitimierten, symbolisch generalisierten Darstellung der Gültigkeit normativer Erwartungen. Dies erlaubt es, Gewalt eindeutig von physischem Kraftaufwand zu unterscheiden. Wenn wir das moderne Weltverständnis zugrunde legen, demzufolge zum Beispiel Bäume oder Ereignisse wie Stürme nicht als personale Akteure gelten, wäre es eine bloße Krafteinwirkung, wenn ein Sturm einen Baum entwurzelt, dieser auf ein Auto stürzt, wodurch dieses schwer beschädigt und der darin sitzende Mensch getötet wird. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, es als einen Fall von Gewalt zu interpretieren, wenn ein von einem Sturm entwurzelter Baum einen aufrechterhalten werden, wenn sie enttäuscht werden. Ipseistisch heißt, dass konkrete leibliche Selbste diese Erwartungen haben, die selbst davon betroffen sind, wenn ihre Erwartungen erfüllt oder enttäuscht werden. Nur weil Selbste davon betroffen sind, dass ihre Erwartungen enttäuscht worden sind, werden sie ihre Erwartungen nach einer Enttäuschung ändern. Wenn sich jemand auf einen Stuhl setzt, der zusammenbricht, wird er beim nächsten Mal prüfen, ob der Stuhl stabil ist, auf den er sich setzen möchte. In diesem Fall hat er gelernt, dass Stühle nicht stabil sein müssen. Nur wenn leibliche Selbste von der Erwartungsenttäuschung betroffen sind, werden sie motiviert, die Erwartungsenttäuschung auch darzustellen: etwa, indem sie jemanden dafür verantwortlich machen, dass ein nicht stabiler Stuhl ohne Warnung als Sitzgelegenheit angeboten wird.

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Menschen tötet. Dafür wäre es erforderlich, dass es Dritte gibt, die diese Interpretation legitimieren. Ist dies gegeben, wäre es Gewalt. Es gibt Ordnungen, in denen solche Interpretationen als legitimerweise gültig anerkannt sind. Über eine lange Zeit galten in Europa zum Beispiel schwere Naturkatastrophen oder heftiger Schädlingsbefall in der Landwirtschaft als Strafen Gottes. Dieses musste aber von Dritten, etwa kirchlichen Gerichten, entsprechend legitimiert werden. An diesem Beispiel können wir lernen, wie Gewalt und die Frage nach den Grenzen des Sozialen aufeinander bezogen sind. Dabei lassen sich zwei Möglichkeiten unterscheiden. 1.

Der Kreis sozialer Personen wird mit dem Kreis der Menschen gleichgesetzt. In diesem Sinne wenden Menschen gegeneinander Gewalt an. Gewalt wäre dann als anthropologische Universalie zu begreifen. Heinrich Popitz spricht in diesem Sinne von Verletzungsoffenheit und Verletzungsmächtigkeit des Menschen.24 In diesem Fall wird der Kreis legitimer Personen aus einer modernen Beobachterperspektive festgelegt. Zugleich wird ein Verständnis präferiert, welches Gewalt auf direkte körperliche Gewalt begrenzt. Dabei wird unterstellt, dass Gewalt als ein unmittelbares Ereignis direkt aus der Beobachterperspektive identifiziert werden kann. 2. Man kann das Verhältnis von Gewalt und dem Kreis der Personen aber auch umkehren. Statt den Kreis legitimer Personen aus der Beobachterperspektive festzulegen, wird untersucht, ob Gewalt eine besondere Bedeutung dafür zukommt, wie der Kreis sozialer Personen in einem beobachteten Feld festgelegt wird. In diesem Fall würde die Anwendung von Gewalt für die Beteiligten praktisch gültig darstellen, wer in den personalen Seinskreis gehört. In dieser Perspektive wäre es nicht ausgeschlossen, dass gegen einen Baum, der sich auf ein Auto gestürzt hat, Gewalt angewendet wird. Dies wäre empirisch dann der Fall, wenn sich Hinweise darauf finden lassen, dass der Baum als ein verantwortlicher Akteur behandelt wird. Dies führt auf eine wichtige Konsequenz: Gewalt kann nicht als ein rein unmittelbares Phänomen verstanden werden, denn Gewalt beinhaltet immer auch, dass ein Vorkommnis von den Beteiligten als Gewalt identifiziert wird, das sich innerhalb des Sozialen ereignet. Diese Identifikation 24 Vgl. Heinrich Popitz: Phänomene der Macht. Autorität – Herrschaft – Gewalt – Technik, Tübingen 2009, S. 44.

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vollzieht sich in Kommunikationen über Gewalt, durch die Ereignisse als Gewalt interpretiert werden – oder nicht. Gemäß der zweiten Alternative ist es erforderlich, Sozialität in einer formalen Weise zu definieren, ohne dabei festzulegen, welche Entitäten als soziale Akteure gelten sollen. Die soziale Unentschiedenheitsrelation stellt eine solche formale Charakteristik dar. Danach gehören solche Wesen in den personalen Seinskreis, die a) wechselseitig ihre Erwartungen erwarten, dabei b) die Perspektive von Dritten miterwarten, welche Erwartungen von anderen zu erwarten sind. Wesen, die in einem solchen personalen Zusammenhang stehen, bilden eine institutio­ nelle (drittenvermittelte) Ordnung.25 In diesem Sinne wären triadisch strukturierte leibliche Berührungsbeziehungen die kleinste Einheit, die eine soziologische Beobachterin in den Blick zu nehmen hätte. Der Kreis sozialer Personen wird dabei nicht von der Beobachterin vorausgesetzt, sondern es wird untersucht, wie im Feld im Rahmen tria­ discher Kommunikationsprozesse zwischen sozialen Personen und anderen Entitäten unterschieden wird.26 Da sich nur mit Bezug auf eine etablierte Ordnung entscheiden lässt, wer als Gewalt ausübender personaler Akteur gelten kann und ob ein Fall von Gewalt vorliegt, bezeichnen wir eine solche Ordnung als Verfahrensordnung der Gewalt.

III.3 Verfahrensordnungen der Gewalt als Fixierung der sozialen Unentschiedenheitsrelation Der Ansatzpunkt für die Entwicklung von Verfahrensordnungen der Gewalt ist ein triadisch strukturiertes Verständnis von Sozialität. Diesem gemäß ist Gewalt nicht nur ein unmittelbares Ereignis, sondern sie ist aufgrund ihrer triadischen Struktur wesentlich eingebunden in kommunikativ-symbolische Vermittlungen. Denn erst mit Bezug auf die Kommunikation über das Ereignis wird dieses zur Gewalt und damit zu einem Ereignis, an dem die Grenzen des Sozialen abgelesen werden können. Die im Folgenden beschriebenen Verfahrensordnungen der Gewalt sind als idealtypische Konstruktionen zu verstehen. Sie dienen als

25 Vgl. Lindemann: Weltzugänge (Anm. 6); dies.: The Social Undecidedness Relation (Anm. 7). 26 Vgl. Lindemann: Weltzugänge (Anm. 6), Kap. 3.1.

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Heuristiken, mit denen empirische Forschung durchgeführt werden kann. Solche Verfahrensordnungen legen fest, 1. wie der Kreis der legitimen Personen zu begrenzen ist, 2. wie Gewaltausübung identifiziert werden kann, 3. wie Gewalt legitimiert und wie zwischen legitimer und illegitimer Gewalt unterschieden werden kann, 4. welche Erwartungen durch Gewalt als legitime normative Erwartungen expliziert werden und daher als das Recht einer Gesellschaft gelten können, 5. wie die Normexplikation beziehungsweise Rechtsdarstellung in angemessener Weise erfolgen sollte. Girard zufolge haben sich historisch drei Verfahrensordnungen der Gewalt herausgebildet,27 die ich um eine vierte ergänze: 1. Die gewalttätige Rechtsdarstellung wird an einem Opfer vollzogen. Hier wird das Recht noch direkt gewaltsam dargestellt, wenn auch in fokussierter und insofern in transformierter Weise. 2. Die gewalttätige Darstellung wird erschwert, und der Konflikt wird durch befriedende Ausgleichshandlungen gelöst oder in stellvertretende Kämpfe verlagert. 3. Die Darstellung der Gültigkeit normativer Erwartungen wird stellvertretend durch ein Gericht vollzogen, das den Schuldigen bestraft. Hier wird das Gerichtsverfahren zur Bedingung der gewalttätigen Darstellung des Rechts, etwa durch die öffentliche Hinrichtung beziehungsweise die öffentliche Tortur.28 Nur die dritte Form kennt das Schuldprinzip und ein Strafrecht im eigentlichen Sinn. 4. Eine Verfahrensordnung der Gewalt, die Girard nicht mehr in den Blick bekommt, ist diejenige, die auf der dritten Form aufbaut. Sie kennzeichnet die moderne rechtsstaatliche Form. In diesem Fall wird auch die Darstellung des Rechts durch die Zentralgewalt nicht mehr gewaltsam vollzogen. Die rechtsdarstellenden Verfahren werden gewaltlos.29 Die Gewaltanwendung (Einsperrung) wird dem öffentlichen Blick entzogen. 27 Vgl. René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Ostfildern 2002, S. 36. 28 Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1979, Kap. I; Girard: Das Heilige (Anm. 27), S. 36. 29 Vgl. Lindemann: Weltzugänge (Anm. 6), Kap. 5.3; Luhmann: Rechtssoziologie (Anm. 12), Kap. II .7.

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Alle drei von Girard genannten Darstellungsformen der Gültigkeit von Normen beziehungsweise des Rechts und die von mir ergänzte vierte Form sind als Institutionalisierungen zu verstehen, die reflexiv an die symbolische Generalisierung legitimer Gewalt anschließen. Es handelt sich bei den genannten Idealtypen nicht um eine abschließende Liste, vielmehr ist es wahrscheinlich, dass sie aufgrund historischer Forschungen ergänzt und differenziert werden muss. Verfahrensordnung der Opferung Das Opfer ist eine Entität auf der Grenze des Sozialen. Es muss einerseits sozial, das heißt personal genug sein, damit es sinnvoll die Gewalt auf sich ziehen kann. Es darf aber keine zu zentrale Position im sozialen Gefüge einnehmen, sodass seine Tötung Rache erfordern würde. Ein gelingendes Opfer symbolisiert die Gewalt gegen alle Normübertretungen und homogenisiert damit unterschiedliche legitimierende Drittenbezüge, weshalb in der Gewaltanwendung gegen das Opfer die Drittenbezüge von konkreten Dritten abgelöst werden können und für die Beteiligten ein generalisierter Dritter als normativer Bezugspunkt institutionalisiert wird. Alle Beteiligten verständigen sich auf diese Weise darüber, dass die Normen gültig sind, sie sich aber nicht wechselseitig töten müssen, um die Gültigkeit der Normen darzustellen. Trotz gelegentlicher Normverletzungen können alle weiterhin friedlich zusammenleben. Im Rahmen dieser Ordnung ist es nicht erforderlich, den eigentlichen Schuldigen zu identifizieren. Es reicht vollkommen aus, einen Sündenbock irgendwie verantwortlich zu machen. In den Bereich des Sozialen gehören alle, die an der Opferung beteiligt sind und diejenigen, in deren Namen die Opferung erfolgt.30 Verfahrensordnung des Ausgleichs Die zweite Form beinhaltet die Einführung des Ausgleichsprinzips und institutionalisiert im Ansatz besondere durch spezifische Drittenpositionen ermöglichte Verfahren, die nicht-gewalttätige Formen von Wechselseitigkeit, Vermittlung und Schlichtung zwischen den Parteien beinhalten. Die oben erwähnten Tauschbeziehungen zwischen Familiengruppen beziehungsweise Clans stellen ein Beispiel für eine solche Ordnung dar. Hier stehen sich gewaltfähige Gruppen gegenüber, die einander in Austausch- und Rachebeziehungen verbunden 30 Vgl. Girard: Das Heilige (Anm. 27), S. 25 f.

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sind. In diese Beziehungen sind regelmäßig auch die verstorbenen Ahnen eingebunden, die die Funktion legitimierender Dritter ausfüllen. Weil die anderen uns übervorteilt haben, sind wir in Bezug auf legitimierende Dritte verpflichtet, uns zu rächen. Hier stehen sich nicht Individuen gegenüber, sondern Glieder von Gruppen. Weil die anderen uns etwas getan haben, müssen wir ihnen etwas antun. Diese Ordnung zeichnet sich durch ein Vertrauen in Gewalt aus, während die moderne Ordnung durch ein Vertrauen in Gewaltlosigkeit gekennzeichnet ist.31 Vertrauen in Gewalt ist erforderlich, weil die normativen Ansprüche der Gruppen nur aufrechterhalten werden können, wenn sie ausreichend gewaltfähig sind. Individuell verantwortliche Individuen gibt es in diesem Rahmen nicht. Derartige wechselseitige Racheverpflichtungen lassen sich auch in den Beziehungen zwischen Straßengangs ausmachen.32 In einem solchen Rahmen gehören diejenigen in den personalen Seinskreis, die zu gewaltfähigen Gruppen gehören, die mit anderen in Austausch- und Rachebeziehungen stehen. Diese (familien-)gruppenbezogene Verfahrensordnung der Gewalt war vermutlich auch in Europa so lange vorherrschend, wie es noch keine ausreichend starke Zentralgewalt gab.33 Verfahrensordnung des Gerichtswesens Mit der Durchsetzung einer ausreichend starken Zentralgewalt kann sich als dritte Verfahrensordnung der Gewalt das Gerichtswesen entwickeln. Dieser Prozess wurde pointiert von Viktor Achter herausgearbeitet.34 Die Voraussetzung für die von ihm beschriebene Entwicklung ist die Monopolisierung der Gewaltausübung, die Norbert Elias als zentralen Bestandteil des europäischen Zivilisationsprozesses beschrieben hat.35 Die einsetzende Zentralisierung ermöglichte »Friedenssicherung« durch die Macht des Zentralherrn, das heißt durch seine realistische Drohung mit überlegener Gewaltanwendung. Gestützt auf sein Gewaltpotenzial kann der Zentralherr selbst Recht set31 Vgl. Jan Philipp Reemtsma: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 256-269. 32 Vgl. Andrew V. Papachristos / David M. Hureau / Anthony A. Braga: The Corner and the Crew. The Influence of Geography and Social Networks on Gang Violence, in: American Sociological Review 78 /3, 2013, S. 417-447. 33 Vgl. Lindemann: Strukturnotwendige Kritik (Anm. 4), S. 72-75. 34 Vgl. Viktor Achter: Geburt der Strafe, Frankfurt a. M. 1951. 35 Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1976.

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zen und dessen Durchsetzung garantieren. Die Rechtsprechung wird einem Gericht übertragen, das die Befugnis hat, den rechtlichen Sachverhalt festzustellen, den Schuldigen zu identifizieren, ihn als Subjekt verantwortlich zu machen und zu bestrafen.36 Die Gültigkeit des Rechts wird weiterhin gewaltsam dargestellt und zwar in einem öffentlich vor Dritten stattfindenden gewaltsamen Verfahren, das Michel Foucault als »Fest der Martern« bezeichnet hat.37 Wenn das Recht durch eine Zentralgewalt gestützt wird und Richter in einem legitimen Verfahren ein Urteil fällen, entstehen die Voraussetzungen für die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen. Achters Studie ist als Hinweis darauf zu verstehen, dass ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Zentralgewalt und der Ethisierung des Rechts besteht. Letzteres besagt, dass die Tat auf die Täterin zurückgeführt und moralisch beurteilt wird. Die Täterin hat nicht so gehandelt, wie sie hätte handeln sollen. Deshalb muss sie für ihre böse Tat bestraft werden. Die Dokumente aus der Zeit des entstehenden Strafrechts belegen, dass diese Verfahrensordnung der Gewalt den Kreis derjenigen, die moralisch zählen, nicht auf die Menschen beschränkte, denn es finden sich eine Vielzahl von dokumentierten säkularen und auch kirchenrechtlichen Verfahren, in denen Tiere als Angeklagte bzw. als Partei auftreten.38 Die Grenzen des Sozialen können jetzt in einer individualisierenden Weise gezogen werden. Alle Wesen, die gegen eine Norm verstoßen haben und als individuelle Personen für diesen Verstoß gegen eine Norm verantwortlich gemacht werden können, gehören in den Kreis des Sozialen. Zudem gehören alle Wesen in den personalen Seinskreis, die normative Erwartungen entwickeln und darauf insistieren können, dass es Schuldige gibt, die gegen normative Erwartungen verstoßen haben. Die europäische Entwicklung ist insofern ein sehr interessanter Fall, weil sie zeigt, dass sich Individualisierung zu entwickeln begonnen hat, bevor der Kreis legitimer Akteure auf den Kreis der Menschen begrenzt worden war. Moderne Verfahrensordnung der gewaltfreien Darstellung des Rechts Auf der Ethisierung des Rechts im Rahmen von Gerichtsverfahren baut eine die Moderne kennzeichnende, fast ausschließlich verfahrens36 Vgl. Achter: Geburt der Strafe (Anm. 34) S. 50-83; Lindemann: Strukturnotwendige Kritik (Anm. 4), S. 75-82. 37 Foucault: Überwachen und Strafen (Anm. 28), S. 44. 38 Vgl. Gesa Lindemann: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Weilerswist 2009, Kap. 3 mit weiteren Literaturangaben.

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mäßig gestützte Form der Darstellung der Gültigkeit des Rechts auf. Gerichtsverfahren in einem demokratischen Rechtsstaat kommen weitgehend ohne gewalttätige Darstellung des Rechts aus, auch Straftäter werden eher gewaltfrei behandelt, und die gewalttätige Bestrafung, die Einsperrung, erfolgt nicht im Sinne einer Darstellung für Dritte, sondern ist ihren Blicken weitgehend entzogen. Das Urteil erfolgt im Namen des Volkes, aber die Gewalttat, die Einsperrung, wird nicht vor dem Volk dargestellt. Diese Verfahrensordnung der Gewalt setzt sich in der Sattelzeit (1750-1850) durch.39 In diesem Rahmen wird in Europa erstmals der Kreis derjenigen, die moralisch zählen, auf lebende Menschen beschränkt. Damit entsteht zum ersten Mal in der Geschichte eine Gesellschaft, die ausschließlich aus Menschen besteht.40 Für die Durchsetzung dieser Verfahrensordnung ist die Überlegenheit staatlicher Gewalt gegenüber den gewaltfähigen Familiengruppen von besonderer Bedeutung. Diese Überlegenheit dokumentiert sich nicht zuletzt darin, dass der Staat die Kontrolle über die Neuzugänge bzw. Abgänge personaler Individuen übernimmt. Der Staat baut dabei auf der Organisationsleistung der Kirche auf, die bereits im Mittelalter begonnen hatte, Kirchenbücher zu führen, die die Taufen (Aufnahme in die Gemeinschaft) und Sterbefälle (Übergang in den Kreis der Toten) dokumentierten. Diese Buchführung über die Gesellschaftsmitglieder übernimmt der Staat und entwickelt sie zu einem Personenregister weiter, das unabhängig von der Religionszugehörigkeit geführt wird.41 Damit wird den Familien in einem weitergehenden Ausmaß als zuvor die Kontrolle über die Aufnahme in die Gesellschaft genommen. Jetzt zählt jede Geburt als Eintritt in die Gesellschaft und jeder Tod als ein Verlassen des Kreises der Personen. Insgesamt werden die Grenzen des Sozialen jetzt anhand einer vierfachen Grenzziehung gezogen, die wir als »anthropologisches Quadrat« bezeichnen.42 Der verkörperte moderne Mensch hat einen normativen Sonderstatus, ihm kommen Freiheit und Würde zu. Dieser besondere Status ist für personale Akteure in der Geschichte ein Novum. Der normative Sonderstatus wird durch eine prekäre Balance ermöglicht. Einerseits ist der geborene Mensch durch den Staat davor geschützt, zu einem Mittel zu werden, das im Sinne einer Gruppe eingesetzt werden kann. 39 Vgl. für diesen Übergang insgesamt auch Foucault: Überwachen und Strafen (Anm. 28). 40 Vgl. Lindemann: Strukturnotwendige Kritik (Anm. 4), Kap. 1. 41 Vgl. ebd., S. 116 f., 120 f. 42 Ebd., Kap. 1.3.

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Dies ermöglicht es den menschlichen Individuen, sich zum Beispiel den Racheverpflichtungen einer Familiengruppe zu verweigern. Dies mag im Einzelfall schwierig genug sein, wäre aber ohne eine überlegene Staatsgewalt vollkommen undenkbar. Zugleich begrenzt sich der moderne Nationalstaat selbst in seinem Zugriff auf das Individuum. Damit werden menschliche Individuen frei, sich in unterschiedlicher Weise zu vergesellschaften. Dies ist der Sinn der Garantien von Freiheit und Würde.43 Der individuelle Mensch, gleich an Freiheit und Würde, ist das institutionelle Element, aus dem moderne Gesellschaften aufgebaut sind. Die Grenzen des Sozialen sind daher identisch mit den empirisch zugänglichen Grenzen des Menschen, die die Form des anthropolo­ gischen Quadrats annehmen. Der Mensch als erforschbares Naturding beginnt zu leben und stirbt (Grenzen am Lebensanfang und am Lebensende), als diesseitiges Naturding könnte der Mensch ein Tier sein oder auch ein technisch herzustellendes Ding wie ein Roboter. Die Festlegung der Kriterien, ob sich ein Wesen innerhalb oder außerhalb der Grenzen befindet, ist ein rein kognitiv zu behandelndes Problem. Das Ergebnis der Unterscheidung ist zwar von hoher normativer Bedeutung, aber die Unterscheidung selbst stellt sachlich einen Zustand fest. Es soll eine Tatsachenfeststellung sein, ob ein Mensch lebt, ein Tier oder ein Roboter ist oder nicht. Gerade weil es sich um Tatsachenfeststellungen handelt, die letztlich mithilfe wissenschaftlicher Mittel erfolgen, sind die Unterscheidungen nicht einfach vorhanden, sondern es handelt sich um umstrittene Unterscheidungen, deren Gültigkeit immer wieder infrage gestellt wird. Es ist fraglich, ab wann ein sich entwickelnder menschlicher Embryo beziehungsweise Fötus als ein personales Wesen mit einem Recht auf Leben zu gelten hat. Es ist fraglich, ab wann ein Mensch tot ist. Und es wird immer wieder infrage gestellt, ob es tatsächlich eine Grenze zwischen Mensch und Tier beziehungsweise Mensch und Maschine gibt. Die Grenzen des anthropologischen Quadrats existieren, insofern sie dramatisiert und als problematische Grenzziehungen inszeniert werden. Die Debatten um Todesfeststellung und die Abtreibung begleiten die Moderne ebenso wie die Debatte darum, ob es

43 Vgl. Émile Durkheim: Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral, Frankfurt a. M. 1991; Lindemann: Strukturnotwendige Kritik (Anm. 4); Niklas Luhmann: Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, 4. Aufl., Berlin 1999 (Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 24).

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möglich ist, menschenähnliche Maschinen herzustellen oder ob es tatsächlich einen qualitativen Unterschied zu Tieren gibt.44 Die dramatische Inszenierung der Grenzen des anthropologischen Quadrats schließt zugleich andere mögliche Grenzen aus, die auch im vormodernen Europa eine zentrale Rolle gespielt haben. Dazu gehört etwa die Unterscheidung zwischen Menschen und Dämonen beziehungsweise Teufeln sowie zwischen Menschen und verstorbenen Ahnen. Der vormoderne personale Seinskreis war nicht beschränkt auf Menschen, sondern schloss auch Jenseitsakteure wie Engel und Teufel oder Dämonen ein. Dies gilt für den modernen Menschen nicht mehr. Zugleich war auch der Unterschied zwischen Menschen und Tieren nicht unbedingt identisch mit der Unterscheidung zwischen denjenigen, die zur Moral fähig sind und deshalb für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden können, wie die Dokumente zu Strafverfahren gegen Tiere zeigen. Der im Übergang zur Moderne in Europa entstehende diesseitig verkörperte Mensch ist ein natürliches Wesen, das heißt seine Geburt und sein Tod sind diesseitig-natürliche Vorgänge. Nicht, dass er eine Seele hat, sondern, dass er in einem individuellen lebendigen menschlichen Körper existiert, bildet das Kriterium dafür, dass ein Mensch als Person anzuerkennen ist. Alles, was ihn zum Menschen macht, muss in dem vereinzelten dreidimensional ausgedehnten Körper gegeben sein.

IV. Fazit Mit der Ausarbeitung des anthropologischen Quadrats haben wir die modernen Grenzen des Sozialen als einen historischen Sonderfall rekonstruiert, der im Rahmen der modernen Verfahrensordnung der Gewalt ermöglicht wird. Im Rahmen dieser spezifischen Verfahrensordnung der Gewalt ist die Institution des Menschen, gleich an Freiheit und Würde, entstanden. Damit können wir erkennen, dass all diejenigen Ansätze, die vom Menschen ausgehen und diesen als frei und geschichtsmächtig ansehen, von einer historisch gebundenen Prämisse ausgehen. Auf der Grundlage dieser Einsicht können wir den modernen Anthropozentrismus reflexiv in den Blick nehmen. Wenn wir uns vom methodischen Anthropozentrismus der Moderne aller44 Vgl. hierzu insgesamt Lindemann: Strukturnotwendige Kritik (Anm. 4), Kap. 1.3.

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dings nicht reflexiv distanzieren, wird es unmöglich, nicht-moderne Vergesellschaftungsformen zu analysieren, die auch andere Akteure als menschliche Individuen kennen. Wer von modernen Prämissen ausgeht, wird notwendigerweise nicht-moderne Phänomene im Sinne des Thomas-Theorems methodisch verzerren. Erst wenn man den Menschen im Sinne einer reflexiven Anthropologie auf Abstand bringt, wird eine wissenschaftliche Erforschung von Geschichte und Gegenwart möglich.

Florian Muhle

Adressabilität und Gesellschaft Kommunikationstheoretische Überlegungen zur Bestimmung der Grenzen des Sozialen

I. Einleitung Nicht nur in der Geschichtswissenschaft, auch in der Soziologie werden die Grenzen des Sozialen traditionell eng gezogen. Das heißt, auch die Soziologie versteht sich in erster Linie als Humanwissenschaft, die es mit den Beziehungen zwischen Menschen zu tun hat, die allein als soziale Akteure infrage kommen. Diese Zentralstellung des Menschen wird in den letzten Jahren jedoch zunehmend hinterfragt. Anlass hierfür sind sowohl neuartige empirische Phänomene als auch Neujustierungen der soziologischen Theorie. Vor allem medientechnische Innovationen und hier nicht zuletzt unterschiedliche Formen künstlicher Kommunikationspartner von ›verkörperten Agenten‹1 über ›soziale Roboter‹2 bis hin zu ›smarten Assistenten‹3 scheinen nicht mehr adäquat im Rahmen etablierter Sozialtheorie erfasst werden zu können, die den Bereich des Sozialen auf 1 Vgl. Florian Muhle: Grenzen der Akteursfähigkeit. Die Beteiligung »verkörperter Agenten« an virtuellen Kommunikationsprozessen, Wiesbaden 2013; ders.: »Are you human?«. Plädoyer für eine kommunikationstheoretische Fundierung interpretativer Forschung an den Grenzen des Sozialen, in: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research 17 /1, 2016, DOI : https://doi.org/10.17169/fqs-17.1.2489. 2 Vgl. Florian Muhle: Humanoide Roboter als ›technische Adressen‹. Zur Rekonstruktion einer Mensch-Roboter-Begegnung im Museum, in: Sozialer Sinn 20 /1, 2019, S. 85-128, DOI : 10.1515/sosi-2019-0004; ders.: Sozialität von und mit Robotern? Drei soziologische Antworten und eine kommunikationstheoretische Alternative, in: Zeitschrift für Soziologie 47 /3, 2018, S. 147-163, DOI : 10.1515/zfsoz-2018-1010. 3 Vgl. Andreas Höntsch: Die technische Kontingenz der Kommunikation. Überlegungen zum Verhältnis von Technik, Kommunikation und Handlung im Anschluss an Systemtheorie und philosophische Anthropologie, in: Gesellschaft unter Spannung. Verhandlungen des 40. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2020, hg. von Birgit Blättel-Mink, (digital) 2021, https://publikationen.soziologie.de/index.php/kongressband_2020/article/ view/1382 (letzter Zugriff: 27. 2. 2022).

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den Menschen und seine Beziehungen beschränkt.4 Hierauf reagieren verschiedene sozialtheoretische Ansätze mit unterschiedlichen Strategien der Entgrenzung des Sozialen, um auf diese Weise auch Technik oder andere Entitäten als soziale Akteurinnen in den Blick nehmen zu können.5 Der vorliegende Beitrag schließt an entsprechende Debatten an, wählt aber eine andere Strategie. So werden kommunikationstheoretische Überlegungen zur Bestimmung der Grenzen des Sozialen vorgestellt, deren Grundannahme darin besteht, dass nicht einmal Menschen Teil des Sozialen sind, sondern Gesellschaft sich einzig und allein aus Kommunikationsprozessen zusammensetzt. Mit anderen Worten: In kommunikationstheoretischer Perspektive besteht die Gesellschaft nicht aus Menschen, die miteinander kommunizieren. Stattdessen wird umgekehrt davon ausgegangen, dass es Kommunikationsprozesse sind, die festlegen, wer oder was als adressabel und damit als zur Teilnahme an Gesellschaft befähigt behandelt wird. Die These des Beitrags ist es, dass eine solche kommunikations­ theoretische Bestimmung von Gesellschaft es besser als konkurrierende Ansätze ermöglicht, sich vorbehaltlos den Grenzen des Sozialen zuzuwenden, ohne sich mit problematischen Fragen über die Eigenschaften von Menschen und Maschinen beschäftigen zu müssen, die diesen vermeintlich sozialen Akteursstatus verleihen.6 Zugleich erlaubt eine kommunikationstheoretische Bestimmung der Grenzen des Sozialen, sich genauer anzuschauen, wie in (historisch) unterschied­ lichen Gesellschaftsformationen kommunikativ festgelegt wird, wer oder was (in welcher Weise) dazu gehört und wer oder was nicht. Um diese These zu plausibilisieren, wird der Beitrag im Folgenden zunächst in die sozialtheoretischen Grundlagen der hier vertretenen Kommunikationstheorie einführen und zeigen, wie aus deren Perspektive die Grenzen des Sozialen in den Blick genommen werden können (Abschnitt II ). Daran anschließend wird dargelegt, wie die skizzierte sozialtheoretische Perspektive auch auf gesellschaftstheoretischer Ebene zu interessanten Einsichten führen kann, die aufzeigen, wie unterschied-

4 Vgl. Gesa Lindemann: Das Soziale von seinen Grenzen her denken, 1. Aufl., Weilerswist 2009. 5 Vgl. Muhle: Akteursfähigkeit (Anm. 1); Muhle: Sozialität (Anm. 2). 6 Vgl. Peter Fuchs: Kommunikation mit Computern? Zur Korrektur einer Fragestellung, in: Sociologica Internationalis. Internationale Zeitschrift für Soziologie, Kommunikations- und Kulturforschung 29 /1, 1991, S. 1-30; Muhle: Sozialität (Anm. 2).

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liche Gesellschaftsformationen (historisch) spezifische »Grenzregime«7 beziehungsweise »Adressenordnungen«8 erzeugen, die Fragen der Akteursfähigkeit von Entitäten auf je besondere Weise beantworten (Abschnitt III ). Notwendigerweise werden die diesbezüglichen Ausführungen recht holzschnittartig ausfallen und erheben keinen Anspruch, der Vielfalt und Differenziertheit historisch existierender Grenzregime gerecht zu werden. Stattdessen geht es darum, eine Heuristik für die Untersuchung entsprechender Regime zu entwickeln und die Fruchtbarkeit der gewählten Perspektive zu verdeutlichen. Die Hoffnung ist, dass hiervon auch die historische Forschung zu den vormodernen Grenzen des Sozialen profitieren kann.

II. Sozialtheorie Das Alleinstellungsmerkmal der hier vertretenen Kommunikationstheorie, wie sie insbesondere von Luhmann entwickelt wurde,9 besteht darin, dass sie im Vergleich zu traditioneller Sozialtheorie den Bereich des Sozialen nicht zu erweitern versucht, sondern ihn stattdessen einschränkt.10 Denn kommunikationstheoretisch werden selbst Menschen aus der Sozialwelt ausgeschlossen, die Luhmann zufolge allein aus aufeinander Bezug nehmenden Kommunikationen besteht. In diesem Sinne stehen auch die Grenzen des Sozialen unveränderbar fest. Gesellschaft vollzieht sich, wenn sich Kommunikation ereignet. In der Konsequenz können weder Menschen und Tiere noch Roboter oder andere Artefakte Teil der Gesellschaft werden.11 Gleichwohl 7 Vgl. Lindemann: Das Soziale (Anm. 4). 8 Vgl. Rudolf Stichweh: Adresse und Lokalisierung in einem globalen Kommunikationssystem, in: Die Adresse des Mediums, hg. von Stefan Andriopoulos, Gabriele Schabacher und Eckhard Schumacher (Mediologie 2), Köln 2001, S. 25-33. 9 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 2008. 10 Die Ausführungen in diesem Abschnitt basieren auf Überlegungen, die der Autor bereits an andere Stelle publiziert hat, u. a. in Muhle: Akteursfähigkeit (Anm. 1); Muhle: »Are you human?« (Anm. 1); Muhle: Sozialität (Anm. 2). Damit verbunden sind Formulierungen in diesem Abschnitt teilweise aus genannten Publikationen übernommen. 11 Vgl. Peter Fuchs: Die archaische Second-Order-Society. Paralipomena zur Konstruktion der Grenze der Gesellschaft, in: Soziale Systeme 2 /1, 1996, S. 113-130; ders.: Von Jaunern und Vaganten. Das Inklusions / ExklusionsSchema der A-Sozialität unter frühneuzeitlichen Bedingungen und im Dritten Reich, in: Soziale Systeme 7 /2, 2001, S. 350-369.

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lässt sich die Frage nach den Grenzen der Gesellschaft und ihrer (historischen) Veränderung auch kommunikationstheoretisch stellen. Sie stellt sich nur anders, als dies in konkurrierenden Theorieangeboten der Fall ist. So geht es nicht darum zu fragen, ob und unter welchen Umständen nicht-menschliche Entitäten Teil der Gesellschaft werden können. Vielmehr ist danach zu fragen, ob und unter welchen Bedingungen diese in Kommunikationsprozessen als adressierbar behandelt werden und für Personifizierung infrage kommen. Um dies nachvollziehen zu können, ist es zunächst wichtig, den Kommunikationsbegriff Luhmanns und dessen Implikationen genauer zu betrachten.

II.1 Kommunikation als Grundbegriff Niklas Luhmann definiert Kommunikation recht abstrakt als Synthese aus drei Selektionen: Information, Mitteilung und Verstehen. Entscheidend hierbei ist, dass sich Kommunikation immer vom Ende, vom Verstehen her, organisiert und im Verstehensprozess Information und Mitteilung voneinander unterschieden werden.12 Das heißt, »im Verstehen erfaßt die Kommunikation einen Unterschied zwischen dem Informationswert ihres Inhalts und den Gründen, aus denen der Inhalt mitgeteilt wird«.13 Es wird also grundsätzlich zwischen dem, was gesagt/geschrieben/gezeigt wird (Informationswert), und dem, warum etwas gesagt/geschrieben/gezeigt wird (Mitteilungsgrund), differenziert. Dabei kann der eine oder andere Aspekt stärker betont werden. Beispielsweise ist es möglich, an die Äußerung »Schönes Wetter heute« mit »Ja, das stimmt« anzuschließen, wobei stärker der Informationswert betont wird. Die Reaktion »Eine bessere Anmache fällt dir wohl nicht ein« würde hingegen die Mitteilungskomponente stärker in den Vordergrund rücken und die Äußerung »Schönes Wetter heute« als Mitteilung »Ich möchte dich gerne ansprechen, stelle mich dabei aber ungeschickt an« interpretieren. Beide Anschlüsse wären möglich. Notwendig für das Zustandekommen von Kommunikation ist lediglich, dass in einer verstehenden Anschlussäußerung zwischen diesen beiden Komponenten unterschieden und die Mitteilung einem/einer Mitteilenden verantwortlich zugeschrieben wird. 12 Vgl. Luhmann: Soziale Systeme (Anm. 9), S. 195. 13 Niklas Luhmann: Was ist Kommunikation?, in: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, hg. von dems., Wiesbaden 1995, S. 115.

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Als kleinste Einheit des kommunikativen Prozesses erscheint demnach eine Minimalsequenz von zwei aneinander anschließenden Äußerungen. »Die Mitteilung selbst ist zunächst nur eine Selektionsofferte. Erst die Reaktion schließt die Kommunikation ab, und erst an ihr kann man ablesen, was als Einheit zustande gekommen ist«.14 Durch diese Fassung des Kommunikationsbegriffes wird zweierlei deutlich: der Unterschied zur Handlungstheorie und die Autopoiesis sozialer Systeme. So tritt zunächst die Differenz zur traditionellen Handlungstheorie offen zutage. Während diese die Einzelhandlung als Basisoperation des Sozialen begreift und sich an den Intentionen der Mitteilenden orientiert, um Handeln als sozial zu qualifizieren, wird bei Luhmann der Fokus auf das Verstehen und damit auf die Art und Weise der Relationierung von Kommunikationsbeiträgen gelegt. Intentionen werden zwar nicht ausgeschlossen, aber grundlegend anders gefasst als in Handlungstheorien. Denn es sind nun nicht mehr die Intentionen der Mitteilenden und damit der ›subjektiv gemeinte Sinn‹ von Äußerungen von Bedeutung. Vielmehr interessieren Intentionen als Zuschreibungen, die retrospektiv im Akt des Verstehens erfolgen. Damit löst sich Sozialität von den ›tatsächlichen‹ Intentionen von Menschen (oder anderen Wesen) und erzeugt eine eigenständige soziale Realität in Form sozialer Systeme. So wird auch verständlich, warum das Operieren sozialer Systeme als selbstreferenzieller Vorgang konzipiert wird. Der Systemtheoretiker Wolfgang Ludwig Schneider bringt dies auf den Punkt: Erst dadurch, dass eine zweite Mitteilung sich verstehend auf eine erste als Mitteilung einer Information bezieht, wird ein elementares kommunikatives Ereignis in der laufenden Kommunikation konstituiert. Nur so, indem nämlich eine Operation auf eine andere Operation gleichen Typs Bezug nimmt und sie dadurch als typengleiche Operation identifiziert, ist die ›selbstreferentielle‹ Konstitution eines systemzugehörigen Ereignisses möglich. Für soziale Systeme heißt dies, dass ein nachfolgendes kommunikatives Ereignis auf ein vorausgehendes referieren muss, um ihm den Status eines kommunikativen Ereignisses im Netzwerk der Kommunikation zuzuweisen.15 14 Luhmann: Soziale Systeme (Anm. 9), S. 312. 15 Wolfgang Ludwig Schneider: Wie ist Kommunikation ohne Bewusstseinseinschüsse möglich? Eine Antwort auf Rainer Greshoffs Kritik der Luhmannschen Kommunikationstheorie, in: Zeitschrift für Soziologie 37 /6, 2008, S. 472.

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Von entscheidender Bedeutung ist, dass das Verstehen, mit dem an eine vorangehende Kommunikationsofferte angeschlossen wird, in der Systemtheorie als ein kommunikatives Verstehen begriffen wird, das strikt vom psychischen Verstehen zu unterscheiden ist. Hierin liegt die Pointe des kommunikationstheoretischen Argumentes. Was immer die beteiligten Psychen denken mögen und welche Intentionen mit Gesagtem auch immer verbunden sein mögen, die tatsächlichen Gedanken und Intentionen bleiben für Kommunikation unerreichbar. Kommunikation schließt also einzig und allein an Kommunikation an, nie an Gedanken und/oder subjektive Intentionen. Diesem Verständnis nach ist die Analyse von Gesellschaft konsequenterweise immer Kommunikationsanalyse. Kommunikationstheoretiker:innen beobachten daher keine Menschen oder andere Entitäten, die in Bezug aufeinander handeln, sondern Kommunikationen, die in ihrem selbstreferenziellen Prozessieren soziale Systeme erzeugen und reproduzieren. Wie der Systemtheoretiker Peter Fuchs festhält, liegt »genau darin […] auch der Analysegewinn: Man muß nicht mehr auf das Binnenleben der Leute achten und kann sich statt dessen mit sozialen Strukturen befassen«.16 Gleichwohl ist Kommunikation auf ›Operatoren ‹ angewiesen und kommt nicht von alleine zustande. Startpunkt für soziale Systembildung ist das Problem der doppelten Kontingenz.17 Dieses Problem tritt auf, wenn (mindestens) zwei Entitäten, Ego und Alter, einander als sinnbenutzende Systeme erleben und behandeln, deren aktuelle Verhaltenswahl weder determiniert noch willkürlich ist, sondern aus einem beschränkten Pool möglicher Verhaltensweisen gewählt wird – und damit kontingent erscheint. Die Einschränkung des Möglichkeitsspielraums für Verhalten und damit die »Unsicherheitsabsorption [in der Situation doppelter Kontingenz; F. M.] läuft über die Stabilisierung von Erwartungen«,18 die auf diese Weise »Strukturwert für den Aufbau emergenter Systeme« gewinnen.19 Im Kontext der Diskussion um die Grenzen des Sozialen ist nun wichtig, dass Ego und Alter nicht zwangsläufig menschliche Individuen sein müssen. Bedingung ist nur, dass sie sich (wechselseitig) als ›Personen‹ wahrnehmen, die voneinander Erwartungen erwarten und sich entsprechend verhalten. Dabei ist im kommunikationstheore­ 16 Fuchs: A-Sozialität (Anm. 11), S. 352. 17 Vgl. Luhmann: Soziale Systeme (Anm. 9), S. 148-190. 18 Ebd., S. 158. 19 Ebd.

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tischen Verständnis eine Person kein konkreter leiblicher Mensch, sondern eine kommunikative Konstruktion bzw. ein Schema, welches hilft, Erwartungen in Bezug auf ein mögliches Verhalten des Gegenübers zu entwickeln und zu stabilisieren. In diesem Sinne setzt soziale Systembildung ein, wenn Ego und Alter einander ›personifizieren‹ und damit als für Kommunikation adressabel behandeln.

II.2 Personifizierung als kommunikative Konstruktion Personifizierung ist als ein Prozess zu verstehen, in dem Kommunikation Zurechnungspunkte für Mitteilungen errechnet und diese als für Kommunikation adressabel behandelt. Damit Kommunikation anläuft, muss »irgend jemand, irgend etwas […] ein Verhalten vorgeführt haben, an das angeschlossen werden kann, weil es als Mitteilungsverhalten zu deuten gewesen ist«.20 Wer oder was auch immer dies war, erhält in der Kommunikation eine soziale Adresse in Form der ›Person‹, die Luhmann als »individuell attribuierte Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten« begreift.21 Personen sind demnach nicht leibliche Menschen, sondern kommunikative Konstruktionen bzw. Erwartungsbündel, durch die Kommunikation Halt in ihrer Umwelt gewinnt und Anschlusswahrscheinlichkeit herstellt. Wie Luhmann festhält, können dabei »Formen und Grade der ›Personalisierung‹ sozialer Systeme« unterschieden werden.22 So bestehen in der Kommunikation unter Freunden intensivere und feiner granulierte Möglichkeiten der Personalisierung, da die individuellen Marotten der Beteiligten bekannt sind, während sich Kommunikation unter Fremden auf basale Formen der Personalisierung verlassen muss. Doch selbst in Begegnungen ›maximal Fremder‹23 können sich die Beteiligten noch auf ein 20 Peter Fuchs: Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie, in: Soziale Systeme 3 /1, 1997, S. 59. 21 Niklas Luhmann: Die Form Person, in: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, hg. von dems., Wiesbaden 1995, S. 148. Neben der Person existieren weitere Formen sozialer Adressen. Hierzu gehören neben der ›Rolle‹ auch ›Kollektivakteure‹ (s. Abschnitt III .1). In meiner Lesart stellt die Person aber die basale Form der sozialen Adresse dar, deren andere Seite die ›Un-Person‹ darstellt, die als solche auch nicht mehr adressierbar ist, vgl. hierzu ebd. 22 Luhmann: Soziale Systeme (Anm. 9), S. 155. 23 Vgl. Michael Schetsche / René Gründer / Gerhard Mayer / Ina Schmied-Knittel: Der maximal Fremde. Überlegungen zu einer transhumanen Handlungstheorie, in: Berliner Journal für Soziologie 19 /3, 2009, S. 469-491, DOI : 10.1007/s11609-009-0102-3.

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»Mindestmaß an auf Kenntnissen gegründeter Erwartungen«24 verlassen, ohne die es nicht möglich wäre, Kommunikation anlaufen zu lassen. So können hier zumindest beide damit rechnen, daß ein Lächeln als Versuch zur Signalisierung freundlicher Absichten gedeutet, bestimmte Bewegungen von Arm und Hand mit hoher Wahrscheinlichkeit als Zeigegeste wahrgenommen werden, dazu gesprochene Laute als Mitteilungsversuche zu verstehen sind, die sich auf Dinge oder Ereignisse beziehen, auf die die Hand hinweist.25 Deutlich wird damit, dass das kommunikationstheoretische Konzept der Person mit einem »Verzicht auf jede substanzialisierte Auffassung von Individuen und Akteuren [einhergeht], die als Träger bestimmter Eigenschaften die Bildung sozialer Systeme ermöglichen«.26 Stattdessen muss Personifizierung als Ergebnis einer Selbstsimplifikation der Kommunikation verstanden werden, die sich auf ihre relevante Umwelt einstellt und diese in der Form Person adressiert. Hierdurch gewinnt diese Umwelt zwar nicht an Transparenz für die Kommunikation, aber ihre Komplexität wird handhabbar. Denn als Person adressiert zu werden, ermöglicht, »am eigenen Selbst zu erfahren, mit welchen Einschränkungen im sozialen Verkehr gerechnet wird«,27 was aufseiten der als Person Adressierten dazu beiträgt, »die Überraschungsqualitäten ihres Verhaltens entsprechend vorsichtig zu dosieren«,28 da ansonsten die eigene Adressierbarkeit gefährdet werden kann. Personifizierung erzeugt damit zwar keine Sicherheit, aber immerhin Erwartbarkeit und ermöglicht so die Bearbeitung des Problems doppelter Kontingenz.29 Wenn aber Personen letztlich Ergebnis und nicht Voraussetzung von Kommunikationsprozessen sind, wird es prinzipiell auch möglich, dass Kommunikation neben Menschen (oder in der Diktion der Systemtheorie: psychischen Systemen) auch andere Entitäten in ihrer Umwelt personalisiert. In Einklang damit sieht Gunther Teubner Personifizierung 24 Luhmann: Soziale Systeme (Anm. 9), S. 155. 25 Wolfgang Ludwig Schneider: Grundlagen der soziologischen Theorie, 3. Aufl., Wiesbaden 2009 (Bd. 2, Garfinkel  – RC   – Habermas  – Luhmann), S. 259 f. 26 Luhmann: Soziale Systeme (Anm. 9), S. 155. 27 Luhmann: Form Person (Anm. 21), S. 153 f. 28 Ebd., S. 149. 29 Vgl. Luhmann: Soziale Systeme (Anm. 9), S. 148-190.

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in der Begegnung mit nicht-menschlichen Entitäten […] als eine der wirkungsvollsten Strategien [an], mit Ungewissheit umzugehen. Personifikation transformiert ein Subjekt-Objekt-Verhältnis in eine Ego-Alter-Beziehung. Insoweit erzeugt sie zwar aus Egos Sicht auch keine Gewissheit bezüglich des Alter, doch ermöglicht sie es Ego, in Situationen, in denen Alter intransparent ist, zu handeln.30 Mithilfe des Beobachtungsschemas ›Person‹ disponiert Kommunikation also auf einer fundamentalen Ebene darüber, »wer oder was als soziale Adresse infrage kommt und wer oder was nicht«.31 Entscheidend ist hierbei, dass mit Personifizierung zwar die Unterstellung einher geht, es mit einem ›Alter Ego‹ zu tun zu haben, hierfür aber zugleich nicht erforderlich ist, dass eine als Person beobachtete Entität tatsächlich auch ein intentional agierendes Subjekt ist. Denn Verstehen in Kommunikation braucht sich nicht einzulassen und kann sich nicht einlassen auf das Spiegelkabinett infiniter Innenwelten psychischer Systeme [oder anderer Entitäten; F. M.]. Es setzt zwar die Intransparenz und die Selbstreferenz des beobachteten Systems voraus, aber gleichsam nur als Quellpunkt dafür, die Unterscheidung von Information und Mitteilung ansetzen zu können.32 In der Konsequenz bedeutet dies, dass sich die Frage nach den Innenwelten psychischer, aber auch technischer oder ›animalischer‹ Systeme aus kommunikationstheoretischer Perspektive nicht stellt und auch nicht stellen sollte. Denn diese sind weder für die Beteiligten an Kommunikation zugänglich noch für soziologische oder geschichtswissenschaftliche Beobachter:innen der Kommunikation. In den Worten des Soziologen Harold Garfinkel: »there is no reason to look under the skull, for nothing of interest is to be found there but brains«.33 Stattdessen zielen kommunikationstheoretisch orientierte Analysen, die sich 30 Gunther Teubner: Elektronische Agenten und große Menschenaffen. Zur Ausweitung des Akteursstatus in Recht und Politik, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 27 /1, 2006, S. 11. 31 Fuchs: Adressabilität (Anm. 20), S. 63. Gesa Lindemann, die keine Systemtheoretikerin ist, würde diesbezüglich von der Notwendigkeit einer ›fundierenden Deutung‹ sprechen; vgl. dies.: Die Emergenzfunktion des Dritten – ihre Bedeutung für die Analyse der Ordnung einer funktional differenzierten Gesellschaft, in: Zeitschrift für Soziologie 39 /6, 2010, S. 493-511. Vgl. auch den Beitrag von Gesa Lindemann in diesem Band. 32 Fuchs: Kommunikation (Anm. 6), S. 12. 33 Harold Garfinkel: A Conception of, and Experiments with, ›Trust‹ as a

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für die Grenzen des Sozialen interessieren, darauf zu untersuchen, wie in konkreten Kommunikationsprozessen entschieden wird, wer oder was in der Umwelt der Kommunikation als adressabel zu behandeln ist und damit als Quellpunkt für soziale Systembildung infrage kommt. An einem Beispiel, das auch den Übergang zur Auseinandersetzung mit historisch und gesellschaftlich unterschiedlichen Umgangsweisen mit der Adressabilität nicht-menschlicher Entitäten markiert, soll dies verdeutlicht werden. Im Mittelpunkt des Beispiels steht ein Obstbaum, der im Unterschied zu den Vorjahren keine Früchte trägt. Diese Tatsache kann nun ganz unterschiedlich gedeutet und verarbeitet werden. Wenn das Fehlen von Früchten kausal auf einen zu trockenen Sommer zurückgeführt und hierauf mit künstlicher Bewässerung reagiert wird, deutet eine solche Anschlussaktivität auf fehlende Möglichkeiten der Personalisierung des Baumes hin. Das Fehlen der Früchte wird nicht als Mitteilung des Baumes gedeutet, sondern schlichtweg auf Wassermangel zurückgeführt. Wenn aber dieselbe Tatsache (in der vormodernen Gesellschaft) ganz anders »als Antwort [seitens des Baumes] auf eine Beschwörung oder Verfluchung genommen«34 und damit als Mitteilungshandeln interpretiert wird, sieht dies ganz anders aus. In diesem Fall findet eine Personalisierung des Baumes statt, der dann wiederum mit eigenem Mitteilungshandeln in Form von weiteren Beschwörungen oder Ritualen begegnet werden kann. In beiden Fällen zeigt die Anschlussreaktion der Menschen für soziologische und geschichtswissenschaftliche Beobachter:innen an, ob der Baum als ›Person‹ und damit als adressabel behandelt wird oder nicht.

III. Gesellschaftstheorie Personalisierungen von Pflanzen, aber auch von Tieren oder Maschinen finden auch in der modernen Gesellschaft immer wieder situativ statt. So kennen die meisten Menschen andere Menschen, die mit ihren Pflanzen oder Tieren sprechen, und haben sich auch selbst schon beim Versuch erlebt, einen ›abgestürzten‹ Rechner durch Beschwörungsformeln wieder zum Laufen zu bringen. Gleichwohl folgt hieraus nicht, dass Pflanzen, Tiere und Maschinen heute dauerhaft und gesellschaftsweit als soziale Akteure oder  – in kommunikationstheoretidition of Table Concerted Actions, in: Motivation and Social Interaction. Cognitive Determinants, hg. von O. J. Harvey, New York 1963, S. 190. 34 Fuchs: Second-Order-Society (Anm. 11), S. 120.

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scher Diktion  – als soziale Adressen behandelt werden, auch wenn dies in gegenwärtigen sozialtheoretischen (siehe Einleitung) und gesellschaftlichen Debatten durchaus gelegentlich gefordert wird.35 Stattdessen zeichnet sich die moderne Gesellschaft durch den weitgehenden Ausschluss von nicht-menschlichen Entitäten aus dem Kreis adressabler Wesen aus. Die gegenwärtigen Debatten weisen aber darauf hin, dass dieses ›moderne‹ Grenzregime möglicherweise ins Wanken gerät, was auf einen Wandel der modernen Adressenordnung und damit verbunden auch auf einen möglichen Gesellschaftswandel hinweist. Dies ist  – Stand heute  – jedoch weitgehend Spekulation. Denn noch befinden wir uns in der modernen funktional differenzierten Gesellschaft mit ihrer historisch gewachsenen Adressenordnung.36

III.1 Moderne funktional differenzierte Gesellschaft Die moderne Gesellschaft zeichnet sich – dies ist bereits angesprochen worden – dadurch aus, dass Tiere, Pflanzen und Maschinen in der Regel als nicht adressabel behandelt werden. Dasselbe gilt  – jedenfalls außerhalb des Bereichs der Religion – für jenseitige Wesen wie Götter und Geister. Als adressierbar gelten lediglich Menschen und – dies ist ein besonderes Kennzeichen der Moderne – Organisationen, die auch in spezifischer Weise Personenstatus besitzen, nämlich als ›juristische Personen‹.37 Die moderne Adressenordnung ist dabei systematisch mit 35 Zu denken wäre hier etwa an Forderungen nach Menschenrechten für Menschenaffen (vgl. https://www.greatapeproject.de/greatapeproject/ [letzter Zugriff: 21. 1. 2022]) oder Überlegungen innerhalb der EU zur Einführung eines rechtlichen Status als »elektronischer Person« für Roboter (vgl. https:// www.europarl.europa.eu/doceo/document / A-8-2017-0005_DE .html [letzter Zugriff: 21. 1. 2022]). 36 In der Systemtheorie ist die Unterscheidung unterschiedlicher Gesellschaftsformationen (segmentäre, stratifizierte und funktional-differenzierte Gesellschaften) eng mit evolutionstheoretischen Annahmen verknüpft. Damit verbunden ist häufig auch eine Art ›Fortschrittsvorstellung‹, der zufolge die moderne Gesellschaft besonders komplex sei, segmentäre Gesellschaften dagegen ›primitiv‹. Einer solchen Lesart schließt sich dieser Beitrag nicht an. Stattdessen betrachtet er die Adressenordnungen verschiedener Gesellschaften grundsätzlich als funktional äquivalent. Es handelt sich – in den Begriffen des Ethnologen Descola – schlichtweg um unterschiedliche »Ontologien«, in welchen die Beziehungen zwischen Menschen sowie zwischen Menschen und ihrer pflanzlichen, tierischen und materialen Umwelt jeweils spezifisch geregelt sind; vgl. Philippe Descola: Jenseits von Natur und Kultur, Berlin 2011. 37 Teubner: Elektronische Agenten (Anm. 30), S. 5. Juristische Personen entstehen bereits im Mittelalter. Erst in der modernen funktional differenzierten

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der Struktur der modernen Gesellschaft als funktional differenzierter Gesellschaft verknüpft und scheint eng mit der modernen Institution der Menschenrechte verbunden zu sein.38 Diese stellt sicher, dass Menschen  – anders als in vorangegangenen Gesellschaftsformationen – universell als soziale Adressen behandelt werden und einen besonderen Status erhalten, der sie von anderen (Lebe-)Wesen unterscheidet. Als wichtige Bedingung der Herausbildung der modernen Gesellschaft erscheint insbesondere die Aufgabe einer »allgemein verbindliche[n] Jenseitsorientierung«39 und damit verbunden die »Institutionalisierung des freien, diesseitigen lebendigen Menschen«,40 der in seiner Einzigartigkeit Anerkennung findet. Diese generalisierte Anerkennung des Menschen als je einzigartig und genau hierin allen anderen Menschen gleich erscheint deshalb als Bedingung funktionaler Differenzierung, weil sie ermöglicht, dass Menschen nun anders als in der stratifizierten Gesellschaft des Mittelalters »in gleicher Weise für beliebige Interaktionen mobilisiert werden können«.41 Zugleich schützen die Menschenrechte die solchermaßen freien und mobilisierbaren Menschen vor dem Komplettzugriff durch einzelne Funktionssysteme. Denn sie »garantieren, dass kein einzelnes System den Menschen als Ganzes vereinnahmt. Dadurch wird der Mensch in Differenz gesetzt zu den einzelnen Funktionssystemen, er kann eine individuelle Persönlichkeit entwickeln und an allen Funk­ tionssystemen partizipieren«.42 Mit anderen Worten: Die Menschenrechte garantieren die universelle Adressabilität des Menschen, was überhaupt erst die Teilnahme an unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionskontexten gestattet. Zugleich schützen die Menschenrechte aber auch vor ›totaler‹ Vereinnahmung und bewahren dadurch nicht nur die Freiheit menschlicher Individuen, sondern ermöglichen dauerhaft funktionale Differenzierung, die auf diese Weise gegen Totalisierungstendenzen einzelner Funktionssysteme abgesichert wird.43 Gesellschaft bildet jedoch nahezu jedes Funktionssystem eigene Organisationen aus, die den Status juristischer Personen erhalten. 38 Gesa Lindemann: Gesellschaftliche Grenzregime und soziale Differenzierung, in: Zeitschrift für Soziologie 38 /2, 2009, S. 94-112. 39 Ebd., S. 100. 40 Ebd., S. 102. 41 Ebd., S. 103. 42 Ebd. 43 Dies ist natürlich eine Idealbeschreibung, die in der empirischen Realität in der Form nur begrenzt stimmt. Es besteht kein Zweifel, dass die Menschenrechte heute auf der Welt massiv verletzt werden und selbst im europäischen ›Zentrum‹ der funktional differenzierten Gesellschaft gegenwärtig

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Im Zusammenhang mit der Etablierung funktionaler Differenzierung differenziert sich die moderne Adressenordnung weiter aus. So setzen sich in Funktionssystemkontexten rollenförmige Adressierungen durch, die in Einklang mit der Institution der Menschenrechte die Adressierten nicht ›total‹ beanspruchen, sondern nur in spezifischen, in den jeweiligen Rollen festgelegten Weisen. Zudem können diese Rollen beim Verlassen funktionssystemspezifischer Kommunika­ tionskontexte wieder abgestreift werden, sei dies nach Feierabend beim Verlassen des Büros oder beim Verlassen des Einkaufszentrums, wenn man nicht mehr als Angestellte:r oder Kund:in nach Hause radelt, sondern als Individuum. Mit anderen Worten: »die Einheit der schichtgebundenen Adresse des Mittelalters [wird in der Moderne ge] sprengt. Sie wird fragmentarisiert«.44 Zugleich bilden Funktionssysteme eigene Kommunikationszusammenhänge in Form von Organisationen aus, deren Aufgabe darin besteht, dauerhaft die Funktionserfüllung in den jeweiligen gesellschaft­ lichen Bereichen zu gewährleisten – sei dies nun Erziehung, Wirtschaft, Wissenschaft oder Religion.45 Entsprechende Organisationen nehmen in kommunikationstheoretischem Verständnis »die soziale Realität eines Kollektivakteurs«46 an, da sie über eigene Entscheidungsstrukturen verfügen und damit verbunden »Bindungseffekte für das Sozialsystem«47 auslösen, die nicht mehr auf das Handeln einzelner Individuen zurückführbar sind. Entsprechend erhalten Organisationen den Status juristischer Personen48 und kommen damit verbunden ebenso wie menschliche Individuen »als Mitteilungshandelnde infrage, eben als responsible beings, denen Verantwortung unterstellt werden kann«.49 Die moderne Gesellschaft zeichnet sich damit durch eine zugleich komplexe und weitgehend stabile Adressenordnung aus, in der sowohl tendenzen und Menschenrechtsverletzungen erkennbar sind. Diese lassen sich aber einerseits als Versuche einer Beseitigung funktionaler Differenzierung (etwa Einschränkungen von Pressefreiheit und sexueller Freiheiten) und andererseits als Verstoß gegen das eigene Selbstverständnis deuten und kritisieren. 44 Fuchs: A-Sozialität (Anm. 11), S. 353. 45 Niklas Luhmann: Interaktion, Organisation, Gesellschaft, in: Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, hg. von dems., 5. Aufl., Wiesbaden 2005, S. 9-24. 46 Teubner: Elektronische Agenten (Anm. 30), S. 4. 47 Ebd. 48 Vgl. ebd. 49 Peter Fuchs: Die Unbeeindruckbarkeit der Gesellschaft. Ein Essay zur Kritikabilität sozialer Systeme, in: Kritische Systemtheorie. Zur Evolution einer normativen Theorie, hg. von Marc Amstutz und Andreas Fischer-Lescano (Sozialtheorie), Bielefeld 2013, S. 107.

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Abb. 1: Adressenordnung der modernen Gesellschaft; eigene Abbildung

individuelle als auch kollektive Akteure als Adressen für Kommunikationsprozesse infrage kommen. Eine Besonderheit liegt zudem darin, dass die soziale Adresse der Person in der modernen Gesellschaft anders als in vorangegangenen Gesellschaftsformationen einerseits genera­ lisiert allen Menschen zukommt, andererseits nur in ›lebenswelt­lichen‹ Kontexten aktiviert wird. In Funktionssystemkontexten werden Menschen dagegen nicht als Personen, sondern als Rollenträger:innen adressiert.50 Abbildung 1 visualisiert entsprechend schematisch die moderne Adressenordnung.

III. 2 Vormoderne, stratifizierte Gesellschaften Wie oben angedeutet, haben einschneidende gesellschaftliche Transformationen zur Herausbildung der modernen Gesellschaft und ihrer Adressenordnung geführt. Wichtiger Bestandteil dessen war die Durchsetzung einer ›Diesseitsorientierung‹ und damit verbunden eine Freisetzung der Individuen aus einer zuvor als von göttlicher Seite vorherbestimmt wahrgenommenen festen gesellschaftlichen (Rang-)Ordnung. In systemtheoretischer Einstellung erfolgte damit eine Umstellung von einer primär stratifizierten Gesellschaftsformation zur 50 Auch dies ist wieder eine Idealbeschreibung. Selbstverständlich schimmert auch in funktionssystemspezifischer Kommunikation immer wieder die Person durch und steht gegebenenfalls gar in Spannung zur Rolle. Die Unterscheidung von Rolle und Person kann entsprechend analytisch in Stellung gebracht werden, um Spannungsmomente zwischen personalen und rollenförmigen Erwartungen in den Blick zu bekommen oder auch Veränderungen der Relevanz von Personalität in Funktionskontexten.

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funktionalen Differenzierung, die sich auch in einer Umstellung der Adressenordnung ausdrückt. So scheint für die vormoderne stratifizierte Gesellschaft (zumindest in Europa) charakteristisch gewesen zu sein, dass diese nicht auf der universellen Vorstellung freier und gleicher Menschen beruhte, sondern eine »Ordnung der Ungleichen«51 war. Dies bedeutet, dass die Möglichkeiten der Lebensführung von Menschen eng an »Schichtzugehörigkeit [gebunden waren], die ihrerseits über Familienzugehörigkeit geregelt«52 wurde, weshalb »Allgemeinadressen […] wie Ritter, Bauer, Bettelmann und Mönch«53 besondere Bedeutung zukam.54 Entsprechende Allgemeinadressen dienten gleichsam als ›totale‹ Platzanweiser und damit verbunden zugleich der Durchsetzung der ›göttlichen Ordnung‹ der stratifizierten mittelalterlichen Gesellschaft. Eine Folge hiervon war aber, dass eine solche Adressenordnung »Ausreißer nicht dulden kann, ohne die Legitimationsbasis zu verlieren, mit der sie sich arrangiert hat«.55 Abweichungen mussten schließlich als Verstoß gegen die göttlich verfügte (Sozial-) Ordnung der Welt begriffen werden, worauf mit dem Verlust der Adressabilität reagiert werden konnte. Im Extremfall bedeutete dies »Verlust der Ehre und der Rechtsfähigkeit, der zur Eliminierung des Körpers führen kann«.56 Dies galt sowohl für Individuen wie Schwerverbrecher, »Ketzer« oder »Hexen« als auch für ganze Gruppen.57 Zu denken ist hier nur an die zahlreichen Pogrome gegen jüdische Menschen im Zusammenhang mit Pestausbrüchen im 14.  Jahrhundert, für die an vielen Orten jüdische Menschen als angebliche ›Brunnenvergifter‹ verantwortlich gemacht wurden.58 51 Peter Fuchs: Weder Herd noch Heimstatt – Weder Fall noch Nichtfall. Doppelte Differenzierung im Mittelalter und supplementäre Inklusion in der Moderne, in: Konturen der Moderne. Systemtheoretische Essays 2, hg. von Marie-Christin Fuchs (Sozialtheorie 2), Bielefeld 2005, S. 130. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Peter Fuchs nimmt in diesem Zusammenhang an, dass »die Kommunikationsformen des Mittelalters keine individuellen Adressen erzeugt« haben und personale Identität aus der Familienzugehörigkeit abgeleitet wurde; ebd. Die historische Forschung geht allerdings sehr wohl davon aus, dass es auch im Mittelalter Individualadressen gab. Nichtsdestotrotz bleibt die an Standeszugehörigkeit gebundene Adressabilität ein zentrales Kennzeichen des Mittelalters. 55 Ebd., S. 132. 56 Ebd., S. 135. 57 Ebd. 58 Klaus Bergdolt: Die Pest und die Juden. Mythen, Fakten, Topoi, in: Aschkenas 29 /1, 2019, S. 43-62, DOI : 10.1515/asch-2019-0004.2019.

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Die Adressenordnung der Vormoderne war also eine gestufte Ordnung, in der den Menschen feste Plätze zugewiesen wurden. In Einklang damit herrschten  – anders als heute  – Vorstellungen »einer in sich gestuften ›Menschheit‹«59 vor, was auch bedeutet, dass teilweise nur ein gradueller Unterschied zwischen Mensch und Tier angenommen wurde. Exemplarisch unterschied der Philosoph Christian Thomasius noch im späten 17.  Jahrhundert drei Typen von Menschen: Unvernünftige (oder ›Bestien‹), tugendhafte Menschen und gottseelige Christen.60 Auffällig ist hierbei, dass entsprechende Dreiteilungen »den Begriff des Menschen immer in einer Mittellage ansiedeln. Es gibt eine Bestialität darunter und einen transzendenten Status darüber«.61 Damit einher geht die Möglichkeit des Aufstiegs durch ein gottgefälliges Leben, aber eben auch die Gefahr eines Abstiegs, wie dies in den Möglichkeiten des Verlustes der Adressabilität in der mittelalterlichen Adressenordnung anklingt. Gerade mit Blick auf die unterste Stufe des Menschseins, die »Bestialität«, klingt die nur graduelle Differenz von Mensch und Tier deutlich an, mit der zusammenhängend auch Zwischenzustände und Übergänge von Mensch und Tier denkbar sind.62 So gelangen im Mittelalter zeitgenössische europäische Beobachter zu unterschiedlichen Antworten auf die Frage, ob etwa Pygmäen der Menschheit zuzurechnen sind oder nicht.63 Zugleich halten sich bis ins 19.  Jahrhundert hinein Vorstellungen einer im Menschen angelegten Bestialität,64 die sich beispielsweise auch in den Schriften Immanuel Kants finden, der von einer »Tierheit des Menschen«65 ausgeht, die erst durch Erziehung diszipliniert werden müsse.66 59 Rudolf Stichweh: Fremde, Barbaren und Menschen. Vorüberlegungen zu einer Soziologie der ›Menschheit‹, in: ders., Der Fremde. Studien zu Soziologie und Sozialgeschichte, hg. von dems., Frankfurt a. M. 2010, S. 34. 60 Ebd. Ähnliche Dreiteilungen fanden sich schon in antiken Hochkulturen; vgl. ebd., S. 30. 61 Ebd, S. 34. 62 Ebd., S. 35. 63 Fuchs: Second-Order Society (Anm. 11), S. 117. 64 Stichweh: Fremde (Anm. 59), S. 34. 65 Jörg Zirfas: Immanuel Kant. Zum pädagogischen Orientierungswissen einer Pragmatischen Anthropologie, in: Zeitschrift für Pädagogik 53 (52. Beiheft), 2007, S. 33-44; hier S. 36, DOI : 10.25656 /01:7857. 66 In diesem Sinne verwundert nicht, dass es im europäischen Mittelalter auch zur Animalisierung nicht-christlicher Menschen kommt, insbesondere wenn es sich um Gegner handelt. Entsprechende Varianten der De-Humanisierung gibt es gerade in Kriegszeiten zweifellos auch in der Moderne. Hier stellt dies aber erkennbar einen Verstoß gegen Leitvorstellungen der modernen Gesellschaft dar.

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Umgekehrt erlaubt die unscharfe Grenzziehung zwischen Mensch und Tier offensichtlich auch, dass zumindest partiell neben Menschen auch Tiere für Kommunikation adressabel werden können. So stellt Gesa Lindemann mit Bezug auf rechtshistorische Forschung heraus, dass in den Gebieten des ehemaligen west- und ostfränkischen Reiches zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert regelmäßig Strafprozesse gegen Tiere stattfanden, die »im gleichen Sinne wie Menschen als schuldfähige Subjekte galten«67 und entsprechend als adressable soziale Personen behandelt wurden.68 Dies galt aber nicht immer und überall und es existierte offenbar »für einige Jahrhunderte keine eindeutige Klarheit darüber, bei welchen Entitäten von einem freien Willen auszugehen wäre«.69 In der Folge oblag es den lokalen Autoritäten, hierüber zu disponieren: »Die Grenze wurde von der Spitze der Hierarchie ausgehend gezogen, aus dem Zentrum einer hierarchisch geordneten Welt«.70 Die Adressenordnung der stratifizierten Gesellschaft war also nicht nur gestuft. Darüber hinaus wurden die Grenzen der Adressabilität noch nicht eindeutig gezogen. Menschen konnten ihre Adressabilität verlieren, bei manchen Menschen war umstritten, ob diese tatsächlich der Menschheit zuzurechnen sind, und zusätzlich war es möglich, dass (Haus-)Tiere den Status sozialer Adressen erlangen konnten. Dies hielt sich bis in die Moderne hinein und erst im Laufe des 18.  Jahrhunderts setzte sich »zunehmend die Gewissheit durch, dass nur Menschen einen freien Willen haben, dieser aber auch zumindest dem Grundsatz nach allen Menschen zukommt«.71

III. 3 Segmentäre Gesellschaften Während in stratifizierten Gesellschaften die Adressabilität von Tieren partiell nicht ausgeschlossen war, scheint diese für (zahlreiche) segmentäre Gesellschaften geradezu konstitutiv zu sein. Doch nicht nur Tiere, auch Dinge und Pflanzen werden in verschiedenen segmentären Gesellschaften personifiziert. Hierauf weisen anthropologische Forschungen hin, die in der Diskussion um die Grenzen des Sozialen

67 Lindemann: Gesellschaftliche Grenzregime (Anm. 38), S. 106. 68 Ebd. Vereinzelt gab es auch Kirchenprozesse gegen Tiere, allerdings in einem sehr viel kürzerem Zeitraum. 69 Ebd., S. 107. 70 Ebd., S. 108. 71 Ebd., S. 107.

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gerne zitiert werden.72 Segmentär differenziert sind nach Luhmanns Auffassung vor allem ›archaische Gesellschaften‹,73 die sich durch ihre lokale Begrenztheit auszeichnen, weshalb auch verschiedene segmentäre Gesellschaften mit je eigenen Strukturen parallel zueinander existieren. Gemeinsam haben segmentäre Gesellschaften aber weithin, dass es sich bei ihnen um orale und weitgehend egalitäre Gesellschaften handelt, die über Verwandtschaftsbeziehungen zusammengehalten werden.74 Charakteristisch für segmentäre Gesellschaften ist zudem, dass in ihnen »das Recht im Ahnenkult, also im ›Gehorsam gegenüber den toten (und als Toten mächtigen) Vätern‹ vergegenwärtigt wird«.75 Damit verbunden, nehmen die Ahnen eine zentrale Stellung für segmentäre Gesellschaften ein. Denn von ihnen »erwartet das lebende Geschlecht Heil oder Unheil, Segen oder Fluch, ihnen bringt man Opfer dar, sie ruft man in allen Krisenzeiten an«.76 Die Schwierigkeit hierbei ist allerdings, dass die Ahnen und ihre Mitteilungen nicht gegenwärtig und damit auch nicht unmittelbar erfahrbar sind. Entsprechend stehen segmentäre Gesellschaften vor der praktischen Herausforderung, Kommunikation mit Ahnen zu ermöglichen, um deren Hilfe erbitten oder sie in Krisenzeiten besänftigen zu können. Wie Peter Fuchs annimmt, gelingt dies mithilfe »einer Generalisierung von Personalität«77 und damit verbunden einer Generalisierung von Adressabilität in ihrer Umwelt. Das heißt, segmentäre Gesellschaften entwickeln je eigene ›Attributionstechniken‹,78 die es ermöglichen, »jedes Ereignis, von wem und was immer ausgelöst, als Verhalten [zu] deuten und mit doppelter Kontingenz«79 auszustatten.80 72 Thomas Luckmann: Über die Grenzen der Sozialwelt, in: ders., Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, Paderborn u. a. 1980, S. 56-92; vgl. Descola: Jenseits (Anm. 36). 73 Vgl. Niklas Luhmann: Systemtheorie, Evolutionstheorie und Kommunikationstheorie, in: Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, hg. von dems., Opladen 1975, S. 193-203. 74 Thomas Götzelt: Götter, Herren und Verwandte. Frühe mesopotamische Sozialsysteme und ihre Umwelten, in: Soziale Systeme 13 /1-2, 2007, S. 149159; hier S. 155, DOI : 10.1515/sosys-2007-1-214. 75 Ebd. 76 Rüdiger Schott: Das Geschichtsbewusstsein schriftloser Völker, in: Archiv für Begriffsgeschichte 12, 1968, S. 166-205; hier S. 172. 77 Fuchs: Second-Order Society (Anm. 11), S. 122. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Fuchs’ Formulierung klingt ein wenig so, als ob in segmentären Gesellschaften gleichsam beliebig verschiedenen Entitäten Adressabilität verliehen wird. Dies ist sicher nicht der Fall. Denn selbstverständlich bieten unterschiedliche Gesellschaften ihre je eigenen Adressenordnungen aus, in denen dann

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Im Vergleich zur funktional differenzierten sowie zur stratifizierten Gesellschaft weisen segmentäre Gesellschaften damit eine höhere Offenheit für die Zuschreibung von Adressabilität an nicht-menschliche Entitäten auf. Damit geht insgesamt eine höhere Sensibilität für Umweltereignisse einher, die »reiche Strukturbildungs- und damit Lebensvariationsmöglichkeiten«81 eröffnet.82 In der Konsequenz können so etwa in der »Kultur von Dobu, einer Insel im Westpazifik«,83 Yams-Wurzeln zu sozialen Akteuren werden, während bei den Tallensi in Ghana »auch ein Krokodil […] als Inkarnation eines Ahnen gesehen werden und dann auch Personalität zugesprochen bekommen [kann]«.84 In segmentären Gesellschaften können demnach nicht alle Menschen damit rechnen, als adressabel behandelt zu werden. Dies gilt insbesondere für ›Fremde‹, bei denen es »durchaus eine offene und entscheidungsbedürftige Frage«85 ist, ob es sich bei ihnen um Menschen (oder Götter oder Ahnen) und damit um soziale Akteure handelt oder ob sie anders zu klassifizieren sind. Zugleich sehen viele Gesellschaften in Abhängigkeit von ihren »Relevanzmustern«86 Möglichkeiten der Adressierung und Personalisierung nicht-menschlicher und jenseitiger Wesen vor. Mit diesen Möglichkeiten gehen zugleich höhere Anforderungen im Blick auf die Verstehenskomponente von Kommunikation [einher]: Die Mitteilungen von Informationen durch nichtmenschliche Prozessoren können nämlich kaum durch Rückfrage, durch Korrekturprozesse, durch Metakommunikation validiert werden. Man kann nicht ohne weiteres prüfen, was ein Gott meint, wenn der Rauch eines Opferfeuers nach Süden weht, das Eingeweide eines Opfertieres mit gelben Flecken übersät ist, im Mageninhalt sich eine halbverdaute Maus befindet […]. Erforderhend stabil gehalten wird, welche Entitäten als adressabel behandelt werden. Im Vergleich mit anderen historischen Gesellschaftsformationen fällt dennoch die insgesamt höhere Offenheit segmentärer Gesellschaften für die Personifizierung nicht-menschlicher und auch nicht-diesseitiger Wesen auf. 81 Ebd. 82 Dies bedeutet, dass segmentäre Gesellschaften keineswegs ›primitive‹ Gesellschaften sind. Vielmehr erscheinen sie als hochgradig komplexe Gesellschaften mit einer hohen Sensibilität für Umweltphänomene. In diesem Sinne scheinen – so beschreibt es Peter Fuchs – Prozesse der Kolonisierung viele bis dahin segmentär organisierte Gesellschaften mit »rüder Unterkomplexität« (ebd.) überzogen zu haben. 83 Luckmann: Grenzen der Sozialwelt (Anm. 72), S. 80. 84 Stichweh: Fremde (Anm. 59), S. 28. 85 Ebd., S. 27. 86 Luckmann: Grenzen der Sozialwelt (Anm. 72), S. 87.

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lich wird eine Deutungskunst, die die Differenz von Mitteilung und Information unter solchen Bedingungen noch zu beobachten versteht, eine Hermeneutik unter Bedingungen der Oralität, die für das Aufbewahren standardisierter Formen des Umgangs mit der Selbstreferenz von Nichtmenschen Sonderroutinen entwickeln muß.87 Wie Peter Fuchs mutmaßt, liegt genau in diesem Erfordernis des Entwickelns von Sonderroutinen für den Umgang mit nicht-menschlichen Prozessoren von Kommunikation zugleich der Anfang vom Ende segmentärer Differenzierung begründet. Denn viele Gesellschaften reagieren hierauf mit der Ausdifferenzierung von Sonderrollen,88 etwa in Form von Schaman:innen, Seher:innen oder Priester:innen.89 Alle anderen Angehörigen segmentärer Gesellschaften werden parallel hierzu »mehr und mehr von Aufmerksamkeitsnotwendigkeiten entlastet«90 und gewinnen hierdurch »Zeit für andere Engagements, für Landgewinn und Krieg und für Verwaltung«.91 Genau dies  – so zumindest Fuchs’ Vermutung  – scheint der Startpunkt für eine Stratifizierung früher Gesellschaften zu sein, in dessen Folge sich auch die gesellschaftliche Adressenordnung zu verändern beginnt (vgl. Abschnitt III .2).

IV. Schluss Ziel des vorliegenden Beitrags war es, eine kommunikationstheoretische Perspektive auf die Grenzen des Sozialen vorzustellen und deren heuristische Fruchtbarkeit für die Analyse historisch differenter Adressenordnungen aufzuzeigen. Dabei sollte eine Differenz zwischen kommunikationstheoretischer Bestimmung der Grenzen des Sozialen und historisch beobachtbaren Adressenordnungen deutlich geworden sein. Denn für alle Gesellschaften gilt, dass sie in je eigener Weise darüber disponieren, wer oder was als adressabel behandelt wird, sodass in der einen Gesellschaft Yams-Wurzeln zweifellos als soziale Akteure gelten, während vielleicht in einer anderen ›nächsten Gesellschaft‹92 von Menschen selbst erschaffene Roboter adressabel werden. 87 Fuchs: Second-Order Society (Anm. 11), S. 121. 88 Vgl. Nadir Webers Beitrag in diesem Band. 89 Fuchs: Second-Order Society (Anm. 11), S. 126; vgl. auch den Beitrag von Matthias Pohlig in diesem Band. 90 Fuchs: Second-Order-Society (Anm. 11), S. 126. 91 Ebd. 92 Vgl. Dirk Baecker: Who Qualifies for Communication? A Systems

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Mit Blick auf die gesellschaftlich und historisch spezifischen Festlegungen von Adressabilität zeigt sich bei genauerem Hinschauen auch, dass verschiedene Gesellschaften hierfür ganz unterschiedliche Kriterien aufstellen. So scheint in der Moderne die Frage der Bewusstseinsfähigkeit zentral, um zu entscheiden, ob manche Tiere oder Maschinen soziale Adressen erhalten sollten.93 Die Frage der Eigenschaften von Entitäten ist also für historisch situierte Akteure und ihre Attribuierungen von Adressabilität von zentraler Bedeutung und kann und sollte nicht negiert werden. Gerade deshalb  – so das hier vertretene Argument  – bietet sich für die (historisch) vergleichende Auseinandersetzung mit den Grenzen des Sozialen eine kommunikationstheoretische Analyseperspektive an, die davon absieht, Adressabilität an Eigenschaften von Entitäten zu binden. Denn dies ermöglicht erst eine distanzierte Beobachtungsperspektive, die in den Blick nehmen kann, wie historisch unterschiedliche Gesellschaften die Attribuierung von Adressabilität je spezifisch realisieren (und an bestimmte Kriterien binden), ohne sich selbst die einen oder anderen Kriterien zu eigen machen zu müssen.94 Mit anderen Worten: Indem kommunikationstheoretisch die Grenzen von Sozialität (entlang der Unterscheidung von Kommunikation und Nichtkommunikation) stabil gehalten werden,95 wird es möglich, ergebnisoffen und vergleichend zu untersuchen, wie verschiedene Gesellschaftsformationen die Möglichkeiten der Beteiligung an Kommunikation und damit die Adressabilität von Entitäten in der Umwelt der Kommunikation je spezifisch variieren. Mir scheint dies auch für eine historisch orientierte Forschung, die sich für die Grenzen des Sozialen in der Vormoderne und im Übergang zur Moderne interessiert, ein erfolgversprechender Zugang zu sein.

tive on Human and Other Possibly Intelligent Beings Taking Part in the Next Society, in: Technikfolgenabschätzung. Theorie und Praxis 20 /1, 2011, S. 17-26. 93 In diesem Sinne entspricht die soziologische Handlungstheorie voll und ganz dem modernen Grenzregime. 94 Vgl. Fuchs: Kommunikation (Anm. 6), S. 1-30: Wie Peter Fuchs eindrücklich formuliert, würde eine solche Festlegung von (Seins-)Eigenschaften von Menschen oder anderen Entitäten »auf eine fatale, Emotionen aufpeitschende Weise in die Irre« führen, da man in der Folge Differenzen zwischen Menschen und anderen Wesen entweder »ausschließen oder behaupten« müsse; ebd., S. 8. Der Clou der kommunikationstheoretischen Betrachtung liegt darin, dieses Dilemma zu umschiffen. 95 Vgl. Fuchs: Second-Order Society (Anm. 11), S. 122.

Stefan Willer

Hirten Bukolische Kommunikationen (mit Huftieren) Die Bukolik ist eine Dichtungstradition, deren Bedeutung für die europäische Literatur und Kultur kaum überschätzt werden kann. Ihrem Personal und Gegenstandsbereich nach ist sie in der Welt der Hirten angesiedelt (gr. »boukolos«, Kuhhirt), wobei die grundlegende Annahme oder Verabredung darin besteht, dass die Hirten selbst es sind, die dichten und singen. Speziell in der vormodernen Gattungsreflexion findet sich oft die Behauptung, Hirtendichtung sei schlechthin ursprünglich, weil es keinen älteren Stand als den der Hirten gebe.1 Bukolik wäre demnach Dichtung des Anfangs, sei es unmittelbar in Form von Hirtengesängen, sei es in einfacher Vermittlung als mime­ tische Nachahmung dieser Gesänge. Gegen solche Ursprungs- oder Simplizitätsbehauptungen spricht der literaturgeschichtliche Befund, dass die Bukolik eine relativ späte Gattung ist, die erst nach den Epen, Tragödien, Komödien und den hymnischen Formen der Lyrik erscheint. Ihr erster Vertreter, Theokrit, war ein alexandrinischer poeta doctus; das von ihm ins Werk gesetzte Hirtenleben ist kunstvoll verfertigt und kompiliert. Vergil als der erste namhafte Bukoliker der ­römischen Dichtung hat ihn an Raffinesse und Komplexität nochmals überboten. In diesem Verständnis ist die Bukolik von Beginn an ein Phänomen der Hochkultur. Ob man nun aber ein vorgängiges Hirten-Dichtertum annimmt oder eine immer schon metaliterarisch veranstaltete Hirten-Maskerade: In beiden Fällen stellt sich die Frage, warum überhaupt die Hirtenexistenz über Jahrhunderte hinweg ein solches kulturelles Faszinosum darstellte. Um diese Frage vielleicht nicht beantworten, aber doch etwas präziser stellen zu können, möchte ich im vorliegenden Beitrag der Überlegung nachgehen, dass Hirten in der Bukolik als liminale Sozialfiguren auftreten, das heißt als Figuren, an denen auf spezifische Weise verhandelt wird, wo die Grenzen des Sozialen verlaufen. Zu 1 Schon in der hellenistischen Philologie wurden »verschiedene mythische Figuren als Urheber der Gattung« beansprucht, darunter auch »göttliche Hirten«, so Gerhard J. Baudy: Hirtenmythos und Hirtenlied. Zu den rituellen Aspekten der bukolischen Dichtung, in: Poetica 25, 1993, S. 282-318; hier S. 282.

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dieser Grenzbestimmung gehört zunächst die Distanz zur sonstigen menschlichen Gesellschaft. Sie betrifft den marginalen Status der Hirten aufgrund ihrer nomadischen Arbeits- und Lebensweise. Indem sie sich außerhalb der Siedlungen bewegen – im nahen Randbereich oder weit jenseits davon –, sind sie sozial ungeschützt, aber auch ungebunden. Sie führen vor Augen, dass es selbst dort, wo sich Sesshaftigkeit weitgehend durchgesetzt hat, Alternativen dazu gibt. Liminale Sozialfiguren sind Hirten in der Bukolik aber nicht nur in solchen Distanznahmen und Abgrenzungen, sondern auch aufgrund der spezifischen Gemeinschaften, innerhalb derer sie dargestellt werden. Diese Gemeinschaften konstituieren sich aus zwei unterschiedlichen Gruppen: einerseits aus anderen Hirten, andererseits aus den Tieren der zu beaufsichtigenden Herden. In der Forschung wird Ersteren deutlich mehr Aufmerksamkeit zuteil als Letzteren, wenngleich unübersehbar ist, dass in bukolischen Dichtungen nicht nur Hirten, sondern auch Schafe, Ziegen und Kühe in beträchtlicher Anzahl vorkommen, seltener auch Hütehunde oder Raubtiere, die die Herden bedrohen. Wie das Verhältnis der menschlichen zu den nicht-menschlichen Akteuren beschaffen ist und ob es sich bei Letzteren überhaupt um Akteure handelt, ist im Folgenden zu diskutieren. Da diese Diskussion im Rahmen einer Verständigung über die ›Kommunikation mit nicht-menschlichen Akteuren‹ geführt wird, sind die in der Bukolik entworfenen Gemeinschaften besonders im Hinblick auf ihre Kommunikationsstrukturen interessant. Kommunikation wird dabei verstanden als soziales Geschehen, in dem durch zeichenhafte, vorwiegend sprachliche Mitteilungen Gemeinsamkeit entsteht und verstärkt wird.2 Für die Beschäftigung der Hirten miteinander ist das fraglos der Fall. Dafür spricht bereits das poetische Grundmodell des Wechselgesangs, das schon Theokrit mit Vorliebe in der Form des sängerischen Wettstreits ausgestaltet. In den Hirtendichtungen der Frühen Neuzeit werden daraus fiktional komplexe Interaktionen, durch die sich auch die Gleichsetzung von Hirten und Dichtern verkompliziert. Umso mehr Aufmerksamkeit wird auf die Ausprägungen bukolischer Kommunikation gerichtet, auch auf der Ebene der literarischen Kultur, wenn sich zum Beispiel literarische Gesellschaften des 17. Jahrhunderts in spielerischen Arrangements als Kollektive von Schäferinnen und Schäfern verstehen. Ab dem 18. Jahrhundert stehen demgegenüber Hirtenfiguren mehr und mehr für das 2 Siehe zum Kommunikationsbegriff und seinem Zusammenhang mit Sozialität die Einleitung dieses Bandes.

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Konzept einer institutionell ungebundenen, ungekünstelten Kommunikation. Dieses Konzept findet sich noch in gegenwärtigen literarischen Entwürfen einfachen Lebens, die oft mit ästhetischen Programmen der Unverstelltheit und Authentizität einhergehen. Inwiefern wird nun in der Hirtendichtung auch mit den zu hütenden Huftieren kommuniziert, und was bedeutet dabei die Präposition mit? Das Spektrum reicht vom eher unverbundenen Nebeneinander (menschliche Kommunikation in der Nähe von Tieren) über Versuche einer poetisch vermittelten Adressierung der Tiere bis zur Erwägung einer  – wie auch immer transparenten  – Kommunikation zwischen menschlichen und tierischen Partnern. Um dieses Spektrum exemplarisch zu sichten, wähle ich vier Stationen aus. Zunächst (I ) nenne ich einige Charakteristika bukolischer Kommunikation in den gattungsbegründenden »Eidyllia« von Theokrit (3. Jh. v. Chr.), in denen sich auffallend zahlreiche und vielgestaltige Referenzen auf die gehüteten Tiere finden. Aus der reichhaltigen frühneuzeitlichen Bukolik (II ) erörtere ich geistliche und weltliche Beispiele, in denen Hirten- und Schäferfiguren sehr unterschiedlich besetzt werden können. Für die ambivalente Einschätzung der Bukolik im 18. Jahrhundert steht (III ) Johann Gottfried Herder: Einerseits übt er Kritik an der zeitgenössischen, übermäßig verfeinerten Schäferdichtung, andererseits betont er den Zusammenhang von Bukolik und Ursprünglichkeit – und erfindet eine Urszene menschlich-tierischer Kommunikation für seine Theorie von der Entstehung der Sprache. In einem kurzen Ausblick (IV ) weise ich auf zwei moderne bukolische Fantasien hin, in denen die Gemeinschaft zwischen Menschen und Tieren zu unheimlichen Grenzüberschreitungen führt.

I. Unter den dreißig Texten, die seit der Antike Theokrit zugeschrieben werden, machen die eigentlichen Hirtendichtungen nur einen Anteil von etwa einem Drittel aus. Der übliche Gattungstitel für das Corpus Theocriteum lautet denn auch nicht »Bukolika«, sondern »Eidyllia«. Es ist wichtig festzuhalten, dass dieser Ausdruck inhaltlich-thematisch neutral ist: »Eidyllia« sind zunächst keine ›Idyllen‹ im Sinne späterer Gattungsdefinitionen, sondern bloß ›kleine Formen‹ (von »eidos«, ›Form‹). Dennoch wurde Theokrit immer wieder als Schöpfer der Idylle im Sinne der Schilderung des einfachen, beschaulichen Lebens berufen. Dafür wiederum sind seine Gedichte über bukolische Themen

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und mit bukolischen Akteuren von besonderer Bedeutung. Sie haben ihn berühmt gemacht; schon für das 1. Jahrhundert v. Chr. ist eine entsprechende Auswahlausgabe belegt.3 Die meisten dieser bukolischen Idyllen haben, wie erwähnt, die Form des Wechselgesangs. Dadurch sind sie zugleich kleine szenische Dichtungen,4 in denen sich meistens Hirten verschiedener Zuständigkeiten, zum Beispiel ein Schaf- und ein Ziegenhirt, unterreden – mit Vorliebe über ihre Fähigkeiten als Poeten und Sänger. Theokrits Idyllen weisen also eine grundsätzlich autoreferenzielle Struktur auf: Sie sind Gedichte über das Dichten. Diese Selbstbezüglichkeit zeigt sich gleich im ersten Stück, das schon dem Titel nach – »Thirsys oder der Gesang« – von der gesanglichen Darbietung handelt. Dafür steht auch die refrainartig wiederholte Formel »Stimmt, liebe Musen, stimmt an das bukolische Lied«, mit dem gleichsam die Genrebezeichnung platziert wird.5 ›Bukolisch‹ im engeren Sinn ist dieses Lied, weil es vom »boukolos« Daphnis handelt, einem liebeskranken Kuhhirten, der von hier aus zum Typus des literarischen Hirten schlechthin wurde. An seinem Leiden nehmen die wilden und die domestizierten Tiere gleichermaßen Anteil, wobei Letztere, also die von Daphnis gehüteten Rinder, intern weiter klassifiziert werden: »Um ihn haben die Schakale, um ihn die Wölfe geheult […]. Viele Kühe zu seinen Füßen und viele Stiere, viele Jungkühe und Kälber klagten um ihn.«6 Näher differenziert werden auch die mitfühlenden Hirtenkollegen: »Es kamen die Kuhhirten, es kamen die Schäfer und Ziegenhirten.« Daran schließt sich unmittelbar eine der vielen spöttisch-obszönen Bemerkungen an, die für Theokrits Gedichte typisch sind. Sie stammt von dem hinzutretenden Fruchtbarkeitsgott Priapos, einem von mehreren mythischen Beteiligten, und betrifft Daphnis’ Ungeschicklichkeit in Liebesdingen, die mit der Bemerkung quittiert wird, er gleiche, obwohl Kuhhirt, »nun einem Ziegenhirten«, den der Neid befalle, wenn er »sieht, wie die Böcke die Ziegen bespringen«.

3 Vgl. Regina Höschele: Nachwort, in: Theokrit: Gedichte. Griechisch / Deutsch, hg. von Regina Höschele, Stuttgart 2016, S. 289-299; hier S. 292. Hirten als Protagonisten finden sich in den Idyllen (im Folgenden: Id.) 1, 3-10, 20 und 27; hinzu kommt Id. 11, in dem der Kyklop Polyphem als mythologischer Hirte auftritt. 4 Zur formalen Anknüpfung an die »Tradition des sizilischen Mimos« vgl. Höschele: Nachwort (Anm. 3), S. 293. 5 Theokrit: Gedichte. Griechisch / Deutsch, hg. von Regina Höschele, Stuttgart 2016, S. 11 u. ö. 6 Ebd., S. 13, dort auch die nächsten Zitate.

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In diesem doppelten Vergleich, sowohl zwischen zwei »genera pastorum« als auch zwischen Hirt und Tieren, artikuliert sich eine Hirtenkonkurrenz, die sich bei Theokrit und auch bei Vergil häufiger findet.7 Sie prägt bereits die Rahmenhandlung der ersten Idylle. Denn das bukolische Lied über das Leiden des Daphnis mit seiner szenischen Struktur ist seinerseits in eine Szene eingebettet: einen Dialog zwischen dem titelgebenden Schafhirten Thyrsis und einem unbenannt bleibenden Ziegenhirten. Bereits mit diesem Dialog beginnt – in der metrisch gebundenen Form des Originals – der lyrische Zwiegesang. Er beruht auf wechselseitiger spielerischer Überbietung der musikalischen Hirten, handelt von den zu erbringenden Opfergaben und von den beim Wettgesang zu erzielenden Preisen. All diese Aspekte haben aufs Engste mit den Herdentieren zu tun, wie gleich in den ersten Repliken deutlich wird: thyrsis. Süß ertönt, Ziegenhirt, das Flüstern jener Fichte dort bei den Quellen, süß auch spielst du auf der Flöte. Nach Pan wirst du den zweiten Preis davontragen. Wählt jener sich den gehörnten Bock, wirst du die Ziege erhalten; nimmt er als Ehrengeschenk sich die Ziege, wird dir zufallen das Zicklein – das Fleisch eines Zickleins aber ist so lange fein, bis man es melken kann. ziegenhirte. Süßer rinnt, Hirte, herab dein Gesang als das Wasser dort hoch oben vom Felsen plätschernd herabrauscht. Tragen die Musen das Schaf als Preis mit sich fort, wirst du als Ehrengeschenk das stallgenährte Lamm erhalten; gefällt es ihnen aber, sich das Lamm zu nehmen, wirst du als Nächstes das Schaf mit dir führen. […] Wenn du aber singst, wie einst du sangst im Wettstreit mit Chromis aus Libyen, will ich dich eine zwillingsgebärende Ziege dreimal melken lassen, die, obgleich sie zwei Böcklein hat, obendrein noch zwei Eimer mit Milch füllt […].8 7 Vgl. David M. Halperin: Before Pastoral. Theocritus and the Ancient Tradition of Bucolic Poetry, New Haven / London 1983; dort S. 182-186 über die seit Theokrit verwendeten drei Sub-Genre-Bezeichnungen »boukolikos«, »poimenikos«, »aipolikos«, orientiert an den drei Tier- (und von dort aus Hirten-) Arten Rind, Schaf und Ziege. Zur Frage, ob sich daraus auch eine soziale Hierarchie ableite, vgl. Ernst A. Schmidt: Hirtenhierarchie in der antiken Bukolik?, in: Philologus 113, 1969, S. 183-200. Schmidt kommt zu dem Ergebnis, dass man den Texten Theokrits, Vergils und anderer keine entsprechenden Belege entnehmen könne und es sich bei der Hirtenhierarchie um eine »Philologenkonstruktion« der Spätantike handle (ebd., S. 200). 8 Theokrit: Gedichte (Anm. 5), S. 7 und 9.

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Wolfgang Iser hat in seiner literaturtheoretisch weit ausgreifenden Deutung der Bukolik als »Paradigma literarischer Fiktionalität«9 die Selbstbezüglichkeit der Hirtengesänge gerade aus der eigentümlichen Verknüpfung des »Wettgesangs der Hirten mit dem Wettstreit um ihre Tiere« abgeleitet.10 Bei Theokrit und Vergil werden demnach »Lieder und Tiere […] zu Äquivalenten und vermögen füreinander einzustehen, weil sie gleichwertig geworden sind.«11 Für eine solche Ökonomie, bei der die schutzbefohlenen Tiere verhandelbare und einzufordernde Einsätze sind, bieten die »Eidyllia« reichhaltiges Anschauungsmaterial. So bekräftigt Thyrsis nach Beendigung seines bukolischen Liedes: »Und nun gib du mir die Ziege und den Becher, damit ich von gemolkener Milch den Musen ein Trankopfer spende.«12 Die von Iser betonte Äquivalenz wird allerdings in der antiken Bukolik nicht vorausgesetzt, sondern debattiert. Das betrifft sowohl die Wertbeziehungen zwischen Tieren und Liedern als auch die zwischen Tieren verschiedener Arten. So sieht sich in Theokrits fünfter Idylle der Schäfer Lakon von der Forderung des Ziegenhirten Komatas, gegen sein Böckchen ein »wohlgenährtes Lamm« zu setzen, übervorteilt: »[Wie] sollen diese Einsätze bitte gleichwertig sein?«13 Auch die Berechtigung der Hirten, ihre Tiere überhaupt einzusetzen, versteht sich nicht von selbst, weil die Besitzverhältnisse mit zur Diskussion stehen: »Niemals werde ich ein Lamm einsetzen, da streng ist mein Vater, streng auch die Mutter, und am Abend zählen sie all meine Tiere.«14 Wenn auf diese Weise über Tiere verhandelt wird, befinden sie sich bei Theokrit stets in unmittelbarer Nähe, worauf wiederholt hingewiesen wird: »wessen Kühe sind dies?«, »schau, hier ist ein Bock«, »der Ziegenhirt da […], bei dessen Böcklein der Hund mit der weißen Blesse bellt«, »das Schaf, das hier bei dir ist«.15 Die in diesen deiktischen Formulierungen hergestellte Nähe geht oft in die direkte An9 So die Überschrift des II . Kapitels: »Renaissancebukolik als Paradigma literarischer Fiktionalität«, in: Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie (1991), Frankfurt a. M. 1993, S. 52157; dort S. 60-76 über »Szenarien antiker Hirtendichtung«. 10 Ebd., S. 72. 11 Ebd., S. 72 f. Iser verweist an dieser Stelle auf seine Anregung durch die unveröffentlichte Dissertation von Carla Copenhaven: The Domestication of Animals and the Invention of Concepts. Pastoral Forms and Representation as Paradigms of Fictionality in Literature, University of California, Irvine o. J. 12 Theokrit: Gedichte (Anm. 5), S. 19. 13 Ebd., Id. 5, S. 47. 14 Ebd., Id. 8, S. 77. 15 Ebd., Id. 4, S. 39; Id. 5, S. 47; Id. 8, S. 77; Id. 11, S. 99.

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rede der Tiere über, so bereits am Ende der ersten Idylle, als der Ziegenhirt eine seiner Ziegen herbeiruft, um sie wie gefordert melken zu können, und die übrigen zur Ordnung ruft: »Komm hierher, Kissaitha. […] Und ihr Ziegen springt nicht so herum, damit der Bock sich nicht um euretwillen erhebt.«16 Solche Rufe sind wiederkehrende Topoi in Theokrits bukolischen Gedichten, oft mit namentlichen Anreden einzelner Herden- oder Hütetiere: »Heda, Lepargos, heda, Kymaitha, den Hügel hinauf! Willst du nicht hören?«; »Schone die Zicklein, schone, Wolf, ihre Mütter […]. Lampuros, mein Hund, hält tiefer Schlaf dich so fest?«17 In solchen Übergängen zwischen der Kommunikation über Tiere und der Kommunikation mit Tieren wird das Vorhandensein einer lebensweltlichen Realität suggeriert  – eine Vorgehensweise, aus der, folgt man Isers These, die bukolischen Fiktionen überhaupt erst ihre Plausibiliät beziehen.18 In der Sichtweise des Ecocriticism wird dieser Aspekt deutlich unterstrichen. Evi Zemanek betont, dass bereits die bukolische Landschaft trotz ihrer idealtypischen und generischen Ausstattung nicht einfach Hintergrund oder Kulisse ist; »vielmehr kommunizieren die Hirten mit ihr und sie ist stets Bezugspunkt, mit dem menschliches Handeln verglichen und aus dem es erklärt wird.«19 Besonders hebt Zemanek in der Beziehung zwischen Mensch und Natur die »Wechselseitigkeit« hervor.20 Die bereits erwähnte mitfühlende Anteilnahme der Tiere am Leid des Daphnis in Theokrits erstem Idyll ist dafür ein einschlägiges Beispiel, dem sie weitere sowohl aus den »Eidyllia« als auch aus Vergils »Eklogen« hinzufügt. Solche Vorstellungen von Partizipation und Sympathie könnte man zwar gerade aus ökokritischer Perspektive als problematische Vermenschlichungen verstehen, sie lassen sich aber auch als Belege für eine »pastorale[ ] Lebensgemeinschaft« nehmen.21 Das daraus resultierende Verständnis von »bucolic 16 Ebd., Id. 1, S. 19. 17 Ebd., Id. 4, S. 43; Id. 8, S. 81. 18 Vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre (Anm. 9), S. 76: »Die Ekloge und ihre Bezugsrealität« (Zwischenüberschrift). 19 Evi Zemanek: Bukolik, Idylle und Utopie aus Sicht des Ecocriticism, in: Ecocriticism. Eine Einführung, hg. von Gabriele Dürbeck und Urte Stobbe, Köln 2015, S. 187-204; hier S. 188. Vgl. auch Jakob C. Heller: »Die stillen Schatten fruchtbarer Bäume«. Die Idylle als ökologisches Genre?, in: Ökologische Genres. Naturästhetik – Umweltethik – Wissenspoetik, hg. von Evi Zemanek, Göttingen 2018, S. 73-89. 20 Zemanek: Bukolik, Idylle und Utopie (Anm. 19), S. 188. 21 Ebd., S. 189, als Zurückweisung der These einer bukolischen »pathetic fallacy« (Greg Garrard: Ecocriticism, London 2004, S. 36).

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ecology« ist durchaus komplex.22 Es ist nicht auf die Behauptung zu reduzieren, es habe in der Antike »proto-ökologisches Denken« gegeben,23 und es beschränkt sich auch nicht auf die Darstellung einer in der fiktiven Welt vorhandenen Mensch-Natur-Lebensgemeinschaft. Stattdessen bezieht es die Strategien der Fiktionalisierung und die performativen und ökonomischen Effekte des Dichtens entschieden mit ein. Bedenkt man die selbstbezügliche Verfasstheit von Theokrits »Eidyllia«, spricht in der Tat einiges für eine solche Lesart eines bukolischen Ökosystems. Allerdings ist zu bezweifeln, dass es in der antiken Bukolik vor allem darum geht, zu zeigen, wie »Mensch und Tier […] friedlich in einem gemeinsamen Lebensraum« koexistieren.24 Dagegen sprechen, neben der Kompliziertheit der Kommunikationsvorgänge, auch die agonalen und aggressiven Untertöne, die sich bei Theokrit finden. Das gilt nicht zuletzt dort, wo die Nähe zwischen den Hirten und ihren Tieren einen erotisch-sexuellen Beiklang erhält. Ein Beispiel dafür ist die bereits erwähnte fünfte Idylle, der Wettgesang zwischen dem Ziegenhirten Komatas und dem Schäfer Lakon. Schon vor ihrer Auseinandersetzung um die Äquivalenz der eingesetzten Tiere sind ihre Herden Gegenstand des Streits: »Meine Ziegen, weg von dem Schäfer da […]. Heda, ihr Lämmchen! Seht ihr nicht Komatas […]?«25 In der Folge wird mitgeteilt, dass der ältere Komatas den Schäfer einst im Gesang unterrichtete, »als er noch ein Junge war«.26 Der naheliegende Topos der Knabenliebe wird dabei unmissverständlich auf das bukolische Szenario angewendet. Auf Lakons Frage, wann er denn jemals von Komatas »etwas Schönes gelernt oder gehört habe«, erhält er die Antwort: »Als ich dich in den Arsch fickte und es dir weh tat. Die Ziegen hier meckerten, und der Bock durchbohrte sie.« Poetische Unterweisung, sexuelle Dominanz und menschlich-tierische Nachbarschaft werden hier auf drastische Weise miteinander überblendet. Derartige Hinweise lassen sich als Distanzierungsgesten des weltläufigen Autors Theokrit verstehen. Auch metapoetische Stellen wie das Selbstlob des Wettsängers Daphnis, »Lieblich tönt das Kalb, lieblich auch die Kuh, lieblich die Syrinx und der Kuhhirt, lieblich auch ich

22 Vgl. Timothy Saunders: Bucolic Ecology. Virgil’s Eclogues and the Environmental Literary Tradition, London 2008. 23 Zemanek: Bukolik, Idylle und Utopie (Anm. 19), S. 190. 24 Ebd., S. 188. 25 Theokrit: Gedichte (Anm. 5), Id. 5, S. 45. 26 Ebd., S. 49, dort auch die folgenden Zitate.

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selbst«,27 sind vermutlich ironisch intendiert: fingiert-authentische Kommunikationen aus dem Jenseits der urbanen Kultur, an die sie aber doch eigentlich adressiert sind.28

II. Hinsichtlich der eingangs genannten Alternativen, die Hirtendichtung als schlechthin ursprünglich oder als immer schon kulturell veranstaltet zu verstehen, argumentiert die Dichtungstheorie der Frühen Neuzeit oft in beide Richtungen gleichzeitig. So schreibt Sigmund von Birken in der »Vor-Rede« zu seiner »Teutschen Rede-bind- und Dicht-Kunst« (1679), die »Edle[ ] Kunst/ der Poesy« sei »in Feldern und Wäldern gebohren  / und von den Hirten erzogen worden«. Er verlegt diesen Anfang der Dichtkunst in eine Zeit, in der die »junge frische Erde« ihren Bewohnern noch keine Mühe machte, weshalb man »sanft ligen und ruhen« konnte und von den Lauten des Windes und Wassers sowie vom »Blöken der Heerden […] zur Nachfolge u. zum Singen gereitzet« wurde.29 Denkbar weit entfernt von derartigen Ursprungsbekundungen scheint hingegen die institutionalisierte kommunikative Rahmung der Poetik innerhalb der Nürnberger Sprachgesellschaft zu sein, deren wichtigster Repräsentant Birken über viele Jahre war.30 Auch diese Sozietät wird aber in der Widmung als  – wenngleich kulturell verfeinerte – Vereinigung von Hirten angeredet: »Edle und Fürtreffliche  / Schäferinnen und Schäfere […] der Wollöbl. Blum-genoß-HirtenGesellschaft«.31 In der »Zuschrift« seines Buchs bemüht sich Birken, bukolische Ursprünglichkeit einerseits und zeitgenössische bukolische Inszenierung und Institutionalisierung andererseits miteinander zu vermitteln, und bietet dafür eine zeittheoretische Perspektive an: »Es scheinet  / die Zeit / die nun bald in die Ewigkeit sol verwandlet werden / kehre mit ihrem Ende / wie eine in Zirkel geschlungene Schlange / in ihren 27 Theokrit: Gedichte (Anm. 5), Id. 9, S. 85. 28 Zu dieser fingierten Authentizität gehört auch das Gestaltungsmittel des »dorischen Dialekts«, mit dem Theokrits bukolische Idyllen im griechischen Original »durchsetzt« sind (Höschele: Nachwort [Anm. 3], S. 293). 29 Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst, Nürnberg 1679, ND : Hildesheim 1973, fol. vii r und v. 30 Vgl. Sigmund von Birken (1626-1681). Ein Dichter in Deutschlands Mitte, hg. von Klaus Garber, Hartmut Laufhütte und Johann A. Steiger, Berlin 2019. 31 Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst (Anm. 29), Widmungsblatt, unpag.

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Ursprung zurücke. Sie höret auf mit diesem Thun / wie sie angefangen / und macht ihre jetzige Poeten zu Schäfern.«32 Nicht etwa poetische Konvention, sondern die Zeit selbst soll es also sein, die Dichter als Schäfer erscheinen lässt; und dieses Zeitverhältnis wird nicht bloß entstehungsgeschichtlich, sondern – auf dem Hintergrund eines zyklischen Zeitmodells  – auch prognostisch verstanden. Dementsprechend schreibt Birken der bukolischen Dichtung die Fähigkeit zu, »von geschehenen und künftigen Dingen« zu reden, »da oft große Leute und Helden  / unter Hirten-Namen  / entweder selber reden  / oder besungen werden.«33 Das immer wieder berufene Beispiel einer bukolischen Rede von künftigen Dingen ist die Ankündigung des göttlichen Kindes in Vergils vierter Ekloge: »O tritt an – gleich wird die Zeit dasein – die hohen Ehren, / teures Götterkind, Jupiters hoher Zuwuchs, […] sieh, wie alles sich freut auf die nahende Weltzeit!«34 Im römischen Kontext war diese Ankündigung als retrospektive Prognose der Geburt des Octavian, für christliche Bedürfnisse dann aber auch als Prophezeiung der Geburt Jesu lesbar. Besonders aufschlussreich für die Hirtendichtung der Frühen Neuzeit sind daher ihre geistlichen Exemplare. Gerade in christologischer Hinsicht lassen sich bukolische Grenzfiguren und -bestimmungen aktivieren: Die Hirten auf dem Feld als soziale Außenseiter empfangen als Erste die Botschaft vom neugeborenen Messias;35 das »verlorene Schaf« ist das schlechthin vereinzelte Lebewesen, das der äußersten Fürsorge wert ist, damit auch nicht »eines von diesen Kleinen« zu Schaden kommt;36 und als Inbegriff jener Fürsorge erscheint der Gottessohn selbst in der Figur des Guten Hirten. Das für diese Analogie zentrale Gleichnis im Johannesevangelium ist beim näheren Hinsehen recht kompliziert.37 Bevor es dort um den Hirten und um die Schafe geht, die ihm bereitwillig nachfolgen, ist von der Tür zum Schafstall und von einem Türhüter die Rede, der nur den rechtmäßigen Hirten einlässt. »Wer nicht zur Tür hineingeht«, ist hingegen »ein Dieb und ein Räuber.« Unklar bleibt, ob der ebenfalls erwähnte »Fremde«, vor dem die 32 Ebd., fol. iii r und iv v. 33 Ebd., S. 293 und 295 (Cap. XI , § 204 f.). 34 Vergil: Bucolica / Hirtengedichte, übers. von Friedrich Klinger, München 1977, S. 75. 35 Vgl. Lk 2,8-20. Hier und im Folgenden zitiere ich aus der revidierten LutherÜbersetzung: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen, hg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 1985. 36 Mt 18,14; vgl. Lk 5,3-7. 37 Joh 10,1-30. Daraus die folgenden Zitate.

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Schafe fliehen, mit jenem »Dieb« identisch ist. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Jünger um die nähere Erläuterung des Gleichnisses bitten. Dabei stabilisiert Jesus allerdings die allegorischen Zuordnungen nicht, sondern bringt sie weiter in Bewegung. Bevor er sich ausdrücklich als den guten Hirten bezeichnet, sagt er zunächst: »Ich bin die Tür«, lässt die Person des Türhüters aber unerklärt. Für die Gegenseite wiederum steht nicht nur der Dieb, sondern auch der »Mietling […], dem die Schafe nicht gehören«. Und neben die zuvor homogene Schafherde treten noch »andere Schafe«, die »nicht aus diesem Stall« sind, aber gleichfalls in die »eine Herde« aufgenommen werden sollen. Außerdem kommt die Person des Vaters hinzu, für die man im vorigen Gleichnistext keine Entsprechung findet, die aber für die zentrale Idee des Opfers entscheidend ist, bei dem nicht etwa eines der Schafe, sondern der Hirt geopfert wird: »Und ich lasse mein Leben für die Schafe.« Die geistliche Bukolik des Barock nutzt die vielfältigen neutestamentlichen Besetzungen der Rollen von Schäfern, Schafen und diversen Figuren des Dritten für variable Rollenzuweisungen, bei denen sich die allegorischen Bedeutungen weiter komplizieren. So enthält Friedrich Spees Sammlung »Trvtz-Nachtigal oder Geistlichs Poetisch LvstWaldlein« (1634) mehrere mit »Ecloga oder Hirtengesang« überschriebene Gedichte, in denen antikisch benannte, aber deutlich christianisierte Hirten im Wechsel das Gotteslob singen,38 Christus »vnder der person des Hirten Daphnis« auftritt39 und als »Euangelisch Guter Hirt« das »Verlohren Schäfflein« sucht.40 Dabei können ausführliche Ich-Aussagen des Gottessohnes als direkte Adressierungen des gesuchten Schafes formuliert werden: »Ach Schäfflein auserkohren,  / Ach kämest, kämest doch! / Mitt mir dochs ist verlohren, / Muß Jch wol sterben doch.«41 Die Bevorzugung der Hirten als erste Empfänger der frohen Botschaft wird bei Spee zur Wechselbeziehung zwischen Hütenden und zu Behütenden: »Es liebet Schaaff, vnd Hirten, / Das Hirtisch Kindelein«.42 Noch umfangreicher fällt das bukolische Spektrum 38 Friedrich Spee: Trvtz-Nachtigal. Kritische Ausgabe nach der Trierer Handschrift, hg. von Theo G. M. van Oorschot, Stuttgart 1985; vgl. etwa die Überschrift zu Nr. 30, S. 162: »Eine Ecloga das ist ein hirtengesang, oder hirtengespräch, darinn zween hirten, einer Damon, der ander Halton genandt, ie einer einer vmb den andern in die wett spilen, vnd zu Nacht Gott loben«. 39 Ebd., Nr. 40, S. 209-215: »Andere Ecloga oder Hirtengesang, von der Gefängnüß Christi vnder der person des Hirten Daphnis«. 40 Ebd., Nr. 37, S. 197-199. 41 Ebd., S. 199. 42 Ebd., Nr. 33, S. 178-182: »Christmeß gesang darin ein Engel die geburt Christi den hirten verkündigt«; hier S. 179.

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in der »Heiligen Seelen-Lust« (1657 /1668) des Angelus Silesius aus. In dieser Sammlung von über zweihundert »Geistlichen Hirtenliedern« unterredet sich die ›Psyche‹ mit ›ihrem Jesu‹, wobei dieser nicht nur der Gute Hirte ist, der die gläubige Seele, »sein Schäflein, […] in seinen Schafstall bringen« möge,43 sondern auch seinerseits Schaf, nämlich das sich selbst opfernde »Lämmlein Gottes«.44 Auch im allegorischen Register können also verschiedene und durchaus widersprüchliche Kommunikationen stattfinden; auch Hirten und Schafe, die ›eigentlich‹ für etwas ganz anderes stehen, erscheinen im Text als Hirten und Schafe. Das gilt ebenfalls für die weltlichen Varianten barocker Bukolik, etwa für die aus heterogenen Elementen  – Gedichten, Dialog- und Prosaabschnitten – zusammengefügten Schäferdichtungen, die in den 1630er Jahren für die deutschsprachige Neuperspektivierung der Gattung stehen und die man als »Prosaeklogen« bezeichnet hat.45 Martin Opitz’ »Schäfferey von der Nimfen Hercinie«, das erste Exemplar dieser Mischform, und Sibylla Schwarz’ daran anschließender »Faunus« situieren sich in einer Welt von mythologischem Charakter. Im »Faunus« gibt es zahlreiche polytheistische Anklänge, beginnend mit der Errichtung eines Venus-Tempels und bekräftigt durch wiederholte Anrufungen nicht des einen Gottes, sondern der vielen Götter. In Opitz’ »Schäfferey« ist die titelgebende Nymphe Teil einer ganzen Population von Naturgeistern, zu denen auch eine Hexe oder der Berggeist Rübezahl gehören.46 Das heißt nicht, dass deswegen die menschlichen Figuren als besonders ursprungsnah ausgewiesen wären. Vielmehr handelt es sich um »gelehrte Poeten«, die »vnter gestalt 43 Angelus Silesius: Heilige Seelenlust oder Geistliche Hirten-Lieder, in: ders., Sämtliche poetische Werke, hg. von Hans Ludwig Held, München 1952, Nr. II .70, S. 137. 44 Vgl. ebd. die Überschrift zu Nr. II .54, S. 116: »Sie rufet das Lämmlein Gottes um Vergebung der Sünden an.« Zu den genannten Aspekten bei beiden Autoren vgl. Christiane Schäfer: »Liebe führet Ihn ins Leyd«. Das Motiv des Guten Hirten in der »Trvtz-Nachtigal« von Friedrich Spee, in: Das Motiv des Guten Hirten in Theologie, Literatur und Musik, hg. von Michael Fischer und Diana Rothaug, Tübingen 2002, S. 99-116; Yvonne Nilges: ­ »Sponsus Christus, Pastor bonus«. Agnus-Dei-Kontrafakturen in der Schäferdichtung des Barock, in: Jesus in der Literatur. Tradition, Transformation, Tendenzen. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. von ders., Heidelberg 2016, S. 51-65. 45 Klaus Garber: Martin Opitz’ »Schäferei von der Nymphe Hercinie«. Ursprung der Prosaekloge und des Schäferromans in Deutschland, in: Daphnis 11, 1982, S. 547-603. 46 Auch diese Art Personal ist bereits bei Theokrit zu finden: eine Zauberin (Id. 2), ein Kyklop (Id. 11), Bacchantinnen (Id. 26).

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der hirten« erscheinen, wie Opitz bereits in der Vorrede zu seiner »Schäfferey« schreibt,47 oder sie sind – so der Schwarz’sche Faunus – von vornherein »berühmte[  ] Schäfer«, deren Gewandtheit »in den freien Künsten« alsbald offengelegt wird.48 In beiden Fällen befassen sich die Protagonisten mit dem Verfertigen von Gedichten sowie mit poetologischen und philosophischen Reflexionen, die sie in elaborierter mündlicher Kommunikation und in verschiedenen Formen der Schriftkultur verfertigen. Opitz’ »Schäfferey« enthält einerseits umfangreiche, neuplatonisch inspirierte Dialoge über Liebe, Vernunft und Beständigkeit, andererseits die ausführliche Würdigung des adligen Widmungsträgers in Form eines langen genealogischen Exkurses. Bei Schwarz vollzieht sich die schäferliche Liebesgeschichte des Faunus und seiner Daphne über weite Strecken als Briefwechsel, ergänzt um metafiktionale Hinweise auf den Akt der Niederschrift der Dichtung, die man gerade liest (»weil die Nacht, darin ich dieses zu beschreiben entschlossen, fast über die Hälfte verflossen«49). Der hohe Grad von Autoreflexivität spricht nicht gegen die Einordnung in bukolische Traditionen, ganz im Gegenteil; schließlich gehört die Selbstthematisierung des Dichtens ja seit Theokrit zu den Gattungskonventionen. Die Frage im vorliegenden Zusammenhang ist aber, ob und inwiefern dabei auch im 17.  Jahrhundert Kommunika­ tionssituationen an den Grenzen des Sozialen entworfen werden, die noch dazu in spezifischer Weise mit dem nicht-menschlichen Personal der Hirtendichtung zu tun haben. Diese Frage lässt sich bejahen – für beide Prosaeklogen in unterschiedlichem Ausmaß. In Schwarz’ »Faunus« finden sich entsprechende Hinweise von Anfang an. Den Auftakt macht ein Frühlingsszenario, in dem die Hirten das »Heer« ihrer Kühe und eine »große[ ] Herde Schafen« auf die Weiden treiben, während weitere Tiere geradezu außer sich geraten (»zwene Böck«, die »sich stoßen ganz verwegen«, ein »mutigs geiles Pferd« und »in die Quer und Krümm« tanzende Ziegen).50 Die auftretenden »Schäfer und Schäferinnen« bevölkern einen »mehr als schönen Ort«,51 der, wie 47 Martin Opitz: Schäfferey von der Nimfen Hercinie, in: ders., Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, hg. von George Schulz-Behrend, Bd. 4.2, Stuttgart 1990, S. 508-578; hier S. 514. 48 Sibylla Schwarz: Faunus, in: dies., Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden. Ausgewählte Werke, hg. von Gudrun Weiland, Zürich 2021, S. 7395, hier S. 74 f. 49 Ebd., S. 92. 50 Ebd., S. 73. 51 Ebd., S. 74.

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aus mehreren Hinweisen zu erschließen ist, am Rande der sonstigen Gesellschaft liegt. Dieser locus amoenus ist nicht nur mit antiken Versatzstücken, sondern auch mit Schafställen ausgestattet, und mehrmals werden schäferliche Tätigkeiten erwähnt, etwa wenn es heißt, Daphne gebe beim Stelldichein mit Faunus »fleißige Aufsicht auf seine sowohl, als ihre Herde, damit dieselbe nicht etwa verwahrloset würde«.52 So gesehen mutet das Szenario theokritisch an, wobei aber durch die Formatierung zur Brieferzählung eigentümliche kommunikative Verfremdungseffekte entstehen: Deiner gestrigen Zusage (schönste Daphne, liebste und gebietende Freundin) nachzuleben, hab ich dieselbe mit diesem Briefelein zu verunruhen kein Bedenken getragen […], bin auch schlüssig geworden, den Göttern dafür, eins meiner besten Lämmer aufzuopfern. […] Dessen erfreuliches Brieflein, geehrter Schäfer, liebster Freund, hat mich sein Diener […] wissen zuzustellen […], es wolle sich E.[uer] L.[iebden] ohnbeschwer morgendes Tags an bewussten Ort, mit seiner wöllichten Gesellschaft verfügen […].53 Sibylla Schwarz lässt ihr Schäferpaar also einerseits mustergültige ­Episteln austauschen, orientiert an den Vorgaben der zeitgenössischen Briefsteller-Literatur,54 andererseits platziert sie darin Hinweise auf eine archaische und hybride Sozialität, in der über Dankopfer reflektiert wird und die Schreibenden in der »wöllichten Gesellschaft« ihrer Tiere auftreten. Auch in Opitz’ »Schäfferey von der Nimfen Hercinie« ist das Szenario deutlich von Theokrit inspiriert und zielt dennoch auf die Zeitgenossenschaft des frühen 17. Jahrhunderts. Gemäß der Zueignung an den Widmungsträger dienen als Handlungsorte »die lustigen berge / wälder vndt wiesen so E.[wer] Gn.[aden] gehörig sindt«.55 Dorthin ist die Opitz’sche Ich-Figur, wie es zu Beginn heißt, »von einem andern orte […] entwiechen«, und zwar wegen der »jtzo schwebenden jämmerlichen kriege[  ]«.56 Der Text liefert zu jenem bereits als ›anders‹ distanzierten Ort wiederum die utopische Gegenwelt, eine arkadische 52 Ebd., S. 81. 53 Ebd., S. 84. 54 Vgl. Carmen Furger: Briefsteller. Das Medium »Brief« im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Köln 2010. 55 Opitz: Schäfferey (Anm. 47), S. 514. 56 Ebd., S. 516, dort auch das folgende Zitat.

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Landschaft mit »hohen warten / schönen bächen / dörffern / maierhöfen vndt schäffereyen«, die gleichwohl programmatisch in einer überprüfbaren Topographie, »dißeits dem Sudetischen gefilde«, angesiedelt ist. Hier erhält die Ich-Figur alsbald Besuch von drei »berhümbten hirten«.57 Sie tragen die Klarnamen gelehrter Zeitgenossen – Nüßler, Buchner und Venator –, mit denen der reale Martin Opitz in Kontakt stand. Auch wenn damit entschieden scheint, dass die Hirten ›nicht wirklich‹ Hirten sind, gibt es eine zwar nur angedeutete, aber trotzdem nicht unerhebliche Ausstattung der bukolischen Fiktion. So wird kurz erwähnt, dass es mühevoll sei, als Hirte einen Stellvertreter zu finden: Über »vnsere[n] Buchner« heißt es, er habe vor dem Aufbruch »kümmerlich einen gefunden/ dem er seine herde indeßen vertrawen können«.58 Darüber hinaus erscheint der Handlungsort der »Schäfferey« insgesamt von Hirtentätigkeiten geprägt, wie dem wiederholten Hinweis auf »diesen ort« zu entnehmen ist.59 Damit die drei Besucher »hieherwerts« kommen konnten, um nun zu »gast in diesen orten« zu sein, mussten sie einer bestimmten Spur folgen: Es hatt seinen ort / sagte Nüßler / daß du dem / der es so gnädig mitt dir meinet  / folge zu leisten  / von den grünen wiesen vndt fruchtbaren feldern vnserer Hauptstadt dahin gewiechen bist / wo wir dich ehegestern gesucht / vndt von dannen wir der trifft nach hieherwerts gegangen sindt. Auf bemerkenswerte Weise werden in diesem Satz Lokalität, Kausalität und Konsekutivität ineinander geblendet. »Es hatt seinen ort« heißt hier zugleich so viel wie ›Es hat seinen Grund‹ und ›Es ist folgerichtig‹. Das Entweichen der Ich-Figur wird als Folge eines ›gnädigen‹ Befehls erkennbar;60 die drei Besucher sind diesem Folgeleistenden gefolgt, haben ihn geradezu verfolgt. Neben der Hauptstadt als Ausgangsort (der hier nun nicht als kriegerisch, sondern als friedlich und landwirtschaftlich markiert ist) wird ein nicht näher bezeichneter transitorischer 57 Ebd., S. 520. 58 Ebd. Auch diese Hirten-Stellvertretung gibt es schon bei Theokrit: »Ich ziehe los, der Amaryllis ein Ständchen zu singen – meine Ziegen weiden derweil im Gebirge, und Tityros hütet sie.« Theokrit: Gedichte (Anm. 5), Id. 3, S. 35. 59 Opitz: Schäfferey (Anm. 47), S. 520, dort auch die folgenden Zitate. 60 Zu beziehen nicht auf den Widmungsträger, sondern auf Opitz’ Dienstherrn, den Grafen von Dohna. Zu Opitz’ Dienstverhältnissen in der Zeit um 1630 vgl. Klaus Garber: Der Reformator und Aufklärer Martin Opitz (15971639). Ein Humanist im Zeitalter der Krisis, Berlin 2018, S. 491-533.

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Zwischenort erwähnt, von dem aus ein offenbar längerer (immerhin seit »ehegestern« beschrittener) Weg »hierherwerts« führt: »der trifft nach«. In dieser Formulierung wird ›trifft‹, der »poetischliterarische terminus für weide, grünes land als schauplatz des hirtenlebens«,61 deutlich als Verbalabstraktum aktualisiert: Die Besucher sind ›dem Treiben‹, dem Gang der Herden, gefolgt, um Opitz zu finden. Der locus amoenus wird auf diese Weise mit einer Tierspur versehen und prozessual erschließbar gemacht.

III. Über die Idyllendichtung des 18. Jahrhunderts ist oft gesagt worden, sie habe der Renaissance- und Barock-Bukolik die allegorische Vieldeutigkeit entzogen und nur den sentimentalen Wunsch nach dem einfachen Leben übrig gelassen. Besonders hat dieser Vorwurf Salomon Geßners »Idyllen« (1756) getroffen, eine der wirkungsreichsten deutschsprachigen Publikationen der Jahrhundertmitte. Diese kleinen Dichtungen sollte man jedoch nicht unterschätzen, deren Verfasser bewundernd über Theokrit schreibt, er habe »die schwere Kunst gewußt, die angenehme Nachlässigkeit in ihre [der Hirten, S .W .] Gesänge zu bringen«.62 Es ließe sich detailliert zeigen, wie Geßner in seinen Darstellungen idyllischer Hirtengemeinschaften, die in zeitlosen Ideallandschaften zu existieren scheinen, seinerseits auf kunstvolle Weise ›nachlässig‹ verfährt. Das gilt etwa für den Dialog »Phillis. Chloe« mit der neckischen, nichtsdestoweniger beharrlichen Erwähnung von Chloes »Körbchen«, das ihr »so werth« ist.63 Mit diesem Flechtwerk werden zahlreiche bukolische Traditionen aktiviert. Dazu gehört zunächst der Verweis auf ein pastorales Leben, in dem solche Artefakte von müßigen Schäfern nebenbei angefertigt werden können. Darüber hinaus prägt ein solches Nebenbei aber auch die Raumorganisation des Textes: Der Hirt Amyntas hat den Korb geflochten, nachdem Chloe »die Herde bey [ihm] vorbey trieb«, und er hat sich gewünscht, dass sie ihn »oft an ihrer Seite trüge«. Auch eine angedeutete erotische Symbolik (»die 61 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Elfter Band, I. Abteilung, II . Teil, bearb. von der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches zu Berlin, Leipzig 1952, Sp. 494-501; hier Sp. 498. 62 Salomon Geßner: Idyllen. Kritische Ausgabe, hg. von E. Theodor Voss, Stuttgart 1973, S. 17. 63 Ebd., S. 49. Die folgenden Zitate S. 49 f.

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Früchte sind süsser, die ich aus dem Körbchen esse«) befindet sich durchaus im Gattungshorizont. Außerdem steht das kunstvoll geflochtene Produkt für die Produktion von Dichtung. Damit ist das Wechselgespräch der Schäferinnen Phillis und Chloe  – auch dies in bukolischer Tradition – ganz selbstbezüglich und läuft auf seine eigene Wiederholung hinaus: »Ach! ich geh; dort hinter jenen Hügel treibt er seine Herde, ich will bey ihm vorbey gehn, sieh, will ich sagen, sieh Amyntas, ich habe dein Körbchen am Arm.« Die von Geßner vorgebrachte Parallele seiner eigenen Dichtung mit den »Eidyllia« Theokrits griff bald darauf Johann Gottfried Herder mit dem Aufsatz »Theokrit und Geßner« auf, den er 1766 in seiner Sammlung »Über die neuere deutsche Literatur« veröffentlichte. Interessant für den vorliegenden Zusammenhang ist dabei weniger Herders Kritik an Geßners »Schäfertändeleien«, die er »verzuckert« findet (auch wenn er ihre »schöne Nachlässigkeit« durchaus schätzt),64 als vielmehr die soziale Situierung idyllischer Dichtung. Von Moses Mendelssohn übernimmt Herder einleitend die Definition, die Idylle sei der »sinnlichste Ausdruck der höchst verschönerten Leidenschaften und Empfindungen solcher Menschen, die in kleinen Gesellschaften zusammen leben.«65 Mit dem Begriff der ›kleineren Gesellschaft‹ unterstreicht bereits Mendelssohn die für einen Großteil der Idyllendichtung wichtige »Kritik an Hof und Stadt«.66 Für Herder ist das ›Kleinere‹ der Gesellschaften das, was sich zivilisatorischer Verfeinerung entzieht. Daher findet er es besonders in den »niedrigen Züge[n]«, die Theokrit in die poetische Gestaltung des Schäferlebens mit aufnehme, um dessen »Mannichfaltigkeit und Bestimmtheit« zu repräsentieren.67 Es sind also die von Theokrit gestalteten marginalen Sozialfiguren, die die Idyllendichtung für Herders Gegenwart plausibel werden lassen. Dabei geht es wohlgemerkt nicht um Realismus oder Naturalismus im späteren Verständnis, sondern explizit um die Orientierung an

64 Johann Gottfried Herder: Theokrit und Geßner, in: ders., Werke in zehn Bänden, hg. von Martin Bollacher u. a., Bd. 1: Frühe Schriften, hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt a. M. 1985, S. 351-360; hier S. 358 f. 65 Ebd., S. 352. Bei Herder kursiv, in Anführungszeichen und mit Nachweis der Stelle aus den »Briefen, die neueste Literatur betreffend« von G. E. Lessing, M. Mendelssohn und C. F. Nicolai (V. Teil, 1760). Die Kursivierungen sind hier und in den folgenden Zitaten weggelassen. 66 Jakob C. Heller: Masken der Natur. Zur Transformation des Hirtengedichts im 18. Jahrhundert, Paderborn 2018, S. 167. Vgl. dort insgesamt das Kapitel 5.3, »Kleine Gesellschaften«, S. 163-205; dort zu Herder S. 194 f. 67 Herder: Theokrit und Geßner (Anm. 64), S. 355.

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einem »Ideal des Schäfergedichts«.68 Diese Ideal hat aber – nach Mendelssohn und Herder – eine gesellschaftliche Unterlage, es entstammt einer Realität, und daher kann es auch eigentümliche Realisierungseffekte bewirken, zumindest dem Wunsch nach. Solche Effekte entstehen, »wenn man Empfindungen und Leidenschaften der Menschen in kleinen Gesellschaften« in der Weise »sinnlich« und »verschönert« zeigt, »daß wir auf den Augenblick mit ihnen Schäfer werden […] wollen«.69 Ein derartiges momenthaftes Aufscheinen einer anderen Sozialordnung ist der Idylle also grundsätzlich eingeschrieben, auch wenn Herder es bei Geßner nicht zu finden vermag, da dieser »lauter Schäferlarven, keine Gesichter: Schäfer, nicht Menschen« darstelle.70 Analog bemerkt einige Jahrzehnte später Friedrich Schiller, ein »Geßnerischer Hirte« sei »ein zu ideales Wesen«, zugleich aber auch »ein viel zu dürftiges Geschöpf«.71 Während Herder in der Gattung noch ein progressives Potenzial entdeckte, erscheint sie Schiller gänzlich regressiv: Die Idyllen »stellen unglücklicherweise das Ziel hinter uns, dem sie uns doch entgegenführen sollten, und können uns daher bloß das traurige Gefühl eines Verlustes, nicht das fröhliche der Hoffnung einflößen.«72 Herders weiteres Interesse am Hirten als Sozialfigur betrifft allerdings weniger das Begehren nach einer für die Gegenwart oder Zukunft zu bewerkstelligenden ›Schäferwerdung‹ als vielmehr die Suche nach Ursprungszusammenhängen. Ein eher knapper Hinweis findet sich im Rahmen seines Volkslieder-Projekts. Insgesamt zielte dieses editorische, übersetzerische und poetologische Vorhaben darauf, eine »ganze, treue Naturgeschichte der Völker, in eignen Denkmalen« zu errichten und dafür »Volkslieder, Mythologien, Märchen, Vorurteile, die auf ihren Charakter stark gewürkt haben«, zu sammeln.73 Dafür berief sich Herder auch auf die Dichtung der Antike, die er als Inbegriff nicht etwa des Klassischen, sondern des Volksmäßigen und Ursprünglichen verstehen wollte. Statt von Theokrit, der für ein solches 68 Ebd., S. 356. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 358. 71 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1959, S. 694-780; hier S. 749. 72 Ebd., S. 747. 73 Johann Gottfried Herder: Ausweg zu Liedern fremder Völker (geplant für den 4. Band der nicht veröffentlichten Frühfassung ›Alte Volkslieder‹), in: ders., Werke, Bd. 3: Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen, hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt a. M. 1990, S. 59-68; hier S. 62. Die  – fast vollständigen  – Kursivierungen der Zitate sind auch hier weggelassen.

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Argument zu kulturalisiert gewesen wäre, ist hier von den epischen und tragischen Dichtern die Rede. Den ältesten der Epiker, Hesiod, nennt Herder einen »Volkssänger«, in dessen Dichtungen überall »der einfältige Hirt, der am Berge der Musen weidete, und von ihnen die Gabe süßer Gesänge und Lehren zum Geschenk überkam, hörbar« bleibe.74 Damit bezieht sich Herder auf das Proömium der »Theogonie«, in dem Hesiod von seiner Kommunikation mit den Musen berichtet. Als er »Lämmer betreut an des heiligen Helikon Hängen«, hauchen sie ihm eine »göttliche Stimme« ein, »zu künden von Künftigem und von Gewesenem«.75 Dass der sozial Niedrigstehende von der göttlichen Instanz auserwählt wird, mag durchaus an die Verkündigung an die Hirten im ­Lukasevangelium erinnern. Allerdings machen die Musen bei Hesiod deutlich, wie weit sie sich mit ihrer inspirierenden Kommunikation an den Lämmerhirten herablassen, und verbinden dies noch dazu mit einer ambivalenten Botschaft über ihre eigene Glaubwürdigkeit: Hirten vom Lande, ihr Lumpengesindel und lediglich Bäuche, Seht, wir reden viel Trug, auch wenn es wie Wirklichkeit klänge, Sehr aber, wenn wir gewillt, verkünden wir lautere Wahrheit.76 Herder lässt zwar die Diskreditierung der Hirten als »Lumpengesindel« weg, betont aber die Schwierigkeiten und Mehrdeutigkeiten, die bei einer auf Inspiration abzielenden Kommunikation entstehen können. Immerhin weist er im selben Zusammenhang ausdrücklich auf seine eigenen Anstrengungen beim ›Übertragen‹ hin: »O wäre mirs gelungen, von diesen goldnen Gaben und Gerüchten der Vorzeit, als den edelsten Volksgesängen etwas in unsere Sprache zu übertragen, daß sie noch einigermaßen, was sie sind, blieben!«77 Ausführlicher und einschlägiger aktualisiert Herder das Konzept bukolischer Kommunikation an anderer Stelle, wenn auch in einem Zusammenhang, der mit den Traditionen der Hirtendichtung auf den ersten Blick wenig zu tun hat. Dieser Ort ist die 1772 publizierte »Abhandlung über den Ursprung der Sprache«, zuvor eingereicht als Antwort auf die Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften, ob 74 Herder: Vorrede (zu: Volkslieder. Zweiter Teil), in: ebd., S. 229-248; hier S. 232 f. 75 Hesiod: Theogonie, in: ders., Sämtliche Werke, übers. von Thassilo von Scheffer, Leipzig 1965, Vers 23 und 31 f., S. 3 f. 76 Ebd., Vers 26-28, S. 4. 77 Herder: Vorrede (Anm. 74), S. 233.

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»die Menschen, ihren Naturfähigkeiten überlassen, sich selbst Sprache erfinden« konnten und »auf welchem Wege der Mensch sich am füglichsten hat Sprache erfinden können und müssen«.78 Von bukolischer Kommunikation ist dabei insofern die Rede, als der Mensch an einem wesentlichen Punkt der Herder’schen Argumentation engen Kontakt mit einem Schaf aufnimmt, sodass man mit einigem Recht behaupten kann, die menschliche Sprache entstehe in dieser Sprachursprungs­ theorie direkt aus dem Näheverhältnis zum Herdentier Schaf. Herder nähert sich dieser Pointe zielstrebig schon auf den ersten Seiten seiner Preisschrift, setzt allerdings zunächst mit der anthropo-zoologischen Provokation ein, den sprechenden Menschen selbst als Tier zu perspektivieren. Der berühmte erste Satz lautet: »Schon als Tier, hat der Mensch Sprache.«79 Die Provokation richtet sich vor allem gegen dogmatische Vorstellungen einer göttlich gegebenen Sprache, namentlich gegen Johann Peter Süßmilchs wenige Jahre zuvor erschienenen »Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe«.80 Demgegenüber hatten mechanistische und sensualistische Positionen auch im früheren 18.  Jahrhundert die Menschensprache von tierischen Empfindungslauten hergeleitet, was Herder wiederum pointiert in die Formel fasst, der Ursprung der Sprache sei »nicht bloß nicht übermenschlich: sondern offenbar tierisch: das Naturgesetz einer empfindsamen Maschine.«81 Von Naturgesetzlichkeit ist gleich in den ersten Passagen des Textes die Rede: Das Bedürfnis nach lautlicher Äußerung sei ein »helles Naturgesetz«; es gebe eine »Sprache der Empfindung, die unmittelbares Naturgesetz ist.«82 Es scheint naheliegend, dass Herder auf diesem Weg, im Konzept einer als gesetzmäßig vorgestellten Natur, die Naturhaftigkeit auch des Menschen-Tieres und damit dessen natürliche oder naturhafte Sprachbegabung plausibilisiert. Betrachtet man aber

78 So Herders eigene Übersetzungen der französischen Preisfrage, mit denen er die beiden Teile seiner Abhandlung betitelt. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften, hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt a. M. 1985, S. 695810; hier S. 697 und S. 769. 79 Ebd., S. 697. 80 Die Auseinandersetzung mit Süßmilch führt Herder vor allem im ersten Teil seiner Schrift, vgl. ebd., S. 710 f. und S. 725-729. 81 Ebd., S. 708. 82 Ebd., S. 698. Im zweiten Teil seiner Abhandlung (S. 769-810) unterscheidet Herder dann vier separate »Naturgesetze« der Sprachentstehung.

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näher, wie sich Mensch und Tier in puncto Sprache berühren, ist bemerkenswert, dass bei allem Interesse an Naturgesetzlichkeit auch der ›kultivierte‹, domestizierende Umgang zwischen Menschen und Tieren von entscheidender Bedeutung ist: Ich merke also an, daß je weniger die Menschliche Natur mit einer Tierart verwandt; je ungleichartiger sie mit ihr am Nervenbaue ist: desto weniger ist ihre Natursprache uns verständlich. Wir verstehen als Erdentiere, das Erdentier besser, als das Wassergeschöpf, und auf der Erde das Herdetier besser, als das Waldgeschöpf; und unter den Herdetieren die am meisten, die uns am nächsten kommen.83 Auch wenn hier Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier im Hinblick auf die Physiologie (»Nervenbau«) in den Blick kommt, spielen solche strukturellen Momente nicht die entscheidende Rolle. Relevant für das Konzept der Verwandtschaft ist vielmehr das ›Verstehen‹, das durch ›Nähe‹ zustande kommt. Dabei handelt es sich um soziale Kategorien: Im selben Zuge ist von »Umgang und Gewohnheit« die Rede, und es folgen Beispiele wie der »Araber, der mit seinem Pferde nur Ein Stück ausmacht«, oder der Jäger, der »die Stimme des Hirsches« ebenso verstehe wie »der Lappländer seines Renntiers«. Auch wenn Herder anfügt, eigentlich spreche »jede Gattung unter sich«, sind doch solche ›Gewohnheiten‹ zwischen den Gattungen unabdingbar, und zwar genau dort, wo die genuin menschliche Disposition der »Besonnenheit«84 mit der Erfindung der Sprache enggeführt wird. Eben dies ist die Szene, in der der Mensch im Kontakt mit dem Schaf gezeigt wird. Aus der wechselnden Benennung als Lamm und Schaf lässt sich schließen, dass es sich um ein junges und offenbar weibliches Tier handelt. Auf dieses richtet sich das ›sinnliche‹ Begehren anderer Tiere  – Fressfeinde sowohl wie Artgenossen –, von dem sich die Aufmerksamkeit des Menschen wesentlich unterscheidet. Lasset jenes Lamm, als Bild sein Auge vorbeigehn: ihm wie keinem andern Tiere. Nicht wie dem hungrigen, witternden Wolfe! nicht wie dem blutleckenden Löwen – die wittern und schmecken schon im Geiste! die Sinnlichkeit hat sie überwältigt! der Instinkt wirft sie darüber her! – Nicht wie dem brünstigen Schafmanne, der es nur

83 Ebd., S. 699. Dort auch die folgenden Zitate. 84 Der zentrale Begriff fällt das erste Mal im 1. Teil, 2. Abschnitt. Ebd., S. 719.

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als den Gegenstand seines Genusses fühlt, den also wieder die Sinnlichkeit überwältigt, und der Instinkt darüber herwirft […].85 Im Gegensatz zu dieser überwältigenden, instinktgetriebenen »Sinnlichkeit« stehen die »Sinne« des Menschen, über die er mit einem »innern Sinn« auf »besonnene« Weise verfügt  – so die von Herder in auffallender semiotischer Dichte entwickelten terminologischen Differenzen.86 Wenn der Mensch »in die Bedürfnis kommt, das Schaf kennen zu lernen […]: so reißt ihn kein Sinn auf dasselbe zu nahe hin, oder davon ab: es steht da, ganz wie es sich seinen Sinnen äußert.« Statt Sinnlichkeit regiert die »Besinnung«. Das allein genügt aber nicht, um Sprache entstehen zu lassen. Von entscheidender Bedeutung ist zusätzlich das, was Herder »Merkmal« nennt. Gemeint ist ein komplexer Sachverhalt aus Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Wiederholung,87 bei dem auch die zuvor erwähnte soziale Kontextualisierung (»Umgang und Gewohnheit«) eine wichtige Rolle spielen. Denn damit der Mensch das Schaf als Schaf sprachlich bezeichnen kann, sind die genaue Apperzeption und die Isolierung eines Merkmals nur der erste Schritt. Der unbedingt erforderliche zweite ist die erneute Begegnung mit dem Schaf, bei der jenes Merkmal wiederholt und in der mensch­ lichen Erkenntnisfähigkeit aktualisiert wird. Weiß, sanft, wollicht – seine besonnen sich übende Seele sucht ein Merkmal, – das Schaf blöcket! sie hat Merkmal gefunden. Der innere Sinn würket. Dies Blöcken, das ihr am stärksten Eindruck macht, das sich von allen andern Eigenschaften des Beschauens und Betastens losriß, hervorsprang, am tiefsten eindrang, bleibt ihr. Das Schaf kommt wieder. Weiß, sanft, wollicht – sie sieht, tastet, besinnet sich, sucht Merkmal – es blöckt, und nun erkennet sies wieder! »Ha! du bist das Blöckende!« fühlt sie innerlich, sie hat es menschlich erkannt, da sies deutlich, das ist mit einem Merkmal erkennet, und nennet. 85 Ebd., S. 723. Die folgenden Zitate S. 723 f. 86 Zur ›Besonnenheit‹ und sinnlichen Wahrnehmung in der Sprachursprungsschrift vgl. Jürgen Trabant: Herders Schaaf im Vorbeigehen und Entgegenkommen, in: Das entgegenkommende Denken. Verstehen zwischen Form und Empfindung, hg. von Franz Engel und Sabine Marienberg, Berlin 2016, S. 135-144. 87 Zur Bedeutung der Memoria bei Herder vgl. Ralf Simon: Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1998.

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Wie sich der Umschlag vom memorierenden Umgang mit dem »Merkmal« zur Vergabe des »innerliche[n] Merkwort[s]« eigentlich vollzieht, bleibt ausgespart und auch im Fortgang der Passage gezielt unerklärt: »Der Schall des Blöckens von einer menschlichen Seele, als Kennzeichen des Schafs, wahrgenommen, ward, kraft dieser Bestimmung, Name des Schafs, und wenn ihn nie seine Zunge zu stammeln versucht hätte.« Die Sprache ist hier also viel mehr Angelegenheit der »Seele« als der »Zunge«.88 Herder betont kurz darauf, auch »der Wilde, der Einsame im Walde hätte Sprache für sich erfinden müssen; hätte er sie auch nie geredet.«89 Zunächst wird also eine Konstellation eines Menschen und eines Tieres entworfen. Tilman Borsche hat gerade diese Ein- und Zweisamkeit ›idyllisch‹ genannt,90 aber auch betont, dass »dieser erste Mensch faktisch nicht allein unterwegs war« und es »wesentlich zur Funktion, Herder zufolge: zur Kraft des Sprechens und Denkens gehört, dass es nicht allein sei«.91 Im Fortgang seiner Abhandlung betont Herder jedenfalls weiterhin, dass die Sprachentstehung in ihrer memorativen und repetitiven Struktur sozial und menschlich-tierisch gerahmt ist. Bezeichnenderweise nimmt er sich im folgenden Abschnitt das Schaf-Beispiel ein weiteres Mal vor (»Da ist z. E. das Schaf«), erwähnt erneut die Schwierigkeit einer Merkmal-Isolierung aus den verschiedenen zur Verfügung stehenden Sinneseindrücken (»so voll, so dunkel in einander«), die Entscheidung für den akustischen (»horch! das Schaf blöcket!«) und die Bedeutung des Wiedererscheinens (»nun werde ich dich wie-

88 Dass der »Name des Schafs« mit dem »Schall des Blöckens« in engerem ›motivierenden‹ Zusammenhang stünde – etwa als Lautmalerei –, kann man an dieser Stelle ausschließen, zumal sich Herder in seiner Sprachursprungsschrift für etymologische Worterklärungen nicht interessiert. Zu dieser im Kontext des 18.  Jahrhunderts bemerkenswerten Aussparung vgl. Stefan ­Willer: Poetik der Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik, Berlin 2003, S. 70-73. 89 Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (Anm. 78), S. 726. 90 »Das idyllische Bild vom Schaf zeigt die Sprache als vom einsamen Menschen erfunden«. Tilman Borsche: Herders Scha(a)f. Wer kommt wem entgegen im Ursprung der Sprache?, in: Das entgegenkommende Denken, Verstehen zwischen Form und Empfindung, hg. von Franz Engel und Sabine Marienberg, Berlin 2016, S. 125-134; hier S. 126. 91 Ebd., S. 129 f. Borsche führt diesen Gedanken – anhand von Johann Georg Hamanns Herder-Kritik  – in Richtung eines Sprachursprungs in bzw. aus der Alterität weiter: »Es war nicht das Schaf, das dem Menschen entgegen kam, um ihn zur eigenständigen Spracherfindung zu stimulieren. Es war der Andere« (ebd., S. 132).

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der kennen – Du blöckst!«).92 Wenn er sich dann im zweiten Teil der Schrift näher mit den Entwicklungsstufen der Sprache auseinandersetzt, ist »Gesellschaft« einer der am häufigsten verwendeten Begriffe. Dabei wird auch die eingangs erwähnte Verwandtschaft des Menschen mit den Herdentieren wieder aufgegriffen, nun aber in der Weise, dass der Mensch selbst als ein Herdentier erscheint: »Der Mensch ist in seiner Bestimmung ein Geschöpf der Herde, der Gesellschaft: die Fortbildung einer Sprache wird ihm also natürlich, wesentlich, notwendig.«93 Die Sprachbegabung des Menschen als solche ist mit seinem Charakter als Mängelwesen, das »einer gesellschaftlichen Hülfe […] nötig« hat, untrennbar verbunden. Nicht einfach als Tier, sondern als »schwächeres Tier«, hat der Mensch Sprache. Im Anschluss an diese Einschätzung wird dann auch die Vielfalt der menschlichen Sprachen damit begründet, dass »das ganze menschliche Geschlecht unmöglich Eine Herde bleiben konnte«,94 und als Beispiel für diese Separierung dient wohl nicht von ungefähr ein Fall aus der elementaren Sozialität der Mensch-Tier-Beziehungen: wenn sich »z. E. zwo Rotten von Hirten über Brunnen und Weide zanken«.95

IV. Die Reflexionsgeschichte bukolischer Kommunikationen endet nicht mit dem 18. Jahrhundert; sie bleibt eine Angelegenheit auch der Moderne. Im Anschluss an die zuletzt erörterte ursprungstheoretische Variante des Tier-Mensch-Verhältnisses ließe sich etwa an Hugo von Hofmannsthals »Gespräch über Gedichte« (1903) erinnern. Dort ist von der »wunderbaren Sinnlichkeit« die Rede, aufgrund derer der Mensch einst das Tieropfer erfunden habe.96 Als jener »erste[  ], der opferte«, schon bereit gewesen sei, sich in seiner metaphysischen Furcht den Göttern hinzugeben, »wühlte seine Hand, halb unbewußt, noch einmal im wolligen warmen Vließ des Widders«, woraufhin er dann dieses »ihm so nah[e]« Tier getötet habe. Nähe wird hier ganz konkret räumlich verstanden, denn offenbar befindet sich das männli92 93 94 95 96

Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (Anm. 78), S. 734. Ebd., S. 783 (»Zweites Naturgesetz«). Dort auch die folgenden Zitate. Ebd., S. 791 (»Drittes Naturgesetz«). Ebd., S. 796. Hugo von Hofmannsthal: Das Gespräch über Gedichte, in: ders., Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hg. von Bernd Schoeller, Frankfurt a. M. 1979, Bd. 7, S. 495-509; hier S. 502. Die folgenden Zitate auf S. 502 f.

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che Schaf in der evozierten Situation direkt neben dem Menschen, »im doppelten Dunkel seiner niedern Hütte und seiner Herzensangst«. Die Entscheidung für das Tieropfer bedurfte daher nur einer kleinen Seitwärtsbewegung, sodass der Mensch glauben konnte, »es sei sein eigenes Blut«, das da fließe. Dabei, so die weitere Überlegung, »muß er die Wollust gesteigerten Daseins für die erste Zuckung des Todes genommen haben: er muß, einen Augenblick lang, in dem Tier gestorben sein, nur so konnte das Tier für ihn sterben.« In dieser momenthaften Identifikation des Opfernden mit dem Opfertier soll die »Wurzel aller Poesie« und somit aller symbolischen Handlungen überhaupt gesehen werden. Der mystifizierende Charakter von Hofmannsthals poetologischer Urszene macht deutlich, dass das Weiterwirken des Bukolischen in der Moderne nicht nur für die Sehnsucht nach einem einfachen, naturnahen Leben steht, sondern auch für das unheimliche Potenzial, das ebendieser Sehnsucht innewohnt. Ein jüngstes Beispiel dafür ist ­Valdimar Jóhannsons Film »Lamb« (2021), der eine ausführliche Analyse wert wäre, auf den ich hier aber nur abschließend sehr kurz hinweisen kann.97 Ausgangspunkt ist die zwar kärgliche, aber idyllische Zurückgezogenheit eines männlich-weiblichen Hirtenpaares in der Einsamkeit Islands. In den Anfangspassagen des Films sieht man, wie beide den weiblichen Schafen beim Gebären der Lämmer assistieren. Gezeigt wird außerdem eine merkwürdige Unruhe, die die Schafe im Stall ergreift, da etwas von außen auf ihren Stall zuzukommen scheint. Eines Nachts befördern Hirtin und Hirt ein merkwürdiges Wesen auf die Welt: ein Mensch-Schaf-Hybrid, das vom Menschenpaar wie ein Menschenkind großgezogen wird, aber doch immer auch ein Lamm bleibt. Für die sozialen Eltern – die Hirten – begünstigt ihr Leben am Rande der Gesellschaft die Selbstverständlichkeit, mit der sie das Lamm-Mädchen Ada als Tochter aufwachsen lassen. Auffallend ist, dass das Mischwesen erst nach und nach dem Blick der Kamera enthüllt wird, worin zugleich eine eigentümliche Dezenz und ein gewisses Spannungselement liegt. Im weiteren Verlauf tendiert der Film zum Horror-Genre. Am Ende steht die Heimsuchung durch ein ebenfalls gemischtes Vater-Wesen, das sein Kind zurückfordert und dabei den sozialen Vater tötet. Die bukolische Kommunikation wird so auf katastrophale Weise beendet; sie kann zwischen Mensch und Tier nicht mehr vermitteln, weil dieser Zwischenbereich als eigenständiges 97 Lamb (Dýrið), Island / Schweden / Polen 2021, Regie: Valdimar Jóhannson, Drehbuch: Sjón / Valdimar Jóhannson.

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mythologisches Reich behauptet und verteidigt wird. Der Schrecken entsteht hier allerdings weniger durch das Entsetzliche der hybriden Wesen als vielmehr dadurch, dass die bukolische Idylle selbst als menschengemachte Hybris entlarvt wird.

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»Ho loo, Ho loo, Ho loololoo!« Interspezifische Kommunikation im Kontext der höfischen Jagd »Die Frage ist nicht: Können sie denken?, noch: Können sie sprechen?, sondern: Können sie leiden?«1 Mit diesen in einer Fußnote versteckten Worten verteidigte der englische Philosoph und Sozialreformer Jeremy Bentham (1748-1832) im Jahr der Französischen Revolution das Recht auch von empfindsamen nicht-menschlichen Wesen auf ein leidensfreies Leben. Der Begründer des klassischen Utilitarismus wandte sich damit gegen eine mit dem Namen des französischen Philosophen René Descartes (1596-1650) verbundene Tradition, die aufgrund der angeblichen Denkunfähigkeit von Tieren eine scharfe Linie zwischen Menschen und allen Nicht-Menschen zog: Tiere waren demnach nicht viel mehr als seelenlose Automaten und konnten so auch ruhigen Gewissens getötet oder für wissenschaftliche Versuche verwendet werden. Bereits unter Descartes’ Zeitgenossen war diese Position freilich umstritten und wurde dann insbesondere von den Sensualisten des späten 17. und 18.  Jahrhunderts zurückgewiesen.2 Auch die von ­Bentham als tierethisch irrelevant verworfene Frage, ob Tiere ›sprechen‹ könnten, hatte bereits in der Frühen Neuzeit Anlass zu gelehrten Debatten gegeben. Die bekannteste Gegenposition zum anthropologischen Differentialismus war bereits um 1580 vom skeptischen Essayisten Michel de Montaigne (1533-1592) formuliert worden: War es nicht möglich, ja höchst wahrscheinlich, dass Tiere ebenfalls denken und miteinander kommunizieren konnten? Montaigne führte in seiner 1 Jeremy Bentham: Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung (1789); zit. nach: Texte zur Tiertheorie, hg. von Roland Borgards, Esther Köhring und Alexander Kling, Stuttgart 2015, S. 65 (Hervorhebung im Original). – Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojekts »Falken in der Höfischen Gesellschaft: Interspezifische Interaktionen und symbolische Repräsentation von Königsherrschaft in Europa (17. und 18.  Jahrhundert)«, das vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert wird (SNSF Ambizione, Projekt Nr. 179935). Die Literaturnachweise sind aufgrund der beschränkten Seitenzahl knappgehalten. 2 Zu den Debatten siehe Markus Wild: Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume, Berlin / New York 2006.

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»Apologie über Raymond Sebond« Beispiele an, bei denen sich Menschen und Tiere oder verschiedene Tiere untereinander durchaus verstanden, ohne dieselben Worte zu verwenden. So würden Pferde verstehen, dass bellende Hunde zornig seien, und auch stumme Tiere könnten sich anderen gegenüber äußern: »Ihre Bewegungen sind es, durch die sie zueinander reden und sich ihre Gedanken mitteilen.«3 Kommunikation über die Artengrenzen hinweg war also möglich und wurde – so Montaigne – von den Menschen seit jeher praktiziert: Auf wie vielerlei Art reden wir beispielsweise mit unsren Hunden – und sie antworten uns! In einer wiederum anderen Sprache als mit ihnen unterhalten wir uns mit den Vögeln, den Schweinen, den Ochsen und den Pferden; wir rufen sie mit andern Namen und wechseln je nach Gattung unsre Redeweise.4 In seinem berühmten Essai rekurrierte Montaigne auch wiederholt auf Jagdtiere, um seine These von der Wesensnähe zwischen Menschen und Tieren zu unterstreichen. Wie die Menschen würden auch verschiedene Tiere aufeinander Jagd machen und dabei teilweise ähnliche »Listen« verwenden. Jagdhunde seien dabei beobachtet worden, wie sie sich im Schlaf ähnlich bewegten und bellten wie während der Jagd  – was beweise, dass auch Tiere träumen und sich abwesende Dinge vorstellen könnten. In der zeitgenössischen sozialen Praxis der Jagd sah der Autor schließlich eine faktische Anerkennung der tier­ lichen Jagdhelfer als soziale Mitwesen: »Bei der Jagd teilen wir wie Anstrengung auch Gewandtheit so auch die Beute mit unsern Hunden und Beizvögeln«.5 Montaignes Beobachtungen sollen hier als Ausgangspunkt dafür dienen, um den Fragen näher nachzugehen, wie genau Menschen der Frühen Neuzeit mit Hunden und Vögeln ›sprachen‹ und sie in der Jagdpraxis und darüber hinaus als Teil des Sozialen anerkannten. Konkret werden die Praktiken artenübergreifender Kommunikation mit Hunden und Falken im Kontext der höfischen Jagd im Frankreich des »Grand Siècle« (1610-1715) genauer in den Blick gerückt. In einem ersten Schritt wird skizziert, wie sich Montaignes Beobachtungen unter Zuhilfenahme von Konzepten aus der Soziologie, der Human3 Michel de Montaigne: Apologie für Raimond Sebond (1580), in: ders., Essais, hg. von Hans Magnus Enzensberger und übers. von Hans Stilett, Frankfurt a. M. 1998, S. 217-300; hier S. 224. 4 Ebd., S. 226. 5 Ebd., S. 228.

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Animal Studies und der Zoosemiotik als Phänomene »interspezifischer Kommunikation« und »humanimaler Sozialität« analytisch systematisieren lassen. Anschließend wird die Organisation und Praxis der Jagd im Kontext des französischen Königshofes kurz vorgestellt, vor deren Hintergrund die daraufhin näher ausgewerteten Jagdund Falknereitraktate mehrheitlich entstanden. Am Beispiel von Jagdhunden und Falken werden sich Konvergenzen, aber auch Differenzen in der Kommunikation von Menschen mit anderen Tieren zeigen. Diese Differenzen verweisen neben ethologischen Unterschieden auch auf unterschiedliche Grade der sozialen Integration von Tieren in die frühneuzeitliche Gesellschaft.

I. Tiere, Sozialität und interspezifische Kommunikation Betrachten wir soziale Systeme mit Niklas Luhmann als Ergebnis von »Kommunikationen«,6 dann spricht einiges dafür, auch Tiere als gesellschaftliche Akteure mit zu berücksichtigen. So hat vor einigen Jahren der Soziologe Rainer E. Wiedenmann ein kommunikationstheoretisch fundiertes Mehrebenenmodell »humanimalischer Sozialität« entworfen, das sich auch für die Frühe Neuzeit als anschlussfähig erweist.7 Wiedenmann unterscheidet dabei eine primärsoziale Ebene, auf welcher Tiere als kommunizierende Mitwesen an Interaktionsprozessen teilhaben, und eine sekundärsoziale Ebene, auf der Menschen über Tiere kommunizieren, etwa als Gegenstand ethischer Diskurse. Hinzugefügt werden könnte hier noch eine Zwischenebene, auf der lebende Tiere als Medien zwischenmenschlicher Kommunikation fungieren, etwa als diplomatische Geschenke oder als Repräsentanten des Besitzers auf der Rennstrecke. Solche Kommunikation findet auf der

6 Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997 (2 Bde.); zum Kommunikationsbegriff, verstanden als Einheit und zugleich Differenz von Information, Mitteilung und Verstehen, insbes. Bd. 1, S. 190 f. 7 Rainer E. Wiedenmann: Tiere, Moral und Gesellschaft. Elemente und Ebenen humanimalischer Sozialität, Wiesbaden 2009. Wiedemanns Studie beinhaltet auch Fallstudien zur Tiermoral in der Frühen Neuzeit. Zur Übertragung dieses Sozialitätsmodells auf die höfische Gesellschaft s. auch Nadir Weber: Das Bestiarium des Duc de Saint-Simon. Zur »humanimalen Sozialität« am französischen Königshof um 1700, in: Zeitschrift für Historische Forschung 43, 2016, S. 27-59. Ich bevorzuge in Anlehnung an den Begriffsgebrauch in den angelsächsischen Human-Animal Studies das Adjektiv »humanimal«.

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sekundärsozialen Ebene statt, ist jedoch an die Interaktionsebene mit all ihren kontingenten Unabwägbarkeiten zurückgekoppelt.8 In bestimmten Interaktionszusammenhängen sind und waren Tiere wie selbstverständlich Teil des Sozialen. Begleittieren wird von Menschen im Alltag etwa durchaus »Du-Evidenz« im Sinne von Martin Buber oder »Adressabilität« im Sinne von Luhmann, Peter Fuchs und zuletzt Florian Muhle zugesprochen: Sie erhalten individuelle Namen und werden nicht nur regelmäßig gefüttert, sondern erfahren auch emotionale Zuwendung und werden nach ihrem Ableben betrauert. Wenngleich hier das Medium der Sprache als verbindendes Medium der Bedeutungsklärung fehlt, was das Problem der »doppelten Kontingenz« verschärft, so lassen sich doch mehrstufige Interaktionssequenzen – etwa zwischen Reiter:in und Pferd – als sinnhaft beschreiben in dem Sinne, dass eine stille wechselseitige Übereinkunft über Erwartungen bezüglich Anschlusshandlungen entsteht.9 Dass solche Kooperation über Artengrenzen hinweg möglich ist, konnten gerade Menschen der Frühen Neuzeit in verschiedensten sozialen Kontexten täglich beobachten. Ob Tiere oder mensch-tierliche Kommunikationen auch als Teil komplexerer Sozialsysteme begriffen werden können oder doch eher (strukturell gekoppelten) Umwelten zugerechnet werden müssen, ist letztlich eine Definitionsfrage. Zweifellos ergeben sich aber auf dieser Ebene gewisse Grenzen der Teilhabe. So verwenden und verwendeten nicht-menschliche Wesen in aller Regel keine Sekundärmedien wie Schrift oder Bilder zur Kommunikation; ebenso kann ein Bewusstsein um systemspezifische Codes oder Mitgliedsrollen schwerlich nachgewiesen werden. Andererseits ist klar, dass  – wie von Wiedenmann ausgeführt – Tiere ebenfalls Gegenstand der Kommunikation in Teilsystemen wie Wirtschaft, Recht oder Kunst sein können (sekundärsoziale Ebene). Zudem war das Funktionieren von komplexeren sozialen Systemen über lange Strecken der Geschichte auf das Mitwirken von Tieren angewiesen. Mit Blick etwa auf das Kriegs- und Transportwe8 Vgl. Nadir Weber: Lebende Geschenke. Tiere als Medien der frühneuzeitlichen Diplomatie, in: Medien der Außenbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Peter Hoeres und Anuschka Tischer, Köln / Weimar / Wien 2017, S. 160-180 und demnächst Christian Jaser / Nadir Weber: Einleitung. Tiere als Medien und Agenten der Statuskonkurrenz, in: Konkurrenzen in der Frühen Neuzeit, hg. von Franziska Neumann, Jorun Poettering und Hillard von Thiessen, Köln (ca. 2023). 9 Wiedenmann spricht hier von »Verbundshandlungen« oder »joint acts«; vgl. Wiedenmann: Tiere (Anm. 7), S. 211. Zum Konzept der »Adressabilität« s. den Beitrag von Florian Muhle in diesem Band.

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sen sowie die landwirtschaftliche Produktion ist es deshalb nicht so abwegig, die Vormoderne als »Pferdezeitalter« zu beschreiben.10 Im noch immer relativ jungen Forschungsfeld der Tiergeschichte bzw. der historischen Human-Animal Studies spielen solche Fragen nach der sich wandelnden praktischen und symbolischen Bedeutung von bestimmten Tierarten in Gesellschaften der Vergangenheit eine zentrale Rolle.11 Der praxeologische Zugang, wie er dem Ansatz einer »Animate History« zugrunde liegt, hat sich als besonders fruchtbar erwiesen, um die sich verändernden Modalitäten der Interaktion zwischen Menschen und bestimmten Tieren zu ergründen.12 Bisher wurde dies jedoch eher selten unter einem explizit kommunikationsgeschichtlichen Gesichtspunkt getan,13 obgleich sich etwa interessante Berührungs- und Anknüpfungspunkte zu neueren historischen Forschungen zu menschlicher Interaktion und Körpergeschichte in der Frühen Neuzeit ergeben. So hat Rudolf Schlögl im Rahmen seiner Forschungen zur »Vergesellschaftung unter Anwesenden« aufgezeigt, dass im weiterhin ordnungsstiftenden Face-to-face-Kontakt nonverbale Zeichen wie die Mimik, die Kleidung, die Art des Gehens oder gar der Geruch eine entscheidende Rolle spielten. Interaktion erweist sich also als synästhetisches, das heißt alle Sinne miteinbeziehendes Geschehen, das nicht ohne Bedeutungsverlust in Sprache übersetzbar ist.14 Es spricht also aus theoretischen Gründen wenig dagegen, auch mitanwesende Tiere als Teil von solchen sozialen Formationen unter 10 Vgl. Reinhart Koselleck: Das Ende des Pferdezeitalters, in: Süddeutsche Zeitung, 25. 9. 2003, S. 18 und darauf aufbauend Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung, München 2015. Zur Bedeutung von Pferden in der Frühen Neuzeit siehe Daniel Roche: La culture équestre occidentale, XVI e-XIX e siècle, Paris 2008-2013 (3 Bde.). 11 Siehe nun, den aktuellen Stand der Debatte synthetisierend, Brett Mizelle / Mieke Roscher / André Krebber (Hg.): Handbook of Historical Animal Studies, Berlin / Boston 2021. 12 Vgl. Gesine Krüger / Aline Steinbrecher / Clemens Wischermann: Animate History. Zugänge und Konzepte einer Geschichte zwischen Menschen und Tieren, in: Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History, hg. von dens., Stuttgart 2015, S. 9-33. 13 Im Band von Sarah Cockram / Andrew Wells (Hg.): Interspecies Interactions. Animals and Humans between the Middle Ages and Modernity, London / New York 2017, wird dies in der Einleitung zwar programmatisch angekündigt, in den Beiträgen aber nicht umgesetzt. 14 Vgl. Rudolf Schlögl: Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, Konstanz 2014; hier insbes. S. 56. Zu den Charakteristika von Interaktionssystemen s. allgemein André Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt a. M. 1999.

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Bedingungen der Anwesenheitskommunikation aufzufassen, sofern ihr Verhalten im Blick der Beobachter »einen Unterschied« machte. Interaktionssysteme in diesem Sinne  – und damit auch die darin stattfindende Kommunikation  – sind jedoch immer noch stark von den Menschen aus gedacht. Um einen neutraleren Standpunkt zu gewinnen, lässt sich grundsätzlicher danach fragen, unter welchen Bedingungen Kommunikation über die Artengrenzen hinweg möglich ist – auch ohne die Teilnahme von Menschen. In seinem Entwurf einer »Zoosemiotik« hat der Sprachwissenschaftler Thomas A. Sebeok angeregt, zwischen »intraspezifischer« und »interspezifischer« Kommunikation zu unterscheiden. Für das Überleben in Ökosystemen seien alle Lebewesen darauf angewiesen, auf die eine oder andere Art mit den anderen Spezies auszukommen und deren Verhalten zu deuten. Dies setze die Fähigkeit, andere »Codes« zu erkennen bzw. neue Codes in der Interaktion zu etablieren, voraus, woraus interspezifische semiotische Beziehungen oder »interspezifische Kommunikationssysteme« entstehen.15 Die Verwendung von Lauten ist dabei nur eine Möglichkeit unter vielen, Angehörige anderer Arten zu adressieren. Wie die zoologische Verhaltenswissenschaft seit Langem aufgezeigt hat, können gewisse akustische, optische, taktile, olfaktorische oder gar elektrische Signale bei Tieren tatsächlich primär darauf ausgerichtet sein, von artfremden Lebewesen im selben Ökosystem in einer Weise interpretiert werden, die das gewünschte Verhalten auslöst  – von der Kooperation in der Nahrungssuche bis hin zur Flucht.16 Insbesondere zwischen verschiedenen Wirbeltieren – zu denen auch der Mensch gehört – kann eine wechselseitige Fähigkeit, Emotionen oder bewusste Verhaltensäußerungen ›zu lesen‹, beobachtet werden. Dieses geteilte »Wirbeltierprogramm« stellte womöglich die entscheidende Voraussetzung dafür

15 Vgl. Thomas A. Sebeok: »Talking with Animals«. Zoosemiotics Explained (1990); wieder abgedr. in: Readings in Zoosemiotics. Semiotics, Communication and Cognition, hg. von Timo Maran, Dario Martinelli und Aleksei Turovski, Berlin / Boston 2011, S. 87-94; hier S. 88. Siehe zudem Timon Maran / Dario Martinelli / Aleksei Turovski: Readings in Zoosemiotics, in: ebd., S. 1-20; hier insbes. S. 2 sowie Gisela Håkansson / Jennie Westander: Communication in Humans and Other Animals, Amsterdam / Philadelphia 2013; hier insbes. S. 1-22. 16 Vgl. Adrian M. Wenner: The Study of Animal Communication. An Overview (1969), wieder abgedr. in: Readings in Zoosemiotics. Semiotics, Communication and Cognition, hg. von Timo Maran, Dario Martinelli und Aleksei Turovski, Berlin / Boston 2011, S. 111-122; hier insbes. S. 114 f.

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dar, dass Prozesse der »Domestikation« bzw. einer intensivierten »Koevolution« von menschlichen und nicht-menschlichen Populationen überhaupt erst stattfinden konnten.17 Das Konzept der »interspezifischen Kommunikation« mit seiner Typologie verschiedener sinnesbasierter Übertragungsmedien erlaubt es also, Kommunikation von der Problematik aus zu denken, wie Lebewesen, die die Welt kognitiv unterschiedlich repräsentieren und auf andere Reize reagieren, miteinander sinnhaft interagieren können. Es geht dabei nicht mehr nur um die Frage, ob Tiere auch Elemente menschlicher Kommunikationscodes erlernen können, sondern auch darum, »die Potentiale für mensch-tierliche hybride Gemeinschaften zu erforschen.«18 Der Mensch erscheint dann nicht mehr per se als der einzige aktive Part, der Tiere zähmt, domestiziert oder dressiert. Vielmehr muss er sich auch auf das Kommunikationsrepertoire der anderen Arten einlassen, um von diesen wahrgenommen zu werden, woraus neue, jeweils für sich auch zeit- und ortsspezifische Formen der interspezifischen Kommunikation entstehen können, die von allen neu eintretenden Teilnehmer:innen wieder erlernt werden müssen. Im Folgenden soll dies in Bezug auf ein bestimmtes soziales Setting genauer untersucht werden: den »Kommunikationsraum« des frühneuzeitlichen Fürstenhofes.19

17 Siehe Wiedenmann: Tiere (Anm. 7), S. 204, mit Verweis auf die Verhaltenssoziologie von Walter L. Bühl. Zur Geschichte des Domestikationskonzepts und der damit bezeichneten Praktiken siehe insbes. Jean-Pierre Digard: L’homme et les animaux domestiques. Anthropologie d’une passion, 2. Aufl., Paris 2009; zu Koevolution als geschichtswissenschaftliches Konzept: Edmund Russell: Coevolutionary History, in: The American Historical Review 119, 2014, S. 1514-1528. 18 »[…] interspecific communication experiments are not only investigating the ability of non-human animals to acquire human language. They also explore the potentials of human-animal hybrid communities.« Timo Maran / Dario Martinelli / Aleksei Turovski: Introduction (zum Kapitel »Human(itie)s, Animals and Contemporary Zoosemiotics«), in: Readings in Zoosemiotics. Semiotics, Communication and Cognition, hg. von Timo Maran, Dario Martinelli und Aleksei Turovski, Berlin / Boston 2011, S. 335-341; zit. S. 339. 19 Vgl. Rudolf Schlögl: Der frühneuzeitliche Hof als Kommunikationsraum. Interaktionstheoretische Perspektiven der Forschung, in: Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien, hg. von Frank Becker, Frankfurt a. M./New York 2004, S. 185-225 und  – darauf aufbauend  – ders.: Anwesende und Abwesende (Anm. 14), S. 247-282.

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II. Tierpräsenz und Jagdpraktiken am französischen Königshof Die Residenzen der französischen Könige und ihre umliegenden Gebäude und Gärten lassen sich auch als künstliche Ökosysteme beschreiben, die von einer besonderen Dichte interspezifischer Inter­aktionen geprägt waren.20 Zahllose Reit- und Kutschenpferde, Schoß- und Jagdhunde, Greifvögel und Tauben, Schafe und Hühner, Fasane und Hirsche, aber auch Maulwürfe und Ratten sowie bisweilen Elefanten und Tiger lebten hier in eigens für sie eingerichteten Gebäuden, umzäunten Parks oder auch den Gemächern der Schlösser. Die Angehörigen des Hofes waren es entsprechend gewohnt, eng mit Tieren zusammenzuleben. Bei einigen fürstlichen Ämtern wie den Reitmeistern, Hundeführern, Fasanenmeistern oder Fuchs- oder Maulwurfjägern waren die interspezifischen Interaktionen so gleichsam ins Metier eingeschrieben. Für Hofadlige gehörte – wie an anderen europäischen Höfen – neben der Basiskompetenz des Pferdereitens zumindest ein Grundverständnis im Umgang mit Hunden und Falken zu den erwarteten Kenntnissen. Tiere waren deshalb in die soziale Figuration des Fürstenhofes eng eingebunden.21 Die Jagd hatte einen besonderen Stellenwert in der fürstlichen Repräsentation, aber auch in der Organisation und Raumgestaltung des Hoflebens. Während Höfe, die wie jener des Kaisers in Wien ihren Schwerpunkt in Stadtresidenzen hatten, von Frühling bis in den Herbst temporär in Jagdschlösser in der Umgebung zogen, verlagerte sich der soziale Schwerpunkt des französischen im Verlauf des 17.  Jahrhunderts zusehends und schließlich ab 1682 permanent ins Jagdgebiet. Im seit dem ersten Bau des königlichen Jagdschlosses 1623 stets expandierenden »Grand Parc« von Versailles wurden Rot- und Damhirsche, Rehe und Wildschweine, aber auch Fasane, Reiher und 20 In diese Richtung argumentiert Grégory Quenet: Versailles, une histoire naturelle, Paris 2015, allerdings nur in Bezug auf den Park. 21 Vgl. Weber: Bestiarium (Anm. 7), mit Bezug auf Nobert Elias. Zu Tieren am französischen Hof sind in den letzten Jahren mehrere Studien erschienen; s. insbes. Nicolas Milovanovic: La princesse Palatine, protectrice des animaux, Versailles 2012; William Ritchey Newton: Les chevaux et les chiens du roi à Versailles au XVIII e siècle. La Grande et la Petite Écurie, les Écuries de la reine, le Grand Chenil et la Louveterie, Paris 2015; Joan Pieragnoli: La cour de France et ses animaux, XVI e-XVII e siècles, Paris 2016; ders.: Le prince et les animaux. Une histoire zoologique de la cour de Versailles au siècle des Lumières (1715-1792), Brüssel 2021. Für eine europäisch-vergleichende Perspektive s. Mark Hengerer / Nadir Weber (Hg.): Animals and Courts. Europe, c. 1200-1800, Berlin / Boston 2020.

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Milane unter der Aufsicht von Spezialisten aufgezogen oder von anderen Residenzen herbeigeschafft, um den ständigen Jagdhunger der Monarchen und ihres Hofes zu sättigen. Ende des 17.  Jahrhunderts war König Ludwig XIV . (1638-1715) etwa jeden zweiten Tag auf der Jagd; wenn wir berücksichtigen, dass weitere Dynastieangehörige wie der Dauphin oder auch die »princes du sang« eigene Jagdequipagen unterhielten und Jagden abhielten, herrschte eigentlich permanenter Jagdbetrieb.22 Dabei wurden verschiedene Jagdformen praktiziert. Als besonders repräsentativ galt die berittene Hetzjagd mit großer Hundemeute auf den Hirsch und anderes Rotwild, die »chasse à courre« oder »vénerie«. Diese Jagd folgte einem detaillierten Skript, das von der Auswahl eines bestimmten zu jagenden Tiers bis zum Todesstoß und der anschließenden – von Montaigne erwähnten – Aufteilung der Jagdbeute unter Menschen und Hunden in der Zeremonie der »curée« reichte.23 Weiterhin hoch im Kurs stand die Beizjagd (»fauconnerie«), insbesondere die Jagd »im hohen Flug« mit Falken auf Reiher und Milane. Einen Bedeutungsgewinn erfuhr in der gleichen Zeit jedoch auch die Pirsch mit der Jagdflinte, die zwar kaum auf höfischen Gemälden abgebildet wurde, sich quantitativ aber in den Jagdstrecken stark niederschlug: An manchen Tagen erlegte König Ludwig XIV . mehrere hundert Fasane und Rebhühner. Daneben wurde auch am französischen Hof gelegentlich die an deutschen Höfen besonders beliebte eingestellte Jagd oder »Tuchjagd« (»chasse à toile«) praktiziert, bei der eine Vielzahl von Wildtieren in einen abgesperrten Bereich getrieben und in diesem von Hofangehörigen mit Gewehren, Knüppeln oder Spießen getötet wurden. Für die Eber- und Wolfsjagd wurden ebenfalls eigene Equipagen – der »vautrait« und die »louveterie« – unterhalten. Bei all diesen Jagdformen spielten Tiere eine zentrale Rolle, nicht nur als gejagtes Wild, sondern auch in der Rolle als Jagdhelfer. Insbesondere Hunde, Pferde und Greifvögel sowie vereinzelt Kormorane 22 Vgl. Philippe Salvadori: La chasse sous l’Ancien Régime, Paris 1996; hier insbes. S. 199-215. Zur Jagd als strukturierendes Moment im Hofkalender vgl. Jeroen Duindam: Vienna and Versailles. The Courts of Europe’s Dynastic Rivals, 1550-1780, Cambridge 2003, S. 143-150. 23 Vgl. dazu eingehender auch Maike Schmidt: Jagd und Herrschaft. Praxis, Akteure und Repräsentationen der höfischen »vénerie« unter Franz I. von Frankreich (1515-1547), Trier 2019 und zur Rolle der Hundemeuten: Nadir Weber: Die Macht der Meuten. Zur politischen Metaphorik jagender Hunde im Umfeld des französischen Königshofes (17. und 18. Jahrhundert), in: Jenseits der Ordnung? Zur Mächtigkeit der Vielen in der Frühen Neuzeit, hg. von Jan Marco Sawilla und Rudolf Schlögl, Berlin 2019, S. 261-289.

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und Geparden wurden am französischen Hof zu Jagdzwecken gehalten. Um 1700 umfassten die königlichen und prinzlichen Meuten in Versailles mehr als 1000 Laufhunde, die Falknerei etwa 300 Beizvögel, dazu kamen Dutzende von Vorstehhunden und speziell trainierten Jagdpferden. Diese Tiere wiederum wurden von Angehörigen der königlichen Jagdadministration in speziellen Gebäuden gepflegt und trainiert. Die Liste der mehrere Hundert Inhaber von höfischen Chargen und Funktionen im Jagdbetrieb reichte vom meist hochadligen »Grand veneur«, »Grand fauconnier« oder »Grand louvetier« bis hinunter zu den »valets de chiens« (Hundeknechten) oder »portes-ducs« (Uhuträgern).24 Hinter den von Höflingen und auswärtigen Beobachtern bestaunten höfischen Jagdereignissen stand also eine komplexe Organisation, die dafür sorgte, dass das Wild zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und die tierlichen Helfer die vorgesehene Rolle erfüllten. Einzelne der Spezialisten, die für diese Anlässe zuständig waren, wagten über das Verfassen von Jagdtraktaten auch den Schritt in die druckmediale Öffentlichkeit.

III. Nicht-menschliche Jagdhelfer als interessegeleitete Akteure Gedruckte Jagd- und Falknereitraktate, die in Frankreich insbesondere im Zeitraum von etwa 1560 bis 1680 florierten, eignen sich besonders als Quelle, um die Praktiken interspezifischer Kommunikation vor und während der Jagd genauer zu beleuchten.25 Sie erlauben es uns zwar nicht, die stets ephemere Kommunikation direkt zu beobachten, geben aber Aufschluss über deren Konzeption sowie die Handlungsregeln, welchen diese folgen sollte. Primäre Adressaten der im Folgenden analysierten hofnahen Traktate waren junge Adlige, die sich auf ein Leben am Hof vorbereiteten, oder Angehörige der Jagdadministration, welche den praktischen Ablauf der Jagd garantieren sollten. Die Bücher wurden aber potenziell von den Souveränen selbst rezipiert, 24 Zu diesen Ämtern und ihren Funktionen siehe insbes. Newton: Les chevaux et les chiens (Anm. 21), S. 587-655. 25 Zu den Jagdtraktaten aus dem höfischen Kontext des frühneuzeitlichen Frankreichs s. Salvadori: La chasse (Anm. 22), S. 37-66. Zur Falknereiliteratur in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts: Ingrid A. De Smet: La Fauconnerie à la Renaissance. Le Hieracosophion (1582-1584) de Jacques Auguste de Thou, Genf 2013, S. 119-159. Die meisten Jagdtraktate entstanden somit vor der Niederlassung des französischen Königshofes in Versailles, doch prägte die dort verschriftlichte Kodifizierung der Jagd die Jagdpraxis bis zum Ende des Ancien Régime maßgeblich.

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was sie zu einem Vehikel für höfische Karrieren oder zum Medium der Einflussnahme machen konnte. Einen Großteil des Inhalts dieser Jagd- und Falknereitraktate machen jeweils die Ausführungen zu den tierlichen Jagdhelfer:innen26 aus: Beschreibungen der Vorzüge von verschiedenen Hunderassen und Falkenarten; Ratschläge für deren Unterbringung und medizi­ nische Behandlung; ausführliche Anweisungen zur Abrichtung respektive Erziehung für Jagdzwecke sowie detaillierte Angaben zur Verhaltenssteuerung bei der Jagd selbst. Hunde und Falken wurden dabei meist implizit und teils auch explizit als handlungs- und kommunikationsfähige Akteure aufgefasst. So schloss die Diskussion der Eigenschaften von verschiedenen Hunde- und Falkenarten neben den äußeren Merkmalen auch Verhaltensweisen mit ein. Dabei wurde ­ konzediert, dass die einzelnen Tiere sich in ihrem ›Temperament‹ unterscheiden konnten. Anthropogene Kategorien wie Mut, Angst oder Vorsicht wurden dabei zur Unterscheidung von Charaktereigenschaften einzelner ›Rassen‹ bzw. Sorten oder Individuen von Jagdtieren verwendet. Hunde, die für die Wolfsjagd verwendet wurden, mussten etwa »von außerordentlich kühner Natur« sein, so der erfahrene königliche »lieutenant de la louveterie« Robert de Salnove (1597-1670) in seinem 1665 publizierten Traktat »La vénerie royale«. Denn die meisten Hunde würden sich aus »Furcht« (»crainte«) vor dem Wolf hinter dem Pferd oder Jäger verstecken. Wenn man über eine »Rasse« Hunde verfüge, die sich für die Wolfsjagd eigneten, müsse man diese daher mit großem Bedacht erhalten.27 In Bezug auf die Motivation der tierlichen Helfer fand ebenfalls eine assimilatorische Sprache Verwendung. Die Hunde, so Salnove, »jagen für ihr Vergnügen und ihr Interesse«. Damit rekurrierte er auf ein Konzept, das im politischen Diskurs der Zeit Hochkonjunktur 26 In der Falknerei wurden weibliche Falken bevorzugt, bei anderen Jagdformen dürfte das Geschlechterverhältnis bei den Tieren ungefähr ausgeglichen gewesen sein. Wenn hier meist das generische Maskulinum verwendet wird, bezieht sich dieses entsprechend nicht auf das Geschlecht der einzelnen Tiere. Zu den geschlechtergeschichtlichen Aspekten der Jagd, einschließlich des Geschlechts der Jagdtiere, vgl. demnächst die aus der Tagung »Hunting Troubles. Gender and its Intersections in the Cultural History of the Hunt« (Bremen, 12.-14. 5. 2022, organisiert von Laura Beck und Maurice Saß) hervorgehenden Beiträge. 27 »Il faut que les chiens-courans pour chasser le Loup soient d’une nature extraordinairement hardie […]; c’est pourquoi quand l’on est bien en race de chiens pour Loup, il faut la conserver avec grand soin.« Robert de Salnove: La Vénerie Royale, divisée en IV parties […], Paris 1665, S. 255.

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hatte.28 Zwar unterstellte der Jäger seinen Hunden keine längerfristigen Machtambitionen, zeigte sich aber überzeugt, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse kannten und Kosten und Nutzen der Kooperation mit Menschen abwägen konnten. Gemäß Salnove war es daher mit Blick auf künftige Jagden absolut notwendig, der Meute nach erfolgreicher Jagd jeweils einen Anteil am erlegten Wild – die »curée« – zuzugestehen.29 Auch Falken übten gemäß dem provenzalischen Adligen und »gentilhomme de la fauconnerie du roi« Charles d’Arcussia (15541628) ihre Rolle als Jagdhelfer vor allem aus Interesse aus. Dabei stand die Belohnung in Form von frischem Tauben- oder Hühnerfleisch (französisch ebenfalls ›curée‹ genannt, deutsch ›Atzung‹), die sie bei der Rückkehr auf die Faust des Falkners erwartete, als handlungsmotivierendes Element im Vordergrund. 30 Die kognitiven Fähigkeiten ›ihrer‹ Tiere schätzten die Traktatschreiber damit im Allgemeinen hoch ein. Auch Erinnerungsfähigkeit, Kombinationsgaben und Entscheidungsvermögen wurden Hunden und Falken zugesprochen. Charles d’Arcussia, der noch ein Zeitgenosse Montaignes war und in seinen Schriften vereinzelt auch direkt auf diesen Bezug nahm,31 brachte seine Beobachtungen zum Verhalten von Vorstehhunden in der Falknerei gar explizit in Gegensatz zu differentialistischen Positionen zum Mensch-Tier-Verhältnis in Stellung: »Es gibt Hunde, denen allein die Sprache fehlt, und die Vernunft besitzen, was immer auch die Philosophen sagen mögen.«32 Bei Falken beobachtete er zudem mit Verweis auf ein Individuum, das seine Beute vor dem Falkner versteckt hatte, »den freien Willen, zu tun

28 Vgl. Ernst Wolfgang Orth / Jörg Fisch / Reinhart Koselleck: Art. Interesse, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhard Koselleck, Stuttgart 1982, Bd. 3, S. 305-365. 29 »[…] les chiens chassent pour leur plaisir & leur interest.« Salnove: Vénerie Royale (Anm. 27), S. 57. 30 Charles d’Arcussia: La Fauconnerie de Charles d’Arcussia de Capré, seigneur d’Esparron, divisée en cinq parties, Paris 1615 (erste Auflage Aix, 1598), S. 187-189. Zur Biographie von Charles d’Arcussia siehe Augustin Roux: Un gentilhomme campagnard actif. Charles d’Arcussia-Esparron (1554-1628), Aix-en-Provence 1992 (Mémoires de l’Académie des sciences, agriculture, arts & belles-lettres d’Aix, nouvelle série, Bd. 5). 31 Vgl. d’Arcussia: La Fauconnerie (Anm. 30), S. 280 f. 32 »Il y a des chiens auxquels il ne manque que la parole, & qui ont de la raison, quoy que disent les Philosophes.« Charles d’Arcussia: La conférence des fauconniers, in: ders., La Fauconnerie de Charles d’Arcussia […], Rouen 1644 (erweiterte Ausgabe), S. 35.

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oder nicht zu tun, und Mittel zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu erfinden – eine Sache, die wir täglich beobachten können.«33 Wer Hunde und Falken als Jagdhelfer einspannen wollte, konnte also auf deren Lernfähigkeit und beachtlichen kognitiven und körper­ lichen Fähigkeiten aufbauen. Im Idealfall wurden die Tiere so zu »intelligenten Waffen«, die fliehendes Wild aufspüren, zu Boden und in der Luft verfolgen und schließlich immobilisieren oder töten konnten.34 Die tierliche Agency bedeutete aber auch Eigensinn, der sich unter Umständen gegen die Intentionen der Jagdherren und ihrer Bediensteten richten konnte. Um wünschenswertes Verhalten zu fördern, wurde in beiden Fällen vor allem mit Methoden der ›positiven Verstärkung‹ gearbeitet, das heißt kooperatives Verhalten wurde so lange belohnt, bis es regelmäßig gezeigt wurde.35 Außerdem setzten die Jagdexperten auf das Lernen durch Nachahmung von Artgenossen, insbesondere bei den soziablen Hunden, die mit Leinen an erfahrenere Artgenossen gebunden und schließlich zu einem Teil des Kollektivakteurs ›Meute‹ wurden, aber auch bei den Falken, die ebenfalls in Kompagnie zu jagen lernten. Über das Spiel mit den Interessen der Tiere und das Vertrauen auf intraspezifisches Lernen hinaus mussten aber auch kommunikative Codes etabliert werden, um ihr Verhalten variabler zu modulieren und sie im Jagdgeschehen zu lenken. Dies konnte nur gelingen, wenn die Hunde und Falken als Gegenüber adressiert wurden.

IV. Alte Vertraute: Kommunikation mit Jagdhunden Dass selbst der Falkner Charles d’Arcussia die »Vernunft« der Hunde betonte, verweist auf ein besonders enges interspezifisches Beziehungsverhältnis. Dieses hatte sich über Jahrtausende engster Koevolution entwickelt, die sowohl Menschen wie Wölfe veränderte, und er33 »Comme les oyseaux ont l’usage de raison« – »Bref, ils ont leur volonté libre de faire ou ne faire pas, & d’inventer des remedes propres à leur necessitez, chose que nous voyons iournellement«. Charles d’Arcussia: Lettres de Philoierax à Philofalco ou sont contenus les maladies des oyseaux, & les remedes pour les guerir, in: ders., La Fauconnerie (erweiterte Ausgabe, Anm. 32), Brief 8: »Comme les oyseaux ont l’usage de raison«, S. 128-131; zit. S. 131. 34 Zu Falken als »intelligente ›Low-Tech‹-Waffe« vgl. Yannis Hadjinicolaou: Macht wie die des Königs. Zur politischen Ikonographie der Falknerei, in: Hunting without Weapons. On the Pursuit of Images, hg. von Maurice Saß, Berlin / Boston 2017, S. 87-106; hier S. 105. 35 Dies ist noch heute die Grundlage der Falkenabrichtung; vgl. etwa Nick Fox: Understanding the Bird of Prey, Surrey (CD ) 1995, S. 193.

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möglichte ein großes Maß an wechselseitigem Sinnverstehen.36 Zwar war dem naturgeschichtlichen Diskurs der Frühen Neuzeit der Gedanke der Evolution von Arten noch fremd, und das moderne Konzept der Domestikation existierte ebenfalls noch nicht. Dennoch galten Hunde bereits als das häusliche bzw. dienende Tier par excellence: Die erste Ausgabe des »Dictionnaire de l’Académie française« verwies 1694 zur Klärung des Adjektivs »domestique« etwa zunächst auf Hausdiener, um dann fortzufahren: »[Das Wort] verwendet man auch in Bezug auf gezähmte Tiere, die in den Häusern bleiben. Der Hund ist ein Haustier (animal domestique).«37 Dieses Nahverhältnis zum Menschen war den Hundekörpern also gleichsam eingeschrieben, und das Bewusstsein, dass bestimmte physische und charakterliche Eigenschaften durch gezielte Kreuzungen weiter gefördert werden konnten, war gerade im Jagdkontext Teil des Praxiswissens.38 Im krassen Gegensatz zum artverwandten, aber räuberischen Wolf zeichneten sich Hunde in der Sicht Robert de Salnoves vor allem dadurch aus, dass sie von Natur aus zur »Freundschaft« zu ihrem »Wohltäter« disponiert seien.39 Dieses vertraute Verhältnis bot optimale Grundlagen für die Einübung von wechselseitiger Kommunikation. Bei den Ausführungen 36 Am Beispiel der Mensch-Hund-Beziehung argumentierte Donna Haraway, dass Koevolution auch als eine wechselseitige »co-constitution« zu begreifen sei, d. h. sich auch die Gattung Mensch ohne den Einfluss von »Canis lupus« anders entwickelt hätte: Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, Chicago 2003. Zur Kulturgeschichte der Mensch-Hund-Beziehungen siehe etwa Susan McHugh: Dog, London 2004; Aline Steinbrecher: Auf den Hund gekommen. Zur Kulturund Sozialgeschichte der Mensch-Hund-Beziehung, 1700-1850, Habilitationsschrift, Zürich 2016; Edmund Russell: Greyhound Nation. A Coevolutionary History of England, 1200-1900, Cambridge 2018. 37 »Il se dit aussi des animaux privez qui demeurent dans les maisons. Le chien est un animal domestique.« Art. domestique, in: Dictionnaire de l’Adadémie françoise, Paris 1694 (Bd. 1). 38 Das in diesem Zusammenhang verwendete Rassenkonzept hatte jedoch wenig mit dem modernen Konzept von biologisch bzw. nach Phänotyp definierten Hunderassen zu tun, sondern bezeichnete eher für bestimmte Jagdaufgaben gehaltene und zwar genealogisch definierte, aber immer wieder durch Kreuzungen »veredelte« Hundekollektive. Vgl. Maike Schmidt: Staghounds and the Making of Excellence. Canine Knowledge and Royal Mastery in Sixteenth-Century France, in: Animals and Courts. Europe, c. 1200-1800, hg. von Mark Hengerer und Nadir Weber, Berlin / Boston 2020, S. 219-240. 39 »Et le seul avantage qu’a le chien sur le Loup, est le naturel & l’amitié qu’il a pour son bien-faicteur; mais le Loup n’en a jamais, car quelque bien que vous luy fassiez, il ne vous paye que d’ingratitude […].« Salnove: Vénerie Royale (Anm. 27), S. 244. Im »Dictionnaire« am Ende seines Traktats definierte Salnove den Wolf bemerkenswerterweise als »chien sauvage«.

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zur Erziehung junger Hunde zu Spür- oder Laufhunden diskutierten die Jagdtraktate unterschiedliche Medien, mittels derer Hunde adressiert werden konnten. Neben haptischen oder taktilen (Streicheln und Schlagen) und optischen Signalen (Zeigen) nahmen für die Feinabstimmung auch akustische Zeichen eine wichtige Rolle ein: »Die Hunde verstehen nur über Zeichen und Handlungen, gefolgt von der Rede, die Ihr ihnen durch Gewöhnung beibringen müsst«, so übersetzte Salnove diese Beobachtungen in sein Modell der Hundeerziehung.40 Eine gezielte Ansprache auch innerhalb von größeren Meuten ermöglichte individuelle Eigennamen, die gemäß Salnove jeder Hofjäger genau kennen musste.41 Bestimmte (verbale oder nonverbale) Lautsignale sollten es zudem erlauben, die Hunde respektive die Hundemeute je nach Jagdverlauf stärker zur Jagd anzutreiben (»zu erhitzen«) oder zurückzuhalten, auf die Fährte zu setzen oder in die Richtung zu lenken, wobei neben der menschlichen Stimme auch Jagdhörner als Medien fungierten. So heißt es in der »Vénerie royale«: Man muss auch im folgenden Wortlaut sprechen: Il va là chiens, Il valà, & s’en va là [wörtlich etwa: »(Der Hirsch) geht dorthin, Hunde, dorthin, geht dorthin«, N. W.], und manchmal sagen outrevault chiens, outre-vault, wenn sie auf dem Weg bleiben und die Jagd aufrechterhalten. Dazu muss man diejenigen [Hunde], die sich an der Spitze [der Meute] befinden, mit obgenannten Worten ansprechen. Der gresle [Ton mit dem Jagdhorn, N. W.] darf nur ertönen, wenn Ihr den Hirsch seht, wozu man auch mit lauter Stimme Tayaut sagen soll, womit jene, die der Jagd folgen, erkennen, was man nun macht, und das Vertrauen der Hunde hergestellt und erhalten wird.42

40 »Ie diray donc que les chiens n’entendent que par signes & actions, suivis pourtant de la parole que vous leur faites comprendre par habitude […].« Ebd., S. 43. 41 Ebd., S. 54. 42 »L’on doit aussi parler en ces termes: Il va là chiens, Il valà, & s’en va là, & quelquefois dire, outre-vault chiens, outre-vault, quand ils tiennent la voye, & la chasse, & parlant à ceux qui sont à la teste, les nommer en disant les termes cy-dessus; Le gresle ne se doit sonner que lors que vous voyez le Cerf, où l’on doit dire d’un ton haut Tayaut, ce qui fait connoistre à ceux qui suivent la chasse, ce que l’on y fait, & qui établit & maintient la croyance aux chiens, puisqu’il y a un reglement, & que dans la maniere que l’on sonne & parle à present aux chiens, il n’y en a aucuns, leurs termes tenans plustost du Basteleur que du Chasser […].« Ebd., S. 146.

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Abb. 1: Alexandre-François Desportes, Bonne, Nonne et Ponne, Öl auf Leinwand, um 1702 (Musée du Louvre, Inv. 3912, © RMN -Grand Palais / Musée du Louvre, Daniel Arnaudet). Die Vorstehhunde des Königs Ludwig XIV . zeigen mit ihrer Körperhaltung dem mit dem Schießgewehr herannahenden Jäger – dessen Perspektive in etwa jener des Betrachters des Gemäldes entspricht – die versteckten Rebhühner an, die sie auf Befehl hin gleich aufscheuchen werden.

Bemerkenswert ist hier unter anderem, dass die Befehle, die von den Piqueuren ausgesprochen werden sollten, Silbe für Silbe wiedergegeben wurden – ob es sich nun um verbale Aussagen handelte oder um nichtsprachliche wie etwa auch die Lautfolge »Ho loo, Ho loo, Ho loololoo«, welche Spürhunde zum Aufnehmen der Fährte animieren sollte.43 Salnove begründete die von ihm aufgeführten Lautfolgen primär mit dem alten Herkommen, das es zu beachten gelte. Man kann die Verschriftlichung der in der Mensch-Hund-Kommunikation verwendeten akustischen Signale aber auch als innovativen Versuch deuten, innerhalb der königlichen Jägerei eine standardisierte ›Sprache‹ zu etablieren. Diese sollte – so meine These – den geordneten Ablauf der 43 Ebd., S. 63.

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Jagd unabhängig von individuellen Mensch-Tier-Beziehungen gewährleisten. Die Etablierung verbindlicher ›Codes‹ war demnach eine Antwort auf das in den Traktaten verschiedentlich thematisierte Problem, dass Hunde aufgrund ihrer Gewöhnung an einen bestimmten Hundeführer, der sich ›falscher‹ Signale bediente, bei diesem zwar unter Umständen sehr gut, bei anderen Jägern aber nur schlecht folgten. Deshalb war es so wichtig, die »richtigen Begriffe der alten Jagdordnung« zu verwenden, wie auch der Hofjäger Jacques Espée, »vicomte de Sélincourt«, in seinem 1683 publizierten Traktat »Le parfait chasseur« betonte.44 Parallel zu anderen Maßnahmen wie der Professionalisierung der Jagdadministration durch die Reduktion von Ehrenämtern, die Schaffung separierter Räumlichkeiten für die »vénerie« und die Etablierung von Befehlsketten, die vom König über mehrere Zwischenstufen bis zu den »valets de chiens« und zuletzt zu den Hunden selbst reichten, kann dieses Bemühen um eine Standardisierung der interspezifischen Kommunikation in die Tendenz zur Etablierung einer formalen Organisation der Meutenjagd eingeordnet werden. Damit wurden sowohl die beteiligten Menschen wie auch die königlichen Hunde als Rollenträger mit definierten Aktionsspielräumen aufgefasst. Neben den Spür- und Laufhunden, die bei der »chasse à courre« zum Einsatz kamen, lebten am Hof auch Vorstehhunde, deren Aufgabe es war, bei der Falken- oder Schussjagd Rebhühner, Fasane oder Hasen aufzuspüren und dem Jäger mit ihrer Körperhaltung, teils gar unter Einsatz der Vorderpfote, ›anzuzeigen‹. Auch hierfür bedurfte es eines speziellen Trainings sowie einer ausgeprägten Vertrauensbeziehung mit dem Jäger – in diesem Fall dem König selbst. Die Hündinnen Bonne, Nonne und Ponne, die vom Jagd- und Tiermaler AlexandreFrançois Desportes (1661-1743) in einem Gruppenporträt bei der Ausübung dieser Rolle verewigt wurden (Abb. 1), lebten mit dieser Begründung an einem ganz besonderen Ort, nämlich bloß zwei Türen vom Schlafgemach des Sonnenkönigs entfernt im »cabinet des chiens du roi« im Schloss Versailles. Es ist zudem bezeugt, dass der König selbst diese Hunde täglich streichelte und sie von eigener Hand mit Keksen fütterte – gemäß aufmerksamen Beobachtern mit dem Zweck, »sich ihnen bekannt zu machen«.45 44 »[…] vrays termes de l’ordre de la Chasse ancienne«. Jacques Espée de Sélincourt: Le parfait chasseur, pour l’instruction des personnes de qualité ou autres qui aiment la Chasse, pour se rendre capables de cet Exercice […], Paris 1683, S. 13. 45 So der Duc de Saint-Simon in seinen Memoiren; hier zit. nach Weber:

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Diese Hunde begleiteten den König bei seinen morgendlichen Jagdpromenaden in den Gärten von Versailles oder Marly, die sich im Gegensatz zu den großen »chasses à courre« und anderen Hofjagden in einem weitgehend intimen Rahmen abspielten. Mit seinen Kabinettshunden wahrte der dem Diskurs nach absolute König ein Stück weit seine Autonomie gegenüber der sich ausdifferenzierenden Organisation, die sich um die höfische Jagd gebildet hatte. Die Hunde wiederum wurden nicht nur zu Sinnbildern einer persönlichen, von keinen familien­politischen Ambitionen getrübten Ergebenheit und Treue zum König, sondern genossen alle Privilegien von königlichen ›Favoritinnen‹.

V. Falken und die Grenzen des Sozialen Falken wurden zwar ebenso wie die Jagdhunde gelegentlich individuell porträtiert oder als statusanzeigende Attribute auf Fürstengemälden mitabgebildet. In der sozialen Praxis waren ihre Beziehungen zu den Souveränen und ihren Bediensteten aber weit weniger vertraut. Denn anders als bei den Hunden war in den Falkenkörper keine jahrhundertealte Geschichte der Koevolution und »Ko-Konstitution« mit Menschen eingeschrieben. Falken wurden in der Frühen Neuzeit nicht gezüchtet. Vielmehr wurden sie als junge Wildtiere in teils sehr weit entfernten Gegenden wie etwa den Küsten Islands von Falkenfängern gefangen. Anschließend gelangten die mit Hauben versehenen Greifvögel über den Handel oder als diplomatische Geschenke an die Höfe, wo sie schrittweise zur Jagd abgerichtet wurden. Alle am Hof eingesetzten Falken hatten also eine allmähliche Transformation vom Wildtier zum Jagdhelfer durchlaufen, der seine »Liebe zur Freiheit« aber doch nie ganz verlor.46 Dazu kam, dass die Lebenserwartung von arium (Anm. 7), S. 39. Zu den Kabinettshunden Ludwigs XIV . s. ausführlicher Milovanovic: La princesse Palatine (Anm. 21), S. 43-57. 46 »[…] l’amour de la liberté qui combat pendant quelque tems, cède enfin à la violence de l’appétit; dès qu’ils ont mangé sur le poing du chasseur, on peut les regarder presque comme assujettis.« (Meine Hervorhebung). Charles Georges Le Roy: Art. Vol, Chasse au vol, in: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers […], hg. von Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’Alambert, Bd. 17, Paris u. a. 1751-1780 (35 Bde.), S. 440 f. Im Gegensatz zu dieser kritischen, vom naturalistischen Diskurs der Aufklärung geprägten Sicht betonten Autoren von Falknereitraktaten, dass die Falken freiwillig bei ihren Haltern blieben und durch ihre Flüge weiterhin ähnliche Freiheiten genössen wie ihre wilden Artgenossen; vgl. d’Arcussia: La Fauconnerie (Anm. 30), S. 2. Auf die typischen Lebensverläufe von Falken gehe ich ausführlich in meiner kurz vor dem Abschluss stehenden

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Jagdfalken unter den ungünstigen Haltungsbedingungen nur wenige Jahre betrug, weshalb sich die tierliche Zusammensetzung der fürst­ lichen Falknereien ständig veränderte. Als Angehörige von nicht-domestizierten Tierarten blieben die Beizvögel daher trotz ihrer privilegierten Stellung in gewisser Weise Fremde im höfischen Raum. Wie gelang es unter solchen Umständen dennoch, einen »gemeinsamen Code« zur Etablierung eines Kooperationsverhältnisses herzustellen? Auf die Bedeutung des Frischfleischs wurde bereits hingewiesen: Es galt als essenziell, um zu erreichen, dass die Greifvögel ihre Gefangenschaft akzeptierten, erwünschtes Verhalten wiederholt zeigten und schließlich gar nach dem Freiflug wieder zu ›ihren‹ Falknern zurückkehrten. Auf Schläge sollte verzichtet werden, jedoch wurde die Nahrungszufuhr rationiert, um die gefangenen Vögel in Abhängigkeit zu halten. Über diese basalen Grundlagen der Falkenabrichtung hinaus finden wir auch hier kommunikative Praktiken, die auf Beziehungsund Kommunikationsfähigkeit der Vögel aufbauten. Dabei kam den Falknern zugute, dass auch Vögel grundsätzlich auf das Kommunikationsrepertoire des »Wirbeltierprogramms« ansprechen.47 Falken pflegen zudem in ihren natürlichen Habitaten längerfristige Bindungen an einen Brutpartner, mit dem sie auch gemeinschaftlich jagen, und können diese Beziehungsmuster auf Menschen übertragen.48 Anders als etwa die in den Traktaten als undressierbar geltenden Milane und eine Reihe anderer Raubvögel hatten Falken also grundsätzlich die »Neigung […], uns zu dienen«, wie dies Charles d’Arcussia feststellte und als wundersame Einrichtung Gottes deutete.49 Wie die Hunde trugen auch die Falken der königlichen Falknereien ihre individuellen Namen. Sie wurden zudem in der Regel vom gleichen Falkner betreut, zu dem sie schrittweise eine Art Vertrauensbeziehung aufbauen sollten. Erst wenn die gefangenen Greifvögel hinonsschrift ein: Nadir Weber: Rulers and Raptors. Animals, Falconry, and the Making of Royalty in Early Modern Europe, Universität Luzern 2022. 47 Vgl. Håkansson / Westander: Communication (Anm. 15), S. 163-186 und zu den Beziehungen zwischen Menschen und Vögeln in der Frühen Neuzeit nun Julia Breittruck: Ein Flügelschlag in der Pariser Aufklärung. Zur Geschichte der Beziehungen zwischen Menschen und ihren Vögeln, München 2021. 48 Dies geht bis hin zu Kopulationsversuchen, was in der modernen Falkenzucht zur Samengewinnung nutzbar gemacht wird; vgl. Helen Macdonald: Falcon, Glasgow 2015 (erste Aufl. London 2006), S. 134-139. 49 »Si bien qu’outre la dexterité admirable que Dieu nous a donnee de nous en rendre maistres, il semble que l’obeïssance que si frnachement & si volontairement ils nous rendent, ne peut venir que de quelque secrette inclination qu’ils ont naturellement à nous servir.« d’Arcussia: La Fauconnerie (Anm. 30), S. 2.

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länglich zahm (›locke‹) waren, konnte mit dem eigentlichen Training für die Jagd begonnen werden. Bei der Kommunikation spielten Ruf­ signale ebenfalls eine wichtige Rolle. Gemäß d’Arcussia sollten die Falken jeweils mit Rufen wie »yò, yò« oder »vallaus, vallaus« zurückgerufen werden.50 War ein Rebhuhn in Sicht, das der Greifvogel anfliegen sollte, sollte der Falkner dagegen »cluze, cluze« rufen.51 Dass die genaue Lautfolge eher arbiträr respektive von kulturellen Pfadabhängigkeiten bestimmt war, zeigt ein Vergleich mit Falknereitraktaten in anderen europäischen Sprachen. Die von George Turberville in seinem »Booke of Faulconrie« (1575) vorgeschlagene Lautfolge für den Rückruf war »Loe, birde, lo, Hey lo, hey lo«,52 und einige Jahrzehnte später ließ William Shakespeare seinen Hamlet den Freund Horatio mit folgenden Lauten wie ein Falkner seinen Vogel zu sich rufen: »Hillo, ho, ho, boy! Come, bird, come.«53 In einer deutschsprachigen Anweisung zur Falkendressur, die Mitte des 18. Jahrhunderts am Ansbacher Hof entstand und zur Ausbildung junger Hoffalkner diente, klingen die Rufe schließlich so: »hillo, hillo, hillo, hillo!«54 Wie im Fall der Meutenjagd dürften solche Ratschläge bzw. Richtlinien darauf abgezielt haben, eine personenunabhängige ›Standardsprache‹ innerhalb der verschiedenen Falknereikorps zu etablieren. Bei allen Unterschieden zwischen den Sprachen zeigen sich aber auch gewisse Regelmäßigkeiten, welche die Rufe weniger zufällig erscheinen lassen. So bestanden die Falknerrufe jeweils in einer Wiederholung der Ruflaute, die – im Gegensatz zu den Hundebefehlen – vielfach auf geschlossenen Vokalen aufbauten. Zumindest bei einigen Rufen wie dem zitierten »cluze, cluze« (phonetisch »klyz, klyz«) oder den »hillo«-Folgen lässt sich eine gewisse ›Familienähnlichkeit‹ zu den natürlichen Rufen von Falken erkennen, die in ornithologischen Fachbüchern mit »kiik-kiik-kiik« oder »kjak-kjak-kjak« wiedergegeben werden.55 Ich würde die These wagen, dass sich hier in den jahrhundertealten Erfahrungen in der Interaktion mit Falken eine partielle 50 Vgl. ebd., S. 17. 51 Ebd., S. 20. 52 George Turberville: The Booke of Falconrie or Hawking […], London 1611 (erste Aufl. 1575), S. 122. 53 In »Hamlet«, Akt 1, Szene 5, Zeile 118; hier zit. nach David Horobin: Falconry in Literature. The Symbolism of Falconry in English Literature from Chaucer to Marvell, Surrey 2004, S. 31. 54 Das Manuskript wurde erst im 20.  Jahrhundert vom Jagdhistoriker Kurt Lindner ediert: Kurt Lindner: Ein Ansbacher Beizbüchlein aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1967; zit. S. 133. 55 Vgl. z. B. Theodor Mebs / Daniel Schmidt: Die Greifvögel Europas,

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Anpassung vonseiten der Menschen ergab, die vom auditiven System der Greifvögel besonders gut erfasst werden konnte. Noch wichtiger als die akustischen Signale waren für die Kommunikation mit Falken aber optische Signale. Dies entspricht der Tatsache, dass der Sehapparat von Falken um ein Vielfaches besser ausgestattet ist als bei Menschen. Selbst wenn Falken außerhalb der Rufweite waren – was bei der Jagd ›im hohen Flug‹, die sich in mehreren Hundert Metern Höhe sowie über mehrere Kilometer in der Länge hinziehen konnte, schnell geschah –, konnten sie so adressiert werden. Zum Einsatz kam dabei das sogenannte Federspiel oder Luder (französisch ›leurre‹). Dabei handelte es sich um einen gefüllten, teilweise mit Federn oder Fellstücken versehenen Lederbeutel, der mithilfe einer Schnur im Kreis geschwungen werden konnte und damit einem sich bewegenden Beutetier ähnelte. Auch hier lässt sich also eine kulturelle Anpassung an den Wahrnehmungsapparat der Tiere feststellen. Zunächst wurde das Federspiel dazu verwendet, um Falken ›einzufliegen‹, das heißt vor allem, ihre Rückkehr zum Falkner zu erproben, und sie dann schrittweise auf ihr Beizwild, das manchmal erheblich größer war als die Falken selbst, zu konditionieren. Die Kommunikation vollzog sich in längeren Sequenzen unterschiedlicher akustischer und optischer Zeichen, kombiniert mit der motivationssteigernden Atzung. So beschrieb Pierre Harmont, Falkner am Hof Ludwigs XIII ., den idealtypischen Ablauf einer Abrichtung von Falken auf Enten und anderes Wasserwild wie folgt: Nachdem das Obige getan wurde [d. h. nach den ersten Flugübungen, N. W.] muss man einen Tümpel, eine Wasserfläche oder einen Bach finden, und zur Zeit der Fütterung könnt Ihr sie anlocken (leurrer), wobei das Wasser zwischen Euch und ihnen ist und ein Knecht mit einem Stock auf das Wasser schlägt, einen Wasservogel in der Hand haltend. Ihr verdeckt nun das Federspiel und lässt sie drei oder vier Runden machen, wobei Ihr immer zu ihnen sprecht, und schließlich, wenn sie umkehren, lässt Ihr den Wasservogel in ihre Richtung werfen und schreit dabei La, la, la, la; dann lasst Ihr sie davon gut speisen, und fährt fort mit drei oder vier Atzungen in dieser Weise, denn man muss es gut finden zu fliegen […].56 rikas, Vorderasiens. Biologie, Kennzeichen, Bestände, 2. Aufl., Stuttgart 2014, S. 432 (zum Ruf des Gerfalken). 56 »Ayant faict ce que dessus faut [sic] trouver une mare, flache ou ruisseau, & à l’heure de paistre vous les pourrez leurrer, l’eau estant entre vous & eux, & qu’il y aye un garçon avec une baguette battant l’eau avec un oyseau de rivière

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Je nach Trainingsstufe wurden als Ziel der Jagdflüge Beuteattrappen, totes oder handicapiertes Wild verwendet, bis schließlich mit dem Flug auf Freiwild begonnen werden konnte. Das Federspiel diente dann während der Beizjagd dazu, die ›anwartenden‹ Falken in der Luft zu lenken, indem die Aufmerksamkeit in die Richtung des reitenden Falkners gelenkt wurde, und sie am Ende auf dessen Faust zurückzurufen (Abb. 2). Wenn Montaigne in seinem oben erwähnten Essai beobachtete, dass auch in anderen Weltgegenden die Beizjagd praktiziert werde, jeweils »der Natur der dortigen Vögel angepasst«, dann dachte er dabei womöglich nicht nur an die Art der Jagdflüge im hohen und niederen Flug, sondern auch an die variablen Formen der mit ihnen praktizierten Kommunikation.57 In die Falkenjagd waren neben den Falken aber in der Regel noch weitere Tiere als Jagdhelfer involviert, was das kommunikative Geschehen noch komplexer machte. Für die von Harmont beschriebene Beizjagd auf Wasservögel sowie bodennahes Klein- und Federwild wurden am französischen Hof daher eigene Jagdequipen mit Windund Vorstehhunden unterhalten, die »vols pour champ et rivière«. Wie bei der Schussjagd spürten diese Hunde zunächst die im Schilf oder in Büschen versteckten Tiere auf, während die Falken bereits in der Luft kreisten, und scheuchten sie dann im richtigen Moment hoch. War das Tier von den Falken zu Boden gebracht respektive immobilisiert, eilten die Hunde herbei, um es abzunehmen und zu den Jägern zu bringen. Um dieses Zusammenspiel zu ermöglichen, wurden die Greifvögel früh an die Präsenz von Hunden gewöhnt und lernten allmählich auch, auf Signale oder zumindest Verhaltensäußerungen der anderen Tiere adäquat zu reagieren. Bei anderen Formen der Beizjagd spielten auch Pferde oder Uhus, die zum Anlocken von Milanen gebraucht wurden, eine wichtige Rolle als Jagdhelfer. Eine Falkenjagd war deshalb ein komplexes, dynamisches kommunikatives Wechselspiel zwià la main: comme vous leur aurez caché le leurre, vous leur ferez faire trois ou quatre tours en parlant à eux, puis lors qu’ils seront bien tournez, leur faire ietter l’oyseau de rivière bien à propos en criant La, la, la, la; puis leur en faire bonne chere: & leur continuez deux ou trois curées en cette façon: puis il faut trouver à voler pour bon […].« Pierre Harmont (dit. Mercure): Le Miroir de Fauconnerie où se verra l’instruction pour choisir, nourrir, & traicter, dresser, & vaire voler toute sorte d’Oyseaux […], Paris 1634 (1. Aufl. 1620), S. 13. Diese Anweisungen wurden später im Werk eines Hoffalkners unter Ludwig XIV . fast wortgleich übernommen; vgl. C[laude] de Morais: Le véritable Fauconnier, Paris 1683, S. 59. 57 Vgl. Montaigne: Apologie (Anm. 3), S. 286.

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Abb. 2: Johann Elias Ridinger / Martin Elias Ridinger, Falconier mit dem Luier den Falcken einholend, Kupferstich, um 1760 (© Albertina, Wien). Der Falkner ruft den fliegenden Jagdfalken mit dem geschwungenen Federspiel und begleitenden akustischen Signalen zurück. Der auf das Federspiel gerichtete Blick des Beizvogels deutet an, dass dieser die Absicht des Falkners versteht.

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schen Angehörigen verschiedener Arten. Dass sich dieses Schauspiel größtenteils in einem Raum abspielte, der Menschen unzugänglich war, machte aus der Sicht der höfischen Beobachter:innen ihren besonderen Reiz aus. Insgesamt lassen sich höfische Jagdgesellschaften damit als Interaktionssysteme beschreiben, welche die aktive Kopräsenz von Tieren nicht nur erlaubten, sondern voraussetzten. Wie alle Interaktionssysteme waren sie flüchtig und lösten sich nach dem sie konstituierenden Ereignis – dem Verfolgen und Töten von bestimmten Tieren – wieder auf. Zugleich waren sie jedoch an komplexe organisatorische Vorbedingungen und die ständige Arbeit von Spezialisten mit Tieren geknüpft, die das komplexe Zusammenspiel erst möglich machten. Die Jagdhelfer waren damit auch fester Bestandteil eines höfischen Interdependenzgeflechts, dessen kommunikative Codes die Artengrenzen teilweise überschritten. Gerade das Beispiel der Falknerei zeigt jedoch auch, dass diese »humanimale Sozialität« jenseits der Bilddiskurse auch Raum für Missverständnisse und verschiedene Formen des Scheiterns bot. Trotz aller Vorkehrungen zieht sich die Problematik der entflogenen Beizvögel durch die Falknereitraktate wie auch durch andere höfische Quellen.58 Dieses Phänomen verweist auf den – im Vergleich zu den domestizierten Hunden – doch hohen Freiheitsgrad der Falken. Manche der verlorenen Greifvögel konnten von den Falknern nach einer Weile wieder vom Baum gelockt oder von anderen Personen mittels ihres Rings identifiziert und in die fürstlichen Falknereien zurückgebracht werden, wofür jeweils Prämien ausgesetzt waren. Andere entflogen der sozialen Figuration des Hofes mit ihren Verlockungen und Zwängen dagegen für immer. Nicht nur in den Bedeutungszuschreibungen von Menschen, sondern auch im Eigensinn von Tieren manifestierten sich in der Frühen Neuzeit damit die »Grenzen des Sozialen«.

58 Vgl. z. B. d’Arcussia: La Fauconnerie (Anm. 30), S. 148 f., S. 159-163; Lindner: Ansbacher Beizbüchlein (Anm. 54), S. 46 f. und eingehender zur Thematik: Weber: Rulers and Raptors (Anm. 46), Kap. 3.4.

Isabelle Schürch

Und sie kommunizieren doch! Eine Annäherung an das Problem spätmittelalterlicher Reiter, aufrecht auf dem Pferderücken zu bleiben Anlässlich der Verleihung des Büchnerpreises 2021 stellte der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz die mensch-equine Kommunikation ins Zentrum seiner Dankesrede.1 Das mag erstaunen. Die Anekdoten über den Zählhengst »Kluger Hans«, über jenes Pferd also, das angeblich mit Hufgeklopfe seine Zählkünste zur Schau stellte, sind hinlänglich bekannt. In der Regel endet die Geschichte so, dass der zählende und damit ›kluge‹ Hans überführt wird, denn letztlich reagiert das gut trainierte Pferd ja nur auf die kaum merklichen und wohl auch nicht bewusst ausgesendeten Körpersignale seines Dresseurs Wilhelm von Osten (1838-1909). Um diese Form der Zurückweisung einer möglichen Kalkulierkompetenz von Hans geht es Setz indes nicht. Vielmehr zeigt er auf, wie intensiv sich der Tierpsychologe Karl Krall (1863-1905) in der Folge bemühte, mit dem »Klugen Hans« und weiteren Pferdepersönlichkeiten wie »Muhamed« und »Zarif« zu kommunizieren, indem er ihnen Fragen stellte, die sie dann mithilfe eines Buchstabenrasters beantworteten  – mit Hufgeklopfe. Tagtäglich übte Krall mit seinen equinen Kommunikationspartnern Frage- und Antwortrunden. Manchmal erkannte er klare deutsche Entgegnungen, manchmal interpretierte er kurze Buchstabenfolgen sehr frei. Setz nutzte jedoch nicht die Belustigung über dieses vermeintlich sinnlose Unterfangen für seine Rede, sondern er nahm die Kommunikationspartnerschaft ernst. Krall sprach nämlich nicht nur die Pferde an, sondern sie offenbar auch ihn: »Eines Tages findet er durch Zufall heraus, wie die Pferde ihn untereinander nennen: ›Pao‹. Das sei offenbar, so Krall, überhaupt ihr allgemeines Gebrauchswort für Menschen. Um eine genauere Erläuterung des Begriffs gebeten, habe der Hengst ›Muhamed‹ geantwortet: ›pao or hebe‹, was Krall als eine Aufforderung, sein eigenes Ohr zu heben, interpretiert. Er ent1 Vgl. dazu Clemens J. Setz: Büchnerpreis für Clemens J. Setz: Seine Rede im Wortlaut, in: Süddeutsche Zeitung, 6. November 2021. URL : https://www. sueddeutsche.de/kultur/clemens-j-setz-georg-buechner-preis-woyzeck-karlkrall-denkende-tiere-pferde-1.5457889 (letzter Zugriff: 12. 11. 2021).

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schuldigt sich und erklärt, menschliche Ohren seien leider nicht in der Lage, sich so frei und spielerisch zu bewegen wie Pferdeohren.«2 Über Jahre übte Krall tagtäglich ›Kommunikation‹ mit den Pferden. Er mahnte, verbesserte, interpretierte, aber er resignierte nicht. Diese Erfahrung ließ Krall dann auch annehmen, dass sich die Pferde durchaus über ihn und seine ›Menschlichkeit‹ verständigten und ihn im Gegenzug zum equinen Kommunizieren mit Ohrenspiel anzuregen versuchten. Der »Kluge Hans« mag vielleicht nicht ein begabter Rechenkünstler gewesen sein, aber: Kommunikation fand statt. Für Krall war klar, dass die Pferde zu ihm sprachen. Auch Kralls Pferde schienen auf seine Kommunikationsangebote eingegangen zu sein, vielleicht nicht mit der von ihm erwarteten deutschen Buchstabenfolge, wohl aber als Bereitschaft zur Interaktion. Setz’ Rede über Krall und den »Klugen Hans« führt uns direkt zum Kern der Frage nach den Grenzen des Sozialen in vormodernen Gesellschaften: Wie historisch kontingent ist die nach wie vor dominante moderne, westliche In-/Exklusionsordnung, in der nur lebenden Menschen sinnhaftes Handeln zugestanden wird, nicht aber Tieren, Pflanzen, Maschinen und Dingen? Wie kommt es, dass sich aus einer modernen westlichen Perspektive Tiere nur verhalten, Pflanzen nur vegetieren, Maschinen nur funktionieren und Dinge einfach nur sind?3 Kurzum: Wie verteilen wir Menschen soziale Akteursschaft? Die Zuschreibung sozialer Akteursschaft ist direkt verknüpft mit der Frage nach den Bedingungen der Kommunikation zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten. Auch wenn Kommunikation  – und nur sie  – als soziale Operation begriffen wird, hat dies Konsequenzen dafür, wer, respektive was, als Kommunikationsteilnehmer infrage kommt und damit auch als sozialer Akteur. Denn die Zuschreibung sozialer Akteursschaft wird kommunikativ prozessiert.4 Zur Bearbeitung dieser Fragen rekurriert der Beitrag auf das Konzept von Adressabilität, wie es der Soziologe Peter Fuchs in die Diskussion um gesellschaftliche In- und Exklusionsphänomene einge-

2 Ebd. 3 Zur Einordnung von Teilnahmekategorien bestimmter Entitäten und den von diesen erwarteten Aktivitäten in modernen westlichen Gesellschaften vgl. Florian Muhle: Humanoide Roboter als ›technische Adressen‹. Zur Rekonstruktion einer Mensch-Roboter-Begegnung im Museum, in: Sozialer Sinn 20 /1, 2019, S. 85-128; hier S. 95. 4 Vgl. dazu grundlegend Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1994, S. 194.

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bracht hat.5 Dabei geht Fuchs vom systemtheoretischen Grundbegriff der Kommunikation als Operation sozialer Systeme aus, welcher Konsequenzen für den Theoriestatus des Subjektes, oder  – je nach Theorieschule – des Individuums oder eben eines Akteurs hat. Grundsätzlich geht es Fuchs darum, dass Kommunikation Adressabilität unterstellen können muss. Kommunikation als Selektion von Mitteilung, Information und Verstehen wird dadurch von einem individuellen Akt gelöst und als Geschehen zwischen einem Ego und einem Alter konzipiert. Als operatives Geschehen muss Kommunikation Zurechnungspunkte definieren und Mitteilungshandeln identifizieren können:6 Welches Verhalten kommt als Mitteilungshandeln in Betracht? Dazu entwirft Kommunikation soziale Adressen. Indem Kommunikation von der Intention ihrer Sender gelöst wird, verlagert sich die Arbeit sozialer Strukturen in die Kommunikation selbst: Sie schafft sich entsprechende Strukturen und diese wiederum sind – da kommunikativ verfasst  – dann auch problemlos beobachtbar. Zur Verdeutlichung führt Fuchs die Kommunikation von sprachfähigen Menschen mit Säuglingen an: Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass kommuniziert wird, auch wenn unklar bleibt, welche Selektionsbestandteile aufseiten des Säuglings mitgeteilt, informiert oder verstanden werden. Die Kommunikation als soziale Operation ermöglicht es aber, dass sich in dieser kommunikativen Dauerkrise die Versuche, Verstehen zu erreichen, vermehren: Es wird besonders viel und überschwänglich kommuniziert und jedes Gluckern, jeder Blickkontakt, jedes Zwinkern als Mitteilungsverhalten aufgenommen und weiterprozessiert.7 Wenn also Fuchs hier die menschliche Sozialisation als kommunikativen Prozess einfangen kann, indem bereits Säuglingen Mitteilungsverhalten unterstellt und damit Zugang zu gewissen sozialen Sphären zugestanden wird, dann lässt sich weiterfragen, warum sich solche Sozialisationsformen von kommunikativen Arrangements der tagtäglichen Routine der Reiter-Reitpferd-Interaktion, die unter Begriffen wie Training oder Dressur klassiert werden, unterscheiden sollten. Als Beispiel soll uns im Folgenden eine historisch spezifische Mensch-Tier-Interaktion dienen: spätmittelalterliches Reiten. Wäh5 Vgl. Peter Fuchs: Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie, in: Konturen der Modernität, hg. von dems., Bielefeld 2005, S. 37-62, DOI : https://doi.org/10.1515 /9783839403358-003. 6 Vgl. ebd., S. 43. 7 Ausführlich zum Säuglingsbeispiel als Kommunikation in der Dauerkrise, vgl. ebd. S. 46 f.

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rend heutige Reitratgeber mit großer Selbstverständlichkeit davon ausgehen, dass Reiter und Reitpferde miteinander nonverbal ›kommu­ nizieren‹,8 müssen für vormoderne menschlich-tierliche Interaktionsformen konzeptionelle Angebote wie »Kommunikation« und »Adressabilität« noch ausgelotet werden. Je nach Auslegung des Begriffs werden (historische) kommunikative Bezugsformen entdeckt werden können oder auch nicht. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive gilt es jedoch, die Beschreibungs- und Ordnungskategorien der historischen Beobachter ernst zu nehmen, präzise zu beschreiben und mit einem adäquaten analytischen Instrumentarium zu erklären. In diesem Sinne fragt der vorliegende Beitrag, inwiefern sich spätmittelalterliche Reiter-Reitpferd-Interaktion als Problem der Adressabilität fassen lässt – oder genauer: was eine Analyse mit einer auf Adressabilität eingestellten Brennweite leisten kann. Um aufzuzeigen, vor welche Probleme Reiter und Reitpferd beim spätmittelalterlichen Reiten gestellt waren, wird im Folgenden in mehreren Schritten vorgegangen. Zunächst wird die Bedeutung von Reiten als sozial relevantem Tun geklärt: Es macht nämlich einen Unterschied, ob Reiten (aus historischer Perspektive) als sozial relevante Praxis ausgeführt wurde, der sich eine spezifische soziale Gruppe nicht entziehen konnte, oder ob Reiten als frei wählbare Tätigkeit verstanden wurde. War Reiten für eine soziale Gruppe, wie sie mit den spätmittelalterlichen iberischen »caballeros« zu fassen ist, ein spezifisches Merkmal und gehörte zu ihrem tagtäglichen Tun, dann musste sich diese Gruppe in intensiverer Weise auf die Kommunikation mit Reitpferden einlassen, als wenn das Reiten ein gelegentliches Unterfangen ist. Vor diesem Hintergrund wird in einem zweiten Schritt eines der ältesten europäischen Reitmanuale, das »Livro de bem cavalgar« von Dom Duarte I. (1391-1438) als Fallbeispiel analysiert, um zu eruieren, inwiefern Reiten als Krisenfall human-equiner Kommunikation einzuordnen ist. Hier werden Grenzen der Adressabilität deutlich, die ein intuitives Verständnis von Kommunikation als (non)verbale Verständigung herausfordern und die jeweilige (durchaus unterschiedliche) körperliche Routinisierung von Reiter wie Reitpferd als zentrale Bedingung des Gelingens von Reiten ins Spiel bringt. Der Beitrag schlägt vor, die Grenzen der Adressabilität in der Kommunikation zwischen Reiter und Reitpferd in den körperlichen Routinen, wie sie in Duartes 8 Spätestens mit dem amerikanischen Pferdetrainer Monty Roberts wurde Pferdekommunikation in der Trainingslehre zu einem Mainstream-Phänomen, vgl. dazu Monty Roberts: The Man Who Listens to Horses, London 1996.

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Text ausgeführt sind, zu verorten und diese als Erwartungsabstimmungen von Reiter und Reitpferd zu begreifen, die der Kontingenz reiterlichen und ›reitpferdlichen‹9 Tuns entgegenwirkten.

I. Warum Pferde? Ramon Llulls Herkunftserzählung sozialer Ordnung Es ist kein Zufall, dass ein mediävistischer Text zur Frage nach den mensch-tierlichen Grenzen des Sozialen Reiten als Paradebeispiel anführt. Pferde hatten in europäischen vormodernen Gesellschaften, die auf die Transport-, Energie- und Bewegungsleistung dieser multifunktionalen Huftiere angewiesen waren, eine besondere Relevanz. Damit werden sie in der Regel als historischer ›Faktor‹ anerkannt. Die kulturgeschichtlich ausgerichtete Forschung hat darauf hingewiesen, dass etwa die augenfällige Performanz von Dominanz und Superiorität ›auf dem hohen Ross‹ immer auch sozial und kulturell geformt, symbolisch gedeutet und diskursiviert wurde.10 So definiert beispielsweise Jesús Rodríguez Velasco »Ritter« als eine »reasonably identifiable socio-political group made up of military men who rode on horses«.11 Der Zusatz ›die auf Pferden reiten‹ wird in der Forschungsliteratur in aller Regel als selbstverständliche Kompetenz von Rittern vorausgesetzt und erscheint kaum erklärungsbedürftig.12

9 Diese Wortschöpfung wird in diesem Beitrag verwendet, um die Unterscheidung zwischen einem Pferd als Spezies und einem Reitpferd als trainiertem und in der Zusammenarbeit mit Menschen sozialisiertem Pferd sprachlich fassen zu können. 10 Vgl. dazu etwa die monumentalen Studien zur französischen Reitkunst von Daniel Roche: La culture équestre occidentale, XVI e-XIX e siècle. L’ombre du cheval, 3 Bde., Paris 2008. Für ein breites Spektrum kulturgeschichtlicher Ansätze zum mittelalterlichen Pferd vgl. Bernard Andenmatten / Agostino Paravicini Bagliani / Eva Pibiri (Hg.): Le cheval dans la culture médiévale, Florenz 2015. Für die deutschsprachige Forschung vgl. etwa Magdalena Bayreuther: Pferde und Fürsten. Repräsentative Reitkunst und Pferdehaltung an fränkischen Höfen (1600-1800), Würzburg 2014 sowie jüngst auch Stefanie Stockhorst: Ars Equitandi. Eine Kulturgeschichte der Reitlehre in der Frühen Neuzeit, Hannover 2020. 11 Jesús Rodríguez Velasco: Invención y consecuencias de la caballeria, in: La caballeria y el mundo caballeresco, hg. von Josef Fleckenstein, Madrid 2006, S. xi. 12 Vgl. etwa Albert Soler i Llopart: »Mas cavaller qui d’açò fa lo contrary«. Una lectura del tractat lul·lià sobre la cavalleria, in: Estudios Lulianos 29, 1989, S. 1-23.

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Als Einstieg zur Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz von Reiten gibt es kaum eine geeignetere Autorität als Ramon Llull (ca. 1332 bis ca. 1316).13 Der mallorquinische Ausnahmephilosoph hat uns ein umfangreiches Oeuvre hinterlassen, wozu auch der um 1275 verfasste »Llibre de l’Ordre de cavalleria« zählt.14 In diesem didaktisch angelegten Werk setzt sich Ramon Llull dezidiert mit dem Ritterstand auseinander, dessen soziale Merkmale er systematisch an einer normativen Vorstellung christlichen Handelns ausrichtet.15 Der bewaffnete, mutige und edle Ritter solle demnach stets nach der Sakralisierung seines Tuns streben, so Llulls gleichsam reformerische Stoßrichtung in seiner Sozialtheorie avant la lettre. Der Text setzt mit einer etymologischen Herleitung des Ritterstandes ein, den Ramon Llull mit dessen Auserwähltsein begründet: Und so wurde das gesamte Volk in Gruppen von tausend geteilt, und ein Mann – gütiger, weiser, treuer und stärker und mit edlerem Mut, besserer Erziehung und besserem Benehmen als alle anderen – wurde aus jeder der Tausendergruppen ausgewählt und auserwählt. Unter allen Tieren wurde das schönste, schnellste, arbeitsfähigste und für den Dienst am Menschen geeignetste ausgesucht; so wurde von allen Tieren das Pferd [»cavayl«] ausgewählt, und es wurde dem Mann gegeben, der von tausend Männern ausgewählt wurde, und deshalb wird dieser Mann ein Ritter [»cavayler«] genannt.16 Ramon Llulls programmatisch auf Katalanisch verfasster Text nimmt bekannte etymologische Ursprungsgeschichten des »miles« auf, wie 13 Vgl. Ramon Llull: The Book of the Order of Chivalry, hg. und übers. von Noel Fallows, Suffolk 2013. 14 Vgl. Ramon Llull: Llibre de l’Ordre de Cavalleria, hg. von Marina Gustà, Barcelona 1981. 15 Zu Ramon Llull und seiner Ritterordenskonzeption vgl. zudem Ricardo da Costa: Ramon Llull (1232-1316) e o modelo cavaleiresco ibérico. O Libro del Orden de Caballería, in: Mediaevalia. Textos e Estudos 11 /12, 1997, S. 231-252. 16 Deutsche Übersetzung des katalanischen Textes der Autorin. Im Original: »E per aysò, de tot lo poble foren fet milanaris e de cascú ·M· fo elet e triat ·I· home pus amable, pus savi, pus leyal e pus fortz e ab pus noble coratge, ab més d’ensenyaments e de bons nodriments que tots los altres. Encercat fo en totes les bèstias qual és pus beyla bèstia e pus corrent e que pusca sostenir més de trebal, ni qual és pus covinent a servir home, per aysò, de totes les bèsties, hom eleec cavayl e donà-lo a l’home qui fo elet de ·M· hòmens; e per aysò aquel home ha nom cavayler«, in: Ramon Llull: Llibre de l’orde de cavalleria, hg. von Albert Soler i LLopart (Els Nostres Clàssics, col l. A, 127), Barcelona 1988, S. 167.

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wir sie bereits bei Isidor von Sevilla (ca. 560-636), aber auch in den zeitgenössischen legalistischen Texten wie den »Siete Partidas« von Alfons X. (1221-1284) oder dem »Fuero Real« nachlesen können.17 So wie der erste »miles« als ›Ur-Ritter‹ aus tausend Menschen auserwählt ist, so ist es auch das Pferd aus allen möglichen Tierarten. In dieser Analogie entsprechen die equinen Charakteristika denen des Ritters: Unter allen Tieren ist es das schönste, schnellste und stärkste. Adel wird damit gleichsam in der Natur des Ritters und des Pferdes verortet. In einem zweiten Schritt führt Llull dann die hierarchische Zusammenarbeit von Ritter und Reitpferd ein, die das Pferd in den Dienst des Reiters stellt. Ramon Llull spitzt in seinem Text diese Engführung auf semantischer Ebene noch einmal zu, indem der lexikalische Clou gerade nicht der »miles« (der Tausendste) ist, sondern das Pferd. Das Pferd (»cavayl«) begründet die Benennung des auserwählten Kriegers als »cavayler«. Diese Konzeptualisierung des Ritters geht mit seiner Differenzsetzung gegenüber anderen Sozialtypen einher. Dies zeigt sich wiederum in der Textanlage, indem das Gegensatzpaar sozialer Ordnung, nämlich Herrschaft (»senyoria«) und Dienstbarkeit (»servitut«), sich im natürlichen Verhältnis von Nobilität (»nobilitat«) und Unterwerfung (»sotsmetiment«) spiegelt.18 Diese grundlegende Sozialordnung wiederum findet in der gleichsam naturgegebenen Beziehungsaffinität von Ritter und Reitpferd ihre Entsprechung. Bei Ramon Llull tritt uns also eine stratifikatorische Sozialordnung entgegen, die entscheidend über die Beziehung zum Pferd verhandelt wird. So betont Llull bei der zeremoniellen Erhebung eines Knappen (»scuder«) in den Ritterstand die öffentliche Sichtbarkeit der neuen sozialen Differenz: Wenn der geistliche und der weltliche Ritter den neuen Ritter in seinen Stand gehoben haben, solle der neu geschlagene Ritter auf sein Pferd steigen und sich dem Volk zeigen, sodass er als Ritter (zu Pferd) erkannt werde.19 Die Wandlung des Knappen zum Ritter ist eine Erhebung, die nicht nur

17 Zur Bedeutung des Text der »Siete Partidas« für Ramon Llulls Text vgl. Robert I. Burns: Introduction to the Second Partida, in: Las Siete Partidas, Bd. 2, Medieval Government. The World of Kings and Warriors (Partida II ), hg. von Robert I. Burns, übers. von Samuel Parsons Scott, Philadelphia 2012, S. xvi. Zu den Korrelationen zwischen Rechtstexten und Llulls Text vgl. zudem Llull: Book (Anm. 13), S. 24-29. 18 Vgl. Llull: Llibre (Anm. 16), S. 169. 19 »Aprés que lo cavayler speritual e lo cavayler terrenal han complit lur office en fer cavayler noveyl, lo cavayler noveyl deu cavalcar e deu-se mostrar a la gent, per so que tuyt sàpien que eyl és cavayler«, Llull: Llibre (Anm. 16), S. 200.

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innerlich und symbolisch vollführt wird, sondern im Reiten als öffentliche Anerkennung körperlich-performativ vollzogen wird. Lulls »Llibre« beschäftigt sich jedoch nicht nur mit der Herleitung der »caballeria« als sozialer Ordnung, sondern entwickelt einen Katalog an Normen und Handlungsanleitungen, die am Erscheinungsbild des Ritter-Reitpferd-Duos und ihrer Ausrüstung didaktisch exemp­ lifiziert werden. So wird in Kapitel V jedes Element mit einer spezifischen Bedeutung versehen.20 Das Pferd ist demnach dem Ritter zugeteilt, um die Nobilität des Mutes hervorzuheben, denn er soll höher als jeder andere Mensch gehoben werden, damit er von Weitem gesehen und als Ritter erkannt werde. Der Sattel wiederum stehe für die Sicherheit des Mutes und die Bürde der Ritterlichkeit. Denn so wie der Sattel den Ritter sicher auf dem Pferd hält, so solle die Sicherheit des Mutes den Ritter standhaft in der Schlacht halten. Besonders spannend wird der Text an der Stelle, an der die Bedeutung des Trensengebisses ausgeführt wird: Das Gebiss (»fre«) wird dem Pferd in den Mund gegeben, während die Zügel (»regnes«) in die Hände des Ritters gelegt werden. So solle sich auch der Ritter zügeln (»reffrèn«), grobe oder falsche Worte in den Mund zu nehmen. Wenn sich jedoch der Ritter entgegen dem christlich-ritterlichen Verhalten gebare, dann sei es das Pferd, das die Führung übernehmen soll, obwohl es als Tier nicht über Vernunft verfüge.21 Llull bringt hier also die Analogie des Reitens als kommunikative Interaktion zwischen Pferdemaul und Ritterhand, die über das Trensengebiss vermittelt wird, in Anschlag, um die Selbstbeherrschung des idealen Ritters zu reflektieren. Der Ritter soll sich vor der sprichwörtlichen ›Zügellosigkeit‹ in Acht nehmen. Die Analogisierung von Ritter und Ritterpferd verführt jedoch dazu, bei der Feststellung einer sozialen Repräsentationsleistung des Pferdes als Statussymbol stehenzubleiben. Dies verhindert allerdings die Anerkennung der Bedeutung des Reitens als physisch erfahrbare, immer wieder ausgeführte Interaktion zwischen einem menschlichen und einem equinen Körper, die die gemeinsame Bewegungsform ermöglicht. Das Interessante an der Relationierung von Ritterlichkeit und Reiten ist nun aber, dass diese eben gerade nicht nur als Analogie angelegt ist, sondern ritterliches Verhalten an eine stark routinisierte und körperbezogene Kommunikation zwischen Reiter und Reitpferd zurückbindet.

20 Vgl. ebd., S. 201-206. 21 Vgl. ebd., S. 204.

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II. Wo drängen sich also Pferde in spätmittelalterliche Kommunikationssituationen hinein? Spätmittelalterliche Zeitgenossen setzten sich nicht nur sozialtheoretisch, sondern auch praxisbezogen mit Reiten auseinander. Die adlige Knabenerziehung sah Reiten von klein auf vor und equestrisches Training gehörte zum jugendlichen Alltag. Genau diese Formen praktischen Lernens sind uns jedoch qua ihres Charakters als Praktiken kaum zugänglich. Dennoch blieb Reiten nicht nur körperliche Alltagsübung. Als Praxis wurde Reiten zunehmend auch in Textform reflektiert, zunächst in Form von Hinweisen zur Ausbildung und zum Umgang mit Reitpferden in pferdemedizinischen Texten, dann ab dem späteren 15.  Jahrhundert auch als eigenes equestrisches Genre.22 Als herausragendes Beispiel eines Reittraktates kann der »Livro da ensinança de bem cavalgar toda sela« (zwischen 1433 und 1438) von Dom Duarte, dem portugiesischen König Eduard I. (1391-1438), gelten.23 Dieser »Livro« stellte sich explizit gerade nicht in die Tradition der hippiatrischen Literatur, sondern verschob Reiten als grundlegende körperliche und mentale Adelspraxis in das didaktische Genre der Fürstenspiegel.24 Dom Duartes Reitanweisungen richteten sich wiederum an eine männliche aristokratische Elite, die sich der Bedeutung des Reitens für ihr kriegerisches, aber auch soziales und kulturelles Verständnis des aristokratischen Lebens durchaus bewusst war. Dom Duarte schrieb vor und während seiner kurzen Regierungszeit als König (1433-1438) und wandte sich an junge Herren (»senhores«), Ritter (»cavalleiros«) und Knappen (»scudeiros«), deren Funktion als mittel22 So finden sich auch in hippiatrischen Texten aus dem 13. und 14. Jahrhundert wichtige Hinweise zur Ausbildung und zum Training von Reitpferden, die in der Forschung in aller Regel als veterinärgeschichtliche Texte gewertet werden und nicht als Reitmanuale, vgl. dazu Stockhorst: Ars Equitandi (Anm. 10), S. 29. 23 Das einzige erhaltene Manuskript befindet sich heute in der Bibliothèque Nationale de France (BNF ) in Paris: BNF MS portugais 5. Ein Digitalisat dieser Handschrift ist online via BNF Gallica zugänglich, URL : https://gallica.bnf. fr/ark:/12148/btv1b60004002 (letzter Zugriff: 12. 11. 2021). Für ein breiteres Publikum ins Englische übersetzt und vereinheitlicht siehe Jeffrey L. Forgeng: The Book of Horsemanship by Duarte I. of Portugal, Woodbridge 2016. Für eine französische Übersetzung siehe Anne-Marie Quint / Carlos Henriques Pereira: Le traité des équitations: livre qui enseigne à bien pratiquer toute équitation, Arles 2016. 24 Vgl. BNF MS portugais 5, fol. 99v. Zur Kontextualisierung der didaktischen Prosatexte von Dom Duarte vgl. Maria Leonor Carvalhão Buescu: Literatura Portuguesa Medieval, Lissabon 1990, S. 109-128.

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alterliche »bellatores« im Begriff war, abseits der Schlachtfelder und Eroberungszüge in muslimische Herrschaften an Fürstenhöfen neu definiert und verfeinert zu werden.25 Damit gesellt sich zu den etablierten Wissensformen körperlicher Alltagspraxis und pferdemedizinischer Texte das (neue) Format einer erfahrungsbasierten Reitlehre. Was jedoch bereits bei einer oberflächlichen Lektüre des »Livro« auffällt: Equestrische Kommunikation scheint vordergründig keine Rolle zu spielen. Erwartbar wären etwa eine Konzeptualisierung von Kommunikation als Interaktion zwischen Reiter und Reitpferd oder zumindest Hinweise auf (unilaterale) verbale Signale des Reiters.26 Wie kann es jedoch bei der Konzeptualisierung von Reiten nicht um Kommunikation zwischen Reiter und Reitpferd gehen? Schließlich müssen sich die beiden Entitäten in der gemeinsamen Fortbewegung, die das Reiten ausmacht, zumindest rudimentär abstimmen. Könnte es also sein, dass uns ein spätmittelalterliches Reittraktat wichtige Hinweise auf Grenzen der Adressabilität in der Kommunikation zwischen Reiter und Reitpferd gibt?

1. Erste Volte: Wie wird man ein guter Reiter? Als erster Schritt wird der »Livro« nun einer Lektüre unterzogen, die sich auf das Hauptanliegen Duartes konzentriert, nämlich wie er einen guten Reiter konzipiert und anleiten will. Mit dieser ersten Volte soll gleichsam die obere Schicht des Textes erarbeitet werden, geht es bei den Ausführungen und Empfehlungen Duartes zum Reiten doch zunächst darum, auf seine persönlichen Reiterfahrungen Bezug zu nehmen, gleichzeitig aber auch die ebenso persönlichen Erfahrungen der adressierten jungen Männer anzusprechen. Duarte ist sich sehr wohl bewusst, dass Erfahrung als eine Form von praktischem körperlichem und kognitivem Wissen nicht vollständig in geschriebenen Worten wiedergegeben werden kann. Wie er im Prolog feststellt, wird die Kunst des guten Reitens am besten durch angeborenes Talent, gute Reitpferde, Routine und das Aufwachsen in einer reiterlichen Umgebung erlangt. Dennoch lohne es sich, so Duarte, die prinzipiellen

25 Zum allgemeinen historischen Kontext der Entstehung von Höfen, dem Wandel der ritterlichen Gesellschaft und der Rivalität zwischen Königtum und Adel siehe Rita Costa Gomes: The Making of a Court Society. Kings and Nobles in Late Medieval Portugal, Cambridge 2003, hier v. a. S. 104-120. 26 Vgl. dazu auch den Beitrag von Nadir Weber in diesem Band.

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Grundlagen des Reitens zu kennen.27 Der Großteil der Ausführungen beschäftigt sich also erwartungsgemäß mit einer systematischen Bearbeitung der Frage, wie ein junger Mann, der bereits erste Erfahrungen mit Reiten besitzt, ein wahrhaft guter Reiter werden kann. Ebenfalls im Prolog stellt Dom Duarte die drei wichtigsten Voraussetzungen vor, nämlich: großer Wille (»grande uootade«), reichliches Vermögen (»poder abastante«) und schließlich viel Wissen (»e muyto saber«).28 Duarte weist jedoch gleich darauf hin, dass Wille und Können – im Gegensatz zu Wissen – nicht wirklich gelehrt oder gelernt werden können. Daher ist der Großteil seines Textes der Zusammenstellung und Systematisierung des Wissens gewidmet, was sich vor allem auf theoretische Konzepte wie Stärke, Furchtlosigkeit, Zuversicht und Geschmeidigkeit oder technische Kenntnisse von Ausrüstungsgegenständen wie Kleidung, Sattelarten, Sporen, Gerten, Pferdetrensen etc. bezieht. Um den Leser davon zu überzeugen, dass er sein Herz daransetzen sollte, ein guter Reiter zu werden, listet Duarte verschiedene Vorteile auf. 29 Während die positiven Aspekte, ein guter Reiter zu sein, in Bezug auf die militärischen und höfischen Fähigkeiten auf und abseits des Schlachtfeldes unmittelbar einleuchten, ist das von Duarte ausgeführte emotionale Spektrum des Reitens bemerkenswert: Obwohl das Reiten – bei gutem Gelingen – ein Quell von Freude sein könne, sei es eine äußerst prekäre Angelegenheit. Als zentrales Motiv zieht sich die Spannung zwischen erstrebenswerter Freude am Reiten und drohendem Sturz vom Ross durch den ganzen Text. Kommunikationstheoretisch gewendet, könnte man sagen, dass die ständig drohende Krise der Kommunikation zwischen Reiter und Reitpferd in besonders deut­ licher Form thematisiert wird. Das Ideal der körperlichen Co-Bewegung von Reiter und Reitpferd beim Reiten wird bei Duarte nicht überhöht, sondern immer wieder in die konkrete Praxis zurückgeholt. In Duartes Text ist die ständige Drohung des Sturzes als Krise der human-equinen Kommunikation präsent. Duartes Text zeigt auf, dass die Kommunikation zwischen Reiter und Reitpferd nur über körperliche Routinen gewährleistet werden kann: Um sich in all diesen Reitweisen fest im Sattel zu halten, ist es prinzipiell immer notwendig, bei allem, was das Pferd tut, aufrecht zu 27 Vgl. dazu BNF MS portugais 5, fol. 99r f. 28 Vgl. ebd., fol. 99r. 29 Vgl. ebd., fol. 100v.

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reiten [»andar dereito«] – wie ich bereits gesagt habe – und zu wissen, wie man sich am besten helfen kann und was man tun soll. […] Wir können in vier Richtungen vom Reittier fallen: vorwärts, rückwärts oder auf eine der beiden Seiten.30 Die Passage zeigt, wie schwierig es für den Reiter ist, das Tun des Reitpferdes als Kommunikation zu verstehen: Die Erwartungserwartung dem Pferd gegenüber ist vor allem darin konstituiert, dass es alles Mögliche tut, aber kaum etwas Vorherzusehendes. Die Adresse, die hier entworfen wird, ist eine durchweg körperliche: Wenn das Reittier eines der Dinge tut, die uns nach hinten werfen können, finden die Leute im Allgemeinen die beste Hilfe darin, mit den Händen zu greifen und ihren Körper nach vorne zu ziehen. Aber sie liegen falsch, wenn sie sich auf das Greifen verlassen, denn man sollte niemals greifen, wenn man es durch die Haltung des Körpers und das Anspannen der Beine vermeiden kann. Sie sollten es vermeiden, weil es nicht elegant ist und weil die Hände, soweit möglich, einsatzbereit gehalten werden sollten, also nicht damit beschäftigt sein sollten, sich auf dem Reittier zu halten, wenn man es ohne ihre Hilfe schaffen könnte. Wenn man aber doch zupacken müsse, ist es besser, sich an der Mähne oder am vorderen Sattelbogen [»arçom«] festzuhalten als an den Zügeln.31 Die Passage zeigt deutlich, dass die Kommunikation hier derart gestaltet ist, dass das Pferd agiert, der Reiter hingegen reagiert. Duarte beschäftigt sich in erster Linie damit, wie der Reiter seine Körperteile 30 Ebd., fol. 103r, Übersetzung der Autorin. Im Original: »Pera se teer forte em todas estas maneiras de cavalgar he todavya pryncipalmente necessario saber andar dereito como dieto he em todo que a besta faz, e conhecer de que se ha de ajudar, e que ha de fazer. […] Da besta nom podemos seer derribados senom pera hũa das quatro partes: pera deante, e pera detras, ou pera cada hũa das ilhargas«. 31 Ebd., Übersetzung der Autorin. Im Original: »Pera todallas cousas que a besta faz per que no pode derribar atras, todollos homenes filham geeralmente a mayor ajuda que filhar se pode a qual he apegarse com as maãos, e tirarem o corpo adeante. Mas ells erram de filharem sempre porque nunca deve seer filhada em quanto do geito do corpo, e apertar das pernas pode seer seusada. E devesse leixar porque nom he fremoso e as maãos, em quanto se pode fazer, am destar prestes pera nos dellas em al servirmos, e porem nom se devem embargar por nos teermos na besta, em quanto sem ajuda dellas nos bem teer podermos. E se a ouvermos de filhar, melhor he a das comas ou do arçom deanteiro que a das redeas«.

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einsetzen soll, um intuitivem menschlichen Verhalten entgegenzuwirken: Anstatt instinktiv die Zügel zu packen, soll der Reiter vor allem seine Haltung bewahren. Den Grund, den Duarte dafür angibt, nicht einfach zuzupacken und sich nach vorne zu ziehen, ist nicht nur Sicherheit, sondern auch Eleganz: Abstrakte (männliche) Ideale von Eleganz, Haltung, perfekter Balance gehören zur Kunst des Reitens. Diese Gründe lagern sich aber über das Grundproblem der Kommunikation zwischen Reiter und Reitpferd. Das Reitpferd agiert oft, aber es ist kaum möglich, das spezifische Verhalten vorauszusehen. So muss der Reiter immer damit rechnen, dass das Reitpferd etwas tut, auch wenn unklar ist, was genau es sein wird: ein leichtes Einknicken, ein Sprung in die Hecke oder doch einfach eine Kehrtwendung Richtung Stall. Dabei geht es nicht darum, die Intention des Pferdes zu verstehen, sondern das kommunikative Prozessieren wird in erster Linie mit dem Gelingen der körperlichen Co-Bewegung von Reiter und Reitpferd gewährleistet, oder anders formuliert: Der Reiter bleibt im Sattel. Duartes Text entwirft hier kein Kommunikationsszenario eines gegenseitigen Verstehens von Intentionen, sondern kommt zum Schluss, dass das Gelingen von Reiten als Co-Bewegung von Reiter und Reitpferd eine körperbasierte Adresse von Aktion und Reaktion voraussetzt, die sich durch Routine auszeichnet. Der Systematisierungsversuch Duartes hilft dabei, die Bedeutung der Routinisierung zu verdeutlichen und sie zugleich in Wissen zu überführen. Nimmt man den Text als Ganzes in den Blick, zeigt sich, dass sich die meisten Ausführungen mit praktischen Ratschlägen zur Minimierung des Sturzrisikos beschäftigen. Diese praktischen Ratschläge lassen sich in drei verschiedene Typen einteilen. Erstens sind da die reiterlichen Reaktionen auf die Aktionen des Pferdes: Was ist zu tun, wenn das Pferd zum Beispiel bockt, scheut, sich aufbäumt, plötzlich wendet, die Hufe verwirft oder stolpert. Die eben zitierte Passage ist ein gutes Beispiel für diese Form von reaktiven Ratschlägen auf Aktionen des Reitpferdes hin. Zweitens gibt es einige Vorkehrungen, die der Reiter treffen kann: wie man den richtigen Sattel wählt, wie man die Füße postiert, wo man wie die Beine richtig anspannt, wie man das Sattelzeug pflegt und richtig einstellt und was man überhaupt zum Reiten an Kleidung tragen sollte. Empfehlungen zum richtigen Umgang mit dem Equipment (im weitesten Sinne des Wortes) können als Form von präventiven Ratschlägen verstanden werden. Und wenn weder das Pferd noch die fehlerhafte Ausrüstung schuld an einem Sturz sind, wendet sich Duartes Text schließlich an den Reiter selbst. So trägt Unterkapitel 19 den

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treffenden Titel »Wie manche Menschen stürzen, weil sie etwas versuchen, auch wenn das Reittier nichts tut, um sie zu Fall zu bringen«.32 Duartes Systematik der Eingrenzung möglicher Sturz-Szenarien zeugt von einer enormen Be- und Verarbeitungsleistung des Autors, um die prekäre Zusammenarbeit von Reiter und Reitpferd möglichst risikolos zu gestalten. Dabei zeigt sich das Prekäre der Beziehung auf beiden Seiten: wenn das Reitpferd auf eine bestimmte Art und Weise agiert – aber auch, wenn der Reiter auf eine bestimmte Art und Weise agiert. Und so erstaunt es nicht, dass das Üben von Reiten ohne Angst ein herausragendes Thema in Duartes »Livro« ist und eines, das wir in späteren Manualen und Traktaten über das Reiten interessanterweise in der Regel nicht finden.33 Der Sturz ist immer mehr als ein einfacher Unfall, er ist – vor allem im Zuge der Rezeption Augustins – eines der Hauptthemen der mittelalterlichen (christlichen) Moralphilosophie. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Dom Duarte ein Kapitel den Analogien widmet, die sich aus dem aufrecht auf dem Pferd sitzenden Reiten ableiten ließen. So solle das männliche Elitenkollektiv, das hier als »wir« adressiert wird, bei allem, was es tut, darauf bedacht sein, »gute Reiter [»boos cavalgadores«] in der Welt zu sein und stark zu bleiben, damit [es] nicht durch die Laster zu Fall gebracht [wird], die viele Menschen auf diese Weise zu Fall bringen«.34 Das aufrechte Reiten wird in Duartes Text zum Fundament einer guten christlichen Lebensführung ohne »Anmaßung, Stolz oder Prahlerei«.35 Das ständige Üben dieses »andar dereito« ist hier jedoch weniger allgemeines Prinzip, das auf das Reiten angewandt wird, sondern konkretes leibliches Tun: Das Üben des Reitens ist die Grundlage für einen guten und edlen Lebenswandel.

2. Zweite Volte: Wie wird man ein gutes Reitpferd? Während die erste Volte uns gleichsam die oberste Textschicht von Duartes »Livro« erschlossen hat, die sich an angehende »cavalgadores« als intendierte Leserschaft richtet, soll mit einer zweiten Volte durch den Text die Frage nach dem guten Reiter dahingehend gewen32 Ebd., fol. 106v. 33 Vgl. etwa Stockhorst: Ars Equitandi (Anm. 10). 34 BNF MS portugais 5, fol. 104r, Übersetzung der Autorin. Im Original: »pera seermos no mundo boos cavalgadores e nos teermos fortes de nom cayr pera as mallicias com que muytos derriba pera esta guisa«. 35 Ebd.

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det werden, wo denn eigentlich die Reitpferde im Text sind. Bei dieser zweiten Lektüre interessiert, wie viel ›Pferdliches‹ in die humane Wahrnehmungs- und Bedeutungswelt gleichsam hineinrückt und sich neben objektifizierenden Deutungsmustern vorbei in den Text hineingedrängt hat. Diese Fragen sind jedoch keine, die sich Dom Duarte gestellt hat. Die Ausrichtung seines Textes ist auf die Konzeptualisierung des guten Reiters gerichtet, der Theorie und Praxis des Reitens nicht nur kennen, sondern auch durch tagtägliche Routine vollziehen sollte. Es mag daher bezeichnend für Duartes Werk sein, dass er das Schreiben über die eigentlichen Pferde bis zum Schluss aufgeschoben hat. Kapitel zu Pferden werden zwar im Inhaltsverzeichnis angekündigt und in den einleitenden Kapiteln erwähnt, jedoch verstarb Dom Duarte vor der Fertigstellung dieser Passagen. Sucht man nach den equinen Protagonisten des Texts, zeigt sich schnell, dass die Reitpferde in Dom Duartes Text wenige, aber dennoch erkennbare Spuren hinterlassen haben. Nicht alles, so die These, was Duarte zur Beschreibung der Reitpferde formuliert, sollte vorschnell als klare Objektivierung des tierlichen ›Verhaltens‹36 abgetan werden. Betrachtet man nämlich das gesamte Manuskript, so scheint es, dass bestimmte Formen des Tuns von Reitpferden so auffällig, gleichsam unumgänglich sind, dass Dom Duarte nicht umhinkommt, sie zu erwähnen und sich mit ihnen zu beschäftigen. Bei der systematischen Lektüre des Textes fällt auf, dass Pferde in Duartes »Livro« nicht einfach Pferde sind. Der Autor neigt dazu, eine bestimmte Kategorisierung zu verwenden, wenn er über Pferde spricht: So unterscheidet er zwischen guten Pferden (»cauallos boos«) und eigensinnigen Pferden (»cauallos fazedores«). Dom Duarte erwähnt mehrmals, dass er ein Kapitel über die Unzulänglichkeiten und Fehler von Reitpferden und deren Behebung ­schreiben wollte. Ebenfalls hatte er ein Kapitel über das Erkennen, Pflegen und Verbessern von guten Eigenschaften eines Pferdes angedacht.37 Beide Kapitel wurden jedoch nicht geschrieben. Nun könnte man auch diese Kategorisierung als eine Übertragung menschlicher Tugenden und Laster auf die Sphäre der Equinen deuten. Ich plädiere jedoch für eine komplexere Interpretation und versuche im Folgenden, den beiden qualifizierenden Adjektiven »boo« und »fazedor« in ihrer

36 Zur Problematisierung dessen, dass Tiere sich lediglich ›verhalten‹, vgl. auch Muhle: Humanoide Roboter (Anm. 3), S. 95. 37 BNF MS portugais 5, fol. 101v.

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Gegenüberstellung in diesem spezifischen historischen Kontext des Reitens auf die Spur zu kommen. Wenn Dom Duarte von »guten Pferden« spricht, meint er in der Regel gut ausgebildete und gut trainierte Reitpferde, also Pferde, die beim Reiten mitmachen: Die Reitkunst ist eine der besten Fähigkeiten, die ein Krieger besitzen sollte, und bei großen Taten profitiert man wenig von guten Pferden [»boos cauallos«], wenn man nicht weiß, wie man gut reitet, so wie es die Aktion erfordert, bei der man sie einsetzen muss. […] Und tatsächlich merken sie [die guten Reiter, Anm. IS ] diesen Vorteil in vielen anderen Dingen, die im Krieg erforderlich sind. Auch spornt es sie an, gute Pferde [»boos cauallos«] aufzuziehen, weil sie erkennen, wie hilfreich sie sind, und sie gut zu kennen und zu pflegen und ihre guten Tugenden zu kultivieren und große Laster zu unterdrücken, im Vergleich zu anderen [Reitern, Anm. IS ], die das nicht gut können.38 »Boos cauallos« sind also Pferde, die kooperieren. Das reibungslose Funktionieren des Reitens scheint hier nicht abhängig davon zu sein, ob ein »boo cauallo« ein kommunikatives Gegenüber im herkömm­ lichen Sinn ist. Der Hinweis jedoch, dass gute Pferde einem Reiter wirklich helfen können, wenn er denn ein guter Reiter ist, könnte eben genau darauf hindeuten, dass Kommunikation unterstellt werden muss. Dabei geht es auch an dieser Stelle gerade nicht um Kommunikation im Sinne von ›Verständigung‹, sondern um eine Vorstellung davon, dass hier gegenseitig Erwartungen erwartbar gehalten werden müssen. Um diesen Punkt deutlicher zu machen, hilft es, sich anzuschauen, wie Dom Duarte »cauallos fazedores« qualifiziert. Mit »cauallos fazedores« bezeichnet er solche Reitpferde, deren Aktionen das Reiten stören oder besonders gut gelingen lassen. Denn das altportugiesische Adjektiv »fazedor« bezeichnet nicht das erwartbare Antonym zu »gut«, sondern ist in linguistischer Hinsicht offen für verschiedene Formen 38 Ebd., fol. 99v-100r, Übersetzung der Autorin. Im Original: »E em boos feitos muy pouco per assy se aproveitam de boos cauallos aquelles que os bem nom sabem cavalgar Segundo compre pera aquel feito em que delles se ham de servyr. […] E assy a sentem verdaderiramente em muytas outras cousas que pera feitos de Guerra som necessarias. E fazelhes mais sempre trazer boos cauallos, e esto por se entenderem delles ajudar, e bem os conhecer, e manteer e acrecentar em boos custumes, e mynguar em grandes tachas que per outros que o bem fazer nom soubessem seriam acrecentamendos«.

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des Handelns und des Tuns. Ein »cauallo fazedor« ist ein Pferd, das etwas ›macht‹. Und »cauallos fazedores« machen einiges: Sie scheuen, sie bocken, sie bäumen sich auf, sie verwerfen die Hinterbeine, sie stolpern, sie springen, sie werfen sich in Gräben, sie wenden ruckartig, sie verweigern, sie stehen urplötzlich still und vieles mehr.39 »Cauallos fazedores«, so scheint es, sind Reitpferde, die nicht kooperieren. Was diese Differenzierung jedoch auch zum Ausdruck bringt, ist, dass Pferde eine große Bandbreite an Verhaltensweisen oder besser: Benehmen zeigten. Ob einige dieser Aktionen mit oder ohne Intention, auf ›natürlichem Verhalten‹ basierend oder nicht, ausgeführt wurden, diese Zuschreibungen spielen im Text Duartes keine Rolle. Und das macht den Text so interessant. Denn letztlich musste sich der Reiter auf alle möglichen Aktionen einstellen, auf diese reagieren, seinen Körper auf entsprechende Bewegungen trainieren, sprich: sich auf das Tun der Pferde einlassen können. In diesem Sinne ist es keine Frage von intendiertem oder nicht-intendiertem Verhalten, von gut oder schlecht, von nützlich oder nicht nützlich. Die entscheidende Differenzsetzung wird zwischen kooperativem und eigenständigem Benehmen vorgenommen, beide sind jedoch gleichermaßen zulässig. Besonders deutlich zeigt sich dies, wenn Duarte über die Ausbildung eines jungen Reiters spricht.40 Er schlägt folgende Vorgehensweise vor: Zuerst solle man einen jungen, unerfahrenen Reiter mit einem »boo cauallo« üben lassen. Wenn er nicht mehr ängstlich und unsicher ist, solle man ihn mit verschiedenen Pferden trainieren lassen, bis er selbstbewusst genug sei, und schließlich führe man ihn an »cauallos fazedores« heran. Nur so lerne ein Reiter, mit schwierigen Situationen umzugehen. Erst wenn er genügend Routine und Erfahrung hat, kann er vom Reiten mit »cauallos fazedores« lernen, ohne Ängste zu entwickeln. Obwohl Dom Duarte von der Ausbildung eines jungen Reiters spricht, können wir dennoch einige Spuren entziffern, die die Pferde in diesem Trainingsprogramm hinterlassen haben. Diese Passagen  – und davon gibt es viele  – zeigen deutlich auf, dass Reitpferde ihre eigene Bandbreite an Aktionen pflegen konnten und dies auch immer wieder taten. In dieser Perspektive macht es keinen Sinn, von ›einfachem tierlichen Verhalten‹ zu sprechen, dies wäre ein zu biologistisches Argument. Wenn wir über spätmittelalterliche Reit39 Vgl. BNF MS portugais 5, fol. 103r, im Original: »Pera tras me pode derribar alvorando, pullando, saltando logo no começo, começando a correr, subindo rvjo por huũ lugar muyto agro de sospeita, ou muyto spesso que alguũ mato me torve e caya por desacordo«. 40 Vgl. dazu BNF MS portugais 5, fol. 109r.

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pferde sprechen, könnte es sinnvoller sein, sie als mit eigenen Erfahrungen ausgestattete Reitpraktiker zu verstehen, die ein ganzes Spektrum von Aktionen, Benehmen, Verhalten, also von verschiedenen Arten des Tuns zeigten: einiges davon antrainiert, anderes erlernt und vieles davon über Jahre und durch Routine und Erfahrung verfeinert. Nicht alle Reitpferde wurden zu »guten Reitpferden«. Das mussten sie jedoch auch nicht.

III. Auf der Suche nach einer adäquaten Beschreibung und Perspektiven auf spätmittelalterliche Mensch-PferdKommunikation Wie bringt man nun diese Befunde aus den Lektürevolten in eine adäquate Beschreibungsform? Hätte der Beitrag von Beginn an nach dem Akteursstatus spätmittelalterlicher Pferde gefragt, hätte er sich das Problem eingeholt, sich zu dem vorbelasteten »agency«-Konzept verhalten zu müssen: Es ist eine Frage nach einem vermeintlich nach objektiven Kriterien zu entscheidenden Ja oder Nein.41 Die für solche Fragen prädestinierte soziologische Forschung – das zeigen die beiden Beiträge von Gesa Lindemann und Florian Muhle in diesem Band – hat sich zu großen Teilen von einem Akteursbegriff abgewendet, der an einem solchen Kriterienkatalog orientiert ist.42 Die Ausführungen zu Ramon Llulls humanequiner Sozialtheorie avant la lettre und Dom Duartes »Livro da ensinança de bem cavalgar toda sela« haben versucht, diese Aufforderung aufzunehmen und die Spezifika einer bestimmten historischen humanequinen Beziehung herauszuarbeiten. Pferde an sich sind nicht immer, nicht alle und schon gar nicht grundsätzlich soziale Akteure. Dieser Beitrag hat jedoch versucht zu zeigen, dass bestimmte historische Arrangements (wie die Sozialgruppe der »Ritter«) für die spezifischen Beziehungsqualitäten als Adressatenordnungen konstitutiv sind. Beim spätmittelalterlichen Reiten als körperbasierter, durch Routinen möglichst stabilisierter Kommunikation von »cavayler« und »cavayl« (und eben gerade nicht zwischen Mensch 41 Zum problematischen Konzept der »agency« in den Human-Animal Studies vgl. die ausführliche Diskussion in Mieke Roscher: Actors or Agents? Defining the Concept of Relational Agency in (Historical) Wildlife Encounters, in: Animal Encounters. Kontakt, Interaktion und Relationalität, hg. von Jessica Ullrich / Alexandra Böhm, Berlin 2019, S. 149-170. 42 Vgl. dazu die Beiträge von Florian Muhle und Gesa Lindemann in diesem Band.

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und Pferd) handelt es sich, so sollte deutlich geworden sein, um eine sozial relevante Adressatenordnung. Hier wird das kommunikative Arrangement einer täglichen Routine von Reiter-Reitpferd-Interaktion als Sozialisationsform gebildet, aufrechterhalten und möglichst erwartbar gemacht. In diesem Sinne plädiert dieser Beitrag also nicht für ein gönnerhaftes Gewähren von Akteursschaft, sondern für eine möglichst genaue Analyse von historischen Bedingungen einer sozial signifikanten Mensch-Tier-Beziehung. Nur so gelangen wir über die Punchline der Unmöglichkeit des zählenden Pferdes »Kluger Hans« hinaus, wie Clemens J. Setz es in seiner Rede angeregt hat. Um über die Feststellung von Agency (oder Nicht-Agency) von nicht-menschlichen Akteuren hinauszukommen, die allzu oft (noch) an humanistisch-christlichen Vorstellungen eines menschlichen Exzeptionalismus hängt und immer noch an subjektbildenden Merkmalen wie Intentionalität, Rationalität und Sprachfähigkeit zurückgebunden bleibt, eignet sich der Begriff der Adressabilität, um (historische) kommunikative Zurechnungspunkte freizulegen. Was gewinnen wir also, wenn wir in die Analyse spätmittelalterlichen Reitens, wie wir es bei Dom Duarte kennengelernt haben, das Konzept der Adressabilität einführen? Das Reitmanual führt uns vor Augen, welch immensen Aufwand Reiten für alle Beteiligten bedeutete. Jahrelanges Training, viel Wissen, kontinuierliche körperliche Routine für den menschlichen, aber eben auch den equinen Teil der Reitkonstellation, und ein ganzes Arsenal an Equipment: Sattel, Zaumzeug, Trensen, Zügel, Sporen, Gerten etc. Die komplexen Reit­ utensilien, auf deren Beschreibung, Justierung und Einsatz Duarte viel Tinte verwendete, lassen sich für uns dann wiederum als Medien der Kommunikation beschreiben. So fungiert etwa das Trensengebiss, auf dessen Bedeutung bereits Ramon Llull hingewiesen hat, als Medium zwischen Reiterhand und Pferdemund. Die Kommunikation zwischen Reiter und Reitpferd ist ganz zentral auf diese vermittelnden Objekte angewiesen. Mittelalterliches Reiten als human-equine Praxis einer spezifischen Sozialgruppe war auf eine Beziehung angewiesen, die – im Idealfall – auf vorhersehbaren Aktivitätsvorstellungen auf beiden Seiten beruhte: Reiten ist in diesem Ansatz als Routinisierung körperlicher Nähe von Reiter und Reitpferd zu verstehen, die wesentlich durch kommunikative Routinen aufgebaut wurde. Wenn also – gemäß Fuchs – Kommunikationsprozesse Punkte errechnen müssen, denen Mitteilungen zugeschrieben werden können, dann kann dies im Fall des Reitens aus der Reitersicht Duartes nur an der Schnittstelle der beiden Körper

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folgen. Nicht verständigende Sprachfähigkeit, sondern der Körper erweist sich hier als der kleinste gemeinsame Nenner und damit als belastbarster Zurechnungspunkt für Mitteilungen.43 Pferde scheinen in Duartes Text nämlich durchaus Mitteilungshandlungen vorzunehmen. Wenn dem nicht so wäre, wäre die Beschreibung eine solche, dass Reiter und Reitpferd in einem rein automatischen Reiz-Reaktions-Modus operieren würden. Genau das scheint in Duartes Text jedoch nicht der Beschreibungsmodus zu sein. Wir haben es auch nicht mit einer sprachlich überformten Kommunikation zu tun, die beispielsweise Nadir Weber in seinem Beitrag zu interspezifischer Jagdkommunikation vorstellt.44 Reiten lässt sich ganz zentral abgrenzen von anderen Mensch-Tier-Interaktionsformen, die in erster Linie auf instrumentelles Konditionieren abstellen müssen. Im Falle der Hunde- und Falkenjagd wurde die ›Kommunikation‹ – so erscheint es zumindest in der diskursivierten Form – auf ein (verbales) befehlsbasiertes Reiz-Reaktions-Muster reduziert. Der für die Frage nach den Grenzen des Sozialen in der Vormoderne besonders interessante Punkt ist jedoch, dass im Falle des Reitens gerade nicht über Sprachsignale kommuniziert wurde, sondern über Körperbewegungen, Gewichtsverlagerungen, Berührungen, aber auch Schläge und Hiebe  – was wiederum sowohl für Reiter wie Reitpferde zutrifft. Duartes Reitkonzeption zeugt von einer komplexen Wahrnehmung von Pferden, die wir vielleicht folgendermaßen beschreiben können: Wir haben es mit einer sozialen Situation zu tun, in der sich zwei Kommunikationsteilnehmende  – nämlich der Reiter und das Reitpferd – gegenseitig wahrnehmen, jedoch grundsätzlich völlig offen ist, was als Nächstes geschehen soll. Duartes Text zeugt davon, dass dies für beide Teilnehmer gilt: Der Reiter musste auf alle Reaktionsweisen des Reitpferdes gefasst sein. Das Reitpferd musste auf alle Reaktionsweisen des Reiters vorbereitet sein. In diesem Deutungsrahmen erhält auch Duartes Betonung von Wissen – neben Willen, Vermögen und schlicht Praxis  – eine Bedeutung, die über die Demonstration der eigenen Reitmeisterei oder eine statusadäquate Repräsentationsleistung hinausgeht: Für Reiter ist es zentral  – mithin lebensrettend –, die eigene Urteilskraft an möglichst vielen Pferden, Reitern und deren Erfahrungen zu schulen, um verschiedene Pferde möglichst gut einschätzen zu können. Wir haben es mit einer sozialen Gruppe zu tun, die es sich in der Regel nicht leisten konnte, nur ein 43 Vgl. dazu auch Fuchs: Adressabilität (Anm. 5), S. 59. 44 Vgl. dazu auch Nadir Webers Beitrag in diesem Band.

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Pferd zu reiten. Für das Reisen, die Jagd, Turniere, Pferdespiele oder im Feld mussten die »caballeros« buchstäblich umsatteln. Die jahrelange Ausbildung, das tägliche Training oder der Wechsel von Reitpferden und Reitern zeigen in aller Deutlichkeit auf, wie versucht wurde, doppelter Kontingenz zu begegnen: Durch Routine  – und zwar für Reiter wie Pferde. Wenn also Kommunikation Adressabilität unterstellen und Mitteilungshandeln identifizieren können muss, dann zeigt sich genau diese Form der Operation in dem kontinuierlichen Versuch, den reiter­ lichen und den reitpferdlichen Körper in Übereinstimmung zu bringen und das Tun der Reitpferde als Mitteilungshandlungen zu verstehen, das die Einteilung der Reitpferde in »boos« und »fazedores« erst ermöglicht. Pferde werden hier nicht mit Automaten gleichgesetzt. Gleichzeitig wird Reiten auch nicht als harmonische Verständigung von Reiter und Reitpferd verstanden, sondern als Bewältigung der latenten Krise, die darin bestand, dass die Kommunikation und die Erwartungserwartungen äußerst prekär waren: Die Gefahr des Sturzes war allgegenwärtig. In diesem Sinne führte die Krisenhaftigkeit der human-equinen Kommunikation aufseiten der Reiter zu Versuchen, Verstehen zu erreichen. Davon zeugt Dom Duartes »Livro«. Die Routinisierung der körperlichen Abläufe (für Reiter wie Reitpferd) kann als Training, aber auch als Sozialisation begriffen werden. Beide Teilnehmer an der Praxis ›Reiten‹ konnten nicht voraussetzen, dass sie sich gegenseitig verstanden, aber sie konnten gegenseitig Erwartungen, vielleicht auch Erwartungserwartungen aufbauen und darauf wiederum reagieren. Der kommunikativen Dauerkrise konnte begegnet werden, indem die »cavaylers« mit immensem Aufwand ihren Körper und ihr Wissen trainierten. Im Gegenzug trainierten die Reitpferde ebenso ihren Körper und ihr Wissen, auch wenn sich dieses als Erfahrungswissen wohl anders gestaltete. In Beschreibungen von Reitern und Reitpferden, wie wir ihnen bei Dom Duarte begegnen, zeigt sich selbst in der schriftlichen Reflexion, dass beinahe ständig Mitteilungsverhalten identifiziert wurde. Auch wenn dem Reitpferd keine bewusstseinsbasierte Adresse zugerechnet wurde, so zeigen doch die Systematisierungsversuche Duartes, dass hier aus Sicht der Reiter eine Form von Verstehen gesucht wurde, die dem kommunikativen Krisenfall Reiten entgegenwirkte. In diesem Sinne wird durch das Reiten ein kommunikativer Punkt entworfen, der als körperbasierte Adresse im Modus der Routinisierung die größtmögliche Stabilisierung leisten konnte, die in diesem sozialen Arrangement von konstitutiver Körpernähe und kommunikativer Dauerkrise möglich war.

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Abschließend will dieser Beitrag dazu anregen, Fragen nach (historischen) Adressatenordnungen der human-equinen Beziehung weiterzudenken. Weitere Settings, die sich für eine historische Untersuchung ausmachen lassen, wären etwa die Medizin und die Arbeitswelt. So kann die mittelalterliche Pferdemedizin mit einer Fülle von Texten und Konzeptualisierungen aufwarten, die sich als Untersuchungsfeld eigneten, den Kommunikationsbegriff im Sinne eines Diagnose- und Therapiesensoriums sinnvoll in Anschlag zu bringen. So ließe sich auch eine nach wie vor stark entwicklungs- und rezeptionsgeschichtliche Hippiatrik-Forschung auf eine neue Grundlage der Patienten-Kommunikation stellen.45 Ein weiteres Untersuchungsfeld bietet die ›tierliche Arbeit‹. Soziolog:innen, allen voran Jocelyne Porcher, haben sich in den letzten Jahren intensiv mit sogenannten Arbeitstieren auseinandergesetzt und Konzepte ›tierlicher Arbeit‹ vorgeschlagen.46 Für mittelalterliche Arbeitspferde, die nach getaner Hofreitkunst als Zugoder Tragpferde endeten oder überhaupt ihr Arbeitsleben in engster menschlicher Nähe mit Ziehen, Tragen, Treideln, Mühlenantreiben oder Knochenstampfen verbrachten, steht eine solche Arbeitsgeschichte noch aus. Denn vergessen wir nicht: Die meiste Arbeit wird dort verrichtet, wo die Kommunikation so reibungslos verläuft, dass sie selbstverständlich erscheint: Davon zeugen die spätmittelalterlichen »cauallos boos«.

45 Eine erste Arbeit in diese Richtung hat Sunny Harrison mit seiner Dissertation an der University of Leeds vorgelegt, vgl. Sunny Harrison: Jordanus Ruffus and the Late-Medieval Hippiatric Tradition. Animal-care Practitioners and the Horse, Diss. Leeds 2018, URL : https://core.ac.uk/display/218116212 (letzter Zugriff: 12. 11. 2021). 46 Vgl. Jocelyne Porcher: Animal Work, in: The Oxford Handbook of Animal Studies, Oxford 2017, S. 302-318 sowie Jocelyne Porcher / Jean Estebanez (Hg.): Animal Labor. A New Perspective on Human-Animal Relations, Bielefeld 2019 (Human-Animal Studies 18).

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Mit Menschen kommunizieren Gott als sozialer Akteur und die Grenzen der frühneuzeitlichen Gesellschaft Unter allen denkbaren Akteuren der Vormoderne, so könnte man behaupten, ist Gott der wichtigste und gleichzeitig problematischste. Die Geschichte des vormodernen Europas ist ohne Gott und ohne Religion nicht vorstellbar. Das ist trivial und hat doch für die Fragen, denen sich der vorliegende Sammelband annimmt, weitreichende Konsequenzen. Der Band widmet sich dem Problem, ob und wie vormoderne Menschen mit nicht-menschlichen Akteuren kommuniziert haben; damit verbunden zielt er aber auf die Beantwortung der Frage, was das vormoderne Soziale ist. Zugrunde liegt dabei die Annahme, dass das Soziale primär über Kommunikation hergestellt wird. Diese in der Einleitung des Bandes entfalteten Annahmen werfen im Fall Gottes besondere Schwierigkeiten auf. Welche dies sind und was aus ihnen folgt, ist Thema dieses Aufsatzes. In der frühneuzeitlichen Welt scheint Kommunikation zwischen Gott und den Menschen omnipräsent zu sein, und zwar als alltägliches wie außeralltägliches Phänomen.1 Dies ist bekannt  – deshalb dienen die folgenden Bemerkungen der Erinnerung an Bekanntes.2 Wenn im Folgenden einzelne Texte zitiert werden, die oft von Theologen stammen, ist damit selbstverständlich nicht impliziert, dass die theologischen Konzeptionen der Gott-Mensch-Kommunikation schlicht identisch mit der Alltagspraxis der Bevölkerung waren. Gleichzeitig 1 Ein zentrales Themenfeld, das im Folgenden auch wegen seiner Komplexität kaum explizit diskutiert wird, sind die Sakramente. Ob und wie diese, v. a. die Eucharistie beziehungsweise das Abendmahl, Kommunikation der Menschen mit Gott und vice versa sind, sind naheliegende Fragen. In der jüngeren theologischen Literatur scheinen kommunikationstheoretische Perspektiven auf Sakramente und auch auf Liturgie stärker zu werden, wobei es dort öfter v. a. um Kommunikation zwischen Menschen geht. Vgl. zum Themenumkreis: Thomas Micklich: Kommunikation des Glaubens. Gottesbeziehung als Kategorie praktisch-theologischer Theoriebildung, Göttingen 2009; Otmar Meuffels: Neue Impulse einer kommunikativen Sakramententheologie, in: Münchener Theologische Zeitschrift 58, 2007, S. 248-264. 2 Da es mir weniger um empirische Tiefe oder bibliographische Vollständigkeit als um die Skizze eines Problems geht, beschränke ich mich im Folgenden im Text wie in den Anmerkungen auf das Nötigste.

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soll aber auch nicht vorausgesetzt werden, dass beide gar nichts miteinander zu tun hatten.3 Wie sich praktische und nicht-elitäre Kommunikation mit Gott von theologisch reflektierter Kommunikation mit Gott unterschied, kann hier nur punktuell angedeutet werden und verdient eine tiefergehende Untersuchung. Das Tableau der Möglichkeiten, die für die Kommunikation zwischen Gott und Mensch in der Frühen Neuzeit zur Verfügung standen, ist groß und erfordert eine Zuspitzung: Der erste Abschnitt widmet sich vor allem dem Gebet als Mittel der menschlichen Kommunikation (I ), der zweite Teil konzentriert sich auf das Problem der ›Offenbarung‹ als Mittel der göttlichen Kommunikation mit den Menschen (II ). Im dritten Abschnitt formuliere ich einige Thesen zu Gemeinsamkeiten mit und Unterschieden zur Kommunikation mit anderen nichtmenschlichen Akteuren (III ). Abschließend diskutiere ich die Frage, in welcher Weise Gott auf der Basis dieser Befunde als sozialer Akteur verstanden werden kann (IV ). Die Beispiele, an denen diese Fragen exemplarisch und überblicksartig diskutiert werden sollen, stammen aus der Frühen Neuzeit, und zwar vor allem aus dem Bereich des lutherischen Protestantismus in Deutschland. Schon diese pragmatische Einschränkung dient aber dazu, implizit auf Vergleichs- und Kontrastmöglichkeiten im Hinblick auf andere Religions- und Konfessionskulturen hinzuweisen.

I. Gott ist in gewisser Hinsicht überhaupt nur Kommunikation. »Im Anfang war das Wort […] und das Wort ward Fleisch«: Der Beginn des Johannesevangeliums macht deutlich, wie stark das Christentum als Religion der Kommunikation verstanden werden kann – weil sich das Gotteswort in Christus inkarniert hat. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts schreibt der erzgebirgische Pfarrer Daniel Hänichen, dass Christus in einem eminenten Sinne »Wort« und Gott damit Redner wie auch Inhalt der Rede sei: 3 Zu einer vergleichbaren Problemlage und einer ähnlich differenzierten Antwort: Benigna von Krusenstjern: »Gott der allmechtig, der weter fiehren kan, wohin er will.« Gottesbild und Gottesverständnis in frühneuzeitlichen Chroniken, in: Kulturelle Konsequenzen der ›Kleinen Eiszeit‹, hg. von Wolfgang Behringer, Hartmut Lehmann und Christian Pfister, Göttingen 2004, S. 179194. In diesem Aufsatz geht es allerdings um das Gottesbild generell, nicht um Kommunikation mit Gott im Besonderen.

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Denn wenn er gesagt (hätte) / Im anfang war der Sohn Gottes / so hette er hiermit schlecht seine ewige Person und nicht sein Ampt genennet: hette er gesagt / Im anfang war Christus Jesus / so were solches nur Amptes und nicht Persons namen gewesen […] Dieser namen aber Wort begreiffet es beydes / denn dieser HErr ist eigentlich das wesentliche selbstendige Wort / dann auch der ewige Redener der uns Gottes des himlischen Vaters gnedigen willen geoffenbaret […] Ob dann nun schon dieser Name etwas frembd in unsern ohren klinget / so hat doch Gott seine eigene sprache / darinnen er redet / derer wir dann auch gewohnen müssen.4 Der Christ, so wird deutlich, muss Gottes Sprache lernen, und: Gott ist Wort, Christus ist als Gott Redner und Botschaft zugleich.5 Insofern verwundert es nicht, dass Kommunikation zwischen Mensch und Gott ausdifferenziert und historisch vielgestaltig ist, und zwar von der theologischen Reflexion bis hin zur populären Frömmigkeit. Im Zentrum der menschlichen Kommunikation mit Gott steht das Gebet. Mit Gebet »wird eine Äußerung gegenüber Gott bezeichnet, die Dank, Lob, Klage, Bitte oder Fürbitte beinhalten kann«.6 Adressat ist also Gott und nur Gott – und dies ist ein Kennzeichen des Protestantismus. Sich zum Beispiel an die Heiligen zu wenden beziehungsweise die Heiligen als Fürsprecher bei Gott zu funktionalisieren, ist für sämtliche protestantischen Strömungen unmöglich. Das heißt natürlich nicht, dass protestantische Frömmigkeit die theologischen Vorgaben immer und überall umsetzte. Aber auf lange Sicht setzte sich die Abschaffung der Heiligenanrufung im Protestantismus genauso durch wie die Abgrenzung von katholischen Gebetsinstrumenten wie dem Rosenkranz oder die Umwertung von Heiligenbildern. Der Protestantismus nimmt aus der spätmittelalterlichen Frömmigkeit den Aspekt der Individualisierung und Verinnerlichung auch des Gebets auf, grenzt sich aber von einer zählbaren und ›gezählten‹ Frömmigkeit ab, die auf Quantität zum Beispiel der Gebete setzt.7 4 Daniel Henichen (Hänichen): Das schöne Euangelium Johannes am ersten Capitel: Im anfang war das Wort/ etc. […] In Sieben unterschiedenen Predigten deutlich erkleret und ausgelegt […], Leipzig 1608, S. 11 f. 5 Siehe auch: Bonaventura Albrecht: Ein Christlich Gebettlein/ gerichtet auff das Euangelium Johan. 1. Jm anfang war das Wort […], Erfurt 1596. 6 Carsten Claußen: Art. Gebet, in: Lexikon Theologie. Hundert Grundbegriffe, hg. von Alf Christophersen und Stefan Jordan, 2., durchges. Aufl., Stuttgart 2007, S. 115-117; hier S. 115. 7 Vgl. nur: Arnold Angenendt u. a.: Gezählte Frömmigkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 29, 1995, S. 1-71.

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Die klare Abgrenzung, die der Protestantismus vollziehen möchte, führt dazu, dass gerade der Aspekt der Kommunikation mit Gott als ethnographisches Fremdheitssignal dienen kann.8 Die Art, wie andere Religionen mit Gott sprechen, ist zentral für die abgrenzende Selbstbeschreibung des Protestantismus. In Friedrich Myconius’ Reformationsgeschichte aus dem 16. Jahrhundert heißt es entsprechend über die spätmittelalterliche Frömmigkeit: Do giengen diese Werck in Schwang, die musten alle und ein jedes mehr gelten, dennn das gantze Leiden und Unschuld Christi: als, Fasten, viel Gebethlein sprecen, viel Vater unser, viel Ave Maria beten, gantze Rosencränz, Rauten=Creutz, Maydel Maria, Ursul=Gebeth, Brigitta=Gebeth, Psalter, Horas Canonicas: in Summa, man must Tag und Nacht singen, plerren, murmeln, und war kein Aufhören, wieder den Spruch Christi: cum oraveritis, nolite multum loqui, sicut Ethnici faciunt.9 Der vergangene wie auch der zeitgenössische Katholizismus wird aus lutherischer Sicht sehr oft durch eine als hypertroph und polymorph wahrgenommene Gebetspraxis charakterisiert.10 In der Abgrenzung zu anderen Konfessionen oder Religionen kann immer thematisiert werden, ob die anderen eigentlich mit dem gleichen Gott sprechen, wenn auch auf die falsche Weise. Oder denken sie nur, dass sie mit Gott sprechen, kommunizieren aber in Wahrheit mit dem Teufel? Die Frage nach Häresie und Idolatrie fügt der religiösen Kommunikati8 Vgl. Euan Cameron: Enchanted Europe. Superstition, Reason, and Religion, 1250-1750, New York 2010, Kap. 13. 9 Friedrich Myconius: Historia Reformationis vom Jahr Christi 1517 bis 1542, Leipzig 1718, S. 4 f. Vgl. dazu: Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546-1617, Tübingen 2007, S. 282 f. sowie genereller: Harald Bollbuck: Die Reformationsgeschichte des Friedrich Myconius, in: Friedrich Myconius (1490-1546). Vom Franziskaner zum Reformator, hg. von Daniel Gehrt und Kathrin Paasch, Stuttgart 2020, S. 225-244. 10 Vgl. Michael Meyer-Blanck: Das Gebet, Tübingen 2019, S. 158; zum Kontext s. auch: Volker Leppin: Repräsentationsfrömmigkeit. Vergegenwärtigung des Heiligen in der Frömmigkeit des späten Mittelalters und ihre Transformation in der Wittenberger Reformation, in: ders., Transformationen. Studien zu den Wandlungsprozessen in Theologie und Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und Reformation, Tübingen 2015, S. 109-125. Als spätes Beispiel einer solchen ›ethnographischen‹ Perspektive auf den Katholizismus: Friedrich Nicolai: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, Bd. 1, Berlin / Stettin 1783, z. B. S. 96 u. S. 108.

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onssituation also einen weiteren möglichen Akteur hinzu.11 Die Geschichte der ethnographischen Beschreibung fremder Religion könnte daher auf aufschlussreiche Weise rekonstruiert werden als Geschichte der Interpretation fremder Gottes- und Teufelskommunikation.12 Die Reformation zielt auf eine Verengung der transzendenten Kommunikationsadressaten auf Gott allein, erweitert und systematisiert die mittelalterliche Stigmatisierung von »superstitio«13 und fordert statt Masse eine verinnerlichte Gebetshaltung. Das wird in der protestantischen Didaxe immer wieder eingeschärft. In religiösen Praxishandbüchern der Frühen Neuzeit finden sich dementsprechend Überlegungen zum Verhältnis von stillem, privatem und lautem, öffentlichem Gebet, aber auch zu den Sprachen des Gebets. Im Stillen, so heißt es im »Promtvarivm Theologico-Practicvm« von Johann Arnold Zeitfuchs von 1732, könne man für das Gebet die Sprache verwenden, die einem am bequemsten sei. Denn offenbar versteht Gott alle Sprachen. Die Gemeinde, die zur Verdeutlichung der Einmütigkeit der Christenheit auch kollektiv beten solle, möge dagegen die landesüblich gängige Sprache verwenden.14 In einem anderen religiösen Praxishandbuch, Andreas Keslers »Theologia Casuum Conscientiae« von 1651, wird überdies die allzu große rhetorische Durchformung von Gebeten, überhaupt die Anwendung rhetorischer Figuren im Gebet wenn nicht verboten, so doch stark eingeschränkt. Das Gebet, so macht dieser lutherische Theologe deutlich, sei eben kein Gedicht, und die Kommunikation mit Gott solle sich einer einfachen Sprache bedienen, wie dies ja auch die Bibel vorgebe.15 11 Die wirkmächtigen antiken Definitionen fassen Idolatrie als Verehrung eines falschen Gottes, Häresie als einen falschen Glauben an den richtigen Gott und Superstition als die Verehrung des richtigen Gottes mit falschen Mitteln; vgl. Cameron: Enchanted Europe (Anm. 8), S. 4. 12 Vgl. in globalhistorischer Perspektive: Susanna Burghartz: Idolatry, Markets, and Confession. The Global Project of the de Bry Family, in: Protestant Empires. Globalizing the Reformations, hg. von Ulinka Rublack, Cambridge 2020, S. 140-176, v. a. S. 156-158 u. S. 166 f. Zum Idolatriediskurs als Nukleus einer vergleichenden Religionswissenschaft s.: Daniel Olivier Barbu: Idolatry and the History of Religions, in: Studi e Materiali di Storia delle Religioni 82, 2016, S. 537-570. Zur Kommunikation über und mit dem Teufel s. auch: Miriam Rieger: Der Teufel im Pfarrhaus. Gespenster, Geisterglaube und Besessenheit im Luthertum der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2011. 13 Vgl. Cameron: Enchanted Europe (Anm. 8). 14 Vgl. Johann Arnold Zeitfuchs: Art. Gebeth, in: Promtvarivm TheologicoPracticvm das ist Theologisches Real-Lexicon und Moralische Anweisung …, Frankfurt a. M./Leipzig 1732, S. 734-749. 15 Vgl. Andreas Kesler: Theologia Casuum Conscientiae hodierno cumprimis

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Charakteristisch für protestantische Gebetsauffassungen ist aber nicht nur, dass ausschließlich Gott angerufen werden kann. Die Bitte an Gott – also eine der zentralen Funktionen des Gebets – wird theologisch immer in bestimmter Weise qualifiziert. Im Protestantismus herrscht die Auffassung vor, dass das Gebet zwar auch eine Anrede Gottes durch den Menschen ist, dass diese aber, um wirken zu können, die Gnade Gottes voraussetze. In Zeitfuchs’ Praxishandbuch heißt es, klassisch lutherisch, es sei eigentlich Gott, der durch seine Gnade das menschliche Gebet bewirke, und nur die bußfertigen Menschen könnten so beten, dass die Bitte erhört werde, weil nur sie durch Christus mit Gott versöhnt seien. Der Zweck des Gebets sei aber auch gar nicht zuerst die Erfüllung einer Bitte, sondern vor allem die weitere Versöhnung mit Gott und die »Linderung und Abwendung der Straffe« für Sünden. Das heißt: Das Gebet ist erforderlich, aber weder kann der Mensch ohne Gottes Gnade wirksam beten, noch werden menschliche Wünsche zwingend direkt erfüllt. Mit einer typischen Anthropomorphisierung verweist Zeitfuchs darauf, dass Gott als Vater seinen Kindern nicht unbedingt das gebe, was sie sich wünschten, sondern das, was am besten für sie sei.16 Die Nichterfüllung einer menschlichen Bitte bedeutet nicht, dass Gott die menschlichen Bitten nicht erfüllen könne – sondern eher, und auch diese Position wird im Protestantismus öfter vertreten, dass der allmächtige Gott zwar das Gebet fordere, aber eine direkte Erfüllung gar nicht vorgesehen sei. Denn Gott verfolge einen vorherbestimmten Plan für die Menschen, der durch individuelle Wünsche nicht abzuändern sei. Daraus konnte gefolgert werden, dass das Gebet sich gar nicht nur an Gott richte, sondern vor allem auf den Geisteszustand des Menschen selbst ziele.17 Die bereits urkirchlich geäußerte Auffassung der instrumentellen Nutzlosigkeit des Gebets verband sich in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit mit der fortschreitenden Mechanisierung des Weltbilds: Gott habe die Welt nach Naturgesetzen eingerichtet, die er nicht durchbreche, und deshalb stehe infrage, welche Funktion die Bitte an Gott überhaupt erfüllen könne.18 Einen Gott, der primär weiser Einrichter der Welt ist und nicht strafender oder belohnender Gott, kann man kaum um die Erfüllung von Wünschen bitten. tempori accommodatorum […], Wittenberg 1651, S. 87-92. Dies schließt de facto geistliche Lyrik in Gebetsform natürlich nicht aus. 16 Vgl. Zeitfuchs: Promtvarivm Theologico-Practicvm (Anm. 14), S. 747. 17 Vgl. Meyer-Blanck: Das Gebet (Anm. 10), S. 148 f. u. S. 178. 18 Vgl. Heinz D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a. M. 1995, S. 96 f.

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Trotz dieser Qualifizierungen ist es auch im frühneuzeitlichen Protestantismus gängig, Gebete lebensweltlich ganz instrumentell einzusetzen: Es wird schlicht um die Erfüllung von Wünschen gebeten. Um nur zwei relativ willkürliche Beispiele anzuführen: Als Hans Staden, ein protestantischer hessischer Landsknecht in portugiesischen Diensten, um 1550 von den Tupinamba-Indianern gefangen genommen wird, geraten diese samt ihrem Gefangenen in ein heftiges Gewitter. Die Indianer fordern Staden daraufhin dazu auf, zu seinem Gott zu beten, damit dieser den Wind und den Regen beende. Staden betet nun: O du Allmechtiger Gott / du hymlischer vnd erdtrichs gewalthaber / der du von anbegin / denen / die deinen namen anruffen / geholffen vnd sie erhoeret hast / vnter den Gottlosen / erzeyge mir deine barmhertzigkeyt / auff das ich erkennen möge / das du noch bei mir seiest / vnd die Wilden beyden / so dich nit kennen / sehen mögen / das du mein Gott mein gebet eröret hast.19 Es geht Staden bei der Bitte an Gott also um zweierlei: um die Erfüllung seines eigenen Wunsches, aber auch darum, den Indianern implizit seine Überlegenheit zu kommunizieren.20 Dass Kommunikation mit Gott innerweltlich instrumentell verwendet werden konnte, zeigt auch mein zweites Beispiel: Nach einem spektakulären Mord im Handwerkermilieu im Berlin des Jahres 1710 war es unmöglich, den Täter zu finden. Die Untersuchung dauerte mehrere Jahre an. Da nun alles angewandten Fleisses ohngeachtet / mit der Inquisition, wegen des Mordes / nichts gewisses hat heraus gebracht werden können / hat Seine Königliche Majestät allergnädigst befohlen / in allen Kirchen ein a partes Gebeth abzulesen / und GOtt zu bitten / daß er solchen offenbahre / darmit der Thäter zur gebühren-

19 Hans Staden / Johann Dryander: Warhaftig Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden, Nacketen, Grimmigen Menschfresser Leuthen, in der Newen welt America gelegen […], Marburg 1557, f ij r. Vgl. dazu z. B. Michael Harbsmeier: Wilde Völkerkunde. Andere Welten in deutschen Reiseberichten der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M./New York 1994, S. 97-110. 20 Dass das Gebet neben der Kommunikation mit Gott immer auch Kommunikation mit anderen Menschen ist oder sein kann, wird bereits bei Luther deutlich; s. WA 38,357-373; hier 362.

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den Straffe könte gezogen werden / welches auch geschehen; Es ist aber damahlen vor wie nach / der Thäter verborgen blieben.21 Gott wird also als derjenige angerufen, der alles weiß und auch den Mörder offenbaren könne. Dass er dies nicht tut, schmälert allerdings seine Autorität nicht. Gott kann, weil er nicht an einen Automatismus des Wünschens gebunden ist, tun und lassen, was ihm richtig erscheint. Auch sein Schweigen wird dadurch zum deutungsbedürftigen Kommunikationsakt.

II. Wenn im Hinblick auf menschliche Kommunikation mit Gott das Gebet zentral ist, so wird die göttliche Kommunikation mit den Menschen unter dem Stichwort ›Offenbarung‹ verhandelt. Wie im Fall des Gebets unterliegt auch die göttliche Offenbarung im Zuge der Reformation einer, allerdings kontroverseren, Neuorientierung. Die vorherigen Vorstellungen davon, wie sich Gott offenbare, verschwanden zwar nicht. Noch immer stand neben und hinter der Selbstoffen­ barung Gottes in der Menschwerdung Christi die Trias aus Heiliger Schrift, Natur und menschlichem Gewissen als den Medien, durch die sich Gottes Wille offenbarte.22 Dennoch verändert sich mit der Reformation etwas: Wie das Gebet sich nur noch an Gott richten kann, ist die protestantische Tendenz im Falle der göttlichen Kommunikation die Verengung auf die Bibel als Offenbarung Gottes. Wenn göttliche Kommunikation im Protestantismus primär Kommunikation durch die Bibel ist, so unterliegt doch die Frage, wie Gott (über die Bibel hinaus) mit den Menschen kommuniziert, immer wieder kontroversen Aushandlungsprozessen. Die lutherische Mehrheitsauffassung ist jedenfalls die, dass Gott zwar mit den Menschen kommuniziert, aber eher nicht direkt und un21 Kurtzer, jedoch warhafftiger, und Acten mäßiger Bericht, Wie es mit den […] durch Gottes sonderbahre Schickung offenbahr gewordenen Mord, Des Seligen Hoff-Kürschners, Meister Martin Heinrichs, zugegangen  […], Berlin 1716, S. 14. Siehe für dieses Beispiel Florian Grumbach: Predigt, Publikum und Seelenheil. Lutherische Pfarrpraxis im Berlin des 18.  Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2022, S. 13. 22 Vgl. Siegfried Weichlein: Art. Offenbarung, in: Lexikon Theologie. Hundert Grundbegriffe, hg. von Alf Christophersen und Stefan Jordan, 2., durchges. Aufl., Stuttgart 2007, S. 220-223; hier S. 221.

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vermittelt. Genauer: Er tut dies nicht mehr. Wenn auch in der berühmten illustrierten Bibel Matthäus Merians Gott im Dornbusch ikonisch mit Mose spricht,23 so verweist dies doch auch darauf, dass für den Protestantismus in aller Regel die Zeit der Wunder und auch die Zeit der unmittelbaren Kommunikation des individuellen Menschen mit Gott in der Vergangenheit liegt.24 Innerhalb eines historischen Stadienmodells verortet sich das konfessionelle Luthertum in einer Zeit, in der die Bibel als privilegierte Offenbarung Gottes gilt. Luthers wirkmächtige Neubestimmung Gottes als gleichzeitig verborgener wie in Christus offenbarter Gott – »deus absconditus« und »deus revelatus« – führte ihn dazu, Christus und die von Christus her verstandene Bibel ins Zentrum seiner Theologie zu rücken. Würde Gott anders als in Menschensprache zu den Menschen sprechen, wäre dies zu groß und zu schrecklich, als dass Menschen dies aushalten könnten. Die Bibel ist also die zentrale Offenbarung des »deus loquens« an die Menschen, und der Mensch als »homo audiens« kann diese Offenbarung, dieses Wort Gottes nur über die Bibel vernehmen.25 Daneben ist es in der lutherischen Tradition die Schöpfung selbst, die Gottes Willen erkennbar werden lässt. Diese ›ordentliche‹ Weise der Offenbarung, wie es zeitgenössisch heißt, steht ganz im Zentrum lutherischer Kommunikationstheologie.26 In der an Luther anschließenden lutherischen Orthodoxie verschärfen zwei Tendenzen diese Bibelzentrierung: erstens die Vorstellung, dass das Wort Gottes und die Heilige Schrift schlicht gleichzusetzen seien, Gott also ausschließlich durch die Bibel mit den Menschen kommuniziere,27 und zweitens durch die Idee der Verbalinspiration: Die Heilige Schrift, so die theologisch schon immer mögliche, aber im 23 Vgl. Matthaeus Merian: Icones Biblicae. Praecipuas Sacrae Scripturae Historias eleganter & graphice repraesentantes, Frankfurt a. M. 1625, S. 83. 24 Vgl. exemplarisch: Johann Marbach: Von Mirackeln und Wunderzeichen. Wie man sie auß unnd nach Gottes Wort/ fuer waar oder falsch erkennen soll  […], Straßburg 1571, k ij r-v. Innerhalb der Wunderkommunikation wird Mose noch einmal herausgehoben; nur dieser, so der Zedler, habe die vollkommenste Kommunikation  – mündlich und von Angesicht zu Angesicht, »wie ein Mensch mit dem andern redet« – erlebt. Siehe Art. Offenbahren, in: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste […], Bd. 25, Leipzig / Halle 1740, Sp. 850-852; hier Sp. 852. 25 Vgl. Albrecht Beutel: Art. Wort Gottes, in: Luther Handbuch, hg. von Albrecht Beutel, 3. Aufl., Tübingen 2017, S. 408-417. 26 Vgl. Art. Offenbahren, in: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste […], Bd. 25, Leipzig / Halle 1740, Sp. 850-852. 27 Vgl. Henning Graf Reventlow: Epochen der Bibelauslegung, Bd. 4, München 2001, S. 25.

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christlichen Spektrum einigermaßen exaltierte Position, sei nicht nur im Hinblick auf ihren Geist, sondern bis auf den Buchstaben von Gott inspiriert oder diktiert, wie der lutherische Theologe Abraham Calov schreibt.28 Dies schließt im Protestantismus Übersetzungen bekanntlich nicht aus, während ein katholischer Beobachter wie Montaigne der Meinung ist, dass Gott nicht in der Volkssprache kommuniziere.29 Die Zentralstellung der Bibel als Offenbarung Gottes führt zur Zentralstellung der Predigt innerhalb des protestantischen Gottesdienstes, die, weil evangeliumskonform, selbst Gotteskommunikation ist. So sieht es jedenfalls theologisch aus; die Sozial- und Kulturgeschichte der Predigt in der Frühen Neuzeit bietet Einblicke in die reale Vielgestaltigkeit und lebensweltliche Anpassung der Predigt und der Prediger.30 Für Luther und viele seiner Nachfolger aber sind in Formulierungen wie ›das Evangelium predigen‹ tatsächlich die Heilige Schrift und deren Predigt kategorial gleichgestellt.31 Weil in der Predigt das Wort Gottes zuallererst gehört wird, ist das Reich Christi nach Luthers berühmter Formulierung »ein hör reich nicht ein sehe reich«.32 Gott wird also gehört, nicht gesehen, und zwar gerade deshalb, weil Gott in und mit der schriftlichen und zunehmend gedruckten Bibel kommuniziert, aber diese in das lebendige, gesprochene Wort der Predigt überführt werden muss.33 28 Vgl. Abraham Calov: Apodixis Articulorum Fidei  […], Lüneburg 1684, S. 29. 29 Vgl. Michel de Montaigne: Essais, übers. von Hans Stilett, Bd. 1, München 2011, S. 480 f. 30 Vgl. z. B. Susan C. Karant-Nunn: Preaching the Word in Early Modern Germany, in: Preachers and People in the Reformations and Early Modern Period, hg. von Larissa Juliet Taylor, Leiden 2001, S. 193-219; dies.: Liturgical Rites. The Medium, the Message, the Messenger, and the Misunderstanding, in: Religion and the Early Modern State. Views from China, Russia, and the West, hg. von James D. Tracy und Marguerite Ragnow, Cambridge 2004, S. 284-301. 31 Vgl. Sven Grosse: Fundamentalkommunikation – Luther, Karlstadt und Sebastian Franck im Disput über die Medialität der Bibel, in: Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz. Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation, hg. von Johanna Haberer und Berndt Hamm, Tübingen 2012, S. 99-116; v. a. S. 101, sowie den gesamten Band. 32 WA 51,11. Siehe differenziert dazu: Susanne Wegmann: Der sichtbare Glaube. Das Bild in den lutherischen Kirchen des 16. Jahrhunderts, Tübingen 2016, S. 14-16. 33 Vgl. Thomas Kaufmann: Die Sinn- und Leiblichkeit der Heilsaneignung im späten Mittelalter und in der Reformation, in: Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz. Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation, hg. von Johanna Haberer und Berndt Hamm, Tübingen 2012, S. 11-43.

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Trotz der Zentralstellung von Bibel und regulärer Predigt bleibt es nicht bei diesen Kommunikationsformen: »Gott kennt zweierlei Predigt: zum einen die Verkündigung seines Wortes auf der Kanzel. Wird das Wort aber nicht gehört, so predigt er selbst; mit Kriegen, Pest, Feuer, Wasser, Teuerung, Gewittern und anderen zeitlichen Plagen.«34 In diesem metaphorischen Sinn gibt es eben auch andere Formen der Predigt als die Predigt: Die Inkarnation Gottes in Christus kann, nach einer Redeweise, die im Protestantismus des späten 17.  Jahrhunderts üblich zu werden scheint, als »Real-Predigt« bezeichnet werden.35 Katastrophen, Explosionen und Prodigien werden als Kommunikationen Gottes gedeutet – sie zeigen Gottes Willen, vor allem Gottes Zorn über die Menschen und seinen Bußruf an und sind dementsprechend »RealBuß-Predigten«.36 Die Vorstellung vom Zorn Gottes als antizipierte Gefahr, die dementsprechend disziplinierend wirken soll,37 ist im frühneuzeitlichen Protestantismus genauso verbreitet wie die Deutung natürlicher und außernatürlicher Phänomene als göttliche Kommunikation. Dies ist zum Beispiel abzulesen an der protestantischen Deutung der Pest, die nicht nur die vorreformatorischen Pestheiligen hinter sich lässt,38 sondern auch die Pest als eine Äußerung Gottes an die Menschen zu entschlüsseln und diese kommunikativ zu beantworten sucht.39 34 Kittsteiner: Entstehung des modernen Gewissens (Anm. 18), S. 42. 35 Siehe z. B. Johann Heinrich Weyhenmayer: Evangelische Pfarr- und Kirchen-Postill […], Ulm 1699, S. 586. 36 Vgl. z. B. Christoph Matthäus Seidel: Zwo Buß-Predigten  …, Berlin 1720, S. 1; Johann Ludwig Hartmann: Fränckische Blut-Geschicht, Oder: Historischer und Theologischer Bericht Von dem neulich in Blut verwandelten Wasser im Stadt-Graben zu Kitzingen, Nürnberg 1676, S. 47. 37 Vgl. Alexander Kästner / Gerd Schwerhoff (Hg.): Göttlicher Zorn und menschliches Maß. Religiöse Abweichung in frühneuzeitlichen Stadtgemeinschaften, Konstanz / München 2013. 38 Vgl. Ronald K. Rittgers: Protestants and Plague. The Case of 1562 /63 Pest in Nürnberg, in: Piety and Plague. From Byzantium to the Baroque, hg. von Franco Mormando und Thomas Worcester, Kirksville (MO ) 2007, S. 132-152. 39 Man solle erkennen, so heißt es typisch 1603, dass die »erste Ursach solcher Seuche« der »eifferige vnd brennende Zorn Gottes vber vnsere Sünde vnd Missethat« sei, weshalb man Gott um Vergebung anflehen solle. Siehe Christoffer Richter: Kurtzer, doch gründtlicher und heylsamer Bericht, wie man für der gyfftigen Seuche der Pestilentz, nicht allein durch Gottes Gnade könne praeserviret […], Hamburg 1603, A iij v. Auch außerhalb des Luthertums wird allerdings die Pest oft als Strafe oder Strafdrohung Gottes verstanden, während das Ende der Pest typischerweise als Gnadenakt Gottes verstanden wird. Vgl. Colin Jones: Plague and Its Metaphors in Early Modern France, in: Representations 53, 1996, S. 97-127; v. a. S. 113; s. für ein zeitlich spätes Bsp. auch: Daniel Defoe: A Journal of the Plague Year, hg. von Cynthia Wall, London 2003, S. 236.

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Obwohl also Wunder, wie bereits gesagt, im Protestantismus eher als göttliche Kommunikationsakte einer vergangenen Epoche angesehen wurden, führte dies weder in theologischen noch in populären Diskursen zu einer Enthaltsamkeit, scheinbar außernatürliche Phänomene als Wunder oder doch alternativ als Vorzeichen göttlicher Vorhaben zu deuten.40 Auch hier ist allerdings bemerkenswert, dass der Wandel des Gottesbildes im 18.  Jahrhundert die Kommunikation durch Vorzeichen unplausibler machte.41 Die Vorzeichendiskussion konzentrierte sich also auf die Offenbarung Gottes in der Natur. Eine andere innerhalb des frühneuzeitlichen Luthertums immer wieder geführte Debatte bezog sich auf die Frage, ob die Bibel als Kommunikationsmedium Gottes hinreiche. Besonders stark in der frühen Reformation und in den Pietismusdebatten um 1700 wurde etwa diskutiert, ob zum Verständnis der Bibel nicht der Heilige Geist hinzutreten müsse, Gott also neben der Bibel auch noch direkt, als Geist, mit den Menschen kommuniziere. Diese Frage konstituierte eine wichtige Scheidelinie innerhalb der Reformation – zwischen biblizistischen Lutheranern und spiritualistischen ›Schwärmern‹.42 Es ging dabei einerseits um den Status der Bibel als Wort Gottes und die Grenzen des menschlichen Bibelverständnisses,43 andererseits um die 40 Vgl. nur den klassischen Aufsatz: Lorraine Daston: Wunder und Beweis im frühneuzeitlichen Europa, in: dies., Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt a. M. 2001, S. 29-76 sowie das materialreiche Buch von Andreas Bähr: Der grausame Komet. Himmelszeichen und Weltgeschehen im Dreißigjährigen Krieg, Reinbek 2017. 41 Siehe als einen Text, der den beginnenden Umbruch verdeutlicht: (Johann Vulpius:) Wunder-neuer Glücks-Comet […], o. O. 1681, v. a. B2r u. B4r. Zur Umdeutung der Natur um 1700 s. auch: Ann Blair / Kaspar von Greyerz (Hg.): Physicotheology. Religion and Science in Europe, 1650-1750, Baltimore 2020. Zu Naturwissenschaft als Kommunikation mit Gott s.: Martin Gierl: Religiöses Wissen. Wissenschaft und die Kommunikation mit Gott 1650-1750, in: Die Frühe Neuzeit als Epoche, hg. von Helmut Neuhaus, München 2009 (Beiheft der Historischen Zeitschrift 49), S. 91-105. 42 Vgl. Berndt Hamm: Geistbegabte gegen Geistlose. Typen des pneumatologischen Antiklerikalismus. Zur Vielfalt der Luther-Rezeption in der frühen Reformationsbewegung (vor 1525), in: Anticlericalism in Late Medieval and Early Modern Europe, hg. von Peter A. Dykema und Heiko A. Oberman, Leiden / New York / Köln 1993, S. 379-440; Thomas Kaufmann: Nahe Fremde. Aspekte der Wahrnehmung der »Schwärmer« im frühneuzeitlichen Luthertum, in: Interkonfessionalität  – Transkonfessionalität  – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, hg. von Kaspar von Greyerz, Manfred Jakubowski-Tiessen, Thomas Kaufmann und Hartmut Lehmann, Gütersloh 2003, S. 179-241. 43 Vgl. z. B. Grosse: Fundamentalkommunikation (Anm. 31); Hans-Jürgen Goertz: Variationen des Schriftverständnisses unter den Radikalen. Zur

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Frage der direkten Kommunikation Gottes mit den Menschen jenseits der Bibel. Nicht nur zum Verständnis der Bibel, sondern durchaus auch als mehr oder weniger unabhängige Offenbarungsquelle wurden, an mystische Traditionen anschließend, von bestimmten radikalen Reformatoren Träume und Visionen als Kommunikationen Gottes eingestuft.44 Luther allerdings denunzierte das Ideal einer letztlich medienlosen, direkten Kommunikation mit Gott als theologisch falsch und politisch subversiv.45 Dieser Problemkreis blieb konstitutiv für die Geschichte der Protestantismen: Die institutionelle Autorität des Klerus wurde abgelehnt oder wenigstens eingeschränkt. Doch man tat sich schwer mit einer totalen Individualisierung des Gottesverhältnisses und musste daher die Bibel als Zentraloffenbarung in den Mittelpunkt stellen; insofern ist das gerade für die lutherische Konfession charakteristische Phänomen der Laienpropheten wichtig, weil es die Grenzen und Unschärfen der konfessionell bestimmten Kommunikationsformatierung belegt.46 Mindestens sollte jede nicht-biblische Kommunikation Gottes sich an der Richtschnur der Bibel beurteilen lassen  – denn es wurde immer wieder die Gefahr heraufbeschworen, dass vielleicht gar nicht Gott zum Menschen rede, wenn in Träumen, Visionen oder auch Losentscheidungen47 zum Menschen geredet wurde, sondern der Satan sich die Leichtgläubigkeit der Menschen zunutze mache. Diese Debatte scheint eine Begleiterscheinung des Zusammenbruchs und der langfristigen Reduzierung institutioneller Autorität zu sein: In der Reformation wie im Pietismus finden sich Positionen, die von Geistkommunikation ausgehen, aber auch solche, die sich skeptisch dagegen wenden. Oftmals wurde auch im Protestantismus nicht bestritten,

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tigkeit des Sola-Scriptura-Prinzips, in: Radikalität der Reformation. Aufsätze und Abhandlungen, hg. von dems., Göttingen 2007, S. 188-215. Vgl. Hans-Jürgen Goertz: Träume, Offenbarungen und Visionen, in: Radikalität der Reformation. Aufsätze und Abhandlungen, hg. von dems., Göttingen 2007, S. 164-187. Luther verwies überdies auf das Paradox, dass auch diejenigen, die direkt mit Gott meinten sprechen zu können, sich der Predigt und des Buchdrucks als Medium bedienten; vgl. WA 15, 216. Vgl. Jürgen Beyer: Lay Prophets in Lutheran Europe (c. 1550-1700), Boston 2016; Renate Dürr: Prophetie und Wunderglauben. Zu den kulturellen Folgen der Reformation, in: Historische Zeitschrift 281, 2005, S. 3-32. Vgl. Cameron: Enchanted Europe (Anm. 8), Kap. 4; zum Los s. auch: Peter Vogt: Die Medialität göttlicher Willenskundgebung in der Lospraxis der Herrnhuter Brüdergemeine, in: »Schrift soll leserlich seyn«. Der Pietismus und die Medien. Beiträge zum IV . Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2013, hg. von Christian Soboth und Pia Schmidt, Halle 2016, S. 465-480.

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dass Gott auch direkt mit einzelnen Menschen kommunizieren könne, aber es wurde ein akribischer Kriterienkatalog ausgearbeitet, der richtige von falscher Gotteskommunikation zu unterscheiden half. Beispielhaft lässt sich dies an dem Hallenser pietistischen Theologieprofessor Joachim Lange ablesen, der sich – wohl auch, um vom Pietismus das Odium des Heterodoxen abzuwehren – in scharfer Weise gegen mystische, quietistische und radikalpietistische Positionen wandte. Lange unterschied wie seine Zeitgenossen zwischen ordentlichen und außerordentlichen, innerlichen und äußerlichen, mittelbaren und unmittelbaren Offenbarungen.48 Die unmittelbaren Offenbarungen  – das Hören von Stimmen, das Träumen, das Reden mit Gott von Angesicht zu Angesicht, die Zuckungen und das leibliche Berührtwerden von Gott – sind immer mit der Bibel abzugleichen. Die Inhalte sind genauso zu prüfen wie die Personen, die behaupten, unmittelbar mit Gott zu kommunizieren. Bei Lange ist wie schon bei Luther zu sehen, dass die lebensweltlich nach wie vor nicht unplausible Idee einer größeren Vielzahl von Kommunikationskanälen mit Gott auch jenseits der Bibel nicht etwa rundheraus abgelehnt wurde, aber doch vonseiten der kirchlichen Diskurswächter auf skeptische Reaktionen stieß und sich einer kleinteiligen Prüfung unterziehen lassen musste. Der Protestantismus in seinen verschiedenen Ausprägungen, so lässt sich als Zwischenfazit festhalten, dringt auf eine deutliche Reduktion oder Konzentration der Kommunikation zwischen Gott und Mensch: Reduktion der Massenhaftigkeit des Gebets und Reduktion der Adressaten, Konzentration der göttlichen Kommunikation auf die Bibel – mit allen Folgeproblemen dieses Monopolisierungsversuches. Der Versuch der Theologen, Gott-Mensch-Kommunikation zu reduzieren, zu konzentrieren, kriteriologisch überprüfbar zu machen, führte nämlich nicht zum Verschwinden auch anderer Formen der Gott-Mensch-Kommunikation.

48 Vgl. Joachim Lange: Nöthiger Unterricht Von unmittelbaren Offenbahrungen  […], Halle 1715; s. auch: Art. Offenbahren, in: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste […], Bd. 25, Leipzig / Halle 1740, Sp. 850-852; Art. Unmittelbare Offenbahrung, in: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste […], Bd. 49, Leipzig / Halle 1746, Sp. 1882-1884. Zum Pietismus s. auch: Ruth Albrecht (Hg.): Begeisterte Mägde. Träume, Visionen und Offenbarungen von Frauen des frühen Pietismus, Leipzig 2018.

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III. Was ist nun die Spezifik der (frühneuzeitlichen) Mensch-Gott-Kommunikation? Die thesenhafte Beantwortung dieser Frage dient unter anderem dazu, Elemente eines Vergleichsrasters zu gewinnen, mit dem man Mensch / Nicht-Mensch-Kommunikation generell analysieren könnte.49 1.

2.

Kommunikation mit Gott ist phänomenologisch relativ unwahrscheinlich: Man kann Gott in der Regel nicht sehen oder hören, anders als zum Beispiel das Tier.50 Und genau dies wird frühneuzeitlich (und schon lange vorher) auch diskutiert; aus dieser Situation erwachsen die Hermeneutik, die Gottes Äußerungen verstehbar machen soll, die Abgrenzungsdiskurse zwischen richtiger und falscher Offenbarung von Gottes Willen und auch die verwickelte Medialität der Mensch-Gott-Kommunikation. Es ist fraglich, ob man Gott in irgendeinem Sinne oder in irgendeinem Modus eben doch sehen, hören, verstehen kann. Die MenschGott-Kommunikation scheint medien- wie sinnesgeschichtlich komplexer, mindestens aber anders zu sein als die Kommunikation zum Beispiel zwischen Mensch und Tier. Gott-Mensch-Kommunikation ist asymmetrisch: Gott antwortet nicht immer, hat aber immer recht. Aus protestantischer Sicht haben Gott und seine Gnade immer ein Prä der Kommunikation. Insofern ist es zuerst Gott, der mit Menschen kommuniziert, bevor Menschen mit Gott kommunizieren. Zudem ist Gott vermutlich der einzige nicht-menschliche Akteur, der in der Rolle des Vaters anthropomorphisiert wird; die Anthropomorphisierung, die für Kommunikation mit nicht-menschlichen Akteuren typisch sein dürfte, greift also hier gewissermaßen ›nach oben‹ aus, bewahrt aber ein Verhältnis der Nähe. In dieser Hinsicht wäre es interessant, die sich verändernden Anthropomorphisierungen Gottes (vom spätmittelalterlichen Richter zum aufgeklärten bes-

49 Es wäre aufschlussreich, konfessionsvergleichend nicht nur die Medien, sondern auch die materielle Kultur der Mensch-Gott-Kommunikation einzubeziehen und die Heiligenbilder, Rosenkränze, unverbrennbaren Lutherstatuen und anderes stärker noch als Spezifika der Kommunikation mit Gott, aber eben nicht mit Tieren, hervorzuheben. 50 Vgl. Thomas Luckmann: Über die Grenzen der Sozialwelt, in: ders., Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen, Paderborn u. a. 1980, S. 56-92, v. a. 76 f. Ob diese ›phänomenologische‹ Kommunikation allerdings selbst eine moderne Projektion ist, bleibt eine Glaubensfrage.

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ten Freund des Menschen) unter dem Aspekt der Gott-MenschKommunikation noch einmal durchzugehen – und auch die bereits frühneuzeitliche Kritik an diesen anthropomorphisierenden Redeweisen mit einzubeziehen.51 3. Kommunikation mit Gott ist einerseits alltäglicher und daher vielgestaltiger Bestandteil vormoderner Praxis und andererseits doch durch eine gewisse Konzentration der Inhalte gekennzeichnet. Gott kommuniziert seinen Willen, die Menschen bitten und danken. Die hochgradige Formung und Ritualisierung der Kommunikation mit Gott scheint also eine spezifische Differenz zur Kommunikation mit anderen nicht-menschlichen Akteuren auszumachen. Es sind spezifische Sprechakte – und nicht etwa andere –, die diese Kommunikation auszeichnen. 4. Kommunikation mit Gott weist aus lutherischer Sicht eine spezifische Zeitstruktur auf: ›Richtige‹ Gotteskommunikation ist in gewisser Weise immer an die Bibel als größte Offenbarung Gottes zurückzubinden, die aber in der Vergangenheit liegt. Gottes Kommunikation hat in der Bibel ihre endgültige Formulierung gefunden, und jede weitere Kommunikation Gottes ist an der Bibel zu messen. Anders als in der Kommunikation mit anderen nicht-menschlichen Akteuren ist also im Fall der Kommunikation mit Gott der Hauptkommunikationsakt bereits geschehen und muss nur noch gedeutet werden. Hieraus entstehen dann Hermeneutik und Theologie. 5. Die Gott-Mensch-Kommunikation ist dadurch charakterisiert, dass sie in einem Ausmaß von Reflexionen und Meta-Kommunikationen begleitet ist, wie dies für keine andere Kommunikation mit nicht-menschlichen Akteuren gilt. Kommunikation mit Tieren oder Dingen ist in hohem Maße theorielose und situative Pra-

51 Vgl. Montaigne: Essais (Anm. 29), Bd. 2, S. 287; Salomon Schweigger: Ein newe Reyßbeschreibung auß Teutschland Nach Constantinopel und Jerusalem […], Buch 2, Nürnberg 1608, S. 186 (zur muslimischen Weigerung, Gott als Vater anzusprechen). Mit Ludolf Kuchenbuch könnte man den Terminus der »Anthropomorphisierung« historisieren und seine Verwendbarkeit im oben dargestellten Zusammenhang bezweifeln. Kuchenbuch schlägt statt »Anthropologie« für das lange Mittelalter »Hominologie« vor und würde entsprechend von »Hominomorphismus« sprechen. Vgl. Ludolf Kuchenbuch: Zwischen Lupe und Fernblick. Berichtspunkte und Anfragen zur Mediävistik als historischer Anthropologie, in: ders., Reflexive Mediävistik. Textus – Opus – Feudalismus, Frankfurt a. M./New York 2012, S. 537-567; hier S. 566 f.

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xis.52 Die Kommunikation mit Gott zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass ihre Praxis von Beginn an in enger Verknüpfung mit einer Reflexionswissenschaft namens Theologie steht. Theologie kann weithin verstanden werden als Metareflexion über die Kommunikation mit einem nicht-menschlichen Akteur. Die Prominenz theologischer Tradition ist wohl ein Grund dafür, dass uns Kommunikation vormoderner Menschen mit Gott trotz ihrer sinnlichen und medialen Unwahrscheinlichkeit viel ›normaler‹ vorkommt als Kommunikation mit Pflanzen oder Drachen: Durch die Metareflexion der Theologie hat eine Normalisierung der Kommunikation mit Gott stattgefunden, die wir als selbstverständlichen Bestandteil vormoderner Kultur ansehen. In diesem Sinne wäre der Vergleich der menschlichen Kommunikation mit Gott einerseits, Tieren und Dingen andererseits auch ein Weg der Ent-Selbstverständlichung von Religion und Theologie als Elementen vormoderner Lebenswelt. Daher dürfte es auch, aber nicht nur frömmigkeitsgeschichtlich interessant sein, die Kommunikation mit Gott mit derjenigen zu vergleichen, die Menschen mit anderen nicht-menschlichen Akteuren unterhalten.

IV. Folgt aus dem Befund, dass frühneuzeitliche Menschen mit Gott kommunizierten, dass Gott ein Akteur oder ein sozialer Akteur war? Und welche Konsequenzen hätte diese Behauptung für unsere Vorstellung vom vormodernen Sozialen? Man könnte diese Fragen in mindestens zwei Richtungen diskutieren: erstens im Hinblick auf die Frage, ob es aus semantischen Gründen überhaupt plausibel ist, von vormodernen ›sozialen Akteuren‹ zu sprechen – eine Frage, die hier auf sich beruhen soll, aber eine weitere Reflexion verdiente. Denn man könnte mit begriffsgeschichtlichen Befunden dafür argumentieren, dass die Begriffe »sozial« und »Gesellschaft« für die Vormoderne gar nicht recht zu gebrauchen sind und daher auch die Rede von Gott als vormodernem sozialen Akteur sinnlos ist.53 Zweitens aber, und die angesprochene Überlegung beiseite 52 Vgl. aber die Beiträge von Nadir Weber und Isabelle Schürch in diesem Band. 53 Es ist bekannt, dass der Begriff der Gesellschaft in der Vormoderne, der aristotelischen Tradition folgend, das Gemeinwesen als ein von Herrschaft durchwirktes Ganzes meint. Modern gesprochen: Staat und Gesellschaft, Herrschaft und Soziales sind in der vormodernen politischen Theorie

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lassend, wäre zu fragen, in welchem Sinne es überhaupt plausibel ist, Gott als Akteur anzusehen, und welche Rolle hier die dargestellte Gott-Mensch-Kommunikation spielt. scherweise genauso wenig getrennt gedacht, wie zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft differenziert wird. Vgl. Manfred Riedel: Art. Gesellschaft, Gemeinschaft, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 801-862. Der moderne Begriff der Gesellschaft, so hat Keith Michael Baker bereits vor Jahrzehnten gezeigt, wurde in der Aufklärung erfunden. Das hat im Hinblick auf Gott als Akteur besonders einschneidende Konsequenzen, denn der moderne Gesellschaftsbegriff, der auf das Zusammenspiel individueller menschlicher Akteure und ihrer Interessen gerade unter Absehung von göttlichen Interventionen abhob, ist ein säkularisierter Nachfolgebegriff zum vormodernen Kosmos: Das 18. Jahrhundert konstruierte in Abwehr zu einer göttlich durchwirkten Welt »a notion of society as an autonomous ground of human existence«. Die Begriffe des Sozialen und der Gesellschaft sind geradezu konstruiert gegen eine vormoderne Welt, die ganz selbstverständlich mit Gottes Wirken rechnete. Vgl. Keith Michael Baker: Enlightenment and the Institution of Society. Notes for a Conceptual History, in: Main Trends in Cultural History, hg. von Willem Melching und Wyger Velema, Amsterdam 1994, S. 95-120, Zitate S. 119 u. S. 96. Siehe zusätzlich: Jean Terrier: Art. Social, The History of the Concept, in: International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, Bd. 22, 2. Aufl., Amsterdam u. a. 2015, S. 827832; Yair Mintzker: »A Word Newly Introduced into Language«. The Appearance and Spread of »Social« in French Enlightened Thought, 1745-1765, in: History of European Ideas 34, 2008, S. 500-513. In diesem Sinne ist es fraglich, ob die modernen, auf Kontingenz und menschliche Selbstregulierung abstellenden Begriffe ›sozial‹ und ›Gesellschaft‹ (siehe Arnim Nassehi: Art. Gesellschaft, in: Lexikon Soziologie und Sozialtheorie. Hundert Grundbegriffe, hg. von Sina Farzin und Stefan Jordan, Stuttgart 2015, S. 85-89) überhaupt so weit abstrahierbar sind, dass sie als metahistorische Begriffe auf alle Formen des (menschlichen wie nicht-menschlichen) Zusammenlebens ausgedehnt werden können, und ebenso fraglich ist, in welchem Sinne der Begriff des sozialen Akteurs für die Vormoderne angemessen ist. Vgl. John W Meyer / Ronald L. Jepperson: The »Actors« of Modern Society. The Cultural Construction of Social Agency, in: Sociological Theory 18, 2000, S. 100-120. In jedem Fall haben wir es mit einer problematischen Beschreibungssprache zu tun. Scharfe Kritik an einem ahistorisch gebrauchten Gesellschaftsbegriff findet sich schon bei: Friedrich H. Tenbruck: Emile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie, in: Zeitschrift für Soziologie 10, 1981, S. 333-350. Eine Welt, in der Menschen mit Gott kommunizierten und umgekehrt, wäre vielleicht eher als ›ordo‹ oder ›Kosmos‹ zu bezeichnen; mit dem amerikanischen Kirchenhistoriker Euan Cameron könnte man von einem »densely populated universe« voller Menschen, Götter, Dinge etc. sprechen – und eben nicht von einer Gesellschaft mit sogenannten sozialen Akteuren. Siehe Cameron: Enchanted Europe (Anm. 8), S. 41; vgl. instruktiv auch: Cordelia Heß: Social Imagery in Middle Low German Didactical Literature and Metaphorical Representation (1470-1517), Leiden / Boston 2013.

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Die Frage, ob Gott ein Akteur oder gar ein sozialer Akteur ist, steht in der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung unter einem fest etablierten Vorbehalt, und zwar dem Vorbehalt des metho­ dologischen Atheismus. Dass Gott in vielen Gesellschaften eine relevante Größe ist – dass Menschen an ihn glauben, auf ihn hören, Geschehnisse als göttliche Handlungen deuten etc.  – ist zwar bekannt. Gleichzeitig ist Gott für moderne Forscher:innen, unabhängig davon, ob sie sich mit Gegenwart oder Geschichte befassen, eine problematische Größe, und zwar, weil aus der Beobachterperspektive unentscheidbar ist, ob es ihn überhaupt gibt. Die Forschung umgeht diese Frage meist und postuliert schlicht die innerweltliche Erklärung historischer Zusammenhänge, die ohne Rekurs auf Gottes Heilshandeln auskommen soll.54 Die Behauptung, dass Gott ein sozialer Akteur sei, ist im Rahmen des methodologischen Atheismus letztlich nur möglich, indem man sie umformuliert zu: Die vormodernen Menschen denken, dass Gott ein Akteur ist. Die Frage, ob diese Vorstellung stimmt oder nicht, ob Gott existiert oder nicht, wird eingeklammert. In diesem Sinne könnte man auch den Titel meines Beitrags so lesen, dass Menschen immer nur mit Menschen kommunizieren, dass also die Vorstellung, sie würden mit Gott kommunizieren, weder wahr noch falsch, sondern unerforschbar und deshalb für die historische Forschung irrelevant ist. Diese Lesart ist aber nur eine unter vielen. Obwohl der methodologische Atheismus für die meisten Forscher:innen nach wie vor ein selbstverständliches Element ihrer fachlichen Identität ist, wird er in jüngerer Zeit öfter kritisiert, und zwar zum Beispiel aus einer postkolonialen Perspektive. Eine historische Forschung, die so vorgehe, mache vor- und nicht-moderne Menschen geradezu zum Objekt eines retrospektiven modernen Kolonialismus, nehme die Akteure nicht ernst und verkürze das Selbstverständnis und die Lebenswelt religiöser Individuen und Gesellschaften um ein entscheidendes Element.55 54 Klassisch dazu: Peter L. Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, Frankfurt a. M. 1973, S. 173; siehe kritisch: Michael A. Cantrell: Must a Scholar of Religion Be Methodologically Atheistic or Agnostic?, in: Journal of the American Academy of Religion 84, 2016, S. 373-400; Douglas V. Porpora: Methodological Atheism, Methodological Agnosticism and Religious Experience, in: Journal for the Theory of Social Behaviour 36, 2006, S. 57-75; Albert Piette: God and the Anthropologist. The Ontological Turn and Human-Oriented Anthropology, in: Tsantsa 20, 2015, S. 97-107. 55 Vgl. so: Carol Symes: When We Talk about Modernity, in: American Historical Review 116, 2011, S. 715-726.

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So hat etwa Dipesh Chakrarty formuliert, die europäische Denktradition sei von der Annahme bestimmt, that the human is ontologically singular, that gods and spirits are in the end ›social facts‹, that the social somehow exists prior to them. […] One empirically knows of no society in which humans have existed without gods and spirits accompanying them […] I take gods and spirits to be existentially coeval with the human, and think from the assumption that the question of being human involves the question of being with gods and spirits.56 Man könnte hier, und ich will nur dieses Stichwort nennen, im Sinne eines »ontological turn« weiterdenken, wie er derzeit zum Beispiel in der Kulturanthropologie, den Altertumswissenschaften und zunehmend auch in der Geschichtswissenschaft diskutiert wird. Auch dort geht es unter anderem darum, die Sicht der Zeitgenossen so weit ernst zu nehmen, dass man (radikal relativistisch) sagen muss: In vormodernen Gesellschaften ›gab‹ es natürlich Götter.57 Doch auch ohne eine starke ontologische Annahme ist es möglich, Gott als Akteur zu fassen. Üblicherweise werden soziale Akteure so definiert, dass man ihnen zum Beispiel Intentionalität, Bewusstsein und Sprachfähigkeit zuschreibt. Dies alles wird Gott selbstverständlich attestiert (anders als möglicherweise Tieren). Doch vielleicht, so legen jüngere Diskussionen über ›agency‹ und ›Akteure‹ nahe, ist die 56 Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton / Oxford 2008 (EA 2000), S. 16. Als methodische Frage folgt: »How do we handle this presence of the divine or the supernatural […] as we render this enchanted world into our disenchanted prose?« Zur Herausforderung des europäischen Gesellschaftsbegriffs durch die Globalisierung s. auch: Lynn Hunt: Writing History in the Global Era, New York 2014, S. 78-118. 57 Ich verkürze die Diskussion hier beträchtlich. Schon die Formulierung, dass der ontological turn ›relativistisch‹ sei, ist bestritten worden; auch will dieser ›turn‹ mehr als die schlichte Übernahme der Perspektive der Zeitgenossen, sondern hat weitere methodologische Implikationen. Siehe Paolo Heywood: Ontological Turn, The, in: The Cambridge Encyclopedia of Anthropology, hg. von Felix Stein u. a., 2017, DOI : http://doi.org/10.29164 /17ontology; s. als historische Umsetzungen etwa Greg Anderson: Retrieving the Lost Worlds of the Past. The Case for an Ontological Turn, in: American Historical Review 120, 2015, S. 787-810; Caroline Arni: Nach der Kultur. Anthropologische Potentiale für eine rekursive Geschichtsschreibung, in: Historische Anthropologie 26, 2018, S. 200-223; scharfsinnige Kritik daran bei: Tatjana Thelen: Kultur/en oder Ontologie/n als Kritik? Ein Kommentar zu Caroline Arni, in: Historische Anthropologie 27, 2019, S. 274-280.

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Definition von Akteuren über ein letztlich vom Menschen her gedachtes Eigenschaftsbündel ohnehin zu eng. Möglich wäre auch eine weite Fassung des Akteursbegriffs, die diesen relational bestimmt: Akteure wären nach diesem Verständnis alle diejenigen Entitäten, die füreinander Ermöglichungen, Einschränkungen und Grenzen des eigenen Handelns darstellen.58 ›Agency‹ ist in dieser Sicht überhaupt nur als gemeinsame Agency, als ›interagency‹ vorstellbar.59 In diesem Sinne ist zum Beispiel postuliert worden, dass für das 17. Jahrhundert Gott »ein, ja vielleicht der wichtigste Akteur im politischen Spiel war«60 – und zwar unabhängig davon, ob moderne Historiker:innen der Meinung sind, ihn als historischen Faktor einklammern zu können. Vielleicht noch spezifischer und für historische Untersuchungen besser operationalisierbar ist aber eine Akteursdefinition, die weder auf bestimmte Eigenschaften (wie Bewusstsein oder Intentionalität) abzielt noch den Kreis der Akteure auf dem Weg über ›interagency‹ unterschiedslos ausweitet. Hier kommt die diesem Band zugrunde liegende These von der kommunikativen Herstellung des Sozialen ins Spiel. Denn indem man auf Kommunikation scharf stellt, kann man die historisch variablen »Grenzregime« des Sozialen präziser beschreiben.61 Unterschiedlichen Grenzen des Sozialen entsprechen unterschiedliche ›Adressenordnungen‹: Es ist historisch und kulturell ausgesprochen variabel, wer und was angesprochen, mit wem oder was kommuniziert werden kann.62 Die Grenzen der Gesellschaft oder die Grenze zwi58 Philippe Descola: Die Ökologie der anderen. Die Anthropologie und die Frage der Natur, Berlin 2014, S. 114, plädiert dafür, dass »die Organismen, die Werkzeuge, die Artefakte, die Gottheiten, die Geister, die technischen Verfahren nicht mehr einfach als ein Umfeld aufgefasst werden, als Ressourcen, als mehr oder weniger illusorische Vorstellungen, als einschränkende Faktoren oder als Arbeitsmittel, sondern wirklich als Akteure, die in gegebenen Situationen mit den Menschen interagieren«. 59 Vgl. Vinciane Despret: From Secret Agents to Interagency, in: History and Theory 52, 2013, S. 29-44; im Anschluss daran: Juliane Schiel / Isabelle Schürch / Aline Steinbrecher: Von Sklaven, Pferden und Hunden als sozialen Akteuren. Trialog über den Nutzen gegenwärtiger Agency-Debatten für die Sozialgeschichte, in: Neue Beiträge zur Sozialgeschichte. Nouvelles contributions à l’histoire sociale. Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 32, hg. von Caroline Arni, Matthieu Leimgruber und Simon Teuscher, Zürich 2017, S. 17-48. 60 Damien Tricoire: Mit Gott rechnen. Katholische Reform und politisches Kalkül in Frankreich, Bayern und Polen-Litauen, Göttingen 2013, S. 12. 61 Vgl. Gesa Lindemann: Gesellschaftliche Grenzregime und soziale Differenzierung, in: Zeitschrift für Soziologie 38, 2009, S. 94-112 und ihren Beitrag in diesem Band. 62 Vgl. Peter Fuchs: Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen

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schen sozialen Akteuren und nicht-sozialer Umwelt verläuft nach diesem Modell ganz orthodox luhmannianisch dort, bis wohin Kommunikation möglich ist, und dies ist historisch offenbar variabel. Wer nicht adressabel ist, gehört nicht zum Sozialen. Gott ist adressabel, und er wird adressiert. Er spricht, jedenfalls wird er verstanden. Er hat also eine Adresse, er wird personalisiert und besitzt damit aus der Sicht der mit ihm Kommunizierenden bestimmte Eigenschaften, was eine gewisse (nicht unbegrenzte) Erwartungssicherheit schafft.63 Doch auch die evidente Adressabilität Gottes, dies ist nicht oft genug zu betonen, löst nicht alle Probleme. Welche Art von Akteur Gott dadurch wurde, dass er adressabel war, dies blieb Aushandlungssache. Wer die legitimen Medien, Priester oder Propheten waren, die Gottes Willen übermitteln oder doch interpretieren konnten, konnte umstritten sein. Um ein letztes Beispiel anzuführen: Als im Frühjahr 1525 die oberschwäbischen Bauern des Bauernkriegs mit der neuen Denkfigur des ›göttlichen Rechts‹ zu argumentieren beginnen, werden sie von den Herren verspottet: »Sag an, wer wirt sollich Recht ussprechen? Gott wird ja langsam von Himel komen herab und uns ainen Rechtstag anstellen.«64 Dass Gott nicht selbst vom Himmel kommen und direkt Recht sprechen wird, wissen die Bauern natürlich auch. Sie präzisieren also: Sie möchten, dass ihre Forderungen von bekannten reformatorischen Theologen auf ihre Evangeliumsgemäßheit überprüft werden. Beide Seiten wissen also, dass in gewissen Situationen die Kommunikation mit Gott nicht möglich ist, dass sie nicht direkt möglich ist oder nur möglich ist als Auslegung dessen, was Gott bereits früher, hier: im Evangelium, kommuniziert hat. Gott gewinnt also durch seine Adressabilität den Status als sozialer Akteur. Er ist, vor allem in der Moderne, hinsichtlich seiner Existenz umstritten, die vormodernen Menschen streiten sich eher darüber, wie theorie, in: Soziale Systeme 3, 1997, S. 57-79; ders.: Die archaische SecondOrder Society. Paralipomena zur Konstruktion der Grenze der Gesellschaft, in: Soziale Systeme 2, 1996, S. 113-130; im kritischen Anschluss daran etwa: Florian Muhle: Sozialität von und mit Robotern? Drei soziologische Antworten und eine kommunikationstheoretische Alternative, in: Zeitschrift für Soziologie 47, 2018, S. 147-163 sowie sein Beitrag in diesem Band. 63 Vgl. Stefan Berg: Beten mit Luhmann. Zu einer systemtheoretischen Deutung des christlichen Gebets, in: Hermeneutische Blätter 20, 2014, S. 206222. 64 Vgl. Günther Franz (Hg.): Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, Darmstadt 1963, S. 143-150; hier S. 147; dazu und zur Nähe von Evangelium und Göttlichem Recht siehe auch Peter Blickle: Das göttliche Recht der Bauern und die göttliche Gerechtigkeit der Reformatoren, in: Archiv für Kulturgeschichte 86, 1986, S. 351-369; hier S. 353 f.

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er richtig angesprochen und richtig verstanden werden kann. Wenn Gott aber ein sozialer Akteur ist, dann ist er vielleicht der soziale Akteur der Vormoderne. Auffällig ist dennoch, dass sich frühneuzeitliche Sozial- und Gesellschaftsgeschichten selbst dort, wo sie in Luhmanns Bahnen kommunikationstheoretisch fundiert sind, letztlich auf menschliches Kommunizieren und damit auch menschliche Akteure beschränken.65 Doch eine Sozial-Geschichte der Vormoderne, die Gott nicht als zentralen Akteur mitbehandelt oder ihn nur als Hintergrundinstanz oder Projektion mitlaufen lässt, läuft Gefahr, einen entscheidenden Akteur zu übersehen. Es wäre daher eine vielversprechende Perspektive, die frühneuzeitliche Religionsgeschichte als Geschichte der Redeweisen der Menschen nicht nur über Gott, sondern auch mit Gott zu rekonstruieren. Und es wäre interessant, auch über den engeren Bereich der Frömmigkeit hinaus Gott als adressablen Akteur der vormodernen Sozialgeschichte ernster zu nehmen, als eine methodologischatheistische Sicht dies üblicherweise tut. Die historiographischen Konsequenzen dieses Perspektivwechsels sind noch unabsehbar.

65 Vgl. Rudolf Schlögl: Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, Konstanz 2014.

Anja Rathmann-Lutz

Von Drachen und Riesen – Körpergrenzen des Sozialen? In ihrer Einführung in die Ringvorlesung und in der Einleitung zu diesem Band argumentieren die Herausgeberin und der Herausgeber überzeugend, dass in vormodernen Gesellschaften ›das Soziale‹ anderen Grenzziehungen unterliegt als in der Moderne und auch anderen, als in der modernen Forschung für die Vormoderne postuliert wurde. Sie plädieren dafür, die Konstituierung des Sozialen als einen andauernden Prozess kommunikativer Akte zu verstehen, in dem der Kreis der Beteiligten variabel und nicht zwangsläufig auf menschliche Akteur:innen begrenzt ist. Letztere – seien sie ›reale‹, historische oder ›fiktive‹, literarische Figuren  – interagierten demnach auf vielfältige Weise mit nicht-menschlichen Wesen: mit Gott, ihren Toten, Geistern und Engeln und eben auch mit ›Monstern‹ (Drachen, Einhörnern, Meerjungfrauen, Zwergen und Riesen). Wenn also ›das Soziale‹ über Teilhabe an Kommunikation bestimmt wird, so frage ich in diesem Beitrag, ob Mensch-›Monster‹-Begegnungen jenseits, auf oder diesseits der Grenzen des Sozialen stattfinden, also ob, wann und auf welche Weisen Menschen mit ›Monstern‹ kommunizieren, wenn sie ihnen begegnen.1 Darstellungen, wie sie aus der romanischen und gotischen Bau­ skulptur bekannt sind, die Versammlung der »monstrous races« auf Karten oder Abbildungen wie beispielsweise in Bernhard von Breydenbachs 1483 erschienener »Peregrinatio in terram sanctam«, die eine bunte Schar ›realer‹ und ›phantastischer‹ Tiere zum Teil mit enzyklopädischem Anspruch abbilden, sind eine Form der – durchaus alltäglichen  – Begegnung mit ›Monstern‹, deren Folgen für die Konstituierung des Sozialen im Rahmen des vorliegenden Textes nicht weiterverfolgt werden.2 Mit ihnen und ihren textlichen Parallelen hat 1 »Der Begegnung (das Wort ›gegen‹ ist der entscheidende Bestandteil) eignet immer etwas Widerständiges, allgemeiner gesagt, die Begegnung stellt immer ein Verhältnis her.« Gunther Gebhard / Oliver Geisler / Steffen Schröter: Einleitung, in: Von Monstern und Menschen. Begegnungen der anderen Art in kulturwissenschaftlicher Perspektive, hg. von dens., Bielefeld 2009, S. 9-30; hier S. 12. 2 Bernhard von Breydenbach: Peregrinatio in terram sanctam, Mainz 1486, »Hec animalia sunt veraciter depicta sicut vidimus in terra sancta«, URL :

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ANJA RATHMANN-LUTZ

sich spätestens seit den 1990er Jahren eine inzwischen kaum überschaubare Menge an – insbesondere literatur- und kulturwissenschaftlichen – Studien beschäftigt. Hier wurden die literarischen Funktionen und Bedeutungen der »monstra« und ihre Rolle für das mittelalterliche und frühneuzeitliche Imaginarium Europas in Enzyklopädien, Reiseberichten und auf Karten untersucht.3 Dazu kamen Analysen, die die Vorstellungen von Fremdheit und Alterität in Literatur, Historiographie und verwandten Quellen analysierten, zunehmend mit Blick auf die spezifische Körperlichkeit des/der Fremden und Anderen.4 tps://daten.digitale-sammlungen.de/0005/bsb00051697/images/index.html?fi p=193.174.98.30&seite=272&pdfseitex= (letzter Zugriff: 14. 4. 2022). Vgl. John Block Friedman: The Monstrous Races in Medieval Art and Thought, Cambridge (MA ) 1981; Lisa Verner: The Epistemology of the Monstrous in the Middle Ages, London 2016 (Medieval History and Culture 33). 3 Stellvertretend seien hier die Arbeiten von Jeffrey Jerome Cohen angeführt: ders. (Hg.): Monster Theory. Reading Culture, Minneapolis 1996; ders.: Of Giants. Sex, Monsters, and the Middle Ages, Minneapolis 1999 (Medieval Cultures 17); ders.: Medieval Identity Machines, Minneapolis 2003 (Medieval Cultures 35); ders.: Hybridity, Identity, and Monstrosity in Medieval Britain. On Difficult Middles, New York 2006 (The New Middle Ages); vgl. aber auch (nicht auf das Mittelalter begrenzt) Anna Caiozzo / Anne-Emmanuelle Demartini (Hg.): Monstre et imaginaire social. Approches historiques, Paris 2008. Insbesondere die »queer studies« und die »disability studies« haben diesen Blick nochmals erweitert, vgl. u. a. Richard H. Godden / Asa Simon Mittman: Embodied Difference. Monstrosity, Disability, and the Posthuman, in: Monstrosity, Disability, and the Posthuman in the Medieval and Early Modern World, hg. von dens., Basingstoke 2019 (The New Middle Ages); Julie Singer: Disability and the Social Body, in: Postmedieval: A Journal of Medieval Cultural Studies 3 /2, 2012, S. 135-141, und die dort jeweils versammelten Beiträge. In diesen Kontexten entwickelte sich auch  – ebenfalls ausgehend von den Literaturwissenschaften in intensiver Auseinandersetzung mit den »postcolonial studies«  – die Diskussion vormoderner Konzepte von ›race‹. Vgl. Geraldine G. Heng: The Romance of England: »Richard Coer de Lyon«, Saracens, Jews, and the Politics of Race and Nation, in: The Postcolonial Middle Ages, hg. von Jeffrey Jerome Cohen, New York 2000 (The New Middle Ages), S. 135-171; Geraldine Heng: The Invention of Race in the European Middle Ages, New York 2018. 4 Judith Klinger: Ent / Fesselung des fremden Heros. Sîvrit zwischen Exorbitanz und Assimilation, in: Durchkreuzte Helden. Das »Nibelungenlied« und Fritz Langs Film »Die Nibelungen« im Licht der Intersektionalitätsforschung, hg. von Nataša Bedeković, Andreas Kraß und Astrid Lembke, Bielefeld 2014 (GenderCodes 17); Marina Münkler / Werner Röcke: Der ordo-Gedanke und die Hermeneutik der Fremde im Mittelalter. Die Auseinandersetzung mit den monströsen Völkern des Erdrandes, in: Die Herausforderung durch das Fremde, hg. von Herfried Münkler, Berlin 1998, S. 701-766; Volker Scior: Das Eigene und das Fremde, Berlin 2002 (Orbis mediaevalis 4); Madeline Harrison Caviness: Obscenity and Alterity. Images that Shock and Offend Us / Them, Now / Then?, in: Obscenity. Social Control and Artistic Creation,

VON DRACHEN UND RIESEN – KÖRPERGRENZEN DES SOZIALEN?

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›Monster‹, das wird  – bei allen theoretischen und methodologischen Unterschieden im Einzelnen – in diesen Untersuchungen klar, wurden und werden als hybride Grenz- und Schwellenfiguren, als Mediatoren, als Zeichen gelesen und gedeutet.5 Ihre Monsterhaftigkeit wiederum ist vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, durch körperliche Merkmale, Körperexzesse, charakterisiert.6 Das Monströse gilt – nicht nur – in der Vormoderne als Signal für die Gefährdung, Infragestellung oder Überschreitung von  – menschlicher, gesellschaftlicher  – Ordnung, für die Notwendigkeit zur (Selbst-) Reflexion7 oder offener gewendet für das Erkunden von Humanität, wobei bereits die Grenzziehungen zwischen menschlich, nichtmenschlich-tierisch, nicht-menschlich-monströs und nicht-menschlich-dinglich selten eindeutig sind.8 An der Ausforschung und Kon-

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hg. von Jan M. Ziolkowski, Leiden u. a. 1998 (Cultures, Beliefs and Traditions 4), S. 155-175; Lucy-Anne Hunt: Skin and the Meeting of Cultures. Outward and Visible Signs of Alterity in Medieval Christian East, in: Images of Otherness in Medieval and Early Modern Times. Exclusion, Inclusion, Assimilation, hg. von Anja Eisenbeiss und Lieselotte E. Saurma-Jeltsch, München 2012, S. 89-106. Jeffrey Jerome Cohen: Monster Culture (Seven Theses), in: Monster Theory. Reading Culture, hg. von dems., Minneapolis 1996, S. 3-25; hier S. 4 und passim. Vgl. auch Gebhard / Geisler / Schröter: Einleitung (Anm. 1), S. 14; Gabriela Antunes / Björn Reich: (De)formierte Körper, die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter. Eine Einleitung, in: (De)formierte Körper. Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter. Corps (Dé)formés: Perception et l’Altérité au Moyen-Âge. Interdisziplinäres Seminar Straßburg, 19.  März 2010, hg. von dens., Göttingen 2012, S. 9-30; Lea Braun: Monstra, Macht und Ordnung des Raums. Zur Funktion der phantastischen Figuren im »Daniel von dem Blühenden Tal«, in: (De)formierte Körper 2. Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter. Corps (Dé)formés: Perceptions et l’Altérité au Moyen-Âge 2. Interdisziplinäre Tagung Göttingen, 1.-3.  Oktober 2010, hg. von Gabriela Antunes, Björn Reich und Carmen Stange, Göttingen 2014, S. 109-129; hier S. 111. Vgl. Friedman: The Monstrous Races (Anm. 2); Cohen: Of Giants (Anm. 3); Volker Scior: Monströse Körper. Zur Deutung und Wahrnehmung von monstra im Mittelalter, in: (De)formierte Körper. Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter. Corps (Dé)formés: Perception et l’Altérité au MoyenÂge. Interdisziplinäres Seminar Straßburg, 19. März 2010, hg. von Gabriela Antunes und Björn Reich, Göttingen 2012, S. 31-50. Für die Zeichenhaftigkeit von »monstra« und ihre Funktion als besonders intensiv wirkende Bilder, die Reflexion anstoßen, vgl. u. a. Gabriela Antunes und Björn Reich (Hg.): (De)formierte Körper. Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter. Corps (Dé)formés: Perception et l’Altérité au MoyenÂge. Interdisziplinäres Seminar Straßburg, 19. März 2010, Göttingen 2012. Vgl. v. a. Asa Simon Mittman: Introduction. The Impact of Monsters and Monster Studies, in: The Ashgate Research Companion to Monsters and the Monstrous, hg. von dems. und Peter Dendle, Farnham 2012 (Ashgate R ­ esearch

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stituierung dieser Grenzen arbeiteten sich die Gesellschaften des ›lateinischen Westens‹ seit der Antike ab, indem sie die legendenhaften fremden ›Völker‹ in einem »Katalog der physiologischen, aber auch sozialen Wunderlichkeiten« kategorisierten.9 Im Kontext dieses Bandes ist jedoch konkreter zu fragen, inwiefern ›Monster‹ nicht nur symbolisch für Aushandlungs­prozesse von Ordnung, sondern – in bestimmten Situationen – Akteur:innen innerhalb der Ordnung sind. Sie stünden in diesen Fällen nicht jenseits der Grenze des Sozialen und verwiesen zeichenhaft auf diese zurück, sondern sie befänden sich auf oder gar zeitweise diesseits dieser Grenze und hätten Anteil am Sozialen. Die im Titel des Beitrags gestellte Frage nach den Körpergrenzen zielt darauf, dass das Soziale nicht ohne seine materiell-körperliche Manifestationen, die Kommunikation nicht ohne die Körper der Akteur:innen denkbar ist. Vor diesem Hintergrund schlage ich vor, einzelne Situationen von Mensch-›Monster‹-Begegnungen zu betrachten und dabei nicht auf die metaphorischen oder allegorischen Bedeutungen, identitätsbildenden und didaktischen Funktionen mittelalterlicher »monstra« in einem bestimmten Zeitraum, Genre oder Motiv zu fokussieren, sondern darauf, ob, wie und wozu im Einzelfall Kommunikation hergestellt wird respektive stattfindet.10 Denn wenn die Begegnung mit ›dem Monster‹ für die Aushandlungen und Grenzziehungen menschlicher (Gesellschafts-)Ordnungen grundsätzlich signifikant ist, so gewinnt sie zusätzlich an Gewicht, wenn an bestimmten Punkten das Monströse in die soziale Welt integriert wird. Ein Caveat gleich zu Beginn: Den zwei Szenen, die hier einer mikroskopischen Lektüre unterzogen werden, stehen Dutzende andere gegenüber, in denen die »monstra« nicht ihrer mediatorischen Position als Dritte, auf oder jenseits der Grenze des Sozialen, kurzzeitig

Companion), S. 1-14; Yasmine Musharbash: Introduction. Monsters, Anthropology, and Monster Studies, in: Monster Anthropology in Australasia and Beyond, hg. von ders. und Geir Henning Presterudstuen, New York 2014, 1-24; hier S. 9; Gebhard / Geisler / Schröter: Einleitung (Anm. 1), S. 9-11. 9 Gebhard / Geisler / Schröter: Einleitung (Anm. 1), S. 13 f., Zitat S. 13. Vgl. Surekha Davies: Renaissance Ethnography and the Invention of the Human. New Worlds, Maps and Monsters, Cambridge 2016 (Cambridge Social and Cultural Histories 24); zum (vormals menschlichen) »social monster« Rebecca Merkelbach: Monsters in Society. Alterity, Transgression, and the Use of the Past in Medieval Iceland, Berlin 2019 (The Northern Medieval World). 10 D. h.: Es geht auch nicht um regional oder national spezifische Deutungen oder eine Entwicklung der Funktionen im Verlauf des Mittelalters, sondern tatsächlich um radikale Einzelbetrachtung vor dem Hintergrund ebendieser Deutungen, die dadurch weder bestätigt noch widerlegt werden sollen.

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entzogen sind.11 Es geht also nicht darum, hinter die Ergebnisse kulturwissenschaftlicher Analysen zurückzutreten oder sie zu überschreiben, sondern ihnen  – auf der Ebene des Experiments und des Einzelfalls – eine weitere Perspektive hinzuzufügen. »Face to face«-Begegnungen zwischen Mensch und ›Monster‹ fanden in der Bibel, in historiographisch überlieferten Gründungsmythen, in Heiligenlegenden, in der Literatur und in den jeweils damit verbundenen visuellen und performativen Formen (wie beispielsweise religiösen Dramen) und somit in vielen unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten statt. Ich werde versuchen, an zwei Beispielen – ein Text und ein Bild aus zwei gänzlich unterschiedlichen Zeiten und Räumen – auszuloten, wie die Herstellung und Inszenierung von Kommunikation innerhalb einer Mensch-›Monster‹-Begegnung aussehen kann, inwiefern die Grenzen des Sozialen über die Körperlichkeit der interagierenden Parteien verhandelt werden und ob/wie das Anteilhaben an über den Körper definierter ›Menschlichkeit‹ eine Bedingung für die Interaktion mit nicht-menschlichen Akteur:innen ist.

Strahlender Held, gebrochener Riese? Riesen sind zwar teilweise anthropomorph, haben aber die Grenze des Menschlichen überschritten, sie »stehen zwischen der physischen Natur des Menschen und den monstra.« Wie andere ›Monster‹ »treten [sie] bezeichnenderweise dort in Erscheinung, wo die gesellschaftliche Ordnung gestört ist oder sie lassen die gestörte Ordnung erst offenbar werden«, sie sind »Anlass zur Reflexion«.12 Doch gibt es, zum Beispiel in der Figur des Christophorus, Überschneidungen, die in riesenhaften Figuren auch positive Eigenschaften versammeln.13 Erscheinen 11 Braun: Monstra, Macht und Ordnung (Anm. 5), S. 119: »Overthun spricht in diesem Zusammenhang von der interpellatorischen Semiotik des monströsen Körpers, der sich stets auf etwas anderes bezieht und die ›monstra‹ als ›Wesen des ›Zwischen‹ und der Differenz‹ mit semiotischem Verweischarakter konstituiert.« Zum »Monster« als die Dichotomien bedrohendes »third term« vgl. auch Merkelbach: Monsters in Society (Anm. 9), S. 15. 12 Ronny F. Schulz: Ecke und Rainouart. Der heidnisch-höfische Riese als Grenzfigur zwischen den Ordnungen, in: (De)formierte Körper 2. Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter. Corps (Dé)formés: Perceptions et l’Altérité au Moyen-Âge 2. Interdisziplinäre Tagung Göttingen, 1.3. Oktober 2010, hg. von Gabriela Antunes, Björn Reich und Carmen Stange, Göttingen 2014, S. 261-272; hier S. 263, 270. 13 Vesselina Vatchkova: Lupus in fabulis et in templo: Les métamorphoses étranges du Saint Christophe dans l’église Orthodoxe, in: (De)formierte

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Riesen – wie im folgenden Beispiel – in historiographischen Texten, sind sie nicht unbedingt als anormale Erscheinungen gekennzeichnet, denn sie gehören zur Geschichte; sie werden aber als nicht der menschlichen Gesellschaft zugehörig, als extra-ordinär charakterisiert. In der um 1136 verfassten »Historia Regum Britannie« (oder: »De gestis Britonum«) des Geoffrey of Monmouth spielen Riesen eine bedeutende Rolle, sollen sie es doch gewesen sein, die das britische Eiland zuerst bevölkerten. Wenige von ihnen (»paucis gigantibus«) waren verblieben und wurden von den Neuankömmlingen, den TrojanerBriten, besiegt.14 Näher beschrieben werden sie freilich nicht. Sobald ihnen mehr als die Bezeichnung »gigas« zugestanden wird, werden sie, wie Goemagog,15 als außer- oder übermenschlich in ihrer Größe und Stärke sowie als »verabscheuenswert« eingeführt: »Erat ibi inter ceteros detestabilis quidam nomine Goemagog, staturae duodecim cubitorum, qui tantae uirtutis existens quercum semel excussam uelut uirgulam corili euellebat.«16 Goemagog führt eine Gruppe von Riesen an, die ihre Unmenschlichkeit auch dadurch bestätigen, dass sie an einem heiligen Tag angreifen, während ein Fest für die Götter gefeiert wird. Nachdem alle bis auf Goemagog von den zusammengeeilten Briten getötet wurden, wird dieser von Brutus in einen Zweikampf mit Corineus beordert, der Riesenkämpfe explizit sucht. Hocherfreut (»maximo gaudio«) begibt sich Corineus in den Ringkampf, zu dem er den Riesen jedoch erst provozieren muss. Bald umarmen sich beide im Kampf (»alter alterum uinculis brachiorum adnectens«) und Goemagog muss – ganz unriesenhaft  – all seine Kräfte mobilisieren (»maximis uiribus«), um ­Corineus beizukommen (er bricht ihm drei Rippen). Daraufhin kippt das Kräfteverhältnis und kurz darauf endet auch der eigentliche, per 2. Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter. Corps (Dé)formés: Perceptions et l’Altérité au Moyen-Âge 2. Interdisziplinäre Tagung Göttingen, 1.-3. Oktober 2010, hg. von Gabriela Antunes, Björn Reich und Carmen Stange, Göttingen 2014, S. 177-190. 14 Ich zitiere im Folgenden aus der zweisprachigen Ausgabe Geoffrey of Monmouth: The History of the Kings of Britain, hg. von Michael D. Reeve, übers. von Neil Wright, ND : Woodbridge 2009 (Arthurian Studies 69), Zitat S. 27. Vgl. zur Bedeutung der Riesen für die nationale Identität Englands Cohen: Of Giants (Anm. 3), Kap. II : »Monstrous Origin. Body, Nation, Family«. 15 Der Name ruft die apokalyptischen Völker Gog und Magog auf, deren Reich sich auch auf den oben erwähnten Karten verzeichnet findet, und verweist damit auf ein zeitliches wie räumliches Rand-, Grenz- und Endphänomen. 16 Geoffrey of Monmouth: The History (Anm. 14), S. 29. Alle folgenden Zitate ebd.

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regel(ge)rechte Ringkampf: Corineus ergreift durch Wut gestärkt den Riesen und trägt ihn zum Ufer, wo er ihn von einer Klippe wirft. Riesenhaftigkeit, Größe wie Stärke, werden also im Kampf auf ein menschliches Maß eingekürzt, sowohl Corineus wie auch Goemagog müssen »alle ihre Kräfte« zusammennehmen, um den jeweils anderen zu bekämpfen. Der Kampf selbst muss innerhalb der Grenzen des Sozialen stattfinden, damit sein Ergebnis ebendort  – und zwar »bis heute« (»in praesentem diem«) – wirksam sein kann. Dieses Innerhalb wird über die Angleichung der körperlichen Merkmale hergestellt sowie über den Kampf als Moment der Kommunikation zwischen Mensch und ›Monster‹. Direkt davor und danach ist jenes klar aus der sozialen Welt ausgeschlossen, es hat keinen Anteil an den Entscheidungen, die zum Kampf führen, und dieser wird durch den Wurf in das Meer, der nicht Teil eines regulären Ringkampfes ist, und damit durch den Tod des Riesen, der hier wieder als Monster bezeichnet wird (»praedictum letabile monstrum«), beendet. Ein weiterer Riesenkampf in der »Historia Regum Britannie« ist – wie in zahlreichen anderen historiographischen und literarischen Geschichten – für die Entwicklung des Helden zentral.17 Und auch diese Riesenbegegnung am Mont Saint-Michel ist aufschlussreich für die Beschreibung der Kippmomente zwischen a-sozialer und sozialer Welt via Kommunikation: Arthur erfährt von einem namenlosen »mirae magnitudinis gigantem«, der durch den Zusatz »ex partibus Hispaniarum« zusätzlich noch als fremd gekennzeichnet ist. Dieser hat die Nichte des dux Hoelus, Helena, geraubt und auf den Mont Saint-Michel verschleppt.18 Zusammen mit Kaius und Beduerus, die interessanterweise mit ihren Hofämtern näher bezeichnet werden (»Kaio dapifero et Beduero pincerna«), macht er sich auf zu einer nächtlichen Rettungsmission, nachdem schon zahlreiche einheimische Kämpfer (»milites patriae«) gescheitert sind und der Riese viele von ihnen noch halb lebend verschlungen hat (»duorabat semiuiuos«). Noch vor der eigentlichen Begegnung mit dem Riesen erfährt Beduerus, der auf Erkundungstour geschickt wird, einiges über den unmenschlichen Gegner. Er trifft auf eine alte Frau neben einem frischen Grab, die zu lamentieren beginnt, sobald sie ihn sieht: Er werde einen unbeschreiblichen Tod erleiden, denn das hassenswerte Monster werde ihn verschlingen. Jener »scelera17 Für die biblischen Referenzpunkte vgl. auch Cohen: Of Giants (Anm. 3), S. 36 f. 18 Die Episode findet sich in Geoffrey of Monmouth: The History, Buch X (Anm. 14), S. 225-229.

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tissimus inuisi nominis gigas« hatte die Nichte des Grafen und sie selbst, ihre Amme, hierher verschleppt. Die Jüngere war gestorben, weil sie die Vergewaltigungen so sehr fürchtete (»infra tenerrimum pectus timore dum eam nefandus ille amplecetur«) und der Riese hatte seine Lust auf die Amme übertragen, die er trotz ihres Alters vergewaltigte (»vim et violentia ingessit«). Auch Beduerus werde er zerreißen (»dilaniet«), fände er ihn hier vor. Mit diesen Informationen kehrt Beduerus zu Arthur zurück, und dieser beschließt, den Riesen allein zu bekämpfen. Als sie sich dem Lager des Riesen nähern, zeigen sich weitere seiner monströsen Eigenschaften. Er sitzt beim Feuer und verschlingt gierig halbrohe, halb verbrannte Schweine. Beim Anblick der drei Männer ergreift er eine Keule, die so schwer ist, dass sie zwei junge Männer kaum heben können (»quam duo iuuenes uix a terra erigerent«). Der Riese hat alle  – erwartbaren  – Attribute einer außermenschlichen Kreatur und verhält sich entsprechend. Nicht nur seine Anthropophagie, auch seine Körpermerkmale und seine überbordende Sexualität sowie sein Essverhalten weisen ihn als das aus, als das er auch bezeichnet wird – als »monstrum«. Doch wie bereits im oben beschriebenen Ringkampf des Corineus wird der Riese im Kampf selbst für wenige Momente auf das menschliche Maß zurückgestutzt  – einbezogen in die Welt Arthurs: Nachdem er die Angreifer erkannt hat, agiert er sehr schnell, auch weil er sowieso schon böse Gedanken hat (»non ignarus malae meditationis«), und trifft den Schild Arthurs mit seiner Keule, was ein ohrenbetäubendes Getöse verursacht. Von diesem Moment an kämpfen beide im wahrsten Sinne des Wortes auf Augenhöhe. Arthur verletzt den Gegner mit dem Schwert so am Kopf, dass dieser durch das strömende Blut kaum noch etwas sieht, Arthur aber findet und ihn durch eine Umarmung in die Knie zwingt (»complectendo eum per medium coegit illum genau humi flectere«). Erneut sammelt Arthur seine Kräfte und lehnt sich auf, um seinen Gegner daraufhin mit schnellen Schwertschlägen und einer weiteren Kopfverletzung zu besiegen. Sofort wird der wieder zum Riesen und fällt um wie ein Baum. In den kurzen Momenten des Kampfes ist die von Cohen postulierte Inkommensurabilität des gigantischen und des menschlichen Körpers19 tatsächlich aufgehoben und das Changieren zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem, das nicht zu fassen sei,20 für einen kurzen Augenblick entschieden. Und zwar nicht in einem 19 Cohen: Of Giants (Anm. 3), S. XIII . 20 Ebd., S. XIII und 38, zur problematischen Körperlichkeit der Riesenfigur.

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hybriden Dritten, sondern in der menschlichen, sozialen Dimension. Doch im Grunde ist Arthur gescheitert: Er besiegt zwar den Riesen, der ihm im Moment des Kampfes jedoch gar nicht mehr mit seinem übergroßen Körper gegenübersteht, kann aber nicht, wie zahlreiche Helden nach ihm, die entführte Prinzessin lebend aus den Armen des Monsters entreißen und im Triumph nach Hause führen.21 Das Eindringen des Monsters in das Soziale in dieser Episode betont somit das Menschliche des Helden: Je menschlicher das Monster wird, desto weniger übermenschlich muss der Mensch sein, der es besiegt.22 Arthur, der Held, benötigt in der Geschichte eine weitere RiesenBegegnung, die ohne die Vermenschlichung des Riesen auskommt und die er selbst erzählen muss, um seinen Heldenstatus abzusichern und zu konsolidieren. Im Nachklang zur Episode am Mont Saint-Michel wird von Arthurs Sieg über den Riesen Ritho erzählt, der lange vorher stattgefunden haben soll. Ritho hatte die britischen Könige einen nach dem anderen besiegt und sich aus ihren Bärten Kleider gemacht. Auf seine Einladung hin weigert sich Arthur, seinen Bart herzugeben, und begegnet dem Riesen im Kampf. Diese Episode erzählt die Bedrohung sowie die Wiederherstellung von Ordnung in einer klaren Folge: Es gibt nur indirekte Kommunikation zwischen beiden, es folgt der Kampf, Arthur reüssiert, und mit dem Bart sind Männlichkeit und Reich in Sicherheit.

Der Schöne und das Biest? Auch Drachenbegegnungen ließen sich bei Geoffrey of Monmouth wie auch in Gründungsmythen von Städten und auf Karten finden, doch möchte ich hier in einen anderen Bereich der Legende blicken: Zwei Heilige adeliger Herkunft – Margarete und Georg – sind es, de21 Vgl. zum ›Standardablauf‹ solcher Abenteuer z. B. Imre Gábor Majorossy: Lepröse, Riesen und der Teufel selbst. Ungewöhnliche Figuren und Ereignisse im Jaufréroman, in: (De)formierte Körper 2. Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter. Corps (Dé)formés: Perceptions et l’Altérité au MoyenÂge 2. Interdisziplinäre Tagung Göttingen, 1.-3. Oktober 2010, hg. von Gabriela Antunes, Björn Reich und Carmen Stange, Göttingen 2014, S. 87-107. 22 In der Lektüre Cohens (Cohen: Of Giants [wie Anm. 3], S. XIV f., XIX f., passim; insbes. auch Kap. V: »The Body Hybrid Giants, Dog-Men, and Becoming Inhuman«) deutet sich noch eine weitere Möglichkeit an: Was, wenn der Riese umgekehrt die Menschlichkeit des Gegners für einen Moment negiert, diesen aus der sozialen Welt gleichsam auf die dunkle Seite hinüberzieht, ihn über-/außermenschlich macht?

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ren Legenden am Ende des Mittelalters von Drachenbegegnungen bzw. -kämpfen erzählen und deren Motive teilweise ineinander verschmelzen.23 Klassisch tritt die Schlange/der Drache als Repräsentant oder Inkarnation des Teufels, als Bedrohung der (christlichen) Ordnung auf.24 Die Irritation, die er hervorruft, wird – hier in der Margaretenlegende in der Version des »Buchs der Märtyrer« vom Ende des 13. Jahrhunderts – durch die Überreizung der Sinne, vor allem des Sehund Geruchssinns, angezeigt. Dem Unmenschlichen / Teuflischen wird mit Ohnmacht begegnet, der Körper versagt seinen Dienst.25 In den ausführlichen Beschreibungen der Erscheinung des Drachen (Geruch / Gestank, Augen, Zähne, Panzer / Schuppen/scharfe Kanten, Haut / Behaarung, Flügel, Mund / Zähne, Füße, Blut, Horn und Farbigkeit) wird die Bedeutung von Körperlichkeit in der Abgrenzung des Menschlichen vom Unmenschlichen besonders deutlich. Es kommt aber noch ein weiterer Aspekt ins Spiel, der die Abgrenzung zwischen Mensch und ›Monster‹ über den Körper definiert: In der Auseinandersetzung mit dem Drachen wird sowohl die Schönheit von Margarete, die seiner Monstrosität entgegengesetzt wird, als auch die körperliche Unversehrtheit, mit der sie ihm entsteigt, nachdem er sie verschlungen hatte, in den Vordergrund gerückt. In den Legenden werden die Grenzen des Sozialen also klar gezogen: Sprachliche Kommunikation ist nicht möglich, Margarete versagt die Stimme; die Körperlichkeit der Protagonisten ist diametral entgegengesetzt, Georg besiegt den Drachen durch einen Lanzenstoß und tötet ihn, nachdem er die Konversion der Bewohner der Stadt erzwungen hat.26 23 Von literaturwissenschaftlicher Seite Verena Linseis: Die Faszination am Kampf des Heiligen mit dem Bösen. Georg, Margarete und der Drache im städtischen Kontext, in: European Medieval Drama 18, 2014, S. 17-52. 24 Vgl. Brigit Blass-Simmen: Sankt Georg, Drachenkampf in der Renaissance. Carpaccio – Raffael – Leonardo, Berlin 1991, S. 11-21; bes. S. 13-15; Andreas Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung. Der Zusammenschluss von Teufel und Monster in der mittelalterlichen Literatur, in: Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen, hg. von Rasmus Overthun, Achim Geisenhanslüke und Georg Mein, Bielefeld 2009, S. 209-256. In der mittelhochdeutschen Literatur kann die Assoziation mit dem Drachen (mit seiner Stärke, mit seinen Augen) durchaus als positive Eigenschaft zugeordnet werden. Vgl. Claude Lecouteux: Der Drache, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 108, 1979, S. 13-16; hier S. 21 f. 25 Linseis: Faszination (Anm. 23), S. 20 f. Die von Linseis untersuchten Texte stammen aus dem 13. bis 15. Jahrhundert. 26 Der Drachenkampf ist nicht von Beginn an Teil der Georgslegende. Er wird nach dem 12. Jahrhundert in den Texten manifest, mancherorts setzt die Episode sich erst im 14./15. Jahrhundert durch. Stephanie Seidl: Blendendes Erzählen. Narrative Entwürfe von Ritterheiligkeit in deutschsprachigen

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Der Drache neigt zum Tierischen hin, im Gegensatz zum Riesen, der anthropomorph ist. So besiegt Georg, der ›seinen‹ Drachenkampf erst spät in der Entwicklung seiner Legende zugeschrieben bekommt, den Drachen und legt ihm den Gürtel der geretteten Jungfrau um, sodass dieser ihm als ein »wolbendec hunt« folgt.27 Im späteren Mittelalter verschmelzen die Erzählungen zuweilen, sodass Georg und Margarete zusammen auftauchen bzw. Margarete mit dem Drachen an der Leine dargestellt wird. Auch das Beispiel künstlicher Drachen verweist auf die Verbindung von Drache und Tier. So wird Anfang des 16. Jahrhunderts, also mit großem zeitlichen Abstand, über Dieudonné de Gozon (gest. 1353) berichtet, er habe sich künstliche Drachen zu Übungszwecken gebaut: um den »giftige[n] Wurm« auf Rhodos zu töten, soll er in Frankreich täglich mit einem Pferd und zwei starken Hunden trainiert haben. Die falschen Drachen waren »ein kalb oder ander lebendig tier«, auf die er eine gemalte »tracken haut« legen ließ, von der man offenbar genau wusste, wie sie auszusehen hatte.28 Auf ganz andere Weise wird diese Möglichkeit in meinem nächsten Beispiel aufgenommen. Die Darstellung des Kampfes zwischen Georg und dem Drachen auf der Predella eines Schnitzaltars aus der Kirche von Västra Ed in Småland (1526) verschiebt auf interessante Weise die aus der Legende bekannten Positionen der Protagonisten (Abb. 1, 2). Einem Pfau nicht unähnlich erscheint Georg als Ritter auf der Predella geradezu verwachsen mit seinem Pferd, das mit den gleichen Federn am Kopf geschmückt ist wie der Heilige.29 Der von ihm bereits orgslegenden des Hoch- und Spätmittelalters, Berlin 2012 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 141), S. 3X f.; Lucie Herbreteau: De l’animal à la divinité. Le dragon dans la littérature médiévale anglaise, entre réappropriation mythologique et création d’une nouvelle figure mythique, Angers 2014, S. 134 f. Bei Herbreteau findet sich ein ausführlicher Überblick über Drachentraditionen und -typologien. Zum Drachenkampfmotiv auch Blass-Simmen: Sankt Georg (Anm. 24), S. 11-22. 27 Passional, hg. von Friedrich Karl Köpke, ND : Amsterdam 1966, S. 257, V. 23-26, zitiert bei Linseis: Faszination (Anm. 23), S. 24. 28 Die Schriften des Pfalzgrafen Ott Heinrich, hg. von Hans Rott, in: Mitteilungen zur Geschichte des Heidelberger Schlosses 6, 1912, S. 21-191; hier S. 99; die Geschichte scheint allerdings eine längere  – mündliche  – Tradition zu besitzen, vgl. Frederick William Hasluck: Dieudonné de Gozon and the Dragon of Rhodes, in: The Annual of the British School at Athens 20, 1913, S. 7079; hier S. 71 f.; Folker Reichert: Die Reise des Pfalzgrafen Ottheinrich zum Heiligen Land 1521, Regensburg 2005 (Neuburger Kollektaneenblatt 153), S. 230. Zu den künstlichen Drachen vgl. Jürgen Trumpf: Stadtgründung und Drachenkampf, in: Hermes 86 /2, 1958, S. 129-157; hier S. 143. 29 Für dieses Verwachsen mit dem Pferd und zur ambivalent besetzten Figur des Reitpaares (in der Levade) vgl. Isabelle Schürch: Von Reitern und

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besiegte Drache liegt ihm zu Füßen auf dem Rücken. Er hat alle viere von sich gestreckt und liegt ostentativ in einer Haltung des Unterlegenseins, des Sichergebens, die man von Hunden kennt. Mit den Blicken kommunizieren beide, sie scheinen sich einig zu sein, dass dieser Kampf vorüber ist. Im Gegensatz dazu ist der Drache in vielen zeitgenössischen Darstellungen in angreifender oder zumindest aktiver Verteidigungshaltung zu sehen. Seine bedrohliche Körperlichkeit wird hier maximal reduziert: Schwanz und Flügel sind klein und verschwinden unter und hinter Georg sowie dem Drachen, die Farbigkeit ist dezent. Die Lanze Georgs, die den Drachen laut Legende schwer verletzt hat, liegt unter ihm und hat keine Verbindung zu ihrem Besitzer. Das Pferd Georgs steht quer über Schwanz und Bein des Drachen, die drei bilden geradezu eine Einheit. Georg hat den rechten Arm erhoben, als wolle er zu einem weiteren Angriff ausholen. In der weit verbreiteten und unter anderem in der »Legenda aurea« ausführlich erzählten Legende sind es die Einwohner der durch den Drachen tyrannisierten Stadt und die Tochter des Königs, mit denen Georg kommuniziert und deren Ordnung er  – durch die Erpressung mit dem Drachen – überhaupt erst als christliche begründet.30 Beide sind hier jedoch an den Rand beziehungsweise in den Hintergrund der Darstellung gerückt. Im Zentrum steht die Pferd-Ritter-Einheit verschlungen mit dem Drachen. Auch wenn der Drache hier in seiner monströsen Gestalt dargestellt ist, so ist er durch seine Körperhaltung und den gerichteten Blick ›diesseits‹ der Grenze des Sozialen. Er ist nicht – wie in der Legende  – lediglich das Instrument der Christianisierung der Stadtbewohner:innen, sondern seine – intime – Begegnung mit Georg tern – visuelle Ordnung, politische Figur und reiterliche Praxis in der Frühen Neuzeit, in: FKW . Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur 60, 2016, S. 088-098; zu den Federn (und ihren möglichen Verbindungen in die »neue Welt«) vgl. Thesy Teplitzky: Geld, Kunst, Macht. Eine Kölner Familie zwischen Mittelalter und Renaissance, Köln 2012, S. 64-97 sowie dies.: Joos van Cleve. Zwei Triptychen mit dem Tod Mariae. Überlegungen zu den Altären aus der Hackeneyschen Hauskapelle und St. Maria im Kapitol und zu deren Beziehung zum Haus Habsburg, in: Colonia Romanica 24, 2009, S. 303-315, hier: S. 311, und Stefan Hanß: Making Featherwork in Early Modern Europe, in: Materialized Identities in Early Modern Culture, 14501750, hg. von Susanna Burghartz u. a., Amsterdam 2021 (Objects, Affects, Effects), S. 137-186; zur Hybridität als Voraussetzung für ritterliche Männlichkeit Cohen: Of Giants (Anm. 3), Kap. V: »The Body Hybrid Giants, Dog-Men, and Becoming Inhuman«. 30 Unübersehbar im linken Vordergrund sind die Knochen, die vom Schaden zeugen, den der Drache bereits angerichtet hat und das Schaf, das zusammen mit der Prinzessin seinem Schicksal entkommen ist.

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Abb. 1: Altar der Kirche von Västra Ed, Småland, Schweden, 1526, heute: Stockholm, Historiska Museet, Inventarienummer SHM 3776:1. Lennart Karlsson 1994-05-02, CC -BY -NC -ND .

Abb. 2: Predella, Altar der Kirche von Västra Ed, Småland, Schweden, 1526, heute: Stockholm, Historiska Museet, Inventarienummer SHM 3776:1. Lennart Karlsson 1994-05-02, CC -BY -NC -ND .

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ist als ihr zentraler Anlass in den Mittelpunkt gerückt. Anders als bei Arthur und dem namenlosen Riesen ist es hier nicht das Menschliche des Monsters, das das Menschliche des Helden hervorhebt, sondern das Tierische des ›Monsters‹, das die durch Federn und Verwachsenheit mit dem Pferd betonte Hybridität des heiligen Helden hervortreten und damit seine Menschlichkeit in den Hintergrund treten lässt. Über den Altar ist leider nicht viel mehr bekannt, sodass unklar bleiben muss, ob der Altar – als Stiftung der Familie der Freiherren auf Vinäs – in besonderer Weise auf die unruhigen Zeiten nach der Wahl Gustav Wasas reagierte oder Vorbilder aus Bestiarien verarbeitete, die eher eine Zähmung denn einen waffenbewährten Sieg über den Drachen darstellen.31

Fazit Für einen Einbezug in das Soziale via Kommunikation reichen kurze Momente der Vertierlichung oder Vermenschlichung, auf der schwedischen Predella wird die Kommunikation zwischen Mensch bzw. Ritterheiligem und ›Monster‹ aber in den Mittelpunkt gerückt. In diesen Momenten be-deuten die ›Monster‹ hier nicht nur, sie haben Teil an der sozialen Welt, die hier geordnet werden soll. Durch die körperlich ausgestaltete Kommunikation werden mit den Grenzen des ­Sozialen auch die Grenzen des Menschlichen ausgehandelt, was man sowohl an den ›Monstern‹ als auch an den Menschen sieht. Das Monströse muss sich ins Menschliche oder Tierische verfestigen, damit es kommunizierfähig ist, aber die potenzielle Monsterhaftigkeit der Menschen »in fact confirms their humanity and […] their ability to be redeemed«.32 31 In einem englischen »Bestiarium« findet sich eine ähnliche Blickbeziehung zwischen gezähmten Drachen (Schlange) und einem Menschen mit belehrender Gestik. Hier fehlt allerdings der Kontext des Kampfes. Vgl. Xénia Muratova: The Decorated Manuscripts of the Bestiary of Philippe de Thaon (the Ms. 3466 from the Royal Library in Copenhagen and the Ms. 249 in the Merton College Library, Oxford) and the Problem of the Illustrations of the Medieval Poetical Bestiary, in: Third International Beast Epic, Fable, and Fabliau Colloquium, hg. von Jan Goossens und Timothy Sodmann, Köln 1981. Für das zitierte Manuskript Kopenhagen, Kongelige Bibliotek, Bestiaire, Ms. Gl. kgl. S. 3466 8*, fol. 39r, URL : https://portail.biblissima.fr/ark:/43093/mdata13d0384b09aae0db7a1b51af741baa4e2bd146b1 (letzter Zugriff: 12. 12. 2021). 32 Cameron Hunt McNabb: Rezension über Godden / Mittman: Embodied Difference (Anm. 3), hier über den Beitrag von Leah Pope Parker, in: The Medieval Review, URL : https://scholarworks.iu.edu/journals/index.php/tmr/

VON DRACHEN UND RIESEN – KÖRPERGRENZEN DES SOZIALEN?

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In der Differenz zu den anders gestalteten Darstellungen der Mensch-›Monster‹-Begegnungen wird wiederum ›Kommunikation‹ besonders sichtbar und geradezu zum Thema der Szene. In beiden Fällen steht die Definition dessen, was als ›Kommunikation‹ zwischen Mensch und ›Monster‹ gelten kann, zur Disposition: So wie der Drache in ein ›gewöhnliches Tier‹ kippen und durch tierische Verhaltensweisen und die Aufnahme von Blickkontakt Kommunikationspartner in der sozialen Welt sein kann, so verwandelt sich unter Umständen auch der Riese in einen ›gewöhnlichen Menschen‹, als der er im Zweikampf  – verstanden als menschlich sanktionierte Kommunikationsform – besiegt werden kann. Diese Kippmomente können als zentrale Elemente einer Darstellung inszeniert werden oder aber auch nur  – entscheidende – Bruchteile einer Erzählung sein. Sie werden markiert durch an menschliche oder tierische Körperlichkeit angepasste Charakterisierungen des jeweiligen ›Monsters‹, die wiederum Rückwirkungen auf den menschlichen Gegenpart haben. Diese Austauschbeziehung existiert diesseits der Grenze des Sozialen und testet die Grenzen des Menschlichen aus, die als Grundlagen der göttlich sanktionierten menschlichen Ordnung gelten.

article/view/33311 /36909 (letzter Zugriff: 8. 3. 2022). Vgl. auch Merkelbach: Monsters in Society (Anm. 9), S. 1 und passim; Britta Wittchow: Skalen des Menschlichen. Versuch einer intersektionalen Analyse der Monster im »Apollonius von Tyrland« Heinrichs von Neustadt, in: Gender Studies  – Queer Studies  – Intersektionalität. Eine Zwischenbilanz aus mediävistischer Perspektive, hg. von Ingrid Bennewitz, Jutta Eming und Johannes Traulsen, Göttingen 2019 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 25), S. 365-393; Asa Mittman / Debra Higgs Strickland: Monstrosity, in: Different Visions. A Journal of New Perspectives on Medieval Art 2, 2010, URL : https://differentvisions.org/project/issue-two-monstrosity/ (letzter Zugriff: 2. 3. 2021).

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Schlafwandler und Werwölfe Frühneuzeitliche Konfrontationen mit dem Menschen außer sich I. Einleitung Zu den Randzonen der menschlichen Kommunikation gehörten auch jene Menschen, die in den Augen ihrer Umwelt die menschlichen Attribute zumindest zeitweilig verloren hatten, also mit anderen Worten nicht mehr wirklich menschlich ansprechbar waren. Im Kreis dieser schwer Adressierbaren fanden sich Geisteskranke, Besessene und das weite Feld mental Derangierter, die in der Frühen Neuzeit weitaus anders konnotiert waren, als heute vielleicht zu erwarten. Wie ließen sich diese Randgestalten der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft adressieren? Ab wann hatten sie in den Augen ihrer Betrachter ihre menschlichen Attribute vollends verloren, und was bedeutete dieser Verlust für die Auseinandersetzung mit ihnen? Aus diesem Komplex sollen hier zwei Beispiele herausgegriffen werden, die sich auf den ersten Blick an gegenüberliegenden Rändern verorten, ja sich wie Extreme einander gegenüberstehen, auf den zweiten Blick jedoch mehr miteinander zu tun haben, als es scheint. In den Mittelpunkt gerückt werden hier Werwölfe und Schlafwandler. Beide konfrontierten ihr Gegenüber mit der unbestreitbaren Schwierigkeit, dass Kommunikation mit ihnen kaum möglich war. In beiden Fällen verlangte ihr Kasus aus diesem Grund nach einer Erklärung. In meiner Darstellung möchte ich mich auf die Frühe Neuzeit beschränken, und zwar auf ein gutes Jahrhundert, nämlich die Jahre von etwa 1550 bis 1650. In dieser Zeit stehen wir einer bereits komplex entwickelten Medizin gegenüber, die mit Disziplinen wie Theologie oder Philosophie nicht konkurrierte, sondern, anders als heute, mit ihr in durchgehendem Dialog stand. Die Gelehrten dieser Zeit bemühten sich, die genannten Phänomene zu begreifen und sie physikalisch aufzulösen. Sie mögen dabei anders vorgegangen sein als heute, doch haben sie Hypothesen entwickelt, die uns heute helfen können, nicht nur den Status der Wissenschaft in dieser Epoche nachzuvollziehen, sondern auch, wie man dem scheinbar Abnormen gegenübertrat.

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II. Der Lykanthrop als Herausforderung II.1 Die reale Transformation und ihre Spielarten Wenden wir uns zunächst den Werwölfen zu, die, wie zu erwarten, bereits einiges an Aufmerksamkeit erhalten haben.1 Werwölfe sind ein Phänomen, das schon die Antike umgetrieben hat. Bereits der Romanautor Petronius schildert die quasimagische Verwandlung eines Menschen in einen Wolf.2 Im 16. und 17. Jahrhundert waren die Lykanthrophen, wie man sie nannte, zuvorderst ein Gegenstand der Dämonologie. Die Verwandlung musste ein Produkt eines teuflischen Paktes sein, der oft auf einem Hexensabbat eingeleitet wurde, sie ging mithilfe von Dämonen vonstatten, die dem willigen Teufelsbündler zu Hilfe kamen. Es wundert so kaum, dass die meisten Fallberichte von lykanthropischer Transformation in Werken verzeichnet werden, die die Fallstricke der Mächte der Finsternis nachzeichnen wollten. Jean Bodin in seiner »Daemonomanie« schildert das bizarre Schicksal mehrerer, auch namentlich greifbarer Franzosen, die die Gestalt von Wölfen annahmen und in diesem Zustand Tiere und Menschen, zumeist Kinder, anfielen und zerfleischten. Diabolische Rituale waren dieser Verwandlung vorangegangen wie das Anlegen eines magischen Gürtels oder vergleichba1 Unter diversen Studien und Materialsammlungen z. B. Gaël Milin: Les chiens de Dieu. La représentation du loup-garou en Occident, XI -XX siècles, Brest 1993, S. 117-166; Claude Lecouteux: Fées, Sorcières et Loups-garoux au Moyen Age, Paris 2005, S. 121-144; Leslie A. Sconduto: Metamorphoses of the Werewolf. A Literary Study from Antiquity through the Renaissance, Jefferson / London 2008, S. 127-179; Bernd Roling: Physica sacra. Wunder, Naturwissenschaft und historischer Schriftsinn zwischen Mittelalter und ­Früher Neuzeit, Leiden 2013, S. 246-274; Homayun Sidky: Witchcraft, Lycanthropy, Drugs, and Disease. An Anthropological Study of the European Witch-Hunts, New York 2015, S. 215-238; und die beiden Klassiker von ­Wilhelm Hertz: Der Werwolf. Über die Werwolfsverwandlung, Verwundbarkeit und Entzauberung. Ein Beitrag zur Sittengeschichte, ND : Leipzig 2008 (Stuttgart 1862), S. 87-95; und Rudolf Leubuscher: Über die Werwölfe und Tierverwandlungen im Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der Psychologie, ND : Leipzig 2008 (Berlin 1850), S. 43-57. Einen Überblick über die Fälle der Zeit gibt auch Jean-Beauvoys de Chauvincourt: Discours de la Lycanthropie ou De la transmutation des hommes en loups, hg. von Patrick Sbalchiero, Paris 2009 (1599), Présentation, S. 14-54. Eine aktuelle Synopse über die vielen Variationen des Themas in Literatur und Populärkultur geben die Beiträge im Sammelband Sam George / Bill Hughes (Hg.): In the Company of Wolves: Werewolfes, Wolves and Wild Children, Manchester 2020, dort die Introduction S. 1-20. 2 Petronius: Cena Trimalchionis, hg. von Ludwig Friedländer, Leipzig 1906, § 62: »At ille circumminxit vestimenta sua, et subito lupus factus est«.

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rer Werkzeuge, die oft in direktem Zusammenhang mit einem Teufelspakt standen. In einem von Bodin erwähnten Fall wurde ein Werwolf kurz nach seiner Verwandlung von einem Pfeil getroffen und anschließend, wieder in menschlicher Gestalt, anhand der Wunde identifiziert und zur Rechenschaft gezogen. Alle Lykanthropen wurden nach ihren Geständnissen wegen Hexerei zum Tode verurteilt.3 Wie aber war diese Entmenschlichung laut dem französischen Kronjuristen zu erklären? Bodin vertritt im Jahre 1581, als sein Werk zum ersten Mal erscheint, noch eine sehr physische Hypothese. Es handele sich um vollständig reale Verwandlungen; die Seele des Menschen bleibe erhalten, sein Körper transformiere sich, wie in einem alchemischen Prozess, in den Leib eines Tiers, um dem blutgierigen Menschenungeheuer im Anschluss zu seinen Schandtaten als Werkzeug bereitzustehen. Gerade die enorme Zerstörungswut, die Werwölfe an den Tag legen konnten, waren Beleg dafür, dass sich die Delinquenten auch faktisch in Wölfe verwandelt hatten.4 Zumindest einige Dämonologen und Historiographen, als Beispiele Johannes Trithemius oder Heinrich Kornmann, vertraten eine ähnliche Sichtweise wie Bodin.5 Dachte man jedoch intensiver nach, so musste offenkundig sein, dass die Annahme, ein Mensch könne mit teuflischer Hilfe seine gesamte Körperstruktur verändern, mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein musste. Für jeden Aristoteliker war die Seele das Formprinzip des Körpers, beide standen in einem Wechselverhältnis zueinander. Einen Tierkörper zu beleben hätte also auch bedeutet, die menschliche Seele, damit aber auch die Grundlage der Kontinuität einer Person verloren zu haben. Dem Menschen, so die 3 Jean Bodin: De magorum daemonomania libri IV , Basel 1581, Liber II , c. 6, S. 181-200. In der deutschen Fassung z. B. als Jean Bodin: De magorum daemonomania. Vom Ausgelaßnen, Wütigen Teuffelsheer, Allerhand Zauberern, Hexen und Hexenmeistern, Unholden, Teuffelsbeschwerern, Warsagern, Schwarzkünstlern, Vergifftern, Augenverblendern, Straßburg 1586, ­Liber II , c. 6, S. 325-352. Abgedruckt finden sich die Werwolfberichte Bodins z. B. noch einmal bei Henning Grosse: Magica, seu mirabilium historiarum de spectris et apparitionibus spirituum, ex probatis et fide dignis historiarum scriptoribus diligenter collecti libri II , Eisleben 1597, Liber I, S. 217-220. 4 Bodin, De magorum (Anm. 3), Liber II , c. 6, S. 196-199. Wie Bodin sieht es in dieser Zeit Johann von Ewich: De sagarum (quos vulgo veneficis appellant) natura, arte, viris et factis: item de notis, indiciisque, quibus agnoscuntur, Bremen 1584, Pars I, fol. B2r-B4r. 5 Johannes Trithemius: Chronicon Hirsaugense, in: Tomi duo annalium Hirsaugensium, Bd. 1, Sankt Gallen 1690, Anno 1470, S. 112; Heinrich Kornmann: Opera curiosa in tractatus quatuor distributa. Tractatus I: Miracula vivorum, Quaestio de Lycanthropis, Frankfurt 1694, S. 187-189.

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Konsequenz, wäre in seiner vollständigen Tierhaftigkeit das Fundament seiner moralischen Verantwortlichkeit abhandengekommen; er hätte nicht mehr für Untaten, die er während seiner Raserei begangen hätte, Rechenschaft ablegen müssen. Er hätte sich, mit anderen Worten, jeder Kommunikation entzogen. Zugleich, so der weitere Einwand, hätte man dem Teufel auf diese Weise eine Macht eingeräumt, die ihn zu sehr in die Nähe des Schöpfers gerückt hätte. Es musste also einen anderen Zugriff geben, um die scheinbare Entmenschlichung des Menschen zu erklären. Weniger weitreichend als die komplette Transformation, die man als These mit Bodin in Verbindung brachte, war daher eine zweite Hypothese, die zwar noch immer auf der Realität des Wolfskörpers beharrte, mit dem der Werwolf über seine Mitmenschen hergefallen war, doch sie anders begründete. Das wichtigste Instrument einer solchen, gleichsam semikörperlichen Verwandlung war, wie man glaubte, der »spiritus«, der pneumatische Energieträger des menschlichen Körpers, der sowohl die Organe mit pulsierendem Leben erfüllte, wie er für die Mediziner dieser Jahrhunderte auch der Informationsträger war, der sich für das Bildmaterial innerhalb des menschlichen Vorstellungsvermögens verantwortlich zeigte. Es war dieser »spiritus«, der auf allen Ebenen zwischen Seele und Körper zu vermitteln hatte. Seine eigenartig hybride Position in der Physis des Menschen, die im Kern schon Galen begründet hatte, musste den »spiritus« zu einem nahezu universellen Werkzeug werden lassen, mit dem sich auch die Werwölfe als Phänomen plausibilisieren ließen. Als Olaus Magnus im Jahre 1555 in seiner großen »Geschichte der Völker des Nordens« von den Werwölfen Livlands berichtet, scheint man es mit einer denkbar grotesken Horde zu tun zu haben.6 Ganze Rudel marodierender Werwölfe, die sich vorher in rituellen Verbünden zusammengeschlossen hatten, oft unter Beteiligung der lokalen Aristokratie, suchten die Regionen in periodischen Abständen heim und plünderten vor allem ihre Lebensmittelvorräte. Fässer von Bier wurden systematisch leergetrunken und anschließend, wie Olaus zu berichten weiß, sorgfältig aufgestapelt.7 Der Historiker bietet zugleich eine Reihe 6 Zum baltischen Raum mit Blick auf die Folklore auch die beiden Beiträge von Tiina Vähi: Werwölfe  – Viehdiebe und Räuber im Wolfspelz? Elemente des archaischen Gewohnheitsrechtes in estnischen Werwolfvorstellungen, in: Tierverwandlungen. Codierungen und Diskurse, hg. von Willem de Blécourt und Christa A. Tuczay, Tübingen 2011, S. 135-156; und Merili Metsvahi: Die Frau als Werwölfin (AT 409) in der estnischen Volkstradition, in: ebd., S. 193-220. 7 Olaus Magnus: Historia de gentibus septentrionalibus, ND : Kopenhagen 1972 (Rom 1555), Liber XVIII , c. 45-47, S. 642-644; englisch als Olaus

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von Berichten auf, um die Verwandlungen zu belegen, vor allem aber hat er eine Theorie, wie sie zu erklären seien. Der »spiritus«, die fluide Körperenergie, und komprimierte Luft, die sich wie eine Larve um den gewöhnlichen Körper schmiegen könne, erzeugen mit dämonischer Hilfe den Leib eines Wolfs. Semi-spirituelle Luftkörper hatten den großen Vorteil, das Leib-Seele-Verhältnis nicht infrage zu stellen; sie lieferten eine quasiorganische Vollverkleidung, ohne die menschliche Natur als Ganze zu verändern.8 Es war so kein Zufall, dass diese Variante im 16. und auch noch im 17. Jahrhundert oft repetiert wurde, um das Phänomen der Werwölfe, die nicht aus der Dämonologie der Epoche wegzudenken sind, in sich schlüssig werden zu lassen. Nach dem gleichen Schema ließen sich leicht auch andere magische Verwandlungen, man denke nur an den Esel des Apuleius, erklären. Der französische Theologe Jean-Jacques Boissard oder sein italienischer Kollege Leonardo Vairo, um nur zwei Beispiele zu nennen, favorisieren diesen Zugriff. Sie berichten zugleich von Menschen, die im Wolfsgewand großen Schaden anrichteten. Ein französischer Kardinal, so Vairo, trifft auf der Jagd in Burgund einen Wolf mit einem Pfeil; als man der Blutspur folgt, stößt man in einer Hütte in der Nähe des Waldes auf eine sterbende junge Frau, die an den Wunden des Pfeils laborierte.9 Der Leipziger Theologe Johann Friderich entfaltet in einer eigenen Abhandlung im Jahre 1591 im Detail, wie eine Verwandlung in einen Werwolf vonstattengehen müsse. Noch weitere Traktate dieser Art sollten sich in der Folgezeit anschließen. Im Zentrum der Rekonstruktion stand der »spiritus«, der als Medium die Kontinuität von Leib und Seele sichern konnte. Wie also hatte man sich eine Transformation vorzustellen? Hatte ein Mensch mit dem Teufel einen Pakt geschlossen, konnte ihm ein Dämon die feinstoffliche Materie durch die Poren seines Körpers einflößen. Die ätherische Materie wurde von seinem nus: Historia de gentibus septentrionalibus (Rom 1555). Description of the Northern Peoples, Bd. 3, übers. von Peter Fisher und Humphrey Higgens, London 1996, Book XVIII , c. 45-47, S. 928-931; gedruckt und verbreitet z. B. auch bei Peter Lauremberg: Acerra philologica. Das ist Dreyhundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, Leiden 1640, Das dritte Hundert (Nr. 46), S. 441-443. 8 Olaus Magnus: Historia (Anm. 7), Liber III , c. 17, S. 121; englisch als Olaus Magnus: Description (Anm. 7), Bd. 1, Book III , c. 17, S. 174 f. 9 Jean-Jacques Boissard: Tractatus posthumus de divinatione ac magicis praestigiis, quam veritas ac vanitas solide exponuntur per descriptionem deorum fatidicorum, qui olim responsa dederunt, Oppenheim 1615, c. 6, S. 53-55; Leonardo Vairo: De fascino libri tres, in quibus omnes Fascini species et causae optima Methodo describuntur, Venedig 1584, Liber II , c. 12, S. 163-165, S. 168-170.

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körpereigenen Lebensgeist absorbiert und sorgte, so Friderich, gemeinsam mit Muskeln und Blutadern für belebte Ausstülpungen aus komprimierter Luft, die um den Körper des neuen Werwolfs gelegt wurden. Das Pneuma drückte Haare aus seinen Poren, verlängerte seine Zähne, bildete Krallen heran und verzerrte sein Gesicht zu einer animalischen Fratze. Ergebnis war eine fluide Körperhülle, die wie ein neues Organ des alten Leibes manipuliert werden konnte. Wurden die feinstofflichen Partikel durch die Adern gepumpt, so musste dieser Vorgang, wie Friderich vermutet, mit erheblichen Schmerzen verbunden sein. Der verwandelte, den alten Leib überformende Körper war voll funktionsfähig und an das Nervensystem des alten Körpers angeschlossen. Schon deshalb mussten auch die Verwundungen, die der Werwolf während seiner Raserei empfangen hatte, nach der Rückverwandlung noch sichtbar sein und konnten zum Tod führen.10 War durch die Transformation in einen Wolf nur der Körper in Mitleidenschaft gezogen worden, doch nicht das hylemorphistische Gefüge aus Leib und Seele, so lag auf der Hand, dass der Mensch seine menschliche Natur nicht verloren hatte. Für die Gesellschaft blieb er trotz seiner Selbstdepravation ansprechbar, er hatte die Kontinuität seiner Person bewahrt und blieb für seine Umwelt als Rechtssubjekt erhalten. Viel hatte ihn vom Tier freilich nicht getrennt; die Verwandlung mutete weiter völlig grotesk an. Schon im 16. Jahrhundert ging vielen Theologen und Naturwissenschaftlern die Hypothese eines Scheinleibs daher zu weit. Der mit Körperspiritus komprimierte Luftkörper, wie ihn zum Beispiel Friderich postuliert hatte, erklärte die organische Anwesenheit der Werwölfe nachvollziehbar, er war eine stichhaltige Hypothese, um die Körpernatur in ihren sinnlich-fassbaren Qualitäten plausibel zu machen. Aber sollte der Teufel wirklich so viel Macht besitzen? Durfte es ihm erlaubt sein, derart brutal in die physische Struktur eines Menschen einzudringen, selbst wenn dieser es ihm ausdrücklich erlaubt hatte? Eine weniger weitreichende Erklärung des Werwolfphänomens, die vielleicht in der Lykanthropie­ debatte in der Frühen Neuzeit den größten Erfolg verbuchen konnte, war ebenfalls mit dem Konzept des »spiritus« verbunden. Der Körpergeist fungierte im Leib, so habe ich schon betont, für die Mehrzahl der frühneuzeitlichen Ärzte nicht nur als Bewegungsprinzip in den 10 Johann Friderich: De Lycanthropis. An vere illi, ut fama est, luporum et aliarum bestiarum formis induantur, Problema philosophicum, Leipzig 1591, S. 32-34, S. 44 f., S. 46 f., S. 50 f., S. 55-57, S. 71-73, S. 76 f., S. 82 f., S. 98 f., S. 100 f., S. 104.

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Nervenbahnen; er agierte auch als Informationsträger. Aus ihm wurden die Bilder im menschlichen Vorstellungsvermögen herangebildet, damit aber auch die Illusionen, die ihn in die Irre führen konnten. Hier, innerhalb des Vorstellungsvermögens, verortete sich daher auch die natürliche Angriffsfläche diabolischer Mächte; hier ließen sich all jene Träume, Wahnvorstellungen und Trugbilder implantieren, die den Menschen verführen, verderben und in die Hölle treiben sollten. Wie kam es unter dieser Voraussetzung zu den Werwölfen? Eine eingehende Analyse des Phänomens, das die menschliche Phantasie und ihre Anfälligkeit und Beeinflussbarkeit durch Trugbilder in ihrem Kern trug, hatten schon einige der frühneuzeitlichen Dämonologen vorgelegt, darunter zum Beispiel Ulrich Molitor oder Lambert Daneau.11 Die Vernunft als höchstes Seelenvermögen blieb dem Dämon unerreichbar, wie man einhellig glaubte, das Vorstellungsvermögen jedoch stand ihm offen, sofern der Mensch, meist in Form eines Teufelspaktes, dazu die Einwilligung gegeben hatte. Ein Dämon konnte dem Menschen auch Bilder zuführen, die ihm den Eindruck vermittelten, die Gestalt eines Wolfs angenommen zu haben. Der deutsche Humanist Kaspar Peucer kann in seiner Schrift »De divinatione«, einem berühmten Bericht, im Jahre 1560 schildern, wie eine Horde von Ly­ kanthropen sich, auf feste Verabredung hin, jährlich allesamt als Gefolgsleute Satans zu Weihnachten und in der Johannisnacht versammelte, um in Wolfsgestalt über die Felder zu ziehen und Schandtaten aller Art zu begehen. In Wirklichkeit, so vermerkt Peucer, hatte der Teufel allen Beteiligten dieser animalischen Feiertagsausflüge nur die Illusion vermittelt, ihre Körpergestalt verändert zu haben, alles Weitere beruhte auf Sinnestäuschung und Phantasmagorie.12 Auch für diese dämonologische, doch stärker psychologisch konnotierte Hypothese fanden sich in der Frühen Neuzeit Erfahrungsberichte. In sei11 Ulrich Molitor: De lamiis et pithonicis mulieribus dialogus, Straßburg 1489, fol. C5r-C6v; und Heinrich Institoris: Malleus maleficarum, Speyer 1490, Pars I, q. 10, fol. D5r-D6v; Lambert Daneau: De veneficis, quos olim sortilegos, nunc autem sortiarios vocant, dialogus, Genf 1574, c. 3, S. 60-62; und etwas zurückhaltender Johannes Wier: De praestigiis daemonum et incantationibus ac veneficiis libri VI , Basel 1568, Liber IV , c. 22, S. 414-420, bes. S. 419 f. 12 Caspar Peucer: De praecipuis generibus divinationum in quo a Prophetiis auctoritate divina traditis et a Physicis coniecturis discernuntur artes et imposturae diabolicae, Wittenberg 1560, De Theomanteia, fol. 140v-145r. Die gleichen Passagen findet sich abgedruckt z. B. bei Andreas Hondorf: Theatrum historicum sive Promptuarium ad honeste vivendum, Frankfurt 1616, Exempla Primi Praecepti, S. 105-107; oder bei Otto Melander: Jocorum atque seriorum, tum novorum, tum selectorum atque memorabilium centuriae aliquot iocundae, suaves et amoenae, Nürnberg 1643, c. 367, S. 322 f.

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nem Ovid-Kommentar, der in Königsberg entstand, berichtet Georg Sabinus im Jahre 1555 von einem völlig verwahrlosten Mann, der sich selbst für einen Werwolf hielt und jeweils zu Weihnachten und Johannis in Preußen bereits etliche Schafe der ansässigen Bevölkerung zerfleischt hatte. Der Mann wurde inhaftiert, man wartete die entsprechenden Termine ab, doch eine Verwandlung blieb aus. Alles, so Sabinus, musste sich in seiner Vorstellung ereignet haben.13 Viele Dämonologen machten sich die Phantasmagorie-These in der Folgezeit zu eigen. In der Phantasie des Werwolfs, aber oft auch, so die logische Konsequenz, in den Augen seines Betrachters, waren über den »spiritus« Bilder implantiert worden, die beide Seelen in der Illusion hielten, einem Werwolf begegnet zu sein oder sich selbst in einen solchen verwandelt zu haben. Alle Beteiligten der Szenerie mochten sich über den Zeitraum der Umnachtung, für die sich der Teufel verantwortlich zeigte, in einem mental derangierten Zustand befunden haben; weder Seele noch Körper aber waren bei ihnen nachhaltig in Mitleidenschaft gezogen worden, ja der auch äußerlich anthropomorphe Werwolf verblieb ausdrücklich als adressierbares Rechtssubjekt in der Domäne der Gesellschaft und konnte von ihr auch ohne weitere Bedenken für seinen Teufelspakt zur Rechenschaft gezogen werden. Geklärt werden musste vor allem noch, woher die enormen Kräfte der eingebildeten Wölfe rührten und warum die Wahnidee über einen so langen Zeitraum ihre Wirkung entfalten konnte. Petrus Thyraeus, einer der ersten jesuitischen Dämonologen, der sich im Jahre 1594 in seinem Traktat mit teuflischen Trugbildern, Gespenstern und Erscheinungen aller Art beschäftigt, räumt diese Schwierigkeit ein. Dennoch könne der Werwolf als Phänomen nicht mit einer realen Entmenschlichung des Menschen verbunden sein, denn eine vergleichbare Transformation, so Thyraeus, müsse allen Vorgaben der Schöpfungsordnung zuwiderlaufen. Nur Gott habe einen Menschen derart weitreichend verändern können. Es müsse sich also mit Blick auf den Lykanthropen um besonders wirkmächtige, überzeugungsgewaltige und durchsetzungsstarke Einbildungen handeln, die bei dem Delinquenten jeden Zweifel ausschließen und den marodierenden Tiermenschen darüber hinaus mit dem Glauben versehen, von aller Angst befreit über wahrhaft animalische Kräfte zu verfügen. Umso härter müsse im Anschluss das Erwa13 Georg Sabinus: Fabularum Ovidii interpretatio tradita in Academia Regiomontana, Leipzig 1698, Liber VII , Ambiguus lupus, S. 115 f.; und in der sehr gelungenen neuen Ausgabe ders.: Fabularum Ovidii interpretatio  – Auslegung der Metamorphosen Ovids, hg., übers. u. komm. von Lothar Mundt, Berlin 2019, Buch VII , c. 7, S. 168 f., Kommentar, S. 387.

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chen ausfallen.14 Etliche der mit Gewalt aus den vermeintlichen Werwölfen gepressten Geständnisse, wie wir sie in den Inquisitionsberichten von Nicolas Remy oder Petrus Binsfeld aus dem beginnenden 17. Jahrhundert vorliegen haben, können mit erheblichen Abenteuern aufwarten, oder vielmehr mit einer Liste von Verbrechen.15 Während Frauen sich zumeist in Katzen verwandelten, waren die meisten der Beschuldigten, die sich der Lykanthropie schuldig gemacht hatten, männlichen Geschlechts. Beide Inquisitoren lassen keinen Zweifel daran, dass die Übeltäter zwar zu Recht der Hexerei angeklagt wurden, ihre Werwolfsgestalt jedoch auf bloßer Einbildung beruht hatte. Nie hätte Gott einem Dämon erlaubt, im Leib eines Menschen als zweites, körperkonstituierendes Formprinzip in Erscheinung zu treten. Diverse Dämonologen auch des 17. Jahrhunderts wiederholen diese Sichtweise. Sie findet Eingang in physikalische Lehrbücher ebenso wie in Werke, die sich weitestgehend dem Buntschriftstellertum zuordnen lassen.16 Vor allem an den Universitäten wird das Thema darüber hinaus bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts mit eigenen Disputationen verhandelt. Mit einem gewissen Erstaunen stellt man hier fest, 14 Petrus Thyraeus: De variis tam spirituum quam virorum hominum prodigiosis apparitionibus et nocturnis infestationibus libri III , Köln 1594, c. 17-19, S. 118-123, c. 21 f., S. 124-129. Die gleichen Argumente finden sich auch bei Wilhelm Adolf Scribonius: De sagarum natura et potestate, deque his recte cognoscendis et puniendis Physiologia, Marburg 1588, Pars I, fol. 66v-77r. 15 Nicolaus Remigius: Daemonolatriae libri tres, Köln 1596, Liber II , c. 5, S. 226240; Petrus Binsfeld: Tractatus de confessionibus maleficarum et sagarum. An et quanta fides iis adhibenda sit?, Köln 1623, Conclusio III , S. 165-169. 16 Johann Georg Gödelmann: Tractatus de magis, veneficis et lamiis, deque his recte cognoscendis et puniendis, Frankfurt 1601, Liber II , c. 2, S. 23-29; Philipp-Ludwig Elich: Daemonomagia sive libellus erotematikos de daemonis cacurgia, cacomagorum et lamiarum energia, Frankfurt 1607, q. 12, S. 148156; Bartholomäus Anhorn von Hartwiss: Magiologia, das ist christlicher Bericht von dem Aberglauben und Zauberey der Welt ohne einige Passion fürgestellt, Augst 1675, 2. Theil, c. 6, § 4, S. 558-600; oder Erasmus Francisci: Der Höllische Proteus oder Tausendkünstige Versteller, vermittelst Erzählung der vielfältigen Bild-Verwechselungen erscheinender Gespenster, werffender und poltrender Geister, gespenstischer Vorzeichen der Todes-Fälle, Nürnberg 1690, c. 24, S. 335-363; Simon Maiolus: Dies caniculares, hoc est colloquia tria et viginta physica, nova et penitus admiranda ac summa iucunditate concinnata, Mainz 1607, Colloquium II , S. 72-74; Thomas Sagittarius: Exercitationes physicae certa methodo conformatae, Jena 1614, Exercitatio XV , Thesis 2, fol. Ii2r-Ii4r; Johannes Sperling: Institutiones physicae, Lübeck 1646, Liber II , c. 4, q. 10, S. 369-372; und Johann Ernst Pfuel: Electa physica pro recens motis aut recentatis controversiis studiose diligenterque ventilandis et distrahendis, Berlin 1664, Titulus II : De magia, Sectio I, c. 3, § 19, S. 127-129.

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dass es eigentlich gleichgültig war, ob man in Uppsala, Straßburg, Altdorf, Leipzig, Wittenberg oder Jena am Katheder stand; überall schien man die Auseinandersetzung mit den Tiermenschen als noch immer dringliche Angelegenheit zu begreifen, die durch Erfahrungswirklichkeit gesättigt war.17 Wie eine Summe erscheint hier die gewaltige Arbeit von Jacob Thomasius aus Leipzig, die im Jahre 1667 entsteht. Auch Thomasius, immerhin einer der großen Philosophen seiner Zeit, hält die Werwölfe für eine raffinierte Variante der diabolisch induzierten Einbildung, eine teuflische Intrige, die den Menschen seiner menschlichen Natur entfremden könne.18 Trotzdem sei es, wie Thomasius betont, nicht ausgeschlossen, dass der Teufel noch weitere Hilfsmittel bereithalte, Tierhäute zum Beispiel, mit deren Hilfe die Grenze zwischen Einbildung und realer Transformation wieder brüchig werden könne.19 Die Schwierigkeit, auf welche Weise sich die vielen scheinbar realen Verbrechen, inklusive diverser Gewaltakte, auf bloße Phantasmen zurückführen ließen, blieb bestehen und sie müsse, wie Thomasius nahelegt, auch der Hypothese einer Scheinleiblichkeit noch immer eine gewisse Attraktivität verleihen. Vielleicht hatte Gott den Mächten der Finsternis doch gelegentlich die Option eingeräumt, Menschen mit künstlichen Körpern auszustatten.20

II.2 Der Werwolf als Phänomen der Medizin Würde man eine Skala der Rationalisierung oder Säkularisierung anlegen, so ist offenkundig, dass nach oben noch Luft ist. Bedurfte es zwangsläufig der Dämonen, um den Menschen mit Wahnideen, devi17 Unter vielen Beispielen Johannes Rudolf Salzmann – Wolfgang Ambrosius Fabritius (resp.): ΛΥΚΑΝΘΡΩΠΙΑ, Straßburg 1649; Georg Newenfeldt  – Christoph Hardken (resp.): Disquisitio philosophica exhibens bigam positionum illustrium, quarum I. De oraculis gentilium, II . De lycanthropia, Jena 1650, Positio II ; Antonius Adam Holdner – Johann Georg Neuman (resp.): Disputatio physica de nullitate Lycanthropias, Wittenberg 1664; Johann Friedrich Müller – Johann Christoph Pezelius (resp.): Disputatio de Lycanthropia seu transmutatione hominum in lupos, Leipzig 1673; Anders Spole – Carl Wirinus (resp.): Dissertatio philosophica de lycanthropia, Stockholm 1685; Andreas Riddermarck – Johannes Erborg (resp.): Dissertatio philosophica de metamorphosi lycanthropica, Lund 1694. 18 Jacobus Thomasius – Friedrich Tobias Moebius (resp.): De transformatione hominum in bruta dissertatio philosophica, Leipzig 1667, §§ 30-31, fol. B3v, §§ 90-93, fol. D4rf., §§ 108-109, fol. E2r. 19 Ebd., §§ 68-71, fol. Drf. 20 Ebd., §§ 73-89, fol. D2r-D4r.

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anten Phantasien und der Illusion eines veränderten Körpers zu versorgen? Mussten sich vergleichbare Aberrationen notwendig auf einen Teufelspakt zurückführen lassen und damit in das Strafregister der Inquisition fallen? Geisteskrankheiten zu benennen und Therapien vorzuschlagen war kein Privileg der Moderne, es war ein fester Bestandteil schon der antiken Medizin. Die Mehrzahl der Syndrome wurde dabei, wie in der antiken Medizin üblich, auf die Dominanz bestimmter Körpersäfte zurückgeführt, im Regelfall auf die schwarze Galle, die Melancholie. Ihre für die Synkrasie, das ausgeglichene Verhältnis der Säfte, schädliche Vorrangstellung galt es, so die allgemeine Auffassung, in der Therapie dann so weit wie möglich zu neutralisieren, wenn ein Heilungserfolg erzielt werden sollte. Bereits spätantike Ärzte wie Aetius von Amidena oder Paulus von Aegina hatten Kataloge von Variationen der Melancholie zusammengestellt.21 Tatsächlich stoßen wir hier auch auf den »Lycanthropus«, den Wolfsmenschen. Ein wichtiger Transfer, der unmittelbar auf die Adressierbarkeit des scheinbar animalischen Gegenübers wirkten musste, hatte hier stattgefunden, wie sich leicht feststellen lässt. Aus einem strafwürdigen Subjekt der Dämonologie, das sich kraft seiner Schuld kaum mehr in die Gesellschaft integrieren ließ, wurde durch eine Neuperspektivierung ein Objekt der Medizin. Es galt jetzt nicht mehr, einen Schuldigen für seine selbstverschuldete Depravation und ihre Folgen zur Rechenschaft zu ziehen, sondern einen Kranken zu heilen. Nicht mehr die Adressierbarkeit nach dem Desaster galt es in der Plausibilisierung des Phänomens zu rechtfertigen, die Kommunikation während des Phänomens stand im Zentrum. Der Kranke selbst sollte während seiner Krankheit erreicht werden. Das Krankheitsbild des bedauernswerten Psychopathen ist uns bereits bekannt. Der Werwolf leidet, wie beide Ärzte behaupten, unter einer besonders extremen Form der Melancholie, die ihn mit der Illusion schlägt, sich in ein Tier verwandelt zu haben. Er streunt des Nachts über Friedhöfe, fällt Menschen wie Tiere an; äußerlich wirkt er im Regelfall dehydriert, völlig verwahrlost, hat lange Haare, gerötete Augen und ist durch die wiederholte Konfrontation mit Hunden oft von Bisswunden übersät. Auch wenn diese Geistesverwirrung vielleicht unumkehrbar ist und der Wahnsinn dauerhaft, gibt es, wenn man Aetius und Paulus glauben darf, Therapievorschläge, zum Bei21 Aetius von Amidena: Libri medicinales, Bd. 2, hg. von Alexander Olivieri, Berlin 1935-1950, Liber VI , c. 11, S. 151 f.; Paul von Aegina: The Seven books, with a Commentary embracing a Complete View of the Knowledge by Francis Adams, Bd. 1, London 1844-1847, Book III , sect. 16, S. 389 f.

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spiel Bäder, eine Kur aus Milchspeisen oder Opium.22 Auch die ­orientalische Medizin kannte den Lykanthropen. In der lateinischen Fassung des »Kanon«, des wichtigsten medizinischen Grundlagenwerks überhaupt, für das sich das iranische Universalgenie Avicenna verantwortlich zeigte, erscheint die Lykanthropie als »melancholia canina«, als ›Hundswahnsinn‹. Das Syndrom fällt mit einer nahezu völligen Animalisierung des Kranken zusammen. Äußerlich bleich und mit blutunterlaufenen Augen, treibt er sich auf Grabstätten herum und bedroht seine Mitmenschen. Was hilft dagegen? Der Überschuss an schwarzer Galle muss neutralisiert werden. Bäder und Milchspeisen können wirksam sein, vor allem aber auch, so Avicenna, regelmäßiger Schlaf, der das völlig aus dem Gleichgewicht geratene Gemüt von seinen fixen Ideen und Einbildungen befreit. Manchmal erweist sich auch eine Tracht Prügel als zuträglich.23 Mit der griechischen und arabischen Literatur im Rücken findet das Syndrom des ›Wolfsmenschen‹ Eingang in die frühneuzeitliche medizinische Literatur und erscheint dort ab etwa 1600 in unterschiedlichen Rubriken. Kaum zufällig rechnet man es mit den Berichten der Dämonologen auf und lässt diese nun in einem neuen, man könnte sagen psychiatrischen, Licht erscheinen. Innerhalb der Krankheitstypologie der Manien und melancholie-induzierten Umnachtungen lesen wir von Werwölfen zum Beispiel bei Daniel Sennert, dem großen Wittenberger Mediziner, bei Johannes Fernelius oder Marcellus Donatus und noch bei vielen anderen Autoren; zugleich wiederholen sie überwiegend die Therapievorschläge ihrer griechischen und arabischen Autoritäten.24 Interessant sind die Fallberichte, von denen hier nur zwei herausgegriffen werden. Donatus von Altomare, ein italieni22 Weitere ähnliche Beschreibungen des Syndroms finden sich z. B. bei Oribasius: Synopseos ad Eustatium filium libri IX , quibus tota medicina in compendium redacta continetur, Paris 1554, Liber VIII , c. 10, S. 419 f.; oder Johannes Zacharias Actuarius: Methodi medendi libri VI , quibus omnia, quae ad medicinam factitandam pertinent, fere complectitur, Cornelius Henricus Mathisius nunc primum vertit, Venedig 1554, Liber I, c. 16, S. 26 f. 23 Avicenna: Liber canonis revisus et ab omni errore mendaque purgatus, ND : Hildesheim 1964 (Venedig 1507), Liber III , Fen I, Tractatus IV , c. 22 f., fol. 190ra f.; und ebenso Haly Abbas: Liber totius medicinae necessaria continens, Lyon 1523, Libri Theorice, Liber IX , c. 7, fol. 104va f. 24 Daniel Sennert: Institutorum medicinae libri V, Wittenberg 1667, Liber II , pars III , sectio I, c. 7, S. 326; Petrus Hegius: Quaestiones iuris tam civilis quam Saxonici, Wittenberg 1601, Pars II , q. 38, S. 330 f.; Alexander Massaria: Practica medica, Venedig 1603, Liber I, c. 23, S. 127; Johannes Fernelius: De morbis universalibus et particularibus libri quatuor posteriores Pathologiae, Utrecht 1656, Liber V, c. 2, S. 66 f.; Georges Bertin: Medicina libris viginti methodice

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scher Arzt, wird schon Ende des 16. Jahrhunderts mit einem Werwolf konfrontiert. Man hatte den komplett derangierten jungen Mann, der alle Verhaltensweisen eines Hundes angenommen hatte, auf einem Friedhof mit einem Bündel Knochen aufgegriffen. Zeitweilig in Obhut genommen, gelangte er später wieder zu Bewusstsein, erkannte sogar den Arzt, konnte sich aber kaum an das erinnern, was ihm während seiner Raserei widerfahren war.25 In Spanien stößt der Mediziner Alonso de Santacruce im frühen 17. Jahrhundert auf einen Mann, der, wie er gleich diagnostiziert, von der »insania lupina«, dem ›Wolfswahnsinn‹, befallen war. Den Jüngling hatte, so Santacruce, eine schwere Melancholie überkommen. In der Nacht kroch er über Friedhöfe, heulte wie ein Tier und zeigte sich denkbar aggressiv gegenüber Menschen und Tieren, tagsüber versteckte er sich. Tatsächlich gelingt es dem Mediziner, den Psychotiker zu kurieren, durch Diät, Schlaf und diverse Tinkturen. Sechs Wochen nach der Therapie kann er geheilt zu seiner Familie zurückkehren.26 Viele Fallberichte, die sich den oben genannten an die Seite stellen lassen, kann man in der einschlägigen Fachliteratur der Zeit wortreich und oft empathisch geschildert finden.27 Zumindest einige Arbeiten, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts den Werwolf als generisches Phänomen verhandeln, lösen sich vor diesem Hintergrund, dem Fortschritt der Medizin, von den alten Deutungen der Lykanthropie. Weder auf luftige Scheinleiber noch auf diabolische Illusionen, die nur die Phantasie betrafen, war man zur Erklärung der Werwölfe noch angewiesen. Die betreffenden Unholde waren geisteskrank, mehr nicht. Anton Deusing, Professor für Medizin in Groningen, um nur ein Beispiel zu nennen,28 sichtet im Jahre 1656 alle Hypothesen, die man aufgefahren hat, dem bestialisierten Menschen beizukommen. Wie viel absoluta, Basel 1587, Liber XVIII , c. 2, Sp. 301b f.; oder Marcellus Donatus: De historia medica mirabili libri sex, Frankfurt 1613, Liber II , c. 1, S. 97. 25 Donatus Antonius ab Altomari: De medendis humani corporis malis: Ars medica, Lyon 1561, Exercitatio I, c. 9, S. 96 f. 26 Alphonsus de Sanctacruce: Dignotio et cura affectuum melancholicorum, Madrid 1622, § 7, S. 32b f.; und ders.: Opusculum de melancholia, Madrid 1622, Dialogus I, S. 6a. 27 Johannes Schenck von Grafenberg: Observationum medicarum rariorum libri VII , in quibus nova, abdita, admirabilia, monstrosaque exempla proponuntur, Frankfurt 1665, Liber I, De Lycanthropia observatio I, S. 136b f.; Johannes Peter Lang: Deliciae Academicae variae ac iucundae Lectionis fructu refertae, Bd. 1, Heilbronn 1663-1665, Liber II , c. 16, S. 55-57. 28 Ähnlich wie Deusing sieht es z. B. Christian Franciscus Paullinus: Lycographia, seu de natura et usus Lupi libellus physico-historico-medicus, Frankfurt 1694, Sectio IV , c. 2, § 4, S. 203 f., § 6, S. 205 f.; oder Christian Wolff  –

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habe man früher in vergleichbare Figuren hineininterpretiert!29 Beim Werwolf aber handele es sich, wie Deusing bekräftigt, um eine besonders degenerierte Variante des Melancholikers, der unter massivem Übergewicht an schwarzer Galle in seinem Körper leide.30 Der Verstand setze zur Gänze aus, fixe Ideen bemächtigten sich der widerstandslosen Phantasie, und der Menschenwolf ziehe marodierend über die Felder, wie es auch Olaus Magnus oder Kaspar Peucer beschrieben hatten. Der Konsum von Tierblut und anderen schädlichen Stoffen mag ebenfalls seinen Beitrag geleistet haben.31 Zum Ende aber sei das Syndrom heilbar, wie Deusing schließt, auch wenn die Umnachtung eine lange Zeit in Anspruch nehmen könne.32

III. Der Schlafwandler Nach langem Weg war auf diese Weise, wenn auch zum Teil synchron mit den anderen Erklärungsansätzen, ein zutiefst satanisches Phänomen in der Psychiatrie angekommen, wo es, so viel lässt sich sagen, im 17.  Jahrhundert auch bleiben sollte. Zugleich war aus einem anima­ lischen Un-Menschen, der sich qua natura jeder Kommunikation entzog, ein ansprechbarer Patient geworden, der ein Recht auf Heilung hatte. Weniger spektakulär, doch dafür vielleicht signifikanter ist unser zweiter Gegenstand, die Auseinandersetzung mit der Schlafwandelei in der Frühen Neuzeit. Nur zu oft sind es dieselben alten Autoritäten, die herangezogen werden. Zu einem großen Teil sind es darüber hinaus auch dieselben Gelehrten, die die Lykanthropie behandeln, die auch die Schlafwandelei zu erklären versuchen. Im 17.  Jahrhundert waren etliche Werke zu diesem Thema entstanden, wenn auch, wie vielleicht zu erwarten, bei Weitem nicht so viele wie jene, die den Lykanthropen im Titel tragen. Schon Aristoteles und Galen waren auf das Phänomen der Schlafwandelei eingegangen, viele medizinische Praktiken, Fallberichtsammlungen und Handbücher widmen dem Gegenstand ein

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Christoph Wentscher (resp.): Disputatio zoologica de lupo et lycanthropia, Wittenberg 1666, Sectio II , fol. Br f. Anton Deusing: Dissertatio de morborum quorundam superstitiosa origine et duratione, speciatim de morbo Man-Slacht vulgo dicto; itemque de Lycanthropia necnon de surdis ab ortu mutisque ac illorum cognitione, ubi etiam de ratione et loquela brutorum animantium, Groningen 1656, Sectio I: Dissertatio de Lycanthropia, §§ 9-15, S. 112-119, §§ 21-25, S. 124-128. Ebd., Sectio I: Dissertatio de Lycanthropia, §§ 32-34, S. 136-138. Ebd., Sectio I: Dissertatio de Lycanthropia, § 35, S. 138 f. Ebd., Sectio I: Dissertatio de Lycanthropia, § 38, S. 142 f.

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eigenes Kapitel.33 Das gleiche Körpergefüge, das die Lykanthropie mit Bedeutung füllte, hatte auch die Schlafwandler, Noctambulen oder Somnambulen, wie sie genannt wurden, plausibel zu machen. Wie war diese unfreiwillige Selbstdepravation des Menschen zu begreifen, wie seine Entfremdung von bewusstem Handeln zu erklären? Schlafwandler sind auch deshalb im Vergleich zu Werwölfen interessant, weil sie von Anfang an keiner Rationalisierung oder mühevollen Entdämonisierung unterworfen werden mussten, sondern eine Spielart der menschlichen Unzurechnungsfähigkeit lieferten, die wenig Konfliktpotenzial in sich barg. Sieht man von wenigen, wirklich marginalen Einlassungen ab, versuchte niemand in ihrem Fall, den Teufel ernsthaft als Ursache ins Spiel zu bringen. Kein Schlafwandler war verantwortlich für das, was ihm widerfuhr; im Unterschied zum Lykanthropen, der seine Selbstentmündigung mit einem Teufelspakt und damit einer freien Entscheidung eingeleitet hatte. Umso eindrucksvoller zeigt sich bei der Betrachtung der Nachtwandler, dass ihre Einschätzung sich in manchen Details wenig von den Lykanthropen unterschied. Vereinfacht gesagt, lieferten die Somnambulen nur eine weitere, wenn auch schlichtere Episode derselben wissenschaftlichen Großerzählung. Zwei umfangreiche Arbeiten aus der Frühen Neuzeit können uns helfen, zum Thema einen systematischen Zugriff zu erhalten. Im Jahr 1593 erscheint, zunächst in lateinischer Sprache, die Abhandlung des Helmstedter Mediziners Jacobus Horstius, die einige Jahre später auch in deutscher Fassung gedruckt wurde.34 Horstius war, wie die Mehr33 Als Beispiele Abraham Zacutus Lusitanus: Opera medica, Bd. 2: Praxis historiarum, Lyon 1656, Liber I, Observatio 46, S. 11a f.; François De le Boë: Praxeos Medicae idea nova, Amsterdam 1680, Liber II , c. 33, S. 474-477; Albert Kyper: Institutiones medicae ad hypothesin de circulari sanguinis motu, Amsterdam 1654, c. 29, §§ 71-72, S. 224 f.; oder Gabriel Clauder: Observatio 189, Rara Somnabuli historia, in: Miscellanea curiosa sive Ephemeridum Medico-Physicarum Germanicarum Academiae Naturae Curiosorum Decuriae II , Annus Quintus, Nürnberg 1687, S. 380 f.; und z. B. noch François Imbert: Quaestiones medicae duodecim, Montepellier 1749, q. 4, S. 16-19. 34 Jacobus Horstius: De aureo dente maxillari pueri Silesii, primum, utrum eius generatio naturalis fuerit, nec ne, deinde an digna eius interpretatio dari queat. Et de noctambulonum natura, differentiis et causis, eorumque tam praeservativa quam etiam curativa, denuo auctus liber, Leipzig 1595; und in deutscher Sprache ders.: Zwey Buecher. Eins von dem güldenen Zahn so einem Knaben in Schlesien gewachsen, darinnen gehandelt wird, ob solcher güldener Zahn natürlicher oder übernatürlicher Weise herfür kommen, darnach was für Bedeutung derselbe geben könne, vorhin im Latein geschrieben, jetzt menniglich zu gut verdeutscht durch Georgium Coberum. Das Ander von den Nachtwanderern welche im schlaff umbgehen, die Wände und Dächer hinnan steigen, viel wunderbares Dings vorhaben, was ihr Natur,

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zahl der schon genannten Figuren, ein Vertreter der galenischen Schule, ohne tiefgreifende Ambition, neuen Strömungen wie dem Paracelsismus gerecht zu werden, doch von großer Belesenheit.35 Er hatte nicht nur eine große Zahl von Disputationen vorgelegt,36 sondern auch populäre Medizinhandbücher in deutscher Sprache, die ein für seine Zeit recht großes Publikum erreicht hatten.37 Was hatte es mit den Schlafwandlern oder Nachtwandlern, wie Horstius sie nennt, auf sich? Zunächst einmal, wie im Fall der Werwölfe, wenn auch aus heutiger Perspektive wohl weniger überraschend, galt es festzustellen, dass sie existierten. Horstius versammelt eine ganze Galerie von Schicksalen, oft aus seiner eigenen Erfahrung als Arzt, die den Verbreitungsgrad der Schlafwandelei dokumentieren kann, mit allen skurrilen Begleiterscheinungen. Nur einige Berichte seien kurz erwähnt. Ein Studienfreund Horsts mit Namen Martin Guttenberg, der im Beisein Horsts einschläft, steht im schlafenden Zustand wieder auf und versucht aus dem Fenster herabzusteigen. Ebenfalls in seinem Bekanntenkreis weiß Horstius um eine Familie von Aristokraten, deren männliche Mitglieder durchgehend die Veranlagung zur Schlafwandelei aufwiesen. In einem Fall teilte ein junger Mann mit seinem Bruder ein Schlafzimmer; der schlafende Jüngling erhebt sich aus dem Bett und steigt aus dem Fenster. Immer noch schlafend, klettert er auf einen benachbarten terscheid und Ursachen sein, oder wie man die Gebrechen verhüten, oder gar abhelffen könne, vorhin im Latein geschrieben und jetzo verdeutschet durch Iacobum Horstium den Juengern, Leipzig 1596. 35 Eine Einschätzung Horstius’ in Helmstedt liefern z. B. Claudia Kauertz: Wissenschaft und Hexenglaube. Die Diskussion des Zauber- und Hexenwesens an der Universität Helmstedt (1576-1626), Bielefeld 2001, S. 118-121; und Laura Di Giammatteo: Liddel’s Ars medica (1607). The Effective Method as Foundation of Medical Knowledge and Ethics, in: Duncan Liddell (1561-1613). Networks of Polymathy and the Northern European Renaissance, hg. von Pietro Daniel Omodeo und Karin Friedrich, Leiden 2016, S. 130-149; hier S. 131-139. 36 Als Beispiel Jacobus Horstius – Daniel Rindtfleisch (resp.): Disputationum Medicinalium Catholicarum VIII . de sanitate eiusque differentiis causis et accidentibus, Helmstedt 1589. 37 Levinus Lemnius: Occulta naturae miracula, Wunderbarliche Geheimnisse der Natur in des Menschen Leibe und Seel, auch in vielen andern natürlichen Dingen, als Steinen, Ertzt, Gewechß und Thieren, allen frommen Haußwirthen, verstendigen Hausfrawen, fleissigen Naturkündigern, guten Haußartzten, Liebhabern der Gesundheit; und gemeinem Vaterland zum besten, nicht allein aus dem Latein in Deutsche Sprach gebracht, sondern auch zum dritten Mal vermehret, und eines grossen theils vom newen selbs geschrieben, übers. von Iacobum Horstium der freyen Künst und Artzney Doctorem, Helmstedt 1605, dazu wohl schon von seinem Sohn herausgegeben ders.: Herbarium Horstianum sive de selectis plantarum radicibus, Marburg 1630.

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Dachfirst, wo er auf ein Elsternest stößt. Er zerstört es, nimmt die Küken an sich, klettert zurück und begibt sich wieder ins Bett. Am nächsten Morgen berichtet er seinem Bruder, er habe im Traum ein Vogelnest geplündert. Als man die Bettdecke aufschlägt, zeigen sich die Elsternküken. Beschämung und Irritation sind entsprechend groß. In einem anderen Fall gelingt es einem jungen Mann sogar, im Schlafzustand und zum Entsetzen aller Anwesenden auf einer Seilwinde nach oben zu klettern. Ein junger Koch, der Horstius ebenfalls persönlich geläufig ist, begibt sich im somnambulen Trancezustand in den Innenhof des Gesindegebäudes. Im Küchenbereich klettert er, indem er sich mit den Händen an den Vermauerungen festkrallt, in die Zisterne des Hauses hinab. Als er unten angekommen mit den Füßen im Brunnenwasser steht, wacht er auf und beginnt in Panik zu schreien. Die übrigen Bediensteten sind im Anschluss genötigt, den völlig aufgelösten Mann mit einem Eimer wieder aus dem Brunnen zu ziehen, allein war er zu keiner Bewegung mehr in der Lage. Diese und andere Beispiele Horstius’ zeigen, wie weit Schlafwandelei in der Frühen Neuzeit reichen konnte und wie gut sie dokumentiert war. Im Unterschied zu den Werwolfsberichten der gleichen Zeit gibt es wohl keinen Grund, die Glaubwürdigkeit der Berichte infrage zu stellen.38 Die Hypothesen, die Horstius vorlegt, um das merkwürdige Verhalten seiner Mitmenschen zu erklären, entspringen wie im Fall der Werwölfe der Physiologie seiner Zeit und versuchen, den zwischen Wachen und Schlafen schillernden Zustand aus dem Säftehaushalt des Menschen heraus verständlich zu machen. Zunächst aber gilt es für Horstius, den Status der Schlafwandler zu bestimmen. Besitzen sie den Charakter des Mirakulösen? Haben höhere Mächte bei ihnen eingegriffen? Wie die Seele die Antriebskraft und das Lebensprinzip des Leibes ist, muss sie auch, so Horstius, für die Schlafwandelei verantwortlich sein. Viele Attribute des Somnambulen erscheinen dennoch auf den ersten Blick übernatürlich. Dass die Schlafwandler nicht zu Boden fallen, sondern im Gegenteil ungewöhnliche Leistungen vollbringen können und oft keine Gefahren scheuen, weder hohe Dächer noch Gräben, um ihr Ziel zu erreichen, kann ein Indiz dafür sein, dass Dämonen, aber auch Engel ihre Hände im Spiel haben. Auch die ungewöhnlichen Kräfte, die sie entwickeln, sprechen eher für höhere Gewalten. Horstius kann einer Dämonisierung des Phänomens, wie 38 Horstius: De aureo (Anm. 34), Liber II , c. 1, S. 169-182; und in deutscher Sprache ders.: Zwey Buecher: Eins von dem güldenen Zahn (Anm. 34), Das Andere Buch, c. 1, S. 191-207.

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zu erwarten, dennoch nichts abgewinnen. Ebenso wie der Schlaf selbst seien auch das Erwachen des Somnambulen und die Verstörung über die Ereignisse Indizien für einen natürlichen Vorgang, der keiner teuflischen Unterstützung bedürfe. Auch die Heterogenität der Schlafwandler, dass einige aktiver sind, andere weniger, einige vage Erinnerungen an die Geschehnisse haben, andere keine, einige abrupt aufwachen, andere aber regulär weiterschlafen, sei ein Hinweis auf die Natürlichkeit des Phänomens.39 Um den Somnambulismus zu erklären, sichtet der Helmstedter Mediziner einige der zirkulierenden Hypothesen. Einen gewissen Konsens gab es mit Blick auf die konkreten körperlichen Vorgänge. Der Schlafende konzentrierte sich, ohne Beteiligung seiner Vernunft, in seiner Seele auf ein bestimmtes Objekt, die Imagination, die ja schon bei unserem Vorgängerphänomen so wichtig war, aktivierte den »spiritus«, die Energie der Nervenbahnen, die in die Muskeln floss und den Körper zur Bewegung veranlasste. Ohne dass der rationale Seelenteil die Kontrolle hätte, damit aber auch ohne wirkliches Bewusstsein, ging der Mensch dann seinen Bedürfnissen nach. Handelte es sich dabei nun um eine Handlung, die noch vom Willen des Akteurs gelenkt wurde? Oder war der Mensch nicht mehr Herr seiner selbst? Die Antwort fällt schwer. Zu zielstrebig war das Verhalten des Schlafwandlers, wie Horstius einräumt, zu wenig war er auf der anderen Seite daran beteiligt. In seinem Verhalten entsprach der Somnambule einem Menschen, der, von Furcht, Trunkenheit oder Geisteskrankheit überwältigt, nicht für seine Taten verantwortlich gemacht werden konnte. Hippokrates hatte in seinem Werk zu den Träumen den Einfluss des Mondes auf die Körpersäfte als Hauptursache für den Schlafwandler gesehen, spätere zeitgenössische Ärzte, so Horstius, hatten das besondere Säfteverhältnis als Ursache ausfindig gemacht, die Dominanz des einen oder anderen Körpersaftes. Für Petrus Salius Diversus, einen italienischen Mediziner, waren die Schlafwandler Melancholiker, also Menschen, die unter der Herrschaft der schwarzen Galle litten. Schon ihre ausschweifende Phantasie schien für diese Diagnose zu sprechen. Levinus Lemnius, ein anderer großer Arzt aus den Niederlanden, dessen Werke Horstius selbst ins Deutsche übertragen hatte, hatte im Schlafwandler einen Choleriker gesehen. Seine Beweglichkeit, die offensichtlich pulsierende Kraft seines »spiritus«, die sich 39 Horstius: De aureo (Anm. 34), Liber II , c. 2, S. 182-187; und in deutscher Sprache ders.: Zwey Buecher: Eins von dem güldenen Zahn (Anm. 34), Das Andere Buch, c. 2, S. 207-214.

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verselbstständigen konnte, schienen sich hierfür ins Feld führen zu lassen, dazu die Dreistigkeit und Kühnheit, mit der die Schlafenden zu Werk gingen. Darüber hinaus, so Lemnius, war es vielleicht das gleiche Übergewicht an Galle, das die Somnambulen wie Vögel auf Anhöhen trieb, auf Dächer oder Bäume.40 Horstius greift auf das Modell der Synkrasie zurück, um die Verselbstständigung der Phantasie im Schlafwandler zu erklären, doch fällt seine Theorie etwas komplexer aus. Tatsächlich habe der Körper des Schlafwandlers eine Doppelnatur. Im Gehirn, der Region, in der auch die Vernunft angesiedelt sei, dominieren in seinem Fall Kälte und Feuchtigkeit. In den für den Ausstoß der Lebensenergie, des »spiritus«, verantwortlichen Organen, dem Herz und der Leber, haben dagegen Hitze und Trockenheit die Überhand. Die Schlafwandelei resultiere aus dem Missverhältnis. Die in der Nacht aktive und träumende Phantasie sorge für Vorstellungsbilder, der Appetit, das Strebevermögen des Menschen, entsende einen Impuls zu den Lebensgeistern, die den unteren Teil des Körpers in Bewegung versetzten. Während das pulsierende Herz und das eifrig fließende Blut hyperaktiv seien, verharre das Gehirn blockiert hinter den feuchten Nebeln. Der Mensch wache und schlafe und ginge seinen Bedürfnissen nach, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ein »verwirrt depraviertes Thun«, so Horstius, sei das Ergebnis. Je größer der Kontrast zwischen dem feuchten Gehirn und dem trockenen Herzen sei, desto leichter laufe der Mensch Gefahr, zum Somnambulen zu werden. Alle Vorgänge ließen sich auf organische Weise und natürlich erklären, dennoch müsse feststehen, dass es sich um einen krankhaften Zustand handele, einen Moment der Verselbstständigung des Leibes, der dem solcherart entmündigten Menschen nicht zum Vorteil gereiche.41

40 Horstius: De aureo (Anm. 34), Liber II , c. 3-5, S. 187-201; und in deutscher Sprache ders.: Zwey Buecher: Eins von dem güldenen Zahn (Anm. 34), Das Andere Buch, c. 3-6, S. 214-230; dazu Petrus Salius Diversus: De febre pestilenti tractatus et curationes quorundam particularium morborum, quorum tractatio ab ordinarijs practicis non habetur, Frankfurt 1586, De affectibus particularibus, c. 18, S. 300-308; Lemnius: Occulta naturae miracula (Anm. 37), Liber II , c. 5, S. 163-167; und in Horstius’ deutscher Fassung ders.: Occulta naturae miracula, Wunderbarliche Geheimnisse der Natur (Anm. 37), Teil V, Liber IX . c. 5, S. 610-617; dazu Hippokrates: De insomniis liber, von Justus Vels, Antwerpen 1541, fol. A4r f. 41 Horstius: De aureo (Anm. 34), Liber II , c. 6, S. 201-225; und in deutscher Sprache ders.: Zwey Buecher: Eins von dem güldenen Zahn (Anm. 34), Das Andere Buch, c. 6, S. 230-259.

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Horstius wäre nicht Arzt, wenn er nicht auch im Jahre 1593 eine Therapie zur Hand hätte. Zunächst ist auch, unter Rückgriff auf seine Vorgänger, nach den weiteren Ursachen des Dilemmas zu fragen. Horstius kann eine ganze Reihe davon versammeln, darunter zu feuchte Luft im Schlafzimmer und allgemein eine zu nasse Witterung, eine Ernährung, die das schädliche Missverhältnis der Körpersäfte fördern muss, Bier- oder Mohnsuppe oder Salat. Dazu kommen zu wenig Schlaf, zu viel Bewegung, Verstopfung und an sich eine starke Einbildungskraft.42 Und was lässt sich dagegen tun? Entweder, so Horstius, gilt es zu verhindern, dass sich der Schlafende überhaupt auf den Weg macht, oder es gilt, sein Tun so weit wie möglich einzuhegen. Die unvorteilhafte Synkrasie, also das zu kalte und blockierte Gehirn und das zu heftig rotierende Blut, muss durch Maßnahmen aufgebrochen werden, die das Ungleichgewicht neutralisieren. Kälte soll vermieden werden, dazu gibt es als Diät Rind- oder Hasenfleisch, Toastbrot und gerührte Eier und möglichst kein Bier. Der Schlafwandler soll auf Mittagsschlaf verzichten und auf zu viel Bewegung vor dem Schlafengehen.43 Als Therapeutikum empfiehlt sich schließlich ein Trank aus Rosenwasser, Zitrone und Zimt. Trifft man auf einen Somnambulen, ist es angebracht, ihn vorsichtig, sofern keine Gefahr droht, aufzuwecken. Ein Tadel für sein ungebührliches Verhalten kann hilfreich sein. Vor allem aber, so Horstius, seien die zirkulierenden Lebensgeister in seinem Leib zur Ruhe zu bringen; dies könne nicht zuletzt durch einen Eimer Wasser erreicht werden.44 Wie wenig sich in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Schlafwandelei selbst über einen Zeitraum von hundert Jahren ändern sollte, zeigt eine andere frühneuzeitliche Arbeit zum Somnambulismus, die repräsentativ stehen kann für viele andere, die in dieser Zeit dem Thema gewidmet werden.45 Ihr Urheber ist der Wittenberger 42 Horstius: De aureo (Anm. 34), Liber II , c. 7, S. 225-232; und in deutscher Sprache ders.: Zwey Buecher: Eins von dem güldenen Zahn (Anm. 34), Das Andere Buch, c. 7, S. 259-267. 43 Ebd., c. 8, S. 232-247; und in deutscher Sprache ders.: Zwey Buecher: Eins von dem güldenen Zahn (Anm. 34), Das Andere Buch, c. 8, S. 267-284. 44 Ebd., c. 9, S. 247-254; und in deutscher Sprache ders.: Zwey Buecher: Eins von dem güldenen Zahn (Anm. 34), Das Andere Buch, c. 8, S. 284-292. 45 Als Beispiele Johann Rudolf Saltzmann – Johann Reinhard Kohler (resp.): Disputatio physica de somnambulis, Straßburg 1651; Henning Volckmar – Johannes Rüccius (resp.): Disputatio academica sistens Themata physica de hybnobatis sive somnambulis, Erfurt 1660; Andreas Samuel – Johannes Engel (resp.): Disputatio historico-philosophica de somnambulis, Marburg 1677; Bernhard Albinus  – Thomas Latimer (resp.): Dissertatio medica de somnambulatione, Frankfurt (Oder) 1689; Friedrich Hoffmann – Johannes

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Professor Samuel Pomarius, der 1649 gleich zwei Disputationen zum Thema vorlegt.46 Schon 1670 war die vierte Auflage dieser Abhandlungen erschienen.47 Pomarius war Physiker und streng lutherischer Theologe und sollte seine Karriere als Superintendent in Lübeck beenden. Als Naturwissenschaftler sollte er in Wittenberg eine ganze Batterie von Disputationen zu Themen betreuen, die das komplette Spektrum der Physik abdeckten.48 Seine Arbeit zu den Somnambulen versammelt eine große Zahl von medizinischen Autoritäten, zugleich aber stützt sich Pomarius zu einem großen Teil auf den Traktat von Horstius. Der grundlegende Ansatz zur Erklärung von Schlafwandelei sollte sich für ihn nicht ändern. Auch Pomarius weiß um die Erklärungsansätze, die Lemnius, Salius, aber auch Daniel Sennert, Andreas Libavius, Johannes Schenck und viele weitere Ärzte vorgebracht hatten. Natürlich kann er mit weiteren Fallbeispielen aufwarten, die sich auch den genannten Medizinern entnehmen lassen. Ein junger Mann, so hatte es Salius berichtet, nimmt im Schlaf das Schwert von der Wand und schlägt wie im Zweikampf auf das Mauerwerk ein. Ein anderer, ein junger Professor, erhebt sich aus dem Bett, öffnet sein Lesepult, schreibt Verse nieder und deklamiert sie schlafend. Als er am nächsten Morgen das Elaborat auf seinem Schreibtisch sieht, packt ihn das Entsetzen. Erst im Alter von 45 Jahren, so Pomarius, gelingt es dem Gelehrten, seine nächtlichen Ausflüge abzustellen.49 Christoph Hofstetter (resp,): Disputatio solemnis medica de somnambulatione, Halle 1695; oder Johann Jacob Steffanius: Dissertatio medica inauguralis de somnambulis, Basel 1701. 46 Samuel Pomarius – Johannes Fabiger (resp.) – Jeremias Schultz (resp.): De noctambulis disputatio, Wittenberg 1649. Die zweite Auflage erschien 1656, die dritte 1661. 47 Ebd., Wittenberg 1670. Zitiert wird nach dieser Auflage. 48 Als Beispiele Samuel Pomarius – Christoph Fickel (resp.): De magnete disputatio physica, Wittenberg 1649; Samuel Pomarius – Martin Friedrich Frieß (resp.): Disputatio physica de principiis chymicis, Wittenberg 1651; Samuel Pomarius – Georg Bösebier (resp.): De tribus in homine concoctionibus disputatio physica, Wittenberg 1652; Samuel Pomarius – Jacob Binner (resp.): Disputatio meteorologica de meteoris in genere, Wittenberg 1652; oder Samuel Pomarius – Andreas Winziger (resp.): Disputatio physica de monstris, Wittenberg 1652. 49 Pomarius  – Fabiger  – Schultz: De noctambulis disputatio (Anm. 47), Pars prior, §§ 1-7, fol. A2r-B2v; dazu neben Horstius, Solius Diversus und Lemnius für Pomarius auch Sennert: Institutorum medicinae libri V (Anm. 24), Liber II , Pars II , Sectio II , c. 4, S. 406-411; und ders.: Medicina practica, olim in Germania, nunc vero de novo typis excusa, multisque quibus scatebat erroribus repurgata, Lyon 1629, Liber I, Pars II , c. 19, S. 553-559; Schenck von Grafenberg: Observationum medicarum rariorum libri VII (Anm. 27), Liber

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Auch Pomarius fragt zunächst nach den allgemeinen Ursachen der Schlafwandelei, bevor er ins Detail geht. Anders als im Fall der Werwölfe gibt es keinen Grund, nach übernatürlichen Einflüssen zu suchen. Ja, Schlafwandler scheinen keiner Gefahr aus dem Wege zu gehen und zugleich von enormer Trittsicherheit auch dort zu sein, wo eigentlich Unfälle zu erwarten sind. Sie agieren zielstrebig, weil ihr Vorstellungsvermögen ihnen Bilder zuspielt, an denen sie sich orientieren können. Der »spiritus«, die Lebensenergie, setzt den Körper daraufhin in Bewegung; Engeln oder Dämonen bedarf es als weiterer Kräfte nicht. Noch absurder sei es, so Pomarius, die Ursachensuche ins Abergläubische auszudehnen. Niemand wird zum Schlafwandler, weil er seine Taufe nicht vollständig erhalten und der Priester dabei einige Worte vergessen hat. Nur Katholiken können vergleichbare Dinge glauben. Zuvorderst verantwortlich für Somnambulismus sei, wie auch Pomarius betont, das Vorstellungsvermögen des Menschen, das seine eigene Aktivität entfalten könne und sich des Leibes bemächtige, indem es über den Lebensgeist die Muskeln in Bewegung versetze. Welche Reichweite die Phantasie als Ganze im Menschen in Anspruch nehmen kann, zeigen einfache Phänomene wie der Harndrang oder der Sexualtrieb, aber auch Geisteskrankheiten aller Art wie zum Beispiel die wohlbekannte Lykanthropie.50 Wenn auf diese Weise die allgemeinen Ursachen benannt waren, so ließen sich für den Wittenberger im Weiteren auch die konkreten angeben. Im Unterschied zu Horstius räumt Pomarius den Körpersäften und ihrem Ungleichgewicht dabei keine dominante Rolle ein. Die Luftfeuchtigkeit, die sein Helmstedter Kollege ins Feld geführt hatte, war als Faktor vernachlässigenswert. Auch die falsche, fetthaltig-gewürzte Nahrung war als Ursache eher unerheblich, auch wenn Ärzte wie Sennert sogar behauptet hatten, gerade ihre Blähungen würden die Schlafwandler auf die Dächer und Bäume treiben und ihnen das Erklimmen von Anhöhen erleichtern. Drei Ursachen der Schlafwandelei lassen sich stattdessen benennen, der Mond, Alkohol und das Echo der I, De Noctambulis observatio, S. 71-74; Andreas Libavius: Singularia, Bd. 2, Frankfurt 1599-1601, Pars II , S. 249-269; oder Jacob Martini: Quaestionum illustrium Philosophicarum in inclyta Witebergensi Academia publicis disputationum exercitiis, Bd. 6, Wittenberg 1610, Centuria VI , Disputatio III , q. 4, S. 53-57. 50 Pomarius  – Fabiger  – Schultz: De noctambulis disputatio (Anm. 46), Pars prior, §§ 8-16, fol. B2v-C4v; dazu für Pomarius auch das Standardwerk von Thomas Fienus: De viribus imaginationis tractatus, London 1657, q. 12, S. 177-187.

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Tätigkeiten, die den Tag zuvor zu intensiv bestimmt hatten. Das Licht des Mondes sorgte für eine Störung der Körpersäfte, damit aber für ein zu reges Vorstellungsvermögen, das den Schlafenden, wie bekannt, aus dem Bett trieb. Zu viel Alkohol regte den »spiritus«, den Körpergeist, an; die rotierenden Lebensenergien mussten sich dann unter der Führung der Phantasie verselbstständigen. Und schließlich lief jemand, der zu eifrig einem Tagesgeschäft nachgegangen war, Gefahr, dass sein Gehirn zur mentalen Echokammer seiner Aktivitäten würde und ihn wieder, wie an den Beispielen gesehen, aus dem Bett trieb. Das Säfteverhältnis, die Dominanz von schwarzer Galle, aber auch die Konzentration dieser Säfte in bestimmten Körperregionen, mochte, so Pomarius, einen weiteren Beitrag leisten, doch ergab es wenig Sinn, dieser körperlichen Disposition zu viel an Gewicht beizumessen. Auffällig war dagegen, so der Wittenberger Gelehrte, wie eng verwandt die Schlafwandelei mit einem anderen bekannten Phänomen war, der Hypochondrie. Auch in ihrem Fall war es die fixe Idee, die den »spiritus« in der Vorstellung zusammentrieb und den Körper zu abseitigen Handlungen veranlasste.51 Zum Abschluss seiner Abhandlung kann sich Pomarius noch eine Reihe von Fragen stellen, die auch Horstius nicht beantwortet hatte. Dazu gehören Aspekte, die uns gerade auch in diesem Sammelband besonders interessieren, Alterität, Adressierbarkeit und die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit. Anders als im Fall der Werwölfe, die sich zumindest, wenn sie als Gegenstand der Dämonologie verhandelt wurden, eigenverantwortlich in ihre Verantwortungslosigkeit begeben hatten, bewegten sich die Schlafwandler, wie sich bei Pomarius leicht erkennen lässt, in einer Grauzone. Am Anfang ihrer kommunikativen Unfähigkeit, die sie für eine Zeitspanne in die Domäne des Animalischen geschoben hatte, stand keine Willensentscheidung, deren Echo ihre Schuldfähigkeit garantierte, sondern eine Verkettung von Ursachen, die Teil der Naturkausalität ihres Körpers waren. War die Bewegung der Schlafwandler eine organisch-natürliche oder eine, die von Bewusstsein begleitet wurde? Der Wille konnte beim Somnambulen nur eine untergeordnete Rolle spielen, so Pomarius. Zugleich aber musste sich die Paradoxie konstatieren lassen, dass die Schlafwandler planmäßig vorgingen und mit fester Absicht. Ihre Be51 Pomarius  – Fabiger  – Schultz: De noctambulis disputatio (Anm. 46), Pars posterior, §§ 1-8, fol. D2r-F3v; hier für Pomarius ergänzend noch Bartholomäus Keckermann: Systema physicum septem libris adornatum, Hannover 1612, Liber III , c. 19, S. 433-464.

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wegung war daher »sine attentione, sed non sine deliberatione«, wie Pomarius es formuliert, ohne Aufmerksamkeit, doch mit Bedacht. Kontrolliert wurde der Somnambule nicht mehr von der Vernunft, sondern von den untergeordneten Seelenvermögen. Alle Lebensgeister liefen in einem Bild zusammen, das die übrigen Vorstellungen neutralisierte. Auch deshalb war ein Schlafwandler nicht in der Lage, so Pomarius, so etwas wie Angst zu empfinden, ließ sich von Abgründen nicht irritieren und blendete alle Gefahren aus. Dazu kam, dass der rege Körpergeist sie nach oben trieb. Warum aber fielen Schlafwandler dann zu Boden, wenn sie mit ihren Namen angesprochen wurden? Auch hierfür gab es eine organische Erklärung, so Pomarius zum Ende. Der »spiritus«, der die rationale Hirnregion, also das Territorium, das auch für die Wachheit verantwortlich war, bisher nicht erreicht hatte, war abrupt in diese zurückgeflossen. Der Schlafwandler musste wieder aufwachen, verlor aber zugleich die Kontrolle über seine Extremitäten. Gerade wenn er als Person adressiert wurde, konnte der Leib des Somnambulen, wie Pomarius damit festhält, nicht mehr in Eigenregie agieren. Zum Aberglauben bestand kein Anlass.52

IV. Fazit Es wäre leicht, der Auseinandersetzung mit den Schlafwandlern noch sehr viele weitere Episoden hinzuzufügen. Im 18. Jahrhundert war es vor allem der animalische Magnetismus, wie man ihn nannte, und die Körperelektrizität, die zu ihrer Erklärung herangezogen wurden. Es lohnt sich aber, zum Ende Werwölfe und Schlafwandler noch einmal einander gegenüberzustellen. Beide waren durch Erfahrungswerte gesichert und verlangten nach Erklärung. Im ersten Fall, den Werwölfen, waren sie als Variante der freiwilligen Selbstdepravation des Menschen über einen Zeitraum von hundert Jahren aus der Domäne der Dämonologie befreit und in das Reich der Medizin überführt worden. Von der übernatürlich forcierten Körperdeformation bis zur Geisteskrankheit war es ein mühevoller Weg gewesen, bei dem sich die Gelehrten auf jeder Stufe seiner Verwissenschaftlichung wieder neu um eine kohärente Hypothese bemüht hatten. Vergleichbare Transformationen waren beim Somnambulismus nicht notwendig gewesen; auch die Dämonologie hätte man dem Phänomen bestenfalls nur oktroyiert. 52 Pomarius – Fabiger – Schultz: De noctambulis disputatio posterior (Anm. 46), § 9, q. 1-6, fol. F3v-G5r.

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Trotzdem waren beide Erscheinungen für den Gelehrten der Frühen Neuzeit in ihrer Anlage vergleichbar. Voraussetzung der Selbstentmündigung des Menschen war in beiden Fällen, wie man glaubte, eine Phantasie, die als seelisches Vermögen die Vernunft im Menschen entthront hatte. In beiden Fällen war der Mensch, so die Kernhypothese, auf diese Weise zumindest zeitweilig ins Tierhafte zurückgefallen und hatte sich durch die Dominanz des Animalischen von seinen Mitmenschen entfremden müssen. Dass Werwolf wie Schlafwandler für die Frühe Neuzeit dabei die menschliche Spezies nicht verlassen hatten, lag auf der Hand. Beide, Werwölfe wie Somnambule, blieben sogar für ihre Handlungen mittelbar verantwortlich, wenn auch im ersten Fall, mit dem fortschreitenden Eindringen medizinischer Überlegungen, immer weniger und im zweiten Fall nur sehr geringfügig. Für beide galt die Maxime bedingter Kommunikation. Die Kette der Nachjustierungen, die in der Erklärung der Lykanthropie vorgenommen wurden, sollte nicht zuletzt eine Ansprechbarkeit des Werwolfs garantieren, wenn nicht in der Phase seiner Entrückung, so doch im Anschluss an sie, und den wölfischen Delinquenten damit für die Justiz haftbar machen. Voraussetzung dafür war die Aufrechterhaltung eines LeibSeele-Zusammenhangs, der dem Charakter des Werwolfs eine deutlich physiologische Komponente geben musste. An dieser physiologischen Grundierung hatte es beim Phänomen der Schlafwandelei nie einen Zweifel gegeben. Auch mit Blick auf den Somnambulen stand fest, dass der temporäre Verlust seiner Rationalität ihn während dieses Zeitraums kaum adressierbar machte. Da er zu diesem Verlust aber keine Einwilligung erteilt hatte, konnte er bei wiedererlangtem Bewusstsein auch allenfalls am Rande zur Rechenschaft gezogen werden. Tatsächlich, so lässt sich zum Ende festhalten, standen beide Diagnosen also in einem reziproken Verhältnis zueinander, beide Phänomene füllten sich wechselseitig mit Bedeutung. Beiden Erscheinungen stellte das organische Gefüge des Menschen die entscheidende Klaviatur zur Verfügung. Während im Fall des Werwolfs auf Bitte des Verschwörers hin der Teufel im Säftegefüge des Menschen und seinem »spiritus« die Sonate spielen durfte, war es im Fall des Somnambulen das organische Klavier selbst, dessen Nachhall den Menschen in Bewegung versetzte. Mehr noch, so wie der Schlafwandler gleichsam die zivile und unbedarfte Spielart des Werwolfs verkörperte, lieferte er den Gelehrten auch einen Weg, wie sich Ersterer von seinen diabo­ lischen Hüllen befreien konnte, ohne seinen physiologischen Kern zu verlieren. Musste beim Lykanthropen unbedingt noch der Teufel seine Hand im Spiel haben? Oder konnte nicht auch in seinem Fall der Leib

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mit seinen Temperamenten und ihrem Bilderstrom die Zerrüttung des Verstandes provoziert haben? Es war so nur eine Frage der Zeit, bis die psychosomatische Expertise, die man bei der Analyse des teilzeit­ entmündigten Schlafwandlers gewonnen hatte, auch auf das Phänomen der Lykanthropie ein neues Licht werfen konnte. Dass beide ­Figuren zum Ende damit fast zusammenfielen und in der gleichen Rubrik der medizinischen Handbücher behandelt werden konnten, war daher kein Zufall.

Barbara Schlieben

Grenzen des Sozialen in »Causae et Curae« der Hildegard von Bingen Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht mit »Causae et Curae« der Hildegard von Bingen (1098-1179) ein medizinisch-kosmologisches Werk, das die Praxis sozialer und kommunikativer Beziehungen von Menschen zu unterschiedlichen Nicht-Menschen thematisiert. Komplementär zu den übrigen in diesem Band versammelten Beiträgen, in denen Beziehungen von Menschen zu einer Gattung NichtMenschen analysiert werden, schlage ich damit einen alternativen Untersuchungsaufbau vor: Während es die Zusammenschau einzelner Beziehungsgeschichten ermöglicht, in vergleichender Perspektive danach zu fragen, unter welchen historischen Bedingungen Grenzen zu Nicht-Menschen durchlässig oder unüberbrückbar sind,1 erlaubt es die Untersuchung der medizinischen Schriften Hildegards, unterschied­ liche zeitgleich praktizierte und reflektierte Beziehungstypen von Menschen zu mehreren Nicht-Menschen zu erkennen. Mit meinem Vorschlag, dessen experimenteller Charakter betont sei, handelt man sich eigene blinde Flecken ein. So wird man detaillierte Binnendifferenzierungen einzelner Arten (beispielsweise zwischen eigenwilligen oder guten Reitpferden, wie sie Isabelle Schürch in ihrem Beitrag untersucht)2 in einem Werk, das in weiter Perspektive von diversen Beziehungen handelt, kaum erwarten dürfen. Doch vermag die Untersuchung dafür sensibilisieren, dass unterschiedliche Grenzen des Sozialen gleichzeitig strittig oder unstrittig sein können (so wie heute zu Tieren und zur Künstlichen Intelligenz). Auch der Status von Grenzen tritt so in den Blick, ihre Fluidität und Situativität oder ihre Normativität, und legt zugleich Fragen nach Ordnungen und Hierarchien nahe.3 Für die Momentaufnahme, die Hildegards 1 Vgl. die Einleitung von Matthias Pohlig und Barbara Schlieben sowie das Resümee von Ludolf Kuchenbuch in diesem Band. 2 Vgl. den Beitrag von Isabelle Schürch in diesem Band. 3 Zu der Unterscheidung s. die Beiträge von Florian Muhle und Gesa Lindemann im vorliegenden Band. – Einen ähnlichen (bei ihm jedoch nicht im Zentrum stehenden) Untersuchungsaufbau deutet Nadir Weber in seinem Beitrag in diesem Band an, in dem er die Residenzen französischer Könige in der Frühen Neuzeit als Kommunikations- und Sozialraum interpretiert, der vom Zusammenspiel menschlicher und diverser nicht-menschlicher Akteure geprägt ist.

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Schriften bietet, zielt mein Beitrag damit auf eine Typologie sozialer Beziehungen und ihrer Grenzen. Ich stelle Hildegards medizinisches Werk zunächst kurz und mit Blick auf die Fragestellung vor (I ), bevor ich nach den von der Äbtissin skizzierten Voraussetzungen für Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen frage (II ). Auf dieser Grundlage gilt die Untersuchung dann sozialen Relationen und ihren Grenzen (III ).

I. Hildegard von Bingen, geboren 1098, gestorben 1179, lebte im langen 12. Jahrhundert. So problematisch das traditionelle Signet des Wandels für diese Epoche ist  – dass sich wirtschaftlich, kulturell und sozial Entscheidendes änderte, wird kaum infrage gestellt.4 Für das hier verfolgte Problem sind Zeugnisse dieser Epoche attraktiv: Die Jahre sind geprägt von gesteigerter sozialer Mobilität, die Ungleichheit und asymmetrische Beziehungen voraussetzt und damit zugleich soziale Grenzen und deren Ordnungen verstärkt in den Blick treten lässt.5 Zudem kommt es im 12. Jahrhundert durch die in Monte Cassino und Salerno aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzten (und rasch in Zentraleuropa verbreiteten) medizinischen Werke zu einem enormen Zuwachs und damit auch zur Neuorganisation von Wissen, das auch disziplinenimmanent Fragen nach Grenzen nahelegt.6 4 Zuletzt hilfreich zur Frage, wie sich die Dynamiken des 12. Jahrhunderts darstellen lassen, Anja Rathmann-Lutz: Narrative im Vergleich. Das dynamische 12. Jahrhundert als Scheide- oder Höhepunkt des Hochmittelalters, in: Kontinuitäten, Umbrüche, Zäsuren. Die Konstruktion von Epochen in Mittelalter und früher Neuzeit in interdisziplinärer Sichtung, hg. von Thomas Kühtreiber und Gabriele Schichta (Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit, Bd. 6), Heidelberg 2016, S. 191-206; vgl. künftig auch ihre Habilitationsschrift (Basel 2021); Uta Kleine: Zurück in die Zukunft. Reform, Renaissance und Revolution als Modelle historischen Wandels zwischen Mittelalter und Moderne, unveröffentlichtes Manuskript der Antrittsvorlesung, FernUniversität Hagen, 15. 1. 2020. 5 Zum Verhältnis von sozialer Mobilität und Ungleichheit im 12. Jahrhundert s. zuletzt Dominik Büschken: Herkunft als Argument. Wahrnehmung, Deutung und Funktion sozialer Mobilität in der englischen Gesellschaft des 12. Jahrhunderts, Göttingen 2020, S. 17 f. 6 Mehr als 550 heute noch existierende Codices medizinischen Inhalts sind für die Zeit von 1075 bis 1225 nachgewiesen, zahlreiche weitere lassen sich erschließen, s. Monica Green: Medical Books, in: The European Book in the Twelfth Century, hg. von Erik Kwakkel und Rodney Thomson (Cambridge Studies in Medieval Literature), Cambridge u. a. 2018, S. 277-292; hier S. 278.

GRENZEN DES SOZIALEN IN »CAUSAE E T CURAE« DER HILDEGARD VON BINGEN

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Hildegard trat mit acht Jahren 1112 ins Kloster Disibodenberg ein und wurde dort 1136 zur magistra gewählt.7 Um 1150 siedelte sie nach Rupertsberg bei Bingen am Rhein um. Hier entstanden zahlreiche Werke: Dem Frühwerk, unter dem Titel »Scivias« verfasst, das frühe Visionen vereint, folgten zwei weitere Visionswerke; Hildegard schrieb Bibelkommentare, zwei Biographien, Gesänge und musikalische Dramen, sie entwickelte eine Geheimschrift; sie reiste viel und predigte; ihre Korrespondenz mit Zeitgenossen, darunter Papst Eugen III ., König Heinrich II . von England, König Ludwig VII . von Frankreich, dem römischen Kaiser und der byzantinischen Kaiserin ist umfangreich. Weithin vernetzt und produktiv – so lässt sich die Vita der bereits zu Lebzeiten verehrten Hildegard zusammenfassen. Die Forschung zu Hildegard ist uferlos,8 doch stehen ihre medizinischen Werke nicht im Zentrum des Interesses. Zwei medizinische Schriften firmieren unter Hildegards Namen. Anders als ihre übrigen Werke liegen sie nicht in zeitgenössischen Handschriften vor, die ersten Textzeugen datieren ins 13. Jahrhundert. Für die eine der beiden Schriften besorgte der Straßburger Verleger Johannes Schott 1533 den ersten Druck; er war es auch, der dem Werk den bis heute üblichen Titel »Physica« verlieh. Dieses Werk, das in fünf vollständigen Handschriften und acht Fragmenten vorliegt, gliedert sich in neun Bücher: Das entspricht ungefähr einer Vervierfachung der medizinischen Handschriften gegenüber dem Zeitraum von 800 bis 1100, für diese Zeit s. nach wie vor Augusto Beccaria: I codici di medicina del periodo presalternitano (secoli IX , X, e XI ), Rom 1956 (Storia e litteratura, raccolta die studi e testi, Bd. 53). Zu den Veränderungen in der Medizin ab 1200 s. allgemeiner auch Katharine Park: Medicine and Society in Medieval Europe, in: Medicine in Society. Historical Essays, hg. von Andrew Wear, Cambridge u. a. 1992, ND 2003, S. 5990; bes. S. 75-80; Luis García-Ballester: The Construction of a New Form of Learning and Practicing Medicine in Medieval Latin Europe, in: Science in Context 8 /1, 1995, S. 75-102. 7 Das Leben der Hildegard ist gut erforscht, zuletzt, mit hilfreichen Hinweisen auch dazu, was strittig oder unbekannt ist, Michael Embach: The Life of Hildegard of Bingen (1098-1179), in: The Cambridge Companion to Hildegard of Bingen, hg. von Jennifer Bain, Cambridge u. a. 2021, S. 11-36. 8 Hier sei nur auf die wichtigsten Sammelbände der letzten Jahre verwiesen: Jennifer Bain (Hg.): The Cambridge Companion to Hildegard of Bingen, Cambridge u. a. 2021; Beverly Mayne Kienzle / Debra Stoudt / George Ferzoco (Hg.): A Companion to Hildegard of Bingen, Leiden / Boston 2014 (Brill’s Companions to the Christian Tradition, Bd. 45); Rainer Berndt (Hg.): »Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst«. Hildegard von Bingen (10981179), Berlin 2001 (Erudiri Sapientia, Bd. 2); Charles Burnett / Peter Dronke (Hg.): Hildegard of Bingen. The Context of her Thought and Art, London 1998 (Warburg Institute Colloquia, Bd. 4); Barbara Newman (Hg.): Voice of the Living Light. Hildegard of Bingen and Her World, Berkeley 1998.

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Gerahmt von der Schöpfungsgeschichte und in der Tradition der Hexameron-Kommentare handelt die »Physica« von Kräutern, Elementen, Bäumen und Sträuchern, Steinen, Fischen, geflügelten Tieren, Landtieren, Kriechtieren und Metallen.9 Das zweite medizinische Werk der Hildegard, das unter dem Titel »Causae et Curae« (»Ursprung und Behandlung« der Krankheiten) bekannt ist, findet sich in nur einer vollständigen Handschrift und einem Fragment überliefert, eine Reihe weiterer mittelalterlicher Textzeugen lassen sich erschließen; gedruckt wurde die Schrift erst 1903,10 seit 2003 liegt eine kritische Edition vor.11 »Causae et Curae«, die mit gelegentlichen Seitenblicken auf die »Physica« im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht, gliedert sich in sechs Abschnitte:12 Das Werk beginnt mit der Schöpfung, dar9 Das Werk liegt in zwei modernen Editionen vor: Hildegard von Bingen: Physica. Edition der Florentiner Handschrift (Cod. Laur. Ashb. 2323, ca. 1300) im Vergleich mit der Textkonstitution der Patrologia Latina (Migne), ed. von Irmgard Müller und Christan Schulze, Hildesheim 2008 (zu den Handschriften s. Einleitung, S. xi-xvii), nach der ich im Folgenden zitiere (als Hildegard von Bingen: Physica), sowie Hildegard von Bingen: Physica. Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum, ed. von Reiner Hildebrandt und Thomas Gloning, Berlin 2010 (zu den Handschriften s. Einleitung, S. 5-21); vgl. hier und im Folgenden auch: Hildegard von Bingen: Heilsame Schöpfung. Die natürliche Wirkkraft der Dinge. Physica, übers. und eingeleitet von Ortrun Riha (Hildegard von Bingen-Werke, Bd. 5), 3. Aufl., Beuron 2020; s. auch: Laurence Moulinier: Le manuscrit perdu à Strasbourg. Enquête sur l’œuvre scientifique de Hildegarde, Paris 1995 (Histoire ancienne et médiévale, Bd. 35); Michael Embach: Hildegard of Bingen (1098-1179). A History of Reception, in: A Companion to Hildegard of Bingen, hg. von Beverly Mayne Kienzle, Debra Stoudt und George Ferzoco (Brill’s Companions to the Christian Tradition, Bd. 45), Leiden / Boston 2014, S. 298-300; zum Druck: Monica Green: In Search of an »Authentic« Women’s Medicine. The Strange Fates of Trota of Salerno and Hildegard of Bingen, in: Dynamis 19, 1999, S. 25-54; hier S. 33-35; Moulinier: Le manuscrit perdu (Anm. 9), S. 18 u. 84. 10 Hildegard von Bingen: Causae et Curae, ed. von Paul Kaiser, Leipzig 1903. 11 Hildegard von Bingen: Cause et cure, ed. von Laurence Moulinier (Rarissima mediaevalia, Bd. 1), Berlin 2003 (im Folgenden zitiert als Hildegard von Bingen: Causae et Curae); zu den Handschriften und den zu erschließenden Textzeugen s. ebd., Introduction, S. xi-lxiii; vgl. hier und im Folgenden auch: Hildegard von Bingen: Ursprung und Behandlung der Krankheiten. Causae et Curae, übers. von Ortrun Riha (Hildegard von Bingen-Werke, Bd. 11), 2. Aufl., Beuron 2012; Laurence Moulinier: Hildegard ou Pseudo-Hildegarde? Réflexions sur l’authenticité du traité »Cause et cure«, in: »Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst«. Hildegard von Bingen (1098-1179), hg. von Rainer Berndt (Erudiri Sapientia, Bd. 2), Berlin 2001; hier S. 117-127. 12 Ich spreche von Abschnitten, nicht von Büchern und auch nicht von Kapiteln, weil diese Einteilung vermutlich nicht zeitgenössisch ist, s. Moulinier: Hildegard ou Pseudo-Hildegard? (Anm. 11), S. 127-130; vgl. jedoch zu dieser

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gestellt wird das um die vier Elemente gruppierte Firmament. In den Kosmos ist der Mensch eingebunden, der dann im zweiten Abschnitt im Zentrum der Betrachtung steht. Der dritte und vierte Teil vereint Rezepte zur Behandlung, Heilung und Pflege von Menschen, Tieren und Pflanzen, von denen viele auch in der »Physica« überliefert sind. Der fünfte Abschnitt bietet medizinische Prognosen, der sechste ein Lunar, das den Einfluss des Mondes (besonders zum Zeitpunkt der Zeugung) auf Irdisches diskutiert. Wie Florence Eliza Glaze gezeigt hat, folgt die Gliederung damit einem zeitlich-linear angelegten Verlauf: Von der Schöpfung, dem Sündenfall und der Sintflut, die Gründe für Krankheiten sind, über die Behandlung dieser Krankheiten in der Gegenwart bis hin zu Aussagen über Künftiges.13 Beinahe alles war mit Blick auf dieses Werk zeitweilig umstritten, vieles wird sich vermutlich auch künftig nicht eindeutig klären lassen. Das gilt beispielsweise für die Autorenfrage: Lässt man den grundsätzlichen und bis weit ins vergangene Jahrhundert vorgetragenen Zweifel außer Acht, ob eine Frau intellektuell dazu in der Lage ist, ein solches Werk zu verfassen,14 betreffen die Überlegungen jedoch stets nur einzelne Abschnitte. Die aktuelle Forschung geht von einem noch nicht ganz abgeschlossenen, »offenen Text« der Hildegard aus, der in den Jahren zwischen 1180 und 1220 zu dem Werk wurde, das heute vorliegt.15 Wenn ich im Folgenden mit der Forschung und zugunsten Frage auch Peter Dronke: Problemata Hildegardiana, in: Mittellateinisches Jahrbuch 16, 1981, S. 97-131; hier S. 113. 13 Florence Eliza Glaze: Medical Writer. Behold the Human Creature, in: Voice of the Living Light. Hildegard of Bingen and Her World, hg. von Barbara Newman, Berkeley 1998, S. 132. 14 So z. B. Charles Singer: The Scientific Views and Visions of Saint Hildegard, in: Studies in the History and Method of Science, Bd. 1, 2. Aufl., London 1955, S. 1-55; s. hierzu Glaze: Medical Writer (Anm. 13), S. 145 f.; Green: The Strange Fates (Anm. 9), S. 44 f.; zu den Vorläufern Moulinier: Le manuscript perdu (Anm. 9), S. 175-178; Faith Wallis: Hildegard of Bingen. Illness and Healing, in: The Cambridge Companion to Hildegard of Bingen, hg. von Jennifer Bain, Cambridge u. a. 2021, S. 150. – Zeitgenossen problematisieren selten das Geschlecht der »magistra sententiarum«, s. Contant Mews: Hildegard and the Schools, in: Hildegard of Bingen. The Context of her Thought and Art, hg. von Charles Burnett und Peter Dronke (Warburg Institute Colloquia, Bd. 4), London 1998, S. 89 f. Allgemeine Kritik an weiblichen (d. h. ungebildeten) Heilerinnen findet sich zeitgenössisch jedoch durchaus, z. B. bei Abaelard, s. ebd., S. 107. 15 Moulinier: Introduction (Anm. 11), S. lvii-lxiii; dies.: Le manuscrit perdu (Anm. 9); dies.: Hildegard ou Pseudo-Hildegard? (Anm. 11), S. 140-146; dies.: Naturkunde und Mystik bei Hildegard von Bingen. Der Blick und die Vision, in: Mystik und Natur. Zur Geschichte ihres Verhältnisses vom Altertum bis

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sprachlicher Einfachheit von Hildegard als Verfasserin spreche, dann in einem entsprechend weiten Verständnis von Autorin. Ähnlich problematisch wie die Verfasser- gestaltet sich die Quellenfrage. Das liegt daran, dass Hildegard, bis auf die Bibel, Quellen weder nennt noch wörtlich zitiert.16 Die Frage, auf welchem Weg die Äbtissin welche Inhalte zur Kenntnis genommen hat, lässt sich häufig nicht beantworten. Das gilt für die im 12. Jahrhundert weit verbreiteten antiken Klassiker und für spätantike und frühmittelalterliche Autoren.17 Deutlicher kann demgegenüber der Einfluss von ›neuem‹ Wissen aufzeigt werden, das aus dem Umfeld von Salerno oder Monte Cassino stammt oder von diesem inspiriert ist. Hier lassen sich vielfältige konzeptionelle und semantische Parallelen aufzeigen.18 Sie legen einen wie zur Gegenwart, hg. von Peter Dinzelbacher (Theophrastus Paracelsus Studien, Bd. 1), Berlin 2009, S. 39-60 (zu Rezeptionswegen, S. 51); Glaze: Medical Writer (Anm. 13), S. 147; Wallis: Illness and Healing (Anm. 14), S. 151. 16 Lucan und Donatus stellt eine Ausnahme zur Regel dar, im Berliner Fragment wird er namentlich genannt, s. Peter Dronke: The Four Elements in the Thought of Hildegard of Bingen. Cosmology and Poetry, in: Sacred and Profane Thought in the Early Middle Ages, hg. von dems. (Millennio Medievale, Bd. 109, Strumenti e studi, Bd. 41), Florenz 2016, S. 139-165; hier S. 148 f. 17 Vgl. die Zusammenschau der Forschung bei Moulinier: Introduction (Anm. 11), S. lxv-lxxi; dies.: Naturkunde und Mystik (Anm. 15), S. 50; dies.: La connaissance de la Nature selon Hildegarde de Bingen, entre sagesse de Dieu et savoir d’une moniale, in: »Speculum futurorum temporum«. Ildegarda di Bingen tra agiografia e memoria. Atti del Convegno di studio (Roma, 5-6 aprile 2017), hg. von Alessandra Bartolomei Romagnoli und Sofia Boesch Gajano, Rom 2019, S. 195-214; hier S. 207 f. 18 Siehe Mews: Hildegard and the Schools (Anm. 14); Charles Burnett: Hildegard von Bingen and the Science of the Stars, in: Hildegard of Bingen. The Context of her Thought and Art, hg. von Charles Burnett und Peter Dronke (Warburg Institute Colloquia, Bd. 4), London 1998 (zu »De mundi celestis terrestrisque constitutione«, S. 114 f.; zu »De spermate«, S. 119 f.; zur Verbreitung beider in den Klöstern und Schulen am Rhein, S. 120); Danielle Jacquart: Hildegarde et la physiologie de son temps, in: ebd., S. 121 (zu Constantinus Africanus, S. 121; zu »De spermate«, S. 125; zu »De melancholia, S. 121 u. 134); Peter Dronke: Platonic-Christian Allegories in the Homilies of Hildegard of Bingen, in: Sources of Inspiration. Studies in Literary Transformations. 400-1500, hg. von dems. (Storia e letteratura. Raccolta di studi e testi, Bd. 196), Rom 1997, S. 61-81; Laurence Moulinier: Abbesse et agronome. Hildegarde et le savoir botanique de son temps, in: Hildegard of Bingen. The Context of her Thought and Art, hg. von Charles Burnett und Peter Dronke (Warburg Institute Colloquia, Bd. 4), London 1998, S. 135-156 (zu den »Salerinitanischen Fragen«, S. 149); dies.: Le manuscript perdu (Anm. 9), S. 238; dies.: La pomme d’Ève et le corps d’Adam, in: Adam, le premier homme, hg. von Agostino Paravicini Bagliani (Micrologus’ Library, Bd. 45), Florenz 2012, S. 135-158 (zu den Aphorismen des Urso von Calabrien, S. 147-149); Glaze: Medical Writer (Anm. 13) (zum Umgang mit »De

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auch immer im Einzelnen gestalteten Diskussionszusammenhang zwischen den ebenfalls am Rhein gelegenen Schulen (Mainz, Karlsruhe, Basel) und vielleicht auch Hildesheim nahe, wo die Werke vorlagen.19 Die Quellenproblematik ist mit der Frage verwoben, worum es sich bei »Causae et Curae« eigentlich handelt: Die neuere Forschung charakterisiert das medizinische Werk der Hildegard entweder als »medizinische Enzyklopädie«20 oder als »medical manual«.21 Während Ersteres auf gelehrtes Wissen abhebt, unterstreicht das Zweite Praxisnähe. Die Gegenüberstellung Praxis versus Theorie hat für die medizinischen Schriften Hildegards eine lange Tradition22  – für die Medizin mine«, S. 138; zum »Liber Pantegni«, S. 140); Monica Green: The Trotula. A Medieval Compendium of Women’s Medicine, Philadelphia 2001, S. 118 f.; s. umfassend Moulinier: Introduction (Anm. 11), S. lxxvi-lxxxvii; dies.: Ein Präzedenzfall der Kompendien-Literatur. Die Quellen der natur- und heilkundlichen Schriften Hildegards von Bingen, in: Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Zum 900.  Geburtstag, hg. von Edeltraud Forster, Freiburg i. Br./Basel / Wien 1997, S. 436-442 sowie Wallis: Illness and Healing (Anm. 14), S. 162-164. 19 Siehe grundsätzlich die in Anm. 6 u. 18 genannte Literatur sowie klassisch Karl Sudhoff: Die medizinischen Schriften, welche Bischof Bruno von Hildesheim 1161 in seiner Bibliothek besaß, und die Bedeutung des Konstantin von Afrika im 12. Jahrhundert, in: Archiv für Geschichte der Medizin 9, 1916, S. 348-356; speziell mit Bezug auf Hildegard s. Jacquart: Hildegarde et la pysiologie de son temps (Anm. 18), S. 123; Burnett: Hildegard von Bingen and the Science of the Stars (Anm. 18), S. 120; Mews: Hildegard and the Schools (Anm. 14), bes. S. 99-103; Moulinier: Introduction (Anm. 11), S. lxxxvii-xcvi. 20 Christel Meier: Organisation of Knowledge and Encyclopaedic ordo. Functions and Purposes of a Universal Literary Genre, in: Pre-Modern Encyclopaedic Texts. Proceedings of the Second COMERS Congress (Groningen, 1-4 July 1996), hg. von Peter Binkley (Brill’s Studies in Intellectual History, Bd. 79), Leiden / New York / Köln 1997, S. 120 f.; Laurence Moulinier: Une encyclopédiste sans précédent? Le cas de Hildegard de Bingen, in: L’enciclopedismo medievale. Atti del convegno San Gimignano (8.-10. ottobre 1992), hg. von Michelangelo Picone (Memoria del tempo, Bd. 1), Ravenna 1994, S. 119-134; dies.: Naturkunde und Mystik (Anm. 15), S. 43; Yoan Boudès: Hildegard de Bingen et l’encyclopédisme médiéval. Le cas des livres animaliers de la Physica, in: Médiévales 70, 2016, S. 233-250. Aber auch diese Autor:innen gestehen praktischen Erfahrungen einen gewissen Stellenwert zu, vgl. beispielsweise Moulinier: Introduction (Anm. 11), S. lxii f. 21 Victoria Sweet: Hildegard of Bingen and the Greening of Medieval Medicine, in: Bulletin of the History of Medicine 73 /3, 1999, S. 381-403; hier S. 389; auch sie konstatiert indes, dass Hildegard eine Vielzahl unterschiedlicher Quellen zur Kenntnis nahm, ebd., S. 389 u. 393. Ihre Argumente für Praxisnähe sind das Kloster als Ort der Entstehung, S. 395 u. 397; vernakularsprachliche Ausdrücke sowie das Vokabular der Maßeinheiten (eine »Eierschale voll«, »eine Walnussschale voll«, »eine Prise« u. a.), S. 399. 22 Am Beispiel der Rezeption der Schriften Hildegards ließe sich eine über den

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des 12. Jahrhunderts im Allgemeinen und Hildegards Werk im Besonderen ist jedoch die Frage, ob es sich eher um theoretisches oder praktisches Wissen handelt, falsch gestellt. Denn erstens waren Klöster im Früh- und Hochmittelalter zwar keineswegs die einzigen (wie die ­clichéhafte Bezeichnung ›monastische‹ Medizin für die Zeit bis ins 12. Jahrhundert nahelegt), aber wichtige Zentren gelehrter und praktizierter Medizin.23 Zweitens war die Medizin im Mittelalter, unabhängig von der Profession, dem Kontext und dem Jahrhundert, stets auch Praxis, in der derjenige Patienten gewann, der mit Kranken kommunizieren und Erfolge beim Heilen oder Verhindern von Krankheiten verzeichnen konnte.24 Und drittens lassen sich auch vermeintlich ungelehrte und volksnahe Hilfsmittel (Talismane, Beschwörungen usw.) das gesamte Mittelalter über in gelehrten medizinischen Traktaten finden, sodass auch in dieser Hinsicht keine scharfen Grenzen zwischen theoretischer und praktischer Medizin gezogen werden können.25 Gegenstand hinaus aufschlussreiche (natürlich nicht linear verlaufende) Geschichte der vielen »practical turns« entwerfen. Das wäre vor dem Hintergrund des gegenwärtigen »practical turn« ein reizvolles (aus Platzgründen hier jedoch nicht leistbares) Unterfangen, weil so die je spezifische Zeitgebundenheit von Praxis-Perspektiven in den Blick träte. 23 Vgl. Vivian Nutton: Early-Medieval Medicine and Natural Science, in: The Cambridge History of Science, Bd. 2: Medieval Science, hg. von David C. Lindberg und Michael H. Shank, New York 2013, S. 336-337; Peregrine Horden: Sickness and Healing, in: The Cambridge History of Christianity, Bd. 3: Early Medieval Christianities (c. 600 - c. 1100), hg. von Thomas F. X. Noble und Julia M. H. Smith, Cambridge u. a. 2008, S. 421; Elma Brenner: The Medical Role of Monasteries in the Latin West, c. 1050 - 1300, in: The Cambridge History of Medieval Monasticism in the Latin West, hg. von Alison I. Beach und Isabelle Cochelin, Cambridge u. a. 2020, S. 865-881; in Bezug auf Hildegard s. Glaze: Medical Writer (Anm. 13). 24 Vgl. Horden: Sickness and Healing (Anm. 23), S. 416-418. – Ausführlich reflektiert werden Art und Weise der Kommunikation erst seit dem späteren Hochmittelalter, vgl. hierzu z. B. Fernando Salmón: From Patient to Text? Narratives of Pain and Madness in Medical Scholasticism, in: Between Text and Patient. The Medical Enterprise in Medieval & Early Modern Europe, hg. von Florence Eliza Glaze und Brian K. Nance (Micrologus’ Library, Bd. 39), Florenz 2011, S. 373-395; Luis García-Ballester: Medical Ethics in Transition in the Latin Medicine of the Thirteenth and Fourteenth Centuries. New Perspectives on the Physician-Patient Relationship and the Doctor’s Fee, in: Doctors and Ethics. The Historical Setting of Professional Ethics, hg. von Andrew Wear, Johanna Geyer-Kordesch und Roger French (The Wellcome Institute Series in the History of Medicine), Amsterdam / Atlanta 1993, bes. S. 42-47; Vivian Nutton: Beyond the Hippocratic Oath, in: ebd., S. 21. Zur Ärzte-Patientenbeziehung vgl. in Bezug auf Hildegard unten, III .2. 25 Nutton: Early-Medieval Medicine and Natural Science (Anm. 23), S. 324;

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Das Problem, um was es sich bei »Causae et Curae« handelt, betrifft auch die Frage, wer aus dem Werk zu den Lesern spricht. In ihren übrigen Schriften tritt Hildegard als göttlich inspirierte Autorin auf, die Offenbartes darbietet. Als Prophetin spricht Hildegard nicht (jedenfalls nicht in erster Linie) selbst, ihre Schriften sind Zeugnis der Kommunikation mit Gott. Diese »doppelte Autorenschaft« wird stets sorgsam konstruiert, nicht nur in den Visionswerken, sondern auch in den Briefen.26 Gälte dies auch für die naturkundlichen Werke, so wären sie eine Quelle auch für die Kommunikation mit Gott. Hierfür ließe sich anführen, dass weder in der »Physica« noch in »Causae et Curae« Referenzautoren genannt werden  – ein Phänomen, das man mit der »logique visionnaire« der Schriften erklären könnte.27 Im »Buch der Lebensverdienste« spielt Hildegard zudem auf ihr medizinisches Werk an, dessen Inhalte ihr wie in ihren visionären Werken durch »Schau« (»visio«) »gezeigt« (»ostenderat«) worden seien.28 ZuPeregrine Horden: What’s Wrong with Early Medieval Medicine?, in: Social History of Medicine 24 /1, 2011, S. 5-25; hier bes. S. 15-17; ders.: Sickness and Healing (Anm. 23), S. 424-426; Katharine Park: Medicine and Magic. The Healing Arts, in: Gender and Society in Renaissance Italy, hg. von Judith Brown und Robert Davis, London / New York 1998, S. 129-149. – Für Hildegards visionäre Schriften, insbesondere den »Liber vitae meritorum«, hat Christel Meier eine enge Verwobenheit von Praxis und Theorie herausgearbeitet, s. dies.: Operationale Kosmologie. Bemerkungen zur Konzeption von Arbeit bei Hildegard von Bingen, in: Tiefe des Gotteswissens. Schönheit der Sprachgestalt bei Hildegard von Bingen, hg. von Margot Schmidt (Mystik in Geschichte und Gegenwart. Abt. I, Bd. 10), Stuttgart 1995, S. 49-84. 26 Christel Meier: Von der persönlichen Präsenz zur magistralen Instanz. Die Briefe und Briefsammlungen Hildegards von Bingen, in: Bücher und Identitäten. Literarische Reproduktionskulturen der Vormoderne, hg. von Nicole Eichenberger, Eckart Conrad Lutz und Christine Putzo, Wiesbaden 2020, S. 57-78; hier auch der Begriff der »doppelten Autorenschaft«, S. 69 f.; grundsätzlich zur Einordnung der prophetischen Persona Hildegards in den Kontext der Prophetie des 12. Jahrhunderts Christel Meier: Nova verba prophetae. Evaluation und Reproduktion der prophetischen Rede der Bibel im Mittelalter. Eine Skizze, in: Prophetie und Autorschaft. Charisma, Heilsversprechen und Gefährdung, hg. von ders. und Martina Wagner-Egelhaaf, Berlin 2014, S. 71-104; Uta Kleine: Visionäre, Exegeten und göttliche Orakel. Neue Horizonte der Prophetie im 12. Jahrhundert, in: Archiv für Kulturgeschichte 97 /1, 2015, S. 47-88. 27 Moulinier, Naturkunde und Mystik (Anm. 15), S. 44; dies.: Präzedenzfall (Anm. 18), S. 433. 28 Hildegard von Bingen: Liber vite meritorum, ed. von Angela Carlevaris (CCCM 90), Turnhout 1995, Prolog, S. 8; s. auch Hildegard von Bingen: Das Buch der Lebensverdienste. Liber Vitae Meritorum, übers. von Maura Zátonyi (Hildegard von Bingen-Werke, Bd. 7), Beuron 2014, S. 44. – Siehe hierzu Moulinier: Naturkunde und Mystik (Anm. 15), S. 45; dies.: La connaissance

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dem gibt es zahlreiche inhaltliche und semantische Parallelen zwischen den naturkundlichen und den visionären Werken, die eine Nähe zwischen den Autorenpersonae plausibel machen. Ich bin gleichwohl beim Übertragen der Autorenpersona von dem einem in den anderen Werkzusammenhang zurückhaltend. Denn anders als in den visionären Werken wird in den medizinischen Schriften eben keine Vorstellung doppelter Autorenschaft formuliert. Sowohl »Causae et Curae« als auch die »Physica« starten medias in res, ohne dass die Herkunft des Dargebotenen zum Gegenstand gemacht wird. Auch der Umstand, dass die medizinischen Werke keinen Platz im »Riesencodex« fanden, der Hildegards übrige Schriften kurz nach ihrem Tod vereinte und ihren Ruf als Prophetin festigte,29 scheint mir ein Argument dafür zu sein, dass Hildegard (oder ihre Zeitgenossen) deutliche Unterschiede zwischen beiden Werktypen ausmachten. So gesehen, ließe sich die Trennung der medizinischen und prophetischen Schriften als ein Beleg für den von Matthias Pohlig angenommenen Sonderfall der Mensch-Gott-Kommunikation lesen.30 Innerhalb der medizinischen Werke ist wortgestützte (durch Sprachaktverben und wörtliche Rede angezeigte) Kommunikation (nicht Kommunikation per se) generell selten. Die wenigen Belegstellen sind indes aufschlussreich, weil Gott bzw. der Teufel an allen diesen Sprechakten zumindest indirekt beteiligt ist. Die Kommunikation mit Gott scheint also auch in dieser Hinsicht ein Sonderfall zu sein. Bei der wörtlichen Rede handelt es sich häufig um Zitate aus der Bibel.31 Der Teufel flüstert den Menschen ein, Gottes Gebot zu übertreten und den Apfel zu essen, was Adam und Eva tun, mithin die Mitteilung des Teufels verstehen.32 Einmal wird in diesem Sinne explizit gemacht, dass Eva der vom Teufel gelenkten Schlange zustimmend zuhört.33 Man wird daher bei der Untersuchung von Menschde la Nature selon Hildegarde de Bingen, entre sagesse de Dieu et savoir d’une moniale, in: »Speculum futurorum temporum«. Ildegarda di Bingen tra agiografia e memoria. Atti del Convegno di studio (Roma, 5-6 aprile 2017), hg. von Alessandra Bartolomei Romagnoli und Sofia Boesch Gajano, Rom 2019, S. 195 f.; Wallis: Illness and Healing (Anm. 14), S. 144 f. 29 Zur Überlieferung vgl. die in Anm. 9 genannte Literatur. 30 Vgl. den Beitrag von Matthias Pohlig im vorliegenden Band. 31 Vgl. z. B. Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), I,3, S. 19 (hier adressiert Gott allerdings nicht Menschen, sondern den Kosmos). 32 Ebd., II ,69, S. 66. 33 Ebd., II ,221, S. 143. – Einmal segnet Hildegard vier Nägel, die einem Patienten, der unter teuflischen Trugbildern leidet, mit einem Gürtel um den Bauch gebunden sind, s. Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), IV ,406, S. 240. – Vgl. hierzu die in Anm. 25 genannte Literatur zu Beschwörungen in

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Tier- oder Mensch-Pflanzen-Beziehungen einen weiten Begriff von Kommunikation zulassen müssen, der gegenseitiges Verstehen, Anschlusskommunikation und Adressierungen nicht allein wortgestützt auslegt, sondern auch Gesten, Blicke und Ähnliches einbezieht.

II. Wie auch immer man die Frage inspirierter Autorenschaft für »Causae et Curae« beantwortet, so steht außer Frage, dass Hildegards Ausführungen theologisch gerahmt und durchdrungen sind. Gegenstand ist der von Gott geschaffene Kosmos, in dem der Mensch ein (wenn auch besonderes)34 Geschöpf unter vielen ist. Die grundsätzliche theologische Rahmung und Hildegards prinzipielles Verständnis von Medizin sind es, die soziale Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen ermöglichen. Beide müssen daher zunächst diskutiert werden, um die von der Äbtissin skizzierten sozialen Beziehungen einordnen zu können. Theologisch gesprochen, ist es der Sündenfall, der Dreh- und Angelpunkt aller sozialen Beziehungen und zugleich Ursache aller Krankheiten ist: Als aber der Mensch das Gebot Gottes übertrat, veränderte er sich an Körper und Geist. Wenn nämlich der Mensch im Paradies geblieben wäre, hätte er in einem unveränderlichen und vollkommenen Zustand überdauert. Aber das alles hat sich nach der Übertretung in eine andere und bittere Beschaffenheit verkehrt.35 der zeitgenössischen medizinischen Literatur; zu Beschwörungen bei Hildegard, die in der »Physica« häufiger sind, s. Debra L. Stoudt: The Medical, the Magical, and the Miraculous in the Healing Arts of Hildegard of Bingen, in: A Companion to Hildegard of Bingen, hg. von ders., George Ferzoco und Beverly Kienzle (Brill’s Companions to the Christian Tradition, Bd. 45), Leiden 2014, S. 249-272; Laurence Moulinier: Magie, médicine et maux de l’âme dans l’œvre scientifique de Hildegarde, in: »Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst«. Hildegard von Bingen (1098-1179), hg. von Rainer Berndt (Erudiri Sapientia, Bd. 2), Berlin 2001, S. 545-559 (zu »Causae et Curae« s. ebd., S. 549 mit Anm. 25 u. 27). Obwohl die Nägel hier direkt angesprochen werden, fungieren sie eher als Werkzeug der Kommunikation oder als Medium, mit dessen Hilfe letztlich ebenfalls Gott adressiert wird; von diesem, nicht von den Nägeln wird eine Antwort erwartet. 34 Vgl. hierzu unten, Anm. 80-82. 35 Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), II ,56, S. 59: »sed cum homo preceptum dei transgressus est, mutatus est etiam tam corpore quam

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Leitmotivisch betont Hildegard sodann die körperlichen, seelischen und sozialen Folgen des Sündenfalls für den Menschen: Er verliert die Fähigkeit, die Zukunft zu schauen;36 er muss arbeiten37 und leuchtet nicht mehr, er erkennt seine Nacktheit.38 Der Sündenfall bedingt menschliche Begierde und Lust;39 macht Schlaf notwendig40 und führt zu einem Übermaß an schwarzer Galle, was Angst, Trauer und Verzweiflung nach sich zieht;41 durch den Sündenfall ändert sich die menschliche Stimme42 und die Milz wird fett.43 Über die Söhne Adams wirken alle diese Veränderungen bis in die Gegenwart.44 Der Sündenfall zeitigt nicht nur Konsequenzen für den Menschen, alle Relationen von Menschen und Nicht-Menschen sind davon auf die ein oder andere Weise betroffen; der Sündenfall wird damit zum historischen Kipppmoment: Durch die Strafen nähert sich der Mensch Nicht-Menschen an. So müssen Menschen nach dem Sündenfall schlafen, wie es Tiere (bereits zuvor) mussten. Lassen sich solche Analogien zuweilen nur erschließen, so formuliert sie Hildegard andernorts explizit. Aufgrund des Sündenfalls, so die Äbtissin, gleiche sich das Lachen des Menschen an die Stimme des Viehs an.45 Auch aus der entgegengesetzten Perspektive beschreibt sie die neue Nähe zwischen Nicht-Menschen und Menschen. Erstere handeln wie Letztere – ein Verhältnis, das Hildegard kausal erfasst: mente. […] Si enim homo in paradyso mansisset, in inmutabili et perfecto statu perstitisset. Sed hec omnia post transgressionem in alium et amarum modum uersa sunt.« – Vgl. auch Markus Enders: Das Naturverständnis Hildegards von Bingen, in: »Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst«. Hildegard von Bingen (1098-1179), hg. von Rainer Berndt (Erudiri Sapientia, Bd. 2), Berlin 2001, S. 472; s. auch ebd., II ,64, S. 63 f. und hierzu Glaze: Medical Writer (Anm. 13), S. 136; generell auch Michael Embach: Die Protoplasten in der Sicht Hildegards von Bingen. Ein Beitrag zur theologischen Anthropologie des 12. Jahrhunderts, in: Mittelhochdeutsch. Beiträge zur Überlieferung, Sprache und Literatur, hg. von Ralf Plate und Martin Schubert, Berlin 2011, S. 471-485; hier 477. – Zu einer ähnlichen Erklärung von Krankheit zeitgleich bei Alexander Neckham s. Moulinier: Introduction (Anm. 11), S. lxxix sowie ausführlicher: dies.: La pomme d’Ève (Anm. 18), bes. S. 149-157. 36 Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), II ,88, S. 77; ebd., II ,164 f., S. 121; ebd., II ,221, S. 143 (hier in Bezug auf Eva). 37 Ebd., II ,90, S. 78. 38 Ebd. 39 Ebd., II ,129, S. 95. 40 Ebd., II ,161, S. 120. 41 Ebd., II ,68, S. 66; ebd., II ,298, S. 183; ebd., II ,306, S. 185. 42 Ebd., II ,312, S. 188. 43 Ebd. 44 Ebd., II ,64, S. 63 f.; vgl. auch II ,140, S. 104. 45 Ebd., II ,314, S. 189.

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Wenn nämlich der Mensch so handelte, wie er [in die Schöpfung, B. S.] gesetzt wurde, dann würden sich alle Jahreszeiten und die Lüfte in ihren Zeitläufen gleich verhalten, also in diesem Frühjahr wie im vergangenen Frühjahr, in diesem Sommer wie im vergangenen Sommer und so weiter. Da aber der Mensch sich durch Ungehorsam über Gottesfurcht und Gottesliebe hinwegsetzt, überschreiten auch alle Elemente und Jahreszeiten ihre Rechte.46 Vielleicht noch grundlegender zeigt Hildegard in der »Physica« die weiterreichenden Konsequenzen des Sündenfalls für alle Geschöpfe auf: Gott hatte zu Anbeginn jedes Geschöpf gut geschaffen, aber nachdem der Teufel den Menschen durch die Schlange täuschte, sodass jener aus dem Paradies hinausgeworfen wurde, veränderten sich die Geschöpfe, die auf die Welt schauen, nach göttlichem Willen und als Strafe zusammen mit dem Menschen zum Schlechteren.47 Der Sündenfall verursacht also Veränderungen bei Menschen wie bei Nicht-Menschen »zum Schlechteren«, wie es hier heißt, und stört damit Gottes Ordnung. Wiederhergestellt wird sie erst am Jüngsten Tag,48 doch legt Hildegard nahe, dass der durch Adam und Eva verursachte Schaden zumindest partiell abgemildert werden kann. Gebet und Buße, die zeitgenössisch einen Weg zur Heilung beschreiben hätten können, werden von der Äbtissin nicht thematisiert. Stattdessen schlägt sie medizinische Maßnahmen als curae vor und offenbart damit einen durchaus optimistischen Blick auf die Welt. Sie verbindet ihn mit einer großen Verantwortung des Menschen nicht nur für sich selbst, sondern für alle Geschöpfe: Weil der Mensch durch den Sün46 Ebd., I,37, S. 40: »Si enim homo ita faceret, ut positus est, tunc etiam omnia tempora et aure in temporibus suis equaliter facerent, scilicet hoc uerno tempore ut preterito uerno tempore, et in hac estate ut in preterita estate, et sic de ceteris. Cum autem homo et timorem et amorem dei per inobedientiam transilit, tunc omnia elementa et tempora iura sua supergrediuntur.« Siehe hierzu auch Enders: Naturverständnis (Anm. 35), S. 476 f. 47 Hildegard von Bingen: Physica (Anm. 9), VIII , Prolog, S. 363: »Deus ab initio omnem creaturam bonam creaverat. Sed postquam diabolus hominem per serpentem decepit, ita quod ille de paradiso ejectus est, creature que ad mundum spectant, divina voluntate, et ultione cum homine in deterius mutate sunt.« 48 Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), I,27, S. 32 (zum Firmament, das dann wieder zum Stillstand kommt); ebd., II ,90, S. 78 (zum Leuchten des Menschen).

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denfall Schuld am Zustand von Menschen und Nicht-Menschen trägt, kann er sein Handeln nicht auf seinesgleichen beschränken, er muss sich auch Nicht-Menschen annehmen. Die theologische Rahmung, die die notwendigerweise enge Bezogenheit von Menschen und Nicht-Menschen erklärt und zugleich eine zentrale Begründung für Pflegebeziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen liefert, ist für das Verständnis von »Causae et Curae« entscheidend. Deshalb greift in meinen Augen die auf den ersten Blick naheliegende Frage nach dem Naturverständnis bei Hildegard zu kurz.49 Sie führt zumindest dann auf die falsche Fährte, wenn man Natur im Gegensatz zum Menschen denkt. Ein solcher Naturbegriff widerspricht auch der Diktion der Äbtissin: Die Bezeichnung »natura« kommt in »Causae et Curae« selten50 und nie in einem allumfassenden Sinn vor. Wenn Hildegard von natura spricht, dann wird diese stets durch ein Genitivattribut genauer bestimmt. Zuweilen ist von »natura hominis«51 die Rede, gelegentlich in der Präzisierung »natura mulieris«52 oder »natura viri«.53 Natur ist bei Hildegard mithin kein Gegenbegriff zum Menschen. Die Bezeichnung kommt zum Einsatz, um die Beschaffenheit des Menschen, seinen Charakter oder sein Wesen zu charakterisieren. Exklusiv für den Menschen reserviert ist natura indes nicht. Hildegard spricht auch von der Natur der Winde,54 der Tiere,55 der Würmer56 oder der Speisen.57 Die Natur im Kollektivsingular gibt es bei ihr nicht:58 »Natura« ist eine Bezeichnung, die der Präzisierung

49 Vgl. die gleichwohl wichtige Studie, mit vielen weiterführenden Überlegungen von Enders: Naturverständnis (Anm. 35), S. 461-501. 50 Bereits Moulinier: Naturkunde und Mystik (Anm. 15), S. 43, hat darauf hingewiesen, dass »natura« im medizinischen Werk der Hildegard selten ist. 51 Die Verteilung der Bezeichnung über die einzelnen Abschnitte ist nicht gleichmäßig. Sie tritt deutlich häufiger in den ersten beiden als in den späteren Abschnitten auf, vgl. Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), I,39, S. 41; ebd., I,40, S. 42; ebd., II ,284, S. 177; ebd., II ,331, S. 195; ebd., II ,524, S. 294 f.; ebd., IV ,438, S. 260. 52 Ebd., II ,63, S. 63; ebd., II ,129, S. 96; ebd., II ,147, S. 109; ebd., II ,143, S. 106; ebd., II ,233; S. 150. 53 Ebd., II ,143, S. 106; ebd., II ,151, S. 151; ebd., II ,143, S. 106. 54 Ebd., I,19, S. 25. 55 Ebd., I,43, S. 44. 56 Ebd., II ,60, S. 61. 57 Ebd., II ,282, S. 176. 58 Damit steht Hildegard terminologisch den medizinischen Schriften ihrer Tage nahe; in anderen Zusammenhängen lässt sich zeitgenössisch jedoch durchaus eine zunehmende Generalisierung des Naturbegriffs beobachten, vgl. klassisch die Beiträge des Sammelbandes Albert Zimmermann / Andreas

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bedarf, damit auf Vielfältigkeit verweist und zugleich das Charakteristische von Menschen und Nicht-Menschen sprachlich zu erfassen hilft. Dass die Behandlung von Nicht-Menschen nicht nur theologisch geboten, sondern auch medizinisch möglich ist, erklärt sich mit den auch andere Schriften der Hildegard prägenden Mikrokosmos-Makrokosmos-Relationen:59 Die Äbtissin bringt die Beziehungen auf die Formel, dass der Mensch jedes Geschöpf (»homo omnis creatura est«),60 bzw. dass jedes Geschöpf in ihm sei (»omnis creatura in eo est«)61. Der grundsätzliche Mensch-Welt-Zusammenhang konkretisiert sich in der wechselseitigen Beeinflussung der vier Elemente (Wasser, Feuer, Erde, Luft), die ihrerseits seit dem Sündenfall mit den vier Körpersäften (Gelbe Galle, Schwarze Galle, Blut und Schleim) verwoben sind.62 Gut galenisch sind Krankheiten ein Zeichen für eine Störung des Gleichgewichts der Säfte.63 Das gilt für Menschen wie für Nicht-Menschen, wie Hildegard unterstreicht.64 Auf der Mikro-Ebene wird die theologisch wie medizinisch hergeleitete Verwobenheit von Menschen und Nicht-Menschen durch Anthropomorphisierungen, oder wie Ludolf Kuchenbuch sagt: durch »Hominisierungen«,65 also Vermenschlichungen, permanent präsent Speer (Hg.): Mensch und Natur im Mittelalter, 2 Bde., Berlin / New York 1991 (Miscellanea Mediaevalia, Bd. 21,1,2). 59 Hans Liebeschütz: Das allegorische Weltbild der heiligen Hildegard von Bingen, London 1930, S. 59-118; Elisabeth Gössmann: Die Makro-Mikrokosmik als umfassendes Denkmodell Hildegards von Bingen, in: Denkmodelle von Frauen im Mittelalter, hg. von Béatrice Acklin Zimmermann (Dokimion, Bd. 15), Freiburg / Schweiz 1994, S. 19-42; Heinrich Schipperges: Heil und Heilkunst. Hildegards Entwurf einer ganzheitlichen Lebensordnung, in: Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Zum 900.  Geburtstag, hg. von Edeltraud Forster, Freiburg i. Br./Basel / Wien 1997, S. 458-465; ders.: Menschenkunde und Heilkunst bei Hildegard von Bingen. 1179-1979. Festschrift zum 800. Todestag der Heiligen, hg. von Anton Brück (Quellen und Abhandlungen zur mittelalterlichen Kirchengeschichte, Bd. 33), Mainz 1979, S. 295-310; Enders: Naturverständnis (Anm. 35), S. 421. 60 Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), II ,86, S. 76. 61 Ebd., II ,84, S. 75. 62 Vgl. Enders: Naturverständnis (Anm. 35), S. 473-475. 63 Ebd., S. 475. 64 Vgl. etwa Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), II ,97, S. 83 (zum Vergleich Baum  – Mensch).  – Ebd., II ,97, S. 84 findet sich im Anschluss ein Verweis auf Adams Verstoß gegen das Gebot Gottes und die folgende Unordnung der Phlegmata. Die Grenzen zwischen medizinischen und theologischen Begründungen für die Sonderstellung des Menschen lassen sich nur analytisch ziehen. 65 Siehe den Beitrag von Ludolf Kuchenbuch in diesem Band; vgl. außerdem ders.: Zwischen Lupe und Fernblick. Berichtspunkte und Anfragen zur

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gehalten. Das geschieht erstens durch explizite Vergleiche. So hat Gott die Sterne zum Dienst am Menschen geschaffen wie Sklaven, die ebenfalls ihrem Herrn dienen,66 und der Mond ist durch Gefahren bedrängt wie eine Frau unter der Geburt.67 Vielleicht leisten die Vergleiche vor allem eine Veranschaulichung. Aber auch dann bleibt aussagekräftig, dass es der Mensch ist, den Hildegard als Vergleichsobjekt wählt. Zweitens schreibt die Äbtissin Nicht-Menschen Charaktereigenschaften und Fähigkeiten, insbesondere aber Emotionen zu, die gemeinhin als menschlich gelten. Dies geschieht permanent, meistens jedoch en passant. So ist die Sonne erzürnt,68 der Mond wankelmütig,69 sind die Wolken heiter.70 Bemerkenswerter als die Anthropomorphisierungen, die sich auch in anderen Zusammenhängen beobachten lassen,71 ist die Tatsache, dass Hildegard zudem den umgekehrten Weg einschlägt: Sie ›verpflanzlicht‹, ›vertiert‹ und ›verdinglicht‹ Menschen. ›Vertierungen‹ sind im 12. Jahrhundert auch anderweitig belegt, gehen jedoch häufig mit pejorativen Wertungen einher; man denke an Bernhard von Clairvaux, der Muslime im Kontext des Kreuzzugs als Säue adressierte und damit ihre Tötung rechtfertigte.72 Das ist in »Causae et Curae« nicht der Fall. So entspricht die Lust der Frauen der Sonne, die mild und sanft und ausdauernd die Erde mit Wärme durchdringt.73 Und die Augen des Menschen gleichen dem Firmament,74 ohne dass hieraus ein Urteil abgeleitet würde. diävistik als historischer Anthropologie, in: ders., Reflexive Mediävistik. Textus – Opus – Feudalismus, Frankfurt a. M./New York 2012, S. 537-567; hier S. 566 f.; ders.: Bruno Latours Anthropozän und die Historie. Feststellungen, Anknüpfungen, Fragen, in: Historische Anthropologie 26 /3, 2018, S. 379-401; hier S. 393. 66 Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), I,34, S. 38: »Stellas autem deus ad seruitutem hominis fecit, ut ei lucerent et ministrarent. Et ideo etiam opera eius ostendunt, uelut seruus uoluntatem et opus domini sui manifestat.« 67 Ebd., I,37, S. 40: »Et ideo luna multis periculis et tempestatibus opprimitur, quemadmodum etiam mater multa pericula et tristitias in genitura natorum suorum sustinet.« 68 Ebd., I,31, S. 36. 69 Ebd., I,37, S. 39 f. 70 Ebd., I,40, S. 43. 71 Vgl. die Beiträge von Matthias Pohlig, Nadir Weber und Stefan Willer in diesem Band. 72 Vgl. Mechthild Dreyer: Die Wirkkraft des Wortes. Zur Auseinandersetzung mit dem Islam am Bespiel von Petrus Venerabilis und Bernhard von Clairvaux, in: Revista Portuguesa de Filosofia 60 /3, 2004, S. 621-632. 73 Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), II ,150, S. 114. 74 Ebd., II ,182, S. 131; s. auch ebd., II ,183, S. 131.

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Bis auf die Ebene der Bezeichnungen und Begriffe lässt sich die Übertragung von Nicht-Menschlichem auf Menschliches zeigen, so für einen Schlüsselbegriff der Hildegard: die »viriditas«.75 Nicht einfach zu übersetzen, meint »viriditas« »Grünkraft« oder »Lebenskraft«  – und zwar zunächst für Pflanzen,76 doch findet er auch für Tiere und Menschen Anwendung:77 Aber zu anderen Zeiten empfangen sie [die Frauen, B. S.] nicht so leicht, da ihre Glieder dann ziemlich verschlossen sind, wie es bei einem Baum ist, der seine viriditas in der Sommerzeit zum Hervorbringen von Blüten aussendet, sie in der Winterzeit aber nach innen an sich zieht.78 »Viriditas« ist ein Potenzial, das durch äußere Einflüsse (insbesondere die Sonne) aktiviert werden kann und abhängig vom Lebensalter einer Pflanze, eines Tieres oder Menschen ist.79 75 »Viriditas« war mehrfach Gegenstand der Forschung, zu der Verwendung des Begriffs bei frühmittelalterlichen und zeitgenössischen Theologen sowie in der zeitgenössischen Medizin s. die Zusammenschau von Moulinier: Introduction (Anm. 11), S. lxxxv-lxxxvii; vgl. auch Gabriele Lautenschläger: »Viriditas«. Ein Begriff und seine Bedeutung, in: Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Zum 900.  Geburtstag, hg. von Edeltraud Forster, Freiburg i. Br./Basel / Wien 1997, S. 224-237; Heinrich Schipperges: Hildegard von Bingen. Heilkunde. Das Buch von dem Grund und Wesen der Heilung der Krankheiten, nach den Quellen übersetzt und erläutert, Salzburg 1957, S. 301-310; Christel Meier: Die Bedeutung der Farben im Werk Hildegards von Bingen, in: Frühmittelalterliche Studien 6 /1, 2010, S. 245-355; hier S. 280-290 (zum theologischen Werk) u. S. 292-295 (zur Medizin); zu »viritidas«, in den Predigten Hildegards s. auch Peter Loewen: From the Roots to the Branches. Greenness in the Preaching of Hildegard of Bingen and the Patriarchs, in: The Cambridge Companion to Hildegard of Bingen, hg. von Jennifer Bain, Cambridge 2021, S. 125-143; zum hier Folgenden s. bes. Sweet: Hildegard (Anm. 21), S. 400-402. 76 Vgl. z. B. Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), I,20, S. 27 (Pflanzen und Blumen); ebd., I,37, S. 39 (Obst); ebd., I,45, S. 44 (Kräuter). 77 Vgl. z. B. ebd., I,46, S. 45 (jedwede Kreatur); ebd., I,53, S. 54 (Tiere); ebd., II ,76, S. 71 (Adam); ebd., II ,77, S. 72 (Seele); ebd., II , 82, S. 74 (Menschen); ebd., II ,84, S. 75 (Menschen); ebd., II ,89, S. 77 (Adam); ebd., II ,149, S. 113 (Mangel der »viriditas« bei Frauen); ebd., II ,173, S. 127 (Frauen). 78 Ebd., II ,222, S. 143: »sed in alio tempore tam facile non concipiunt, quoniam menbra earum tunc aliquantum constricta sunt, uelut in arbore est, que uiriditatem suam in estiuo tempore ad producendum flores emittit, in hyemali autem introrsum eam ad se trahit.« 79 Ebd., II ,227, S. 145 f.: »Riuulus autem menstrui temporis in muliere est genitiua uiriditas et floriditas eius, que in prole frondet, quia ut arbor uiriditate sua floret et frondet et fructus profert, sic femina de uiriditate riuulorum

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In Anlehnung an Hildegards eigene Terminologie schlage ich vor, von der ›Kreatürlichkeit‹ des Menschen zu sprechen. Bei Hildegard tritt sie gleichgewichtig neben die Anthropomorphisierung von Nicht-Menschen. Beides sind Strategien, Entsprechungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen denkbar und soziale und kommunikative Beziehungen praktizierbar zu machen. Begründet werden sie theologisch und medizinisch: Aus dem Sündenfall, der Auswirkungen auf Menschen wie Nicht-Menschen hat, ergibt sich für den Menschen die Pflicht, soziale Beziehungen zu Nicht-Menschen einzugehen; die vielfältigen Mikrokosmos-Makrokosmos-Relationen ermöglichen es, diese auch zu praktizieren.

III. Vor dem Hintergrund prinzipieller Verwobenheit von Menschen und Nicht-Menschen lassen sich drei Typen sozialer Beziehungen in »Causae et Curae« erkennen, die es im Folgenden zu betrachten gilt: Strafbeziehungen (1), Pflege- bzw. Heilbeziehungen (2) und sexuelle Beziehungen (3). Grundsätzlich eint alle drei von Hildegard thematisierten Beziehungstypen, dass sie hierarchisch strukturiert sind. So heißt es an programmatischer Stelle, zum Auftakt des zweiten Abschnitts, der den Menschen ins Zentrum der Betrachtung rückt: »Gott hat den Menschen so geschaffen, dass alle Tiere seinem Dienst unterworfen sind.«80 Gleiches gilt für Sterne, die »ad seruitutem hominis«81 erschaffen wurden: Der Mensch ist »der eigentliche Grund und Herr der Schöpfung«.82 menstrui sanguinis flores et frondes in fructu uentris sui educit. […] In forti autem etate, cum menbra eius confortata sunt, uiriditas sanguinis floriditatem educit ad prolem. Sed in plena et perfecta etate sanguis eius minuitur, ita quod etiam uiriditas floriditatis sanguinis ipsius euanescit et quod caro eius contrahitur et durior et tenacior erit, sed tamen debilior, quam prius fuisset.«  – Ausgehend von der »viritidas« ließe sich zeigen, wie sich in »Causae et Curae« lineare (vgl. oben, Anm. 13) und zyklische Zeitvorstellungen auf originelle Weise überkreuzen. Hier wäre eine Gesamtschau des Werkes Hildegards aufschlussreich, zumal Gott an anderer Stelle als »plantator« angesprochen wird, s. Meier: Die Bedeutung der Farben (Anm. 75), S. 282 u. 284. 80 Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), II ,56, S. 59: »Deus ita creauit hominem, quod omnia animalia ad seruitutem eius subiecta sunt.« – Siehe auch ebd., II ,60, S. 60 f.: »Sed et sicut animalia ad seruitutem hominis creata sunt et adiutorium illi subministrant […].« 81 Ebd., I,34, S. 38. 82 Ebd., II ,128, S. 93: »propria causa et dominator creature«.

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Eng mit dem Dienstverhältnis ist der Nützlichkeitsaspekt von bestimmten Nicht-Menschen für den Menschen verknüpft. In der »Physica« erhebt Hildegard die Nützlichkeit von Pflanzen sogar zum Ordnungskriterium.83 Das ist in »Causae et Curae« nicht der Fall, doch dient auch hier die Frage der Nützlichkeit dazu, Nicht-Menschen zu differenzieren. So werden Vögel und andere Tiere als nützlich bzw. potenziell nützlich für den Menschen charakterisiert,84 bestimmte Gewässer hingegen als nicht zu gebrauchen bestimmt85 oder Kräuter in gute, nämlich nützliche, und schlechte, also unnütze unterteilt.86 Semantisch um »Dienst« und »Nützlichkeit« organisiert,87 sind alle Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen asymmetrisch angelegt. Diese Asymmetrien sind indes kein Alleinstellungsmerkmal für Beziehungen zu Nicht-Menschen; im 12. Jahrhundert bestimmen sie jedwede menschliche Ordnung.88 Entsprechend unterscheidet auch Hildegard hier nicht zwischen Menschen und Nicht-Menschen: Die Frau ist dem Mann ebenso unterworfen89 wie der servus dem Herrn.90 Zuweilen vergleicht Hildegard solche Hierarchieverhältnisse zwischen Menschen und Nicht-Menschen explizit: 83 Moulinier: Naturkunde und Mystik (Anm. 15), S. 54; dies.: La connaissance (Anm. 28), S. 201. 84 Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), II ,61, S. 62: »Volucres autem et animalia et bestie, que in usus hominum uenire possunt et sunt […].« 85 Ebd., I, 52, S. 49: »inutiles sunt ad usus hominum«. 86 Ebd., II ,64, S. 64: »bonas et utiles ac malas et inutiles herbas«. – Man kann fragen, ob man es hier mit einer frühen Form der Instrumentalisierung von ›Natur‹ zu tun hat, die Ludolf Kuchenbuch in Anlehnung an Ivan Illich auf das 13.  Jahrhundert datiert, s. Ludolf Kuchenbuch: Die dreidimensionale Werk-Sprache des Theophilus presbyter, in: ders., Reflexive Mediävistik. Textus – Opus – Feudalismus, Frankfurt a. M./New York 2012, S. 341-415; ders.: Bruno Latour (Anm. 65) hier S. 395-397. Allerdings: So prominent »usus« in »Causae et Curae« ist, das Ziel, auf das der Nutzen hinführt, bleibt vage. Deshalb schlage ich vor, »Nützlichkeit« hier im Sinne von »Dienstbarkeit« zu verstehen. 87 Das gilt mit einer einzigen Ausnahme, auf die unten zurückzukommen sein wird: Die Beziehung zwischen Gott und den Menschen wird zwar ebenfalls hierarchisch, jedoch nicht als Dienstverhältnis konzipiert, vgl. unten, ab Anm. 116. 88 Vgl. oben, Anm. 5. 89 Ebd., II ,59, S. 60: »Mulier […] uiro subiacet«; vgl. auch: ebd., II ,138, S. 103: »mulier est seruitium uiri«. – Vgl. Joan Cadden: It Takes All Kinds. Sexuality and Gender Differences in Hildegard of Bingen’s »Book of Compound Medicine«. Er weist auf die Unterordnung der Frau hin (ebd. S. 22), betont jedoch zu Recht, wie selbstständig und positiv Hildegard Frauen entwirft (ebd. 29 f.). 90 Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), I,34, S. 38.

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Aber die Sterne werden vom gewaltigen Glanz der Sonne, die den Tag bringt, überdeckt, sodass sie am Tag nicht gesehen werden können, weil der Glanz [der Sonne, B. S.] größer ist als ihr Licht, so wie das gemeine Volk verstummt, wenn die Fürsten genannt werden, und das gemeine Volk hervortritt, wenn die Fürsten sich zurückziehen. Andernfalls würden [die Sterne, B. S.] sowohl am Tag wie in der Nacht gesehen.91 Kitt aller Beziehungen ist der Dienst bzw. der Nutzen, ganz gleich, ob Menschen oder Nicht-Menschen adressiert werden; in anderen Aspekten lassen sich für die drei zu untersuchenden Beziehungstypen jedoch markante Unterschiede ausmachen. (1) Nicht-Menschen werden in »Causae et Curae« nicht bestraft, jedenfalls nicht durch Menschen und auch sonst nicht unmittelbar.92 Ziel unmittelbarer Strafe ist allein der Mensch, der für sein Handeln moralisch verantwortlich gemacht wird. Mit Gesa Lindemann könnte man den Sündenfall als »Krise im Handlungsablauf« lesen,93 nach der die Mensch-Gott-Beziehung (und auch diejenige der Menschen zu den übrigen Geschöpfen) neu geregelt werden muss. Leitmotivisch problematisiert Hildegard die durch Adam und Eva enttäuschte Erwartung ebenso wie die Strafen, die daraus folgen.94 Umgekehrt erkennt Adam Gottes Strafen für sein Vergehen an, versteht also, luhmannisch formuliert, die ›Mitteilung‹: »Ich muss«, so konstatiert er, »auf andere Weise leben, als Gott mir vorher zu leben verlieh«, und beginnt zu arbeiten.95 Gott macht den Menschen zum Akteur im Wortsinn, zu jemanden, der nach dem Sündenfall auf neue Weise handeln muss. Einmal beschweren sich Sonne und Mond über den Menschen und bestrafen sein Fehlverhalten:

91 Ebd., I,33, S. 37: »Sed stelle a maximo splendore solis, qui diem affert, obteguntur, ita ut in die uideri non possunt, quia splendor eius maior est splendori earum, quemadmodum cum principes nominantur, plebeius populus conticiscit et, cum principes recedunt, plebeius populus precedit; alioquin tam in die quam in nocte cernerentur.« 92 Vgl. jedoch oben, Anm. 47. 93 Vgl. den Beitrag von Gesa Lindemann im vorliegenden Band. 94 Vgl. oben, Abschnitt II . 95 Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), II ,90, S. 78: »ac lacrimando dixit: ›Alio modo uiuere debeo, quam prius mihi uiuere deus dederit.‹ Et ita cum sudore laborare cepit.«

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Und wenn er [der Mensch, B. S.] sich mit bösen Taten über die Gerechtigkeit hinwegsetzt, beschwert und verdunkelt er die Sonne und den Mond, sodass sie nach seinem Beispiel Stürme, Starkregen und Dürre bewirken.96 Im Sinne Lindemanns kann man Sonne und Mond als Dritte in der Straf-Beziehungsgeschichte deuten, denen die Aufgabe zufällt, das Vergehen des Menschen zu objektivieren. Tatsächlich wird die Passage mit dem Verweis auf das göttliche Urteil eingeleitet;97 explizit hergestellt wird ein solcher Konnex jedoch nicht. Die Strafbeziehung von Gott und den Menschen ist auf lange Dauer angelegt: Mit den Konsequenzen der Strafen hat der Mensch (und mit ihm die Nicht-Menschen) nach dem Sündenfall umzugehen. Die Folgen lassen sich durch Medizin lindern, aber die Ordnung wird erst durch das Jüngste Gericht wiederhergestellt.98 (2) Anders dimensioniert als die alles prägende Strafbeziehung zu Gott sind Pflege- und Heilbeziehungen, die einen (wenn auch nicht vollständigen) Beitrag zur ›Reparatur‹ der göttlichen Ordnung leisten. Mit Florian Muhle könnte man sagen, dass Tiere und Pflanzen im Rahmen der Pflege in einer spezifischen Rolle als Kranke adressiert werden und so für den Moment eine soziale Adresse als ›Person‹ erhalten.99 Im besten Fall wird die Adresse durch die Heilung wieder obsolet. Tiere oder Pflanzen werden durch diesen Typ von Beziehung also nicht grundsätzlich und auch nicht permanent zum sozialen Gegenüber des Menschen, sondern nur in einer zeitlich begrenzten Situation, in der ein bestimmtes, nämlich ein erkranktes Tier oder eine zu pflegende Pflanze eine Heilbeziehung zu einer spezifischen Ärztin, Pflegerin oder Gärtnerin eingeht. Wie gezeigt, werden Tier-Mensch- bzw. Pflanzen-Mensch-Beziehungen in der Pflege durch den Sündenfall notwendig, die Möglichkeit der Behandlung von Tieren und Pflanzen ergibt sich aus dem Umstand, dass sie analog zum Menschen durch das Verhältnis der Körper96 Ebd., I,37, S. 40: »et cum malis operibus iustitiam supergreditur, solem et lunam aggrauat et obnubilat, ita ut secundum eum in tempestatibus, in pluuiis et in siccitate faciunt.«  – Vgl. auch Enders: Naturverständnis (Anm. 35), S. 477; ähnliche Beschwerdeadressen, hier jedoch ohne Strafen, finden sich bei Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), I,39, S. 41 f.; ebd., VI ,524, S. 294. 97 Ebd., I,37, S. 40: »diuino iudicio«. 98 Vgl. oben, Anm. 44. 99 Vgl. den Beitrag von Florian Muhle im vorliegenden Band.

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säfte und Elemente geprägt sind.100 In diesem Sinne erklärt Hildegard häufig, dass eine Arznei für Menschen wie Tiere tauge, ebenso häufig differenziert sie jedoch auch. Prinzipiell seien die Anwendungen vergleichbar, doch gelte es nach Qualität und Quantität zu unterscheiden. So registriert die Äbtissin die Auswirkungen des abnehmenden und zunehmenden Mondes auf die Menstruation von Frauen, um dann fortzufahren: Auch bei den wilden Tieren vermehrt sich das Blut beim Zunehmen des Mondes und mindert sich bei seinem Abnehmen, aber dennoch weniger als bei den Menschen, außer bei jenen Tieren, die aus dem Schweiß und der Feuchtigkeit der Erde entstehen, weil sie mehr aus Gift und Schlacke als aus Blut bestehen, und mit Ausnahme der Fische, die im Wasser leben und aus dem Wasser entstehen und wenig Blut haben. Auch in den Bäumen, die in ihren Wurzeln treiben, vermehrt sich der Saft bei Zunahme des Mondes und mindert sich beim Abnehmen des Mondes.101 Aus diesem Wissen leitet Hildegard spezifische Behandlungen für Bäume ab. Sie sollen bei abnehmendem Mond gesetzt oder beschnitten werden, weil sie dann mehr Wurzeln ausbilden. Jeden anderen Zeitpunkt quittieren sie mit geringer Wurzelbildung, wie die Erfahrung lehrt.102 Die Gärtnerin hat also das Handeln der Bäume für ihr Tun in Rechnung zu stellen. Die Beziehung geht über ein reines Reiz-Reaktions-Verhalten hinaus, wie sich am Beispiel des Aderlasses zeigen lässt: Es sind stets mehrere Optionen der Anschlusskommunikation möglich, sodass sie situativ-spezifisch erfolgen muss. Wie Menschen, so profitieren auch Tiere vom Aderlass, den man anwendet, um das Blut von Schleim und Verdauungssäften zu reinigen.103 Je nachdem, ob ein Pferd, ein Rind oder ein Esel beleibt oder mager ist, soll ein halber oder ganzer Becher Blut abgenommen werden – so weit, so routiniert. Dann muss das Tier 100 Vgl. oben, Abschnitt II . 101 Ebd., II ,154, S. 117: »Sed et in animalibus brutis in augmento lune sanguis augetur et in detrimento eius minoratur, sed tamen parcius quam in hominibus, exceptis illis animalibus, que de sudore et humore terre nascuntur et nutriuntur, que magis de ueneno et de tabe quam de sanguine existunt, et exceptis piscibus, qui in aqua uiuentes ex aqua existunt, qui modicum sanguinis habent. In arboribus quoque, que in radicibus suis frondent, in augmento lune succus augetur et in detrimento lune minoratur.« 102 Ebd., II ,155, S. 118. 103 Ebd., II ,258, S. 159.

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jedoch gemäß seiner spezifischen Konstitution Schonkost erhalten und soll nicht arbeiten, bevor es seine Kräfte wiedererlangt hat.104 Die Kommunikation zwischen Mensch und Tier, die die Anamnese wiederholt im Laufe des Heilungsprozesses fordert, bleibt hier zwar eine nicht ausformulierte Leerstelle. Sie muss indes (nicht zwingend wortgestützt) stattfinden, um festzustellen, was dem Tier genau zu welchem Zeitpunkt fehlt. Das Tier muss dies seinerseits – auf welchem Weg auch immer – mitteilen, und an ebendiesen Mitteilungen, die von der Pflegerin verstanden werden müssen, sind die nächsten Schritte der Behandlung auszurichten. Die Frage, weshalb Hildegard die zu erschließenden Adressierungen nicht weiter ausbuchstabiert, wird man vielleicht mit einem Seitenblick auf menschliche Patienten beantworten können: Die Vorstellung, dass Ärzte und Patienten eine durch Kommunikation geprägte Beziehung auf Zeit eingehen, ist das gesamte Mittelalter über geläufig. Aber die Frage, auf welche Weise ein Arzt genau mit welchen Patienten wie kommunizieren und so die gemeinsame Beziehung gestalten soll oder wie er ihr Vertrauen und die für die Heilung unerlässliche Mitarbeit der Kranken gewinnt,105 rückt auch für Menschen erst ab dem ausgehenden 13. Jahrhundert in den Fokus praktizierender Ärzte. Es hieße, ein Werk des 12. Jahrhunderts überzustrapazieren, erwartete man hier, ausführlich über die Art und Weise der Kommunikation zwischen Arzt und Patient in Hinblick auf Tiere und Pflanzen unterrichtet zu werden. (3) Anders als die alles und dauerhaft prägende Beziehung der Menschen zu Gott, dessen Strafen leitmotivisch wiederholt werden, und anders auch als die Pflegebeziehungen zwischen Menschen und Tieren oder Pflanzen, die vielfach, aber situativ praktiziert werden, betont Hildegard für Sexualbeziehungen (zunächst zwischen Menschen), dass sie potenziell jederzeit und permanent möglich sind. Doch empfiehlt sie sie nur für bestimmte Zeiten, abhängig vom Stand des Mondes und der Gestirne, während sie für andere davon abrät.106 104 Ebd., IV ,456, S. 226. 105 Vgl. neben der in Anm. 24 genannten Literatur auch z. B. Roger French: The Medical Ethics of Gabriele de Zerbi, in: Doctors and Ethics. The Historical Setting of Professional Ethics, hg. von Andrew Wear, Johanna Geyer-Kordesch und Roger French (Clio Medica, Bd. 24), Leiden 1993, S. 74 f. sowie Florence Eliza Glaze / Brian K. Nance: Introduction, in: Between Text and Patient. The Medical Enterprise in Medieval and Early Modern Europe, hg. von dens. (Micrologus’ Library, Bd. 39), Florenz 2011, S. 3-21. 106 Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), II ,38, S. 41.

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Auch der Beischlaf von Mensch und Tier, den sie für falsch hält, findet nicht fortwährend statt, vor allem aber unterliegt seine Qualität einem Wandel in der Zeit: Damals [vor der Sintflut, B. S.] hatten die Menschen Gott vergessen, so dass sie mehr wie Vieh als Gott entsprechend handelten. Daher liebten viele das Vieh mehr als die Menschen, sodass sich Frauen wie Männer auch mit dem Vieh derart vermischten und gemein machten, dass das Bild Gottes in ihnen schon fast aufgegeben war. Und das ganze Menschengeschlecht verwandelte und verformte sich zu Ungeheuern, sodass manche Menschen ihr Verhalten und ihre Stimmen wie Tiere ausprägten im Laufen, Geheul und Lebensweisen. Freilebende Tiere und Vieh waren nämlich vor der Sintflut noch nicht von so großer Wildheit, wie sie später wurden, und die Menschen flohen nicht vor ihnen und sie blieben nicht vor den Menschen und sie erschraken nicht voreinander. Vielmehr blieben Wild- und Haustiere gern bei den Menschen und die Menschen bei ihnen. Wild- und Haustiere beleckten die Menschen und die Menschen sie, deshalb liebten sie einander mehr in ihrer Gegensätzlichkeit und hingen aneinander.107 Die sich vor dem Sündenfall allmählich vollziehende Annäherung vom Menschen an Tiere wird in dieser Erzählung auf die Spitze getrieben. Oder anders gewendet: Die Geschichte der Beziehung von Mensch und Tier vollzieht sich in mehreren Schritten und findet hier ihren negativen Höhepunkt.108 107 Ebd., II ,92, S. 80 f.: »Tunc etiam homines obliti erant deum, ita quod plus secundum pecora quam secundum deum faciebant. Vnde multi magis pecora quam homines diligebant, ita quod etiam pecoribus tam femine quam mares tali modo conmiscebantur et conmunicabant, quod ymago dei iam pene in eis destituta fuit in eis. Et omne genus humanum in monstra transmutatum et transformatum, ita quod etiam aliqui homines secundum bestias mores et uoces suas formantes constituebant currendo, ululando et uiuendo. Nam bestie et pecora ante diluuium tante asperitatis nundum fuerunt, ut postea facta sunt. Nec homines illa nec illa homines fugiebant, nec ab inuicem exterrita fuerunt. Sed bestie et pecora cum hominibus libenter manebant et homines cum illis, quia etiam in primo ortu simul originem pene sumpserunt. Sed et bestie et pecora lambebant homines et homines illa, unde et magis se inuicem in contrarietate amabant et sibi coherebant.« 108 In der »Physica« zieht Hildegard zwischen der Vertreibung aus dem Paradies und der Sintflut eine weitere Zwischenstation in die Beziehungsgeschichte zwischen Tieren und Menschen ein: den Brudermord von Kain an

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Hildegards ablehnende Haltung wird gleich zu Beginn der Passage durch den Hinweis darauf deutlich, dass die Menschen Gott vergessen haben. Bereits hier lässt sich erahnen, dass es sich womöglich nicht nur um die Mensch-Tier-Zweier-, sondern um eine Dreiecksbeziehung (Mensch-Gott-Tier) handelt, ausgeführt wird dies jedoch erst später.109 Im 12. Jahrhundert kann die Position der Äbtissin nicht prinzipiell überraschen: Im Alten Testament wird der Beischlaf mit Tieren verflucht (5. Mose 27,21) oder mit dem Tod geahndet (3. Mose 20,15 f., 3. Mose 22,18), im kanonischen und weltlichen Recht werden im Mittelalter entsprechende Strafen angedroht.110 Für die hier verfolgte Fragestellung ist Hildegards Begründung des Urteils aufschlussreich. Das eigentliche Skandalon wird durch die Wahl der Verben zum Ausdruck gebracht: »miscere« (»vermischen«, »vermengen«, aber auch »verwirren«, »in Unordnung bringen«) und »communicare« (!), hier im Sinne von »vereinen«, »zusammenlegen«, »gemein machen«. Mensch und Tier »vermischen« sich auf eine Art und Weise, dass sie nicht mehr als sie selbst zu erkennen sind. Hildegards Angst ist die Angst vor Hybridität. Menschen werden durch Sexualbeziehungen mit Tieren zu Monstren, Wildtiere verlieren ihre Wildheit. In und durch die Vermischung gefährden die Grenzgänger nicht nur sich selbst, sondern auch die Grenze und damit die gesamte Ordnung. Im Gegensatz zu den Pflegebeziehungen werden im Sexualakt die Grenzen zwischen Menschen und Tieren nicht nur kurzzeitig passiert, sondern grundsätzlich infrage gestellt. Es gilt daher, die Grenzen wiederherzustellen, für jedermann klar erkennbar und möglichst wenig Abel, der mit der Erschaffung todbringender Würmer von Gott bestraft wird, s. ebd. (Anm. 9), VIII , Prolog, S. 363. – Vgl. hierzu auch Moulinier: Naturkunde und Mystik (Anm. 15), S. 54. Demgegenüber verläuft die Entwicklung in »Causae et Curae« eher allmählich von dem Sündenfall auf die Sintflut zu. 109 Vgl. unten, Anm. 111. 110 Vgl. Dominik Lang: Sodomie und Strafrecht. Geschichte der Strafbarkeit des Geschlechtsverkehrs mit Tieren, Stuttgart 2008, bes. S. 47-126. Im Kontext der übergeordneten Fragestellung ist bemerkenswert, dass bereits im Alten Testament davon die Rede ist, dass auch die beteiligten Tiere getötet werden sollen (3. Moses 20,16); vereinzelt wird die Bestrafung der Tiere auch im Mittelalter gefordert.  – Mitte des 11.  Jahrhunderts bringt Petrus Damiani »Sodomie« erstmals als Substantiv auf einen Begriff, den er mit Blasphemie parallelisiert, allerdings gerade nicht für den Sexualakt mit Tieren verwendet, sondern auf Analverkehr und den Sexualakt zwischen Männern bezieht, vgl. hierzu Mark D. Jordan: The Invention of Sodomy in Christian Theology, Chicago / London 1997, S. 45-66.

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durchlässig zu gestalten. Genau darin besteht nach Hildegard der Sinn der Sintflut, denn: Vor der Sintflut war die ganze Erde voll mit Menschen und Tieren und sie waren weder durch Gewässer noch durch Wälder voneinander getrennt, weil es noch keine großen Flüsse und großen Wälder gab, sondern nur Quellen und kleine Bäche, die leicht überschritten werden konnten, und wenige Haine, die die Menschen leicht durchquerten. Aber nach der Sintflut ergossen sich einige Quellen und einige Bäche in große und gefährliche Flüsse und es wurden große Wälder, durch die auch Menschen und Tiere getrennt wurden.111 Allerdings, unüberbrückbar sind die Grenzen auch nach der Sintflut nicht: »Bis heute [Hervorhebung B. S.] gibt es auch einige wilde und zahme Tiere, die sich von den Menschen […] sehr viel von der menschlichen Natur angeeignet haben.«112 Neben der unzulässigen Vermischung von Mensch und Tier und der damit einhergehenden Auflösung sozialer Grenzen ergibt sich aus dem Dargestellten noch ein weiteres Problem: Das »Bild Gottes« (»ymago dei«) im Menschen droht zu schwinden.113 Hier bezeichnenderweise in einer Liminalsituation erstmals erwähnt, wird der Verweis auf 1. Moses 1,27 noch einmal angeführt, als es gilt, Grenzen zu stärken – dort gegen die Einflüsterungen des Teufels.114 Anders als die prinzipielle Verwobenheit von Menschen und Tieren, die in »Causae et Curae«, wie gezeigt, breiten Raum einnimmt und die legitim, ja geboten ist, solange sie die Pflege der Geschöpfe Gottes ermöglicht, und die erst dann problematisch wird, wenn sie (in sexuellen Beziehungen) Grenzen gefährdet, führt Hildegard die Got111 Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), II ,95, S. 82: »Ante diluuium autem tota terra hominibus et bestiis plena fuit, nec aquis nec siluis ab inuicem separati fuerunt, quia nundum magna flumina aut magne silue erant, sed tantum fontes et parui riuuli, qui facile transuadari potuerunt, et pauca nemora, que facile homines transcurrebant. Sed post diluuium quidam fontes et quidam riuuli in magna et periculosa flumina effusi sunt, et magne silue creuerunt, quibus etiam homines et bestie separati sunt […].« – Siehe zu dieser Passage auch Moulinier: Naturkunde und Mystik (Anm. 15), S. 56, die die Verbindung vom Wilden (»silvestre«) und dem Wald (»silva«) betont. 112 Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), II ,93, S. 81: »Sed et quedam bestie et pecora adhuc sunt […] plurimum sibi de humana natura ab hominibus contraxerunt.« 113 Zitat oben, Anm. 107. 114 Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), II ,298, S. 183.

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tesebenbildlichkeit des Menschen kaum aus. Vielleicht lässt sich dennoch die These wagen, dass es gerade die Beziehungen zu Tieren und Pflanzen sind, die der Mensch in der Pflege eingeht, die seine Nähe zu Gott konstituieren. Hildegard expliziert das nicht, doch lässt sich der Konnex über Begriffsgleichheit herleiten. Nachdem Adam Arbeiten als Strafe für den Sündenfall anerkannt hat115, heißt es: Adam leuchtete vor der Sünde und ohne Werke [operibus] wie die Sonne, weil er noch keine Werke [aliquod opus] vollbracht hatte. Aber nach Ende der Zeiten werden die Gerechten wieder wie die Sonne leuchten. […] Sie werden wegen ihrer Werke [operibus] leuchten [Hervorhebungen B. S.].116 Die in »Causae et Curae« thematisierten Werke sind die Pflege und Heilung von Menschen, Tieren und Pflanzen, Werkmeister schlechthin ist jedoch Gott. Mit der Schöpfung, die als »opus« tituliert wird, leitet die Äbtissin »Causae et Curae« ein.117 Folgt man dieser Deutung, dann entpuppt sich der Sündenfall, beziehungsweise der Umstand, dass der Mensch fortan arbeiten muss, als eine veritable Chance: Stück für Stück kann der Mensch so durch »opera« seine Gottesebenbildlichkeit unter Beweis und damit wieder herstellen. Es sei sofort zugestanden, dass »opus« kein häufig verwendeter Terminus in »Causae et Curae« ist, um so auffälliger ist es jedoch, dass Hildegard ihn ausschließlich und systematisch für Gott und den Menschen reserviert. Auch Tiere »arbeiten«,118 vollbringen jedoch keine »opera«, sondern ›nur‹ ein »servitium«.119 Die »opera« des Menschen scheinen mehr als Dienst, auch mehr als Gottesdienst zu sein (sonst hätte ­Hildegard auf das für alle übrigen Beziehungen verwendete »servi115 Zitat oben, Anm. 95. 116 Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), II ,90, S. 78: »Et Adam ante preuaricationem absque operibus ut sol fulgebat, quia non dum aliquod opus fecerat. Sed post finem seculi iterum iusti ut sol fulgebunt. […] Sed cum operibus fulgebunt.« 117 Ebd., I,2, S. 19. – Vgl. zu Gott als »Werkmeister« in Hildegards visionären Schriften Meier: Operationale Kosmologie (Anm. 25), S. 60-62. 118 Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), IV ,456, S. 266: »in labore est« (in Bezug auf Esel, Rind und Pferd). 119 Interessanterweise lassen sich einige Parallelen zu dem erkennen, was Kuchenbuch: Dreidimensionale Werk-Sprache (Anm. 86) zur Verwendung von »opus« bei Theophilus gezeigt hat: Wie dort setzen sich auch hier die »opera« aus mehreren Tätigkeiten zusammen (ebd., S. 376); wie dort sind sie auch hier final ausgerichtet (ebd.), während demgegenüber »labor« stärker mit konkreter Mühsal assoziiert wird (ebd., S. 383).

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tium« zurückgreifen können). Eine besondere Qualität des Menschen und seiner Arbeit scheint genau darin zu bestehen, dass er damit Beziehungen zu mehreren und unterschiedlichen Geschöpfen eingeht.120 Auch in dieser Hinsicht entpuppt sich die Beziehung der Menschen zu Gott als Sonderfall. Hildegard handelt nicht von der Natur, sondern vom Menschen und seinen vielfältigen Beziehungen zu Nicht-Menschen. Die prinzipielle Bezogenheit wird theologisch und medizinisch begründet und im Detail durch Anthropomorphisierungen von Nicht-Menschen beziehungsweise durch die Betonung der Kreatürlichkeit des Menschen unterstrichen. Alle Beziehungen, die Hildegard thematisiert, sind asymmetrisch – ganz gleich, ob Menschen oder Nicht-Menschen adressiert werden. Dass die Asymmetrie und damit die sozialen Grenzen gefährdet sind, ist eines der zentralen Probleme der sexuellen Beziehungen zwischen Menschen und Tieren. In »Causae et Curae« finden sich zahlreiche Differenzierungen unterschiedlicher Nicht-Menschen (wild /zahm, nützlich /nicht-nützlich, beleibt /hager), doch führen sie nicht zu einer klaren Hierarchie unterschiedlicher Gattungen. Stattdessen zeigt sich, dass alle sozialen Beziehungen zu Nicht-Menschen letztlich auf den gleichen Prämissen beruhen (zumindest, solange man Gott als Nicht-Menschen außen vor lässt). Für Hildegard sind es daher weniger die adressierten NichtMenschen als die Beziehungstypen, die durchlässigere oder undurchlässigere Grenzen fordern. Solange Grenzen nicht permanent und dauerhaft überschritten werden und unzulässige Vermischungen nach sich ziehen, sind Grenzgänge theologisch wie medizinisch möglich, ja sogar sinnvoll. In diesem Sinn sind situative Beziehungen zu NichtMenschen (die Muhle untersucht und hier für Pflegebeziehungen diskutiert wurden) in Hildegards Augen nicht nur unproblematisch, sondern heilsgeschichtlich notwendig. Problematisch ist erst die dauerhafte Gefährdung normativ gesetzter Grenzen (wie sie Lindemann untersucht). Die Beziehung der Menschen zu Gott stellt auch in dieser Hinsicht einen Sonderfall dar, weil sie auf Dauer angelegt und dennoch  – natürlich  – gut ist. Muhles und Lindemanns Perspektiven schließen sich zumindest mit Blick auf Hildegards Schriften nicht aus: Es gibt sie beide, situative wie langfristige Grenzüberschreitungen; 120 Für die vorgeschlagene Deutung ließe sich eventuell auch anführen, dass die Gottesbildlichkeit des Menschen erst nach dem Sündenfall angesprochen wird, s. Hildegard von Bingen: Causae et Curae (Anm. 11), II ,130, S. 101 (»speculum omnium miraculorum dei«).

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ihre Bezüge, Bewertungen und Konsequenzen gilt es künftig auch in anderen Kontexten genauer in den Blick zu nehmen. Die Analyse von »Causae et Curae« sensibilisiert für den Umstand, dass soziale Grenzen geworden und damit wandelbar sind. Vor dem Sündenfall werden sie anders gezogen als nach ihm, vor der Sintflut anders als nach ihr. Mit diesem Wandel gehen neue »Adressordnungen« (Muhle) einher. Hildegard mag den Wandel nicht gutheißen, aber sie negiert ihn nicht. Wenn eine Äbtissin des 12.  Jahrhunderts nicht davor zurückschreckt, eine Geschichte der Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen zu entwerfen, die den Wandel sozialer Grenzen einschließt, sollte uns das eine Aufforderung sein, künftig diesen Wandel sorgsamer als bislang zu kartieren und zu historisieren.

Ludolf Kuchenbuch

»Omnis creatura in homine est« Was kommt mit der Entgrenzung des alteuropäischen Hominozentrismus mittels postmoderner Theorien des Sozialen? Es war für mich ein überraschungsreiches Vergnügen und eine anhaltende Herausforderung, dem Experiment beizuwohnen, das Barbara Schlieben und Matthias Pohlig unter dem Titel »Die Grenzen des Sozialen. Kommunikation mit nicht-menschlichen Akteuren in der Vormoderne« in der Form locker gefügter Vorlesungen im Sommersemester 2021 an der Humboldt-Universität zu Berlin gewagt haben. Was ich zum Abschluss der Reihe anhand meiner Notizen als bilanzierender Zuhörer mehr oder weniger spontan zum Besten geben konnte, war eher tollkühn und für die Schriftform schwerlich zu halten. So hat mich die Bitte, im Überblick über das Ganze mir augenfällige Gesichtspunkte zur Weiterführung der Initiative beizusteuern, in einige Verlegenheit gebracht, auch terminologisch und darstellungssprachlich. Es kann gar nicht um grundsätzliche Skepsis gehen. Die Initiative ist mutig, die Problembegründung originell und plausibel, und die Fragestellung hat sich für alle Autor:innen in den von ihnen gewählten Fallstudien als erneuernd und empirisch umsetzbar erwiesen  – wenn auch in erwartbar unterschiedlichem Ausmaß. Wirklich bedauerlich ist nur, dass der Rahmen einer einsemestrigen Vorlesung nicht mehr Stoff zur Sache zuließ. Man kann nur betonen und hoffen, dass das neue Fragen nach den Zusammenhängen zwischen »Agency«, »Kommunikation« und »Adressierung« mit dem Ziel einer aufhebenden historischen Kritik des gängigen Anthropozentrismus – ich will mich für die alteuropäische Vormoderne fortan vorläufig auf okzidentale ›Hominialität‹ bzw. ›Hominisierung‹ festlegen, dazu abschließend mehr – weitergeht und mittelfristige Förderung erfährt. Zu bilanzieren erschien mir verfrüht. Mein Durchdenken des Vorliegenden hat nur zu einer Art Zeichensetzung, einer Ansammlung von Punkten, Semikola, Ausrufe- und Fragezeichen im engen Anschluss an die Beiträge geführt, an die ich dann generelle Erwägungen anschließe.

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I.

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Wie ernst ist das Experiment gemeint? Die Initiative soll zu einer Erneuerung der Sozialgeschichte beitragen. Dabei soll es durchaus um Kernfragen zur Vergesellschaftung beziehungsweise Sozia(bi)lität im vormodernen Europa gehen. Die bisherige Leitvorstellung vom ›Sozialen‹ steht auf dem Prüfstand. Damit ist nicht nur eine neue Etappe der Gegenstandserweiterungen gemeint, die ja seit einem halben Jahrhundert im Forschen über die Stände, Klassen und Gruppen, zuerst in ihren Strukturen, dann ihren materiellen und mentalen Lagen und Beziehungen, seit der Jahrtausendwende in ihren kulturellen Manifestationen stattfindet und zur Beachtung und Nutzung ganz anderer Überlieferungsbestände sowie zur Ausprägung neuer Formen der Subdisziplinierung führt. Als ihre repräsentativen Mosaike können die Zeitschriften »Das Mittelalter« des deutschen Mediävistenverbandes und die »Zeitschrift für historische Forschung« gelten. Die Erneuerung zielt im Kern auf die Soziabilität eben nicht des »homo christianus« im langen alteuropäischen Jahrtausend, sondern auf die Mitwirkung aller ›umweltlichen‹ Wesen und Medien an seinem Dasein und Sosein. Es geht um die nicht-menschlichen Wesen als Akteure.

Dieser hohe Anspruch steht in durchaus peinigendem Zusammenhang mit diversen Geboten und Erfahrungen der kritischen Relativierung einer kolonialen Weltbürgerlichkeit, die als Kernideologem die industriekapitalistische klassische Moderne regiert hat, ein individualistischer Anthropozentrismus, dem eine verdinglichte Natur als umfassende, wesenlose Ressource zur Verfügung steht. Seit Jahrzehnten auf der Agenda der Kulturdiagnosen, sickert derlei mittlerweile in die Verästelungen des wissenschaftlichen Disziplinengefüges und provoziert als #Metoo-Standpunkt postmoderner Wissenschaftlichkeit neue Gesichtspunkte. Der Grundzug dieser Veränderungen: die historisierende und funktionale Hinterfragung der bestehenden Disziplinendifferenzierung selbst und die Suche nach neuen Prinzipien und Sachfeldern samt deren Erschließungsmethoden. Eine wirklich ernste Sache für jedes verantwortungsbewusste Forschen heute! Generell relevant auch für historische Forschungen über je zeiteigene Sozialität und besonders wichtig als alteuropäischer »tua res agitur«-Belang. Was eben zu bedenken und zu erweisen ist! II . Warum wurde eine so aufwendige sozialtheoretische Orientie-

rung gewählt? Um diese Verantwortung fachlich umzusetzen!

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Oder anders gesagt: um die eigene Disziplin – Sozialgeschichte der Vormoderne  – anschlussfähig zu machen an die kulturellen Bedürfnisse und Gebote der Postmoderne und an die aus ihnen aktuell erwachsenden sozialtheoretischen Beschreibungs- und Erklärungsversuche. Das methodisch Besondere des vorliegenden Projekts besteht in der Ausklammerung der inzwischen kritikwürdigen ›klassischen‹ Moderne. Im postmodernen Sprung zurück über sie hinweg in die Vormoderne sollen einerseits das Verständnis beider bereichert und vertieft, andererseits der Standpunkt der Moderne und dessen Blickformen historisiert, entwertet, relativiert werden. Dieser Überbrückung ist  – in mehreren Schüben  – die ausführliche Einleitung von Barbara Schlieben und Matthias Pohlig gewidmet. Sie bedienen sich dabei, gründlich belesen, des Angebots jüngster vergesellschaftungstheoretischer Entwürfe zu einer Sozia(bi)lität, die über den Menschen als exklusiven beziehungsweise exkludierenden Sozialakteur prinzipiell hinausgeht. Wie Bezugsgrößen wie Hellmuth Plessner, Niklas Luhmann, Erving Goffman, Bruno Latour und andere dabei Pate stehen und fortentwickelt sind, muss hier nicht aufgegriffen werden. Das leisten die theoretischen Kurztraktate von Gesa Lindemann und Florian Muhle. Das für die Initiative entscheidende Resultat: die Option für ein auf Kommunikation angelegtes Basisverständnis des Sozialen, dessen Kern in der vom Menschen (EGO ) ausgehenden Adressierung anderer Lebewesen / Selbste (ALTER ) besteht, wodurch die Grenzen humaner Sozia(bi)lität ins Schwimmen geraten (können). Dies als tauglich für Fragen nach vormoderner Vergesellschaftung zu testen, ist das erklärte Ziel. Als Galionsfigur dafür steht Franziskus von Assisi, der mit allen Wesen seiner Mitwelt lebte und sprach, sie alle adressierte und auf sie antwortete. III . Was lässt sich zu den Fallstudien insgesamt festhalten? So dring-

lich alle Beitragende bemüht sind, so dicht wie möglich an die nicht-menschlichen Beziehungen von Einzelnen bzw. Gruppen heranzuführen  – die Gläubigen; die Hirten, Reiter, Jäger; die Somnambulen und Werwölfe; die Monster –, sie bleiben an über diese Akteur:innen schreibende ›Autor:innen‹ gebunden – an die Wortlaute der Schreiber / Maler, der Poeten, der Erzähler, der erfahrenen Lehrmeister, der Gelehrten beziehungsweise Gelehrtinnen des Rechts, der Theologie, der Medizin. Durch den zeitgenössischen Medienumbruch vom damaligen Handeln, Benehmen

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und Imaginieren in dessen ästhetische, didaktische, heilkundliche, gelehrte Darstellung ist alles gewissermaßen von der vergangenen Aktion in die bleibende Repräsentation ›umgebrochen‹. Die vorliegenden Fallstudien bewegen sich im Rahmen schriftbildlich medialisierter Performanz von (vergangenen) Praktiken und Fiktionen. Was tatsächlich getan und gedacht wurde, ist hier nur vorgestellt, ist gefolgert, nicht aktiv mitvollzogen. Nicht der Beweis, sondern der Verweis aufs Geschehene oder Tradierte ist überliefert. Ich frage: Wie ließe sich mehr Direktheit der Interaktion, mehr Korrespondenz zwischen Adressierenden und Adressiertem aufspüren? Und was signalisieren die vorliegenden Fallstudien jeweils? Die Autor:innen haben sich jeweils anders auf die sozialtheoretischen ›Vorgaben‹ eingelassen – die Skala reicht vom beiläufigen Aufgreifen der Programmbegriffe »Akteur«, »Kommunikation«, »Adressierung« und »Entgrenzung« bis zu deren vorsichtigen beziehungsweise explizit kritischen Rezeptionen. Das ist das eine. Das andere: Jeder Fall ist anders aufgezogen. Die vier Tier- bzw. Monsterstudien bieten einen gattungsgeschichtlichen Überblick über traditionsrelevante bukolische Ausdrucksleistungen (Stefan Willer), eine komplexe zeit- und standesspezifische Milieuanalyse anhand vor allem jagdpraktischer Traktate (Nadir Weber), eine Mikroskopie humanimalischer Intimität in nur einem hippologischen Dokument (Isabelle Schürch), zwei interpretative Freilegungen der kurzzeitigen Vermenschlichung von Monstern in Kampferzählungen (Anja Rathmann-Lutz). Ihre Botschaften sind sehr verschieden. Herausgearbeitet wird: – –





die sprachschöpferische Imagination friedvoller Konvivialität der Hirten mit Schafen und Ziegen, der aufwendig andressierte, durch akustische Zeichen kodierte, aber nicht konstant verlässliche Verfolgungs-, Fang- und Tötungsdienst durch Hunde und Falken in der Regie von Jagdexperten im Rahmen der agonal-nobilitären Standestarierungen bei Hofe, die nobilitäre Anerziehung eines auf koaktive gobernancia ausgerichteten Pferde-Wissens und Tuns, das dem Reitherrn den demütigenden Abwurf vom bockigen Reittier ersparen hilft, die kurzzeitige Integration von bedrohlich-überlegenen Fremdwesen ins soziale Konfliktgetriebe.

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Was bieten diese Studien zum grenzerweiternden bzw. grenzüberschreitenden Gebaren der adressierten Spezies? Sie bezeugen den Aufwand und Erfolg im Umgang mit leibhaftigen Vierbeinern, Vögeln, Fabelwesen – Stufen der Verbindung mit ihnen von intimer Körperzügelung bis zum reglementierenden Fernruf, langanhaltende Vertrautheit oder punktuelles Koagieren, existenziellen Kampf. Sie erweisen den kontinuierlichen Einsatz von Gewalt und Zwang bei der Formung ihres menschendienlichen beziehungsweise -gefährdenden Handelns. Zentrale Bedeutung haben dabei die für sie fühlbaren, hörbaren und sichtbaren Signale und Waffen, denen zu folgen sie ›lernen‹, um Schmerzen zu vermeiden, um ernährt zu werden, geschützt und geborgen, ja akzeptiert zu sein  – oder überwunden zu werden. Bleibt immer noch zu fragen: Ist das Gehorchen und Dienen dieser Tiere nur im Sinne einer werkzeughaften humanimalen Ausweitung beziehungsweise Anpassung der betreffenden Menschenbedürfnisse beziehungsweise -möglichkeiten zu verstehen? Wann schlägt die auf menschlicher Beobachtung fußende Antrainierung von zielsicheren Aufgaben ins überschießend antwortende Tun (oder Lassen) um? Wie steht es um die Akteursqualität nicht allein des Gehorsams des (Un-)Tieres, sondern ebenso seines Widerstands gegen die Funktionsdressur oder die Ansprache des Herrn selbst? Ich stehe der Hypothese eines stets möglichen Umschlags des Tierdienstes in definitiv hominiale Sozialität für die Vormoderne vorerst skeptisch gegenüber. Ist sie denn wirklich nötig? Kann es der Initiative nicht reichen, zunächst an vielen kleinen Fronten an diese Grenze zu kommen, das heißt für die Unentschiedenheitswirklichkeit zu ›sensibilisieren‹ (Barbara Schlieben)? Um andere Grenzphänomene geht es in den Beiträgen von Bernd Roling, Matthias Pohlig und Barbara Schlieben. Roling bleibt beim Menschen, wendet die Grenzfrage jedoch ins Negative. Seinen Autor:innen geht es um die Gefahr seiner/ihrer Entmensch(lich)ung. Sie diskutieren, geleitet vom Wissen um die Wirkung schwarzer Galle, die zeitweilige Schrumpfung eines Menschen zum selbst- und fremdgefährdenden, vagierenden Tier beziehungsweise zum selbstvergessenen Entgrenzer seines eigenleiblichen Gebarens. Beide Typen unterschreiten gewissermaßen die HumanumSchwelle. Aber sie müssen, das scheint entscheidend, nicht als definitiv ans Außermenschliche verlorene Mutanten gelten, weil das Proprium ihrer Humanität, ihre Seele (»spiritus«), unabhängig von ihrer dehumanisierten Gestalt und Gewalt beziehungsweise Handlungsperversität fortbesteht, die Grenzunterschreitung des Leibes ›überlebt‹. Schrumpfung als Trennung des Leibes vom EGO . Aber es gibt Wege der

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kehrenden Wiederherstellung. Sie hängen davon ab, ob die Metamorphose als Krankheit oder Tollheit gilt. Die »leibhafte Permeabilität« beider – das ist Rolings Botschaft – gehört ins Repertoire der hominologischen »Unentschiedenheitsrelationen« (Gesa Lindemann). Wie seitenverkehrt erscheinen dagegen die Erzählungen von Monstern, die im Zuge des kämpferischen Kräftemessens ins menschliche Maß schrumpfen  – (fiktiv) leibhafte Permeabilität der Monster als animalische Unentschiedenheitsrelation (Anja Rathmann-Lutz). Matthias Pohlig dagegen will eine radikal unbegrenzbare Entschiedenheitsrelation beschreiben. Die christusgläubige Adressierung Gottes gründet in der umfassenden Inferiorität des Christenmenschen, seiner Schwäche und Verfehlungsneigung (Kulpabilität). Es geht um die Dissymmetrie von hominialer Ohnmacht und Schuld und göttlicher Allmacht und Gnade. Pohligs systemisches KommunikationsKondensat der protestantischen  – will sagen biblisch purifizierten, von aller Tradition gereinigten, direkten – Suche Gottes im Gebet und Gottes indirektes Antworten in der als Offenbarung geltenden BibelPredigt – es läuft auf das Postulat und Begehren hinaus, Gott als den (sprechenden) Akteur zu er-hören, nicht, wie im elaborierten Katholizismus, zu er-blicken. Dieses stets riskante Junktim zwischen irdischen Menschen und himmlischem All-Vater ist also kein direktes, sondern ein durch dessen rituelle Schriftwortpräsenz vermitteltes. Die omnipräsente Gotteswissenschaft namens Theologie stützt dieses transgrediente ›Dauergeschehen‹ mit endlosem Auslegungseifer. Die unhintergehbare Schrift-Medialität der protestantischen Gottespräsenz bietet Pohlig Gelegenheit, die postkonfessionelle Frage nach dem Ob der Wirklichkeit Gottes (Atheismus) beziehungsweise die postkoloniale Frage nach dem Wie der Koexistenz von Mensch und Gott (»interagency«) im zum Jenseits hin offenen Diesseits als falsch gestellt zu kritisieren. Seine Losung: Gott gehört dazu (zum Sozialen), weil er adressiert wurde. Verallgemeinernd wäre wohl hinzuzufügen: Nicht nur Gott, sondern alle anderen adressierten, ins Irdische wirkenden jenseitigen Wesen wurden sinnlich und geistig wahrgenommen, waren symbolische Akteure, trugen vorstellungswirksam zum Sozialen bei. Alle Forschung über die protestantische Vormoderne, mehr noch über die katholische, hat damit zu rechnen. Bleibt die Frage: Warum so wenig über die parochialen Vermittler und ihr mächtiges Rückgrat, die Zwangsanstalt der Bekenntniskirche? Schließlich Barbara Schliebens aspektreiche Studie über die »Causae et Curae« Hildegards von Bingen. Sie erkennt im Traktat drei Typen nicht exklusiv humaner Beziehungen: die endlose Arbeit als

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tungsstrafe für die Beleidigung Gottes durch das erste Menschenpaar (»labor«), die situativ begrenzte Pflege und Heilung von Menschen, Pflanzen und Tieren im Rahmen der galenischen Säfteproportionalität (»cura«) sowie die stets mögliche lüsterne Vermischung von Menschen mit Tieren (»fornicatio«). Jede Beziehungsform hat ihre eigene Asymmetrie und ihren eigenen Verortungssinn – die Arbeit als mühevolles Wiedergutmachungswerk (»opus reparationis«) gegenüber Gott, die Pflege von Tier und Pflanze zum Unterhaltsnutzen (»utilitas«), das Verbot der Sodomie als Bewahrung vor Vertierung (»monstrum«?). Zugespitzt gesagt: Im Werken dient der Mensch Gott. Durch Pflege können die Kreaturen dem Menschen besser dienen. Züchtige Lust bewahrt ihm die ihm eigene Natur und Würde. Allen drei Beziehungen (»causae«) wohnt die Gefahr des Versagens inne. Sie haben das Sorgen um sie (durch Mittler) nötig (»curae«). Als auffallend arbeitet Schlieben heraus, dass Hildegard sich diese drei Handlungsweisen  – noch einmal umformuliert: das mühsame Unterhaltswerken, der Ausgleich der Schwächen aller dienenden Kreaturen, die Selbst-Gefährdung durch wollüstige Animalität  – nicht ohne eine Rahmenbestimmung der »natura hominis« denken kann. Sie fasst sie in äußerst bedenkenswerte Basissätze, die in zwei Richtungen gehen: – –

»Deus ita creavit hominem, quod omnia animalia ad servitium eius subiecta sunt«; sowie »Omnis creatura in eo (i. e. homine) est.«

Axiome, die es in sich haben! Schlieben deutet sie überzeugend als Zuspitzung der Verwobenheit des Menschen mit allen Geschöpfen, als eine umfassende Kreatürlichkeit. Hildegard nennt sie – unübersetzbar und viel diskutiert – »viriditas«. Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen. In beiden Sätzen zusammen ist ein Hominozentrismus eigener Art ausgedrückt, den man – vorläufig – christlich-kirchlich bzw. ekklesial nennen könnte. Auch wenn Hildegard vorsichtig mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ist und deutlich aus der (alttestamentlichen) Ecke der Ursünde und der Sintflut denkt, ihre Fassung des Menschen – allbergend und allbezüglich herrschend – macht ihn zu einem, ja dem zentralen und zentralisierenden Geschöpf auf Erden. Ein (sternartiges) Wesen, beauftragt, alle Kreaturen leibhaftig zu reg(ul)ieren und symbolisch zu inkorporieren – und zwar im Guten, aber gefährdet im Bösen. Schliebens Gewebebild möchte ich deshalb ergänzen um das eines

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ten, anziehend und abstoßend. Wie dieses spekulative Bild sich mit der Deutungsweise der vier Schriftsinne verträgt, steht dahin  – ich vermute vorschnell, dass wohl der moralische Sinn die Oberhand hätte. Wie dem auch sei, Hildegard kämpft mit ihrem Traktat für den Menschen als positiven Pol, für seine Anziehungskraft und Inkorporierungsmacht, für die Hominisierbarkeit von allen und allem. Hierin, meine These, gründen die Adressierungen nicht-menschlicher Spezies und die soziale Qualität ihrer Re-Aktionen. Damit genug der Gedanken und Bedenken zu den Beiträgen. Sie bilden eine erwartungsreiche Exposition für die weitere Forschungsarbeit. Zum Ausblick noch einige grundsätzliche Erwägungen für die gezielte Fortsetzung der Initiative von meinem mediävistischen Standpunkt aus. Man könnte sie unter die Devise stellen, dass es im Projekt von nun an nicht weiter um den forschungsstrategischen Anschluss an postmoderne Theorien des Sozialen geht, sondern um die Gegenbewegung, um die Absetzung von ihnen um einer epochenspezifischen Eigenprofilierung willen. Dies im Sinne dreier Aspekte: –

der Ausarbeitung eines hominozentrisch perspektivierten Adressierungsprofils und einem daraus ableitbaren empirischen Register der Adressen (1), – der Suche nach einem Bestand der überlieferungssprachlichen Schlüsselwörter und deren Sinnzusammenhang (2), – und dem Stellenwert des Projekts für die Gesamtfigurierung des Sozialen im langen Jahrtausend des christlichen Okzidents (3). All dies stünde  – eher nebenbei  – auch im Zeichen einer Kritik der Rolle der Vormoderne in der postmodernen Theorie des Sozialen! Man prüfe einmal, wie wenig Vormoderne Latour für seine AkteurNetzwerk-Theorie braucht (kaum alteuropäische, wenn, dann ethnographische Sachbezüge). Schon Luhmanns Mittelalter war auffallend karg angelegt! (1) Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Facetten humaner Adressierung von nicht-menschlichen Wesen samt der Arten ihrer Rückmeldung (Re-Adressierung in Akteursweise) in den Beiträgen alle auf die Eigenart des okzidentalen Christen-Menschen selbst als Ausgangsort der ›Kommunikation‹ zurückverweisen. Es ist das wirkungsmächtige Genesis-Ideologem des Herrschaftsauftrags des Menschen über die Tiere, ohne das, wie Barbara Schlieben an Hildegard gezeigt hat,

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dessen Adressierungsart und -fächer kaum zu verstehen ist. Schon ein halbes Jahrhundert früher hat der Augustinermönch Hugo von Sankt Viktor dieser possessiven bzw. utilitären ›Zuständigkeit‹ des Menschen eine allgemeinere Begründung gegeben als Hildegard. Seine Ordnung des Wissens über die sieben menschlichen Unterhaltswerke (»artes mechanicae«) ist als Verbindung von (übergeordnetem) Ziel und (vollziehenden) Mitteln angelegt. Um das Unterhaltswerken (»humana opera«) an das generelle Ziel der Sündentilgung und Wiedergewinnung der Gottesliebe zu binden, verwandelt der Mensch alle tauglichen Dinge (»materiae/res«, »instrumenta«) und den Umgang mit ihnen (»usus«, »actio«, »modus«, »occasio«) in Mittel zum großen Entschuldungs- und Erlösungsziel. Medialisierungen im Einzelnen um der Remedialisierung im Ganzen willen. Charakteristisch für diese umfassende Medialisierung ist die Funktionsoffenheit der Dinge, ihre Permeabilität, ob als Formverwandlung oder Aufgabenverschiebung. Zwei Beispiele für die Art, wie Hugo sie denkt: Der Lehm, als Nährboden »instrumentum« für die Saat, ist in der Hand des Töpfers »materia«, nach dem Brand als Krug »in usum« in Küche, Keller, Laden oder »instrumentum« des Chirurgen oder Trommlers. Dies gilt nicht nur für die leibhaften (und leblosen) Mittel. Selbst für die Rede trifft es zu: Sie ist »instrumentum« des Händlers, »materia« des Mimen und »ad usum« des Publikums. Ich halte diese permeable Ver-mittelbarkeit und Ver-mittelung der Dinge im Menschendienst für das dem Umgang mit nicht-menschlichen Lebewesen vorgelagerte Beziehungsfeld. Alles, auch die unlebendigen und die stummen Wesen  – ob leibhaft und oder geisthaft irdisch – kann der Mensch zu »instrumenta« seines Tuns, Denkens – und Glaubens  – machen. Das ist für Hugo die göttliche Gabe an den »homo christianus« – die radikale Freiheit zur utilitären Adressierung von Wesen gleich welcher Befähigung oder Nichtbefähigung zur Sozialität, oder eben auch nicht. Auch die vergebliche, die echolose oder die verwerfliche Adressierung ›zählt‹, weil der Nutzungswille, nicht der Verständigungserfolg entscheidet. Wie aber nutzt der »homo christianus« diese Freiheit? Mit welchen Grenzen hat sie zu rechnen? Ich komme hier auf die oben gestellte Frage nach Zeugnisarten zurück, die einen direkten Zugang zur Praxis der Adressierungen im langen christlichen Jahrtausend bieten könnten. Ich denke hier an Dokumente und Monumente, die das Hantieren oder Bedenken, die Charakterisierung und Ansprache von Pflanzen, Tieren, Untieren, Geistwesen (Tote, Geister, Heilige, Dämonen) oder

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Erscheinungen (Unwetter, Beben, Fluten, Kometen) thematisieren, seien es berichtete oder protokollierte Handlungen und Ereignisse (»gesta«), seien es Figuren (Heilige), dazu Zeichnungen / Gemälde / Illuminationen, Bauten, Gräber, (liturgische) Geräte, Kleidung, Amulette usf. samt ihren Gebrauchsspuren. Fallstudien über direktere Aufzeichnungen von Handlungen bzw. Haltungen  – Mirakel, Inquisitions- und Gerichtsprotokolle, Testamente, Visitationen, Exempla, Traumberichte, Riten-Ordines, Enzyklopädien – könnten die Suche erleichtern. Eine Forschung danach, welche Spezies Menschen in ihrem Milieu wann und wie lange adressieren und ob diese auf die menschlichen Erwartungen überhaupt reagieren, und wenn, wie und aus welchem Grunde sie dies tun. Sie wären als Beziehungsfelder der menschlichen Stärke und Herrschaft, ihrer Schwäche und Gefährdung, ihrer Erlaubtheit oder Verbotenheit zu verstehen. Solche schriftlich, bildhaft oder figurativ bezeugten Realhandlungen bzw. Vorstellungen sind häufig, wenn nicht mehrheitlich, von kirchlichen Grenzziehungsgeboten bzw. -verboten bestimmt, zugleich erfüllt von Drohungen mit leiblichen bzw. seelischen Strafen. Die Adressierung gerade von Geistwesen, die nicht klar als sakralisierte Boten gelten, sowie deren ›Gegengabe‹, kann sozial riskant, ja a-sozial sein. Welche Adressierung resultiert in Ungehorsam, Untreue, Aberglaube, Teufelei? Es ginge, gerafft, um –

manipulative Adressierungen der Elemente (Wettermachen), der Kulturpflanzen (Kräutermagie, Edelsteine) und der domestizierten Tiere (Abrichtung, Kontrolle und Züchtigung, Fütterung), – apotropäische, votative, bittende und dankende Inanspruchnahme unkörperlicher geistiger Mächte oder Gestalten (Tote, Untote, Dämonen, Teufel, Heilige, Engel) oder deren Stellvertreter (Reliquien), letztlich auch die Eucharistie – und man vergesse den Exorzismus jedes Täuflings nicht! Die possessive Adressierungsvielfalt läuft stets auf Öffnungen, Schwellenüberschreitungen, Übergänge, Stufungen hinaus – Grenzverschiebungen in Permanenz. Bei deren Beobachtung sollte man indes nicht alles auf die Goldwaage einer definitiven beziehungsweise vollendeten Hominisierung der adressierten Spezies legen. Lässt sich etwa das abwartende Wedeln des Schwanzes eines erfolgreich apportierenden Jagdhundes, der die Beute nicht als die seine verzehrt, als verantwortliches Handeln verstehen? Ist der süßliche Geruch des exhumierten

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Toten der Beweis sakraler Unverweslichkeit? Was liegt der Wirkung einer Salbung mit geweihtem Öl zugrunde? Wie kommt die Gewissheit zustande, ein Baum habe eine eingetroffene Voraussage gemacht? Verallgemeinert: Wie nah kann die Forschung im oben genannten Schrift-, Bild- und Sachgut aus dem christlichen Okzident dem nichtmenschlichen Handeln im Dienst der Menschen kommen? Und um welche Menschen geht es jeweils? Wer befindet über Zulassung beziehungsweise Geltung solchen Verhaltens als sozialem? Der Klerus, der Herr, der Vater, die Nachbarn usf.? Was auch stets bedeuten kann: Die ›Kommunikation‹ findet nicht nur nicht statt, sie soll es auch nicht. Ob und wie sozial Nicht-Menschen handeln, wird selber ›intrasozial‹ zugelassen oder unterdrückt, prämiert oder verfemt. Mir scheinen viele und neue Antworten mithilfe solcher Zeugnisse möglich. (2) Neben der Hinwendung zum epocheneigenen Profil der Adressierungs- und Kommunikationsstrukturen (Hominisierung) sollte auch die genauere Befassung mit deren epocheneigener Ausdrucksweise kommen. Könnte nicht auch eine ›Abkehr‹ vom postmodernen sozialtheoretischen Ausdruckssystem sinnvoll sein? Oder besser und zeitlich genauer: Wäre eine Aufhebung desselben in den eigenartigen Artikulationsweisen des langen Millenniums des christlichen Okzidents, vor allem in seiner ›Codierung‹ im christianisierten Latein, ein sinnvoller Schritt – ein Anschluss an das zentrale Überlieferungsmedium der Zeit, mit dem Begriffsbesteck der Postmoderne im Gepäck? Diese riesige Zumutung schrumpft sehr schnell zu machbaren Untersuchungsperspektiven, wenn die lateinische ›Oberfläche‹ der Dokumente, das Ensemble ihrer Wörter und Sätze, ihre Lexik und Syntax, methodisch verlässlich untersucht wird. Historische Textsemantik will mehr als herkömmliche lexikographische bzw. diskursive Einzelbegriffsgeschichte. Die Ansätze dazu in den Beiträgen sind ermutigend. Ich verweise hier nur auf Barbara Schliebens Aufdeckung des partikularen Sinns von »creatura« und »natura« in den »Causea et curae« Hildegards und auf Isabelle Schürchs gobernancia-Devise in Duartes Reitkunsttraktat. Ich halte sie für beziehungsreiche Schlüsselwörter, die prominente Bausteine im Bedeutungsgefüge des Dokuments bilden – semantische Zentren vielleicht. Um weiteren Bausteinen auf die Spur zu kommen, wäre eine Frequenzrecherche und statistische Bearbeitung des Vorkommens, der Verteilung und der Sinnnähe oder -ferne des relevanten Wörterbestands insgesamt nötig. So könnte das semantische Profil des Dokuments, das binnentextliche Beziehungsfeld MenschNicht-Mensch zum Vorschein kommen. Der Wert solcher

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mantischen Untersuchungen von inhaltsreichen Einzeldokumenten ist längst erwiesen. Mit ihnen lassen sich  – exemplarisch  – wortfeldbasierte Sinnfelder erarbeiten, die einerseits die interpretative Ermittlung intentionalen Wortgebrauchs via dichter Lektüre (Stil) ergänzen, zum anderen der semantischen Vororientierung von linguistischen Untersuchungen umfangreicher Textmengen aus zahlreichen Dokumenten dienen können. Alles hängt hier ab von der Konstruktion solcher Korpora, das heißt der überlieferungskritischen Zusammenstellung und Manipulation von inhaltsaffinen Text- (bzw. auch Bild-)Mengen. Digital aufbereitet, gestatten sie qua der Häufigkeit und Verteilung des Wörtergebrauchs, einen zeit- bzw. milieuspezifischen Artikulationsraum abzustecken. Beide Wege, den mikro- und den makrosemantischen, halte ich für die Initiative für gangbar. Es gibt exemplarisch inhaltsreiche Dokumente in Hülle und Fülle, deren Einzeluntersuchung lohnt. Und es sind Gruppierungen von Dokumenten denkbar, die homogen genug für makrosemantische Ermittlungen sind. Warum also sich nicht zu beidem entschließen – auf eine Suche nach der ›verborgenen‹ Hominisierungssprache des Okzidents? (3) Was lässt sich meinerseits der Initiative für ihre Zukunft ans Herz legen? 1.

In meine Bewunderung für ihre Ernsthaftigkeit zu einer ›symmetrischen‹ Erneuerung der Sozialgeschichte (Jakob Tanner) mischt sich Sorge, dass aus der Erwartung, jedes Dokument könne betroffen sein, eine endlose, ins Beliebige driftende Vervielfältigung der Detailforschung erwächst. Was ich zur mikro- und makrosemantischen Ausrichtung angemerkt habe, könnte helfen, solche oberflächlich ›anschließende‹ Forschung zu begrenzen. Denn beide Methoden zielen darauf, die damalige Gegenwärtigkeit (a) symmetrischer Hominialität exemplarisch und essenziell zu repräsentieren  – das Einzeldokument als ›Zeitpunkt‹, das Korpus als ›Zeitraum‹. 2. Was ich zum Hominozentrismus als meinem leitterminologischen Standpunkt beigebracht habe, verdient mehr Rechtfertigung. Die Latinisierung Hominozentrismus soll die in der Philosophie und Ethnologie vorherrschende zeitübergreifende Bezeichnungskonvention des Anthropozentrismus zu mehr Zeiträumlichkeit provozieren. Der Erstwortaustausch soll  – einer

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schen Markierung gleich – auf die Aufgabe der epochenspezifischen Profilierung des vormodernen lateinischen Okzidents aufmerksam machen. Das zweite Begriffsglied verweist auf einen epistemischen Bruch. Hominozentrik verstehe ich als ein radikal anderes, der modernen Denkweise fremdes Beziehungsaxiom. Es meint die göttlich gestiftete Menschenherrschaft über alle Kreaturen und deren artgemäße Indienstnahme – nicht deren Ausnutzung als naturale Produktionsressourcen wie in der Moderne. Meine – sicher hinkende – Metapher von der magnetischen Kraft verweist auf extrem vieles, von analogisierenden Vorstellungen und symbiotischem Verhalten über sympathetische Riten bis hin zu arteigenem hominisierenden sowie hominisierten Tun und Wirken. Hominisierung geht konzeptuell in zwei Richtungen. Zum einen zielt sie auf alle situationsgebundene Beeinflussung, Manipulation, Effektivierung des Umgangs mit non-humanen Spezies  – »hic et nunc«. Machtperspektivisch zugespitzt: Gemeint ist jede okkasionelle Zurichtung, jede Züchtigung (a). Züchtung hingegen sollen spezies-modifizierende Vorgänge heißen, die zu deren irreversibler Veränderung im Sinne hominisierten Nutzens führen (b). In beiden Spezies-Typen wird und ist humanes Wissen ver-körpert, wirkt situativ oder strukturell. Sie sind durch die Externalisierung humanen Erfahrungswissens geprägte Instrumente / Werkzeuge / Mittel für humanen Unterhalt. Ihre Wirkursächlichkeit wird seit dem 12./13.  Jahrhundert als »causa instrumentalis« diskutiert. Sie bezeichnet eine grundlegende Befähigung zur werkzeugvermittelten Weltbewältigung. Der »homo artifex« weiß seine, Gottes Schöpfungskraft imitierende, »ratio« instrumentell zu gebrauchen. Aber bezogen auf welche Spezies? Das weitere Forschen mitbestimmen sollte, welche Auswahl aus der Mitwelt die instrumentelle Ausstattung des »homo christianus« geprägt und verändert hat. Sicher wäre hier zu unterscheiden zwischen der Hominisierung der einfachen organverlängernden beziehungsweise kraftverstärkenden Geräte, ihrer Kombination mit geeigneten Lebewesen sowie mit verfügbaren Eigenschaften der vier Elemente: Zu suchen wäre also nach mehr Beziehungen bzw. Phänomenen: nach den Spuren der artisanalen und animalen, botanischen und mechanischen Instrumentalisierung / Vermittelung, die stets als leibhaftig und spirituell wirksam – grenzverschiebend – zu denken und auf ihre Wandlungen hin (wesensverändernd) zu bedenken sind. Ich vermeide hier das Wort (und die Vorstellung von) ›Technik‹. Auf diese

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rung der Fähigkeiten des »homo christianus« zur Indienstnahme ahumaner Mitweltphänomene als auch deren Erfolge kommt es mir an. Sie gehört als Leitannahme zum Projekt. Ich vermeide hier das Wort (und die Vorstellung von) ›Fortschritt‹. Zuletzt will ich nur noch daran erinnern, wie viel theoretischen Wert Gesa Lindemann und Florian Muhle auf die Rolle der Gewalt beziehungsweise der Ungleichheit in den Prozessen der Grenzverschiebungen zum Sozialen und der Adressierung nichthumaner Spezies legen. Was hieße dies umgesetzt in die Problemlage im langen Jahrtausend des christlichen Okzidents? In den Fallstudien scheint mir diese Dimension des Themas zu kurz zu kommen. Das gründet nicht nur in der Auswahl der Sujets und ihrer Dokumente. Die Darlegungen tendieren dazu, die verschiedenen Beziehungsphänomene im Denkschema der Reziprozität bzw. Wechselseitigkeit verorten zu können  – und sei es die asymmetrische. Mir will dieses Zwei-Seiten-Muster, typisch fürs merkantile Austauschen und moderne Aushandeln, für den christlichen Okzident generell nicht einleuchten. Ich versuche, alle Adressierungen verquickt mit den ihnen übergeordneten Machtformen (»potestates«) – Gewalt, Recht, Schriftwissen und Autorität (Heinrich Popitz) – zu denken, wobei ihren ekklesialen Machtmitteln  – Liebe, Gnade, Sündenstrafen, Exkommunikation, Häresie, Endgericht – und klerikalen Vermittlungen mehr Beachtung gebührt als bisher.